Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie - Nicolai Hartmann 9783110269901, 9783110269888

Nicolai Hartmann wrote about epistemology, ontology, ethics, the philosophy of mind, and natural philosophy. This volume

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German Pages 442 [444] Year 2012

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Table of contents :
Nicolai Hartmann und die Aufgabe systematischer Philosophie
I. Philosophie und Wissenschaften – Das Programm der Kategorienforschung
Hartmanns Beitrag zu einer Begründung des wissenschaftlichen Realismus
Genese und Geltung der Kategorien. Nicolai Hartmann und das Programm der Kategorienforschung
Neue Wege der Kategorienlehre?
Mehr Seinsschichten für die Welt? Vergleich und Kritik der Schichtenkonzeptionen von Nicolai Hartmann und Werner Heisenberg
Nicolai Hartmann – ein Phänomenologe ? Zu den Termini Phänomen und Phänomenologie in der Metaphysik der Erkenntnis
II. Neue Ontologie im Kontext – Philosophische Anthropologie und Philosophie des Organischen
Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie. Die Kölner Konstellation zwischen Scheler, Hartmann und Plessner
Kategoriale Gesetze. Zur systematischen Bedeutung Nicolai Hartmanns für die moderne philosophische Anthropologie und die gegenwärtige Philosophie der Person
Die Stellung des Menschen bei Nicolai Hartmann und Max Scheler
Entwertung der Realität. Nicolai Hartmann als Kritiker der Ontologie Martin Heideggers
Der Organismus als Individuum
III. Person, Freiheit und Geschichte
Über Personalität. Das Problem des Geistigen Seins
Person und Persönlichkeit bei Max Scheler und Nicolai Hartmann
Nicolai Hartmanns Metaphysik der Freiheit
Zum Verhältnis von Personalität und Temporalität bei Nicolai Hartmann und Wolfhart Pannenberg
History and Tradition in Nicolai Hartmann’s Theory of Spiritual Being
Sphären der Geschichtlichkeit und ihre Kontexte bei Nicolai Hartmann
IV. Nicolai Hartmann im Gespräch – Was bleibt?
Zur Aktualität der Ontologie Nicolai Hartmanns
Was nutzt eine ontologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft? Überlegungen zu Nicolai Hartmanns Das Problem des geistigen Seins
,Wahrnehmung‘ in Nicolai Hartmanns erkenntnistheoretischem Realismus
Was bleibt von Hartmanns Ethik?
Namenregister
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Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie - Nicolai Hartmann
 9783110269901, 9783110269888

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Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai Hartmann

Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai Hartmann Herausgegeben von

Gerald Hartung Matthias Wunsch Claudius Strube

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026988-8 e-ISBN 978-3-11-026990-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. BibliograÀsche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalbibliograÀe; detaillierte bibliograÀsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ’ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Gerald Hartung, Matthias Wunsch und Claudius Strube Nicolai Hartmann und die Aufgabe systematischer Philosophie

1

I. Philosophie und Wissenschaften – Das Programm der Kategorienforschung Reinhold Breil Hartmanns Beitrag zu einer Begründung des wissenschaftlichen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Gerald Hartung Genese und Geltung der Kategorien. Nicolai Hartmann und das Programm der Kategorienforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Stephan Nachtsheim Neue Wege der Kategorienlehre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Gregor Schiemann Mehr Seinsschichten für die Welt? Vergleich und Kritik der Schichtenkonzeptionen von Nicolai Hartmann und Werner Heisenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Christian Möckel Nicolai Hartmann – ein Phänomenologe? Zu den Termini Phänomen und Phänomenologie in der Metaphysik der Erkenntnis

105

II. Neue Ontologie im Kontext – Philosophische Anthropologie und Philosophie des Organischen Joachim Fischer Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie. Die Kölner Konstellation zwischen Scheler, Hartmann und Plessner . . . . . .

131

VI

Inhalt

Matthias Wunsch Kategoriale Gesetze. Zur systematischen Bedeutung Nicolai Hartmanns für die moderne philosophische Anthropologie und die gegenwärtige Philosophie der Person . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Gerhard Ehrl Die Stellung des Menschen bei Nicolai Hartmann und Max Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Steffen Kluck Entwertung der Realität. Nicolai Hartmann als Kritiker der Ontologie Martin Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Thomas Kessel Der Organismus als Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

III. Person, Freiheit und Geschichte Walter Jaeschke Über Personalität. Das Problem des Geistigen Seins . . . . . . . . .

241

Inga Römer Person und Persönlichkeit bei Max Scheler und Nicolai Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

László Tengelyi Nicolai Hartmanns Metaphysik der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . .

277

Thomas Renkert Zum Verhältnis von Personalität und Temporalität bei Nicolai Hartmann und Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Carlo Scognamiglio History and Tradition in Nicolai Hartmann’s Theory of Spiritual Being . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Mirko Wischke Sphären der Geschichtlichkeit und ihre Kontexte bei Nicolai Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

Inhalt

VII

IV. Nicolai Hartmann im Gespräch – Was bleibt? Daniel Dahlstrom Zur Aktualität der Ontologie Nicolai Hartmanns . . . . . . . . . . .

349

Robert Schnepf Was nutzt eine ontologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft? Überlegungen zu Nicolai Hartmanns Das Problem des geistigen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367

Magnus Schlette ,Wahrnehmung‘ in Nicolai Hartmanns erkenntnistheoretischem Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393

Christian Thies Was bleibt von Hartmanns Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nicolai Hartmann und die Aufgabe systematischer Philosophie Gerald Hartung, Matthias Wunsch und Claudius Strube Nicolai Hartmann ist einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Zu Lebzeiten als solcher anerkannt, ist er heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten.1 Sein Œuvre ist breit gefächert und umfasst Studien zur Erkenntnistheorie, Ontologie, Ethik, Philosophie des geistigen Seins, Naturphilosophie sowie Ästhetik. In all diesen Feldern steht seine Arbeit im Zeichen der Begründung einer Konzeption „systematischen Philosophierens“ und damit im Gegensatz zu den Systemphilosophien des 19. und den Weltanschauungslehren des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum seines Denkens steht das „Kategorienproblem“, d. i. die Frage nach den elementaren Strukturen der Wirklichkeit und der menschlichen Erkenntnis. In seinem Bezug auf die philosophische Tradition und seiner Hinwendung zu den Natur- und Sozialwissenschaften unter Einbeziehung auch der alltäglichen Erfahrung macht Hartmann deutlich, dass er an dem Anspruch festhält, die Phänomene der Lebenswelt, Wissenschaft und Geschichte in einem einheitlichen „Aufbau der realen Welt“ zu integrieren, ohne ihre Heterogenität und Selbständigkeit zu vernachlässigen.

1. Ein Leben für die Philosophie Hartmann wurde 1882 in Riga geboren, studierte zuerst Medizin in Dorpat (1902), dann ab 1903 für zwei Jahre klassische Philologie und Philosophie in Sankt Petersburg. Im Jahr 1905 wechselte er an die Universität Marburg und widmete sich bei den Vertretern des Neukantianismus, Hermann Cohen und Paul Natorp, hauptsächlich dem 1

Vgl. hierzu die spärliche und teilweise veraltete Forschungsliteratur: Heimsoeth (1952); Breton (1962); Kanthack (1962); Symposium (1982); Buch (1982); Wolandt (1984); Nachtsheim (1985), 38 – 102; Morgenstern (1992) und (1997); Breil (1995), 13 – 26; Breil (1996); Harich (2000); Hüntelmann (2000); Hansen (2008). Neuerdings werden erste Schritte zur Wiederentdeckung Hartmanns unternommen: Poli u. a. (2011).

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Gerald Hartung, Matthias Wunsch und Claudius Strube

Studium der Philosophie, das er 1907 mit einer Promotion abschloss. Nach der Habilitation 1909 lehrte er – mit kriegsbedingter Unterbrechung – als Privatdozent für Philosophie in Marburg, wo er zuerst 1920 außerordentlicher, dann 1922 als Nachfolger Natorps ordentlicher Professor für Philosophie wurde. 1925 ging Hartmann nach Köln, wo er in unmittelbarem Kontakt mit Max Scheler und Helmuth Plessner stand. Die Nähe und Distanz seiner „Neuen Ontologie“ zu den Programmen einer „Philosophischen Anthropologie“, zuerst bei Plessner und Scheler, später bei Arnold Gehlen verweist auf Hartmanns zentrale Stellung in den philosophischen Debatten seiner Zeit.2 1931 wurde er, nachdem Heidegger das Angebot ausgeschlagen hatte, an die Berliner Universität gerufen. Hartmann hat die deutsche Universitätsphilosophie in den 30er und 40er Jahren geprägt, ohne sie in die Abgründe ideologischer Verengung zu führen. Gleichwohl hat er sich gegenüber den politischen Verhältnissen in Deutschland, die er vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus bis zur jungen Bundesrepublik der Nachkriegszeit miterlebt hat, nicht positioniert. Seine Stellung war die eines politisch Indifferenten, was auch als Gleichgültigkeit, selbst gegenüber den Praktiken gesellschaftlicher Entsolidarisierung und den Verbrechen unter nationalsozialistischer Herrschaft, angesehen werden kann. Aus der zeitlichen Distanz macht es den Eindruck, als wollte Hartmann sein Werk prinzipiell freihalten von den Einflüssen seiner Zeit, um auf diese Weise unmittelbar im Gespräch zu stehen mit den großen Vorgängern der Philosophiegeschichte, an denen er sich allein messen und an deren Maßstab er gemessen werden wollte: Platon, Aristoteles, Kant und Hegel. Nach Kriegsende lehrte Hartmann bis zu seinem Tod im Jahr 1950 in Göttingen. Sein Einfluss auf die deutsche Philosophie der jungen Bundesrepublik ist noch nicht erforscht – diese Zeitspanne mutet in der Philosophiegeschichtsschreibung insgesamt wie ein undeutlicher Bereich zwischen dem Grauen des Nationalsozialismus und der Ideologisierung der Philosophie in Deutschland einerseits sowie den Aufregungen der späten 60er Jahre und der Politisierung der Philosophie andererseits an. Erst eine gründliche Erforschung der Jahre einer Restitution der institutionalisierten Philosophie in Deutschland unter den Bedingungen der Ost-West-Spaltung wird das gängige Vorurteil einer unbedeutenden Zwischenzeit entkräften oder bestätigen können.

2

Vgl. Fischer (2008); Hartung (2003).

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2. Eine Systematische Selbstdarstellung als Abschattung des Selbst Auch die Möglichkeit einer „Systematischen Selbstdarstellung“ (1933) hat Hartmann, im Gegensatz zu anderen Kollegen, nicht ergriffen, um in einer Zeit des sozialen und politischen Umbruchs eine persönliche Stellungnahme zu formulieren.3 Er bestätigt hier, dass er ein eigenwilliger Vertreter des Marburger Neukantianismus ist, den er auf seinem Weg in die „Neue Ontologie“ transformiert hat.4 Doch das ist nur ein Etikett und auch die Rede vom kritischen Realismus trifft nur oberflächlich eine Intention Hartmanns, nämlich die kritische Anbindung der Philosophie an die natur- und sozialwissenschaftliche Forschung, um die Wirklichkeit menschlichen Erfahrens und Erlebens freizulegen. Vor allem aber verstellt dieses Etikett in der Forschung zumeist einen tieferen Blick in die Hartmannsche Philosophie, insofern es die Nähe zu einem erkenntnistheoretischen Relativismus evoziert. Nach Hartmann ist „Realität“ nicht eine Gegebenheit, die es bloß aufzudecken gilt; die menschliche Realität ist immer schon durch die Lebenswelt und die Wissenschaften vorgeprägt. Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, diese Vorprägung aufzudecken und kritisch zu reflektieren. Schon diese Andeutungen machen ersichtlich, dass Hartmanns Philosophie sich auf dem Niveau des amerikanischen Pragmatismus (Charles Sanders Peirce u. a.), der phänomenologischen Forschung (Edmund Husserl, Max Scheler u. a.) und der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie (Alfred North Whitehead, Rudolf Carnap u. a.5) bewegt. In seiner „Systematischen Selbstdarstellung“ hat Hartmann die Abhängigkeit des Philosophierens von den Wissenschaften als conditio sine qua non herausgehoben und damit einer Rückkehr zur Systemphilosophie wie auch einem Abgleiten in eine bloße Weltanschauung eine klare Absage erteilt: „Der Spielraum des konstruktiven Denkens ist eingeschränkt. Die Wissenschaft ist auf allen Gebieten vorgeschritten. Wer ihre Resultate mißachtet, hat von vornherein verlorenes Spiel.“6

3 4 5 6

Hartmann (1955a). Vgl. Schneider (1998), 75 – 86. Vgl. zum Hintergrund: Carnap (1999), 18 – 19 über seine Dissertationsschrift „Der Raum“ (1921) und die Diskussionen im Umkreis. Hartmann (1955a), 1 – 51; hier: 1.

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3. Der Kritische Realismus und die Debatte zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften Für eine Kontextualisierung der Philosophie Nicolai Hartmanns ist zu beachten, dass die Etikettierung „kritischer Realismus“ nicht aus einer künstlichen Frontstellung gegen den Marburger Neukantianismus betrachtet werden darf. Hartmann hält explizit an wichtigen erkenntnistheoretischen Einsichten Immanuel Kants und seines Lehrers Hermann Cohen fest und weist in seiner Lehre vom „Aufbau der realen Welt“ auf Positionen zurück, die bereits im Jahr 1871 in der Debatte zwischen Kuno Fischer und Friedrich Adolf Trendelenburg über die „Realität“ der transzendentalen Formen der Anschauung in Kants Kritik der reinen Vernunft geführt wurde. In der Frage, wie die transzendentale Ästhetik Kants zu lesen sei, ob als Teil einer realistischen oder einer idealistischen Theorie der Erfahrung, hat sich innerhalb der Kant-Rezeption des späten 19. Jahrhunderts ein Streit entfacht.7 Eduard Zeller hat in diesem Zusammenhang für eine realistische Position plädiert und den menschlichen Glauben an die „Realität der Außenwelt“8 als eine unmittelbare Überzeugung bezeichnet. In diesem Zusammenhang hat er auch die Rede von einem kritischen, „gesunden Realismus“ geprägt.9 Hier ist die Nähe zu nahezu gleichzeitig entwickelten Argumentationsmustern im amerikanischen Pragmatismus verblüffend. Hartmann ist der skizzierten Variante des Realismus verpflichtet. Das betrifft seine Prämisse, dass die Philosophie nur in der Auseinandersetzung mit den Wissenschaften ihre Berechtigung erhalten kann, denn „die Zeit der philosophischen Systeme ist vorbei.“10 Mit einer solchermaßen apodiktischen Aussage setzt Hartmann eine Linie der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts fort, deren Anfänge bis auf die Hegel-Kritik Trendelenburgs zurückgehen und die auf vielfältige Weise bis in unsere Zeit wirkt.11

7 8 9 10 11

Vgl. Köhnke (1993), 257 – 272. Zeller (1884), 225 – 285. Zeller (1873), 917. Hartmann (1955a), 2. Vgl. Hartung u. Köhnke (2006).

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4. Die Systematische Philosophie, nach dem Ende der Systemphilosophien Vor dem hier nur skizzierten Hintergrund ist Hartmanns Philosophie in ihrer ganzen Breite wiederzuentdecken.12 Dazu gehören im Allgemeinen seine Schichtenontologie und Kategorienlehre und im Besonderen seine Konzeptionen zur Naturphilosophie und Anthropologie, zur Ethik und Ästhetik wie auch zur Geschichts- und Kulturphilosophie. In nahezu allen Feldern des philosophischen Diskurses und an den jeweiligen Grenzen zu den Wissenschaften hat Hartmann versucht zu zeigen, wie nach dem Ende der Systemphilosophien noch systematisches Denken möglich ist. Zu diesem Zweck hat er historisch-systematische Studien zur Philosophie der Antike und zum deutschen Idealismus verfasst, um sich in der Auseinandersetzung mit seinen Vorläufern einen Denkansatz zu erarbeiten und sich im, wie er es genannt hat, „Problemdenken“ über die Grenzen menschlicher Wirklichkeitserkenntnis zu schulen.13 Die Einleitungen seiner großen Werke belegen die Intuition Hartmannscher Philosophie, auf eine Zusammenschau der Phänomene in Lebenswelt und Wissenschaft hinzuwirken. Das „System“ ist hier allerdings nicht Voraussetzung des Philosophierens, sondern letzte Fluchtlinie philosophischen Forschens. „So fehlt es denn noch an einer philosophia prima […]. Sie ist das Desiderat der systematischen Philosophie in unseren Tagen. Sie kann in nichts anderem bestehen als in reiner Kategorialanalyse, d. h. in einer Untersuchung des Grundsätzlichen und Prinzipiellen in allem, was mit dem Anspruch auf Ansichsein auftritt.“14

5. Das Programm der Kategorialanalyse Was das heißt und was den wissenschaftlichen Anspruch – und vermittelt damit auch die bleibende Herausforderung durch die Philosophie Hartmanns – ausmacht, soll hier zumindest an einem Beispiel, dem sogenannten „Kategorienproblem“ angedeutet werden. In einem programmatischen Vortrag mit dem Titel „Ziele und Wege der Kategorialanalyse“, den Hartmann im Herbst 1947 auf dem ersten deutschen Philosophenkongress der Nachkriegszeit gehalten hat, sucht er nach einer 12 Vgl. die Beiträge in diesem Band, insbesondere Teil I und III. 13 Hartmann (1942), mit Beiträgen von Arnold Gehlen, Erich Rothacker u. a. 14 Hartmann (1955a), 51.

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Positionsbestimmung der Philosophie – als Antwort auf ihre weltanschauliche Desavouierung und wissenschaftskritische Destruktion.15 Was die Philosophie leisten kann, ist nach Hartmanns Auffassung „Kategorialanalyse“ und zwar in strenger und kritischer Auseinandersetzung mit den Wissenschaften. Er verfolgt dabei zwei Argumentationslinien: Nur eine philosophische Logik bietet erstens die Möglichkeit, die Pluralität der Kategorien (erkenntnistheoretisch/ ontologisch/ soziologisch-geschichtlich) nicht als billigen Pluralismus oder erkenntnistheoretischen Relativismus in den Wissenschaften zu missverstehen. Nur eine kritisch reflektierte Ontologie eröffnet zweitens die Chance, das Streben nach Adäquation von Erkenntnisgegenstand und Aussage nicht als bloßes Anpassungsphänomen des menschlichen Denkens an eine Umwelt oder soziale Welt – biologisch oder ideologisch verkürzt – zu verfehlen. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, führt Hartmann eine ontologische und eine erkenntnistheoretische Prämisse ein, die sich wechselseitig abstützen: a. Die reale Welt ist geschichtet. Aristoteles hat den Schichtungsgedanken in seiner Seelenlehre zuallererst prägnant als Aufschichtung des physischen, organischen, seelischen und geistigen Seins sichtbar gemacht.16 Hier gilt das Gesetz der Dependenz der höheren von den niederen Schichten wie auch das der relativen Autonomie der einzelnen Schichten. So entsteht die Schwierigkeit für die „Kategorialanalyse“, dass sie einerseits die Abhängigkeiten – organisches bedingt geistiges Leben – und andererseits die Verschiedenheit der Ebenen – Differenz von Kausalität im physischen und im psychischen Bereich – im Auge behalten muss. Das heißt: in einen Blick nehmen muss, um die Analyse der physischen, organischen, seelischen und geistigen Kategorienverhältnisse nicht in einen Perspektivenrelativismus abgleiten zu lassen. Die natürliche Einheit der Welt, wie sie uns in „sinnlicher Gewissheit“ (Hegel) oder „passiver Weltteilhabe“ (Husserl) gegeben ist, bleibt der Leitfaden für die Kategorienforschung. b. Der Schichtungsaufbau der realen Welt impliziert, dass eine Adäquation von Erkennen und Sein zumindest möglich, wenn auch keine Gegebenheit ist. Vielmehr ist es so, dass wir bestenfalls von einem Prozess der Adäquation sprechen können, der durch die Pluralität der Lebenswelt und der Wissenschaften hindurchgeht. Dennoch können wir nach 15 Hartmann (1955b), 89 – 122. 16 Hartmann (1957), 164 – 191; insbes. 184 – 185 zu Aristoteles’ Bedeutung für die Schichtenlehre am Beispiel einer Lektüre von „De anima“.

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Hartmanns Ansicht davon sprechen, „daß allen Kategorien des begreifenden Denkens […] eindeutig die Tendenz innewohnt, sich mit den Seinskategorien zu decken und so die kategoriale Identität herzustellen.“17 Die Grundtendenz des Begreifens ist der Versuch, sich „der Sache“ selbst anzunähern und über sie angemessene Aussagen zu machen. „Der ganze Apparat der Erkenntniskategorien, soweit diese beweglich sind, läßt sich hiernach auffassen als eine einzige große Zurüstung der Anpassung des Intellekts – und letzten Endes des Menschen überhaupt – an die Welt, in der er lebt.“18 Anstatt diesen Sachverhalt „biologisch zu überspitzen“, wie es z. B. in einem Schlüsseltext der philosophischen Biologie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in Konrad Lorenz’ Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwrtiger Biologie (1941) 19 – geschieht, strebt Hartmann eine komplexe anthropologische Deutung des Befundes an, dass sich in allem Erleben, Zulernen, Einsehen und Eindringen von und in Welt, so auch in den Wissenschaften, „das Ringen um die Adäquation der eigenen Erkenntniskategorien“ zeigt. Doch ist damit unmissverständlich klar geworden, dass Fragen der Kategorienforschung nach Hartmanns Auffassung in das Feld der biologischen und anthropologischen Philosophie hineinreichen und auch nur dort ihre Bestätigung finden.

6. Neue Ontologie und Anthropologie – die Entdeckung einer Wirkungsgeschichte Die Beziehung zwischen Hartmann und den Gründungsvätern der philosophischen Anthropologie ist erst in letzter Zeit aufgedeckt worden.20 Zusammenfassend kann man sagen, dass Hartmann aus der Perspektive seiner „Neuen Ontologie“ auch eine „neue Anthropologie“ begrüßt hat. Die Begründer der philosophischen Anthropologie konnten sich für ihre Sache auf Hartmanns strikte und bei ihm schichtenontologisch konzipierte Abweisung eines dualistischen Menschenbildes berufen. Merkwürdig ist es freilich, dass es nicht zur Entwicklung eines gemeinsamen Lösungsansatzes zur Überwindung des Dualismus bzw. zu einem gemeinsamen Forschungsprogramm zur Vereinigung der Auto17 18 19 20

Hartmann (1955b), 119 – 120. Hartmann (1955b), 120. Lorenz (1941), 94 – 125. Vgl. dazu die Beiträge in diesem Band, Teil II.

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nomie des geistigen Lebens mit der vielseitigen Abhängigkeit von der organischen Seinsschicht gekommen ist. Der Lösungsansatz Hartmanns ist denen der philosophischen Anthropologen (und auch denen der Phänomenologen, wie man mittlerweile ergänzen muss) in einem wichtigen Punkt genau entgegengesetzt. Statt aufzuzeigen, dass das leibliche Leben eine eigentümliche – nur durch die Metaphysik bislang verdrängte – Gegebenheit ist, erklärt Hartmann das Gegenteil, nämlich dass unser Erkenntnisapparat kein eigenes Organ für die Erfassung des Lebens habe und somit keinen Zugang zur Realität der organischen Funktionen. Die angleichende und aufbauende Funktion im Stoffwechsel, die Assimilation des aufgenommenen Stoffes, der formbildende Faktor im Gesamtprozess, die auffälligen Erscheinungen der Anpassung und der Zweckmäßigkeit bleiben rätselhaft. Statt diese Irrationalität erneut zu verdrängen, zielt die „Neue Ontologie“ jedoch dahin, sie in die reale Welt einzubauen, indem die eigentümliche Determination des Organischen aufgeklärt wird. Die Grundlegung der neuen Anthropologie kann Hartmann zufolge nur auf dem Weg über eine neue Ontologie erfolgen. Daher ist es dringend erforderlich, diesen alternativen Lösungsansatz ausführlich zu diskutieren, der zudem wie kein anderer geeignet ist, das Wesen der aporetischen Methode, in der Hartmann auch seinem Zeitgenossen Karl Popper begegnet, zu demonstrieren.21

7. Zur Aktualität Hartmanns oder die Frage „Was bleibt?“ Schon die kurze Darstellung zeigt, dass Hartmanns Problemdenken durchaus auf der Höhe der Forschung in den Natur- und Sozialwissenschaften seiner Zeit stand und auch heute noch steht. Aktuelle Positionen der evolutionären Anthropologie, der evolutionären Erkenntnistheorie und der Neurobiologie, die auf eine Naturalisierung menschlichen Denkens zielen, lassen aus der philosophischen Perspektive Hartmanns eine kritische Revision erkenntnistheoretischer Standards dringlich erscheinen. Ebenso kann die Diskussion über das sogenannte Determinismusproblem, von der physikalischen bis zur soziokulturellen Ebene, durch Hartmanns Modell der Dependenz und relativen Autonomie befruchtet werden. Auch mit Blick auf die analytische Philosophie des Geistes lassen sich von Hartmann her – indem etwa die Bezüge zwischen 21 Zu dieser Parallele siehe Morgenstern (1992).

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dessen kategorialer Dependenzgesetzlichkeit und Supervenienzkonzepten verfolgt werden – antireduktionistische Ansätze verstärken.22 Schließlich wird der systematische Rückgriff auf das Denken Hartmanns dabei helfen, zentrale ontologische Voraussetzungen des gegenwärtig wieder intensiv diskutierten Denkansatzes der modernen philosophischen Anthropologie zu klären und seine Leistungsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit den Einzelwissenschaften zu überprüfen.

8. Darstellung der Beiträge in diesem Band Der vorliegenden Sammlung der Beiträge liegen Vorträge zugrunde, die auf einer Internationalen Nicolai-Hartmann-Konferenz (16. bis 18. März 2011) an der Bergischen Universität Wuppertal gehalten wurden. Vor der Publikation der Beiträge stand eine Grundsatzentscheidung. Die Herausgeber haben sich dazu entschieden, das Konferenzprogramm in seine Elemente zu zergliedern, weitere Beiträge einzuwerben und aus dem vorliegenden Material eine neue Ordnung zu entwerfen. Das Ergebnis ist eine Gliederung des Buches in vier Teile, die sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften, insbesondere mit dem Programm der Kategorienforschung (I.) beschäftigen, die „Neue Ontologie“ Hartmanns in den Kontext von Philosophischer Anthropologie und Philosophie des Organischen (II.) stellen, um darauf aufbauend die Felder von Person, Freiheit und Geschichte (III.) zu durchmessen und zum Abschluss Hartmanns Philosophie ins Gespräch mit aktuellen Positionen in der Philosophie zu bringen und provokant zu fragen, was von Hartmanns Philosophie auch heute noch zu bedenken bleibt (IV.). Letztendlich können wir, die Beiträger dieses Buches und seine Herausgeber, diese Frage nur an die Leser weitergeben. Mit der Abhandlung von Reinhold Breil wird der Abschnitt über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften eröffnet. Breil wirft die Frage auf, ob die aktuellen Debatten in der Wissenschaftstheorie von Hartmanns Überlegungen zu einem wissenschaftlichen Realismus profitieren können – und gibt eine bejahende Antwort. Von Hartmann können die Vertreter eines modernen Realismus lernen, wie die Suche nach Prinzipien und kategorialen Bestimmungen voranschreiten muss. Am Begriff des Naturgesetzes weist Breil nach, dass eine modaltheore22 Zu diesen und anderen Fragen der Aktualität Hartmanns vgl. die Beiträge in diesem Band, Teil IV.

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tische Begründung auch die Frage nach Realgründen und Realbezügen wissenschaftlicher Erkenntnis einbeziehen muss. Hartmanns Stärke liegt darin, dass er das Erkenntnissubjekt als Teil der realen Welt versteht und den Prozess der Welterkenntnis als Übergang von der Phänomenerfassung zur Problemfeststellung und zur Aufstellung von Problemlösung insgesamt als Suche nach Orientierung im Denken und Handeln des Menschen erfasst. Weil die realen Weltbezüge des Menschen vielschichtig sind, lehnt Hartmann einen wissenschaftstheoretischen Reduktionismus vehement ab. Gerald Hartung geht in seinem Beitrag „Genese und Geltung der Kategorien. Nicolai Hartmann und das Problem der Kategorienforschung“ von der zwischen 1840 und 1950 geführten Debatte um das Kategorienproblem aus. In deren Zentrum steht das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaften: Sind Kategorien als genuin philosophische Stammbegriffe oder als allgemeine Grundbegriffe der Wissenschaften zu konzipieren? Sollen sie in Abgrenzung zu oder müssen sie in Bezug auf die Natur- und Sozialwissenschaften identifiziert, analysiert und ausgewiesen werden? Wie Hartung vor dem Hintergrund einiger geschichtlicher Wegmarken der Kategorienforschung herausarbeitet, steht Hartmann tendenziell für die jeweils zweite Alternative, gibt der Kategorienforschung aber einen anthropologischen Dreh, indem er in seinem Spätwerk für einen Prozess der Adäquation der Erkenntnis- an die Seinskategorien eintritt. Stefan Nachtsheim stellt in seiner Studie „Neue Wege der Kategorienlehre?“ Hartmanns Abkehr von der Marburger Schulrichtung des Neukantianismus dar. Der entscheidende Schritt erfolgt mit der Unterscheidung von ontologischen und erkenntnistheoretischen Kategorien. Das Erkenntnisproblem wird auf diese Weise zweizügig verhandelbar: zum einen wird der Erkenntnisvorgang als Seinsrelation bestimmt (Ontologie), zum anderen wird jedoch die Geltungsfrage der Erkenntnis in ihrer Zuordnung zu einem Erkenntnissubjekt (Gnoseologie) als relational aufgefasst. Damit ist jedem Versuch, ein monistisches Erkenntnismodell aufzustellen, ein Riegel vorgeschoben. Nachtsheim zeigt in seiner genauen Analyse einzelner Fundamentalprinzipien der Erkenntnis, aber auch in der Unterscheidung fundamentaler und regionaler Kategorien, dass Hartmann eine entwicklungsoffene Theorie der menschlichen Wirklichkeitserkenntnis formuliert – und damit eine Intention der Kantischen Kategorienlehre wieder aufnimmt. Einen Vergleich der Philosophie Nicolai Hartmanns mit Werner Heisenbergs wissenschaftstheoretischem Ansatz unternimmt Gregor

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Schiemann in seiner Abhandlung „Mehr Seinsschichten in der Welt? Vergleich und Kritik der Schichtenkonzeptionen von Nicolai Hartmann und Werner Heisenberg“. In beiden Konzeptionen finden wir seiner Auffassung nach ein Modell der Wirklichkeit, das eine Schichtung derselben vorsieht, wobei es auf die Herausstellung der Gemeinsamkeiten und Differenzen ankommt. Interessant ist zu sehen, dass beide Denker bei gleichlaufender Schichtenfolge (vom Anorganischen zum Geistig-Kulturellen) und bei unterschiedlichen Graden der Binnendifferenzierung innerhalb des Schichtengefüges sich dennoch gemeinsam gegen das Programm einer reduktionistischen Welterklärung wenden, weil sie bestimmte Regionen der Welt für unerklärbar halten. Schiemann setzt dem ontologischen Modell Hartmanns und Heisenbergs eine lebensweltliche Konzeption entgegen, die es erlaubt, übergreifende Typisierungen von Gegenständen vorzunehmen, die in einer Schichtenontologie nur jeweils einer Schicht zugehören. Insbesondere für die Technisierung unserer Lebenswelt gilt, dass sie sich durch die Möglichkeit der Integration anorganischer, organischer – und potentiell auch seelischpsychischer und geistig-kultureller – Strukturen auszeichnet. Christian Mçckel beschäftigt sich unter dem Titel „Nicolai Hartmann – ein Phänomenologe?“ mit Hartmanns Verhältnis zur Phänomenologie. Nach einigen philosophie- und rezeptionsgeschichtlichen Vorüberlegungen zeigt Möckel, dass es unter den philosophischen Zeitgenossen Hartmanns kontrovers war, ob dieser zur Phänomenologie gerechnet werden könne oder nicht. Auch Husserl zeigte sich von Hartmanns Grundzgen einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) zunächst stark beeindruckt, kritisiert darin aber später eine „grundverkehrte dogmatistische Metaphysik, zu der völlig mißverstandene Phänomenologie die Fundamente liefert“ (Husserl). Im Hauptteil von Möckels Beitrag wird dann sowohl Hartmanns positive Aufnahme als auch seine Kritik an der Phänomenologie, die für ihn vor Aporetik und Theorie nur die erste von drei Stufen der Philosophie der Erkenntnis bildet, detailliert herausgearbeitet. Der Aufsatz „Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie“ von Joachim Fischer leitet den zweiten Abschnitt des Buches ein, der die „Neue Ontologie“ in den Kontext von Philosophischer Anthropologie und Philosophie des Organischen stellt. Fischer demonstriert, dass Hartmann für die Entstehung und Durchsetzung des von Max Scheler und Helmuth Plessner begründeten Paradigmas der Philosophischen Anthropologie eine Schlüsselrolle spielte. Dazu zeichnet er erstens in philosophiehistorischer Hinsicht die „Kölner Konstellation zwischen

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Scheler, Hartmann und Plessner“ nach. Zweitens verdeutlicht er in systematischer Hinsicht von Hartmanns Theoremen des seitlichen Blicks auf die Subjekt-Objekt-Korrelation und der ontologischen Schichtung des Seins her die Grundzüge und Affinität der philosophisch-anthropologischen Konzeptionen von Scheler und Plessner. Die Verbindung von Neuer Ontologie und Philosophischer Anthropologie resultiert, so Fischers Resümee, in einem neuen Theorietyp zwischen Idealismus und Naturalismus: einer reflexiv modernen Theorie. Matthias Wunsch entwirft in seinem Beitrag zwei Thesen zur Bedeutung der Kategorienlehre Hartmanns. Die eine These besagt, dass die philosophische Anthropologie Plessners und Schelers von Hartmanns Abhandlung „Kategoriale Gesetze“ profitiert hat. In einer genauen Analyse zeigt Wunsch am Beispiel der Frage nach der kategorialen Selbstständigkeit des Geistes, dass Hartmanns Bestimmung einer relativen Autonomie geistiger Phänomene einerseits eine Nähe zu Schelers Bestimmung des Menschen als Geistwesen aufweist und andererseits die Möglichkeit eröffnet, Schelers philosophische Anthropologie gegen den etwa von Cassirer geäußerten Vorwurf des Epiphänomenalismus zu verteidigen. Die zweite These beinhaltet den Gedanken, dass die Ontologie Hartmanns für die aktuellen Diskussionen zur Philosophie des Geistes und der Person fruchtbar gemacht werden kann. Wunsch legt im Einzelnen dar, wie Hartmanns Ontologie, die für die Relation der verschiedenen Seinsbereiche das Strukturprinzip der „Selbständigkeit in der Abhängigkeit“ fordert, für eine Philosophie der Person, die das PersonKörper-Problem als eine „unity without identity“ auffasst, von Bedeutung sein kann. Beide Thesen machen deutlich, dass unsere kritische Revision der Philosophie Hartmanns noch am Anfang steht. In seiner Studie „Die Stellung des Menschen bei Nicolai Hartmann und Max Scheler“ entfaltet Gerhard Ehrl die anthropologischen und metaphysischen Kontexte, in denen beide Philosophen nach dem Menschen fragen. Während es in Schelers philosophischer Anthropologie in erster Linie um den Menschen seiner Wesensidee (nicht seinem Naturbegriff) nach geht, kennt Hartmann nur den realen Menschen; seine Anthropologie wäre daher (i) in einer Ontologie der realen Welt zu fundieren. Sie sollte Ehrl zufolge zudem (ii) als eine metaphysische gelten, da Hartmann dem Menschen die metaphysische Mittlerfunktion zwischen Wertreich und Wirklichkeit zuweist. Schließlich lasse sich bei Hartmann (iii) eine anthropologische Metaphysik ausmachen, die sich jedoch nicht wie die Schelersche aus der Bewegung der Anthropologie zu einer Metaphysik des Absoluten, sondern im Kern aus dem Gedanken

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ergebe, dass gerade die Sinnlosigkeit der Welt für den Menschen zweckmäßig ist. Steffen Kluck untersucht Hartmanns Ontologie in ihrer Beziehung zu der Heideggers. Während die bisherige Forschung dazu vor allem den Blickwinkel des letzteren zur Geltung gebracht hat, möchte Kluck diese Einseitigkeit mit seinem Aufsatz „Entwertung der Realität. Nicolai Hartman als Kritiker der Ontologie Martin Heideggers“ beheben. Er zeigt erstens, dass eine Verbindung beider Philosophen aufgrund einiger ähnlicher Perspektiven nahegelegen hätte. Was dem sachlich entgegenstand, arbeitet er dann zweitens im Fokus auf Hartmanns Kritikpunkte an Sein und Zeit heraus. Sie betreffen etwa Heideggers Verständnis von Ontologie, deren Orientierung am Dasein, seine Verwechslung von Sein und Gegebenheit und das Verhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft. Abschließend führt Kluck Gründe an, aus denen Hartmanns Position als eine echte Alternative zur Heidegger-Tradition gelten kann. Thomas Kessel stellt in seinem Aufsatz „Der Organismus als Individuum“ den vierten und letzten Band von Hartmanns Ontologie, die Philosophie der Natur. Abriß der speziellen Kategorienlehre (1950), in den Mittelpunkt. Er zeigt, wie Hartmann bestrebt ist, die eigene Position gegen die einflussreichen Paradigmen des Mechanismus (E. Haeckel, W. Roux) und des Vitalismus (H. Driesch) zu gewinnen. Aus Sicht der Neuen Ontologie scheitern beide an unzulässigen kategorialen Grenzüberschreitungen vom Bereich des Anorganischen „nach oben“ bzw. vom Bereich des Geistigen „nach unten“. Vor diesem Hintergrund sowie dem von Hartmanns eigener früherer Position in den Philosophischen Grundfragen der Biologie (1912) erörtert Kessel Hartmanns Konzeption des organischen Gefüges und der entsprechenden Kategorien mit dem Fokus auf die Individuums-Kategorie. Mit dem Beitrag von Walter Jaeschke „Über Personalität“ wird der Übergang zum Themenschwerpunkt „Person, Freiheit und Geschichte“ vollzogen. Jaeschke wendet sich dem personalen Geist, also einer Grundkategorie des geistigen Seins zu. Der Untertitel „Das Problem des Geistigen Seins“ verweist nicht nur auf Hartmanns gleichnamige Monographie, sondern steht zugleich für eine Reihe kritischer Anfragen Jaeschkes an die Konzeption Hartmanns. Sie betreffen hauptsächlich die Unterscheidung zwischen dem seelischen und dem geistigen Sein. Jaeschke plädiert zwar nicht für deren Preisgabe, argumentiert aber dafür, dass die Zäsur zwischen beiden Seinsbereichen bei Hartmann in der Sache zu scharf und in der Durchführung zu unpräzise ausfällt, wenn Personalität begriffen werden soll. Er meint, Personalität sei nicht allein im

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geistigen Sein zu verorten, und empfiehlt, um dies zu zeigen, eine nähere Analyse der von Hartmann eher am Rande thematisierten Rückbezogenheit des personalen Geistes auf sich selbst. Inga Rçmer beschäftigt sich mit der materialen Wertethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns. Sie geht davon aus, dass sich zwar die Idee apriorischer Ordnung und Geltung von Werten heute nicht mehr verteidigen lässt, hält jedoch einige Grundgedanken zu „Person und Persönlichkeit bei Max Scheler und Nicolai Hartmann“ – so der Titel ihres Beitrags – weiterhin für fruchtbar. Beide Philosophen betonten zu Recht, dass die Person contra Kant in ihrer Individualität zu konzipieren sei. Darüber hinaus könne bei Scheler insbesondere an die Analyse des sittlichen Lebens sowie der es leitenden Eingrenzungserfahrungen angeschlossen werden und bei Hartmann an den Begriff individueller realer Freiheit. In einem Ausblick weist Römer auf die Möglichkeit hin, die materiale Wertethik in einem phänomenologischen Rahmen durch eine Ethik des Begehrens ( Jean-Paul Sartre, Jacques Lacan, Emmanuel Levinas) aufzugreifen und weiterzuentwickeln. „Nicolai Hartmanns Metaphysik der Freiheit“ steht bei Lszl Tengelyi im Mittelpunkt seines gleichnamigen Beitrags. Tengelyi stellt die grundlegenden Einsichten Hartmanns in ihrer systematischen Stringenz und aporetischen Struktur heraus. Als grundlegende Einsichten in die Struktur der menschlichen Freiheit identifiziert er bei Hartmann die Ablenkbarkeit der Kausalreihe, die Heterogenität der Determinationstypen, den Indeterminismus der Sollenstendenzen und die Grundtatsache des Wertkonflikts. Die vier Grundeinsichten markieren die Möglichkeiten persönlicher Freiheit, das sind Initiative, Wahl und Entscheidung. Es ist vor allem die praktische Philosophie Kants, an deren Maßstab Hartmann seine Position bestimmt. Tengelyi betont die Spannungen in Hartmanns Ethik, die aus den genannten Grundeinsichten resultieren. So bleibt im Zentrum von dessen Metaphysik der Freiheit ein unlösbares Restproblem: Hartmann gelingt es nicht, das Prinzip der persönlichen Freiheit und das Sollensprinzip als komplementär herauszuarbeiten – und er lässt diesen Widerstreit, wie Tengelyi nachzeichnet, in theoretischer Hinsicht als unüberschreitbare Rationalitätsgrenze und in praktischer Absicht als Konflikt der Wertsphären bestehen. Von der Nähe und Ferne zweier Gelehrter, die sich als Lehrer und Student in Göttingen begegnet sind, handelt der Beitrag „Zum Verhältnis von Personalität und Temporalität bei Nicolai Hartmann und Wolfhart Pannenberg“ von Thomas Renkert. Renkert beschränkt sich dabei auf eine Analyse des Personalitätskonzepts bei beiden Denkern und stellt die

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Fragen nach der Zeitlichkeit und Einheit der Person als Merkmale der Strukturganzheit von Personen heraus. Das gemeinsame Band zwischen Hartmann und Pannenberg ist die Suche nach der Wirklichkeit (und nicht der Idealität) der Person. Daher wird die Analyse der Personalität als Struktur des Menschseins auch nicht der Ethik überlassen, sondern zu einem Fundamentalproblem der Ontologie und Theologie erhoben. Während Hartmann jedoch an der Stelle stehenbleibt, wo er die Offenheit und Ganzheit sowie deren Gefährdung und die Möglichkeit des Verlusts personaler Identität beschreibt und damit einen irrationalen Rest proklamiert, zielt Pannenbergs Theologie auf die Überwindung genau dieser Paradoxie ab. Am Bespiel des Umgangs mit dem Problem der Kontingenz zeigt Renkert die Differenz einer Ethik Hartmanns, die von der Härte des Schicksals spricht, und einer Theologie Pannenbergs, die auf die Möglichkeit der Überwindung dieser Welt hinweist. Carlo Scognamiglio wendet den Blick einem anderen Aspekt des geistigen Seins zu: dem geschichtlichen. In seinem Aufsatz „History and Tradition in Nicolai Hartmann’s Theory of Spiritual Being“ setzt er dabei zwei Schwerpunkte. Zum einen untersucht er – mit Seitenblicken auf Hegel und Marx – Hartmanns Konzeption des objektiven Geistes, da nur der objektive Geist Geschichtsträger im strikten Sinn sei. Zum anderen stellt Scognamiglio vor dem Hintergrund von Hartmanns Skepsis gegenüber erkenntnistheoretischen und methodologischen Ansätzen dessen kritisch-ontologischen Zugang zur Geschichte heraus. Im Mittelpunkt stehen dabei Analysen des Konzepts der Tradition als einer für die Schicht des geistigen Seins im Unterschied zu anderen Schichten spezifischen Determinationsweise und, damit verbunden, des Begriffs des „Hineinragens“ der Vergangenheit in die Gegenwart. „Die Sphären der Geschichtlichkeit und ihre Kontexte bei Nicolai Hartmann“ lautet der Titel des Beitrags von Mirko Wischke. Wischke entwickelt Hartmanns Verständnis der Philosophiegeschichte vor dem Hintergrund des Streits über den „historischen Empirismus“, in den das späte 19. Jahrhundert verwickelt war. In diesem Zusammenhang geht es um die Frage, wie die Positionen der „Historiker“ und der „Systematiker“ unter den Philosophen zu vermitteln sind. Hartmann erkennt nicht in den philosophischen Systemen, sondern in den systematischen Problemen das, was seiner Ansicht nach für eine historische Betrachtung von Bedeutung ist: Beständigkeit. Wischke zeigt, wie Hartmann den Vorgang einer „Verdichtung des Denkens“ im geschichtlichen Prozess des Philosophierens nachzeichnet. Dabei handelt es sich um eine dialektische Spannung zwischen der Objektivierung sachlicher Gehalte einerseits und

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ihrer Verlebendigung in der historischen Aneignung andererseits. Aufgabe der Philosophiegeschichtsschreibung ist es, die „sachliche Fortarbeit an den immer wiederkehrenden Grundproblemen“ unter Berücksichtigung einer unvermeidbaren Veränderung der Bearbeitungsweise darzustellen. Daniel Dahlstrom eröffnet mit seinen Überlegungen „Zur Aktualität der Ontologie Nicolai Hartmanns“ den vierten Abschnitt des Buches, der sich mit der Frage beschäftigt, was von der Philosophie Hartmanns auch heute noch zu bedenken bleibt. Dahlstrom zeigt, dass Hartmann mit seiner Allgemeinen Kategorienlehre den gegenwärtigen Begriff der supervenierenden Emergenz vorwegnimmt. Hartmanns Aktualität erschöpfe sich darin aber nicht. So lasse sich etwa an seine heute weitgehend verloren gegangene Einsicht in die ontologische Ergiebigkeit der Geschichte der Ontologie anknüpfen. Zudem erinnere uns Hartmann an die genuin ontologische Aufgabe, „die Dinge im Verhältnis mit allen anderen Dingen bzw. das Seiende im Ganzen zu begreifen“ – eine Aufgabe, deren Bewältigung schon seiner Auffassung nach ohne Wissenschaftsbezug nicht zu leisten ist und aus internen Gründen revidierbar bleiben müsse. Am Ende seines Aufsatzes formuliert Dahlstrom allerdings auch einige systematische Bedenken, denen sich eine heutige Hartmann-Forschung zu stellen hätte. Mit der Studie von Robert Schnepf, die nach dem Nutzen einer ontologischen Grundlegung der Geschichtswissenschaft fragt, werden die Überlegungen zur Aktualität der Philosophie Nicolai Hartmanns weiter vorangetrieben. Hartmann verabschiedet eine Geschichtsphilosophie Hegelscher Provenienz und einen reduktionistischen Materialismus. In seiner Schrift Das Problem des geistigen Seins sucht er nach exakten Determinationsverhältnissen in seiner Schichtenlehre, um für die höhere Schicht des geistigen Seins einen „Spielraum“ der Entscheidung bestimmen zu können. Schnepf zeichnet nach, welche Implikationen die Schichtenlehre für das Problem des „Spielraums“ hat und kommt zu dem Ergebnis, dass Hartmann auf das ethische Fundamentalproblem von Freiheit und Determination abzielt und den Bereich der Komplexität von Handlungsbedingungen, der in den Geschichtswissenschaften mit dem Terminus „Handlungsspielraum“ in Rechnung gestellt wird, vernachlässigt. Insgesamt scheinen Hartmanns Erörterungen zum Erkenntnisproblem in den Geschichtswissenschaften nicht der einzelwissenschaftlichen Forschung, sondern dem Konstruktionsprinzip der Schichtenlehre geschuldet zu sein. Das Projekt einer ontologischen Absicherung geschichtswissenschaftlicher Begriffsbildung muss sich, so das Fazit von

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Schnepf, trotz gemeinsamer Stoßrichtung gegen einen bloß erkenntnistheoretischen Forschungsansatz, von Hartmanns Programm einer „Neuen Ontologie“ verabschieden. Magnus Schlette unterzieht in seiner Studie „Wahrnehmung in Nicolai Hartmanns erkenntnistheoretischem Realismus“ dessen Phänomenanalyse der Wahrnehmung einer kritischen Prüfung. In einem ersten Schritt deckt er Inkonsequenzen in Hartmanns Argumentation auf, die seinen erkenntnistheoretischen Realismus betreffen. Das ist vorrangig der Zusammenschluss einer vermeintlich strikt realistischen Erkenntnistheorie mit dem Modell des Repräsentationalismus idealistischer Provenienz. Schlette sieht dennoch die Stärke von Hartmanns Denkansatz im Ausloten eines Mittelwegs zwischen empiristischen, d. h. tendenziell monistischen, und transzendentalphilosophischen, d. h. dualistischen Konzeptionen in der Wahrnehmungstheorie. Das verdeutlichen der Vergleich mit Thomas Reids Wahrnehmungskonzeption und der Verweis auf die Austin-Ayer-Debatte. In der abschließenden Diskussion der Chancen eines anti-repräsentationalistischen Wahrnehmungsmodells bei Wittgenstein, Williams und McDowell wird die Frage offen gehalten, ob Hartmanns erkenntnistheoretischer Realismus von einem anti-realistischen Gegenentwurf her zu verwerfen oder vielmehr zu korrigieren ist. Den großen Bogen der Beiträge schließt Christian Thies mit der Frage „Was bleibt von Hartmanns Ethik?“. Obwohl Thies mit Hartmann hart ins Gericht geht, sieht er doch Anknüpfungspunkte für aktuelle Debatten in der Ethik: So scheint für ihn Hartmanns Ethik ein umfassender philosophischer Entwurf zu sein, der aufs Ganze geht und auf prinzipiellen Vorentscheidungen aufruht, sich darüber hinaus strikt religionskritisch gibt und das Problem der Willensfreiheit mit systematischer Wucht in Angriff nimmt. In einzelnen Schritten analysiert Thies die normativen Prinzipien der Ethik Hartmanns (das Gute, Edle, die Fülle, die Reinheit) und die bipolare Ordnung der moralischen Gefühle. Thies kommt zu dem Ergebnis, dass Hartmanns systematischer Ansatz in der Behandlung des Freiheitsproblems in erkenntnistheoretischer Hinsicht gestärkt und in ontologischer Hinsicht abgeschwächt werden muss. Möglicherweise liegt die Stärke von Hartmanns Ethik, so das Fazit von Thies, gerade nicht in ihrer Verankerung in einer Schichtenontologie, sondern in ihrer strategischen und systematisch präzisen Opposition gegenüber einem radikalen Reduktionismus und einem überschwänglichen Platonismus. Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die finanzielle Unterstützung der Konferenz „Nicolai Hartmann – Von der Systemphilosophie zur Systematischen Philosophie“, die vom

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16. bis 18. März 2011 an der Bergischen Universität Wuppertal stattgefunden hat. Großzügige Zuwendungen haben wir von der Sparkasse Wuppertal und der Gesellschaft der Freunde der Bergischen Universitt Wuppertal (GFBU) erhalten. Auch dafür möchten wir uns nachdrücklich bedanken. Die Durchführung der Konferenz wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung der Mitarbeiter im Arbeitsbereich Kulturphilosophie und Ästhetik am Philosophischen Seminar der Bergischen Universitt Wuppertal. Der erste Dank für die Vorbereitung und Organisation gebührt Ines Bräuniger, die auch bei der Vorbereitung der Manuskripte und der Bearbeitung der Druckfahne des Buches mitgewirkt hat. Ihr zur Seite standen als studentische Hilfskräfte, immer zuverlässig und belastbar, Heike Koenig, die uns ebenfalls bei der Korrektur der Manuskripte unterstützt hat, und Daniel Rompf. Dem Verlag De Gruyter Berlin, vor allem seiner Cheflektorin Dr. Gertud Grünkorn, danken wir für die Aufnahme dieses Buches in sein Verlagsprogramm. Der Verlag De Gruyter erweist damit seinem Hausautor Nicolai Hartmann eine kaum zu überschätzende Reverenz. Wir alle, die Beiträger zu diesem Buch, der Verlag und die Herausgeber, haben die nicht unbegründete Hoffnung, dass es an der Zeit ist, sich das Werk Nicolai Hartmanns neu zu erschließen und seine Philosophie einer kritischen Revision zu unterziehen.

Literaturhinweise Breil (1995): Reinhold Breil, „Literatur zur ,neuen Ontologie‘ Hartmanns und Jacobys“, in: Philosophischer Literaturanzeiger, Bd. 48.1, 13 – 26. Breil (1996): Reinhold Breil, Kritik und System. Die Grundproblematik der Ontologie Nicolai Hartmanns in transzendentalphilosophischer Sicht, Würzburg. Breton (1962): Stanislas Breton, L’Þtre spirituel – Recherches sur la philosophie de Nicolai Hartmann, Lyon. Buch (1982): Alois Johann Buch (Hg.), Nicolai Hartmann 1882 – 1982, Bonn. Carnap (1999): Rudolf Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 2. Auflage: Stuttgart. Fischer (2008): Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg-München. Hansen (2008): Frank-Peter Hansen, Nicolai Hartmann – erneut durchdacht, Würzburg. Hartmann (1942): Nicolai Hartmann (Hg.), Systematische Philosophie, StuttgartBerlin. Hartmann (1955a): Nicolai Hartmann, „Systematische Selbstdarstellung (1933)“, in: Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin, 1 – 51. Hartmann (1955b): Nicolai Hartmann, „Ziele und Wege der Kategorialanalyse“, in: Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin, 89 – 122.

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Hartmann (1957): Nicolai Hartmann, „Die Anfänge des Schichtungsgedankens in der Alten Philosophie“, in: Kleinere Schriften, Bd. 2, Berlin, 164 – 191. Hartung (2003): Gerald Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflçsung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist. Hartung u. Köhnke (2006): Gerald Hartung u. Klaus Christian Köhnke (Hgg.), Friedrich Adolf Trendelenburgs Wirkung (Eutiner Forschungen. Bd. 10), Eutin. Heimsoeth (1952): Heinz Heimsoeth (Hg.), Nicolai Hartmann – der Denker und sein Werk, Göttingen. Hüntelmann (2000): Rafael Hüntelmann, Mçglich ist nur das Wirkliche. Nicolai Hartmanns Modalontologie des realen Seins, Dettelbach. Kanthack (1962): Katharina Kanthack, Nicolai Hartmann und das Ende der Ontologie, Berlin. Köhnke (1993): Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universittsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. Lorenz (1941): Konrad Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“, in: Bltter fr Deutsche Philosophie, Bd. 15, 94 – 125. Morgenstern (1992): Martin Morgenstern, Nicolai Hartmann. Grundlinien einer wissenschaftlich orientierten Philosophie, Tübingen. Morgenstern (1997): Martin Morgenstern, Nicolai Hartmann zur Einfhrung, Hamburg. Harich (2000): Wolfgang Harich, Nicolai Hartmann – Leben, Werk, Wirkung. Würzburg. Nachtsheim (1985): Stephan Nachtsheim, „Neuere Literatur zu Nicolai Hartmann“, in: Philosophischer Literaturanzeiger, Bd. 38, 38 – 102. Poli u. a. (2011): Roberto Poli, Carlo Scognamiglio u. Frederic Tremblay (Hgg.), The Philosophy of Nicolai Hartmann, Berlin-New York. Schneider (1998): Norbert Schneider, Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen, Stuttgart. Symposium (1982): Symposium zum Gedenken an Nicolai Hartmann (1882 – 1950), Göttingen. Wolandt (1984): Gerd Wolandt, „Nicolai Hartmann: Ontologie als Grundlehre“, in: Grundprobleme der großen Philosophen, Bd. VI, 2. Auflage: Göttingen. Zeller (1873): Eduard Zeller, „Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz“, in: Historische Commission bei der Königl. Academie der Wissenschaften (Hg.), Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, Neuere Zeit, Dreizehnter Band, Geschichte der deutschen Philosophie, München. Zeller (1884): Eduard Zeller, „Ueber die Gründe unseres Glaubens an die Realität der Aussenwelt“, in: Vortrge und Abhandlungen, Dritte Sammlung, Leipzig, 225 – 285.

I. Philosophie und Wissenschaften – Das Programm der Kategorienforschung

Hartmanns Beitrag zu einer Begründung des wissenschaftlichen Realismus Reinhold Breil I. Einführung und Übersicht Von Nicolai Hartmann kennen wir keine ausgearbeitete Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftslehre. Und doch könnte die seit Jahren in der Wissenschaftstheorie zu beobachtende Realismus-Debatte von Hartmanns Problemanalysen zu Möglichkeit, Grenzen und Sicherheit von Wissenschaft profitieren. Warum sie das nicht vermag, beruht wohl, wie Hartmann vermutlich sagen würde, auf einem „Fehler“, einer standpunktverhafteten systematischen Voreinstellung, die den Blick auf die eigentliche Problemlage verstellt. Zwar ist Hartmann im öffentlichen philosophischen Bewusstsein vor allem als Systematiker und Mitbegründer der neuen Ontologie präsent. Doch Hartmann war ebenso Problemdenker. Der Rationalismus seiner systematischen Philosophie beginnt mit einer Problemanalyse des philosophischen Problemstandes, auf die eine neue, kritisch-ontologische Antwort zu geben ist. So stößt Hartmann in weiterer Ausarbeitung der Ontologie immer wieder an grundsätzliche Grenzen rationaler Systematik, und zwar an solche, die jeder kritisch Philosophierende unabhngig von seinem jeweiligen philosophischen Standpunkt findet. Dazu zählen „irrationale Reste“ wie die Grenzen der Erkennbarkeit: Metaphysische Probleme ergeben sich zwar unausweichlich, sind aber nicht endgültig zu lösen.1 Dass dieser Ansatz auch in der aktuellen Problemlage hilfreich sein kann, möchte ich am Beispiel des neueren wissenschaftlichen Realismus zeigen.2 Der Realismus sei die natürliche Einstellung der Wissenschaften, hat Nicolai Hartmann einmal gesagt. Hier trifft er sich mit den zeitgenössischen Realismen, die zu Recht einen vorherrschenden Realismus in den 1 2

Vgl. Hartmann (1955b), 63. Eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Realismus ist in Breil (2011) zu finden.

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Naturwissenschaften konstatieren. Beispiele finden sich ja im Überfluss. So glauben wir an die Existenz theoretischer Entitäten wie Elektronen oder elektromagnetische Felder: Ohne elektromagnetische Felder könnten wir nicht mit dem Handy telefonieren, ohne Elektronen funktioniert kein Computer. Doch trotz seiner differenzierten Ausführungen zur Ontologie, Modal- und Kategorialanalyse spielt die Realismus- und Wissenschaftsbegründung Hartmanns heute kaum eine Rolle. Das liegt nicht nur an der unterstellten sprachanalytischen Abstinenz, die seiner Philosophie anzuhaften scheint. Dabei würde die Beschäftigung mit Hartmann der gegenwärtigen Diskussion fruchtbare Impulse geben können. Dies betrifft vor allem seine Analysen zu dem, was er den metaphysischen Hintergrund der Naturwissenschaft nennt.3 Gemeint sind die jede Naturwissenschaft fundierenden apriorischen Prinzipien, die jede Wissenschaft in ihrem Vollzug voraussetzen muss und ohne die sie unmöglich wäre. Zu diesen Substraten jeder quantitativen Erfassung in Messungen und mathematisch-physikalischen Formeln gehören Prinzipien wie Raum und Zeit, Materie, Bewegung, Energie oder Kausalprozess. Auch unabhängig von Hartmanns ontologischer Fassung der Thematik liegt hier eine wesentliche Einsicht begründet: Es gibt apriorische Grundlagen der Wissenschaften, die die Wissenschaften selbst nur um den Preis kategorialer Grenzüberschreitungen und spekulativer Scheinlösungen erhellen können. Gerade hier setzt die Aufgabe der Philosophie an, nämlich als Kategorialanalyse die Fragerichtung der Naturwissenschaften bis hinein in die allgemeine Kategorienlehre und Modaltheorie weiterzuverfolgen. Dies möchte ich in dieser Abhandlung an folgenden Thesen und Beispielen zeigen: 1. Der moderne Realismusbegriff, wie er etwa bei Hacking zu finden ist, bleibt defizitär, da ihm das begründende prinzipientheoretische Fundament fehlt: Der wissenschaftliche Realismus ist nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis vereinter wissenschaftstheoretischer und prinzipientheoretischer, eben „kategorialanalytischer“ Analysen. 2. Der wissenschaftliche Realismus bedarf deshalb einer Begründung, die auf Prinzipien beruht, die den allgemeingültigen Gegenstandsbezug wissenschaftlicher Erkenntnis begründen. 3. Der Begriff des Naturgesetzes muss modaltheoretisch fundiert werden. Die Gesetze der Wissenschaft sind nicht mehr oder minder

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Vgl. Hartmann (1965b), 6 f. und Hartmann (1950), Einleitung.

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beliebige Konstruktionen und Interpretationen, sondern besitzen Realgründe und Realbezüge. 4. Am Beispiel von Quantenmechanik und Relativitätstheorie weise ich darauf hin, dass Hartmann die Naturwissenschaften auf allgemeine „metaphysische“ Grundlagen stellt. 5. Abschließend fasse ich die wesentlichen Konsequenzen und Aspekte zusammen, in denen ich Hartmanns Beitrag zu einer modernen Wissenschaftstheorie sehe.

II. Hackings wissenschaftlicher Realismus Die klassisch-aristotelische Ontologie, wie auch die Scholastik (Nominalismusproblem) oder die Empirismen oder die idealistischen Philosophien seit Kant, befassen sich, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, affirmativ oder nicht affirmativ mit der Frage nach einer denkunabhängigen Wirklichkeit. In diese Tradition gehören auch die neuontologischen realistischen Ansätze von Heidegger und Nicolai Hartmann, ebenso der erkenntnistheoretische Evolutionismus Poppers und die evolutionäre Erkenntnistheorie insgesamt.4 So ist es kaum verwunderlich, wenn die Thematik auch die analytische Philosophie einholt: Je nach Kontext wird ein- und dieselbe Sache auf verschiedene Weise beschrieben: Der Mond ist ein leuchtender Himmelskörper, ein Erdtrabant, er stört bei militärischen Nachtaktionen, er ist Objekt romantischer Liebespaare, Gott oder Göttin oder Gegenstand von medizinischen Befunden (z. B. Schlafprobleme bei Vollmond), von Opern und Operetten oder Wetterprognosen. Jede Perspektive der Beschreibung mag ihre Berechtigung haben, und doch bleibt jede Beschreibung immer nur eben eine Beschreibung oder Darstellung und ist niemals die Wirklichkeit selbst. Denn die Dinge beschreiben sich nicht selbst, sondern wir tun dies, und zwar abhängig von unseren sprachlichen Ausdrücken, unseren Interessen, unserem Wahrnehmungsapparat, unseren kulturellen Lebensformen. Realismus sei also die These, „daß die Existenz und die Beschaffenheit der Wirklichkeit nicht davon abhängen, was Menschen (und andere 4

Zu Darstellung und Kritik der metaphysischen Spätfolgen siehe Breil (2011), 168 – 175. Einschlägige Texte sind Lorenz (1978), Lorenz (1988), Vollmer (1983) und Popper (1995).

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Wesen) darüber denken (sagen, wissen) können.“5 Doch damit stellt sich das alte Problem in neuem, sprachanalytischen Kontext: Wenn es verschiedene Darstellungen ein- und derselben Wirklichkeit geben kann, kann man dann überhaupt noch davon sprechen, dass sie Darstellungen oder Beschreibungen derselben Wirklichkeit sind? Kann man wissen, wie die Wirklichkeit „an sich selbst“ beschaffen ist? Oder existiert eine Wirklichkeit nur relativ zu unseren Begriffen und sprachlichen Ausdrücken? Kann sich also Wissenschaft zu Recht auf den Realismus berufen oder ist jede Theorie bloß eine unter beliebigen Möglichkeiten der Beschreibung einer Welt, über die wir nichts, was sie selbst ausmacht, jemals herausfinden könnten? Ist also die „natürliche“ wissenschaftliche Einstellung Selbsttäuschung? 6 Sehen wir näher zu, wie Hacking, einer der bekannten Vertreter eines wissenschaftlichen Realismus, dieses Problem behandelt. Kurz gesagt, Hacking löst das Bezugsproblem wissenschaftlicher Theorien auf eine denkunabhängige Realität im Sinne des Pragmatismus. Theoretische Begriffe wie „Elektron“, „Elektromagnetismus“ oder „Boson“ sind demnach nicht bloß theoretische Konstrukte. Sie verweisen im Rahmen einer wahren naturwissenschaftlichen Theorie wie der Quantenmechanik auf reale Dinge und erklären reale Phänomene. Kriterium für die Existenz des Elektrons ist beispielsweise, dass mit und an Elektronen weitere Experimente gemacht werden können, die die Existenz von Elektronen voraussetzen. Sonst könnten wir im Experiment nicht mit ihnen hantieren und andere Dinge kausal beeinflussen, etwa in Streuexperimenten, in denen mit Photonen, Elektronen oder anderen Teilchen auf andere Elementarteilchen „geschossen“ wird. Aus dieser Sicht ist es folglich eine Schwäche der wissenschaftstheoretischen Bemühungen des 20. Jahrhunderts, den Schwerpunkt der Analyse auf die theoretische Darstellung, nicht auf die pragmatischen Bedingungen des wissenschaftlichen Experiments zu legen. Daraus zieht Hacking allerdings den Schluss, dass im Zentrum der wissenschaftstheoretischen Bemühungen das Experiment stehe und der Naturwissenschaftler es hier mit einer beeinflussbaren Realität zu tun habe. So wird bezüglich des naturwissenschaftlichen Verfahrens zwischen Theorie als Darstellung und Experiment unterschieden. Diese Realismus-Begründung versucht nicht, einen Theorien-Realismus zu begründen, sondern bezieht sich auf die Struktur des naturwissenschaftlichen Experiments, da 5 6

Willaschek (2000), 10. Vgl. Willaschek, (2000), 7.

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es eben mehrere Möglichkeiten theoretischer Darstellung gebe. Ein Experiment dagegen – und in ihrem Gefolge auch die Technik – stellt eine Weise des „Eingreifens“, der Weltveränderung dar, die selbst nicht direkt erlebbar, aber real sei.7 Denn Unbeobachtbares, auch prinzipiell Unbeobachtbares, kann „geregelt“ beeinflusst werden. Die Instrumente und Methoden dieser Beeinflussung sind nicht theoretischer, sondern praktisch-technischer Art. Dazu nimmt Hacking eine kausale Beziehung an zwischen der Absicht, etwas geregelt zu beeinflussen, und den zumindest mittelbar beobachteten Wirkungen als Folge dieses Eingreifens. Folglich werden unsere Vorstellungen über Realität aufgrund unserer praktischen Fähigkeiten der Weltveränderung bestimmt. Hacking erläutert dies am Beispiel des Elektrons: [Es gibt] eine Gruppe von Kausaleigenschaften, mit deren Hilfe die Elektronen von begabten Experimentatoren beschrieben und zum Einsatz gebracht werden, um andere Sachverhalte zu erklären, z. B. schwache neutrale Ströme und neutrale Bosonen.8

So wird der experimentell zugängliche Laborgegenstand zum Vorbild dafür, wie die Naturwissenschaften ihre Gegenstände finden und hervorbringen. Dies ist aber eine Reduktion, deren Nachweis noch zu erbringen wäre. Es stellt sich nämlich die Frage, wie nach Hacking das Verhältnis von Theorie und Experiment anzusetzen ist. Offenbar spielt hier das Kausalitätsverhältnis eine entscheidende Rolle, das den praktischexperimentellen Bezug unser Erkenntnis gewährleisten soll. Die Möglichkeit dieses Verhältnisses wird nicht thematisiert, sondern unbesehen vorausgesetzt. Weiterhin wird das Theorie-Praxisverhältnis aufgrund des pragmatistischen Erkenntnisansatzes umgekehrt, indem ein methodischer Vorrang der Praxis vor der Theorie behauptet wird. So erklärt sich, warum der leitende Erkenntnisbegriff instrumentalistische Züge trägt: Wer methodisch zwischen Theorie und Beobachtung nicht trennt, geht an der Grundfrage vorbei, wie grundsätzlich das Verhältnis von Theorie und Beobachtung im Experiment zu denken ist. Hacking setzt folglich eine unbegründete Grundbeziehung zwischen Theorie und Beobachtung voraus, die erkenntnistheoretisch legitimiert werden müsste. Aus diesem Grund entgeht ihm, dass die Bestimmung des Kausalverhältnisses ein theoretisches und kein praktisches Problem ist. Denn auch Hacking 7 8

Als wirklich werden wir gelten lassen, was wir benutzen können, um in der Welt Eingriffe vorzunehmen, durch die wir etwas anderes beeinflussen können, oder was die Welt benutzen kann, um uns zu beeinflussen.“ Hacking (1966), 246. Vgl. Hacking (1996), 245, siehe auch 447.

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stellt, ungeachtet aller höchst wichtigen und neuen Erkenntnisse über die wissenschaftsmethodische Bedeutung des Experiments, letztlich doch eine Theorie über die Stellung des Experiments für die Praxis naturwissenschaftlicher Erkenntnis vor. So erhebt sich die Frage nach den Voraussetzungen des wissenschaftlichen Realismus: Ist Hackings pragmatischer wissenschaftstheoretischer Ansatz nicht selbst eine ausgezeichnete Darstellung?

III. Hartmanns Begründung des Realismus So ist auch der pragmatische Realismus mitnichten voraussetzungslos. Bereits ein halbes Jahrhundert vor Hacking hat Hartmann deshalb unter „Realismus“ keinen wissenschaftstheoretischen Standpunkt, sondern ein „Urphänomen“ aller Erkenntnis und der wissenschaftlichen Erkenntnis im besonderen: Der Realismus der Naturwissenschaft „gehört einfach mit zum Phänomen der Wissenschaft“9, er bestimmt notwendig Möglichkeit und Methode der Wissenschaften. Sofern dieser Realismus darauf beschränkt bleibt, besteht er zu Recht, greift er auf die Philosophie über, wird er zum Materialismus bzw. Naturalismus, indem naturwissenschaftliche Gesetze über jede empirische Absicherung hinaus metaphysisch verallgemeinert werden. Aufgabe der Erkenntnistheorie ist es demzufolge, Möglichkeit und Grenzen dieses Realismus aufzuzeigen. Dazu gehört als erstes die Einsicht, dass der wissenschaftliche Realismus in einer natürlichen Einstellung verwurzelt ist. Hartmann nennt das den „Apriorismus der Realitätsthese“10 : Es gibt keine Gegenstandserfahrung, die nicht a priori in eine naiv realistische Gegenstandswelt hineinwüchse. Hieran ändert auch der wissenschaftliche Realismus nichts. Zwar sieht dieser nicht die Realität in den sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten der Dinge, sondern in den Gesetzen und Prozessen der realen Welt, so wie sie sich in den Wissenschaften teilweise und ausschnitthaft erschließt. Immer aber bleiben die Naturwissenschaften in der direkten Einstellung, der intentio recta, auf das Begreifen dieser einen, realen Welt gerichtet. Deren Strukturmomente mögen letzthin unerkennbar bleiben. Doch deren Erkenntnis dient den Wissenschaften als Richtmaß und Ziel, der sie sich immer weiter anzunähern bestreben. Realismus bedeutet so für Hartmann keine 9 Hartmann (1965a), 138. 10 Hartmann (1965a), 141.

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bloß pragmatische Grundlage wissenschaftlicher Forschung, sondern vorausliegend die Anerkennung einer unabhängig für sich bestehenden Realität, die auch Grundlage jeder Art wissenschaftlich-philosophischer Analyse ist. Dies also ist der Grund für das Zurechtbestehen des natürlichen wie auch des wissenschaftlichen Realismus: Immer, in Zustimmung oder Ablehnung, wird schon der Bezug auf dieselbe Realität vorausgesetzt, auf die sich die natürliche, ursprüngliche Welteinstellung bezieht. Selbst die reflexive erkenntnistheoretische Analyse setzt ein für sich bestehendes, unabhängig Existierendes voraus, und die ontologische Kategorialanalyse analysiert nur, was ihr bereits anderweitig gegeben ist. Ontologie ist für Hartmann deshalb keine hermeneutische Sinndeutung, eine „Analytik des Daseins“ wie für Heidegger, sondern schlicht die Analyse des „Seienden als Seienden“. So gilt es, den wissenschaftlichen Realismus wie jeden Realismus als Phänomen aufzuklären, denn er stellt nichts anderes dar als den allgemeinen Weltzugang in der intentio recta. Wie der spätere Konstruktivismus oder die wittgensteinsche Spätphilosophie kennt also auch Hartmann eine reflexionslose Verwurzelung der wissenschaftlichen Erkenntnis in der „Lebenswelt“: Realität umfasst nicht nur die sinnlich wahrnehmbaren Dinge als Gegenstände der Erkenntnis. Die realen Dinge werden auch begehrt, gewollt, abgelehnt, auf sie beziehen sich Konflikte, Ansprüche, Schicksale. Der natürliche Realismus bedeutet die unablegbare lebenslängliche Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, also der Inbegriff der Dinge, Personen, Geschehnisse und Verhältnisse, die wir erkennend zu Gegenständen machen, nicht erst durch unser Erkennen geschaffen werden. Was wir erkennen, erleiden, erfahren, erleben, hat sein Korrelat in einem Unabhängigen, und seine theoretische Preisgabe würde bedeuten, das Leben nicht ernst zu nehmen.11 Es gibt nur diese eine Welt, in der wir leben, lieben, leiden, handeln, hoffen – und erkennen. Und so sind auch für die Wissenschaften der Kosmos, Elektronen, Galaxien oder das Zentralnervensystem genauso wirklich wie für den Alltagsmenschen die Benzinpreise oder der Wetterbericht:12 Was die Naturwissenschaft ergründet, sind dieselben Dinge, dieselben Naturzusammenhänge, deren Oberfläche auch das naive Bewußtsein sieht. 11 Vgl. Hartmann (1931), 31. Siehe auch Hartmann (1965b), 49. Für Hartmann sind Alltagserfahrung und persönliches Erleben ursprünglicher und elementarer als die immer schon theoretisch durchdrungene und vermittelte wissenschaftliche Empirie. Vgl. Hartmann (1931), 16. 12 Vgl. Hartmann (1965b), 150. Vgl. auch ebd., 40, und Hartmann (1931), 27.

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Nicht der Gegenstand ändert sich hier, sondern nur die Gegenstandsauffassung.13

Zwar habe die Physik ein kritisches Bewusstsein davon, dass etwa die Atome anders als in der modernen Physik theoretisch bestimmt beschaffen sein könnten. Dennoch bezieht sich der Atombegriff auf etwas, das ebenso real ist wie die Dinge: Nicht die Seinsweise der Realität steht in Frage, sondern nur die besondere Bestimmtheit. Bereits der natürliche Realitätsbegriff umfasst Lebloses wie Belebtes, ebenso auch geistige und materielle Geschehnisse. In der einen realen Welt kommen sie alle als realzeitliche Ereignisse und Prozesse zu durchgängigem Zusammenhang. Erkenntnis ist damit das Erfassen von etwas, das „unabhängig vom Erkennen so ist, wie es ist“. Erst im Richten auf dieses zu Erfassende ist es möglich, zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden.14 So ist auch die Erkenntnis reales Phänomen, das reflexiver Betrachtung, etwa in der Subjekt-Objekt-Relation, immer schon zugrunde liegt. Und wenn das, sagt Hartmann, „was wir für die reale Welt halten, nicht real ist (nicht an sich besteht), so ist auch das, was wir Erkenntnis nennen, nicht Erkenntnis“.15 Erkenntnistheoretisch formuliert Hartmann dasselbe Problem in seiner Theorie der transzendenten Akte. Transzendente Akte bleiben zwar an ein Bewusstsein gebunden, beziehen sich aber darüber hinausgehend auf solches, das unabhängig von diesem besteht. Sie definieren eine Relation zwischen realen Subjekten und realen, unabhängig von diesem Akt an sich bestehenden Seienden. Wer von einem Schicksalsschlag betroffen ist, erfährt dieses Betroffensein unmittelbar und bedarf nicht erst der reflexiven Bestimmung, dass er es ist, dem ein bestimmter Schicksalsschlag widerfahren ist. Die Erkenntnis ist nur eine unter vielen Möglichkeiten dieses Weltbezugs, der erst in der Wissenschaft aus seinen ursprünglichen Verflechtungen in den unmittelbaren Lebenszusammenhang herausgelöst wird. Denn jedes Begehren, Wollen, Leiden, Erwarten füllt diesen Lebenszusammenhang auf spezifische Weise aus, in den das Erkenntnisphänomen verwurzelt ist.16

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Hartmann (1965b), 50. Vgl. Hartmann (1931), 7 ff. Hartmann (1931), 9. „Aller Umgang mit Personen, alles Schalten mit Dingen, alles Erleben, Erstreben, Begehren, Tun, Handeln, Wollen, Gesinntsein gehört hierher, desgleichen alles Gelingen und Mißlingen, Erleiden, Ertragen, aber auch Erwarten, Erhoffen,

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Erst die Reflexion also löst die Erkenntnis aus diesem verflochtenen Lebenszusammenhang heraus, isoliert ihn, analysiert ihn. Als Phänomen betrachtet aber bleibt Erkenntnis ontologisch, was sie ist, nämlich ein transzendenter Akt eines realen Subjekts, der von sich aus schon a priori diese Richtung auf den Gegenstand nimmt „als ein realer zeitlicher Prozess“. So ist auch die natürliche Richtung der Erkenntnis die auf ihren Gegenstand. Im Vollzug des Erkenntnisaktes weiß das Subjekt um das, was es erkennt, aber nicht darum, worin dieses Erkennen besteht. Dies erschließt sich erst in der Erkenntnistheorie in der reflexiven Einstellung der intentio obliqua.17 Daraus folgt nun eine wichtige Konsequenz. Die Erkenntnis hat grundsätzlich Ausschnittscharakter. Neben dem Erkannten gibt es Gegenständliches, das grundsätzlich erkennbar ist, aber faktisch noch nicht erkannt worden ist. Dem entspricht der Forschungsprozess der Wissenschaften. Ähnliche Überlegungen macht Hartmann auch für die Analyse der Kategorienlehre geltend. Diese Spannung von Bestimmtem und grundsätzlich Bestimmbarem, die auch den Neukantianismus charakterisiert, ist jedoch nur ein Ausschnitt aus der allgemeinen Seinssphäre. Darüber hinaus gibt es auch schlechthin Irrationales, das sich jeder möglichen Erkennbarkeit grundsätzlich entzieht. Dies scheint aus dem ontologischen Ansatz zu folgen, weil die Erkenntnisrelation als eine Seinsgröße unter anderen nur in dieser allgemeinen Seinssphäre funktionsfähig ist, also diese voraussetzen muss. So betrachtet ist der Ausschnittscharakter der Erkenntnis eine bloße Folge ihres ontologischen – und damit als Erkenntnisrelation ontologisch sekundären – Status. Es gibt also eine Sphäre des schon Erkannten, die Hartmann den „Hof der Objekte“ nennt, darüber hinaus eine grundsätzliche Grenze der Erkennbarkeit, hinter der noch die grundsätzlich unerkennbare, „transobjektive Seinssphäre“ liegt.18 Der von Hartmann vertretene kritisch-wissenschaftliche Realismus unterscheidet sich also von seinen modernen Varianten, insbesondere von Hacking. Der bei Hacking in Anspruch genommene Bezug in „Eingreifen“ und Bewirken“ von Etwas ist für Hartmann ein transzendenter Akt, der als ein solcher in einer allgemeinen Ontologie seinerseits thematisiert werden müsste. Eingreifen und Bewirken erweisen sich als reale Befürchten … Diese Akte stehen im Leben nicht geschieden da, sie fließen ineinander über“. Hartmann (1965b), 163. 17 Vgl. Hartmann (1965b), 46; siehe auch Hartmann (1965a), 17 ff. 18 Hartmann (1965a), 205.

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Grundphänomene, die als reales Dasein im Grundphänomen der Weltgegebenheit mitenthalten sind. Man mag sich das an einigen Bemerkungen klarmachen, die Hartmann gegenüber dem Positivismus (alter und neuer Richtung) und dem Pragmatismus anführt.19 Der Positivismus – man sehe darin gerade auch den zeitgenössischen logischen Positivismus als Adressaten – macht gleich mehrere „Fehler“: Wie der naiv-natürliche Realismus verwechselt der Positivismus reales Sein mit sinnlicher Gegebenheit. Mitnichten ist das real Seiende ausschließlich sinnlich-empirisch gegeben. Von den Schwierigkeiten, die sich aus dieser Verengung des Wissenschaftsverständnisses ergeben, mag man sich etwa bei Carnap überzeugen. Wissenschaft ist auch mehr als das „wissenschaftliche Denken“, das sich in quantitativen Relationen und Begriffen erschöpft. Die Gesetze des logischen Denkens sind nicht von vornherein gleichbedeutend mit den Gesetzen des realen Seins, und sie fallen auch nicht mit den Prinzipien des Erkenntnisprozesses zusammen. Und so wird im Positivismus diejenige apriorische Voraussetzung nicht mehr gesehen, die doch allem wissenschaftlichen Forschen und Erkennen zugrunde liegt: Damit sich nämlich logisch-quantitative, mathematische Relationen auf Seiendes, also Nichtbegriffliches beziehen können, muss in ihren bestimmten Begriffen eine transrationale Beziehung zu einem realen Substrat mitgesetzt werden. Sonst bliebe das Phänomen der direkten, auf Gegenstände gerichteten Einstellung der wissenschaftlichen Erkenntnis unverständlich: Den in wissenschaftlichen Sätzen ausgesprochenen Bedeutungen müssen außersprachliche Bestimmtheiten entsprechen, sonst liefe der Wissenschaftsprozess ins Leere.20 Folglich kann der Positivismus nicht erklären, warum Wissenschaft Annäherung im Erkenntnisprozess an reale Gegebenheiten darstellt. In weit stärkerem Maße gilt das auch für den Pragmatismus. Hier sind die Gesetze der wissenschaftlich bestimmten Gegenstände von vorneherein sekundär, wie sich noch bei Hacking zeigt. Nichts haben diese Gesetze mit der wirklichen Beschaffenheit des Seienden zu tun, beliebige theoretische Beschreibungen seien sie. Eben darum müssen sie durch zweckmäßig ausgewählte Mittel wissenschaftlichen Verhaltens ersetzt werden, was zu mehr oder minder nützlichen Formen lebensnotwendiger Weltorientierung führe. Wissenschaft wird demzufolge nicht be19 Vgl. Hartmann (1965b), 213 ff 20 Vgl. Hartmann (1955b), 124 ff.

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trieben, um eine bessere oder wahrere Beschreibung der Welt zu gewinnen: Galt schon den Neukantianern die Wahrheit als bloß immanente Übereinstimmung der Begriffe und Urteile, so hebt der Pragmatismus den Sinn des Wahrseins vollkommen auf. An seine Stelle tritt die praktische Zweckdienlichkeit, die nackte Nützlichkeit der Auffassungsweise in gegebenen Verhältnissen, ohne Rücksicht auf alles Zutreffen oder Nichtzutreffen.21

So destruieren moderne Realismusvertreter den Begriff des Naturgesetzes und den Begriff der Naturgesetzlichkeit. Eben weil sie den eigentlichen Kern der Forschung verfehlen, die sich eben an solchen Auslassungen niemals gestört hat, bleiben sie für die Naturwissenschaften folgenlos. So erklärt sich, warum Wissenschaftstheorie – entgegen ihrem ursprünglichen Selbstverständnis – niemals wirklichen Einfluss auf die positive Forschung nehmen konnte. Hellsichtiger als mit diesen Aussagen von 1935 lässt sich die gegenwärtige Lage der sich in Selbstauflösung befindenden empiristischen Wissenschaftstheorie kaum beschreiben.

IV. Modaltheoretische Grundbestimmungen: Der Begriff des Naturgesetzes Welcher Begriff der Naturgesetzlichkeit muss diesen modernen Relativierungen wissenschaftlicher Erkenntnis entgegengehalten werden? Auch hier lohnt ein Blick zurück zu Hartmann, der die Geltung und Allgemeingültigkeit von Naturgesetzen auf ontologische Grundverhältnisse zurückführt. Wissenschaftstheorie ist Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis wie auch ihrer Gegenstände. Daraus ergeben sich Konsequenzen sowohl für die Methodologie wie auch für die Wissenschaftssystematik. Deutlich wird dies am Begriff des Naturgesetzes. Die vorangegangenen Überlegungen nehmen (hoffentlich) einer Aussage wie der folgenden jede Naivität: Die Naturgesetzlichkeit ist nicht ein System von Sätzen. Sätze gibt es im Kosmos nicht. Sätze gibt es nur im Denken des Menschen. Die Wissenschaft spricht die Gesetze der Natur in Form von Sätzen aus, ja sogar in der noch gedrängteren Form der mathematischen Zahlensprache. Diese Formen sind nicht die Gesetze selbst, sondern nur ihre Formu21 Hartmann (1955b), 214.

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lierungen. Ihnen entspricht aber etwas im realen Naturgeschehen, und auf dieses ihnen Entsprechende allein kommt es in ihnen ontologisch an.22 Das ist mit einigen Hinweisen zu Hartmanns hier zugrundeliegender Modalanalyse zu erläutern: Das Sein kann man weder definieren noch erklären, aber man kann nach Hartmann die Seinsarten unterscheiden und deren Modi analysieren. So ist eine Modalanalyse des realen und idealen Seins möglich. Beginnen wir mit Hartmanns Definition der Seinsmodi: Notwendigkeit, als „nicht anderes sein können“, Wirklichkeit, als „so und nicht anders sein“, und Möglichkeit, als „so oder nicht so sein können“. Ihre Gegensätze sind Zufälligkeit, als „nicht notwendig sein (auch anders sein können)“, Unwirklichkeit, als „nicht so sein“, Unmöglichkeit, als „nicht so sein können“.23 Wirklichkeit bzw. Unwirklichkeit fungiert als ein absoluter Modus, denn alle anderen Modi wie Möglichkeit, Unmöglichkeit und Notwendigkeit sind nur im Hinblick auf etwas wirklich Gegebenes selbst möglich. Sie sind deshalb relational zu den absoluten Modi, so dass die absoluten Modi auch Fundamentalmodi, also Möglichkeitsbedingungen oder absolute Voraussetzungen für die relationalen Modi sind. Möglichkeit und Notwendigkeit treten als eigenständige Größen erst in der Erkenntnis von Wirklichem auseinander. So kann Wirkliches zwar als gegeben betrachtet werden, zugleich aber nicht auch als notwendig begriffen sein. Es kann also auch für zufällig gegeben gehalten werden. Ebenso kann etwas für möglich gehalten werden, was nicht wirklich ist. Jede wissenschaftliche Bestimmung ist von dieser Unterscheidung geprägt, die überhaupt für das Auseinandertreten von Erkenntnis- und Gegenstandsbestimmtheit verantwortlich ist. Das, was der Erkenntnis zufällig als wirklich erscheint, ist es nur deshalb, weil diese nur Teilwirklichkeiten kennt, aber nie die Gesamtheit der Möglichkeiten, die zur Konstitution des Wirklichen führen und die ontologisch angesetzt werden müssen, sonst wäre das Wirkliche nicht als wirklich zu erkennen. Damit ist das Wirkliche dadurch real wirklich, dass es Endpunkt einer geschlossenen Kette von realen Möglichkeitsbedingungen ist. Das Realwirkliche ist durch ein Realmögliches bedingt, und dann auch nur sofern, wie mit Möglichkeit die real vorhandene Totalität der Realmöglichkeiten gemeint ist. Genau dann aber ist es notwendig in dem Sinne, dass es bei einem Fehlen von nur einer Teilmöglichkeit eben nicht 22 Hartmann (1950), 382. 23 Hartmann (1949), 33.

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wirklich ist. Darum ist es durch diese Bedingungskette auch zureichend bestimmt und determiniert. Hinzu kommt ein Weiteres: Das real Wirkliche ist keine statisch absolute, sondern eine dynamische Größe. Veränderung findet in der Zeit statt. Was wirklich war, ist es zu späterer Zeit nicht mehr; was möglich ist, kann wirklich werden. Hartmann versucht dies anhand der relationalen Modi Möglichkeit und Notwendigkeit zu erhellen. Unter der Zeitkategorie, die eine Grundkategorie des realen Seins ist, erscheint alles Reale in Stadien auseinandergezogen, so dass der Realprozess selbst als Aufeinanderfolge dieser Stadien begriffen werden kann. Die Bedingungskette der Realmöglichkeit ist zeitlich auseinandergezogen und unvollständig, darum wird das zeitlich Frühere als potentiell Wirkliches denkbar, denn erst mit der Auffüllung der restlichen Teilmöglichkeiten ist die Bedingungskette vollständig und der Realprozess tatsächlich durchgeführt. Die Stadien selbst aber stehen in irreversibler Reihenfolge. Es kann nur jeweils ein Moment wirklich werden, das notwendigerweise an gerade einer bestimmten Stelle der Bedingungskette auftreten kann. Es ist also nicht so, dass beliebiges logisch Mögliches auch wirklich werden kann. Nur das Realmögliche kann wirklich sein. Die durchgängige Bestimmtheit der Stadien mit ihrer Bezogenheit im Sinne eines Bedingungsgefüges aufeinander ist nichts anderes als die modale Grundstruktur des realen Seins überhaupt. Es ist Ausdruck des Determinationscharakters des Realen. Auf der elementaren, der anorganischen Seinsstufe, ist die Gerichtetheit der Teilbedingungen auf die späteren eine Folge der Kausalität. Erst diese Grundstruktur ist die Bedingung dafür, dass der Realprozess nach Prinzipien ablaufen kann und keine chaotisch zufällige Folge beliebiger Veränderungen ist. Sie ist die Bedingung für den durchgängigen Realkontext, also die Bedingung eines Systems des realen Seins. Damit sind Möglichkeit und Notwendigkeit nur zeitlich auseinandergezogen. Sie haben ihre Fixierung auf die Realwirklichkeit in keiner Weise aufgegeben, sondern diese ist im Realprozess erst Grund ihres Auseinandertretens nach Bedingungen der Zeit und ihrer Bezogenheit aufeinander im Prozess.24 Darum sind Naturgesetze nach Hartmann nicht nur allgemeingültig und notwendig, sondern verweisen auf vorausliegende nichtformale 24 „Der modale Aufbau der Realwirklichkeit auf dem Gleichgewicht von Realmöglichkeit und Realnotwendigkeit – basierend auf der Identität ihrer selbst schon real verwirklichten Bedingungen – ist somit das eigentliche ontische Gerüst des Realprozesses.“ Hartmann (1949), 255.

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Grundprinzipien wie Zeit und Raum. Hier teilt er die Auffassung Kants und des Neukantianismus. Naturgesetze bestimmen notwendig und ausnahmslos alle unter sie fallenden Spezialfälle. Das bedeutet, dass an diesem Fall bestimmte Eigenschaften, Merkmale oder Prozesse notwendig auftreten, wenn bestimmte andere auftreten: Die Notwendigkeit bedeutet also hier nicht, daß etwas Vorgezeichnetes (ein Eidos) zur Verwirklichung kommen muß, sondern daß ein unlösbarer Zusammenhang besteht zwischen inhaltlich sehr verschiedenen Zügen einer Sache (eines Geschehnisses, eines Ablaufes, einer Sachlage) oder auch zwischen Gruppen von Zügen; so daß, wenn die eine auftritt, die andere nicht ausbleiben kann.25

Notwendigkeit steht nun im Gegensatz zur Möglichkeit. Ein bloß Mögliches ist, was auch anders sein kann, also ontologisch kontingent ist. Notwendig ist, was nicht anders sein kann.26 Also repräsentieren Naturgesetze notwendige Beziehungen, weil sie sich zuletzt auf Reales beziehen, das eben so ist, wie es ist, aus Gründen, die wir metaphysisch vermutlich hinnehmen müssen. Am Sosein der realen Welt stehen Wissenschaft und Philosophie vor einer absoluten Grenze. Wäre es anders, so wäre auch unsere Welt eine andere.

V. Kategorialanalyse: Metaphysische Grundlagen der Naturwissenschaft Bekanntlich entwickelt Hartmann die Aufbauprinzipien der realen Welt in einem System spezieller, regionalisierender und allgemeiner Kategorien.27 So wird zwischen einer allgemeinen und speziellen Kategorienlehre unterschieden. Vier Stufen bestimmen den allgemeinen kategorialen Aufbau der realen Welt. Jede Schicht hat wiederum ihre spezifischen Kategorien, von denen manche auch mehrere Schichten konstituieren oder „abbrechen“. „Raum“ bestimmt das anorganische und organische Sein, nicht aber das psychische und geistige Sein, während „Zeit“ darüber hinaus das psychische und mindestens teilweise auch das geistige Sein bestimmt. Der kategoriale Stufenbau des Realen weist drei Einschnitte auf, denen vier Schichten entsprechen: Anorganisches Sein, Leben, psychisches und geistiges Sein. Ihnen vorgelagert sind die Fun25 Vgl. Hartmann (1949), 22. 26 Vgl. Hartmann (1949), 23. 27 Vgl. Hartmann (1964). Siehe auch Breil (1996) sowie Brelage (1965), 157 ff.

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damentalkategorien wie Prinzip – Concretum, Teil – Ganzes, Einheit – Vielheit. Sie reichen durch alle Schichten und wandeln sich dort ab. So ist die Kausalität eine Abwandlung und Spezifikation der DeterminationDependenz-Kategorie. Den Zusammenhalt des ontologischen Stufenbaus bestimmen die „kategorialen Gesetze“. Ihnen gemäß existieren die Kategorien nicht isoliert für sich, sondern beziehen sich stets auf ein Concretum. Sie existieren nicht einzeln, sondern nur im Verband einer Kategorienschicht, in der sie sich gegenseitig implizieren. Ist eine Kategorie gefunden, so sind grundsätzlich alle gegeben. Weiterhin enthalten die Kategorien der höheren Schicht viele der niederen Schichten, aber nicht umgekehrt: sie „überbauen“ und „überformen“ die niederen Kategorien. Nur die Gruppen der höheren Kategorien können von den niederen abhängig sein, nicht umgekehrt. Daraus folgen einige Konsequenzen, die das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaften betreffen. Wissenschaften und Philosophie ergänzen sich einander. Hartmann entwickelt hier ein Forschungsprogramm, an dem die Philosophie als Kategorienforschung und die Einzelwissenschaften gemeinsam beteiligt sind, denn „es gibt keinen Apriorismus in der Kategorienerkenntnis“.28 Kategorien, die allgemeinsten wie die sich bis in den Grundlagen der Wissenschaften verästelnden, erschließen sich wie Phänomene aus konkreten Gegenstandsgebieten, die eben durch die Wissenschaften erschlossen und phänomenologisch offengelegt werden. Doch diese Kategorien sind für die reale Welt bestimmend. Sie determinieren ihre Prozesse und Phänomene. Da die Erkenntnissphäre demgegenüber eine Sekundärsphäre ist, setzen auch die Naturwissenschaften diese phänomenologisch erschlossenen Prinzipien voraus. In der intentio recta stoßen sie so bis an die für sie apriorischen Prinzipienbestände, auf die metaphysischen Grundlagen, die die Natur wie auch sie selbst ermöglichen. Ich möchte Hartmanns Argumentation an zwei Beispielen andeuten, der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie. Bekanntlich führt die Quantenmechanik zu einer Aufhebung des kausalmechanischen Determinismus und im Kontext der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation zu Messunschärfen gekoppelter komplementärer Größen wie Energie und Zeit oder Ort und Impuls. Weiterhin zeigt das radioaktive Zerfallsgesetz eine Aufhebung eindeutiger Ursache-Wirkungszusammenhänge für die Bestimmung der Halb28 Hartmann (1950), 1.

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wertszeit radioaktiver Elemente: Wenn ein Element wie Radium 226 eine Halbwertszeit von 1800 Jahren hat, so bedeutet das nur eine statistische Größe bezogen auf die Ausgangsmenge. Ein einzelnes Radiumatom dieser Ausgangsmenge kann sehr wohl „ewig“ existieren, ohne zu zerfallen. Ob es zerfällt, hängt nicht davon ab, wie viele und welche Radiumatome vor ihm zerfallen sind: zur jedem Zeitpunkt gilt nur, dass die Hälfte jeweils nach 1600 a zerfallen muss. Wann also ein bestimmtes einzelnes Radiumatom tatsächlich zerfällt, ist unbestimmt. Folgt daraus eine Einschränkung oder gar die Ungültigkeit des Kausalitätsprinzips? Aus Hartmanns Sicht stellt sich kategorialanalytisch folgender Sachverhalt dar: Die Kausalität ist gar kein immanentes Prinzip der Physik, kann also auch nicht durch Physik infrage gestellt werden. Kausalität betrifft nämlich die Prozesse der realen Welt, ist also eine Realkategorie des anorganischen Seins. Wenn also im Sinne der (veralteten) Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik die Unbestimmtheitsrelationen Störungen durch Messeingriffe bedeuten, so werden sie eben an die Realsphäre herangetragen. Denn die Störungen durch Messungen unterliegen ja den Unbestimmtheitsrelationen, sind also durchaus bestimmt: Dx Dp | gilt unbedingt, und es gilt eben nicht Dx Dp = 1. Dieses „naive“ Argument greift allerdings unter den Voraussetzungen Hartmanns. Denn die Unbestimmtheitsrelationen oder das Zerfallsgesetz sind eben Naturgesetze, die die wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringt.29 Naturgesetze sind nicht a priori kausale Gesetze. Kausalität setzt diese Naturgesetze nicht voraus, sondern gilt unabhängig von ihnen. Folglich versage die „Fassbarkeit der Gesetze“ in einer exakten mathematischen Sprache. Daraus folgt aber nicht das Nichtvorhandensein von Ursachen, sondern nur, dass die ( jetzige) Physik den Realzusammenhang nicht vollständig erschließen kann. Insofern liegt die Kausalität jeder Naturwissenschaft voraus: Wäre der Realzusammenhang ursachelos, also regellos, wären überhaupt keine Gesetze aufzufinden. Also wäre auch keine Naturwissenschaft möglich. Möglicherweise bezeichnet die Quantenmechanik also nur eine grundsätzliche Grenze der Erkennbarkeit der Natur und nicht, dass die Natur als solche akausal wäre. In diesem Fall hätte auch ein solcherart beschränkter Zufall seine Berechtigung: *

*

Handelte es sich um den Realzufall, d. h. um das wirklich Undeterminierte, so wären Gesetze des Zufalls ein Widerspruch in sich selbst. Handelte es sich 29 Vgl. Hartmann (1950), 372 ff.

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dagegen bloß um die auf Kausalfaktoren beruhende contingentia, so liegt hier keinerlei Widerspruch vor.30

Mangelnde Voraussehbarkeit und Erkennbarkeit bedeuten ontologisch eben nicht, dass ein natürlicher Prozess nicht doch gesetzmäßig bestimmt sein könnte.31 Also haben wir hier ein metaphysisches „Rätsel“ aus Sicht der Naturwissenschaft vorliegen, nämlich wie eine Gesetzlichkeit wie die Kausalität gedacht werden kann, ohne dass sie ihren Niederschlag in deterministischen Gesetzen finden muss. Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie die Forschung immer wieder auf metaphysische Grundlagen und Grenzen stößt: Die Frage nach den Realgesetzen der Natur gehört in die Naturphilosophie als spezielle Kategorienlehre der Natur. Entsprechend argumentiert Hartmann bezüglich der Raum- und Zeitbestimmungen der speziellen Relativitätstheorie.32 Auch hier sieht er kategoriale Grenzüberschreitungen, wenn die Aussagen der Relativitätstheorie zur Messung von räumlichen und zeitlichen Verhltnissen zu ontologischen Aussagen über Raum und Zeit verallgemeinert werden. Hartmann bestreitet deshalb auch nicht die empirischen Phänomene und die theoretischen Konsequenzen, die aus dem Michelson-Versuch zu ziehen sind, etwa die absolute Konstanz der Lichtgeschwindigkeit oder der Verzicht auf den Begriff der absoluten Gleichzeitigkeit. Kategorialanalytisch folgt damit die Geltungsbeschränkung der Relativitätstheorie auf messbare dynamische und kinematische Verhältnisse, die aber immer schon solche in einem realen Raum und einer realen Zeit sind. Also muss man schon voraussetzen, dass jede mögliche Messung Raum und Zeit als metaphysische Grundbedingungen voraussetzt. Hier trifft Hartmann sich mit den entsprechenden Argumentationen der Neukantianer, etwa derjenigen Cassirers.33 Man darf hier über die Zeitbedingtheit von Hartmanns Argumentation hinwegsehen. Und doch steckt in ihr ein wahrer Kern: Es ist prinzipiell notwendig, die Frage nach den Grenzen naturwissenschaftlicher Aussagen aus Sicht der Philosophie zu stellen. Dass Kausalität, Raum und Zeit metaphysisch-apriorische Möglichkeitsbedingungen jeder Naturwissenschaft sind, ist richtig. Denn eine regellose Natur ist ebenso unerkennbar wie eine, deren Phänomene und Prozesse nicht in raum30 Hartmann (1950), 375. 31 Beispiele gibt die Chaosphysik, die vom Begriff des deterministischen Chaos spricht. Vgl. dazu Haken (1983), 341. 32 Vgl. Hartmann (1950), 249 f. 33 Vgl. Breil (1993), 168 – 185.

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zeitlichen Verhältnissen stehende mögliche Gegenstände der Erfahrung wären. Hier ist Hartmann mehr Kantianer, als er selbst geglaubt haben mag.

VI. Konsequenzen und Aktualität Ziehen wir zum Abschluss einige Konsequenzen, die als Beitrag Hartmanns für die Theorie der Wissenschaften gelten können: 1. Unproblematisch ist vielleicht eine Aktualisierung dessen, was Hartmann die „Einbettung der Wissenschaften in den Lebenszusammenhang“ nennt.34 Wie wir gesehen haben, ist die Erkenntnis ein Phänomen des realen Seins, an reale Subjekte, eben uns Menschen, gebunden. Die reale Welt ist für Hartmann nicht das Gegenglied zum Subjekt in der klassischen Erkenntnisrelation, sondern das Subjekt ist selbst Teil der Welt. Was dieses zum Gegenstand macht, ist immer nur ein Ausschnitt der Welt, und darum beruht die Möglichkeit der SubjektObjekt-Relation selbst auf einer Vielzahl anderer Weltelemente. So ist ohne Organstrukturen keine Wahrnehmung, ohne Gehirn kein Denken, ohne die transzendenten Akte kein Weltbezug möglich. Und doch ist die Erkenntnis etwas Ausgezeichnetes. Sie ermöglicht Weltorientierung des Menschen ebenso, wie sie der Lebenserhaltung des Organismus durch die „Realisierung „vitaler Zwecke“ dient: Wer weiß, wie Getreide angebaut wird, hängt weniger stark von den zufälligen äußeren Umständen der Natur ab. Die Erkenntnis dient höheren praktisch-technischen Zwecken ebenso, wie sie zweckfreies Erfassen der Welt und ein eigenes Gebiet des geistigen Seins in den Wissenschaften ermöglicht.35 2. Wenn nun die Erkenntnis ein transzendenter Akt ist, so bezieht sie sich auf das Seiende insgesamt. Sie bezieht sich auf alles, was sie zum Problem machen kann, unabhängig davon, wie weit sie dieses jemals wirklich erfassen kann. Damit aber bezieht sie sich auf alle vier Schichten des realen Seins, und da sie sich so auch auf das geistige Sein bezieht, kann sie für sich selbst in der Reflexion als dessen Teil möglicher Gegenstand werden. Die Ontologie ermöglicht es, jede Schicht zu möglichen Gegenstandsgebieten zu machen und diese weiter aufzuteilen, wie das in den Wissenschaften mit ihren Einzeldisziplinen tatsächlich auch geschieht. So ergibt sich als Prinzip der Wissenschaftsgliederung der ontologische 34 Vgl. Hartmann (1965b), 217; Hartmann (1955b), 139. 35 Vgl. Hartmann (1965b), 138.

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Grund in der Aufgliederung der realen Welt in Stufen: es sind Wissenschaften von anorganischen, organischen, seelischen und geistigen Sein möglich. Insofern ist die Systematik und Vielfalt der Wissenschaften mit ihrer Aufteilung in Spezialgebiete nur Ausdruck einer Arbeitsteilung.36 Die vielleicht bekannteste regionale Kategorienlehre stellt Hartmanns Lehre vom Organischen als Grundlegung der Biologie dar.37 Eine weitere Begründung erfährt die Gliederung der Wissenschaften durch die Variationen, in denen sich das Verhältnis von intentio recta und intentio obliqua abwandelt. Die direkte, natürliche Einstellung nimmt ihren Gegenstand in seinen Außenaspekten. Den exakten Naturwissenschaften begegnen ihre Gegenstände in raumzeitlichen Verhältnissen als direkt gegeben. Die Geisteswissenschaften erfassen ihre geistigen Gegenstände als Gegenstände des objektiven Geistes ebenfalls wie äußere Gegenstände: das nordrhein-westfälische Schulsystem, die mittelalterlichen Universitäten, die Bundesrepublik Deutschland oder das Grundgesetz. Doch das seelische Leben ist nur durch die Reflexion, also in der intentio obliqua, zugänglich und nicht „von außen“ beobachtbar – und so lehnt Hartmann den psychologischen Behaviorismus ab. Komplex ist das Gebiet des Organischen: Der Organismus kann sowohl in seinen Außenaspekten direkt und in seinen Innenaspekten reflexiv bestimmt werden. „Mein“ Organismus“ kann medizinisch und biologisch untersucht, aber auch reflexiv „durch mich“, etwa bei einer medizinischen Diagnose, erschlossen werden. Wichtig ist in dem Zusammenhang ein wissenschaftskritisches Element: Hartmann lehnt die Möglichkeit einer Einheitswissenschaft bzw. einen wissenschaftstheoretischen Reduktionismus ab. Denn die Wissenschaften sind nur innerhalb einer jeweiligen, durch Grundkategorien bestimmten Schicht grundsätzlich aufeinander rückführbar, was bestenfalls eine Reduktion von Chemie auf Physik ermöglicht. Da mit den höheren Schichten auch kategoriale Nova einsetzen, die eben nur auf den niederen aufruhen bzw. aufbauen, lassen sich auch die zugeordneten Wissenschaften nicht auf andere reduzieren, da ihre Gegenstände eigenen realen Prinzipien folgen. Niemals wird es also eine naturwissenschaftliche Theorie geben können, die vollständig erklären könnte, wie reflexives Denken als Folge bestimmter, verursachender Hirnfunktionen bestimmt ist. Wie das menschliche Leben mit seinen vielfältigen Funktionen und Weltbezügen im Alltag, so beziehen sich auch die Wissenschaften auf 36 Vgl. Hartmann (1965b), 219 f. 37 Vgl. Hartmann, M. (1948).

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alles, was ist. Doch dies ist ein hier nicht mehr zu erörterndes Thema. Auch hier mag sich ein Blick zu Hartmann lohnen. 3. Damit ist die Erkenntnisrichtung der Wissenschaften vorgezeichnet: Wie jeder Weltzugang auch bewegt sich der wissenschaftliche Erkenntnisprogress von der Erfassung der Phänomene über die damit verbundene Feststellung von Problemen bis zu Lösungsvorschlägen in Theorien und weiteren Theorien: Wie groß die unerkannten Restbestände der uns umgebenden Welt und unseres eigenen Wesens auch sein mögen, der Bruchteil des Erkannten macht den Grundbestand aller unserer Orientierung in der Welt aus.38

Hinzu kommt ein zweites wissenschaftskritisches Element: Immer stellen die Wissenschaften nur Ausschnitte des Erkanntseins her, und Hartmann rechnet auch damit, dass grundsätzlich irrationale Bestände des Realen sich möglichen Erkanntseins vollständig entziehen. Nie wird die reale Welt vollständig erkannt sein, und so kommt der Forschungsprozess in den Wissenschaften niemals an sein Ende. Wenn aber niemals mit einem vollständigen Überblick über ein Gebiet zu rechnen ist, so folgt daraus die Möglichkeit des Irrtums: neue Phänomene können zur Revision vorhandener Gesetze und Theorien führen. Die Gesetze der Naturwissenschaft können und müssen immer durch bessere und richtigere ersetzt werden. Hier findet Hartmann den direkten Anschluss an den Wissenschaftshistorismus in der Fassung Kuhns und seiner Nachfolger: Wissenschaften und ihre Theorien, Institutionen und Methoden als historisch gewachsene Gebilde des geistigen Seins haben ihre eigene Geschichte. Aber deren Beschreibung ersetzt niemals eine innere Methodologie im Kontext einer allgemeinen und speziellen Kategorialanalyse. 4. So sind die Gesetze der Wissenschaft keineswegs die Realgesetze der Natur, sondern sie stellen Annäherungen an diese im Forschungs- und Erkenntnisprozess dar. Gesetze sind Gesetze von bestimmten realen Fällen, Geschehnissen oder Prozessen. Gesetze gelten nicht für sich, sondern für bestimmte reale Gegenstände, und sie erfassen dieses bestimmte Reale nicht vollständig, sondern nur in der bestimmten Hinsicht, die eben in diesen Gesetzen ausgedrückt wird: Was also ein Himmelskörper oder eine Galaxie sonst noch ist, bestimmt ein Gesetz wie der Dopplereffekt nicht, wenn man mit seiner Hilfe die berühmte Rotverschiebung erklärt, die wiederum die Fluchtgeschwindigkeit dieser Systeme von uns beschreibt. 38 Hartmann (1955b), 126.

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5. Die Wissenschaften besitzen reale Substrate in allen Formeln und quantitativen Bestimmungen.39 Ihre Gesetze erschöpfen sich nicht in Relationen und Gesetzen. Bereits um eine einfache Formel aus der Mechanik zu verstehen, müsse man schon wissen, was mit Symbolen wie s, t, m, v, F usw. gemeint ist. Diese sind nicht nur Namen für Ort, Zeit, Masse Geschwindigkeit, Kraft, sondern Ausdruck fundamentaler Relationen. Wissenschaft erschöpft sich nicht in Quantitäten, sondern die Begriffe sind Bedingungen möglicher quantitativer Bestimmung. Das aber bedeutet die Notwendigkeit einer Analyse dieser Grundbegriffe. Sie gründen sich letztlich auf metaphysische, also apriorische Bestimmtheiten wie Raum, Zeit, Prozess, Kausalität. Wissenschaft zielt deshalb zuletzt immer auf die Bestimmung des Nichtquantitativen.40 6. Dennoch ist Wissenschaft nicht analytische Zersetzung und Isolierung. Ihr Ziel ist Zusammenhang und Synthese des konkreten Einzelwissens. So konvergieren die Wissenschaften hin zu einer projektierten einheitlichen Beschreibung der realen Welt.

Literaturverzeichnis Breil (1993): Reinhold Breil, Grundzge einer Philosophie der Natur. Eine transzendentalphilosophische Untersuchung zur Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie, Würzburg. Breil (1996): Reinhold Breil, Kritik und System. Die Grundproblematik der Ontologie Nicolai Hartmanns in transzendentalphilosophischer Sicht, Würzburg. Breil (2011): Reinhold Breil, Die Grundlagen der Naturwissenschaft. Zu Begriff und Geschichte der Wissenschaftstheorie, Würzburg. Brelage (1965): Manfred Brelage, Studien zur Transzendentalphilosophie. Hg. von Aenne Brelage, Berlin. Hacking (1996): Ian Hacking, Einfhrung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart. Haken (1983): Hermann Haken, Synergetik. Eine Einführung, 2. Auflage, Berlin. Hartmann (1931): Nicolai Hartmann, Zum Problem der Realittsgegebenheit, Berlin. Hartmann (1949): Nicolai Hartmann, Mçglichkeit und Wirklichkeit, 2. Auflage, Berlin. Hartmann (1950): Nicolai Hartmann, Philosophie der Natur, Berlin. Hartmann (1955b), Nicolai Hartmann, Neue Ontologie in Deutschland, in: Kleinere Schriften Band I, Berlin, 51 – 89. Hartmann (1955b): Nicolai Hartmann, Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie, in: Kleinere Schriften Band I, Berlin, 122 – 180. 39 Vgl. Hartmann (1965b), 219. 40 Vgl. Hartmann (1965b), 219.

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Reinhold Breil

Hartmann (1964): Nicolai Hartmann: Der Aufbau der realen Welt, 3. Auflage, Berlin. Hartmann (1965a): Nicolai Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, 5. Auflage, Berlin. Hartmann (1965b): Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 4. Auflage, Berlin. Hartmann, M. (1948): Max Hartmann, Die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaften, Jena. Lorenz (1978): Konrad Lorenz: „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“, in: Irenäus Eibl-Eibesfeldt (Hg.), Das Wirkungsgefge der Natur und das Schicksal des Menschen, München-Zürich, 82 – 109. Lorenz (1988): Konrad Lorenz, Die Rckseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, Neuausgabe München-Zürich. Popper (1995): Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 3. Auflage, Hamburg. Vollmer (1983): Gerhard Vollmer, Evolutionre Erkenntnistheorie, 3. Auflage, Stuttgart. Willaschek (2000): Marcus Willaschek (Hg), Realismus, Paderborn.

Genese und Geltung der Kategorien. Nicolai Hartmann und das Programm der Kategorienforschung Gerald Hartung In der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts findet eine Neuorientierung statt, von der in den gängigen Philosophiegeschichten wenig berichtet wird. Es geht um eine systematische Neubestimmung der Grundlagen und Aufgaben einer philosophischen Logik. Angesichts der rasanten Ausdifferenzierung der Wissenschaften steht die akademische Philosophie vor der Frage, ob sie sich gegenber den Wissenschaften als erste Wissenschaft behaupten oder als Wissenschaft unter anderen Wissenschaften positionieren will. Der Philosophiehistoriker Eduard Zeller hat seiner Disziplin um 1860 folgende Diagnose gestellt: „Der gegenwärtige Zustand dieser Wissenschaft in Deutschland beweist an und für sich, dass sie an einem von den Wendepunkten angekommen ist, welche im günstigen Fall zu einer Umbildung auf neuen Grundlagen, im ungünstigsten zu Verfall und Auflösung hinführen.“1 In das Zentrum der Debatte über Umbildung oder Auflösung der Philosophie als Wissenschaft rückt die Frage nach dem systematischen Status philosophischer Grundbegriffe, der Genesis und Geltung philosophischer Kategorien. Sind Kategorien allgemeine Grundbegriffe der Wissenschaften und ist es die Aufgabe der Philosophie, diese aufzudecken? Oder sollten sie als genuin philosophische Termini in der Abgrenzung zur einzelwissenschaftlichen Produktion von Begriffen, Konzepten, kategorialen Bestimmungen gesucht werden? Eingeklammert wird hier die Frage, ob wissenschaftliche Kategorien nicht bloße Wortungeheuer oder Metaphern sind, wie prominent Friedrich Nietzsche und Fritz Mauthner in ihrer Sprachkritik behaupten.2 Der Zeitraum, in dem die Debatte über das Kategorienproblem geführt wird, erstreckt sich innerhalb der deutschen Philosophie von den 1840er bis in die 1950er Jahre. Hier geht es um nicht weniger denn den 1 2

Zeller (1877), 479 – 526; hier: 489. Vgl. Hartung (2010), 153 – 175. Vgl. Hartung (i. Ersch., a).

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Anspruch, den die Philosophie an sich selbst und in Relation zu den Wissenschaften formuliert. Diese Debatte ist auch heute noch von großer Relevanz für das Selbstverständnis der Philosophie als Wissenschaft. Grob gesagt lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mit Berufung auf Descartes, Kant oder Hegel für die Philosophie das Vorrecht beanspruchen, die Analyse der Grundformen, der Stammbegriffe, der Kategorien menschlichen Denkens und Handelns vorzunehmen. Zu ihnen gehören, mit ganz unterschiedlichen Intentionen, Franz Brentano, Hermann Cohen, Paul Natorp, Edmund Husserl, Emil Lask, Martin Heidegger und ihre Schüler.3 Auf der anderen Seite stehen Friedrich Adolf Trendelenburg, Friedrich Überweg, Eduard Zeller, Wilhelm Wundt, Wilhelm Dilthey und eben auch Nicolai Hartmann. Von den letztgenannten Denkern wird die systematische „Heimatlosigkeit“ der philosophischen Logik seit Hegels Zeiten konstruktiv gewendet: Als Kategorienlehre liefert die Logik nicht mehr den verschiedenen Wissenschaften ihre Begriffe, sondern es ist umgekehrt; die Logik übernimmt von den Wissenschaften deren, sich in der Forschungspraxis bewährte Begriffe und überprüft sie auf ihren allgemeinen Geltungsanspruch. Auf diese Weise wird der Entwicklungsgedanke, der im 19. Jahrhundert das Ende der Systemphilosophien bereitet hat, in die philosophische Logik systematisch aufgenommen. Die Formel lautet: Statt Systemphilosophie nunmehr „systematische Philosophie“. Das Kategorienproblem, also die Frage nach den elementaren Formen menschlichen Denkens und Handelns, ist nicht mehr von der philosophischen Logik beherrschbar – das ist Hegels große Suggestion –, sondern es kann nur in Wechselwirkung mit den Natur- und Sozialwissenschaften erarbeitet werden. Die Gruppenbildungen sind durchaus heterogen, aber es gibt einen erkennbaren Limes zwischen den Befürwortern einer Autonomie des philosophischen Geschäfts und denjenigen, die für eine Integration der Philosophie in den allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs plädieren, der an mehreren Stellen explizit wird. So am Ausgangspunkt der Debatte, wenn Trendelenburg sich in den Streit mit den Vertretern der Hegelschen Logik begibt; so an ihrem Endpunkt, wenn Martin Heidegger das Kategorienproblem zur dezidiert philosophischen Aufgabe erklärt. Heideggers Beharren darauf, dass die Kategorien der Existenz nicht zu verwechseln sind mit den Kategorien des Lebens, versperrt die 3

Vgl. Heidegger (1972). Crowell (2009), 93 – 107.

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Möglichkeiten eines interdisziplinären Gesprächs unter Einschluss der Philosophie. Helmuth Plessners und Nicolai Hartmanns Eintreten für eine naturphilosophisch fundierte Kategorienlehre wird in diesem Kontext erst verständlich.4 Ich möchte auf den folgenden Seiten die Geschichte des Kategorienproblems im 19. und frühen 20. Jahrhundert erkunden. Meinen Überlegungen liegt eine dreistufige These zugrunde: Erstens lässt sich meiner Ansicht nach anhand der Frage nach der Genese und Geltung philosophischer und/oder wissenschaftlicher Grundbegriffe eine entscheidende Konstellation im Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften festmachen. Zweitens bin ich der Überzeugung, dass sich dieser Zusammenhang anhand der Rezeption der Aristotelischen Kategorienlehre – unter Berücksichtigung der Kantischen Konzeption – aufweisen lässt. Drittens behaupte ich in systematischer Hinsicht, dass in der Geschichte der Kategorienlehre eine Verschiebung von einer ontologischen zur anthropologischen Begründungsarbeit in der Philosophie stattfindet. In diesem Zusammenhang muss gezeigt werden, dass als gemeinsamer Nenner der vorgestellten Positionen die Überzeugung zählt, dass der Prozess der Verdichtung des Denkens zu kategorialen Bestimmungen im Resultat nicht nur bloße „Denkmittel“ oder sprachliche Konstruktionen hervorbringt, sondern dass Kategorien eine, die Wirklichkeit erschließende Funktion haben. Das ist cum grano salis die Position eines ontologischen, gleichwohl kritischen Realismus. Philosophiegeschichtlich gerahmt wird diese Behauptung durch Friedrich Adolf Trendelenburgs Rückgriff auf den „Realismus des Aristoteles“5, durch Eduard Zellers Profilierung eines „gesunden Realismus“ auf der Basis Kantischer Erkenntnistheorie6 und späterhin Nicolai Hartmanns Grundlegung einer kritischen Ontologie als eines „natürlichen Realismus“.7 In der neueren Forschung zum philosophischen Realismus spielen diese Autoren eine bloß nachgeordnete bis gar keine Rolle.8

4 5 6 7 8

Vgl. Hartung (2003), 115 – 126, 185 – 203. Hartung (i. Ersch., b). Brentano (1862), 75. Vgl. Zeller (1873), 917. Vgl. Hartmann (1921), 133 ff. Vgl. Schneider (1998), 75 – 86. Vgl. zu neueren Realismus-Debatte: Willaschek (2000) und Halbig u. Suhm (2004).

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I. Geschichtliche Wegmarken der Kategorienforschung Heinz Heimsoeth hat in den Kantstudien (1961) unter dem Titel „Zur Geschichte der Kategorienlehre“ eine erste Skizze des hier verhandelten Zusammenhangs geliefert.9 Heimsoeths Abhandlung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen gibt sie einen bibliographischen Überblick zur Fülle an Literatur im Berichtszeitraum zum Thema „Kategorie/ Kategorienlehre“. Vergleichbar ist hier noch der große Artikel „Kategorie“ aus dem Handwçrterbuch der Philosophie von Rudolf Eisler (1913).10 Beide Dokumente belegen im Vergleich zu neueren Wörterbuch-Einträgen, dass uns das Thema heute weitgehend aus dem Blick geraten ist. Zum anderen deutet Heimsoeth an, dass in den Untersuchungen zur Grundlage philosophischer und/oder wissenschaftlicher Kategorien ein großes Projekt auf der Tagesordnung steht: die Konstruktion eines philosophischen Systems, das offen für Impulse wissenschaftlicher Forschung ist und zugleich seinen systematisierenden Anspruch nicht aufgibt. Dieses Projekt und die Möglichkeiten seiner Realisierung werden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert. Friedrich Adolf Trendelenburg hat in der Einleitung zu seinen Logischen Untersuchungen (1840) die von mir skizzierte Situation der Philosophie in der Zeit nach Hegel geschildert. Die Philosophie muss ihre Konzepte an den Ergebnissen der Wissenschaften messen. Insbesondere die Disziplin der Logik muss die Methoden der einzelnen Wissenschaften reflektieren, denn diese sind ihre Tatsachen; sie geht nicht direkt auf die Erfahrungsgegenstände, sondern hat es mit den, von den Wissenschaften bereits kategorial erfassten Gegenständen zu tun. Nun meinen aber die Wissenschaften, dass sie einer solchen Betreuung nicht mehr bedürfen. „Die Wissenschaften versuchen glücklich ihre eigenthümlichen Wege, aber zum Theil ohne nähere Rechenschaft der Methode, da sie auf ihren Gegenstand und nicht auf das Verfahren gerichtet sind. Die Logik hätte hier die Aufgabe zu beobachten und zu vergleichen […]. Ohne sorgfältigen Hinblick auf die Methode der einzelnen Wissenschaften muss sie ihr Ziel verfehlen, weil sie dann kein bestimmtes Objekt hat […]. Bis jetzt“, so schließt dieser Gedankengang, „ist in dieser Hinsicht noch wenig geschehen.“11 9 Vgl. Heimsoeth (1961), 211 – 239. 10 Vgl. Eisler (1913), 326 – 332. 11 Trendelenburg (1870), Vorwort zur ersten Auflage, IV.

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Im Hinblick auf die Wissenschaften ist die Philosophie „Logik“, d. h. Arbeit an den Kategorien der einzelnen Wissenschaften – mit dem Ziel einer allgemeinen Kategorienlehre. Trendelenburg behauptet nicht, eine neue Problemstellung entworfen, sondern lediglich eine altehrwürdige Grundproblematik der Philosophie wieder aufgedeckt zu haben. Als ein Denker in Kontinuitäten entfaltet er in seiner Geschichte der Kategorienlehre (1846) ein großes Panorama von der Antike bis in die Moderne. Die Aufgabe lautet, die Genesis und Geltung philosophischer Grundbegriffe im Zusammenhang zu erfassen. Kant hat die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, zum Ausgangspunkt genommen, um die Kategorienforschung auf die „Frage nach der innern Möglichkeit und den Quellen des Erkennens“ zu lenken.12 Zwar weisen die von ihm aufgestellten Kategorien als „Stammbegriffe des Verstandes“ eine interne Logik auf, da sie als notwendige Bestandteile des urteilenden Denkens zu verstehen sind. Aber ihre Geltung scheint bloß subjektiv zu sein, wie Trendelenburg Kant missversteht. Vor allem aber haben sie, was schwer wiegt und von ihm richtig gesehen ist, bei Kant keine Genesis. Diese Mängel scheint nach Trendelenburgs Auffassung Hegel zu vermeiden, wenn er die Kategorien als ewige, den Dingen zugrunde liegende Begriffe erfasst, die das Denken in einer schöpferischen Tat freilegt. Hier fallen Metaphysik und Logik ineins, aber die Erfahrung, von der Hegel spricht, ist nur eine Erfahrung, die das Denken in seiner eigenen Genesis macht. Sie ist keine reale Erfahrung, die in der Anschauung gründet. Um reale Erfahrungen systematisch verarbeiten zu können, müssen wir die Hegelsche Ineinssetzung von Logik und Metaphysik zurücknehmen.13 Und noch eine Position wird von Trendelenburg genannt. Der Philosoph und Psychologe Johann Friedrich Herbart hat in den Kategorien nur das Produkt eines psychischen Mechanismus der Reproduktion unserer Vorstellungen (die Apperzeptionslehre) gesehen, was sie zwar durchaus sind, aber eben nicht nur, wie Trendelenburg anmerkt. Herbart hat den produktiven Impuls in Anschauung und Denken außer Acht gelassen. Dementsprechend blendet er die Frage nach der logischen und metaphysischen Geltung der Kategorien aus. Zusammengefasst kann Trendelenburg vermerken, dass der Hegelschen Ineinssetzung von Logik und Metaphysik die Herbartsche Differenzierung von Psychologie und Logik und die Ausklammerung der Meta12 Vgl. Trendelenburg (1861), § 3., 3 – 6, hier: 5; ders. (1842), 1 – 2; ders. (1870), Bd. 1., 332 ff.; Bd. 2., 142 ff. 13 Trendelenburg (1870), 332 – 335.

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physik gegenübersteht. Beide Positionen bieten keine angemessene Verhandlung des Kategorienproblems. Das Resultat einer Geschichte der Kategorienlehre ist, dass die dominierenden Denkansätze einseitig sind. Die Einseitigkeit liegt in der Erklärung für die Entstehung der Kategorien. Hegel hat zumindest gegenüber einer logischen Einseitigkeit bei Kant und einer psychologischen Reduktion bei Herbart erkannt, dass es eine geschichtliche Entwicklung der Kategorien gibt. Daher sagt Trendelenburg anerkennend: „Hegels Anspruch einer Genealogie derselben bleibt bestehen“.14 Hegels Fehler liegt auf einer anderen Ebene, insofern er sein Kategoriensystem konstruiert und in der dialektischen Bewegung der Grundbegriffe des Denkens die Frage nach Genesis und Geltung intern verschränkt hat. Daher hat er nicht die Kategorien in den Wissenschaften vorgefunden und so deren berechtigten Anspruch auf Wirklichkeitserkenntnis unterlaufen. Angesichts dieser Mängel plädiert Trendelenburg für eine Neubegründung der Kategorienlehre. Ganz allgemein formuliert sind Kategorien Grundbegriffe unseres Denkens, die allen anderen Begriffen Halt geben. Sie sind Bestandteile des urteilenden Denkens, aber nicht dessen Produkte. Sie sind „wiederkehrende Bestimmungen, unter welche wie unter höhere Mächte im Concreten wie im Abstrakten all unser Denken fällt.“15 Die Kategorienlehre, im Verständnis Trendelenburgs, hebt an mit einer Trennung der realen Kategorien, mit denen wir das Wesen der Dinge erfassen, von den modalen Kategorien, die an den Akt des Erkennens gebunden sind. Reale Kategorien sind z. B. „Substanz“ und „Quantum“. Die Aufgabe der Logik ist es, die Differenz und Einheit dieser Kategorien zu bestimmen, „denn die Grundbegriffe sind entweder Grundbegriffe des Seins oder des Denkens.“ Auf beide Aspekte kommt es an. Stünde das Denken nicht in Relation zur Ordnung des Seienden, dann würde es sich in sich selbst verfangen. Es trägt aber „die Möglichkeit einer Gemeinschaft mit den Dingen in sich.“16 Diese Gemeinschaft führt Trendelenburg auf eine Grundtätigkeit zurück, die Denken und Sein übergreift und Erkennen ermöglicht. Er spricht von einer „konstruktiven Bewegung“, die sowohl der Entstehung der Dinge wie auch der geistigen Produktion zugrunde liegt. Kategorien sind nichts anderes als Produkte 14 Trendelenburg (1870), 335. 15 Trendelenburg (1870), 332. 16 Trendelenburg (1846), 365.

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einer „vermittelnden Thätigkeit“ zwischen den Ebenen; sie sind daher auch „keine imaginären Grössen, keine erfundenen Hülfslinien, sondern ebenso objective als subjective Grundbegriffe.“17 Nun bleibt das Problem der Kategoriengenese. Wie alle Begriffe, so werden auch Kategorien durch Beobachtung gebildet; sie sind aber mehr als bloße Reproduktionen äußerer Verhältnisse, sondern Resultat geistiger Produktivität. „Weil sie in allen wiederkehren, markieren sie sich dem Geiste wie die Grundstriche einer Zeichnung. Es kann nicht anders sein.“18 In Analogie zur Sprachbildung zeigt Trendelenburg, wie sich allmählich, aus einer „chaotische[n] Masse von Vorstellungen […] der logische Gedanke“ bildet, wie auch erst allmählich „in dem schwimmenden Meer von Lauten feste Gestalten“ zu erkennen sind.19 Die erste Quelle der realen Kategorien liegt in der sinnlichen Anschauung; der „erweckte Geist“ bildet zumeist unbewusst die Grundbegriffe im Denken heraus. In einer Realgenesis müsste sich – in Analogie zur Sprachgeschichte – zeigen, wie sich die in den Anschauungen wiederkehrenden Grundbegriffe absetzen und einprägen.20 Ganz allgemein hat die Logik, so Trendelenburg, viel von der Grammatik gelernt, beide Wissenschaften sind geradezu Zwillinge. Insbesondere zeigt das die Herleitung der Kategorien bei Aristoteles, der von der Satz-, d. h. Urteilsstruktur, der gesprochenen Rede ausgeht, dann die Elemente des Urteils, d. h. die Satzteile, isoliert und abschließend die allgemeine Struktur der Satzaussage, also „die Kategorien der Substanz, Quantität, Qualität, Relation, des Ortes, der Zeit, der Lage, des Habens, des Tuns und des Leidens“ bestimmt. Aristoteles zeigt mustergültig, dass die Realgenesis der Kategorien an die Sprachentwicklung gekoppelt ist. „Da die Kategorien, wie es scheint, von Aristoteles aus der Zergliederung des Satzes gefunden sind, so lassen sie eine Vergleichung mit den Redetheilen zu, die vollständig erst nach Aristoteles aufgestellt wurden.“21 Die Behauptung, dass Aristoteles in seiner Kategorienlehre „einem grammatischen Leitfaden“22 gefolgt sei, hat Trendelenburg von Eduard Zeller über Hermann Bonitz bis zu Franz Brentano einige Kritik ein17 Trendelenburg (1846), 368. 18 Trendelenburg (1870), 388. Vgl. zur Stellung Trendelenburgs in der Geschichte der Logik Vilkko (2000), 49 – 75. 19 Trendelenburg (1846), 179. 20 Trendelenburg (1870), 355. 21 Trendelenburg (1861), 3 – 4. 22 Trendelenburg (1846), 180.

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getragen.23 Für die Behauptung einer Realgenesis der Kategorien ist die Analogie von Logik und Grammatik bei Trendelenburg allerdings unabdingbar. Er erkennt hierin die genuine Leistung des Aristoteles, denn „ihm verdankt die Wissenschaft, indem er die Betrachtung des Satzes von dem Ausdruck der Laute auf die Bedeutung der darin erscheinenden Begriffe hinwandte, die erste Uebersicht der Welt der Vorstellungen, den Versuch von Kategorien, einem künstlichen System der Naturproducte vergleichbar.“24 Dieser Hinweis macht deutlich, wie Trendelenburg sich die Realgenesis der Kategorien vorstellt. Der Mensch ist Teil der Natur als einer organischen Ganzheit. In entwicklungsgeschichtlicher Perspektive ist nachzuzeichnen, wie er allmählich in Differenz zur Natur tritt, wobei sein Empfinden, Wahrnehmen und Denken immer der Natur zugewandt bleibt. Im Prozess der Kulturalisierung bilden sich Sprache und Denken heraus, werden zunehmend abstrakt, bewahren aber in ihren Grundbegriffen „die Möglichkeit einer Gemeinschaft mit den Dingen“. Erkennen heißt somit, den natürlichen Zugang zur Ordnung der Dinge aufzudecken. Zwar gibt es auf der Ebene der Erkenntnis Wandel und Entwicklung; Kategorien bilden sich zu „künstlichen Systemen der Naturproducte“; jedoch verbürgt allein die Realgenesis der Kategorien, dass wir eine Angemessenheit von Denkinhalten und Wesensgehalt der Natur annehmen dürfen –, denn es ist ein und dieselbe Bewegung, die dem Denken und dem Sein „gemeinsam“ ist.25 Zusammengefasst muss gesagt werden, dass Trendelenburgs Konzeption mehr Fragen aufwirft als sie Antworten liefert. Trotz vieler systematischer Unzulänglichkeiten ist sein Denkansatz einer Realgenesis der Kategorien menschlicher Wirklichkeitserkenntnis zu einer Brücke geworden, um die Philosophie an ihren Frontlinien mit den Natur- und Sozialwissenschaften ins Gespräch zu bringen. Drei Hinweise mögen hier als Platzhalter einer noch zu schreibenden Studie zu diesem Thema dienen: Wilhelm Dilthey hat in seinen verzweigten Studien zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1905 – 1910) von realen Kategorien als „elementaren Denkleistungen“ und „Attributen der Wirklichkeit“ gesprochen.26 Dilthey entwirft einen Stufenbau der 23 24 25 26

Vgl. Bonitz (1853), 591 – 645. Brentano (1862), 72 – 88. Trendelenburg (1861), 4. Trendelenburg (1846), 368. Dilthey (1981), 242: „Die formalen Kategorien […] entspringen aus den elementaren Denkleistungen. Es sind Begriffe, die das durch diese Denkleistungen

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Wirklichkeit27 und behauptet einen entwicklungsgeschichtlich zu verstehenden „Zusammenhang des Lebens“, der sich in einer Realgenesis der elementaren Formen menschlichen Denkens von der unorganischen Natur über das organische Leben bis zur geschichtlichen Welt zeigt. Émile Durkheim eröffnet seine Studie Les Formes lmentaires de la vie rligieuse (1912) mit einer Kategorienlehre, d. h. mit der Behauptung, dass die Struktur menschlicher Denksysteme durch „eine bestimmte Anzahl von wesentlichen Begriffen [gebildet wird], die unser ganzes intellektuelles Leben beherrschen; es sind die Begriffe, die die Philosophen seit Aristoteles die Kategorien des Urteilsvermögens nennen: Zeit, Ort, Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Tätigkeit, Leiden, Verhalten, Befinden. Sie entsprechen den allgemeinsten Eigenschaften der Dinge. Sie sind die festen Regeln, die den Gedanken einengen; der Gedanke kann sich nicht davon lösen, ohne sich selbst zu zerstören.“28 Kategorien sind bei Durkheim „Produkte des kollektiven Denkens“, ohne deren Wirksamkeit es keine „Kollektivwirklichkeit“ geben würde. Der Verhaltensbiologe Konrad Lorenz hat in seiner Abhandlung „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“ (1941) 29 einen weiteren Ansatzpunkt für eine Realgenesis der Kategorien markiert. Er macht ernst mit der Vorstellung, dass in der organischen Welt die anorganische und die seelisch-psychische Wirklichkeit strukturell zusammenfallen und sich an diesem Treffpunkt die Elementarität des Denkens ausbildet. „Wenn man nun die angeborenen Reaktionsweisen von untermenschlichen Organismen kennt, so liegt die Hypothese ungemein nahe, daß das ,Apriorische‘ auf stammesgeschichtlich gewordenen, erblichen Differenzierungen des Zentralnervensystems beruht, die eben gattungsmäßig erworben sind und die erblichen Dispositionen, in gewissen Formen zu denken, bestimmen.“30 Die genannten Theorien werfen eine unterschiedliche Perspektive auf das Problem einer Realgenesis der Kategorien menschlicher Wirklichkeitserkenntnis. Das Kategorienproblem fächert sich in der Philosophie (Lebensphilosophie, Philosophische Anthropologie) und in den

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Auffaßbare repräsentieren. Solche Begriffe sind Einheit, Vielheit, Gleichheit, Unterschied, Grad, Beziehung. Sie sind Attribute der ganzen Wirklichkeit. Die realen Kategorien […].“ Dilthey (1981), 241: „Auf dem Boden des Physischen tritt das geistige Leben auf; es ist der Evolution als deren höchste Stufe auf der Erde eingeordnet.“ Durkheim (1994), 27 – 28. Lorenz (1941), 94 – 125. Lorenz (1941), 96.

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Sozial- und Kulturwissenschaften (vor allem der Soziologie, Ethnologie und strukturalen Anthropologie) weit auf und verlässt den Boden der Aristotelischen Systematik. Gleichwohl operieren die hier angeführten Theorien mit der These, dass es Erkenntnisformen in den jeweiligen Wissenschaften und Kategorien als elementare Strukturen des Denkens gibt; und sie untermauern diese These mit der ontologischen Hypothese, dass es eine Korrespondenz oder Passung von Erkenntnisapparat und Wirklichkeit resp. Umwelt geben muss. Das ist die Position eines „natürlichen“ Realismus, mit dem die Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften, wie schon Trendelenburg gesehen hat, sehr erfolgreich operieren. Das philosophische Problem – die Erkundung des Zusammenhangs von Genesis und Geltung der Kategorien – bleibt jedoch, auch wenn oder gerade weil die Erfahrungswissenschaften, von der Neurobiologie über die Entwicklungspsychologie und Kognitionswissenschaft bis zur Verhaltensforschung und evolutionären Anthropologie, in den letzten anderthalb Jahrhunderten enorme Fortschritte in der Beschreibung der Realgenesis des menschlichen Erkenntnisapparates gemacht haben.

II. Kritische Ontologie und Kategorienforschung Hartmann liefert in seiner Abhandlung Grundzge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) eine Skizze zur Geschichte des Kategorienproblems, in der die hier beschriebene Problemskizze noch einmal gespiegelt wird. Aristoteles steht am Beginn, der Platonismus führt zu einer Idealisierung der Kategorien, Kant steigert dies zu einer Subjektivierung derselben, im Neukantianismus schreitet ihre Subjektivierung und Verflüchtigung voran, bis die Seite des selbständigen Erkenntnisgegenstandes ganz verschwunden ist. „Als letztes Glied dieser Entwicklung steht die Auffassung der Kategorien als bloßer Fiktionen da.“31 Hartmann strebt nicht den Aufbau eines Systems der Kategorien an. Die Leistung des Aristoteles wird von ihm gewürdigt, aber die heutige Situation ist seiner Ansicht nach eine andere, denn „es geht nicht mehr um erste Orientierung in einem Chaos von Erscheinungen.“32 Vielmehr sind die Erscheinungen bereits aus ihrer natürlichen Ordnung gelöst. 31 Hartmann (1955c), 46 – 47. Hier ist zweifellos Hans Vaihingers Philosophie des Als ob (1911) gemeint. 32 Hartmann (1955a), 1.

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„Die Art, wie wir sie sehen, ist schon von Kategorien durchformt. Und diese Kategorien sind selbst mannigfaltig, jedes Phänomengebiet hat seine eigenen, unvertauschbaren.“33 Daher hält Hartmann auch nicht mehr an der Vorstellung fest, dass die Aristotelische Kategorienlehre in ihrem materialen Bestand Vorbild ist, sondern vielmehr ein zeitloses Muster der kategorialen Durchdringung der menschlichen Wirklichkeit darstellt. In einer Bestimmung der philosophischen Logik als einer Theorie der Wissenschaften muss reflektiert werden, dass die Mannigfaltigkeit der natürlichen Welt für uns immer eine objektivierte, aber auch geschichtlich variable Form des kategorialen Aufbaus hat. Kategorien sind auch bei Hartmann die inhaltlichen Grundbestimmungen des Seienden, sie sind das Vertraute und Selbstverständliche im Leben, wie schon ihr sprachlicher Gebrauch zeigt – erst die Philosophie entdeckt an ihnen das Unverstandene, nämlich das Problem ihrer Genesis und Geltung.34 Während Aristoteles den Schwerpunkt seiner Bestimmung der Kategorien darauf legt, dass sie Grundprädikate des Seienden sind, ist spätestens mit Kant eine Perspektivenverengung eingetreten, denn nun scheinen Kategorien nur noch als Prädikation im Urteil zu gelten. Damit ist die Frage erledigt, ob Kategorien substantielle Formen des Seienden sind. Aber Hartmann betont, dass damit keinesfalls die Annahme, dass im Urteil etwas über „die Sache“ ausgesagt wird, erledigt ist. Die Hypothese von der ontologischen Tragfähigkeit kategorialer Bestimmungen muss allerdings reformuliert werden. Kant hat die Frage der Realgenesis der Kategorien eingeklammert und gerade dadurch das Problem des Geltungsanspruchs auf ein neues Niveau gehoben. „Sind [nämlich] Kategorien ,reine Verstandesbegriffe‘ und beruht auf ihnen der apriorische Einschlag in unserer Erkenntnis […], so kommt alles darauf an, ob sie auch auf die Gegenstände zutreffen, über die wir urteilen.“35 Kant hat gesehen, dass diesem „Zutreffen“ zwar enge Grenzen gesetzt sind, er hat dennoch an der Forderung ihrer „objektiven Gültigkeit“ (KrV, B 197) festgehalten. So steht auch im Zentrum der Kantischen Kategorienlehre, wie Hartmann heraushebt, das „ontologische Kategorienproblem“, denn „Kategorien also, auf denen apriorische Erkenntnis mit ,objektiver Gültigkeit‘ beruhen soll, müssen zugleich Kategorien des 33 Hartmann (1955a), 2. 34 Vgl. zum Folgenden Hartmann (1955b), 51 – 89. 35 Hartmann (1955a), 6 – 7.

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Realen sein.“36 Das ist zwar nicht die gängige Lesart, die in der KantForschung dominiert, aber ein Sachproblem ist gleichwohl erkannt.37 Die kritische Ontologie als ein Programm der Kategorienforschung behält sowohl die Perspektive auf die Gegenstandserfahrung wie auch die Urteilslogik im Blick. Auf der Ebene des objektiv geprägten Begriffs erhebt jede kategoriale Aussage den Anspruch, auf die Erkenntnisgegenstände zuzutreffen, d. h. von ihnen als „Prädikate“ aussagbar zu sein – das ist „der unaufhebbar berechtigte Sinn des alten Terminus ,Kategorie‘“.38 Hartmann entfaltet in seiner großen Studie Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre (1940) 39 das ontologische Kategorienproblem, indem er die Unterscheidung von Kategorien des Realen oder Gegenstandskategorien, auf die wir in Lebenswelt und Wissenschaft als „durchgehende Grundzüge der Erfahrungsgegenstände“ treffen, und Erkenntniskategorien im Kantischen Sinn weiter herausarbeitet. Hartmann greift die Geschichte des Kategorienproblems auf und zeigt in einem stringenten systematischen Zugriff, dass die realgenetische Perspektive das Geltungsproblem ungelöst lässt, und die apriorische Perspektive den Entwicklungsgedanken nicht berücksichtigt. Der Gedanke vom „Aufbau der realen Welt“ nimmt ernst, dass die Welt, wie wir sie vorfinden, nicht ursprünglich ist. In einem zeitlichen Sinn ist das so. Zugleich aber ist diese Welt als unser Horizont von Erfahrungen und Erlebnissen stabil, d. h. Veränderung entzieht sich weitgehend der Erfahrung oder findet nur auf der Oberfläche statt. In einem fundamentalen Sinne ist die Welt für uns geordnet. In Hartmanns Worten: Das Reale ist für uns geschichtet oder gestuft. So heißt es im 20. Kapitel der allgemeinen Kategorienlehre, wo die populärste Fassung des Schichtungsgedankens der Welt, d. i. „Natur“ und „Geist“, vorgestellt wird.40 Doch Hartmann gibt sich mit diesem Modell nicht zufrieden. „Die reale Welt ist nicht so einfach, daß sie in einem einzigen Gegensatzschema aufgehen könnte. Überhaupt versagt hier das Schema der Gegensätzlichkeit. Die Welt ist nicht zweischichtig, sie ist zum mindesten vierschichtig.“41 Die vier Schichten ergeben sich durch die Differenzierung in die Bereiche des Lebendigen und Leblosen (Organischen und Anorganischen) in der 36 37 38 39 40 41

Hartmann (1955a), 23. Vgl. für den Hintergrund die Studie von Heimsoeth (1963); auch Reich (1948). Hartmann (1955a), 13. Hartmann (1940). Hartmann (1940), 173. Hartmann (1940), 174.

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Natur und in die Sphäre des Seelisch-Psychischen und Geistigen in dem Bereich, der klassischerweise als „Geist“ bezeichnet wird. Hartmann betont, dass diese Unterschiede und Gegensätze erst im 19. Jahrhundert herausgearbeitet und in der Ausdifferenzierung der Wissenschaften reflektiert werden. Dabei gibt es wiederholte Übergriffe – im Psychologismus und Biologismus –, die mit der Leugnung der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Sphären einhergeht. Hartmann erwartet nun von den Wissenschaften, dass sie die Eigengesetzlichkeit der Schichten, z. B. durch die Trennung von Psychologie und Soziologie, herausarbeiten; für die Philosophie bleibt die Aufgabe, hinter der Heterogenität der Gebilde – vom Atom über den Organismus bis zur Sprache und zum Recht – wie auch der Eigengesetzlichkeit der Phänomenbeschreibung – in der Physik, der Biologie, der Sprachwissenschaft usw. – die Einschnitte, die Übergänge und die fundamentale Einheit der Realität selbst begreiflich zu machen. Das Ausmaß dieser Aufgabe ist nicht zu überschätzen. Der eine Weg, den Trendelenburg gewiesen hat, würde es erforderlich machen, im Sinne einer Realgenesis, die Entstehung der Kategorien in der Lebenswelt und den Wissenschaften aufzuzeigen, um abschließend zu fundamentalen Bestimmungen zu kommen. Das impliziert die Umkehrung der Relation von Philosophie und Wissenschaften gegenüber dem Hegelschen Modell. Aber in der Praxis verwischt sich dieser Unterschied wieder, denn das Geschäft der Philosophie bleibt die Arbeit an den Grundbegriffen, den Kategorien des Seins und Erkennens. Im „Vorwort“ seiner allgemeinen Kategorienlehre wehrt Hartmann sich gegen den simplen Vorwurf, er spreche anderen die Berechtigung zur Konstruktion eines philosophischen Systems ab, täte aber selbst nichts anderes. Dagegen wendet er ein, dass in dieser Kritik ein Missverständnis mitschwingt: die Ineinssetzung eines Systems der Philosophie mit dem System der Welt. Hartmann weist die Möglichkeit dieser Identität strikt zurück und behauptet zugleich, dass die Philosophie, wenn sie nah genug an den Phänomenen bleibt, doch „ein noch unbekanntes System, das im Gefüge der Welt stecken mag, […] aufzudecken vermag.“42 Der Unterschied von „untersuchen“ und „konstruieren“ darf nicht unterschlagen werden. Das heißt dann in der Konsequenz, dass die Philosophie, auch in der Form einer allgemeinen und speziellen Kategorienlehre, nur Grundzüge eines Gesamtbildes, Grundlinien im großen Panorama der Realität ziehen kann. „Mehr als einige Grundzüge bringt auch dieses 42 Hartmann (1940), IX.

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Buch nicht. Die kategorialen Gesetze bilden nur ein loses Geflecht, in dem manches hypothetisch und vieles offen bleibt.“43 Das Gesamtbild auszumalen ist weder Aufgabe der Philosophie noch einer einzelnen Person. Mit der Darlegung der Schichten des Realen und der Schichten der Kategorien steht und fällt die Hartmannsche Konzeption. Der Zusammenhang kann hier nicht in extenso diskutiert werden. Nur so viel sei angedeutet: Trotz verschiedener Formen von Überbauung und Überformung in der Schichtenfolge – vom Anorganischen über das Organische und Seelisch-Psychische zum Geistigen – behauptet Hartmann eine durchgehende Abhängigkeit der höheren von den niederen Schichten, eine Unumkehrbarkeit dieses Dependenzverhältnisses und eine fundamentale Abgrenzung der Schichten voneinander sowie ihrer kategorialen Eigengesetzlichkeit. Darüber hinaus behauptet er, dass es neben den Modalkategorien (Möglichkeit und Wirklichkeit) und den Elementarkategorien (Einheit und Vielheit, Materie und Form usw.) noch „kategoriale Gesetze“ gibt, „welche das Wesen des Prinzipseins, die Kohärenz der Kategorien innerhalb einer Schicht, die Überlagerung der Kategorienschichten und die in ihr waltende Dependenz bestimmen.“44 Im dritten Teil von Der Aufbau der realen Welt entwirft Hartmann die kategorialen Gesetze der Geltung, Kohärenz, Schichtung und Dependenz. Hier geht es um nicht mehr oder gar weniger denn die Grundstruktur und Einheit der realen Welt. Ein erster Anwendungsfall ist die Philosophie der Natur. Abriß der speziellen Kategorienlehre (1950).45 Tatsächlich unternimmt Hartmann den Versuch, die Anwendbarkeit seiner allgemeinen Kategorienlehre als einer Theorie der Naturwissenschaft nachzuweisen. Diese Überlegungen nur nachzuzeichnen, würde schon zu weit führen. Hartmann gibt einen Hinweis, wie eine verkürzte Überprüfung möglich ist, denn es entspricht seiner Überzeugung, dass der philosophische Gedanke sich immer am „Concretum“ beweisen lassen muss. Was von der Einheit der realen Welt gilt, das muss auch von der Einheit höherer Weltgebilde gelten. Anders gesagt: Die Schichtung der Welt und die Wirksamkeit der kategorialen Gesetze muss im „Aufbau des Menschenwesens“ nachweisbar sein.46 Während Hartmann an anderen Stellen 43 44 45 46

Hartmann (1949). Hartmann (1949), 188. Hartmann (1950). Hartmann (1942), 199 – 311; insbes. Kap. XI.: Die Schichtung des Menschenwesens (S. 287 – 293).

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seines Werkes die Perspektive eines neutralen Beobachters einzunehmen scheint, macht er hier – vor allem motiviert durch die Auseinandersetzung mit Arnold Gehlen47 – deutlich, dass auf dem Feld der anthropologischen Forschung zu entscheiden sein wird, ob es tatsächlich elementare Strukturen der Welt und der menschlichen Weltsicht in Entsprechung gibt. „Man kann das Wesen des Menschen nur fassen, wenn man es als das Ganze des Schichtengefüges faßt, das sich in ihm vereinigt; dergleichen nur, wenn man es in der Ganzheit desselben Schichtengefüges, welches auch außer ihm im Aufbau der realen Welt besteht, zu fassen weiß. Man kann den Menschen nicht verstehen, ohne die Welt zu verstehen, in der er lebt und ein Glied ist; genau so wie man die Welt nicht verstehen kann, ohne den Menschen zu verstehen – als dasjenige Glied der Welt, dem allein ihr Aufbau sich darstellt.“48 Doch es gibt keine anthropologische Wende in Hartmanns Werk. Vielmehr ist es so, dass die Kategorienlehre ihre Anwendung in der Naturphilosophie findet und diese wiederum eine anthropologische Pointe hat. Verkürzt können wir auch festhalten: Wenn die Anthropologie und Naturphilosophie miteinander verschränkt (Kategoriale Gesetze) und auf die Schichtenlehre (Ontologie) zurückbezogen werden, dann lässt sich in einem überschaubaren Phänomenbereich (Mensch) die Hypothese vom Gesamtbau der realen Welt absichern.

III. Ziele und Wege der Kategorienforschung In Verdichtung der genannten Hauptwerke, in denen der Übergang von der allgemeinen zur speziellen Kategorienlehre beschrieben wird, gibt es einen Vortragstext, der gewissermaßen die Summa seiner Kategorienlehre darstellt. Im Herbst 1947 hat Hartmann einen programmatischen Vortrag mit dem Titel „Ziele und Wege der Kategorialanalyse“ auf dem deutschen Philosophenkongress gehalten.49 Was die Philosophie leisten kann, wird hier dezidiert als „Kategorialanalyse“, die in strenger und kritischer Auseinandersetzung mit den Wissenschaften steht, angesprochen. Hartmann verfolgt zwei Argumentationslinien. Zum einen bietet nur die philosophische Logik die Möglichkeit, die Pluralität der Real- und 47 Hartung (2003), 185 – 187, 199. 48 Hartmann (1942), 293. 49 Hartmann (1955c), 89 – 122.

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Erkenntniskategorien nicht als billigen Pluralismus, d. i. Relativismus zu verstehen. Zum anderen eröffnet nur eine kritisch reflektierte Ontologie die Möglichkeit, das Streben nach Adäquation von Aussage und Urteil einerseits und Erkenntnisgegenstand andererseits nicht als bloße Illusion – wie bei Nietzsche und Mauthner – oder als bloßes Anpassungsphänomen, in einer biologischen oder ideologischen Verkürzung zu verstehen. Um seine Überlegungen abzustützen, formuliert Hartmann hier prägnant zwei Hypothesen, in denen die allgemeine Kategorienlehre verdichtet wird. Gemäß seiner ontologischen Hypothese erscheint die reale Welt als geschichtet. Hartmann greift auf Aristoteles zurück, der den Schichtungsgedanken in seiner Seelenlehre zuallererst prägnant als Aufschichtung des physischen, organischen, seelischen und geistigen Seins sichtbar gemacht hat.50 Es gilt das Gesetz der Dependenz der höheren von den niederen Schichten wie auch das der relativen Autonomie der einzelnen Schichten.51 So entsteht die Schwierigkeit für die Kategorialanalyse, dass sie einerseits die Abhängigkeiten – organisches bedingt geistiges Leben – und andererseits die Verschiedenheit der Ebenen – Differenz von Kausalität im physischen und im psychischen Bereich – im Auge behalten muss. Das heißt in einen Blick nehmen muss, um die Analyse der physischen, organischen, seelischen und geistigen Kategorienverhältnisse nicht in einen Perspektivenrelativismus abgleiten zu lassen. Die natürliche Einheit der Welt, wie sie uns in „sinnlicher Gewissheit“ (Hegel) oder „passiver Weltteilhabe“ (Husserl) gegeben ist, bleibt ein Leitfaden für die Kategorienforschung. Gemäß seiner erkenntnistheoretischen Hypothese impliziert der Schichtungsaufbau der realen Welt, dass eine Adäquation von Erkennen und Sein möglich ist. Im Vortrag von 1947 erweitert Hartmann die ontologische und erkenntnistheoretische Hypothese um eine anthropologische Pointe. Da wir nicht davon sprechen können, dass die Adäquation von Denken und Sein eine Gegebenheit ist, wie es in der Aristotelischen Tradition gedacht wurde, wird es notwendig, von einem Prozess der Adäquation zu sprechen, der durch die Pluralität von Lebenswelt und Wissenschaften hindurchgeht. So gesehen können wir nach Hartmanns Ansicht davon sprechen, „daß allen Kategorien des begreifenden Denkens […] eindeutig die Tendenz innewohnt, sich mit den Seinskategorien zu decken und so die kategoriale Identität herzustel50 Vgl. Hartmann (1957), 164 – 191; insbes. S. 184 – 185 zu Aristoteles’ Bedeutung für die Schichtenlehre am Beispiel einer Lektüre von De anima. 51 Vgl. Hartmann (1942), 263 – 275.

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len.“52 Die Grundtendenz des Begreifens ist der Versuch, sich „der Sache“ selbst anzunähern und über sie angemessene Aussagen zu machen. „Der ganze Apparat der Erkenntniskategorien, soweit diese beweglich sind, läßt sich hiernach auffassen als eine einzige große Zurüstung der Anpassung des Intellekts – und letzten Endes des Menschen überhaupt – an die Welt, in der er lebt.“53 Die anthropologische Pointe der Kategorienforschung steht im Licht der Analyse von Konrad Lorenz. In seiner Abhandlung Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwrtiger Biologie hat Lorenz die „zweifellose Tatsächlichkeit des Entwicklungsgeschehens“ unterstrichen und aus ihr die Konsequenz gezogen, dass auf der Ebene genetischer Dispositionen und gattungsgeschichtlicher Anpassung das Gewordensein „kategorialer Denk-Geformtheiten“ zu verstehen ist. Das Kantische Apriori muss phylogenetisch rekonstruiert werden. Nur so ist seiner Ansicht nach überhaupt verständlich, dass Kategorien auf die Wirklichkeit „passen“ wie unser Fuß auf den Boden. Die für uns gewissermaßen elementare, apriorische Struktur der Erkenntnis ist in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht eine aposteriorische Konstruktion, ein Vorgang der Anpassung an eine Umwelt.54 Hartmann, der diese Überlegungen sicherlich gut gekannt hat, übernimmt den Gedanken der „Anpassung“, fügt jedoch in seinem Vortrag über Ziele und Wege der Kategorialanalyse lakonisch hinzu: „Man braucht das nicht biologisch zu überspitzen.“55 Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, denn das 20. Jahrhundert hat zu ideologischen und naturalistischen Verkürzungen der Debatte über Genesis und Geltung der Kategorien tendiert. Wer verstehen möchte, was Hartmann einem biologischen Determinismus entgegenhält, der wird in Der Aufbau der realen Welt im Zusammenhang der „kategorialen Gesetze der Schichtung“ fündig. Hier spricht Hartmann davon, dass es tatsächlich in den Schichtungen der realen Welt strukturelle Wiederholungen gibt. Allein die elementaren Gegensatzkategorien legen nah, sowohl in der anorganischen als auch geistigen Welt die Struktur von Einheit und Vielheit, Quantität und Qualität, Materie und Form usw. freizulegen. Aber die Wiederkehr des strukturell Gleichen impliziert, wie Hartmann betont, schon auf dem Niveau der ersten und zweiten Schicht „minimale Abwandlungen“. Das darf nicht übersehen werden. „Betrachtet man das 52 53 54 55

Hartmann (1955c), 119 – 120. Hartmann (1955c), 120. Lorenz (1941), 99. Hartmann (1955c), 120.

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Gesetz der Wiederkehr isoliert für sich, so ist man stets in Gefahr, seinen Sinn zu überspitzen.“56 Die Analyse muss daher mitberechnen, dass in der Überbauung und Überformung – z. B. der Zellstruktur aus atomaren Elementen oder der Sprache aus Sprachlauten – zuerst Divergenz, dann aber auch strukturelle Verschiedenheit zutage tritt. Hartmann spricht vom „irreduziblen Novum“, das über alle Kombinatorik hinausgeht und er spottet über alle Versuche, höhere Seinsgebilde aus den Gesetzen niederer – z. B. Geist aus den neurologischen Strukturen des Gehirns – „erklären“ zu wollen. „Ohne das Einsetzen eines kategorialen Novums in jeder neuen Schicht ist der Formenreichtum der Abwandlung schlechterdings nicht zu verstehen.“57 Jede Form des Determinismus ist einseitig und damit schlichtweg ein Irrtum.

IV. Unerledigte Aufgaben der Kategorienforschung Wir haben gesehen, dass es für die Philosophie Hartmanns eine lange Version gibt – von der allgemeinen Kategorienlehre vom Aufbau der realen Welt (als Teil III der Ontologie) bis zur Naturphilosophie als einer speziellen Kategorienlehre. Auf dem Feld der Anthropologie findet die extensive Darstellung eine komprimierte Form. Hartmann nähert sich in den 40er Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts der philosophischen Anthropologie an, deren Vertreter Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen ihm bekannt waren. In die Lehre vom Aufbau der realen Welt dringt damit die Frage nach dem Wesen ein, das in allem Erleben, Zulernen, Einsehen und Eindringen von und in Welt ebendiese aufbaut und in dessen Verhalten zur Welt sich „das Ringen um die Adäquation der eigenen Erkenntniskategorien“58 zeigt. Mit dieser pointierten Passage sollte deutlich werden, dass die Kategorienforschung im Berichtszeitraum 1840 bis 1950 zwei weitreichende Konsequenzen hat: 56 Hartmann (1940), 453. 57 Hartmann (1940), 457. Und er fügt auf der folgenden Seite hinzu: „Das Gesetz des Novums ist nicht eine Begrenzung der Wiederkehr […], sondern das positive Gegenstück zu ihr. Es hindert das Durchgehen der niederen Elemente durch die Schichten nicht, aber es setzt ihm eine andere Grundeigentümlichkeit im Aufbau der realen Welt entgegen: das Moment der kategorialen Selbständigkeit der höheren Schicht gegen die niedere.“ 58 Hartmann (1955c), 120.

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1. Sie führt von der ontologischen These, dass eine Welt ist, zur Hypothese von einer Prozesswelt, deren Fundamente und Strukturen durch den Menschen als Handelndem und Erkennendem explizit gemacht wird. 2. Sie stellt an die Philosophie und die Wissenschaften die Forderung, den Aufbau der realen Welt zu erforschen, denn deren Einheit ist „niemals als Ganzes ,von oben her‘ zu entwerfen, niemals als System zu konzipieren“. Sie muss vielmehr „,von unten auf‘ in Angriff genommen werden, muß aus der Detailforschung, aus der Analyse aufweisbarer Problemgehalte heraus gewonnen werden.“59 Von Hartmanns Philosophie, deren Herzstück die „Kategorialanalyse“ bildet, ist nur ein – im doppelten Wortsinn – unerhçrtes Forschungsprogramm geblieben, das zur Untersuchung der Genesis und Geltung kategorialer und elementarer Formen menschlicher Wirklichkeitserkenntnis aufruft. Heute scheint die Zeit wieder günstig zu sein, um an dieses Programm zu erinnern. Einerseits ist die anthropologische Forschung auf dem Weg, die kategorialen Strukturen des menschlichen Weltverstehens zu erforschen. So geschieht das bei Michael Tomasello in der Nachfolge Diltheys und neuerdings Wittgensteins.60 Andererseits gibt es eine ganze Reihe interdisziplinärer Projekte, die dem Prinzip einer bottom-up-theory folgen und dabei weder der empirischen „Tatsache“ noch dem philosophischen Gedanken im Erkenntnisvorgang Vorrang einräumen. Des Weiteren bleibt die Aufgabe, das hier nur skizzierte Projekt weiterzuführen, um das Programm der Kategorienforschung in seinem systematischen Gehalt vor dem Hintergrund seiner eigenen Genese zu verstehen. Angesichts der Differenzierung der Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert, mit der schon Trendelenburg sich auseinandergesetzt hat, bleibt es eine offene Frage, ob der Fragmentierung des Wissens mit einer Rückbesinnung auf eine Kategorienlehre wirksam entgegenzutreten ist. Die Integration der wissenschaftlichen Begriffe der Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften in eine Gesamtperspektive ist gleichwohl eine der Hauptaufgaben der Philosophie, ob bei Aristoteles oder bei Hegel. Wenn die vorgezeichneten Wege auch nicht mehr gangbar sind, so bleibt doch die Forderung an die Philosophie bestehen. Nicolai Hartmann erinnert uns daran. Weitere Studien werden notwendig sein, bis die 59 Hartmann (1955a), 4. 60 Vgl. Tomasello (2006), 37 f.; Tomasello (2009).

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Leistungsfähigkeit seiner kritischen Ontologie und Kategorienlehre zureichend bestimmt ist.

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Neue Wege der Kategorienlehre? Stephan Nachtsheim Neue Wege der Ontologie, Neue Ontologie in Deutschland, Alte und neue Ontologie: solche Titel formulieren einen Anspruch, den Hartmann für seine Philosophie erhoben hat. Und da den Kern seiner Ontologie die Kategorienlehre bildet, ist dies primär der Anspruch, die Kategorienlehre reformiert zu haben, reformiert vor allem durch die Etablierung einer Lehre von den Seinskategorien. Und entsprechend klingen Titel wie Ziele und Wege der Kategorienlehre, als müsse der Kategorienforschung der rechte Weg gewiesen werden. Bei dem Attribut „neu“ muss man allerdings bedenken, dass Hartmann in weiten Zeiträumen denkt und sich seine philosophischen Gesprächspartner selbst in entlegenen Zeiten sucht, wenn es seine systematischen Absichten zu fördern verspricht (ganz besonders Platon, auch Aristoteles, Kant, Hegel). Plessner hat einmal Hartmanns Arbeitsweise als philosophisches Gespräch mit der Philosophiegeschichte charakterisiert.1 Und wenn man an seine Lehre von den Gegensatzkategorien denkt, so hat er den Katalog dieser Kategorien im Wesentlichen in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Ertrag der Geschichte der Kategorienforschung gewonnen. Die Frage „Neue Wege der Kategorienlehre?“ verweist natürlich auf eine Aufgabe, die für einen Vortrag viel zu umfangreich ist. Daher will ich mich auf Weniges beschränken, das aber hoffentlich einen Eindruck davon geben kann, in welche Richtung in etwa eine Antwort auf diese Frage gehen könnte. Summarisch und in groben Zügen lässt sich freilich noch einigermaßen leicht angeben, was neu ist an Hartmanns Kategorienlehre: – Es zeichnet sie ihr kritisches Verhältnis zur alten, vorkantischen Ontologie aus. Sie will eine betont nachkantische Kategorienlehre sein. – Neu ist die Umgestaltung jener theoretischen Philosophie, die Hartmann in der Marburger Schule vorgefunden hatte. Diese war 1

Vgl. Plessner (1952), 100.

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eine Logik, im Grunde eine transzendentale Logik, die sich jedoch Elemente der formalen Logik in unbestimmter Weise einverleibt hatte und die der formalen Logik keine eigene Stellung mehr gelassen hatte.2 Innerhalb der theoretischen Philosophie Hartmann dagegen treten eine (nun wiedergewonnene) formale Logik (als Lehre von den idealen Gesetzen der sekundären Seinssphäre der Urteile und Begriffe), eine neu entworfene Erkenntnistheorie („Gnoseologie“) und eine beide begründende, zudem sehr differenzierte, Ontologie auseinander. Diese Differenzierung hat ihre Grundlage in modalanalytischen Erwägungen, die Hartmann 1914 veröffentlicht hat.3 Er unterscheidet dort formallogische, gnoseologische und ontologische Modi. Auch die Modaltheorie (MuW) 4 ist übrigens ein wirklich eigenständiges Lehrstück. Für die Kategorienlehre ergibt sich aus der neuen Disposition der theoretischen Philosophie eine Zweizügigkeit, von der noch zu sprechen sein wird. Hartmann hat sodann der Kategorienlehre eine bedeutende inhaltliche Ausweitung, eine Erweiterung auch ihres Problemgebiets und eine erstaunliche Differenzierung gegeben. Dabei bildet die konsequent durchgeführte Unterscheidung von regionalen und fundamentalen Kategorien nur ein, jedoch ein wesentliches Element. Zur Kategorienlehre gehört eine ausführliche Reflexion auf das Methodengefüge der ontologischen Kategorienforschung (Systematische Methode; ArW, Methodenteil). Zumindest ungewöhnlich sind die weitgehende inhaltliche Durchführung der ontologischen Kategorienlehre und die schiere Ausführlichkeit der Einzelanalysen. Hartmann gibt bemerkenswert detaillierte Untersuchungen. Zu den Größenordnungen: Die inhaltliche Untersuchung der Fundamentalkategorien in ArW zieht sich über immerhin 175 Seiten. Die Diskussion der kategorialen Gesetze umfasst etwa 150 Seiten. Am eingehendsten sind die Regionalkategorien erörtert – wo Hartmann die Regionaltheorie durchgeführt hat bzw. beim Stand der Wissenschaft für durchführbar hielt. In Philosophie der Natur nimmt beispielsweise die Kategorialanalyse von Raum und Zeit mehr als 200 Seiten in Anspruch, die der Kausalität immerhin 150 und die der Wechselwirkung knapp 60. Vgl. Reich (2001), 16. Hartmann (1914b). Einige Monographien Hartmanns werden mit Siglen zitiert; siehe dazu das Literaturverzeichnis.

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Nicht ganz so ausführlich sind die Kategorien des Organischen behandelt. Hartmann hat auf die inhaltliche Durchführung großen Wert gelegt. Das Verharren beim bloß Programmatischen schätzte er nicht. Daher bestreitet er Lask, überhaupt ernsthaft am Kategorienproblem gearbeitet zu haben. Dieser habe zwar das Kategorienproblem im Allgemeinen gestellt, aber keine Kategorien selbst entwickelt und damit nicht an die Kategorien selbst herangeführt.5 Im Folgenden sollen drei Dinge etwas näher betrachtet werden: 1. Die Systematik der theoretischen Philosophie, genauer: das Auseinandertreten von erkenntnistheoretischer und ontologischer Kategorienlehre; 2. die Lehre von den Fundamentalkategorien, insbesondere Hartmanns Vorstellung von einem System der Kategorien; 3. die Wiederbelebung eines Kantischen Motivs in der Ontologie Hartmanns, das mit dessen Unterscheidung von fundamentaler und regionaler Kategorienlehre zusammenhängt. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei seiner Abwendung vom Neukantianismus.

I. Die Zweizügigkeit der Kategorienlehre Bereits in der Cohen-Festschrift aus dem Jahr 1912 bestreitet Hartmann jede Notwendigkeit, die Prinzipien des theoretischen Gegenstands in einem (reinen) Subjekt anzusiedeln.6 1923 hat er das in der NatorpFestschrift noch deutlicher ausgesprochen. Dort bezeichnet er den Prinzipien-Idealismus speziell in der neukantianischen Variante als „Auswuchs des Subjektivismus“ und als eine extreme Vergrößerung eines bereits von Kant begangenen Fehlers7; als Vergrößerung, weil Kant im Begriff des Dinges an sich immerhin noch den Gedanken von subjektsunabhängigen Prinzipien bewahrt habe. Und schon früh, nämlich in Platos Logik des Seins (1909) und dann besonders in der Cohen-Festschrift (1912), beginnt die Idee einer reinen „Seinslogik“ sich zu entwickeln. „Logik“ aber besagt in der Sprache der Marburger Schule: Kategorienlehre. Eine reine Seinslogik ist also eine Kategorienlehre des Seienden, eine Kategorienlehre, die von allem Bezug des Gegenstandes auf das Subjekt absieht, ohne diesen zu bestreiten.8 Die „Seinslogik“ behandelt 5 6 7 8

Hartmann (1923), 277. Hartmann (1912), 60 – 78. Hartmann (1923), 289. Hartmann (1912), 68.

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den Gegenstand, anders gesagt, in seiner Unabhängigkeit von der Erkenntnis. Dabei wird das Subjekt als das den Erkenntnisakt vollziehende konkrete Subjekt angesetzt. Die Erkenntnisrelation aber wird das Thema einer nunmehr neu aufzubauenden Erkenntnistheorie9, die sich sowohl von der Seinslogik wie auch von der Theorie des Subjekts („Psychologie“) unterscheidet. Nun sind aber diese neue Seinslogik (bzw. Ontologie) wie auch die Erkenntnistheorie im Kern gleichermaßen Kategorienlehren. Also ergibt sich für die Frage nach neuen Wegen der Kategorienlehre ein erster Befund: zumindest gegenüber seinen Marburger Lehrern ist neu die Unterscheidung zwischen einer ontologischen und einer erkenntnistheoretischen Kategorienlehre. Hartmann wird später von der letzteren als von einer „gnoseologischen“ Kategorienlehre sprechen. Der Ausdruck „Theorie der Erkenntnis“ wäre irreführend, weil er auch die Ontologie der ontisch sekundären Sphäre der Erkenntnis meinen könnte. In der Gnoseologie indessen handelt es sich um die Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Gültigkeit dieser Erkenntnisgebilde. Wenn nicht alles täuscht, ist Hartmann der Überzeugung, diese Zweizügigkeit der Kategorienlehre sei überhaupt neu – jedenfalls wenn man sie nicht als eine pure inhaltliche Parallelität fasse, etwa im Sinne einer inhaltlichen Totalidentität von Kategorien des Denkens und Seins, ganz zu schweigen von einer Identität von Denken und Sein überhaupt.10 Hartmann präsentiert sich hier, ausgerechnet in der Festschrift für Paul Natorp, beinahe als den besseren Kantianer. Denn dass das Kategorienproblem nicht rein erkenntnistheoretisch erledigt werden könne, wie es in der Neuzeit fast ständig geschehen sei, darin sieht er sich durch Kant bestätigt. Dieser nämlich rechne mit einer Grenze der inhaltlichen Übereinstimmung von Erkenntniskategorien und Seinskategorien. Die Lehre vom Ding an sich besage, dass die Totalität der Bedingungen des Gegenstands die Bedingungen möglicher Erfahrung überschieße. Kant hat damit in Hartmanns Augen die Notwendigkeit einer zweizügigen Kategorienlehre zugestanden und somit einer kritischen Ontologie den Weg geebnet. Die Lehre vom Ding an sich, die dem Neukantianismus noch als ein unkritischer Rest alter Metaphysik galt, wird Hartmann der Ansatzpunkt einer kritischen Ontologie, und zwar im Erkenntnisproblem

9 Hartmann (1912), 77. 10 Hartmann (1923), 296 ff.

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selbst. Und er schreibt seinem Lehrer auf, sie sei der Gipfel von Kants Kritizismus: „Die Lehre vom Ding an sich ist ihre kritischste Tat“.11 Die Logik (oder „Theoretik“) des Kritizismus soll also in eine Seinslogik überführt werden. „Die Logik läßt sich anstandslos als voller Realismus durchführen […] Sie muß Seinslogik sein.“.12 Damit übernimmt die Ontologie aber auch die prominente Stelle der Logik im System der Philosophie, die Stelle der Grundlehre. Dieser Grundlehreanspruch für die Ontologie ist bekanntlich vielfach diskutiert worden. Wie immer es sich damit verhalten möge: erkannt werden soll in der Erkenntnis nach Hartmann das „Ansichseiende“, wie der Gegenstand dieser Seinslogik später heißt. Unter welchen Prinzipien aber dieses Ansichseiende steht, das ist eine Frage der ontologischen Kategorienlehre.13 Die Unterscheidung von Gnoseologie und Ontologie innerhalb der theoretischen Philosophie hat zur Folge, dass, anders als im damaligen Kritizismus, die Erkenntnis nicht allein in reflektierter Einstellung (intentione obliqua) thematisch wird – wobei die Reflexion bei den Neukantianern die Erkenntnis auf ein reines Bewusstsein zurückführt. Hartmann nimmt dagegen gemäß dem Auseinandertreten von Gnoseologie und Seinslogik die Erkenntnis, welche in der Gnoseologie in ihrem gültigen Gegenstandsbezug begründet werden soll, zugleich als ein Seiendes, das in der intentio recta studiert werden kann; erst recht gilt das für das Subjekt der Erkenntnis. Eine bloße Reflexionstheorie der Erkenntnis erscheint nun als einseitig. In der ontologischen Perspektive aber ist das erkennende Bewusstsein ein real Seiendes. Als solches gehört es selbst dem Zusammenhang möglicher Gegenstände der Erkenntnis an. Wenn die Gnoseologie nach Hartmann zu fragen hat, wie das Bewusstsein zum Gegenstand kommt und diesen erfasst (womit eine Trennung von Subjekt und Objekt unterstellt sei), so wirkt diese Frage in ontologischer Sicht sonderbar. Denn ontologisch ist das Subjekt als Seiendes immer schon bei, oder besser: unter, den Gegenständen, erweist sich die Erkenntnisbeziehung als eine der zahlreichen Relationen zwischen Seiendem, wenn auch als eine einzigartige. 11 Hartmann (1923), 299. 12 Hartmann (1912), 68. 13 Es ist allerdings die Frage, ob nicht Begriffe wie „Ansichsein“ und „Unabhängigkeit“ bzw. ob überhaupt das Abstrahieren vom Subjekt nicht bereits eine Beziehung auf das Subjekt implizieren. Wie es scheint, sind „Ansichsein“ und „Unabhängigkeit“ bereits gnoseologische Begriffe. Hartmann hat selbst zugestanden, sie könnten nur in der Reflexion gebildet werden (GdO, Kap. 22).

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Mit dieser Einzigartigkeit aber hat es zu tun, dass das Erkenntnisproblem mit der Auskunft, die Erkenntnis- sei eine Seinsrelation, keineswegs erledigt ist – mag manche vereinfachende Hartmann-Darstellung dies auch nahelegen. Bereits die schiere Existenz einer gnoseologischen Kategorienlehre sollte zu der Vermutung anhalten, dass diese Rechnung einen Fehler enthält. Es ist wahr, dass Hartmann das Erkenntnissubjekt dem (real) Seienden und damit der Welt möglicher Erkenntnisgegenstände einordnet, statt es als eine überreale Instanz anzusetzen. Dennoch würde die Formel, nach der es „Seiendes unter Seiendem“ ist, das Subjekt unterbestimmt lassen. Denn es kommt darin die besondere Stellung des geistigen Bewusstseins in der Welt schon ontologisch zu kurz.14 Die Formel vernachlässigt das Schichtenspezifische am geistigen Bewusstsein, dessen regionalontologisch-kategoriale Struktur. Diese Struktur aber macht es, dass der Geist nicht nur Seiendes unter Seiendem ist und bleibt, sondern darüber hinaus die Möglichkeit hat, dem Seienden als Subjekt gegenüberzutreten, sich Seiendes überhaupt zum Gegenstand zu machen und die Subjekt-Objekt-Beziehung zu realisieren. Das unterscheidet die Erkenntnisbeziehung von allen sonstigen Seinsrelationen. Und das ist auch der Grund dafür, dass nach der Etablierung einer Seinslogik die Kategorienlehre trotzdem zweizügig durchgeführt werden muss. Die ontologische Kategorienlehre freilich hat darzulegen, was den Geist als Weltstück befähigt, in der Weise der Erkenntnis Korrelat der Welt zu sein. Die Schichtenlehre erklärt sowohl, gemäß dem Dependenzgesetz der Stärke, das Getragensein des realen Geistes durch die Schichten des Anorganischen, Organischen und Psychischen wie auch, gemäß dem Dependenzgesetz der Freiheit, seine kategoriale Eigenart und Selbständigkeit (ArW, Kap. 55 – 61, bes. 56b und 59b). Für die Zweizügigkeit der Kategorienlehre wirklich ausschlaggebend aber ist die Tatsache, dass das Erkenntnisverhältnis ein sehr kompliziertes Gefüge von Relationen darstellt, zu dem eben nicht nur Seins-, sondern vor allem auch (nicht-ontische) Geltungsbeziehungen gehören. Am deutlichsten wird das am Begriff der „kategorialen Grundrelation“ (MdE, Kap. 48 – 49). Die Erkenntnis im Sinne der Erzeugung von Erkenntnisgehalten in konkreten Akten ist selbstverständlich Seiendes. Und auch das Erzeugnis ist Seiendes, obgleich „sekundär Seiendes“ mit dem Status 14 Hartmann spricht, um diese Sonderstellung zu kennzeichnen, mit Plessner von der „Positionalität der exzentrischen Form“, die dem geistigen Bewusstsein zukomme: PdgS, Kap. 9b; vgl. PdN, Kap. 8d.

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des „Für-uns-Seins“. In ihm ist Seiendes gegeben (ArW, Kap. 22b). Beides, Produktion und Produziertes, geht die ontologische Kategorienlehre an. Insofern beides zur Erkenntnis gehört, spricht Hartmann der Erkenntnis eine (ontische) „Zugehörigkeit“ zum Seienden zu. Aber der sekundären Sphäre der Erkenntnisgehalte eignet eine merkwürdige Doppelbezogenheit auf das Reale. Denn daneben, dass sie in realen Akten erzeugt sind, besitzen die Gehalte inhaltlich eine Zuordnung zu bestimmten Schichten des Realen, und zwar durchaus auch zu anderen Schichten als derjenigen, der sie ontisch und genetisch angehören (der Schicht des geistigen Seins). Hartmann unterscheidet hier Zugehörigkeit und Zuordnung15 : Diejenige Beziehung zum Realen, welche für die Gegebenheitssphären als Zugänge zum Seienden charakteristisch ist, liegt nun aber nicht in der Zugehörigkeit, sondern in der Zuordnung. Das ontologische Grundverhältnis spielt in dieser Hinsicht nur die Rolle einer Voraussetzung; die Zugehörigkeit der Erkenntnis zum geistigen Sein, ihr Aufruhen auf dem Vollzug der Akte, sowie deren weitere Bedingtheit durch den Organismus usw., betrifft nur ihre eigene Seinsweise und deren Abhängigkeit im Realzusammenhang. Dass in ihr Seiendes zugänglich wird, hängt an ihrem Verhältnis zu ihren Gegenstandsgebieten. Dieses Verhältnis aber ist „Zuordnung“. Und sofern ihr das eigene Grundverhältnis – ihre Zugehörigkeit und ontische Bedingtheit – zugänglich wird, so wird es ihr nicht auf Grund seiner selbst, sondern auf Grund der Zuordnung zugänglich. (ArW, Kap. 22c)

Hartmann lässt keinen Zweifel daran, dass die Zugehörigkeit zum geistigen Sein allein über das Charakteristische der Erkenntnis wenig besagt. „Erkenntnis ist ihrem Wesen nach Zuordnung.“ (ArW, Kap. 22d); ihr eignet ein transzendenter Bezug auf bewusstseinsunabhängiges Seiendes. Die Beziehung des produzierten Inhalts zu dem darin gemeinten, günstigenfalls auch zutreffend erfassten, Gegenstand (die „Zuordnung“) aber ist durchaus keine Seinsrelation (und für den Fall der Realerkenntnis keine Realbeziehung). Sie ist vielmehr eine irreale, unzeitliche Geltungsbeziehung. Demnach darf man sagen: die transzendentale Fragestellung ist durch die Vorordnung der Ontologie innerhalb der Systematik nicht einfach weggefallen. Gnoseologisch ist das Eingebettetsein der Erkenntnis in das Seiende sogar sekundär.16 Für die Zweizügigkeit der Kategorienlehre, die wir als ein Novum der Hartmannschen Philosophie bezeichnet hatten, ergibt sich: soweit die Erkenntnis eine Seinsrelation 15 ArW, Kap. 22c; vgl. Hartmann (1947), 107 – 109. 16 Brelage (1965), 172 f.

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darstellt, geht sie die ontologische Kategorienlehre an. Soweit es jedoch das Thema ihrer Geltung betrifft, muss sie in einer Theorie der Erkenntniskategorien thematisch werden, genauer: in der Lehre von der kategorialen Grundrelation.

II. Zur Lehre von den Fundamentalkategorien Bekanntlich unterscheidet Hartmanns Ontologie Kategorien verschiedenen Geltungsumfangs. Neben solchen von eingeschränktem Geltungsumfang, die für bestimmte Seinssphären oder nur für bestimmte Seinsschichten konstitutiv sind, kennt Hartmann schlechthin universale, für alles Seiende bloß als Seiendes konstitutive Strukturprinzipien. Diese werden im Folgenden „Fundamentalkategorien“ genannt (obwohl Hartmann diese Bezeichnung gelegentlich auf die Modalprinzipien ausdehnt). Vergleicht man nun Hartmanns „Tafel“ der Fundamentalkategorien mit dem Bestand an Kategorien, der sich beim frühen Paul Natorp findet17, zeigen sich schon dem ersten flüchtigen Blick18 inhaltlich bemerkenswerte Übereinstimmungen, so dass man hinsichtlich des Anspruches auf „neue Wege“ der Kategorienlehre misstrauisch werden könnte. Bei Natorp gehören zu den „logischen Grundfunktionen“, welchen universale Geltung zukommt, unter anderem die Prinzipienpaare Einheit – Mannigfaltigkeit, was dem Kategorienpaar 7 in Hartmanns Aufstellung in ArW, Kap. 24a entspricht, Quantität – Qualität (Hartmann: Kategorienpaar 6), Diskretion – Kontinuität (Hartmann: Kategorienpaar 10); in anderen Fällen könnte eine genauere Analyse, wie Brelage sie vorgelegt hat, (Teil-) Übereinstimmungen aufweisen, etwa zwischen Natorps Prinzipienpaar Relationsgrundlage – Relation und Hartmanns Substrat – Relation. Zwar ist Hartmanns Liste umfassender als die Aufzählungen Natorps. Doch dieser Umstand wäre als solcher kaum ein Grund, von neuen Wegen zu sprechen. Neu wäre dann im Wesentlichen nur Hartmanns Umbiegung der logischen Grundfunktionen Natorps ins Ontologische. 17 Natorp (1910) und Natorp (1929). 18 Eingehend hat das Verhältnis zwischen Hartmanns Kategorienlehre einerseits und den Kategorienlehren auch des späten Natorp sowie Cohens Manfred Brelage in seiner bislang nicht übertroffenen Dissertation untersucht: Brelage (1957), vor allem 30 – 53.

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Zu der partiellen inhaltlichen Übereinstimmung tritt sogar noch eine formale. Bei Natorp wie bei Hartmann handelt es sich um gegensätzliche und doch korrelative Prinzipien. Die Gegensatzglieder implizieren einander. Natorp schreibt zum Kategorienpaar Quantität – Qualität: „Das Quantum ist nur Quantum des Quale, das Quale nur Quale des Quantum […]“, und das Verhältnis der beiden Prinzipien charakterisiert er als ein „Ineinander“.19 Ähnlich liegen die Dinge bei Hartmann (ArW, Kap. 25b). Allerdings führt Hartmann in der Regel ausführlichere Nachweise dafür, dass in seinen fundamentalen Seinsgegensätzen die jeweiligen Gegensatzglieder einander wechselseitig bedingen. Er nennt dies die „innere Bezogenheit“ der Gegensätze (ArW, Kap. 25). Freilich liegt der Zusammenhang der Fundamentalkategorien in zwei Dimensionen. Denn zur inneren Bezogenheit tritt eine äußere, die zwischen den Gegensatzpaaren selbst besteht. Auch dafür gibt Hartmann Nachweise (ArW, Kap. 26). Die wechselseitige Implikation der Gegensatzpaare selbst macht zusammen mit der inneren Bezogenheit die Kohärenz aller Fundamentalkategorien aus, die nach Hartmanns Auffassung sich an jeder Gegensatzkategorie muss aufweisen lassen. Doch auch Natorp spricht außer vom Ineinander der Gegensatzglieder von einer weitergehenden Form der Zusammenhangsbestimmtheit der Fundamentalprinzipien, nämlich von einer „durchgängigen Wechselbezüglichkeit“20, welche sie zu einem System zusammenschließe, und von der „Einheit durch Korrelation“.21 Bedeutsam ist eine methodologische Konsequenz, die Natorp daraus zieht. Sie lautet: die Erforschung der Fundamentalprinzipien könne im Grunde bei jedem beliebigen Grundbegriff ansetzen und werde doch auf das System der Fundamentalbegriffe geführt: „Jeder wird, richtig entwickelt, mit gleicher logischer Notwendigkeit auf alle anderen führen.“22 Offenbar denkt Natorp, dass die Fundamentalprinzipien ein geschlossenes System bilden. (Für die speziellen Kategorien dagegen sehen die Marburger eine Offenheit des Systems vor.) Der Gedanke an ein geschlossenes System mag damit zusammenhängen, dass sich Natorp stark an der Kantischen Kategorientafel orientiert. Allerdings sieht er das System der Kategorien in seiner Vollständigkeit nicht durch Ableitung aus den Urteilsfunktionen und deren Vollständigkeit gesichert an. Die Skepsis 19 20 21 22

Natorp (1910), 53. Natorp (1929), 20. Natorp (1910), 26. Natorp (1922), 244.

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gegen die metaphysische Deduktion ist ja im Neukantianismus gängig. Schuld daran sind in der Marburger Schule eine unklare Vorstellung von der formalen Logik, als sei diese bloß eine Theorie der analytischen Urteile, und die Tatsache, dass die formale Logik in einer unklaren Weise in die transzendentale einbezogen wird.23 Da der Kantische Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe zurückgewiesen wird, muss sich Natorp der Systematik der Grundprinzipien auf eine andere Weise versichern. Vorbildlich ist dabei die Dialektik der Platonischen Spätdialoge. In Hartmanns ontologischer Kategorienlehre liegen die Dinge anders. Auch für ihn ist zwar die dialektische Methode in der Erforschung der Fundamentalkategorien das Mittel der Wahl. Indessen hält er ein geschlossenes System der Kategorien (auch ein solches der Fundamentalkategorien) nicht für möglich. Für die Erkenntniskategorien liegt diese Unmöglichkeit auf der Hand. Erstens sind sie nach Hartmann selbst geltungsdifferente und in gewissem Belang auch defiziente Begriffe (oder: Vorstellungen) von Seinsprinzipien. Zweitens ist das Denken in der Anwendung der Erkenntniskategorien frei.24 Die tatsächlich zugrundegelegten Kategorien können legitim oder illegitim sein. Auch illegitime, beispielsweise grenzüberschreitende Seinsbegriffe bestimmen das Concretum Erkenntnis. Aber sie determinieren es in seiner Falschheit, genauer in seinem Fundamentalirrtum (man denke etwa an die Anwendung der Finalitätskategorie in der Physik). Diese Freiheit lässt Raum für eine Dynamik im Gefüge der Erkenntniskategorien, freilich auch Raum für eine zunehmende Adäquation an die Seinskategorien, die den Erkenntnisgegenstand in seinem Ansichsein konstituieren (MdE, Kap. 49e). Ein geschlossenes System kann aber auch die Lehre von den Seinskategorien nicht erreichen, weder für die regionalen noch gar für die 23 Vgl. Reich (2001), 15 – 21. 24 Eine ähnliche Überlegung findet sich bei Lask: Die Gegenstandskonstitution durch die Kategorien ist geltungsindifferent. In der Gegenstandserfassung dagegen gibt es eine „Verschiebbarkeit“ der Kategorien (der reinen Begriffe) gegenüber dem Material. Sie beruht darauf, dass im gegenstandserfassenden Urteilen das Verhältnis der „Formung“ eine Leistung des Subjekts erfordert. Für das Urteil ist charakteristisch der Abstand vom (theoretisch konstituierten) Gegenstand. Dieser äußert sich u. a. darin, dass die Gegenstandselemente der Urteilsleistung gleichsam getrennt und als richtig aufeinander zu beziehende vorliegen. An die Stelle der kategorialen Determination, des gegensatzlosen Geltens, tritt hier die kategoriale Prdikation, die gelingen oder misslingen kann.

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fundamentalen Seinsprinzipien. Was die Regionalkategorien betrifft, so bindet Hartmann deren Analyse an die Entfaltung und den Progress der primären Gegenstandserkenntnis, wie er überhaupt geneigt ist, die ontologische Kategorienforschung als eine Art Verlängerung der intentio prima zu sehen. Diese Bindung scheint zwar nicht in demselben Sinne für die Fundamentalkategorien zu gelten.25 Auf jeden Fall aber stehen dem das Ansichsein der Kategorien und eine Erkennbarkeitsgrenze entgegen. Kategorien sind nicht schlechthin rational (d. h. erkennbar). Die Rationalität der Kategorien hält Hartmann vielmehr für eines derjenigen Vorurteile, die eine kritische Ontologie in ihrem Ansatz unbedingt vermeiden muss.26 Hartmann schließt es zwar keineswegs aus, dass die Fundamentalkategorien an sich ein geschlossenes System bilden, nicht einmal, dass ihre Einheit durch ein solitäres oberstes Prinzip gesichert ist. Ein monistisches Vorurteil wäre es allerdings, die Kategorienanalyse in dieser Hinsicht auch nur formal zu präjudizieren.27 Weder ist die Behauptung gerechtfertigt, es müsse ein Einheitsprinzip geben, noch darf gar ein solches der Kategorienforschung vorgegeben werden. Kategorienlehre ist Analyse. Seine Tafel der Fundamentalkategorien hält Hartmann nur für einen Ausschnitt mittlerer Höhe aus dem Kategorienreich. Es bleibt offen, ob es dazu ein oberstes Prinzip gibt, oder eine Mannigfaltigkeit höherer, beispielsweise Genera zu den Gegensätzen (ArW, Kap. 25a). Sie sind die letzten für uns erkennbaren Prinzipien. Eine Einheit durch ein höchstes Prinzip lässt sich von ihnen daher nicht behaupten, wohl jedoch ihre wechselseitige Bedingtheit in der Form, dass jedes von ihnen das oberste Prinzip aller anderen darstellt, wie jedes auch wieder von allen anderen bedingt ist. Hartmann modifiziert also Natorps Begriff vom System der Fundamentalprinzipien. Wenn man nun Liste der Seinsgegensätze inhaltlich etwas genauer betrachtet, stellt man fest, dass einigen Kategorien für den Aufbau der Kategoriensystematik offensichtlich besondere Bedeutung zukommt. Das trifft zu für den Gegensatz Prinzip – Concretum, aber auch für Struktur – Modus, Gefüge – Element, Form – Materie, Einheit – Mannigfaltigkeit. Dies sind Prinzipien, die noch „selbst die Gesetzlichkeit ihrer Tafel hergeben“ (ArW, Kap. 26a), d. h. in besonderer Weise die zwischen den Fundamentalkategorien herrschenden Kohärenzverhält25 Hartmann entnimmt sie, wie bereits erwähnt, der Geschichte der Kategorienforschung. 26 Diesen Fehler kreidet er vor allem Descartes an: Hartmann (1923), 293. 27 Hartmann (1923), 302 – 306; ArW, Kap. 15.

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nisse selbst bestimmen. Ich beschränke mich auf die ersten beiden Fundamentalgegensätze, also Prinzip – Concretum und Struktur – Modus. Der Gegensatz Prinzip – Concretum legt die Kategorien auf ihre Prinzipiationsfunktion fest; er bestreitet ihnen ein Fürsichsein oder irgendeinen Überschuss über diese Funktion hinaus.28 Nun ist auch bei Natorp die Prinzipiationsfunktion für die Prinzipien konstitutiv. Bei ihm trägt sie den Namen „Ermöglichung“. Im Platon-Buch heißt es: „[…] die von der Erfahrung, nämlich von der Aufgabe ihrer Ermçglichung abgesonderte Idee verlöre eben durch diese Absonderung jede Bedeutung für unsre Erkenntnis, auf die es doch uns zuletzt nur ankommen kann.“29 Doch Natorp hat, wenn ich recht sehe, weder das Prinzip noch gar das Ermöglichte mit unter die Prinzipien aufgenommen. Hartmann dagegen entwickelt diesen Gedanken bereits in seinem 1909, und zwar im Durchdenken des platonischen Hypothesis-Verfahrens. Nach seiner Meinung impliziert nämlich in der Hypothesis die Begründung des Begründeten (Prinzipiatums) stets eine Begründung des Prinzips selbst, insofern dieses ein Begründendes ist.30 Im Verhältnis der Prinzipiation ist daher nicht allein das Prinzipiatum durch das Prinzip begründet, sondern auch umgekehrt das Prinzip durch das Prinzipiatum,31 indem es sein Wesen darin hat, an dem letzteren die Prinzipiation zustande zu bringen.32 Hartmann berücksichtigt das im ersten der kategorialen Grundgesetze, dem Grundsatz der Geltung, und speziell im Gesetz des Prinzips (ArW, Kap. 43), welches das Wesen des Prinzips expliziert. In der Lehre von den Gegensatzkategorien zieht er eine noch weiter reichende Konsequenz33 ; er belässt es nicht bei der unauflöslichen Bezogenheit von Prinzip und Bedingtem, sondern nimmt beide – in ihrer Bezogenheit wie in ihrem Abstand – in das Gefüge der fundamentalen Strukturprinzipien selbst mit auf (ArW, Kap. 24). Das Prinzip wird damit zum kategorial Begründeten, weil es ohne die Bezogenheit auf das Concretum als auf das von ihm 28 Zur gleichen Zeit hat übrigens Lask für diese notwendige Bezogenheit der Kategorien den Ausdruck „Hingelten“ geprägt und damit ebenfalls die Unselbständigkeit des Kategorialen und dessen Hinausweisen über sich andeuten wollen. 29 Natorp (1922), 241 30 Hartmann (1909), 215. 31 Hartmann (1909), 202. 32 Siehe dazu und generell zur Bedeutung Platons für Hartmanns Prinzipientheorie: Nachtsheim (1989). 33 Übrigens mit einem ausdrücklichen Hinweis auf Platon (ArW, Kap. 23d; vgl. Hartmann (1909), 477).

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ontisch Abhängige überhaupt nichts ist. Also tritt es, wenn man am strengen Begriff des Konkreten festhält, selbst gewissermaßen als ein Concretum (nämlich des seinerseits kategorial Begründeten) auf! Was das Prinzip zu begründen vermag, muss dank dieser Begründungsfunktion selbst den Charakter des Prinzips tragen. Damit tritt die Ontologie freilich nicht in Konkurrenz zu den Einzelwissenschaften. Denn das Konkrete kommt für sie nicht in seiner vollen Inhaltlichkeit in Betracht, sondern gewissermaßen in der Funktion seiner Konkretheit, nicht als dieses oder jenes einzelne Seiende, sondern durchaus als „Seiendes überhaupt“. „Seiendes überhaupt“, Seiendes qua Seiendes aber bildet unmöglich den Gegenstand irgendeiner primären Erkenntnis, der Gegenstand primärer Erkenntnis ist vielmehr stets ein besonderer. Und umgekehrt werden die Einzelwissenschaften nicht zur Prinzipientheorie, da sie das Konkrete als Einzelnes in der Funktion seiner Bezogenheit auf anderes Konkretes nehmen und nicht als Begründetes von Prinzipien (also nicht in der Funktion seiner Konkretheit). Mit welchem Nachdruck Hartmann systematisch philosophiert, lässt sich aber auch an dem Gegensatz Struktur – Modus nachvollziehen. Zwar stehen im Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Kohärenz der Kategorien die Seinsgegensätze, weil diese, dem Theorem der Wiederkehr und Abwandlung gemäß, auch die Kohärenz der Regionalprinzipien bestimmen (die der Kategorien des anorganischen Natur, des Organischen usf.). Gleichwohl waltet eine Kohärenz auch in den interkategorialen Verhältnissen zwischen den verschiedenen Gruppen von universalen Seinsprinzipien34, d. h. zwischen den Gegensatzkategorien, den kategorialen Gesetze und den Modalkategorien. Hartmann hat ausdrücklich auf die gegenseitige Bedingtheit dieser drei Gruppen hingewiesen (ArW, Kap. 23a). Die Seinsgegensätze ordnen sich den Modalprinzipien und den kategorialen Gesetzen vor, die kategorialen Gesetze andererseits bestimmen die Seinsgegensätze sowie die Modalkategorien, und schließlich sind die Modalverhältnisse in den Seinsgegensätzen vorausgesetzt. Dies erklärt sich nun aber nicht bloß dadurch, dass sie allesamt unter das Prinzip des Prinzips fallen und wechselseitig füreinander Prinzip und Concretum sind. Das sei nur kurz am Verhältnis zwischen Seinsgegensätzen und Modalkategorien erläutert35. Diese sind gewiss durch die 34 Vgl. zur allgemeinen Kategorienlehre auch Breil (1996), 221 – 231, 234 – 240. 35 Bekanntlich bestimmen nach Hartmann die Modalkategorien (genauer die Intermodalverhältnisse) die Seinsweise des Konkreten (die Weise seines Daseins). Durch modale Unterschiede differenzieren sich also die Seinssphären (Reales,

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universale Vorordnung des Gegensatzes Prinzip – Concretum aufeinander bezogen. Aber es gibt darüber hinaus ein besonderes Implikationsverhältnis; diesem trägt Hartmann dadurch Rechnung, dass er den Modus (die Seinsweise) selbst unter die Seinsgegensätze als Gegenglied der Strukturkategorie (Seinsbestimmung) setzt, unmittelbar hinter dem Gegensatz Prinzip – Concretum. Dabei vertritt die Strukturkategorie alle Konstitutiva des Soseins, d. h. alle anderen Gegensatzkategorien außer eben dem Modus (ArW, Kap. 24b). Das Verhältnis zwischen den Seinsgegensätzen und den Modalkategorien erhält so die Gestalt der wechselseitigen Implikation. Es korrespondiert dem konjunktiven Verhältnis der Seinsmomente Dasein und Sosein (GdO, Kap. 19, 20a; ArW, Kap. 25b). Methodologisch entspricht dem der Anschluss der Modalanalyse an die Strukturanalyse (MuW, Einleitung, Kap. 13). Dieses Implikationsverhältnis hat Hartmann inhaltlich eingehend nachgewiesen für die Modalkategorien und – als Spezialfall der Struktur – den Gegensatz Determination – Dependenz (MuW, Kap. 24, 25, 31). Und schließlich etwas, worauf Hartmann Wert legt: die Substratkategorie und die Kategorie der Materie (ArW, Kap. 24b-c, 28). Die Idee dahinter ist: das Wesen des Kategorialen kann sich nicht in Formalität (Gesetzlichkeit, Relation etc.) erschöpfen. Denn das Konkrete in seiner vollen Konkretheit enthält Substrathaftes. Da aber Konkretheit nichts anderes bedeutet als vollständige kategoriale Determiniertheit, ist das Substrathafte und Materiale des Konkreten mit unter die Kategorien zu nehmen. Dieses stellt gleichsam die Korrektur eines Fehlers dar, den Hartmann an der älteren Ontologie in der Nachfolge des Aristoteles beanstandet hat: dass alles Prinzipienhafte formal (eidos) sei. Er will gewissermaßen den daraus resultierenden Dualismus von prinzipienhafter Form und prinzipienfremder Materie überwinden. In der Einzelanalyse denkt er zeigen zu können, dass viele Kategorien ganz deutliche Substratmomente enthalten: Raum, Zeit und Kausalität, beispielsweise.36 So gehen nach Hartmann Zeitfluss und Dauer des Seienden weder in Gesetz noch in Form noch in Relation auf.37

Ideales und die verschiedenen Sphären sekundären Seins). Die Seinsgegensätze gehören zu den Strukturkategorien; sie bestimmen die Concreta ihrem Sosein nach. 36 Hartmann (1914a), 211 f. 37 Hartmann (1914a), 213.

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III. Fundamentale und regionale Kategorienlehre Am Ende ist noch kurz Hartmanns Idee regionaler Ontologien und damit auch die Unterscheidung von Fundamental- und Regionalkategorien zu erwähnen. Es mag dahingestellt bleiben, wer für die Unterscheidung zwischen allgemeiner, formaler Ontologie und regionaler, materialer Ontologie im 20. Jahrhundert die Urheberschaft für sich in Anspruch nehmen darf: Husserl oder Hartmann. Die Entwicklung der Wissenschaften hatte das Thema jedenfalls dringlich gemacht. In Hartmanns Schriften kommt der Gedanke einer Abwandlung und Spezifikation allgemeiner Prinzipien erstmals 1912 mit Bezug auf den Gegensatz Subjekt – Objekt vor,38 nachdem er anscheinend bereits in einem 1906/ 07 bei Natorp angefertigten Seminarreferat aufgekommen war.39 Ebenfalls 1912 erarbeitete Hartmann ein erstes Stück regionaler Kategorienlehre in den Philosophischen Grundlagen der Biologie. Unstreitig dürfte es jedenfalls sein, dass Hartmann nicht nur die Unterscheidung von universalen und regionalen Kategorien entscheidend gefördert hat, sondern dass der Ansatz einer Regionalisierung und Spezifizierung der Kategorien wohl auch bei keinem Denker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem solchen Maße die inhaltliche Arbeit am Kategorienproblem und die Ausarbeitung von Regionalontologien befruchtet hat. Mit der Unterscheidung von Fundamental- und Regionalprinzipien hat Hartmann, wohl auch nach eigener Einschätzung, in gewisser Weise an ein Motiv Kantischer Prinzipienlehre angeknüpft. Und eine Besinnung auf seine Unterscheidung mag dazu verhelfen, auf Missverständnisse der Kantischen Lehre aufmerksam zu machen, etwa auf dasjenige, die Kategorienlehre der Kritik der reinen Vernunft sei unmittelbar die Grundlegung der Newtonschen Physik.40 In der Sache findet man zwar auch bei Hartmanns neukantianischen Lehrern neben Prinzipien von universaler solche von eingeschränkter Geltung (Raum, Zeit, Kausalität, Wechselwirkung etc.). Doch werden beide Gruppen meist nicht ausdrücklich geschieden. Auch die vorkantische Kategorienlehre hat eine solche Unterscheidung in aller Regel gar nicht gemacht. Hartmann hat mit seiner Unterscheidung von funda-

38 Hartmann (1912). 39 Vgl. Brelage (1957), 58; Wolandt (1971), 190, 193. 40 So beispielsweise Popper (1994), 135 – 138, 259 – 266, 269 – 277, dazu: Wagner (1980).

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mentaler und regionaler Kategorienlehre in einer gewissen Weise eine bei Kant vorhandene Differenzierung wiedergewonnen. Die Kategorienlehre der Kritik der reinen Vernunft nun ist keineswegs eine (zureichende) Theorie der Physik – oder in Hartmanns Philosophie übersetzt: keine Philosophie der anorganischen Natur. Es sind vielmehr bei Kant zu unterscheiden: Erstens die Kategorien, wie sie die sogenannte metaphysische Deduktion liefert (als Produkte der Beziehung des Urteilsfunktionen auf Gegenstände überhaupt). In ihrer Vorgängigkeit gegenüber jeder Differenzierung des Gegenständlichen kommen sie mit den Fundamentalkategorien Hartmanns überein. Zweitens die Kategorien in ihrem schematisierten, auf den uns möglichen Erfahrungsgebrauch restringierten Zustand. Diese entsprechen ihrem Geltungsumfang nach am ehesten Hartmanns Kategorien des realen Seins (wie Prozessualität, Zeitlichkeit, Individualität). Drittens die sogenannten Prädikabilien, die gegenüber den (restringierten) Kategorien als den Elementarbegriffen des reinen Verstandes (Prädikamenten) abgeleitet, komplex und verbesondert sind. Gemeint sind damit Begriffe wie Kraft, actio und passio, Entstehen, Vergehen und Veränderung. Sie gehören in die Metaphysik der Körpernatur und zählen nicht zu den echten „Stammbegriffen“ des reinen Verstandes. Sie erst haben die Funktion, die Physik als Wissenschaft von der Körpernatur zu begründen. Es kommt ihnen insoweit eine ähnliche Funktion zu wie Hartmanns regionalen Kategorien der anorganischen Natur.

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Mehr Seinsschichten für die Welt? Vergleich und Kritik der Schichtenkonzeptionen von Nicolai Hartmann und Werner Heisenberg Gregor Schiemann Nicolai Hartmanns Programm einer „Neuen Ontologie“ steht in der Tradition der bis auf die Antike zurückgehenden Suche nach einer philosophischen Grundlagenwissenschaft, die allem Erkennen und Handeln das Fundament gibt.1 Die bisherigen Bemühungen der abendländischen Philosophie um die Bestimmung der Seinskategorien zeigen nach Hartmann die „unbeirrbare Tendenz […] der Annäherung an das Reale“.2 Diese „Richtung im Großen“3 will er zu einer Synthese bringen, die aber im Unterschied zu den vorangehenden Versuchen auf den „utopischen Anspruch eines methodisch absoluten Vorranges“4 verzichtet. Die damit gemeinte Gleichstellung gegenüber anderen philosophischen Aufgaben verknüpft sich zum einen mit einer Hinwendung zur natürlichen Weltsicht, deren Bestreben, „sich in der Welt zurechtzufinden“,5 eine Orientierung gegeben werden soll. Zum anderen will die „Neue Ontologie“ dem Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften gerecht werden. Hartmann möchte die aus der natürlichen Weltsicht und der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse zu einer Einheit zusammenfügen. Die „Kategorienlehre“, heißt es bei ihm, „findet ihre Gegebenheiten auf allen Gebieten des Lebens und der Wissenschaft“.6 Dabei werden die Auffassungen des Alltagsverstandes und der Wissenschaften nicht unkritisch übernommen, sondern einer Analyse und Auswertung für die Zwecke der Kategorienlehre unterzogen. Wo Hartmann in einzelnen Fragen von den Aussagen der nichtphilosophischen Disziplinen abweicht, sieht er sich zu ausführlichen Be1 2 3 4 5 6

Vgl. Hartmann (1946), 51 ff. Hartmann (1940), 33. Hartmann (1940), 33. Hartmann (1946), 58. Hartmann (1946), 63. Hartmann (1940), 15.

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gründungen genötigt. Als Ausdruck des engen Bezuges auf die einzelwissenschaftliche Erkenntnis kann man die von ihm wiederholt vorgetragene Parallelisierung der Struktur des Inhalts seiner Lehre vom Schichtenbau der realen Welt mit der akademischen Disziplinengliederung werten. Die Schichtenlehre, das Hauptresultat seiner Kategorienlehre, behauptet einen Aufbau der realen Welt aus den vier übereinanderliegenden Schichten des Anorganischen, des Organischen, des Seelischen und des Geistigen. Mit dieser Gliederung des Seins in „heterogene[…] Gegenstandsbereiche“ ergebe es sich, daß auch die Wissenschaften sich nach ihnen in zusammengehörige Gruppen von Gebieten aufgespalten haben: von den exakten Wissensgebieten der anorganischen Natur heben sich durch einen klaren Grenzstrich die biologischen ab; diesen folgt die Psychologie mit ihren Nebenzweigen, von der sich ihrerseits wieder die eigentlichen Geisteswissenschaften […] scheiden.7

Um Hartmanns Anspruch, das System der Wissenschaft und ihre Erkenntnisse kategorial erfasst zu haben, zu beurteilen, kann es hilfreich sein, seine Schichtenlehre mit Ansätzen zu vergleichen, die ebenfalls eine Gliederung des Realen behaupten, aber von Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen formuliert wurden. Ein solcher Ansatz, der zudem noch in zeitlicher und kultureller Nähe entstanden ist, findet sich in einem Manuskript von Werner Heisenberg, das unter dem Titel Ordnung der Wirklichkeit postum veröffentlicht wurde.8 Heisenberg entwickelt in dieser Schrift ein Modell der Wirklichkeit, das in seinen Begründungsbezügen und seiner Gliederung einige Verwandtschaft mit Hartmanns Ontologie aufweist.9 Auch Heisenberg ist sowohl um den Anschluss an ein alltagspraktisches Weltverständnis als auch um die kritische Verarbeitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen bemüht. Seine Einteilung der Wirklichkeit deckt sich extensional zum überwiegenden Teil, wie ich zeigen werde, mit Hartmanns vier Schichten. Der Reiz des Vergleichs liegt allerdings weniger in den Gemeinsamkeiten als vielmehr in den Differenzen und den dabei hervortretenden 7 8 9

Hartmann (1942), 38. Das Manuskript ist erstmals in Heisenberg (1984) erschienen und liegt außerdem als Heisenberg (1989) vor sowie unter: http://werner-heisenberg.unh.edu/TOdW-deutsch.htm (letzter Zugriff am 25. 10. 2011). Auf die Verwandtschaft zwischen Heisenbergs Konzeption der abgeschlossenen Theorie und Hartmanns Kategorienlehre weist auch Höfert (1952) hin. Heisenbergs Schichtenkonzeption kann als Verallgemeinerung der zuvor entwickelten Konzeption der abgeschlossenen Theorien angesehen werden, vgl. Schiemann (2008), 70 ff., 90.

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Desideraten der beiden Konzeptionen. Heisenberg versteht sein Schichtenmodell nicht wie Hartmann als Fortsetzung und Zusammenfassung vorangehender Bemühungen, sondern als einen Bruch mit den Hauptströmungen der philosophischen Tradition, der über den Verzicht auf methodische Vorrangstellung weit hinausgeht. In der geschichtlichen Entwicklung der Versuche um eine Bestimmung der Weltstruktur sieht er statt einer Generaltendenz, die langfristig auf eine Annäherung an die Wahrheit hinausläuft, tiefgreifende Diskontinuitäten zwischen den aufeinanderfolgenden epochalen Thematisierungsmöglichkeiten. Heisenbergs Motivation für die Suche nach einer Weltordnung ist den Intentionen von Hartmann damit geradezu entgegengesetzt. Er fragt nicht nach einer epochenübergreifenden Orientierung, sondern nach einer epochenspezifischen Charakterisierung der Welt, deren zukünftig möglicher Geltungsverlust zum Maßstab neuer historischer Umbruchsphasen wird. Meiner Auffassung nach entgeht auch Hartmanns Schichtenlehre nicht der Herausforderung eines geschichtlichen Wandels, der in ganz anderer Weise als Hartmann es wohl selbst angenommen hat, die Grundstrukturen seiner Kategorialanalyse zu entwerten vermag. Zu den Differenzen zwischen den beiden Ansätzen gehört ferner, dass Heisenberg einen viel geringeren Begründungsaufwand als Hartmann betrieben hat und seine knappen Ausführungen mitunter vage bleiben. Sein schmales Manuskript von etwa 140 Druckseiten entstand vermutlich Anfang der 40er Jahre während der Sommerferien, die Heisenberg in seinem Haus bei Urfeld verbrachte. Heisenberg selbst bezeichnete seinen Text, vielleicht auch wegen einiger formaler und inhaltlicher Schwächen, als „privat“ und „persönlich“.10 Auch ohne ausdrücklich als solches ausgewiesen zu sein, hat die Schrift den Charakter eines Vermächtnisses, in dem Heisenberg, falls er das „Dritte Reich“ nicht überleben würde, der Nachwelt seine Weltanschauung mitteilt. Obwohl das Manuskript die zusammenhängendste Ausarbeitung von Heisenbergs philosophischen Auffassungen darstellt, ist es in Umfang und Tiefe seiner systematischen Ausarbeitung kaum mit Hartmanns Lehre vergleichbar. Hartmanns begriffliche Präzision liefert umgekehrt einen Maßstab der Kritik, der auch auf Heisenbergs Modell Anwendung finden kann. Im Vergleich der beiden Schichtenkonzeptionen werden schließlich auch Mängel deutlich, die teils auf die nachfolgende Entwicklung der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis, teils auf den seitherigen Wandel der auch alltagspraktisch wirksamen kulturellen Selbstverständlichkeiten 10 Belege in Schiemann (2008), 85.

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zurückgehen. Einige Schwächen könnten durch Anpassung an veränderte Wissensbedingungen behoben werden. In diesem Zusammenhang werde ich die Einführung zweier neuer Schichten vorschlagen. Es lassen sich aber auch grundlegende Bedenken formulieren, die in Richtung einer Ordnung der Wirklichkeit weisen, die keiner Schichtenauffassung mehr folgt. In meinem Beitrag werde ich zunächst die beiden Schichtenkonzeptionen einführen, dann weitergehend vergleichen und kritisch erörtern. Ich werde die beiden Konzeptionen als Varianten einer wissenschaftlichen Weltsicht thematisieren. Auf das Verhältnis von wissenschaftlicher und natürlicher Weltsicht, das Hartmann und Heisenberg als unproblematisch unterstellen, komme im Schlussteil zurück.

I. Hartmann Hartmanns Verpflichtung auf die philosophische Tradition und sein zugleich bestehender Rekurs auf die natürliche Weltsicht zeigt sich exemplarisch bei der Einführung seiner vier Schichten. Alltagspraktisch sei es evident, dass die „Mannigfaltigkeit der Formen [der Welt] offenbar ein Stufenreich“ bilde.11 Auch bezweifelt er nicht, dass sein der neuzeitlichen Philosophie entlehnter Ansatz zur Festlegung der Schichteneinteilung lebensweltlich weitgehend einleuchtend sei. Mit Berufung auf Descartes’ Metaphysik nimmt er zunächst eine Zweiteilung des Realen in eine räumliche Außenwelt und eine unräumliche Innenwelt vor. Während die sich daran anschließende Einteilung der Außenwelt in Anorganisches und Organisches von ihm ebenfalls als gemeinhin bekannt vorausgesetzt wird, hält er die Gliederung der Innenwelt in Seelisches und Geistiges nicht gleichermaßen für verständlich. Als das allein vom Individuum Erfahrbare sei das Seelische erst mit der psychologischen Forschung hervorgetreten und vom Geistigen, das alle intersubjektiv zugänglichen Phänomene des Bewusstseinslebens bezeichne, zur Abgrenzung gekommen.12 11 Hartmann (1942), 36. Die Differenz zwischen lebensweltlicher und wissenschaftlicher Stufung besteht nach Hartmann darin, dass Erstere „nicht fundamental genug ist“, da sie nur „Gebilde (Ding, Organismus, Mensch usw.)“, nicht aber Seinsschichten erfasst (a.a.O., 36, 39, vgl. Hartmann (1940), 188 ff.). Bei Heisenberg (1984), 232 f., findet sich eine vergleichbare Unterscheidung zwischen einer „Einteilung der Dinge (im allgemeinsten Sinn)“ und einer wissenschaftlichen „Ordnung der gesetzmäßigen Zusammenhänge“. Vgl. Anm. 33. 12 Hartmann (1940), 189 f.; ders. (1942), 37; ders. (1946), 73 f.

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In keiner Weise hinterfragt Hartmann in seinen weiteren Überlegungen die allgemeine Plausibilität einer kategorial viergeteilten Welt. Der Umfang der Abschnitte seiner Werke, in denen er diese Gliederung als feststehende Tatsache einführt,13 nimmt sich im Verhältnis zur Ausführlichkeit der Kennzeichnungen der einzelnen Schichten und ihrer Beziehungen verschwindend gering aus. Mit Ausnahme der Schicht des Seelischen hat Hartmann sowohl die Kategoriensysteme einzelner und mehrerer Schichten als auch die Beziehungen zwischen ihnen in gesonderten Monografien erörtert (vgl. Abb. 1).14 Die Schichten sind jeweils durch ein System von Kategorien charakterisiert, wobei die Begründung der Auswahl der einzelnen Kategorien selbst nicht systematisch ausgewiesen ist und kontextspezifisch unterschiedlich ausfällt. Zu jeder Schicht gehören Kategorien, deren Auftreten allein für die jeweilige Schicht spezifisch ist. Die durch diese Kategorien bezeichneten Eigenschaften hält Hartmann für irreduzibel, d. h. für unerklärbar durch die Eigenschaften der anderen Schichten. In diesem Zusammenhang lassen sich die ihm nicht genannten notwendigen (aber nicht hinreichenden) Bedingungen für die Einführung weiterer Schichten angeben: Sie bestehen im Nachweis von Eigenschaften der Welt, die durch keine bereits kategorial erfassten Eigenschaften erklärt werden könnten.15 Jede Schicht teilt Kategorien mit einer anderen Schicht. Schichten haben keine von anderen Schichten isolierte Existenz, sondern bilden ein wechselseitig aufeinander bezogenes Schichtensystem, das durch die sogenannten Fundamentalkategorien, die allein allen Schichten gemeinsam sind, als Ganzes zusammengehalten wird. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Schichten werden durch ein komplexes Geflecht von kategorialen Gesetzen beschrieben. Diese Gesetze sichern den hierarchischen Zusammenhang und Aufbau der Schichten. Aus der Vielfalt der Bestimmungen möchte ich nur das Gesetz der Indifferenz herausgreifen. Es besagt: Nur die unteren Seinsschichten können ohne die oberen existieren. Damit ist zugleich gemeint: Die Existenz jeder oberen Schicht setzt die Existenz aller relativ zu ihr unteren Schichten voraus.16 Dieses Gesetz scheint mir nicht infallibel zu sein. Kann zwar 13 Vgl. Anm. 11. 14 Hartmann (1933); ders. (1940); ders. (1950). 15 Das Kriterium muss nicht hinreichend sein, wenn die betreffenden Eigenschaften in den Grenzen einer schon bestehenden Schicht auftreten. 16 Hartmann (1940), 520, 529 ff.; ders. (1942), 69, 73, 83.

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Abb. 1: Die Einteilung der realen Welt nach Hartmann Der natürliche Bereich ist weiß, der nichtnatürliche Bereich ist grau unterlegt. Die dünne Linie symbolisiert das Überformungsverhältnis, die dicken Linien stehen für die Überbauungsverhältnisse zwischen je zwei Schichten.

Organisches schlechterdings nicht ohne Anorganisches auftreten, so fragt es sich doch, ob mit gleicher Notwendigkeit Seelisches oder Geistiges

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nicht ohne Organisches vorzukommen vermag.17 Wenn Hartmann betont, die Bestimmungen seiner Schichtenlehre seien bloß hypothetisch, sind damit einzelne Kategorien oder kategoriale Gesetze gemeint, wobei er so weitreichende Korrekturen, wie eine partielle Außerkraftsetzung des Gesetzes der Indifferenz nicht diskutiert.18

II. Heisenberg Der hypothetische Charakter von Heisenbergs Konzeption schließt auch die Infragestellung der Grundstruktur ihrer eigenen inhaltlichen Gliederung ein.19 Heisenbergs Schichtenmodell versteht sich ebenso – wie bereits erwähnt – als Gegenentwurf zu einer vorangehenden Ordnungsauffassung wie es auch die Möglichkeit zulässt, selbst durch künftige, inkommensurable Konzeptionen der Wirklichkeit abgelöst zu werden. Auch für Heisenberg ist Descartes’ Zweiteilung der Welt die zentrale philosophische Referenz für die Einführung seines Modells. Im Gegensatz zu Hartmann möchte er aber nicht an der Spaltung von Objekt und Subjekt anknüpfen, sondern sie überwinden. Die Beseitigung dieser Auftrennung des Weltzusammenhangs ist die leitende Idee seiner gesamten Konzeption, die alle Schichten als Verbindungen von subjektiven und objektiven Elementen auffasst. Damit soll der Behauptung einer isoliert bestehenden reinen Objektivität bzw. Subjektivität widersprochen werden. An deren Stelle treten Wirklichkeitsschichten, die durch unterschiedliche Verhältnisse ihrer jeweils subjektiven und objektiven Anteile differieren.20 Als „objektiv“ bezeichnet Heisenberg die „Darstellung eines […] Sachverhalts“, bei der „sich der betreffende Sachverhalt […] von uns und von seiner Darstellung ablösen lasse“.21 „Subjektiv“ nennt er hingegen die Beschreibungen, bei denen dies in unterschied17 Hartmann (1942), 69, abweichende Formulierung in ders. (1940), 520, 529 ff. Geistiges ohne Organisches zu schaffen, kann als Ziel der Künstlichen-Intelligenz-Forschung, auf die ich weiter unten zu sprechen komme, angesehen werden. 18 Hartmann (1940), 29 ff.; ders. (1950), 411 ff. Feyerabend (1963) zeigt, dass Hartmann (1950) seinen Anspruch auf Hypothetizität nicht einlöst, sondern dogmatisch verfährt. 19 Zu Heisenbergs hypothetischer Wissenschaftsauffassung vgl. Schiemann (2009a). 20 Heisenberg (1984), 231. 21 Heisenberg (1984), 229.

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lichem Grad nicht möglich sei.22 Sein Schichtenmodell ist zwischen einem objektiven und einem subjektiven Pol aufgespannt. Vom objektiven Pol ausgehend nimmt die Objektivität der Schichten „schrittweise“ im Verhältnis zur Subjektivität ab.23 Als Physiker stehen ihm dabei paradigmatisch die Gegenstandsbereiche bestimmter Theorien seiner eigenen Disziplin vor Augen. Inbegriff einer Theorie, die mit dem Anspruch der Objektivität auftritt, sei die klassische Physik. In den Beschreibungen ihrer Gegenstände komme das beschreibende Subjekt nicht vor. Allerdings werde diese Objektivität durch Subjektivität in Form von Idealisierungen erkauft, die „durch den Eingriff unseres Denkens […] bestimmte Vorgänge, Erscheinungen, Gesetze“ aus der betrachteten Wirklichkeit herauslösen.24 Da Idealisierungen, die in allen Theorien der Wirklichkeit vorkommen, in der klassischen Physik die vergleichsweise geringste Bedeutung haben, ist ihr Gegenstandsbereich die unterste, d. h. „objektivste“ Schicht.25 Der mit ihrer Beschreibung traditionell verbundene absolute Objektivitätsglaube sei durch die moderne Atomphysik, in der keine Aussage mehr unabhängig vom messenden Eingriff des Beobachters sei, erschüttert worden. Heisenberg ordnet die atomaren Prozesse der sogenannten chemischen Schicht zu, da sich seiner Auffassung nach alle chemischen Prozesse durch atomare erklären lassen. Bei den Erkenntnisweisen, die für die darüber liegenden Schichten typisch sind, kann immer weniger vom erkennenden Subjekt abgesehen werden. Ähnlich wie Hartmann hebt Heisenberg vom Anorganischen zunächst das Organische ab, legt darüber eine Schicht des Bewusstseins und schließt mit Schichten, die das individuelle Bewusstsein (mit zunehmender Subjektivität) transzendieren. Die oberste Stufe bildet die Schicht des Schöpferischen, in der die Gegenstände allein vom Subjekt hervorgebracht werden (vgl. Abb. 2).26 Obwohl die Schichten in ihrem Anspruch, die Objekt-SubjektSpaltung aufzuheben, mit einem durchgehenden Aufbauprinzip verbunden sind, besteht zwischen ihnen kein kontinuierlicher Übergang. Jeder Schicht werden ein oder mehrere Begriffe zugeordnet, die den spezifischen Erfahrungen ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen 22 23 24 25 26

Heisenberg (1984), 235. Heisenberg (1984), 231. Heisenberg (1984), 235 f. Heisenberg (1984), 236. Heisenberg (1984), 246 ff.

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Abb. 2: Die Einteilung der Wirklichkeit nach Heisenberg Weiß symbolisiert objektive, grau subjektive Anteile in den Schichten der Wirklichkeit. In Klammern gesetzte Bezeichnungen dienen der Erläuterung und stammen nicht von Heisenberg.

entsprechen.27 Heisenberg verbindet mit seinem Schichtenmodell wie Hartmann eine antireduktionistische Grundeinstellung, die sich in seinen späteren Schriften allerdings nicht mehr nachweisen lässt.28 27 Heisenberg (1984), 234. 28 So schließt Heisenberg die Möglichkeit, dass sich ganzheitliche Strukturen des Lebens und seiner symbolischen Vermögen durch physikalisch nicht messbare

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Eine von Heisenberg selbst nicht diskutierte Pointe seiner Konzeption besteht darin, dass sie eine umgekehrte Lesart und damit eine entgegengesetzte Weltdeutung zulässt. Grundlage dieser Möglichkeit ist, dass sein Modell selbst nicht unabhängig von seiner Darstellungsweise ist. Als „wissenschaftlich“ bezeichnet er die von ihm selbst gewählte Schichtenbestimmung, die vom objektiven Pol ausgehend zu immer subjektiveren Schichten aufsteigt.29 Diese Weltauffassung hat Objektivität zum Ziel, die einer realistischen Darstellung vergleichbar ist, aber im Fortgang zu den weniger objektiven Schichten in wachsendem Maß ihre Erklärungskraft verliert. Eine alternative, im Geltungsanspruch gleichberechtigte Konzeption würde umgekehrt vom subjektiven Pol zu den zunehmend objektiven Schichten absteigen und dabei immer weniger in der Lage sein, die Phänomene zu erklären. Heisenberg nennt diese Konzeption religiös, und man kann annehmen, dass er ihren Wirkungszenit historisch vor der Neuzeit verortet. Für sie stehen die Bereiche der wissenschaftlichen Objektivität im Bann des unendlich entfernten, für immer unverständlichen entgegengesetzten Pols. Ob er seine eigene wissenschaftliche Konzeption selbst als für die Gegenwart typisch oder als einen Vorgriff auf eine sich erst in Ansätzen abzeichnende neue Ordnungsstruktur angesehen hat, wird aus Heisenbergs Manuskript nicht ganz deutlich. Zu den Anzeichen für eine epochale Verschiebung in den „Fundamenten des Denkens“30 rechnet er neben der Revolution der modernen Physik auch die gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen in Deutschland vor 1933 sowie die totalitäre Herrschaft des „Dritten Reiches“.31 In den Nachkriegsjahren gewann die Technisierung der Welt als Ereignis, das fundamentale Veränderungen in den Daseinsbedingungen bewirken könnte, an Bedeutung.32

29 30 31 32

Kräfte erklären lassen, nicht grundsätzlich aus (Heisenberg (1984), 260 ff.). Dem entspricht auch seine Rede von den „schöpferischen Kräften“ (Heisenberg (1984), 294 ff.). Heisenberg (1984), 228 ff. Heisenberg (1984), 304. Heisenberg (1984), 218, 304. Heisenberg verwendet diesen Ausdruck nicht. Heisenberg (1984), 411, vgl. Schiemann (2008), 86, 118 ff.

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III. Vergleich der Schichtenkonzeptionen Einige Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Konzeptionen habe ich bereits genannt. Stellt man die Ordnungen in schematischer Darstellung nebeneinander, fällt zunächst die Ähnlichkeit der Reihenfolge ihrer Stufen auf. Diese Gemeinsamkeit geht vor allem darauf zurück, dass beide Autoren Elemente einer lebensweltlichen Weltsicht wiedergeben, die im abendländischen Kulturkreis gemeinhin unbestritten ist.33 Bei beiden Autoren schließt die unterste Schicht des Anorganischen auch den Bereich der kosmischen Dimensionen ein. Diese Gemeinsamkeit verbindet sich allerdings mit tiefgreifenden Differenzen. Während Heisenberg in der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie die Grundlage für die Aussagen über die „ganz fernen Räume[…] und Zeiten“ sieht,34 lehnt es Hartmann ab, Konsequenzen der Relativitätstheorien in seiner Schichtenlehre zu berücksichtigen. Im anorganischen Bereich ergibt sich eine weitere Abweichung durch die unterschiedliche Beschreibung des ganz Kleinen. Heisenberg sieht in den spezifischen Grenzen der Objektivität des Subatomaren ein Argument für die Einführung einer gesonderten Schicht, Hartmann ordnet hingegen Atomares und Subatomares in die Schicht des Anorganischen ein. Für die Schicht des Organischen ist bei beiden Autoren auffällig, dass sie keine Begriffe vorsehen, mit denen sich Pflanzen und Tiere unterscheiden ließen. Heisenberg hätte diese Differenz mit seinem weitgefassten Begriff des Bewusstseins vornehmen können, da er die Möglichkeit offen hält, dass Tiere, nicht aber Pflanzen am Bewusstsein teilhaben.35 Hartmanns Schicht der Seele erlaubte eine ähnliche Ausweitung, wenn ihre Ori33 Vgl. Anm. 11. In der europäischen Kulturtradition hat die von Platon und Aristoteles formulierte Unterscheidung von Anorganischem und Organischem sowie Ordnung des Organischen in Pflanzen, Tiere und Menschen seit der Antike die lebensweltliche Ontologie geprägt. Ingensiep (2001) 27, 59, 258; Jahn (1985), 63, 219 f., 235, weisen auf die Verbindung zur Lehre der „drei Naturreiche“ von Mineralien, Pflanzen und Tieren hin. Vgl. für die historische Entwicklung Hartmann (1943) und für die gegenwärtige lebensweltliche Relevanz Schiemann (2005), 43 ff., 118 f f., 130 ff. 34 Heisenberg (1984), 244. 35 „[V]ielleicht kann der Bereich der Wirklichkeit, der das organische Leben umfaßt, nicht abgegrenzt werden von jenem weiteren Bereich, der in seinen der gewöhnlichen Sprache zugänglichen Teilen das Wissen von der menschlichen Seele einschließt“ (Heisenberg (1984), 259).

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entierung an Descartes’ Dualismus gelockert würde.36 Heute könnte der in der Bioethik erörterte Begriff der Empfindungs- bzw. Leidensfähigkeit zur weiteren Schichtengliederung des Organischen herangezogen werden. Schließlich ist bei den oberen Schichten erwähnenswert, dass es Hartmann, wie schon den Bezeichnungen des „objektiven“ und „objektivierten“ Geistes zu entnehmen ist,37 auf Objektivität, Heisenberg hingegen auf Subjektivität ankommt. Die oberen Schichten sind bei Hartmann stärker differenziert: Oberhalb des Bewusstseins unterscheidet er drei, Heisenberg nur zwei Stufen. Im Folgenden werde ich nur auf die Problematik der Zuordnung der Eigenschaften des ganz Kleinen und des ganz Großen eingehen.

a. Eigenschaften des ganz Kleinen Beide Autoren diskutieren die Frage, ob sich die konstitutiven Prinzipien des ganz Kleinen von den anderen Weltbereichen unterscheiden. Im Zentrum steht die Frage des Zufalls bzw. der Wahrscheinlichkeit. Zu den elf Kategorien der anorganischen Schicht rechnet Hartmann den Kausalnexus.38 In dieser Schicht kann es demnach keine ursachelosen bzw. zufälligen Ereignisse geben.39 Während Heisenberg demgegenüber für die Quantentheorie vom „Zwang zur Anerkennung des Zufalls“ ausgeht,40 argumentiert Hartmann, dass sich vom Zufall nicht widerspruchsfrei sprechen lasse. Man müsse Kausalität auch dort, wo man den Zufall behaupte, insofern voraussetzen, als man Ereignisse erwarte.41 Dieser bewusstseinsrelative Zufallsbegriff wird aber dem Stand der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis nicht gerecht. Das zufällige Auftreten von Einzelereignissen ist nach den heutigen Standardtheorien der Physik von den subjektiven Erwartungen der Beobachter unabhängig. Die bislang vorgeschlagenen Theorien, quantisierte Einzelereignisse durch kausale Mechanismen zu erklären, haben sich als äußerst problematisch herausgestellt. Sie sind zu Annahmen gezwungen, die sich der experimentellen Verifikation entziehen, und überzeugen in Struktur, 36 Hartmann spricht nur Tieren ein „ungeistiges“ bzw. „geistloses“ Bewusstsein zu: Hartmann (1933), 48; ders. (1942), 38. 37 Hartmann (1933). 38 Hartmann (1950), 251 f. 39 Hartmann (1959), 348, 370 ff. 40 Heisenberg (1984), 257. 41 Hartmann (1950), 375.

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Gegenstandsumfang und Voraussagekraft gegenüber den Standardtheorien nicht. Vor allem bestreiten diese Ansätze nicht das Faktum der Irregularität der quantisierten Einzelereignisse.42 Der fehlende Nachweis eines Kausalnexus ist nicht die einzige Eigenschaft, durch die sich das ganz Kleine von den größeren Dimensionen abhebt. Ich möchte an dieser Stelle Heisenbergs Ansatz durch weitere Argumente für die Einführung einer gesonderten Schicht des ganz Kleinen ergänzen. Eigenschaften wie der Spin oder die Paritätsverletzung haben kein Analogon in anderen anorganischen Bereichen. Die im ganz Kleinen experimentell außerdem gut bestätigten Korrelationen zwischen räumlich entfernten Quantenobjekten und die simultane Realisierung verschiedener Zustände eines Quantenobjektes treten im Makroskopischen allenfalls im Übergangsbereich zu kleineren Dimensionen und unter besonderen Bedingungen auf.43 In den letzten Jahrzehnten hat die Erforschung der Beziehung zwischen den seltsamen Zuständen des ganz Kleinen und den Phänomenen der darüberliegenden Dimensionen gezeigt, dass sich der Übergang zwischen beiden auf ein schmales Zeitfenster reduziert.44 Insgesamt scheinen die Eigenschaften des ganz Kleinen irreduzibel und so weitgehend eingrenzbar, dass man gute Gründe hat, über die Einführung einer gesonderten Schicht nachzudenken. Im Hinblick auf die räumliche Größenordnung ihrer Objekte, nicht aber der weit darüber hinausreichenden Reichweite ihrer Wechselwirkungen würde sie vom unmessbar Kleinen (10-18 Meter) bis in die Dimensionen des Atomaren bzw. des Nanometerbereichs (10-9 Meter) reichen, d. h. unter Heisenbergs chemischer Schicht zu liegen kommen.

b. Eigenschaften des ganz Großen Hartmann unterscheidet in der Schicht des Anorganischen „zwei geschlossene Reihen dynamischer Gefüge, zwischen denen eine […] Lücke klafft“.45 Die eine Reihe werde gebildet von den „Mikrosystemen“ atomarer und subatomarer Dimensionen, die andere von den „Makro42 Vgl. die einschlägigen Darstellungen in Rae (1996) und Albert (1992). 43 Diesen Bedingungen lassen sich nicht nur technisch realisieren, sondern könnten, wie neuerdings vermutet wird, auch biologischen Prozessen zugrunde liegen: Vgl. Vedral (2011). 44 Der Übergang von den kleineren zu den größeren Phänomenen wird in den Theorien der „Dekohärenz“ beschrieben. Vgl. etwa einführend Joos (2002). 45 Hartmann (1950), 483.

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systemen“, die mit den „Zusammenballungen der Materie, welche die Sternkörper bilden, [beginnt und] […] mit den großen Spiralsystemen […] oder auch gar mit ganzen ,Schwärmen‘ von solchen Systeme“ endet.46 In der Lücke zwischen diesen beiden Bereichen befänden sich Bruchstücke der Makrosysteme und die organische Natur, die damit aus der anorganischen Stufenleiter gleichsam „herausfalle“.47 Dass Hartmann beide Reihen in einer Schicht vereinigt, geht auf seine Überzeugung zurück, dass sie durch die dimensionalen Kategorien, die auch für das Organische gelten, und durch das spezifische Kategoriensystem des Anorganischen einheitlich bestimmt seien. Zur Herstellung der Einheit glaubt er nicht nur die Besonderheiten des Submikroskopischen, sondern auch die aus den Relativitätstheorien der Physik folgenden Bestimmungen von Raum und Zeit für seine Schichtenlehre ablehnen zu müssen. Seiner Auffassung nach können Raum und Zeit nicht im Kosmos entstehen, kann der Raum nicht selbst gekrümmt sein und muss eine absolute Gleichzeitigkeit von Ereignissen möglich sein.48 Hartmann nimmt damit den Standpunkt der newtonschen Physik ein, die das lebensweltliche Verständnis von Raum und Zeit absolut setzt.49 Solche Verallgemeinerung ist aber mit den Erkenntnissen der Physik und den sie verarbeitenden Theorien nicht mehr ohne Weiteres verträglich. Auf der Erde kommen allein aufgrund der relativ geringen Entfernungen zwischen Ereignissen sowie der niedrigen Geschwindigkeiten und kleinen Größen der bewegten Massen keine relativistischen Effekte vor, die der direkten Wahrnehmung zugänglich wären. Obgleich diese Effekte im Übergang zu den Dimensionen des ganz Großen kontinuierlich beginnen aufzutreten, kann man ihre erst bei hohen Energien bzw. starken Feldern einsetzende leibliche Wirksamkeit als hinreichenden Grund für die Einführung einer gesonderten kosmischen Schicht ansehen. Welten, in der relativistische Veränderungen von Zeit- und Längenmaßen für die

46 Hartmann (1959), 484. Zu Hartmanns besonderem Interesse für Astronomie vgl. Harich (2004), 78 ff. 47 Hartmann (1950), 485. 48 Hartmann (1950), 216 ff., 236 ff. 49 Feyerabend (1963), 86, stellt allgemein fest, dass „Hartmanns Vorgehen [in seiner Philosophie der Natur] zu einem Festhalten an den Kategorien der klassischen Physik“ führe. Zum Verhältnis von Newtonschem und lebensweltlichem Raumverständnis vgl. Schiemann (2006).

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Sinneswahrnehmung Relevanz erhielten, würden sich qualitativ von denen unterscheiden, in denen dies nicht der Fall ist.50 Im letzten Jahrzehnt haben astronomische Daten und kosmologische Theorien weiteren Anlass zur Annahme der Möglichkeit einer Schicht des ganz Großen gegeben. Die von Hartmann und Heisenberg noch angenommene Voraussetzung, dass das Universum nur aus der uns bekannten Materie besteht,51 ist u. a. durch die Messung der Rotationsgeschwindigkeiten von Galaxien und die Berechnung der inhomogenen Materieverteilung im Universum fraglich geworden. Aus Messungen von Phänomenen, die als Ausdruck einer beschleunigten Expansion des Universums gedeutet werden,52 ist zudem auf die Präsenz einer Abstoßungsenergie geschlossen worden, deren Eigenschaften und Ursachen nicht aus den bekannten physikalischen Gesetzen abgeleitet werden können. Insgesamt beschränkt sich demnach unser Wissen über die Zusammensetzung des Universums auf Materie- und Energieformen, die nur etwa 5 Prozent des Universums ausmachen.53 Das Universum tritt uns nicht nur mit einer unvorstellbaren räumlichen Ausdehnung und Leere gegenüber, sondern auch in einer Fremdheit, die jeden Anthropozentrismus in Schranken weist. Vor diesem Hintergrund mutet es fraglich an, wenn das Anorganische unseres Sonnensystems, das von den Wirkungen der unbekannten Materie- und Energieformen nicht wesentlich beeinflusst zu sein scheint, in einer kosmischen Schicht eingeordnet wird, die von diesen Formen vermutlich beherrscht ist.

IV. Schluss Meine Überlegungen zur Schicht des ganz Kleinen und des ganz Großen verstehen sich als Versuche, Resultate der historischen Veränderung der wissenschaftlichen Erkenntnis in den beiden Konzeptionen zu berücksichtigen. Als Beispiele einer wissenschaftlichen Weltsicht sind die beiden Konzeptionen aber auch einem Wandel unterworfen, der zu Infrage50 Ein Beispiel für die kategoriale Verschiedenheit zwischen nicht relativistischen und relativistischen Welten sind die nur in Letzteren möglichen „Zeitreisen“. Vgl. hierzu einführend Wüthrich (2006). 51 Hartmann (1950), 19, 481 ff.; Heisenberg (1984), 244, 254 f. 52 Zu diesen Phänomenen gehören die Explosionen von Supernovae, für deren Messungen der Nobelpreis für Physik 2011 verliehen wurde. 53 Börner (2008).

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stellungen der Schichtenidee selbst führen kann. In theoretischer Hinsicht ist an dieser Stelle auf die verbesserten Realisierungsbedingungen des von Heisenberg in seinem Manuskript und von Hartmann generell abgelehnten Programms einer reduktionistischen Welterklärung hinzuweisen. Gegenwärtig in Wissenschaften verbreitete Formen des Reduktionismus lehnen Schichtenmodelle ab, weil sie alle Phänomene im Prinzip durch physikalische Bestimmungen für erklärbar halten. Sie stützen sich vor allem auf die beeindruckenden Leistungen in der Physikalisierung der lebenswissenschaftlichen Phänomene. Solange dieses Programm jedoch – trotz der Fortschritte – von seiner Realisierung noch so weit wie heute entfernt bleibt, haben auch nichtreduktionistische Formen des Physikalismus einige Berechtigung. Sie gehen davon aus, dass Phänomene einer Schicht in einer Sprache charakterisierbar sein müssen, die nicht aus den Eigenschaften der jeweils unteren Schicht ableitbar ist.54 Diese Eigenständigkeit muss aber nicht eine Unerklärbarkeit implizieren, wie Hartmann und Heisenberg sie für einige ihrer spezifischen Schichtenbegriffe behaupten. Zur Schichtenvorstellung gegenläufig verhalten sich auch die gesteigerten technischen Möglichkeiten der Manipulation und Herstellung von Phänomenen. Die zunehmende technische Verfügbarkeit der Natur hat die Grenzen zwischen den Schichten durchlässig gemacht. Die Übergänge zwischen Anorganischem und Organischem sind Gegenstand von labortechnischen Untersuchungen geworden, die Beeinflussung von Bewusstseinsprozessen durch medizinische Eingriffe ist in die Phase des Neuro-Enhancements getreten. Mit der Einebnung von Differenzen hat die Möglichkeit der Multirealisierbarkeit von bisher einzigartigen Phänomeneigenschaften an Bedeutung gewonnen: Zukünftig werden womöglich technische Systeme herstellbar sein, die gegenüber den natürlichen Organismen wesensverschiedene Struktureigenschaften aufweisen und ihnen dennoch als Lebewesen gleichen. Multirealisierbarkeit kann auch das Überspringen von ehemals getrennten Schichten implizieren und damit dem bereits genannten Gesetz der Indifferenz widersprechen, demzufolge eine obere Schichten auf alle relativ zu ihr unteren angewiesen ist. Ein Beispiel wäre die viel diskutierte Absicht der KünstlichenIntelligenz-Forschung, Maschinen zu bauen, die nicht als organisch zu klassifizieren wären, aber dennoch Leistungen aufwiesen, die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Bewusstseins gleichkämen. 54 Beckermann (1999), 216 ff.

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Wenn wissenschaftlich orientierte Schichtenkonzeptionen durch die Wissenschaften selbst zunehmend problematisiert oder aufgehoben werden würden, so müssten dadurch aber nicht zugleich lebensweltliche Plausibilitäten, auf die sich die beiden Autoren berufen, beeinträchtigt werden. Begreift man die Lebenswelt nicht als kultur- oder naturumfassende Kategorie, sondern als einen begrenzten Erfahrungsbereich, in dem sich die Aufmerksamkeit erwachsener Menschen auf den unprofessionellen Umgang mit vertrauten Dingen und Personen richtet, wie sie in äußerer Wahrnehmung erscheinen, dann kann man dem Begriff eine spezifische Erkenntnisform zuordnen, die über eigene Weisen der Welterfassung verfügt.55 Im Unterschied zu den wissenschaftlich verfassten Schichtenkonzeptionen setzt die lebensweltliche Typisierung an Dingen an, die einer oder mehrerer Schichten angehören. Als eine hierfür exemplarische Klassifikation, die mit wesentlichen Bestimmungen der beiden Schichtenkonzeptionen parallel geht, kann man die Gliederung der Welt in Anorganisches, Pflanzen, Tiere und Menschen auffassen.56 Lebensweltlich findet sich auch eine kategoriale Differenz zwischen Phänomenklassen, die in den beiden Schichtenkonzeptionen bemerkenswerterweise nicht als solche thematisiert wird: Natürliche Gegenstände werden technischen gegenübergestellt, wobei Natur als dasjenige gilt, was sich ohne menschliches Zutun zu verändern vermag, während sich die Gegenstände der Technik menschlicher Herstellung verdanken. Dass Heisenberg und Hartmann keine Schicht bzw. keinen Bereich des Technischen vorgesehen haben, kann man als Lebensweltferne ihrer Ansätze kritisieren.57

55 Schiemann (2005), 89 ff. 56 Vgl. Anm. 33. 57 Zur lebensweltlichen Differenz von Natur und Technik vgl. Schiemann (2005). Heisenberg sieht einen engen Zusammenhang von Wissenschaft und Technik (Schiemann (2008), 115 f f.) und könnte deswegen auf einen gesonderten technischen Bereich verzichtet haben. Hartmann hält die Technik für ein „,traditionsloses‘ Geistesgebiet“, dessen Erzeugnisse er zur Stufe des objektivierten Geistes rechnet (Hartmann (1933), 246 f., 418). Vgl. auch seine Diskussion der Technik in Hartmann (1942), 79 ff.

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Nicolai Hartmann – ein Phänomenologe? Zu den Termini Phänomen und Phänomenologie in der Metaphysik der Erkenntnis Christian Möckel I. Drei Vorbemerkungen Vor nahezu 20 Jahren, 1993, habe ich meine Besprechung in der Deutschen Zeitschrift fr Philosophie von Martin Morgensterns gerade erschienenem Hartmann-Buch mit folgender Einschätzung begonnen: Obwohl sich unter Philosophen die Auffassung verbreitet findet, Nicolai Hartmann, den in Riga geborenen und in Marburg bei Cohen/Natorp promovierten bzw. habilitierten Begründer der „Neuen Ontologie“, neben Husserl, Heidegger, Cassirer und Wittgenstein zu den bedeutendsten Gestalten des Philosophierens im 20. Jahrhundert zu rechnen, steht eine umfassende und aktualisierende Rezeption seines Werkes – im Gegensatz zu dem seiner Zeitgenossen – bis heute aus.1

Dem ist nach meinem Verständnis auch 2012 nicht viel Neues hinzuzufügen! Der von Morgenstern mit seiner verdienstvollen Monographie angestrebte Nachweis, daß Hartmann das Schicksal des Vergessenwerdens nicht verdient hat, weil er mit seiner theoretischen Philosophie, insbesondere mit seiner Ontologie, ein wichtiger Vorläufer der gegenwärtigen, von Physik und Biologie ausgehenden Ansätze einer wissenschaftlich orientierten Philosophie ist,2

hat, wie wir heute feststellen müssen, keine wirkliche Hartmann-Rezeption ausgelöst. Als jemand, der sich in eben diesen 20 Jahren selbst vor allem dem Studium bzw. der Erforschung von Hartmanns Zeitgenossen Husserl und Cassirer gewidmet hat, vermag ich für mich selbst keine befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, ob dieses nach 1950 eingetretene „Schicksal des Vergessenwerdens“ ein ungerechter, inadäquater und unbedingt zu korrigierender Umgang mit Hartmann und 1 2

Möckel (1993), 596. Morgenstern (1992), 9.

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seinem Werk ist, oder vielmehr einer, der seinem philosophischen Werk letztlich angemessen ist, da es uns heute wenig zu sagen und zu geben vermag. Die in diesem Band versammelten Beiträge der im März 2011 veranstalteten Wuppertaler Tagung denken im Grunde gemeinsam darüber nach, warum es so ist, wie es ist, und ob es dazu realistische Alternativen gibt. Bekanntlich hat Nicolai Hartmann zu seinen Lebzeiten noch eine etwas andere Rezeption erlebt. So nennt Scheler Hartmann 1926 im Vorwort zur dritten Auflage seiner phänomenologischen Schrift Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik „einen philosophischen Forscher“ von hohem Rang, den „Selbständigkeit und […] wissenschaftliche Strenge“ auszeichnen, und setzt sich sehr anerkennend mit dessen gerade erschienener Ethik (1926) auseinander, die auf seiner eigenen materialen, gegen Kants formalistische Ethik gerichteten Wertethik aufbaue.3 Der „Marburger“ Cassirer wiederum, der Hartmanns ontologisch-metaphysische Überwindung der kritischen Philosophie Kants grundsätzlich abweist, hebt 1929 in seinem wichtigsten Buch Phnomenologie der Erkenntnis dessen philosophisches Verdienst beim zeitgenössischen Umgang mit dem Leib-Seele-Problem hervor und zitiert mit Wertschätzung entsprechende Passagen aus den Grundzgen einer Metaphysik der Erkenntnis (1921), deren Anliegen er allerdings nicht teilt.4 Cassirer hatte sich bereits 1927 in einer umfangreichen Literaturbesprechung im vierten Abschnitt ausführlich, kritisch und gleichzeitig würdigend mit der zweiten Auflage von Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis auseinandergesetzt.5 Georges Gurvitch schließlich, der wie Hartmann aus Russland stammende und in Frankreich wirkende Phänomenologie, der die erste Übersetzung von Husserls Logischen Untersuchungen in Französische besorgt hat, zählt 1930 in seiner berühmten Studie über die aktuellen Tendenzen der deutschen Philosophie Hartmann neben Husserl, Scheler, Lask und Heidegger zum Kreis der bedeutsamen Philosophen. Insbesondere würdigt er dessen Grundzge einer Metaphysik der Erkenntnis, 3 4

5

Scheler (1980), 19 ff. „Es ist ein wesentliches Verdienst der Metaphysik Nicolai Hartmanns, daß sie mit der ihr eigenen Schärfe und Strenge des Denkens diese Problemlage [des LeibSeele-Themas; C.M.] erfaßt und daß sie sie unerbittlich und rückhaltlos bekannt hat. […] In diesen Sätzen Hartmanns tritt in vorbildlicher Prägnanz und Deutlichkeit die charakteristische Schlußweise zutage, durch welche das allgemeine Verhältnis der Metaphysik zum Leib-Seele-Problem bestimmt wird.“ Cassirer (2002), 107, 109. Cassirer (2004a), 67 – 81.

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schließt der Würdigung aber auch „Kritische Reflexionen zur Philosophie Hartmanns“ an.6 Diese gilt Gurvitch als ein fruchtbarer Versuch einer „Konfrontation und einer Synthese zwischen der Phänomenologie und dem Kritizismus“, wobei beide, Phänomenologie und Kritizismus, unumgängliche Konzessionen hatten machen müssen.7 Die zweite Vorbemerkung soll einige Beweggründe meiner Aufmerksamkeit für Hartmann und seine Philosophie andeuten, bei der sich persönliches und sachliches Interesse mischen, ohne bislang in eine eigene Hartmannforschung gemündet zu sein. Da ist einmal der eigentümliche Lebensweg Hartmanns, der ihn über Sankt Petersburg und Berlin als wichtige Etappen seines Philosophenlebens führt. Aus der Tatsache, dass er, 1882 in einer baltischen Familie deutscher Abstammung im lettischen Riga geboren, den historischen Umständen geschuldet im Russländischen Reich aufwächst, resultiert, dass wir Deutschen Nicolai Hartmann zumindest mit der russischen Philosophie zu teilen haben. So wird er in Nina Dmitrievas ausgezeichneter Überblicksdarstellung Russisches Neukantianertum: „Marburg“ in Russland (2007) ohne Zögern zu den russischen bzw. russländischen Neukantianern gezählt,8 während wir ihn, der 1905, im Laufe der ersten russischen Revolution, als die Sankt Petersburger Universität zeitweise geschlossen wird, nach Marburg ausweicht und nicht mehr zurückkehrt, ohne zu zögern als deutschen „Marburgianer“ nehmen und verstehen. Hartmann besucht nicht nur das Gymnasium in Sankt Petersburg, der damaligen Hauptstadt des Reiches, sondern studiert auch Medizin, Biologie, klassische Philologie und Philosophie zunächst an der Universität Dorpat (Tartu) und dann an der Sankt Petersburger Universität, an der ich 70 Jahre später ebenfalls mein philosophisches Rüstzeug erwerben durfte. Der Philosophielehrstuhl gehörte zu Hartmanns Zeit zur Historisch-Philologischen Fakultät, nachdem die Philosophische Fakultät 1850 aufgelöst worden war und erst 1940 an der Leningrader Staatlichen Universität wiedereröffnet werden sollte.9 Den Lebensweg Hartmanns habe ich an der Berliner Humboldt-Universität noch einmal gekreuzt, wurde doch sein – angeblich authentisches – Arbeitszimmer in der 6 7

8 9

Gurvitch (1930), 187 ff., 198 ff. „Dans la deux systèmes philosophiques dont nous avons cherché à donner une idée, quoi qu’ils n’aboutissent pas à des résultats définitifs, se manifeste clairement toute la fécondité d’une confrontation et d’une synthèse entre la phénoménologie et le criticisme.“ Gurvitch (1930), 205. Dmitrieva (2007), 167 – 169; siehe dazu auch Möckel (2008), 263 – 268. Ajol (2000), 17 f.

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Universitätsstraße 3b vom Philosophischen Seminar bzw. Institut für Philosophie weiter genutzt, bis es in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts der Grundsanierung des Gebäudes sozusagen zum Opfer fiel. Mein sachliches philosophisches Interesse an Hartmann resultiert u. a. aus der langjährigen Beschäftigung mit der Beziehung von Marburger Neukantianismus (Natorp) und Husserlscher Phänomenologie, die im Werk Cassirers, an dessen Edition und Erforschung ich seit längerem mitwirke, eine eigene, nicht ganz zu durchschauende Ausprägung gefunden hat, da sie ohne ausdrückliche begriffliche Abgrenzung auch die Phänomenologie Hegels einschließt.10 Diesem phänomenologischen Umfeld, soweit sich Hartmann in ihm bewegt, ist der vorliegende Beitrag gewidmet. Zudem scheint es bei Cassirer und Hartmann bestimmte denkerische Parallelen zu geben, da beide in ihrer Wissenschaftslehre der Biologie eine wichtige Rolle zuschreiben. Beide bemühen z. B. den Emergenzgedanken im System der Wissenschaften bzw. im Aufbau der Gegenstandsgebiete,11 beide stellen dieses System als Stufenmodell (Cassirer) bzw. als Schichtenmodell (Hartmann) vor etc. Vergleichende Studien zu Verständnis und Rolle der Biologie bei Hartmann und Cassirer dürften ein noch wenig beackertes, folglich verlockendes Betätigungsfeld darstellen. Mit der dritten und letzten Vorbemerkung kehren wir noch einmal nach Sankt Petersburg zurück. Als Hartmann zu Beginn des 20. Jahrhundert an der dortigen Universität sein Philosophiestudium beginnt, ist der sowohl am Philosophielehrstuhl als auch im intellektuellen Milieu Petersburgs vorherrschende philosophische Stil durch Aleksandr I. Vvedenskij (1856 – 1925) geprägt, der in Deutschland bei Kuno Fischer studiert hatte, als Neukantianer galt, sich selbst aber keiner der „Schulen“ verpflichtet sah und wohl auch nicht als „orthodoxer“ Neukantianer gelten kann.12 Vvedenskij war nicht nur von 1890 bis 1923 der Lehrstuhlleiter, sondern auch der erste Vorsitzende der von Vladimir S. Solov’jov initiierten, im Jahre 1897 gegründeten, äußerst aktiven Sankt Petersburger Philosophischen Gesellschaft. Damals wurde beim Philosophiestudium noch viel mit Übersetzungen aus dem Deutschen gearbeitet. In Sankt Petersburg damals erschienene und gelesene Titel, die noch während meiner Studienjahre konsultiert wurden, waren z. B. Eduard Zellers Ocˇerk istorii grecˇeskoj filosofii, in der Übersetzung M. 10 Z. B. Möckel (2002), 149 – 172; Möckel (1995), 201 – 226. 11 Cassirer (2004b), 63; Hartmann (1949), 231 ff. 12 Dmitrieva (2007), 131, 134.

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Nekrasovs (1886), und Wilhelm Windelbands Istorija drevnej filosofii, übersetzt – unter der Leitung Vvedenskijs – von den Hörerinnen der Sankt Petersburger Höheren Kurse (1893, 4. Aufl. 1908). Eines der wenigen eigenen, russischen Philosophiebücher war M.M. Stasjulevicˇs Filosofija istorii v glavnejsˇich ee sistemach. Istoricˇeskij ocˇerk (1865, 2. Aufl. 1902).13 Gegen den von Vvedenskij vertretenen Neukantianismus gerichtet war eine andere Hauptströmung, die sich am antiken Denken, vor allem an der Ideenlehre Platons orientiert und die u. a. in der Metaphysik der Alleinheit des in Sankt Petersburg wirkenden, 1901 verstorbenen Solov’jov zum Ausdruck kommt. Sie öffnet sich u. a. der Phänomenologie Husserls (Eidetik, ontologische Gegenstandsphänomenologie).14 Aus dieser Strömung dürfte der Student Hartmann einige Anregungen für sein späteres Interesse an der Phänomenologie und für seine Wende vom Neukantianismus zur Ontologie bezogen haben. Auch Scheler sympathisiert bekanntlich mit einer gegenstandsorientierten Phänomenologie, die sich einem Seinsdenken zu öffnen vermag, das in der Konsequenz zu einer Seinslehre als einer Schichtenontologie führt. Ob Hartmann aber bereits in Sankt Petersburg mit den Logischen Untersuchungen (1900/1901) Husserls bekannt geworden ist, lässt sich derzeit nicht sagen. Nicht ganz ohne Wirkung auf das Philosophieverständnis des Studenten ist gewiss auch der seit 1900 als Privatdozent in Sankt Petersburg lehrende Nikolaj O. Losskij geblieben, der ursprünglich Naturwissenschaften, später dann Psychologie und Philosophie studiert hatte. Losskij entwickelte mit dem Intuitivismus eine eigene philosophische Lehre, die die Intuition als unmittelbare Anschauung der Erlebnisse und der außenweltlichen Gegenstände mit dem voluntaristischen Prinzip aktiver Willenstätigkeit verbindet.15 In der Erfahrung können, so seine Auffassung, überzeitliche Wesenheiten (Eide) unmittelbar angeschaut werden. Das schließt ganz offensichtlich Anknüpfungspunkte an Husserls eidetische Phänomenologie ein. Vvedenskij, der Losskij ursprünglich fördert, lehnt dessen Intuitivismus ab.16 In seinen Erinnerungen (1968) gibt Losskij zu verstehen, dass Hartmann seine Schriften, die er auch während seines

13 Zeller (1886); Windelband (1908); Stasjulevicˇ (1902). 14 Hinsichtlich Husserls Haltung zur „Ideenlehre“ Platons und zum „Platonismus“ siehe Möckel (1999), 77 – 111. 15 Losskij (1968), 103; siehe auch Losskij (1925), 41 – 50. 16 Losskij (1968), 119 f., 130.

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Lebens in Deutschland auf Russisch las, wegen ihres systematischen Charakters sehr geschätzt habe.17

II. Phänomenologie als erste Stufe einer „Metaphysik der Erkenntnis“ 1. Nicolai Hartmann und die Phänomenologie Als an der Berliner Philosophischen Fakultät (Eduard Spranger, Heinrich Maier, Max Dessoir, Alfred Vierkandt) im Jahre 1929 die seit 1923 vakante Professur Ernst Troeltschs neu besetzt werden soll, steht neben Heidegger und Cassirer auch Hartmann zur Debatte. In der Stellungnahme der Fakultät, die pro Cassirer ausfällt, ist recht pauschal vom einstigen „Übertritt [Hartmanns; C.M.] von der neukantianischen Philosophie der Marburger Schule zur Phänomenologie“ die Rede, auch wird er als ein derzeitiger „wirksamer Vertreter der phänomenologischen Philosophie“ vorgestellt.18 Das negativ ausfallende, etwas merkwürdig anmutende Urteil der Berliner Philosophischen Fakultät über Hartmann, dem es jegliche „philosophische Originalität“ abspricht, soll und kann hier nicht im Einzelnen ausgewertet und diskutiert werden, es erlangt aber seinen Wert für uns wegen der grundsätzlichen Zuordnung Hartmanns zum phänomenologischen Denken: Hartmann arbeite – „unselbständig“ – in „der theoretischen Philosophie mit den Gedanken Husserls, in der praktischen [Philosophie; C.M.] mit denen Schelers“.19 Es hat ganz den Anschein, als ob Hartmanns eigene philosophische Position von den Berliner Fakultätsvertretern 1929 nicht erkannt bzw. nicht gewürdigt wird, vielmehr identifiziert man ihn mit der der Phänomenologie, auf die er sich nur partiell einzulassen bereit ist, was die bereits 1921 in der Metaphysik der Erkenntnis formulierten kritischen Einschränkungen und Angrenzungen deutlich werden lassen. Bevor Hartmann selbst über sein Verhältnis zur Phänomenologie zu Wort kommt, soll noch – um das Urteil der späteren Berliner Kollegen etwas zu relativieren – auf Aussagen von Natorp und Husserl im Briefwechsel anlässlich einer früheren Berufungsproblematik, es geht 1922 um das Marburger Ordinariat in der Nachfolge Natorps, hingewiesen wer17 Losskij (1968), 254 f. 18 UAHU, Phil. Fak. 1474, Bl. 374, zitiert nach Gerhardt u. a. (1999), 254. 19 Gerhardt u. a. (1999), 254.

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den. Husserl antwortet im Februar 1922 auf eine Charakterisierung Hartmanns – und Cassirers – durch Natorp,20 der Hartmann im Unterschied zu Geiger und Pfänder nicht zu den Phänomenologen rechnet, wie folgt: Nun sage ich aber, Marburg war eine berufene Stätte philosophischer Originalität, des im zentralen Ich verwurzelten eros, auf das Letzte hin. Und in dieser Hinsicht ist Hartmann, der schwer Ringende, der echte Marburger. […] Sein neues Buch [Grundzge einer Metaphysik der Erkenntnis; C.M.], das die Marburger – aber auch meine – Transcendentalphilosophie, in etwas gewaltthätiger Eile über Bord wirft, ist ein systematisches Werk, das in seiner begrifflichen Kraft und Feinheit, in seiner meisterhaften „Aporetik“ in der philosophischen Literatur unserer Zeit monumental dasteht. Lange dabei bleiben wird er nicht können, er wird den prachtvollen Mut seine systematisch bewahrte Altmarburger Position durch eigene Kritik umzustoßen, an seiner neuen Position wiederholen müssen. Aber wie immer, für mich ist er eigentlich der Eine, der als Ihr Nachfolger prädestiniert ist und mit dem „Natorp der späteren Periode“ zumal die lebendige Fortentwicklung der Marburger Schule repräsentiert: also nach Marburg gehört.21

Woraufhin Natorp noch einmal folgende Vorzüge Hartmanns benennt: „selbständig scharfes Vordringen, große systematische Strenge und Vorsicht, bei weiter Umfassung und erstaunlicher Gelehrsamkeit nach den verschiedenen Richtungen.“22 Wenig später jedoch, im April 1925, nachdem sich Husserl offenbar eingehender mit Hartmanns Grundzgen einer Metaphysik der Erkenntnis befasst hat, zeigt er sich nun regelrecht enttäuscht von dessen Art und Weise, Phänomenologie zu betreiben, unabhängig davon, ob dabei schwer „gerungen“ wird oder nicht: So viel ich mir im ersten Moment von seiner Aufnahme der Phänomenologie versprach und so geistvoll alles ist, was er schreibt – er treibt doch mit 20 Im Unterschied zu Cassirer sei „Hartmanns sehr intensiv gerichtete und gerade in diesem Sinne außerordentlich starke und fruchtbare Lehrweise ganz unserer stillen Kleinstadt angemessen; darum tragen wir kein Bedenken ihn in unsern Vorschlägen selbst mit Cassirer auf eine Liste zu stellen, nachdem er in seinem letzten Buch jeden letzten Schein einer bloßen gleichartigen Fortsetzung der Richtung, die er einst von seinen Lehrern erhalten hatte, überwunden hat und als starke systematische Kraft in voller Selbständigkeit, in geradezu vorbildlicher Strenge der Gedankenentwicklung und gründlichster Durcharbeitung seiner Sache dasteht; auch wegen der ungewöhnlichen Lehrbegabung hier allgemeine Achtung sich erworben hat und als Kollege hochgeschätzt wird.“ Natorp an Husserl, 29.1. 1922, in: Husserl (1994), 143 f. 21 Husserl an Natorp, 1.2. 1922, in: Husserl (1994), 147 f. 22 Natorp an Husserl, 23.3. 1922, in: Husserl (1994), 153 f.

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seiner Aporetik einem neuen Skeptizismus zu. Was er selbst bietet, ist eine grundverkehrte dogmatistische Metaphysik, zu der völlig mißverstandene [!] Phänomenologie vermeinte Fundamente liefert. Reine Phänomenologie […] ist nichts anderes als die vom ABC an radikal durchgeführte und ins Unendliche durchzuführende Wissenschaft vom Transzendentalen, zunächst eidetische und dann empirische.23

Der Ausdruck „völlig mißverstandene Phänomenologie“ dürfte dabei nicht Hartmanns Vollzug der beschreibenden Methode im Auge haben, sondern wohl die Tatsache, dass diesem die Phänomenologie lediglich als die erste, unterste Stufe der Philosophie der Erkenntnis gilt. Eine wichtige frühe Positionierung Hartmanns in Bezug auf die Phänomenologie in ihrer transzendentalen Fassung stellt die 1913/14 veröffentlichte Rezension des Ersten Bandes des Husserlschen Jahrbuchs fr Phnomenologie und phnomenologische Forschung (1913) dar. Hartmann bezeichnet sich bei der Besprechung der Beiträge Reinachs, Schelers, Pfänders und Geigers selbst zwar noch als einen „Außenstehenden“,24 vermag aber der in den Beiträgen vorgefundenen phänomenologischen Methode eine Menge abzugewinnen: es handle sich hierbei „um eine großzügige Erweiterung der deskriptiven Methode“, die, was ihm sehr entgegenkommt, über das Erfassen des Wahrnehmungsobjektes hinaus auf „allgemeine Gültigkeiten, Gesetze, kurz, das a priori“ abzielt bzw. anwendbar ist.25 Husserl hatte z. B. in seinem programmatischen Beitrag Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) von der „systematisch zu vollziehenden ,Analyse‘ und ,Deskription‘ der in den verschiedenen Richtungen immanenten Schauens sich darbietenden Gegebenheiten“ gesprochen,26 oder 1913, im § 75 der Ideen I, „die Phänomenologie als deskriptive Wesenslehre der reinen Erlebnisse“ definiert.27 Als „ein Novum“ gilt Hartmann in besagter Rezension die Überzeugung der Phänomenologen, dass das a priori selbst „unmittelbar ge23 24 25 26 27

Husserl an Cassirer, 3.4. 1925, in: Husserl (1994), 4 f. Hartman (1958), 367. Hartman (1958), 367. Husserl (1987), 18. „Reine Beschreibung vor aller ,Theorie‘“ fordert Husserl z. B. in den Ideen I (§ 30, 52). „Die Phänomenologie ist nun in der Tat eine rein deskriptive, das Feld des transzendental reinen Bewußtseins in der puren Intuition durchforschende Disziplin.“ (§ 59, 113) „Ist es richtig, der Phänomenologie die Ziele bloßer Deskription zu stecken?“ (§ 71, 132) „Was die Phänomenologie anbelangt, so will sie eine deskriptive Wesenslehre der transzendental reinen Erlebnisse in der phänomenologischen Einstellung sein, und wie jede deskriptive […] Disziplin hat sie ihr Recht in sich.“ (§ 75, 139). – Husserl (1950), 52, 113, 132, 139.

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geben“ ist, und damit klar anschaubar und evident aufzeigbar. „Dieses Vorgehen hat den großen Vorzug, daß es den Forscher unmittelbar vor die Sache stellt […] und nicht vor Begriffe, Definitionen, Urteile.“ Hartmann ist sich völlig im Klaren, dass dieses methodische Verfahren der „herrschenden [neukantianischen; C.M.] Erkenntnistheorie“ widerspricht, diese Widersprüche seien aber „gerade das Wichtigste, was uns die Phänomenologie zu denken gibt.“28 Bereits in dieser Besprechung deutet Hartmann aber auch an, dass er bei aller Begeisterung für diese „großzügig erweiterte“ beschreibende Methode die kritische Distanz zur phänomenologischen Philosophie nicht verliert: zum einen, so heißt es, seien „die Phänomenologen selbst die zugehörige Theorie schuldig“ geblieben, weshalb sie sie noch nachzuliefern hätten.29 Zum anderen und trotz fehlender Theorie macht er – entgegen aller Beteuerungen der Phänomenologen selbst – in den vier Abhandlungen und in Husserls „neuen methodologischen Aufstellungen“ in den Ideen I sehr wohl eine bestimmte „standpunktliche Prägung“, gewisse „stillschweigende Voraussetzungen“ aus, die er in vier Punkten zusammenfasst: 1. „alle apriorischen Wesenheiten [sind] auch a priori evident, d. h. zu unmittelbarer Anschauung zu bringen“, 2. „jede apriorische Evidenz [trifft] wirklich eine seiende Wesenheit“, 3. „die Wesenheiten [sind] isoliert erfaßbar“, 4. „alle Evidenzen [haben] den gleichen Anspruch auf Tatsächlichkeit und Gegenständlichkeit“.30 In seiner Besprechung von 1913/14 stellt Hartmann nicht nur Besonderheiten der phänomenologischen Methode korrekt dar, sondern lässt auch klar erkennen, an welche er anzuknüpfen bereit ist. Bemerkenswert für den späteren „Übertritt von der neukantianischen Philosophie der Marburger Schule zur Phänomenologie“ erscheint mir, dass Hartmann 1924 in seinem umfangreichen Aufsatz Diesseits von Idealismus und Realismus, rückblickend sozusagen und in Übertragung seiner Stufung Phänomenologie, Aporetik und Theorie, bereits in der Philosophie Kants bzw. an der Schwelle zu ihr, d. h. „noch diesseits der eigentlichen Aporetik“, eine ganze Reihe „phänomenologische Elemente“ vorfindet, da Kant „das, was er hier aufdeckt, als bloßen Befund an[sieht], diesseits aller Theorie“.31 Dies gelte für seine „klassische Phänomenologie der Urteile in der Einleitung der Kritik der reinen Ver28 29 30 31

Hartmann (1958), 367. Hartmann (1958), 368. Hartmann (1958), 368. Hartmann (1924a), 175 f.

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nunft“, aber auch für die „weitere phänomenologische Analyse der wissenschaftlichen Urteile“ und „ein lehrreiches Bruchstück zur Phänomenologie von Raum und Zeit“ in der transzendentalen Ästhetik. „Eine analoge Phänomenologie der Kategorien fehlt“ allerdings, so der Befund Hartmanns, „in der Kritik der reinen Vernunft.“32 Aber auch „die beiden anderen Kritiken“ Kants zeigten „ähnlich phänomenologische Partien“, wie z. B. die „Beschreibung des Faktums in der Analytik des Schönen“, „die Feststellung der formalen Zweckmäßigkeit im Bau der Organismen“ und schließlich „in der Lehre vom ,kategorischen‘ Charakter ethischer Imperative“, in der das Phänomenologische „noch stärker“ hervortrete.33 Auch diese Lehre diene bei Kant „durchaus nur der quaestio facti“. Doch nicht nur die echte Phänomene beschreibende Methode findet Hartmann bereits bei Kant vor, sondern auch ein Bekenntnis zu dem von ihm selbst vertretenen Realismus: Schwerer aber noch […] fällt als phänomenologisches Motiv das unbeirrbare Festhalten Kants am natürlichen Realismus […] in die Waagschale. […] Daß Kant dies tat, ist eben das stärkste Zeugnis dafür, daß er das Gewicht der Phänomene als solcher zu würdigen wußte. Denn die empirische Realität der Dinge ist Phänomen, sie gehört zum Faktum der Erkenntnis.34

2. Phänomenologische Methode und Phänomen in der „Metaphysik der Erkenntnis“ Die phänomenologische Methode in dem oben skizzierten Sinne findet ihre Anwendung in Hartmanns Grundzgen einer Metaphysik der Erkenntnis (1921/25), allerdings lediglich, wie von Husserl 1925 im Brief an Cassirer moniert, auf einer ersten Stufe, nicht jedoch auf der zweiten (Aporetik) und auf der dritten (Theorie) Stufe des dreigliedrigen „Stufenganges“35 der Philosophie der Erkenntnis.36 Die deskriptive Phänomenologie soll lediglich das Erkenntnisproblem als Erkenntnisphänomen herausarbeiten, während die nicht mehr deskriptive, sondern Probleme formulierende Aporetik daran anknüpft, d. h. in dem Herausgearbeiteten ihr Arbeitsgebiet und -material vorfindet.37 Dabei soll die deskriptive Phänome32 33 34 35 36 37

Hartmann (1924a), 176. Hartmann (1924a), 177. Hartmann (1924a), 177. Hartmann (1924a), 293. Hartmann (1925), 38 ff., 58, 60. Hartmann (1925), 38 – 40.

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nologie das Erkenntnisphänomen so beschreiben, „daß der Zusammenhang seiner Wesenszüge als Ganzes übersichtlich wird und dadurch zugleich eine Gewähr für die Vollzähligkeit derselben bietet.“38 Diese phänomenologische Beschreibung erlaube – in einem zweiten Schritt – das Metaphysische als den Kernpunkt des engeren Erkenntnisproblems freizulegen.39 Hartmann beharrt nun darauf, dass das eigentliche Phänomen der Erkenntnis – das Metaphysische bzw. Transzendente – in der Philosophie bislang noch niemals phänomenologisch herausarbeitet, d. h. in seinem Wesensbestand erschaut und ohne theoretische Interpretation – sprich Modifikation – beschrieben worden sei.40 Bislang hätten sich die Wesensanalysen „an der Sache selbst“ im Erkenntnisgebiet vielmehr „fast ausschließlich an die logische und Teile der psychologischen Seite der Phänomene gehalten“, weshalb „eine Phänomenologie der Erkenntnis als Wesensanalyse des Metaphysischen im Erkenntnisphänomen […] bis heute aus[steht].“41 Damit ist für Hartmann auch eine der Schranken der bisherigen Phänomenologie benannt. Den Begriff der „Phänomene“ wiederum hatte Husserl – ebenfalls im Beitrag Philosophie als strenge Wissenschaft – programmatisch als „intentionale Erlebnisse“ des Bewusstseins definiert, deren Wesenseigenschaft in ihrer Immanenz bestehe. Sie dürften nicht verwechselt werden mit den Wortbegriffen bzw. Wortbedeutungen; in die Phänomene schaut der „phänomenologische Analyst“ hinein, in sie vertieft er sich.42 Phänomene „haben […] ein in unmittelbarem Schauen faßbares und adäquat faßbares Wesen“, das allein die „Wesensschauung“ zu geben vermag.43 Doch die versprochene eigentliche Wesensanalyse im Detail leistet auch sein Werk von 1921/25 noch nicht, vielmehr unternimmt es „einen ersten Versuch“ zu einer Phänomenologie, indem es „Punkte über den deskriptiven Befund des Erkenntnisphänomens“ zusammenstellt bzw. klärt, was zu tun sei. Der „natürlichen Einstellung des erkennenden Bewußtseins“ folgend ist das Erkenntnisphänomen „in möglichster Breite und Vollständigkeit“ zu fassen, hat die „Beschreibung des Phänomens 38 39 40 41 42

Hartmann (1925), 37. Hartmann (1925), 36. Hartmann (1925), 37, 22. Hartmann (1925), 38. Husserl (1987), 20, 29. „Im immanenten Schauen dem Fluß der Phänomene nachschauend, kommen wir von Phänomen zu Phänomen […] und nie zu anderem als Phänomenen.“ Husserl (1987), 30. 43 Husserl (1987), 32.

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[…] die Wesenszüge, die sie zu fassen bekommt, schlicht als solche hervor [zuheben], gleichgültig gegen den Unterschied des Metaphysischen und Nichtmetaphysischen in ihnen.“44 Diese analytische Vorarbeit habe, anders als bei den 1913/14 rezensierten Beiträgen, „grundsätzlich nicht nur diesseits aller standpunktlichen Fassung, aller Theorien und Lösungen“ zu stehen, „sondern auch […] diesseits aller Problembildung“, habe sich allein auf die „reine quaestio facti“ zu beschränken.45 Deshalb könne hier auch keine Auslese oder Auswahl des Gegebenen stattfinden, letzteres ist so „hinzunehmen“, wie es sich vorfindet. Müssen doch der Phänomenologie „alle Phänomene als gleichwertig gelten“, denn das, was sie als gegeben zusammenstellt, „erhebt nicht den Anspruch auf objektive Realität, sondern nur auf Geltung als Phänomen. Und eben das Phänomen ist es, was die Theorie [später; C.M.] zu deuten hat.“46 Obwohl die Theorie auf der dritten Stufe des Stufenganges der Philosophie der Erkenntnis den Grundphänomenen, so Hartmann 1933 in seiner „Systematischen Selbstdarstellung“, widersprechen kann, seien diese „allemal stärker als Theorien“.47 Phänomene können nämlich vom Menschen nicht geändert werden, sie bleiben das, was sie sind, „was auch der Mensch sich über sie denkt. Der Mensch kann sie nur erfassen oder verfehlen.“48 Theorien, soweit sie falsche Auffassungen wie der Teleologismus oder der Kausalismus des Organischen sind, vermögen allerdings das Phänomengebiet zu vergewaltigen, wenn sie auf das in ihm gegebene Problem grundsätzlich nicht passen.49 Deshalb ist, so Hartmanns Überzeugung, die Philosophie gefordert, „die Phänomene [zu] wahren“, sie genauso zu beschreiben, „wie sie sich darbieten“, denn darin „liegt allemal das erste, unaufhebbare Zeugnis des Seienden für das Bewußtsein“, was wiederum „rätselhaft genug“ sei.50 Der zentrale Ort im Werk von 1921/25, an dem die Hartmannsche „Phänomenologie der Erkenntnis“ zelebriert wird, ist der Erste Teil: Phänomen und Problem der Erkenntnis, II. Abschn.: Das Metaphysische im Erkenntnisproblem, 5. Kap.: Analyse des Erkenntnisphänomens. Zu seiner eigenen Auffassung und Handhabung der Phänomenologie äußert er sich noch einmal ausführlich im III. Abschn.: Ergänzungen und An44 45 46 47 48 49 50

Hartmann (1925), 38. Hartmann (1925), 38. Hartmann (1925), 43. Hartmann (1933), 291. Hartmann (1933), 291. Hartmann (1933), 315 f. Hartmann (1933), 291.

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merkungen, 7. Kap.: Zum Erkenntnisphänomen. Im erwähnten fünften Kapitel werden die deskriptiven „Hauptpunkte des engeren Erkenntnisphänomens“ dargeboten, allerdings, wie bereits erwähnt, ohne die „beschreibende Einzelarbeit“, auf die Hartmann glaubt verzichten zu können.51 Er beginnt hier, ausgehend vom Subjekt-Objekt-Verhältnis als der Erkenntnisrelation, die als transzendierende Relation gesehen wird,52 mit der Analyse bzw. Beschreibung des „Grundphänomens des Erfassens“, an dem sich die Bestandteile bzw. Funktionen eines „Erfassens des Objektes“ durch das Subjekt, eines „Erfaßbarseins [des Objektes; C.M.] für das Subjekt“ und eines „Erfaßtwerdens von ihm“ aufzeigen ließen, wobei sich letzteres ein Bild von ersterem mache, das als ein Drittes zu gelten habe.53 Die analytische Beschreibung, so heißt es, macht das im „Erkenntnisakt Vorhandene bewußt“.54 Die einzelnen Schritte bzw. aufgeführten Punkte eines deskriptiven Bestandes des Erkenntnisphänomens („Grenzphänomene der Erkenntnis“, „Phänomen der Wahrheit“ etc.) können und sollen hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet bzw. kommentiert werden. Vielmehr interessiert uns die explizite Positionierung gegenüber der Phänomenologie. Bislang kennen wir Hartmanns Bekenntnis zur Husserlschen beschreibenden Methode von Tatsachen im Gegensatz zu jeglicher Interpretation und Theoretisierung, die Übernahme des Mottos „zu den Sachen selbst“,55 das er eine „gesunde Tendenz“ nennt, die von der „engeren ,Phänomenologie‘“ beschritten werde,56 und das Bekenntnis zur Wesensschau und Wesensbeschreibung ausgehend vom natürlichen Bewusstsein und seinen Vollzügen. Mit der „beschreibenden Einzelarbeit“, die „vom Beispiel aus[geht]“ und „in der Heraushebung der Wesenszüge aus dem empirisch Zufälligen“ besteht,57 ist ganz offensichtlich nicht die Husserlsche Methode der Ideation bzw. ideierenden

51 „Wer mit phänomenologischer Methode vertraut ist, wird diese von Punkt zu Punkt vorausgesetzte und tatsächlich geleistete Arbeit aus den Resultaten leicht herauslesen und nachprüfen können.“ Hartmann (1925), 76 f. 52 Hartmann (1925), 47. 53 Hartmann (1925), 44 ff. 54 Hartmann (1925), 46. 55 „Weg mit den hohlen Wortanalysen. Die Sachen selbst müssen wir befragen. Zurück zu Erfahrung, zur Anschauung, die unseren Worten allein Sinn und vernünftiges Recht geben kann.“ Husserl (1987), 21. 56 Hartmann (1933), 291. 57 Hartmann (1925), 76.

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Abstraktion gemeint.58 Außerdem stoßen wir an zentraler Stelle auf den Husserlschen Begriff des „Phänomens“ als einem vorfindlichen Gegebensein, was apriorischen59 Bestand als Geltung, und nicht als objektive Realität, meint. Phänomene bestehen demnach „unabhängig davon, ob [sie] sich theoretisch rechtfertigen [lassen] oder nicht.“60 Wie wir ebenfalls bereits wissen, formuliert Hartmann auch eine Reihe von Positionen hinsichtlich der Husserlschen Phänomenologie, die er nicht teilt bzw. in denen er sich von der Phänomenologie unterscheidet. Dazu später. Was die Phänomenologie von der neukantianischen Erkenntnistheorie vorteilhaft unterscheidet, sei, neben ihrer Gerichtetheit auf die a priori einsehbare „überempirische Struktur“, die im Resultat einer phänomenologischen Beschreibung freigelegt werde, welche an einem beliebigen Beispiel eines Erkenntnisvorganges vorgenommen wird,61 ihre Überzeugung, dass es sich beim schlichten Formulieren dessen, „was am Phänomen unmittelbar und ohne Interpretation der Einsicht gegeben ist“, um eine „anschauliche Gegebenheit a priori“ handelt. „Das alte Vorurteil, daß nur Empirisches ,gegeben‘ und nur Geurteiltes a priori sein könne, ist also hier fallen gelassen.“62 In dieser entscheidenden Frage erweist sich Hartmann ganz klar als Anhänger, als Vertreter des „Standpunktes“ der Phänomenologie. Es bleibt allerdings noch im Einzelnen zu klären, was es bei ihm bedeutet, wenn er von der a priori evidenten „Einsichtigkeit des [widersprüchlichen Wesens-]Sachverhaltes“ am empirischen Subjekt-Objekt-Verhältnis – als dem Beispiel für das Erkenntnisphänomen – spricht.63 Bleibt doch nicht nur der Charakter dieser Apriorität ein Stück weit unklar, ebenso scheint der Übergang von empirischer zu eidetischer Struktur bei Vollzug der deskriptiven Methode nicht ganz verständlich zu sein, aber bekanntlich hat sich auch Husserl an dieser Problematik immer wieder mit zweifelhaftem Erfolg abgearbeitet. Dagegen erscheint Hartmanns Annahme durchaus nachvollziehbar, dass im natürlichen Bewusstsein und seinen erkenntnisintendierenden Akten sich ein „gemeintes Ansichsein des Objekts“ als vorfindlich ge58 Möckel (2003), 25 – 42. 59 Mit Hinweis auf die „heutige, im engeren Sinne ,phänomenologische‘ Forschung“ verweist Hartmann auf die Einsicht, „daß apriorische Erkenntnis keineswegs auf Urteile […] beschränkt ist“, sondern „sich als ein durchgehender Bestandteil aller und jeder Erkenntnis“ erweist. Hartmann (1925), 51. 60 Hartmann (1925), 57. 61 Hartmann (1925), 77. 62 Hartmann (1925), 77. 63 Hartmann (1925), 78.

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geben aufweisen und beschreiben lasse, das nicht „als bloßes logisches“ Objekt interpretiert bzw. erklärt werden dürfe. Würde dies doch eine Beeinträchtigung des Phänomens und die Einmischung eines Momentes der Theorie bzw. Interpretation „in seine Beschreibung“ bedeuten, zumal wenn dieses theoretisch-interpretative Moment „illegitimerweise für phänomenale Gegebenheit“ ausgegeben wird.64 „Das Ansichsein des Objekts“ ist bei Hartmann bekanntlich der „springende Punkt im engeren Erkenntnisproblem“, es wird als Grundphänomen erfasst, welches besagt, „daß das natürliche Bewußtsein das Wesen seiner Erkenntnis in der Bezogenheit auf ein Ansichseiendes erblickt.“65 Allerdings erscheint das „Erblicken“ des „Wesens“ seiner Erkenntnis seitens des natürlichen Bewusstseins ebenfalls etwas „dunkel“ zu bleiben. Dennoch verdienen Hartmanns Mut zum „Realismus“ des natürlichen Bewusstseins als einem Ausgangspunkt für Aporetik und Theorie, der mehr ist als „Täuschung“, sein der Immanenzphilosophie bzw. dem Idealismus den „Fehdehandschuh“-Hinwerfen,66 Respekt, selbst für den Fall, dass Husserls Phänomenologie die Realität und Transzendenz der Außenwelt zumindest methodisch gezielt offen lässt und für das natürliche Bewusstsein sogar reklamiert. Immanenzphilosophie bzw. Idealismus gelten ihm als theoretische Annahmen, für die „kein wirklich aufzeigbares Phänomen [existiert], welches [sie] rechtfertigen könnte.“67

3. Kritik und Distanzierung von der Phänomenologie Kommen wir noch einmal zurück auf die Distanz, die der „Phänomenologe“ Hartmann zur Phänomenologie als einer Schulrichtung wahrt. So ist ihm zumindest ein entscheidender Unterschied zur Husserlschen

64 Hartmann (1925), 79. 65 Hartmann (1925), 79. 66 „Ob es angängig ist, das Phänomen durch eine Theorie so auszudeuten, daß es ,nur Phänomen‘ bleibt, der wirkliche Sachverhalt aber der umgekehrte ist, das gerade steht in Frage und kann in der Deskription des Phänomens nicht vorweggenommen werden. Daher spielt dieser Punkt die Hauptrolle in den Erkenntnisaporien.“ Hartmann (1925), 79; „Die Phänomenologie muß notwendig das Erkenntnisgebilde im Subjekt als ,Bild‘ eines ansichseienden Urbildes beschreiben. […] Denn das natürliche Bewußtsein vor aller philosophischen Theorie weiß nichts von der Immanenz des Objekts.“ Hartmann (1925), 81. 67 Hartmann (1925), 86.

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Phänomenologie – der Ideen I – bereits im Werk von 1921/25 bewusst, mindestens zwei weitere kommen später hinzu: In einer Beziehung aber weicht unsere Analyse des Erkenntnisphänomens von derjenigen der Phänomenologen ab. Diese halten sich ausschließlich an das Immanente im Phänomen und lassen das Transzendente in seiner Eigenart nicht zu Worte kommen. Das ist nicht sowohl eine Inkonsequenz der Methode, als vielmehr eine Einseitigkeit des Interesses für das Phänomen, resp. ein Rest standpunktlicher [d. h. idealistischer; C.M.] Voreingenommenheit.68

Die Husserlsche Lösung der „immanenten Transzendenz“, die dieser in den §§ 44 – 46 der Ideen I entwickelt und die die Priorität eindeutig dem immanenten Erlebnis, der immanenten Wahrnehmung, dem immanenten Sein beilegt,69 reicht Hartmann eindeutig nicht aus: Hier gibt es keinen direkten Zugriff auf Transzendentes, lediglich auf seine Erscheinung, allein Immanentes haben wir direkt, adäquat und absolut. Hartmann sieht diesen „Bannkreis“ der Immanenzphilosophie in seiner Analyse des Erkenntnisphänomens durchbrochen: Die Transzendenz des Erkenntnisgegenstandes gehört mit zum Phänomen und muß mit ihm beschrieben werden. Dadurch wird der Phänomenologie der Zugang zum Metaphysischen im Erkenntnisphänomen geöffnet, dadurch also kommt sie erst an den Gehalt des engeren und eigentlichen Erkenntnisphänomens heran. Es läßt sich nämlich gar kein Grund einsehen, warum der metaphysische Gehalt eines Phänomens der Beschreibung nicht zugänglich sein sollte.70

Lasse sich doch kein überzeugendes Argument dafür angeben, „warum Wesenszüge, deren Problemgehalt nicht in immanenter Struktur aufgeht, nicht ebenso rein a priori sollten eingesehen und beschrieben werden können wie die immanenten“. Der hier angesprochene „Unterschied des Metaphysischen und Unmetaphysischen“ scheint den von Transzendentem und Immanentem zu meinen.71 Die von Husserl im Verhältnis von intendierendem Akt und intendiertem Gegenstand propagierte immanente Transzendenz wird ein weiteres Mal grundsätzlicher Kritik unterzogen, wenn Hartmann – im III. Abschnitt, 10. Kap.: Kritische Zusätze – erneut auf sein Verständnis 68 69 70 71

Hartmann (1925), 77. Husserl (1950), § 44, 80 f. Hartmann (1925), 77 f. Gleichzeitig bedeutet „metaphysisch“ bei Hartmann „in der Sache [selbst]“, dagegen nicht „am Phänomen“, weil die Phänomenbeschreibung gegen diese Qualität/Bestimmung indifferent sei. Hartmann (1925), 78.

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von Phänomenologie und ihren Phänomenen zu sprechen kommt, insbesondere unter Punkt a) Phänomenologische Einwände gegen seine „Analyse von Phänomen und Problem der Erkenntnis“. Hier rechnet er sich selbst übrigens nicht zu den „Phänomenologen“, denen er vielmehr vorwirft, bei ihrer – der Husserlschen – Lösung stoße der intentionale Akt niemals wirklich „auf den realen Gegenstand durch“. Damit sei für den orthodoxen oder Schul-Phänomenologen, der den „Satz des [in sich selbst gefangenen geschlossenen; C.M.] Bewußtseins“ als solchen unter Berufung auf dessen intentionalen Charakter nicht anerkenne, die Erkenntnis kein „das Bewußtsein transzendierender Akt“, sondern ein „einfaches Bewußtseinsphänomen“, aus der „Analyse eines solchen zu verstehen“.72 Hartmann sieht allerdings den „Satz des Bewußtseins“ und die „Transzendenz des ansichseienden Gegenstandes“ als zwei sich widersprechende, ausschließende Momente an, die in ein und demselben Phänomen aufweisbar seien. Die „Phänomenologie“ Husserls und Pfänders gehe mit ihrer Leugnung der Transzendenz zwar „geistreich“ vor, aber „phänomenologisch leichtfertig“.73 „Solange die Phänomenologie sich mit aller Macht auf den intentionalen Gegenstand versteift, […] steuert sie am eigentlichen Erkenntnisphänomen vorbei.“74 Zumal, so Hartmanns Argument, das bloße Gegenstandsbewusstsein „noch nicht Erkenntnis“ und als Phänomen überhaupt nicht aufweisbar, sondern eine bloße Verstandesabstraktion ist. Es sei schon „eine erstaunliche Verirrung der Phänomenologie, von solcher Abstraktion auszugehen“, verstoße sie damit doch gegen ihr eigenes Prinzip, „nur aufzeigbar Gegebenes gelten zu lassen“.75 Damit bringt Hartmann eindeutig und klar zum Ausdruck, dass er sich wohl der phänomenologischen Methode versichert, sich jedoch der phänomenologischen Strömung oder „Schule“ nur sehr bedingt zurechnet. Mit ihrem Beharren auf dem Transzendenzcharakter bloß der Intentionalität, was er als die „schwache Seite der heutigen Phänomenologie“ ausmacht, falle diese in „Immanenztheorie, ja in Idealismus 72 Hartmann (1925), 106 f. „Im vollen Phänomen der gegebenen […] Gegenstandserkenntnis ist also die Unterscheidung von intentionalem und realem Gegenstand immer schon gemacht“, wenn auch teilweise ohne Bewußtheit des erkennenden Subjektes (ebd., 114). „Sie läßt sich jederzeit aus ihm gewinnen […] – durch bloße Analyse des Phänomens“, so z. B. in der phänomenologischen „Reflexion auf die Intentionalität als solche“ (ebd., 114 f.). 73 Hartmann (1925), 108. 74 Hartmann (1925), 112. 75 Hartmann (1925), 113 f.

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zurück […] (Husserl), und zwar in einen kaum weniger subjektiven als der neukantianisch-transzendentale.“76 Diese „heutige“ Phänomenologie habe, so Hartmann 1933 in seiner „Systematischen Selbstdarstellung“, weil sie den Gegenstand nur als intentionalen Gegenstand, nicht aber als Erkenntnisgegenstand nimmt, und weil sie „das Verhältnis von Subjekt und Objekt als ein vollkommen korrelatives“ auffasst,77 letztlich über die neukantianisch dominierte Erkenntnistheorie „nicht wesentlich […] hinausgeführt“.78 Die Erkenntnistheorie hatte „den eigentlichen Sinn des ,Erfassens von etwas‘ […] ganz aus den Augen verloren“ und stellte für sich kein Wahrheitsproblem als Frage nach der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit einem Gegenstande mehr. Außerdem habe die Phänomenologie als eine der „Bewußtseinstheorien […] den Fehler begangen, im Erkenntnisphänomen Gegenstand und Sein zu verwechseln“, ein Fehler, den Husserl mit den Neukantianern teile.79 Cassirer wiederum war 1927 anlässlich seiner kritischen Besprechung der Metaphysik der Erkenntnis zu dem Schluss gekommen, dass Hartmann, wegen des hingenommenen Widerspruchs in dem Satz „Wir wissen um die Seinsrelation nur aus der Tatsache der Erkenntnisrelation; dennoch muss diese auf jene als die umfassende zurückgeführt werden“, der sich so bei diesem aber gar nicht findet,80 den „Weg der phänomenologischen Analyse, auf dem [seine] Metaphysik sich anfangs halten zu wollen schien, endgültig verlassen [hat]“.81 Wegen der Hinnahme dieses Widerspruches könne nicht mehr davon gesprochen werden, dass bei Hartmann das „Phänomen der Erkenntnis […] rein nach seinem deskriptiven ,Befund‘“ genommen wird. Es zeigt sich also, dass man sich darüber, was die phänomenologische Methode ist und wie sie anzuwenden wäre, im 76 Hartmnn (1925), 116 f. 77 „Denn die Überzeugung von der Realität des Gegenstandes ist hier überall eine vorgefundene, durchgehende; sie begleitet uns das ganze Leben hindurch, sie gehört fest zum Phänomen.“ Hartmann (1933), 303. „Das natürliche Realitätsbewußtsein bedarf keines Beweises, es gehört eben zum Phänomen und ist als solches jederzeit aufzeigbar.“ Hartmann (1933), 303. – Die Erkenntnis als „Relation zwischen Subjekt und seiendem Objekt“ ist „transzendent, sie ,überschreitet‘ das Bewußtsein.“ Hartmann (1933), 303. 78 Hartmann (1933), 302. 79 Hartmann (1933), 305. 80 Cassirer (2004a), 78. „Vielmehr zeigte schon die Analyse des Phänomens, daß die ganze Erkenntnisrelation in einer Seinsrelation wurzelt, ja eine Seinsrelation ist.“ Hartmann (1925), 182. 81 Cassirer (2004a), 78.

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Grunde einig ist, nicht aber in der Frage, ob konkrete Resultate das Ergebnis dieser Anwendung sind oder nicht. Auf seine partielle Nichtübereinstimmung mit den Positionen der Husserlschen Phänomenologie kommt Hartmann auch 1924 in der Festschrift für Natorp zu sprechen. Hier weist er darauf hin, dass seine Unterscheidung der Ontologie des idealen Seins und der Ontologie des realen Seins nicht identisch sei mit dem Unterschied „formaler“ und „materialer“ Ontologie, wie er neuerdings von phänomenologischer Seite aufgestellt worden ist, […] denn weder entbehrt das Reale der Formen, noch das Ideale der Materie. Außerdem würde eine solche Unterscheidung von vornherein ein falsches Schichtungsverhältnis vortäuschen – als stünde alles Reale durchweg unter idealen Formen, womit das alte Vorurteil wieder gestärkt würde.82

Gleichzeitig unterstreicht er ein weiteres Mal die Unverzichtbarkeit der phänomenologischen Methode reiner Beschreibung, selbst für die Kategorienanalyse: sei doch auch hier nicht von allgemeinen Gesichtspunkten aus zu deduzieren, sondern „phänomenologisch-analytische Detailarbeit an der einzelnen Kategorie“ zu leisten.83 Die Kritik an der phänomenologischen Ontologie, wie sie von Husserl u. a. in den Ideen I anlässlich der Überlegungen zu den formalen und materialen Wesenswissenschaften (§§ 8 – 10) vertreten wird,84 nimmt Hartmann ebenfalls in der „Systematischen Selbstdarstellung“ noch einmal auf. Insbesondere richtet sie sich hier auf den Tatbestand, dass für diese Phänomenologie das Reale nicht „viel weiter differenziert [ist] als das Reich der Wesenheit“, dass sie die evidente „Grenze der Wesensontologie gegen die Realontologie“ nicht nur nicht sieht, sondern, im Gegenteil, letztere ersterer sogar unterordnet: „Der heutige ,phänomenologische‘ Versuch, die Ontologie neu zu gründen“, beruhe „auf der 82 Hartmann (1924b), 132. 83 Hartmann (1924b), 161 f. 84 „Die formale Ontologie scheint zunächst mit den materialen Ontologien in einer Reihe zu stehen […]. Auf der anderen Seite aber steht zwar ein [formales; C.M.] Eidetisches, […] das in der Weise einer Leerform auf alle möglichern Wesen paßt, das in seiner formalen Allgemeinheit alle, auch die höchsten materialen Allgemeinheiten unter sich hat und ihnen durch die ihr zugehörigen formalen Wahrheiten Gesetze vorschreibt.“ Husserl (1950), § 10, 21. „Diese Unterordnung des Materialen unter das Formale bekundet sich nun darin, daß die formale Ontologie zugleich die Formen aller möglichen Ontologien überhaupt […] in sich birgt, daß sie den materialen Ontologien eine ihnen allen gemeinsame formale Verfassung vorschreibt“. Husserl (1950), § 10, 22.

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Erneuerung des Wesensreiches ohne Rücksicht auf die Eigenart des Realen.“85 Die aufgewiesenen Phänomene des Seienden würden mit dem Seienden an sich identifiziert. Doch für Hartmann ist es „gerade […] fraglich, inwieweit Phänomene das Seiende als solches nur wirklich darstellen“, weil „alles Ansichseiende nur mittelbar zur Gegebenheit gebracht werden kann“, während „alles direkt Gegebene […] als solches nur Phänomencharakter [hat]. Auf den Seinscharakter hin muß es immer noch besonders untersucht werden. Und in dieser Untersuchung erst besteht die Arbeit der Ontologie.“86 An dieses Thema knüpfen rund 10 Jahre später noch einmal kritische Bemerkungen im Text Neue Wege der Ontologie (1942) an. Die EssentiaLehre, so Hartmann, die „in jüngster Vergangenheit“ eine „Wiedergeburt in der Phänomenologie erfahren“ hat, sei mit längst überwunden geglaubten Schwierigkeiten und Fehlern behaftet. Und dies deshalb, weil „die neue Seinslehre als ,Wesensontologie‘ in Angriff“ genommen worden ist, und nicht als Realontologie. Mit der Neuauflage der Wesenslehre laufe man aber Gefahr, erstens „sich mit ihr wieder den substantiellen Formen“, d. h. dem überwundenen Substanzdenken zu nähern, und zweitens der „Verselbständigung des ,Allgemeinen‘“ aufzusitzen, und damit der Tendenz, „das Allgemeine rein um seiner selbst willen zu etwas Prinzipiellen und Grundlegendem umzustempeln“, um schließlich drittens dem „Postulat der Deduktivität“ zu erliegen, nach dem „allgemeine Sätze“, aus denen sich allein ableiten lässt, „als ein Ausdruck von Seinsprinzipien“ erscheinen.87 In seiner „Systematischen Selbstdarstellung“ (1933) schließlich, in der Hartmann das Motto der Phänomenologie: „Zurück zu den Phänomenen!“ eine „gesunde Tendenz“ genannt hatte, die von der „engeren ,Phänomenologie‘“ beschritten werde, fügt er noch hinzu, nicht nur beschritten, sondern als Prinzip von der „zünftige[n] Phänomenologie“ zudem „überspannt“ werde. Er macht hier dieser „zukünftige[n] Phänomenologie“ den Vorwurf, sich auf die beschreibende Methode, also auf das „Aufzeigen des Allgemeinen“ zu beschränken, und zu keiner Aporetik und keiner Theorie fortzuschreiten, d. h. letztlich bei „einer Vor-

85 Hartmann (1933), 339. 86 Hartmann (1933). 87 Vgl. Hartmann (1949), 207.

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stufe der Forschung“ stehenzubleiben.88 Wir erinnern uns, dass Husserl dem einstmals geschätzten Hartmann 1925 genau wegen dessen Fortschreiten zur nichtphänomenologischen Aporetik und Metaphysik unterstellt hatte, die Phänomenologie als Wissenschaft völlig misszuverstehen.

III. Resümee Als kurzes Resümee soll nur noch einmal der Eindruck festgehalten werden, dass es Hartmann ganz offensichtlich und unbestreitbar verstanden hat, die Phänomenologie, die phänomenologische Methode als philosophisches Instrumentarium für seine eigene Philosophie fruchtbar zu machen, dass er aber gleichzeitig niemals ein orthodoxer oder konsequenter Phänomenologe war und sein wollte, ganz so, wie man im Marburger Neukantianismus immer beansprucht hat, mit der transzendentalen Methode über das vorliegende Kantische System hinauszudenken.

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II. Neue Ontologie im Kontext – Philosophische Anthropologie und Philosophie des Organischen

Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie. Die Kölner Konstellation zwischen Scheler, Hartmann und Plessner Joachim Fischer Die folgenden Überlegungen erfolgen aus der Perspektive der erst neuerdings wiederentdeckten und wiederdiskutierten Philosophischen Anthropologie.1 Die überraschende Entdeckung dabei ist die Schlüsselrolle, die Nicolai Hartmann, der selbst nicht unmittelbar zu diesem Denkund Denkerzusammenhang von Scheler, Plessner, Rothacker und später Gehlen gehört, bei der Genese und Durchsetzung der deutschen Philosophischen Anthropologie gespielt hat, und zwar sowohl wissenschaftsgeschichtlich – im Kölner Netzwerk dieses Denkereignisses – wie theoriesystematisch mit seinen Theoremen zur Metaphysik der Erkenntnis wie zur Neuen Ontologie. Alle Kenner wissen, dass Hartmann, einst eine nachhaltige, bedeutende und anerkannt strahlende Figur in der deutschen Philosophieszene2, seit Jahren und Jahrzehnten in der philosophischen Topographie 1 2

Borsari (2009); Wunsch (2010b). Ich erwähne für diese bis in die 1960er Jahre fraglose Geltung von Hartmann als dem bedeutenden Philosophen seiner Epoche die Erinnerung von Wolfhart Pannenberg, der – sicher für viele Göttinger Nachkriegsstudierende stellvertretend – über sein Studium nach 1947 schreibt: „But mainly I was occupied with reading the works of Nicolai Hartmann, who had been professor of philosophy at Berlin until the end of the war and afterwards changed to Göttingen in West Germany, where I had the chance to attend his lectures and seminars for two terms, in 1948 and 1949. Hartmann was probably the most knowledgeable German philosopher at that time, more so than Karl Jaspers and even Martin Heidegger.“ Pannenberg (2006), 185. Ein interessanter Beleg für den erheblichen Stellenwert von Hartmanns Philosophie in der deutschsprachigen Philosophie ist das von Georg Schischkoff verfasste Philosophische Wçrterbuch gewesen (in vielen Begriffen ein Resonanzraum Hartmannscher Philosopheme), das noch in der 21. Aufl. 1982 im Artikel über die „deutsche Philosophie“ festhält – als über die Neue Ontologie als der vierten Hauptströmung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehandelt wird (neben Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existenzphilosophie): „Ihr wichtigster Vertreter [der Neuen Ontologie] ist Nicolai Hartmann […], einer der bedeutendsten Gestalten der Gegenwartsphilo-

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marginalisiert ist. Hierfür steht die bekannte von Herbert Schnädelbach 1983 gebrachte Formel: „Vergleicht man die Ontologie Nicolai Hartmanns mit der Heideggers aus heutiger Perspektive, so muß man sagen, daß Hartmann zwar seine Epoche bestimmt, aber nicht – wie Heidegger – Epoche gemacht hat.“3 Ich meine, dass Schnädelbachs 1983 aus dem Hochgefühl einer philosophischen Fortschrittsgeschichte – in der Verknüpfungsgestalt kritischer Theorie mit der analytischen Philosophie – gesprochenes Diktum sich 25 Jahre später anders darstellt. Die internationalen und deutschen Parallelaktionen einer Wiederzuwendung jüngerer, immer schon analytisch geschulter Philosophen zur Philosophie Hartmanns sind dafür Indizien.4 Hartmanns Philosophie hat nämlich und das ist hier die These - durchaus auch Epoche gemacht – z. B. in der Denkgestalt der modernen Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts. In jedem Fall könnte Hartmanns tiefe Verbindung mit dieser modernen Philosophischen Anthropologie ein Pfad sein, ich betone: ein Pfad sein, der Hartmanns Philosophie selbst in neuem Licht erscheinen lässt – als eine reflexiv moderne Theorie. Die deutsche Philosophische Anthropologie ist ein Phänomen seit den zwanziger Jahren. Die einschlägigen Texte sind Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos und Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 und schließlich Arnold Gehlens Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt von 1940.5 Für alle weitere Überlegung ist eine Unterscheidung wichtig, die ich vorschlage. Ich arbeite mit der Unterscheidung zwischen der philosophischen Anthropologie als einer Disziplin (einer Subdisziplin) der Philosophie und der Philosophischen Anthropologie als einem Denkansatz (oder einem Paradigma) in der Theoriegeschichte. Die Unterscheidung ist nicht ganz einfach, weil beide Phänomene, also die Disziplin wie der Denkansatz, gleichzeitig auftraten, unter einem Titel, aber die Unterscheidung ist hilfreich, weil sie unterschiedliche Folgebeobachtungen erlaubt.

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sophie überhaupt. Er zeichnet sich aus durch eine beispielhafte Feinheit und Schärfe der philos[ophischen] Analysen und durch eine ganz seltene Klarheit und Durchsichtigkeit der sprachlichen Form seiner umfangreichen und weitgespannten Werke.“ Schischkoff (1982), 124. Schnädelbach (1983), 259. Der Wuppertaler Hartmann-Konferenz 2011 ist nur ein halbes Jahr zuvor die First International Conference of the Nicolai Hartmann Society, Rome, University „La Sapienza“, August 2010 vorausgegangen, organisiert von Roberto Poli, Carlo Scognamiglio, Frederic Tremblay. Vgl. den Band Poli u. a. (2011). Vgl. die Darstellungen von Habermas (1973 [1958]) und Rehberg (1982).

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Die philosophische Anthropologie erschien Ende der 20er Jahre als eine neue Disziplin, insofern „anthropologische“ Topoi bzw. die Frage nach dem Menschen aus ihren bisherigen Denkorten (in der Moralistik, in der Metaphysik) auswanderten und sich zu einem eigenen, zentralen Denkort in der Philosophie verdichteten. Die neue Disziplin unter diesem Titel erschien 1928 zuerst prominent in einen Handbuchartikel von Bernhard Groethuysen, dem Dilthey-Schüler, der unter diesem Titel eine erste Rekonstruktion der Geschichte der Ideen über den Menschen und Menschheit in der europäischen Philosophiegeschichte rekonstruierte.6 Die „philosophische Anthropologie“ wurde also eine eigene Disziplin, die sich durch eigene Fragestellungen von den klassischen Disziplinen wie Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, später Sprachphilosophie abhob und konkurrierend mit diesen einen Status in der Philosophie beanspruchte. Neben der ideengeschichtlichen Rekonstruktion von Aristoteles bis Feuerbach versammelten sich verschiedene Denkrichtungen an diesem Denkort: also neben den Einsätzen von Scheler und Plessner wurden existenzphilosophische Ansätze von Heidegger und Jaspers, später von Sartre und Arendt, aber auch marxistisch-materialistische und tiefenpsychologische, kulturphilosophische wie die von Cassirer und leibphänomenologische wie die von Merleau-Ponty dazu gerechnet. Seit der verbreiteten Übersicht von Michael Landmann7 wurden immer erneut hilfreiche Übersichten über die so verstandene „philosophische Anthropologie“ entwickelt8 – zu erwähnen sind hier neuerdings die einschlägigen Einführungen von Christian Thies und Gerald Hartung.9 Von dieser Disziplin lässt sich – das ist die Prämisse – eine besonderer Ansatz unterscheiden, der unter demselben Titel läuft: Philosophische Anthropologie als ein Paradigma - und in dessen Formations- und Durchsetzungsgeschichte spielt Nicolai Hartmann eine überragende Rolle. Nur wenn man die Unterscheidung zwischen philosophischer Anthropologie als Disziplin (klein geschrieben) und Philosophischer Anthropologie als Paradigma (groß geschrieben) trifft, lässt sich der Ansatz als einer unter mehreren in der modernen Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts identifizieren und beobachten. Die Frage ist dann: Gibt es in den erwähnten Schriften von Plessner und Scheler, Gehlen (und vielleicht noch weiteren Denkern) eine identifizierbare Theorie, einen 6 7 8 9

Groethuysen (1931 [1928]). Landmann (1982 [1955]). Englischsprachig: Pappé (1967). Thies (2004); Hartung (2008).

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Ansatz des Denkens und Forschens, der sie von anderen Paradigmen des 20. Jahrhunderts unterscheidbar macht? Die These ist: die Theoreme von Nicolai Hartmann können helfen, diese Theorie zu identifizieren – obwohl er selbst gar kein einschlägiges Werk zu diesem Ansatz vorgelegt hat. Und wenn wir die Philosophische Anthropologie als unterscheidbares Paradigma zeigen können10, dann kann man sie unterscheiden vom Neukantianismus, von phänomenologischer Bewegung, vom naturalistischen bzw. evolutionsbiologischen Paradigma, von der Existenzphilosophie, von Analytischer Philosophie und Hermeneutischer Philosophie – dann wird die Philosophische Anthropologie ein diskutierbarer Ansatz, ein Paradigma in der Philosophie, das innerhalb ihrer verschiedenen Disziplinen Erkenntnistheorie, Ethik, Metaphysik und in verschiedenen Einzelwissenschaften (wie Soziologie und Biologie) Wirkungen gezeitigt hat – und Hartmann wäre ein Joker dieses Ansatzes, das damit mit beachtlicher Stärke erneut ins Spiel käme. Ich konzentriere mich hier ganz auf das Paradigma und entwickle den im Titel angekündigten Zusammenhang zwischen Neuer Ontologie und Philosophischer Anthropologie bzw. zwischen Hartmann, Scheler und Plessner jetzt in zwei Punkten: ich skizziere zunächst das ideengeschichtliche Phänomen, das ich die Kçlner Konstellation nenne, um dann zweitens etwas über den theoriesystematischen Zusammenhang von Neuer Ontologie und Philosophischer Anthropologie zu sagen.

I. Kölner Konstellation 1919 – 1931 Es ist sinnvoll, die Entwicklung einer Kölner Konstellation in den zwanziger Jahren in den Blick zu nehmen11, weil sie die Bedingung bildete sowohl dafür, dass es zu einem Durchbruch zur Philosophischen Anthropologie kam, wie auch dafür, dass wegen der Art des Durchbruches die Philosophische Anthropologie als Paradigma danach nicht die gleiche akademische Stabilisierung erreichte wie andere vergleichbare Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts – was es überhaupt erforderlich werden lässt, die Philosophische Anthropologie im Nachhinein als ein 10 Der Versuch in Fischer (2008); zur Darstellung und kritischen Diskussion dieser These vgl. Hartung (2009), Wunsch (2010b) und Schickhardt (2011). 11 Der ideensoziale Begriff der „Konstellation“ lehnt sich versuchsweise an Dieter Henrichs Konstellationsforschung bezogen auf den Deutschen Idealismus an: Muslow u. Stamm (2005).

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eigenes Paradigma zu rekonstruieren. Dass diese Kölner Konstellation aber überhaupt produktiv wurde und eine Dauer und Wirkungsgeschichte erreichte, ist nicht denkbar ohne Nicolai Hartmann seit 1921/ 1925.12 Ich möchte noch – gleichsam nebenbei – erwähnen, dass ich diese Kölner Konstellation für ein bedeutendes, erst noch erforschendes Phänomen der deutschsprachigen Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts halte: Das, was ich die Kçlner Konstellation (mit Scheler, Hartmann, Plessner) nenne, ist für die Philosophische Anthropologie so wichtig wie parallel die Frankfurter Konstellation (mit Horkheimer, Adorno, Benjamin, Marcuse) für die Kritische Theorie13 oder wie die Marburger Konstellation zwischen Bultmann und Heidegger für die Existenzphilosophie oder wie der Wiener Kreis (Schlick, Carnap, Neurath) für den Logischen Positivismus und die Analytische Philosophie.14 Die Formierung dieser Kölner Konstellation kann man seit 1919 ansetzen – also sieben Jahre vor dem Durchbruch –, als Max Scheler, der gerade an die neu gegründete Universität Köln (vergleichbar der Universität Frankfurt) auf eine Professur für Philosophie und Soziologie berufen worden war, den jüngeren Helmuth Plessner einlud, sich dort zu habilitieren. Scheler war von Plessner offensichtlich beeindruckt, weil dieser nicht nur ein ausgebildeter Biologe war, sondern auch – durch seine philosophische Dissertation – ein Kenner der neukantianischen und der phänomenologischen Denkrichtung. Zusammengefasst könnte man sagen, dass Scheler und Plessner, beide nun in Köln, in ihrer wechselseitigen Bezogenheit eine ähnliche Stoßrichtung ihrer philosophischen Forschung erkannten, nämlich eine Art von Rettungs-Projekt: Die Rettung zentraler Motive des Idealismus (Kant und Fichte), nachdem diese Idealismus-Motive radikal durch den naturalistischen turn des 19. Jahrhundert herausgefordert worden waren. Vor allem die Darwinsche Theorie (mit Ausstrahlung auf Nietzsche, Freud etc.) entfaltete eine Analyse des Menschen als einem bloßen Produkt der evolutionären Naturgeschichte, so dass alle Abhebungsmerkmale des Menschen (die idealistischen Motive der Vernunft, der Sprache, der Religion) als bloße natrliche Anpassungsleistungen reduziert wurden. Scheler wie Plessner nun, jeder für sich, suchten innerhalb des interdisziplinären Dreiecks von Biologie, Soziologie und Philosophie nach einem adäquaten Begriff des 12 Hinweise auf den Zusammenhang von Hartmann und der Philosophischen Anthropologie bei Ralph R. Fischer (1982) und Morgenstern (1997). 13 Wiggershaus (2010 [1986]). 14 Kraft (1997 [1950]).

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Menschen, der ihn innerhalb der Natur und Naturgeschichte platzieren würde, ohne dass dabei seine Sonderstellung im Kosmos vernachlässigt würde. Beide strebten eine Art Verteidigung der vom Idealismus dem Menschen zugeschriebenen Prädikate an, aber durch eine philosophische Grundlegung in der Natur selbst – um von dieser Grundlegung aus gegen jeden Reduktionismus vorgehen zu können.15 1924, also vier Jahre vor dem Durchbruch, kündigt Scheler in seiner Soziologie des Wissens ein Werkprojekt unter dem Titel „Philosophische Anthropologie“ an (der Titel des Vorhabens stammt von ihm) 16, und im selben Jahr verweist Plessner im Vorwort seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft auf ein geplantes Werk unter dem Titel „Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form“.17 Ein Jahr zuvor hatte sich Plessner in seinem ersten grundlegenden Buch Die Einheit der Sinne. Grundlegung einer sthesiologie des Geistes, das systematisch das Verhältnis zwischen der Verschiedenheit der Sinne und der Optionen des Geistes untersuchte, vom Idealismus distanziert, ohne in einen Naturalismus zu verfallen.18 Zwischen dem Ordinarius Scheler und dem Privatdozenten gab es in dieser Frühzeit der Kölner Konstellation einen regen intellektuellen Austausch, ergänzt durch indirekte Kommunikation mit gemeinsamen Dritten, durch Übereck-Figurationen. Scheler und Plessner organisierten nämlich ein Netzwerk von Fachwissenschaftlern um sich (z. B. den niederländischen Physiologen und Psychologen Buytendijk, den Mediziner von Weizsäcker), mit denen sie ihre Ideenbildungen diskutierten. Zu diesem Netzwerk gehört auch der Geisteswissenschaftler Erich Rothacker im nahen Bonn, der sich in seiner Suchbewegung nach einer Grundlegung der Geisteswissenschaften in der Wirklichkeit für Schelers und Plessners Vorhaben interessierte. Zu diesem Netzwerk gehörten auch zwei Philosophen: Martin Heidegger und Nicolai Hartmann – damals beide in Marburg. Plessner lud beide in den wissenschaftlichen Beirat seiner neuen philosophischen Zeitschrift ein, den Philosophischen Anzeiger, der den bezeichnenden Untertitel trug: Zeitschrift fr die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft. 19 Scheler holte Heidegger Mitte der 20er Jahre zweimal zu Vorträgen nach 15 Zur Frage der Affinität und Differenz von Ernst Cassirer zu dieser philosophischanthropologischen Denkergruppe vgl. Hartung (2003). 16 Scheler (1924). 17 Plessner (1924). 18 Plessner (1923). 19 Plessner (1925/26 – 1930).

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Köln. Heidegger mit seiner Verbindung von Kierkegaard und Dilthey zu einer neuen Linienführung, die dann als paradigmatisch für die sog. Existenzphilosophie gelten wird, bildete für beide eine interessante Herausforderung, aber im unmittelbaren Vergleich zwischen Heidegger und Hartmann war es der letztere, welcher die Schlüsselressourcen für ihre eigenen Denkprojekte parat hielt. Hartmann wurde die Schlüsselfigur im Scheler-Plessner-Netzwerk, als er 1925 die zweite Professur für Philosophie in Köln übernahm. Sowohl mit seiner Metaphysik der Erkenntnis von 1921, die eine Beobachtung der Subjekt-Objekt-Relation als Seinsrelation vorschlug, wie mit seiner nun Mitte der zwanziger Jahre Kontur annehmenden „Neuen Ontologie“ und ihrem Kerntheorem der Schichtung des Seins in kategorial differenzierte Ebenen des Anorganischen, des Organischen oder Vitalen, des Psychischen und des Geistigen wurde Hartmann wichtig für die Lösungsideen von Scheler wie von Plessner, weil diese Theoreme für das Projekt eines Begriffs des Menschen einen Abstand sowohl gegenüber dem naturalistischen Reduktionismus wie gegenüber den überzogenen Ansprüchen des klassischen Idealismus (bei Kant, Fichte, Hegel) erlaubten. Hartmann wird eine überragende Rolle nicht nur in der Formationsphase der Philosophischen Anthropologie der zwanziger Jahre spielen, sondern auch in ihrer schwierigen Kontinuierungs- und Konsolidierungsphase in den 30er und 40er Jahren. Wie kam es dazu? Wie bereits erwähnt, traf Plessner, als er auf einer Reise durch die deutsche Philosophie war, um das scientific board seiner geplanten neuen Philosophiezeitschrift zu rekrutieren, Hartmann 1923 am selben Tag in Marburg wie Heidegger. Diese direkte Plessnersche Vergleichsmöglichkeit zwischen Heidegger und Hartmann war wegweisend. Es erscheint als folgenreich für die spätere Kölner Konstellation, dass Plessner, obwohl auch angetan von Heidegger, an diesem Tag tief von Nicolai Hartmann beeindruckt wurde. Heidegger charakterisierte er wie folgt: „Vor dem Essen [bei Hartmann] erschien Heidegger in Kniehosen und einem Art Alpenhüttenkostüm. […] Auch von Heidegger bekam ich einen sehr angenehmen Eindruck. Eine kleiner schwarzer, etwas impetuoser Mann, mit dem sicher nicht zu spaßen ist, von dem man aber sofort den Eindruck gewinnt, daß er an sich die höchsten Anforderungen stellt.“ Anders der völlig ironiefreie, geradezu feierliche Ton von Plessner hinsichtlich Hartmanns: „Einen gewaltigen Eindruck erhielt ich von Hartmann. Die Stille dieses Menschen, die Versunkenheit in sich, die absolute Lauterkeit zogen mich völlig in ihren Bann. […] Wir verstanden uns, wenn ich nach

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meinem Gefühl gehen kann, ausgezeichnet. Ich hatte den ganzen Abend das Gefühl, und das wirkt bis heute ungeschwächt nach, einem antiken Philosophen, vielleicht auch einem Hegelschen Geiste, gegenüberzusitzen.“20 Auch Scheler in Köln war beeindruckt von Hartmann, insbesondere von dessen Buch Ethik 21, das die Wertethik systematisch entfaltete, ein Programm, das Scheler in der Kritik am Kantischen Formalismus in der Ethik begründet hatte22, das aber nun tatsächlich von Hartmann differenziert durchgeführt wurde. Die Jahre 1925 – 1927 sind eine intensive Diskussionsphase in Köln zwischen Scheler, Hartmann und Plessner, die Jahre der Formation der Philosophischen Anthropologie sowohl durch Scheler wie durch Plessner. Hartmann veröffentlichte seinen ersten Aufsatz zur Neuen Ontologie „Kategoriale Gesetze. Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorienlehre“ in Plessners neuem Philosophischen Anzeiger. In den Kölner Jahren schrieb Hartmann also die ersten zusammenhängenden Entwürfe zur Ontologie, einschließlich der Allgemeinen Kategorienlehre nieder (ohne sie bereits zu veröffentlichen). Das gleiche gilt für seine Theorie des „geistigen Seins“, seine Kultur- und Geschichtsphilosophie (die erst 1933 erschien) 23. Man muss auch im Blick behalten, dass Hartmann seine erst viel später – 1950 – veröffentlichte Philosophie der Natur 1927 in Köln entwarf, also genau in der Phase, in der Scheler und Plessner um die Konturen einer philosophischen Biologie als Sprungbrett der Philosophischen Anthropologie rangen. Hartmann scheint wie ein Medium gewesen zu sein, der Katalysator eines Projektes der Philosophischen Anthropologie, ohne selbst dieses Projekt zu verfolgen, aber hochinteressiert, welche Gestalt diese Suchbewegung bei Scheler und Plessner auch unter dem Eindruck seiner Ideen nahm. Dabei war – das ist wichtig für das Folgende – die Konstellation zwischen Scheler und Plessner bestimmt von Affinität wie von Rivalität. Das hat die neuere Forschung aufgedeckt.24 Beide bewegten sich in einer klassischen Rivalitätsstruktur der deutschen Universität zwischen dem älteren, anerkannten Ordinarius und dem jüngeren noch nicht etablierten Privatdozenten. Diese Struktur wurde kompliziert dadurch, dass Scheler aus einem bestimmten Anlass ein Gutachten über Plessner schreiben 20 21 22 23 24

Plessner, 11. November 1924 in: König u. Plessner (1994), 58. Hartmann (1926). Scheler (1921 [1913]). Hartmann (1933). Fischer (2008).

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musste – und dass Plessner durch Zufall nebenbei Einblick in dieses Gutachten bekam. In seiner Beurteilung zollte Scheler Plessner großen Respekt bezogen auf seine Doppelqualifikation (Zoologe und Philosoph), seine große Intelligenz, sein Vermögen, sich in verschiedenste Perspektiven hineindenken zu können. Aber er zweifelte an seiner „genuinen Originalität“. Es entwickelt sich also an der Kölner Universität eine doppelte Rivalität: Scheler, der in diesen Jahren sich innerlich und äußerlich genötigt sah, das System, die summa seiner Philosophie zu geben, sah sich herausgefordert durch den jüngeren, begabten Plessner, und dieser wiederum wusste aus dem Gutachten, dass Scheler ihm das Wichtigste einer Philosophenlaufbahn, die schöpferische Eigenleistung, absprach. 1927 und 1928 erschienen die beiden Texte parallel, die den Durchbruch zur modernen Philosophischen Anthropologie als einem neuem Paradigma bedeuteten: Die Stellung des Menschen im Kosmos 25 und Die Stufen des Organischen und der Mensch. 26 Wie bekannt ist, baut Scheler seine Rekonstruktion einer Sonderstellung des Menschen (so der Titel der ersten Veröffentlichung) auf einer philosophischen Rekonstruktion des Lebens auf; dann analysiert er Ebenen des Organischen, um so einen adäquaten Naturhintergrund für den Begriff des Menschen vorzubereiten. Er charakterisiert Leben überhaupt den „Drang“, also durch das Prinzip über die Grenze des eigenen Seins hinauszugehen - so wie bereits die Pflanze auf diese Weise konstitutiv auf eine Umwelt eingestellt ist. Dann beobachtet er Stufen des tierischen Organischen und seiner jeweiligen Umweltrelationen unter den Kategorien der Instinktregulation, des dissoziativen und assoziativen Gedächtnis, schließlich der praktischen Intelligenz, wobei er durch die letztere bereits die Dimension der Primaten, besonders der Schimpansen einholen will. Dann führt er das Prinzip des Geistes ein – als ein neues Prinzip gegenüber dem Prinzip des Lebens –, das Prinzip der Negation oder des Neinsagenkönnens, das aber in seiner Realisierung vom Bejahungs- und Energieprinzip des Lebens abhängig ist. Das ist Schelers entscheidender Bruch mit der Denktradition des Idealismus, der dem Geist nicht nur Autonomie, sondern auch Autodynamik zuschreibt. Das Prinzip des Geistes nach Scheler tritt nur in Kraft auf der Basis der niederen Schichten, der Schichtung des Lebens, dem Prinzip des Lebens. Im Menschen dreht sich das Prinzip des Lebens durch das Prinzip des Geistes; das wie alle organischen Dinge umwelt25 Scheler (1928). 26 Plessner (1928).

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gebundene Phänomen des Menschen ist insofern zur „Weltoffenheit“ disponiert und ausgesetzt. Sehr ähnlich entwickelt Plessner in seinen 1928 veröffentlichten Stufen des Organischen und der Mensch die Philosophische Anthropologie unter der Voraussetzung einer eingebauten philosophischen Biologie. Seine Rekonstruktion beginnt ebenfalls mit einer Unterscheidung zwischen dem Anorganischen und dem Organischen: Letzteres, das „lebendige Ding“, ist durch ein konstitutives Grenzverhältnis zur Umgebung bestimmt, etwas, das Plessner als „Positionalität“ in der Natur kennzeichnet. Er beobachtet dann Stufen der Positionalität, insbesondere Pflanzen und Tiere als offene odergeschlossene Positionalität und dann noch einmal innerhalb der tierischen Sphäre die Formen azentrisch und zentrisch organisierter Positionalität. Mit „zentrischer Positionalität“ erreicht er bereits die Primaten. Für das menschliche Ding prägt Plessner den Begriff „exzentrische Positionalität“: Der Mensch ist das Lebewesen, das in den Abstand zum eigenen Leben gestellt ist, in eine neuartige Ungleichgewichtslage gesetzt; exzentrische Positionalität verlangt daher zur Lebensführung in der Natur „natürliche Künstlichkeit“, „vermittelte Unmittelbarkeit“ und den Umgang mit dem „utopischen Standort“ im eigenen Leibkörper.27 Diese zwei Texte waren der Durchbruch der Philosophischen Anthropologie zu einem neuen Paradigma, womit prinzipiell die Chance einer neuen philosophischen Schulbildung eröffnet war. Aber die Umstände des Durchbruchs, die Rivalität zwischen den beiden Philosophen verhinderten, dass sie in einer Etablierung des Denkansatzes kooperierten. Bereits 1927 war Scheler durch das bevorstehende Plessner-Buch verletzt, wie wir aus Scheler-Briefen einerseits, aus Briefen Plessners an Josef König andererseits wissen.28 Obwohl der von beiden respektierte Nicolai Hartmann zu vermitteln suchte, war eine Versöhnung nicht möglich. Scheler war verletzt und versuchte Plessners Werk und seine Laufbahn zu beschädigen durch zwei Gerüchte in der akademischen Welt: Erstens klagte er Plessner in der intellektuellen Szene des Plagiats im Sinne des Ideendiebstahls an, was er vielen Kollegen, u. a. auch Heidegger mitteilte; und zweitens kündigte er vor demselben Publikum seine eigene große Philosophische Anthropologie an, die – nahezu fertig – binnen Jahresfrist erscheinen würde. Er hatte bereits den Ruf nach Frankfurt 27 Fischer (2000). 28 Vgl. dazu Fischer (2008), 61 – 94.

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angenommen, als er dort, unmittelbar zu Beginn des Sommersemesters starb. Hartmann hielt die Totenrede auf Scheler.29 Die beiden von Scheler in die Welt gesetzten Gerüchte, das Plagiatsgerücht und die Ankündigung einer nun im Nachlass liegenden fertigen Schelerschen Philosophischen Anthropologie blockierten den Aufstieg der Philosophischen Anthropologie, sie warfen einen großen Schatten auf das Denkprojekt. Plessners Werk wurde aus beiden Gründen nicht wirklich rezipiert, seine Karriere erfuhr bereits vor 1933 in Deutschland einen Knick. Obwohl es also nicht zu einer (mit anderen Paradigmen) vergleichbaren Institutionalisierung eines Denkzusammenhanges unmittelbar nach 1928 gekommen ist, hat die Philosophische Anthropologie als Paradigma dennoch einen beträchtlichen Effekt in der deutschen Philosophie, in der Soziologie erreicht, der bis etwa in die 70er Jahre reichte.30 Für dieses Fortleben des Paradigmas vor allem durch die 30er und 40er Jahre kommt erneut Nicolai Hartmann ins Spiel. Er war bedeutend nicht nur für die Formationsphase, sondern auch für die Überlebensphase des Ansatzes, also in den 30er und 40er Jahren, als die beiden Protagonisten fort waren: Scheler war tot, und Plessner musste wegen der jüdischen Herkunft seines Vaters ins niederländische Exil gehen, was dazu führte, dass sein Werk in der deutschen Philosophie totgeschwiegen wurde. 1940 veröffentlichte der junge Arnold Gehlen, der in Nazi-Deutschland eine erfolgreiche Karriere als Philosoph machte, ohne ein Nazi-Philosoph zu sein, sein Buch Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 31 Es enthielt nur einen kurzen Verweis auf Scheler und erwähnte Plessners Leistung zehn Jahre zuvor, die Gehlen nachweisbar durchaus kannte, überhaupt nicht. Vielmehr setzte er mit einem Theorieprogramm der Philosophischen Anthropologie noch einmal neu ein (wobei Herder als Bezugsfigur fungierte). Es war nun die aufsehenerregende Besprechung von Nicolai Hartmann, der inzwischen in Berlin einer der angesehensten deutschen Philosophen war, die Gehlens Buch zur durchschlagenden Anerkennung verhalf.32 Hartmann verteidigte Gehlens Buch gegen die Kritik seitens der Idealisten, die ihm Naturalismus vorwarfen, indem er – Hartmann – die Grundintuition Gehlens indirekt mit seiner eigenen Ontologie der Schichtung erläuterte: nämlich tief in der Körperlichkeit des menschlichen Lebewesens anzusetzen, und 29 30 31 32

Hartmann (1958 [1928]). Fischer (2008), 331 – 449. Gehlen (2009 [1950]). Hartmann (1941/42).

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zwar so, dass sich die Autonomie des Geistes nicht als falsch erweist – etwas was Gehlen vor allem in seiner philosophisch-anthropologischen Sprachtheorie durchführte, womit er in der praktischen Durchführung der Philosophischen Anthropologie durchaus über Scheler und Plessner hinausging. Ohne dass Hartmann in seiner Besprechung Scheler und Plessner erwähnte, trug er gleichsam aus seiner Kölner Zeugenschaft Sorge, dass Gehlen in das Paradigma initiiert wurde, und durch den anschaulich-klaren Stil von Gehlen und durch Hartmanns Unterstützung, für die sich Gehlen tief gerührt bedankte, wurde Gehlens Buch Der Mensch das einflussreichste Werk der Philosophischen Anthropologie im Nachkriegsdeutschland. Hartmanns Unterstützung der Philosophischen Anthropologie ging aber noch weiter. Bereits 1945 in Göttingen suchte er zusammen mit dem dortigen Dekan Herbert Schöffler, dem früheren Kölner Anglisten und Trabanten der Kölner Konstellation, der seine – Hartmanns – Göttinger Berufung betrieben hatte, gemeinsam aktiv nach Möglichkeiten, Plessner wieder nach Deutschland in die Philosophieszene zurückzuholen – mit der Perspektive, sein – Hartmanns – Nachfolger auf dessen Göttinger Lehrstuhl zu werden. Hartmann übte nun auch Druck auf Gehlen aus, den zunächst verschwiegenen Plessner in der zweiten, 1950 erscheinenden Auflage von Der Mensch ausdrücklich zu erwähnen – was Gehlen auch tat. Schließlich sei erwähnt, dass der Hartmann-Schüler Hermann Wein, der sich in Göttingen stark an Plessner anschloss, in einem Aufsatz im Merkur – mit Berufung auf den 1950 verstorbenen Hartmann – erstmals von der „deutschen Philosophischen Anthropologie“ sprach, die er in die Kölner Zeit der zwanziger Jahre zurückführte und zu deren Protagonisten er nun Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen und Erich Rothacker rechnete.33 Plessner und Gehlen waren beide mit Beiträgen für den Hartmann-Gedächtnisband vorgesehen.34 Philosophische Anthropologie als ein modernes Paradigma wurde in den 50er Jahren repräsentiert in einer Bonner Vorlesung von Erich Rothacker 195335 – über die nun wiederum dessen Schüler Jürgen Habermas in den Denkansatz eingeführt wurde, Habermas, der zuvor auch in Göttingen bei Hartmann gehört hatte – alles lange vor der Zeit, bevor er sich Mitte 33 Wein (1957). 34 Zu den Hintergründen von Gehlens Fehlen in der Hartmann-Gedenkschrift und einer Theorie-Differenz zwischen Gehlen und Hartmann um das Stufen- und Schichtenschema vgl. Rehberg (2008). 35 Rothacker (1964).

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der 50er Jahre dem Frankfurter Institut für Sozialforschung anschloss. Daraus wiederum ging der Habermas-Lexikonartikel im Fischer-Lexikon Philosophie 1958 hervor36, wodurch die Philosophische Anthropologie mit den einschlägigen Autoren gleichsam kanonisiert wurde und durch die 60er bis Mitte der 70er Jahre eine erhebliche Wirkungsgeschichte in der deutschen Philosophie und Soziologie zeitigte. Schelers 1927/28 angekündigte „große Philosophische Anthropologie“ gab es übrigens nicht – 1987, zwei Jahre nach Plessners Tod, erschienen in einem Nachlassband unkoordinierte Notizen und Fragmente.37

II. Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie Die Rivalität zwischen Scheler und Plessner und später zwischen Plessner und Gehlen sind Indizien, dass die Denker die Affinität ihrer Denkprojekte erkannten – andernfalls hätten sie nicht so rivalisiert. Obwohl der Schelersche Vorwurf des Plessnerschen Plagiats falsch war (da Plessner z. B. den originalen Begriff der exzentrischen Positionalität erfand), täuschten sie sich nicht in der tatsächlichen Verwandtschaft ihrer Einsätze zur Philosophischen Anthropologie. Die Affinität zwischen beiden – durch alle unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Begrifflichkeit hindurch – lässt sich am besten durch die Philosophie von Nicolai Hartmann erkennen, weil sie nämlich von zwei der wichtigsten seiner Theoreme, einem epistemologischen und einem ontologischen, in ihren Konstruktionen einen produktiven Gebrauch machten. In seinem Ausstieg aus dem transzendentalen Idealismus, besonders aus dem Neukantianismus, dessen Marburger Schule er selbst entstammte, führte Hartmann philosophische Denkfiguren und Argumente ein, die sowohl Scheler wie Plessner bei ihrer Philosophischen Anthropologie stimulierten. Das epistemologische Theorem stammte aus der Metaphysik der Erkenntnis von 192138, das ontologische aus der großen, bereits erwähnten Abhandlung „Kategoriale Gesetzte“ von 1925/2639. Scheler wie Plessner teilten mit Hartmann den Willen, dem Neukantianismus zu entkommen, also dem Ansatzpunkt des Philosophierens beim inneren Bewusstseinszirkel und der Selbstreflexion des 36 37 38 39

Habermas (1973 [1958]). Scheler (1987). Hartmann (1921). Hartmann (1925/26).

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Bewusstseins als Basis der Philosophie. In der Metaphysik der Erkenntnis hatte Hartmann zu zeigen versucht, wie man zugleich die Immanenz des Bewusstseins, für das die Objekte gegeben sind, respektieren kann und die Subjekt-Objekt-Relation als eine Seinsrelation beobachten kann: „Hartmann hält die Subjekt-Objekt-Relation einer flankierenden Betrachtung für fähig“ – wie Plessner in seiner späteren Besprechung von Das Problem des geistigen Seins dieses Theorem von Hartmanns realistischen Erkenntnistheorie resümierte.40 Dieses Theorem ermöglicht es Scheler wie Plessner in ihrem philosophisch-anthropologischen Projekt, nicht mit der Rationalität des Verstandes anzufangen (der Selbstreflexion der Subjektivität), sondern am Objektpol, bei den lebendigen Dingen, die sie in ihrer Korrelation mit einer entsprechenden Umwelt von der Seite her beobachten, also gleichsam einer Vorform der Subjekt-Objekt-Relation. Plessner hatte ja bei seinem Marburger Besuch das riesige Fernrohr in Hartmanns Arbeitszimmer bemerkt, das Hartmanns gleichsam fern distanzierten Blick auf die Phänomene und Relationen prägte41. Es ist dieser Distanzblick auf den lebendigen Körper, in seiner Umwelt im Kosmos, der auch die Philosophische Anthropologie prägt. Das andere Hartmann-Theorem, das ontologische, ist tief mit dem epistemologischen verknüpft. Wenn die epistemische Relation zwischen Wissendem und Gewusstem immer auch bereits eine Seinsrelation zwischen etwas und einem anderen ist, dann ist Epistemologie in der Ontologie fundiert und nicht umgekehrt. Das Hartmannsche Theorem von der ontologischen Schichtung des Seins spielte eine zentrale und strategische Rolle in der Philosophischen Anthropologie Schelers und Plessners. Um einen adäquaten Begriff des Menschen zu erreichen, folgen sie Hartmanns Gedanken von der Emergenz der Schichten, der nichtteleologischen Emergenz von Schichten mit je eigenem kategorialen Novum bei gleichzeitiger Wiederkehr und Abwandlung bereits gegebener Kategorien vorgelagerter Schichten, ein Theorem, das Hartmann in „Kategoriale Gesetze“ entwickelt hatte und dann später in seinem Hauptwerk Der Aufbau der realen Welt 42 ins Zentrum rückte. Er beschreibt die Realität als eine Vielzahl von Seinsschichten, nämlich der anorganischen Natur, der organischen Natur, des Psychischen und des Geistigen. Die Schichten sind nicht aufeinander rückführbar, jede hat ihre 40 Plessner (1979 [1933]), 68. 41 König u. Plessner (1994), 58. 42 Hartmann (1940).

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eigenen kategorialen Merkmale. Zugleich ist eine bestimmte Hierarchie, im Grunde eine doppelte Hierarchie, von unten nach oben und oben nach unten beobachtbar, in der eine höhere Schicht von der Existenz der niederen abhängt, aber zugleich als neue Schicht einen kategorialen Spielraum gegenüber der niederen hat. Dieser kategoriale Spielraum unterscheidet die höheren Schichten in ihrer relativen Autonomie von den niederen (erste Hierarchie nach oben), wobei die letzteren aber die stärkeren, weil tragenden sind (zweite Hierarchie nach unten). Jetzt kann man die Affinität von Schelers und Plessners Konstruktion der Philosophischen Anthropologie durch Hartmanns Augen sehen. Beide starten die Operation nicht beim denkenden Ich, beim Subjektpol, sondern am Objektpol beim lebendigen Ding. Sie erreichen beide den Begriff des Menschen im Umweg über eine Ontologie des materiellen und dann des lebendigen Dinges. Ihre Analyse benutzt das Theorem der kategorialen Schichtung, um im Gegenzug zum Naturalismus, besonders des Darwinismus, einen Reduktionismus der höheren Schichten auf die niederen zu vermeiden. Die erste Unterscheidung ist die zwischen unbelebter und belebter Materie, die zweite die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten belebter Dinge (besonders zwischen Pflanzen und Tieren), die dritte Unterscheidung die innerhalb der Primaten (der zwischen Affen und Menschen). Die jeweils höhere Schicht ruht jeweils auf der vorhergehenden und ist durch sie bedingt, aber die höhere Schicht hat ihre eigenen Kategorien. Der Ansatz beginnt also am Objekt-Pol und kommt von unten durch eine nicht-teleologische Stufung gleichsam im Umweg zu einem komplexen Begriff des Menschen und seiner Sonderstellung in der Natur.43 Nun die Probe auf den inneren Zusammenhang von Neuer Ontologie und Philosophischer Anthropologie. Man kann die Neue Ontologie sehen in Schelers Philosophischer Anthropologie: Geist, als ein kategoriales Novum, ruht in seiner Realisierung auf der nächst niederen Schicht, der praktischen Intelligenz, und auf allen anderen Stufen wie assoziatives Gedächtnis, Instinkt, Drang, aber Geist als Geist hat seine spezifische Operationsweise, die Operation der Negation, sodass der Mensch als Komplex der Schichten von Drang bis Geist ein Neinsagenkönner ist – das Nein ist ein kategoriales Novum des Geistes, die Könnensenergie hingegen im „Neinsagen“ stammt vom Drang. Noch deutlicher ist der innere Zusammenhang von Neuer Ontologie und Philosophischer 43 Zur Erläuterung von Schelers Vorgehen in seiner Philosophischen Anthropologie durch Hartmanns „Kategoriale Gesetze“ vgl. Wunsch (2012).

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Anthropologie in Plessners Begriffsfügung „exzentrische Positionalität“, die er für den Begriff des Menschen vorschlägt. Sieht man genau hin, ist dieser Schlüsselbegriff der Philosophischen Anthropologie ein integrierender Schichtenbegriff. Er enthält die Ebene des Anorganischen, des Materiellen – und zwar im Begriff der „Position“: Jedes Ding ist eine Raumzeitstelle im Kosmos. Davon abgehoben ist die Vitalschicht als „Positionalität“, was festhalten soll, dass lebendige Dinge in Raum und Zeit als Raum- und Zeitphänomene gesetzt sind, die in der RaumZeitbehauptung einem neuen Determinationstyp folgen. Davon verschieden ist in dem Begriff „exzentrische Positionalität“ eingefaltet die „zentrische Positionalität“, womit die tierische Phänomenalität bezeichnet werden soll: Zentrische Positionalität bezeichnet die psychische Schicht, das Phänomen des Bewusstseins. Mit „exzentrischer Positionalität“ ist schließlich die Phänomenalität des Geistes erreicht – die Kategorie des Abstandes, der Distanz, der Negation im Verhältnis zu allen anderen vorhergehender Schichtung. Am Begriff der „exzentrischen Positionalität“, der die Schichtenverklammerung aufzeigt, sieht man am deutlichsten die innere theoriesystematische Verbundenheit von Neuer Ontologie und Philosophischer Anthropologie, von Hartmann einerseits, Scheler und Plessner andererseits – und die Abgrenzung aller drei zu Heidegger dritterseits. Plessner hat Anfang 1928, als er die Differenz seines Ansatzes der Stufen des Organischen und der Mensch zu Heideggers Sein und Zeit brieflich ausführlich erläutert, das selbst bemerkt, wenn er diese Differenz schichtenontologisch charakterisiert: „Bei ihm [Heidegger] erscheinen […] die Strukturen […] in Einer [!] Schicht, während ich darin weiter zu sein glaube, indem sich die Strukturen auf verschiedene Schichten verteilen und der Mensch (Dasein) die Schichten in sich enthält – was Heidegger verborgen bleiben muß.“44 Exzentrische Positionalität ist also ein Begriff, der ohne Hartmann so nicht möglich gewesen wäre, auf den dieser selbst aber nicht verfallen ist – weil er anders als Scheler und Plessner im Schwerpunkt primär keine Philosophische Anthropologie verfolgte.45 Die Philosophische Anthropologie ist – am deutlichsten in der vorausgesetzten philosophischen Biologie – auf die 44 Plessner an Josef König, 22. 2. 1928, in: König u. Plessner (1994), 181. – Zur Diskussion, inwiefern Heidegger für den interessanten Moment seiner erst viel später veröffentlichten Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik von 1929/30 systematisch zum Ansatz der Philosophischen Anthropologie zu rechnen ist: Wunsch (2010a). 45 Zu Hartmanns Reflexionen in Richtung einer Philosophischen Anthropologie: Hartmann (1955 [1944]).

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Ontologie verwiesen, denn: „Der Mensch steht nicht auf sich selbst, sondern auf einem breiten Gefüge von Seinszusammenhängen, die weit entfernt sind, die seinigen zu sein, und auch ohne ihn bestehen.“46 Umgekehrt ist die Philosophische Anthropologie der paradigmatische Fall der Neuen Ontologie, weil sie es ist, die am komplexesten ontischen Phänomen – dem Menschen – das Durchlaufen von Kategorien, die Abwandlung, das Novum von Kategorien aufweist und damit zugleich die reale Voraussetzungsinstanz im Kosmos ausweist, die reflexiv Neue Ontologie betreiben kann.

III. Die Kölner Konstellation in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts – Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie als eigener Theorietyp Die Geschichte der Philosophischen Anthropologie ist ein Drama, das in der Rivalität von Scheler und Plessner und später von Plessner und Gehlen sich entfaltete und wegen dieser Rivalität auch seit den 70er Jahren in der Versenkung verschwand. Damit verschwand auch ihre Schlüsselhintergrundfigur – Nicolai Hartmann, ohne den die Kölner Konstellation sich so nicht gebildet hätte. Rekonstruiert man aber die Affinität der Denker in ihrer Rivalität, dann wird ihre Bedeutung sichtbar, dann lässt sich die Kölner Konstellation und das Paradigma der Philosophischen Anthropologie mit den anderen Theoriepotenzen der deutschsprachigen Philosophie, die in den wirbelnden Zwanziger Jahren der deutschsprachigen Philosophie entstanden und sich erfolgreich durchsetzten, ins theorie-vergleichende Verhältnis bringen: Die Marburger Konstellation (Heidegger, Bultmann) mit der Existenzphilosophie (produktiv weiterentwickelt z. B. durch die Differenzen von Heidegger und Jaspers hindurch später von Hannah Arendt); die Frankfurter Konstellation der Kritischen Theorie (Horkheimer, Adorno, Marcuse, Benjamin etc.); und der Wiener Kreis mit Carnap, Neurath und Wittgenstein, die den Logischen Positivismus entwickelten, aus der sich dann im amerikanischen Exil die Analytische Philosophie entfaltete. Vielleicht kann man sagen, dass die Kölner Konstellation zwischen 1920 und 1930, aus der das Theorieprogramm der Philosophischen Anthropologie entsprang, eine der produktivsten Denkorte dieser Epoche gewesen ist, 46 Hartmann (1942), 289.

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wenn man berücksichtigt, dass neben dem ehrgeizigen jungen Plessner mit Scheler und Hartmann zwei als philosophische Potenzen bereits anerkannte Philosophen dazugehörten. Weitere Forschung könnte vielleicht Licht bringen in dieses außergewöhnliche Kölner Kraftfeld, um die Leistungen dieser Denkerformation mit denen in Marburg, Frankfurt oder Wien zu jenem Zeitpunkt zu vergleichen – vermutlich handelt es sich um relevanzäquivalente Leitungen in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn man die theoriesystematische Verwandtschaft von Neuer Ontologie und Philosophischer Anthropologie erkennt, erkennt man diesen Theorieverbund auch als einen neuen Theorietyp im 20. Jahrhundert, unterschieden von anderen Denkrichtungen wie dem Naturalismus z. B. des evolutionsbiologischen Paradigmas, von der Phänomenologie, der Philosophischen Hermeneutik, der Kritischen Theorie und allen konstruktivistischen Ansätzen, vor allem in der sozialkonstruktivistischen Variante. Scheler, Hartmann und Plessner steuern auf etwas zu wie eine reflexiv moderne Theorie. Damit meine ich folgende Lage: Seit dem cartesianischen Dualismus entwickeln sich in immer neuen Schüben zwei Varianten der modernen Philosophie: entweder als Idealismus, von der Gestalt der Transzendentalphilosophie bis hin zu gegenwärtigen sozialkonstruktivistischen Ansätzen: demzufolge ist das Gegebene immer gegeben nach Maßgabe allein der kategorialen oder sprachlich-diskursiven Konstruktion; auf der anderen Seite des Dualismus entwickelt sich das moderne Denken als Naturalismus, von den verschiedenen Varianten des Materialismus und Empirismus bis hin zum alles durchdringenden Naturalismus der evolutionsbiologischen Aufklärung auch der menschlichen Monopole. Bereits der Neukantianismus war in der Philosophie eine idealistische Reaktion auf den Naturalismus des 19. Jahrhunderts. Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie teilen beide den Durchbruch zu einer reflexiv modernen Theorie, die den jeweiligen Radikalismus der beiden dualistischen Richtungen umgehen will: Hartmann, Scheler und Plessner wollen nicht dem Idealismus verhaftet bleiben, dessen Neo-Kantianismus sich (unter Abschottung vom Faktischen) auch in den sozialkonstruktivistischen Ansätzen fortsetzt – und sie wollen umgekehrt auch nicht die Ansprüche des Idealismus der modernen naturalistischen Wende des 19. Jahrhunderts preisgeben, wie es im reduktionistischen Verfahren des Denkens nicht nur bei Darwin, auch bei Marx, Nietzsche und Freud geschieht. Der Kniff, der Trick des neoontologischen und philosophisch-anthropologischen Paradigmas ist, die Wahrheit des modernen Idealismus und Konstruk-

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tionismus mitten in der Wahrheit des modernen Naturalismus aufzuweisen – zu retten. Hartmanns realistische Epistemologie des flankierenden Blickes auf die Subjekt-Objekt-Relation und seine Neue Schichtenontologie sind in der neuen Philosophischen Anthropologie bei Scheler und Plessner produktiv geworden, die damit Kernintuitionen von Hartmann zur Darstellung und sacherschließenden Durchführung gebracht haben. Insofern gilt: Wer der modernen Philosophischen Anthropologie eine neue Chance gibt, gibt auch bedeutenden Kernstücken der Hartmannschen Philosophie eine neue Chance.

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Kategoriale Gesetze. Zur systematischen Bedeutung Nicolai Hartmanns für die moderne philosophische Anthropologie und die gegenwärtige Philosophie der Person Matthias Wunsch Es gehört zu den Besonderheiten der modernen philosophischen Anthropologie, dass ihre beiden Begründer – Max Scheler und Helmuth Plessner – Vertreter von ontologischen Stufenmodellen sind. Plessner zeigt dies schon im Titel seines Hauptwerks an: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928);1 und Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) zufolge fasst der Mensch „alle Wesensstufen des Daseins überhaupt, und insbesondere des Lebens, in sich zusammen“.2 Die Idee von ontologischen Stufenmodellen reicht zwar bis zu Platon zurück. Doch als ihr Neubegründer im 20. Jahrhundert muss Nicolai Hartmann gelten. Hartmann war seit 1925 der neben Scheler zweite Ordinarius in Köln, wo auch Plessner als Privatdozent tätig war. Der für seine Stufen- und Schichtenlehre grundlegende Aufsatz ist 1926 unter dem Titel „Kategoriale Gesetze. Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorienlehre“ in dem von Plessner herausgegebenen Philosophischen Anzeiger erschienen.3 Im Folgenden möchte ich für zwei Thesen argumentieren – die eine hängt mit den systematischen Hintergründen der modernen philosophischen Anthropologie der 1920er Jahre zusammen, die andere betrifft aktuelle Fragen der Philosophie des Geistes und der Person. Die erste, historisch-systematische These besagt, dass Hartmanns Kategorienlehre die entscheidende ontologische Basis für die moderne philosophische Anthropologie liefert. In der philosophiegeschichtlichen Forschung zur Anthropologie hat die Rolle Hartmanns zwar inzwischen Beachtung gefunden,4 die genannte These ist aber bisher nicht ausgearbeitet worden. 1 2 3 4

Plessner (1928). Scheler (1928), 16. Hartmann (1926). Siehe vor allem Fischer (2008).

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– Wendet man den Blick in die Gegenwart, so ist zu bemerken, dass die Überlegungen Hartmanns praktisch keinen Eingang in die zeitgenössischen Debatten finden und ontologische Stufenmodelle kaum eine Rolle mehr zu spielen scheinen. Gleichwohl denke ich und dies ist meine zweite These, dass Hartmanns Ansatz auch für die heutige philosophische Diskussion systematisch fruchtbar sein kann, und zwar überall dort, wo ein Standort jenseits von strikt naturalistischen sowie von idealistischen und teleologischen Auffassungen gesucht wird. Das ist beispielsweise in wichtigen Strömungen der analytischen Philosophie des Geistes und der Person der Fall. Ich werde darauf im zweiten Abschnitt des Aufsatzes zurückkommen. Im nun folgenden ersten Abschnitt werde ich mich auf die ontologische Bedeutung Hartmanns für die Stufenmodelle der modernen philosophischen Anthropologie konzentrieren.5 Auf Seiten der Anthropologie werde ich mich dabei auf Schelers Konzeption beschränken.

I. In Die Stellung des Menschen im Kosmos entwickelt Scheler mit Gefühlsdrang, Instinkt, assoziativem Gedächtnis und praktischer Intelligenz eine viergliedrige „Stufenfolge“ von Kräften bzw. Fähigkeiten des Lebendigen.6 Während Pflanzen allein der ersten Stufe angehören, gibt es einige Tiere, etwa nicht-menschliche Primaten, die alle vier Wesensstufen instantiieren. Das zieht eine wichtige anthropologische Konsequenz nach sich: Ob sich Mensch und Tier wesentlich unterscheiden, hängt davon ab, dass es eine weitere Wesensstufe gibt, der nur der Mensch angehört. Scheler nimmt eine solche Stufe an und konzipiert sie vom „Geist“ her. Dieser sei ein Prinzip, das „außerhalb alles dessen [steht], was wir ,Leben‘ im weitesten Sinn nennen können“ und zeichnet sich durch seine Unabhängigkeit vom Organischen aus.7 Demnach kommt über die vier Stufen des Lebendigen hinaus beim Menschen mit dem Geist eine weitere Stufe hinzu, die aber keine Stufe des Lebendigen ist, sondern dem Leben gerade entgegengesetzt ist. Gegen diese Konzeption liegen vor allem zwei Einwände nahe. Sie sind schon kurz nach dem Erscheinen der Stellung des Menschen im Kosmos 5 6 7

Eine ausführlichere Fassung dieser Überlegungen findet sich in Wunsch (2011). Scheler (1928), 12 ff. Scheler (1928), 31 f.

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erhoben worden und gehören bis heute zur Standardkritik an Schelers Anthropologie. Der erste stammt von Ernst Cassirer und besagt, Scheler erneuere mit seiner strikten Unterscheidung zwischen Geist und Leben den cartesianischen Dualismus und erbe damit auch die für diesen charakteristischen Probleme.8 Der zweite Einwand stammt von Martin Heidegger und richtet sich gegen den eingangs genannten Gedanken Schelers, dass der Mensch alle Wesensstufen des Daseins überhaupt in sich zusammenfasst. Heidegger nennt dies „einen Grundirrtum der Schelerschen Position“.9 Wer die Stufenmetaphorik verwende, laufe Gefahr, strukturell nur das Additionsmodell der animal rationale-Tradition zu perpetuieren, das den Menschen auf ontologisch unreflektierte Weise als Leben plus Vernunft ansetze.10 Die Antwort auf diesen zweiten Einwand ist relativ einfach: Was er moniert, ist sachlich zutreffend – aber er geht an Schelers Position vorbei. Dieser bemerkt selbst: „Der Mensch ist nicht Summierung von ,Geist‘ und ,Leben‘ […] (richtig darin Heidegger: Mensch ist nicht Vernunft + Leben)“.11 Das anthropologische Stufenmodell, das Scheler im Auge hat, ist keinem Additionsmodell verpflichtet, sondern steht auf der komplexen ontologischen Grundlage, die zuvor von Nicolai Hartmann entwickelt und erstmals in dem eingangs erwähnten Aufsatz „Kategoriale Gesetze“ expliziert wurde.12 Anhand dieses Textes, der im Jahr vor Schelers Darmstädter Vortrag über „Die Sonderstellung des Menschen“ (1927) erschien, lässt sich verdeutlichen, dass auch der erste Einwand gegen Scheler, Cassirers Dualismusvorwurf, auf einem Missverständnis beruht. Um Scheler gegen diesen Vorwurf zu schützen, muss man seinen GeistLeben-Dualismus weder leugnen noch aus seiner Anthropologie ausgrenzen.13 Scheler selbst bezeichnet seine Position explizit als einen „Dualismus“14 – allerdings sind Geist und Leben bei ihm keine carte-

8 9 10 11 12

Cassirer (1930), 194. Heidegger (1929/30), 283; vgl. ebd., 403. Vgl. dazu Heidegger (1927), 48, 50. Scheler (1987), 55. Scheler hat Hartmanns Text frühzeitig rezipiert, wie sich dem auf Dezember 1926 datierten Vorwort zur dritten Auflage seines Formalismus-Buchs entnehmen lässt. Scheler (1926a), 19 Anm. 2. 13 Ersteres ist die Option von Fischer (2008), 529, 552 f. Für letzteres votiert Krüger (2009), 156. 14 Scheler (1987), 143, 175.

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sianischen Substanzen, sondern Kategorien, die „beiden irreduziblen Grundkategorien“.15 Was das bedeutet, lässt sich am besten mit Blick auf den genannten Aufsatz Hartmanns klären. Hartmann arbeitet dort eine Theorie von Kategorienschichten mit verschiedenen Typen von Gesetzen heraus, die (i) die Geltungsweise von Kategorien sowie (ii) die Binnenverhältnisse innerhalb von Kategorienschichten betreffen und (iii) die Art der Schichtung der Kategorien sowie (iv) die Abhängigkeiten zwischen Kategorien verschiedener Schichten regeln. Unter jeden der vier Gesetzestypen fallen wiederum vier Gesetze, sodass mit Hartmann 16 kategoriale Gesetze zu unterscheiden sind. Um zu zeigen, inwiefern Cassirers Schelerkritik ins Leere läuft, ist zunächst das erste kategoriale Gesetz zu beachten, das „Gesetz des Prinzips“. Es besagt, dass jede Kategorie kein anderes Sein als ein „Prinzip-Sein“ hat und dieses Prinzip-Sein darin besteht, dass die Kategorie „für bestimmte Züge des ihr zugehörigen Konkretums ,gilt‘“, dieses „determiniert“.16 Wenn Scheler Geist und Leben als Kategorien fasst, so heißt dies demnach, dass er sie als Prinzipien konzipiert. Von daher ist es nicht überraschend, obwohl in der Forschung bisher nicht hinreichend bedacht, dass Scheler bei der Einführung des Geistbegriffs in Die Stellung des Menschen im Kosmos durchgängig vom Geist als einem „Prinzip“ spricht und „Leben“ und „Geist“ dort auch später als „Prinzipien“ bezeichnet.17 Sein Dualismus ist daher kein Substanzen-Dualismus wie der Descartes’, sondern ein Prinzipien-Dualismus. Zu dessen Kern gehört der Gedanke, dass das Geistprinzip für „eine echte neue Wesenstatsache [steht], die als solche überhaupt nicht auf die ,natürliche Lebensevolution‘ zurückgeführt werden kann“.18 Scheler deutet damit an, dass er sich gegen jede Konzeption wendet, die meint, den Gehalt des Geistprinzips auf eine reduktionistische Weise naturalisieren zu können. Mit Hartmann, der die Schichten des anorganischen, organischen, psychischen und geistigen Seins unterscheidet, müsste man statt von einem Prinzipien-Dualismus sogar von einem Prinzipien-Pluralismus sprechen. Hartmann zufolge überlagern sich die genannten Schichten in konkreten Seinsgebilden, die je nach Schichtenanzahl verschiedenen Stufen angehören. Korrelativ zu den Schichten handelt es sich bei diesen 15 16 17 18

Scheler (1928), 65; vgl. auch ebd., 48, 56 und 63. Hartmann (1926), 216. Scheler (1928), 31 f., 62. Scheler (1928), 31.

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Stufen um: materielles Ding, Lebewesen, Lebewesen mit Bewusstsein und Mensch.19 Dass der Mensch diese Stufen, wie Scheler sagt, in sich zusammenfasst, bedeutet, dass er auch ein materielles Ding, ein Organismus und ein bewusstes Lebewesen ist. Cassirer geht davon aus, dass sein Vorwurf des Substanzen-Dualismus gegen Scheler einen entscheidenden Anhaltspunkt darin hat, dass dieser den Geist für „von Hause aus ohnmächtig[]“ hält und von dem „ursprünglich ohnmächtigen Geist[]“ spricht.20 Ein Geist, der nicht nur prinzipiell außerhalb von allem Leben stehe, könne, wenn er überdies noch ohne alle Macht sei, keinerlei Wirkung und Einfluss auf das Leben entfalten. Wie kann ihm, so fragt Cassirer, auch nur eine „Hemmung“ oder „Stauung der Lebenskräfte gelingen, wenn er von Hause aus ein schlechthin Machtloses wäre?“21 Mit dieser Frage unterstellt Cassirer bereits, dass der Geist als Substanz bzw. „reale Seinspotenz“ aufzufassen ist.22 Doch indem er Scheler damit auf ein cartesianisches Abstellgleis schiebt, verfehlt er dessen Thema. Denn die These der Ohnmächtigkeit des Geistes ist nicht, wie Cassirer irrtümlich meint, auf das Problem der geistigen Verursachung gemünzt, sondern betrifft vielmehr die Frage des kategorialen Status des Geistes in der Anthropologie. Der kategoriale Status des Geistes lässt sich mit Blick auf Hartmanns Konzeption der schichtenübergreifenden Dependenzverhältnisse zwischen kategorialen Prinzipien verdeutlichen. Von zentraler Bedeutung dabei ist das von Hartmann sogenannte kategoriale Grundgesetz: „Die höheren Kategorien setzen immer eine Reihe niederer schon voraus, sind 19 Dieser Unterschied ist zwar der Sache nach schon in Hartmann (1926), 211 f., präsent; doch die systematischen Konsequenzen, die er für seine Ontologie hat, hat Hartmann wohl erst in seinem späteren Werk Der Aufbau der realen Welt völlig erfasst. Siehe Hartmann (1940), 448 – 452. Hartmann gibt dort allerdings (S. 452) eine „Stufenfolge der Gesamtgebilde“ an, die von der oben genannten abweicht: „Sache, Lebewesen, Mensch, Gemeinschaft“. Ich halte das für problematisch, da zu den Schichten, die sich im Menschen überlagern, neben dem seelischen auch das geistige Sein gehört. Passender erscheint es mir daher, den Menschen als vierte Stufe zu verstehen und dann mit Hartmanns „Naturphilosophie und Anthropologie“ von „drei Grundgestalten“ zu sprechen, „in denen das Phänomen ,Mensch‘ sich darstellt […]: der Einzelmensch, die Verbundenheit der Einzelnen in der Gemeinschaft und die zeitliche Kontinuität dieser Verbundenheit über die Einheit der simultanen Gemeinschaft hinaus.“ Hartmann (1944), 220. 20 Scheler (1928), 46 u. 55. 21 Cassirer (1930), 194. 22 Cassirer (1930), 199.

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aber ihrerseits in diesen nicht vorausgesetzt“.23 Hartmann erläutert dieses einseitige Abhängigkeitsverhältnis, indem er erklärt, die höhere Kategorie sei „also allemal die bedingtere, abhängigere und in diesem Sinne schwächere“.24 Scheler bringt diesen Gedanken in Die Stellung des Menschen im Kosmos für die höhere Kategorie des Geistes im Vokabular von Macht und Ohnmacht zum Ausdruck: „Mächtig ist ursprünglich das Niedrige, ohnmächtig das Höchste“.25 Seine Rede von der Ohnmacht des Geistes hat ihren systematischen Hintergrund demnach in Hartmanns kategorialem Grundgesetz. In der Formulierung, dass die höheren Kategorien die niederen einseitig voraussetzen, lässt das kategoriale Grundgesetz allerdings eine Reihe von verschiedenen Interpretationen zu. Einer schwachen Lesart zufolge könnte es so verstanden werden, dass alle Wesen, die Geisteskategorien instantiieren, auch Lebenskategorien instantiieren, aber nicht umgekehrt. Stärkere Lesarten hingegen könnten besagen, dass Lebenskategorien zudem auf Geisteskategorien hin angelegt sind oder dass die Beschaffenheit der Geisteskategorien weitgehend von der der Lebenskategorien abhängig ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist es daher wichtig, dass Hartmann weitere Abhängigkeitsgesetze formuliert, denen er eine „einschränkende Rolle“ gegenüber dem kategorialen Grundgesetz zuweist.26 Das erlaubt es, die Frage nach der Art und Reichweite der Abhängigkeit der höheren von den niederen Kategorien zu klären, wodurch sich dann besser verstehen lässt, warum Cassirers Kritik fehlgeht. Eine erste Einschränkung des kategorialen Grundgesetzes wird durch das Gesetz der Schichtenselbstndigkeit mit dem Hinweis gegeben, dass die niedere Kategorienschicht zwar Grundlage der höheren ist, aber ihr kategoriales Sein „in diesem Grundlage-Sein nicht auf[geht]“ und sie „auch ohne Hinzutreten der höheren eine selbständig determinierende Prinzipienschicht“ ist.27 Hartmann konzipiert dieses Gesetz als Absage an alle teleologischen Ansätze: Die niedere Seinsschicht „hat in sich keine Bestimmung zum höheren Sein“.28 Während das Verhältnis von niederen 23 Hartmann (1926), 248. Vgl. die ähnliche Formulierung in Hartmanns Ethik: „die höheren Prinzipien sind von den niederen abhängig, nicht aber umgekehrt“, Hartmann (1925), 598. 24 Hartmann (1926), 248. 25 Scheler (1928), 52. 26 Hartmann (1926), 249. 27 Hartmann (1926), 248. 28 Hartmann (1926), – Cassirer selbst scheint mit einer solchen Option zu liebäugeln, indem er gegen Scheler die (rhetorische) Frage richtet, ob „nicht viel-

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und höheren Kategorien hier negativ als nicht-teleologisch gekennzeichnet wird, wird es im Gesetz der Materie zweitens positiv bestimmt, und zwar als Verhältnis von Materie und Form: „Jede niedere Kategorie ist für die höhere, in der sie als Element wiederkehrt, nur Materie“.29 Die höhere Formung ist zwar durch die „Bestimmtheit und Eigenart der Materie“ eingeschränkt, gleichwohl ist sie aber, wie abschließend das Gesetz der Freiheit festhält, eine „durchaus neuartige, inhaltlich überlegene Formung.“30 Das bedeutet, die höheren Kategorien können die niederen zwar nicht „aufheben“, „abändern“ oder „umformen“, aber sie können sie „überformen“ oder „überbauen“.31 Dass die Abhängigkeit der höheren von den niederen Kategorien beschränkt ist, das kategoriale Grundgesetz (Gesetz der Stärke) durch die zuletzt erwähnten Gesetze also eine „Begrenzung“ erfährt, hat Hartmann auch schon in seiner 1925 erschienenen Ethik herausgestellt.32 Jede „höhere Determination“, so heißt es dort, ist „eo ipso autonom und kategorial ,frei‘, ungeachtet ihres Schwächerseins und ihrer materialen Abhängigkeit. Sie kann wohl nichts ,gegen‘ die niedere ausrichten – und nur das bedeutet deren Stärkersein –, wohl aber mit ihr und durch sie alles“.33 Diese kategorialanalytischen Überlegungen Hartmanns werfen erneut Licht auf die ontologischen Grundlagen von Schelers Anthropologie. Sie implizieren, dass die Manifestation eines höheren Prinzips und seine Autonomie die niederen Prinzipien nicht außer Kraft setzen können; mehr noch: Jede höhere Seinsform, so Scheler selbst, „ver-

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leicht das Leben doch etwas anderes und etwas mehr als bloßer Drang, als ein Trieb ins Unbestimmte und Ziellose“ ist, ob „ihm nicht vielleicht ursprünglich der Wille inne[wohnt], zu seiner eigenen Selbstdarstellung, zu seiner eigenen Objektivität, zu seiner eigenen ,Sichtbarkeit‘ zu gelangen?“ Cassirer (1930), 193 f. Hartmann (1926), 248. Hartmann (1926), 248 f., 251. Hartmann (1926), 248, 250; Hartmann unterscheidet in „Kategoriale Gesetze“ (1926) noch nicht zwischen Überbauung und Überformung. Das hängt damit zusammen, dass er dort noch der Auffassung ist, dass jede niedere Kategorie auf der höheren Schicht wiederkehrt; vgl. Hartmann (1926), 234. Zur Revision dieser Position siehe Hartmann (1933), 68, und Hartmann (1940), VII. Zur Differenz zwischen Überbauung und Überformung vgl. etwa Hartmann (1940), 440 f., 444. Hartmann (1925), 599. Hartmann (1925), 682; Hervorhebung M.W. Vgl. Hartmann (1926), 251: Die höhere Determination kann „niemals gegen“ die von den niederen Kategorien ausgehende Determination gehen.

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wirklicht sich nicht durch ihre eigenen Kräfte, sondern durch die Kräfte der niedrigeren. Der Lebensprozeß, an sich ein gestalteter Vorgang in der Zeit von eigener Struktur, wird verwirklicht ausschließlich durch die Stoffe und Kräfte der anorganischen Welt. Ganz analog steht der Geist zum Leben“.34 Da das, was sich verwirklicht, wenn sich die höhere Form verwirklicht, gerade ihre Eigengesetzlichkeit ist, bietet es sich hier mit Hartmann an, zwei verschiedene Arten von Selbstndigkeit zu unterscheiden:35 (i) die Selbständigkeit der niederen gegenüber den höheren Kategorien, die im kategorialen Grundgesetz und im Gesetz der Schichtenselbständigkeit festgehalten ist, das heißt die einseitige Abhängigkeit der Existenz der höheren Kategorien von der niederen Schicht; (ii) eine Selbständigkeit umgekehrt der höheren gegenüber den niederen Kategorien, die das Gesetz der Materie und das Gesetz der Freiheit zum Ausdruck bringen, das heißt die Selbständigkeit, die in der Autonomie der höheren Kategorien besteht, für die die niedere Schicht das Medium der Verwirklichung ist. Cassirer liest Scheler einseitig als Theoretiker der ersten Art der Selbständigkeit, blendet in seiner Kritik aber aus, dass dieser mit Hartmann auch ein entschiedener Verfechter der zweiten Art der Selbständigkeit ist. Scheler schreibt etwa in Die Stellung des Menschen im Kosmos: „Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen. So ist der Mensch als Geistwesen das sich selber als Lebewesen und der Welt überlegene Wesen.“36 Diese Überlegenheit, so ist mit Scheler hinzuzufügen, ist jedoch keine vom Menschen als Lebewesen abgetrennte, sondern verwirklicht sich und gewinnt ihre Gestalt allein im und durch das Leben.37 Cassirer ist es in seiner Auseinandersetzung mit Schelers Anthropologie nicht gelungen, diese lebensgebundene Selbständigkeit des Geistes gegenüber dem Leben in den Blick zu bekommen. 34 Scheler (1928), 52. 35 Zur Unterscheidung der beiden Arten von Selbständigkeit vgl. Hartmann (1926), 256, und Hartmann (1946), 81. 36 Scheler (1928), 38. 37 Vgl. Scheler (1928), 62: „[…] den Geist aber von seiner einfachsten Aktregung an bis zur Leistung eines Werkes, dem wir geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und zu verwirklichen vermag das Leben allein“.

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Schließlich vermag Cassirers Kritik an Schelers Anthropologie noch aus einem weiteren Grund nicht zu überzeugen. Sie basiert auf einer Fehleinschätzung der systematischen Bedeutung von Schelers These der Ohnmächtigkeit des Geistes. Cassirer hält diese These deshalb für problematisch, weil sie angeblich einer Konzeption der Einflussnahme des Geistes auf den Lebensprozess im Wege steht. Damit ist ihr systematischer Ort jedoch von vornherein verkannt. Dass die These der Ohnmächtigkeit des Geistes nicht, wie Cassirer irrtümlich meint, das Problem der geistigen Verursachung betrifft, geht aus dem Kontext hervor, in den Scheler sie stellt. Denn er bietet sie als systematische Alternative gegen die von ihm sogenannte „klassische Theorie“ vom Menschen auf, die seines Erachtens „fast die gesamte Philosophie des Abendlandes“ von der Antike bis zu Hegel beherrscht.38 Die Grundthese dieser Theorie besteht darin, dass dem Geist „nicht nur eine eigentümliche Wesenheit und Autonomie, sondern auch Kraft und Tätigkeit (moOr poigtijºr), ja das Höchstmaß von Macht und Kraft“ zukommt,39 sodass er als kategorialer Gestaltungsgrund der niederen Schichten gelten kann.40 Es ist offenbar diese These, gegen die Scheler mit seiner Konzeption der Ohnmächtigkeit des Geistes Einspruch erhebt. Ohnmächtig ist der Geist dabei aber nicht in Bezug auf die Entitten der niederen Schichten, sondern hinsichtlich der kategorialen Struktur und Gesetzlichkeit dieser Schichten. 41 Nur insofern er auf diese Struktur und Gesetzlichkeit keinen Einfluss hat, ist er ohnmächtig. Die Ohnmächtigkeitsthese redet also nicht einem Epiphänomenalismus in der Philosophie des Geistes das Wort, sondern richtet sich gegen solche Thesen wie die Kants, dass der Verstand die Autorität besitzt, durch seine Kategorien „der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben und sie so gar möglich zu machen“.42 Es passt gut in dieses Bild, dass Scheler an der einzigen Stelle von Die Stellung des Menschen im Kosmos, an der er sich expressis verbis auf Nicolai Hartmann bezieht, diesen als Kronzeugen gegen die klassische Theorie des Menschen aufbietet. Er zitiert ihn mit den Worten: „Die höheren Seins- und Wertkategorien sind von Hause aus die schwächeren“.43 Nach 38 Scheler (1928), 50. 39 Scheler (1928), 45. 40 Scheler (1928), 51. Gegen die klassische Theorie vom Menschen hat sich Scheler, wenn auch nicht unter diesem Etikett, auch in „Mensch und Geschichte“ gewandt; siehe Scheler (1926b), 125 ff. 41 So Hartmann (1942), 276; vgl. Hartmann (1940), 475. 42 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 159. 43 Scheler (1928), 51.

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den vorigen Ausführungen dürfte klar sein, dass es sich bei diesem Diktum um eine Variante von Hartmanns kategorialem Grundgesetz handelt. Die klassische Theorie des Menschen und des Geistes sowie die ihr korrelativen Positionen des Idealismus und der teleologischen Weltanschauung sind aus Schelers Sicht also Verstöße gegen das kategoriale Grundgesetz und die Selbständigkeit der niederen Schichten. Genau dies war auch das Resultat, zu dem Hartmann in seinem Aufsatz „Kategoriale Gesetze“ gelangt war.44 Bevor ich mich nun, wie eingangs angekündigt, der Frage nach der systematischen Relevanz von Hartmanns Stufenlehre für die Gegenwartsphilosophie zuwende, möchte ich die bisherigen Überlegungen kurz zusammenfassen. Erstens ist Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos als eine anthropologische Konkretisierung von Hartmanns Kategorienlehre zu verstehen;45 und zweitens wird vor dem Hintergrund dieser Kategorienlehre deutlich, dass zentrale Einwände gegen Schelers Anthropologie, wie die von Heidegger und Cassirer vorgebrachten, auf Missverständnissen beruhen.

II. Wenn Hartmanns Kategorienlehre, wie sich gezeigt hat, eine systematische Unterstützung für die Position der philosophischen Anthropologie der 1920er Jahre darstellt, wirft dies die Frage auf, ob sie darüber hinaus auch von systematischer Bedeutung für bestimmte Bereiche der Gegenwartsphilosophie sein kann. In Betracht hierfür käme meines Erachtens die analytische philosophy of mind. Diese ist zwar durch eine naturalistische bzw. materialistische Grundtendenz geprägt; innerhalb dieser Grundtendenz sind allerdings starke antireduktionistische Strömungen auszumachen. Die in diesem Zusammenhang bekannteste Position ist vermutlich Donald Davidsons Anomaler Monismus mit ihrem Schlüsselbegriff der Supervenienz. 46 Bisher gibt es neben dem im vorlie44 Siehe Hartmann (1926), 253 – 255. 45 Damit, dass Schelers Anthropologie als eine solche Konkretisierung zu verstehen ist, meine ich auch, dass sie so verstanden werden sollte. Denn mit einem solchen Verständnis lässt sich ihrer meines Erachtens nachteiligen und hier bewusst ganz ausgesparten Tendenz entgegenwirken, in eine Metaphysik des Absoluten abzudriften. Auf diesbezügliche Unterschiede zwischen Scheler und Hartmann weist etwa Ehrl (2003), 11 f., hin. 46 Siehe vor allem Davidson (1970).

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genden Band publizierten Text von Daniel Dahlstrom nur einen Aufsatz, und zwar von Ingvar Johansson, der Hartmanns Kategorienlehre mit Supervenienzansätzen der philosophy of mind in Verbindung bringt.47 An diese Überlegungen sollten meines Erachtens weitere Forschungen anknüpfen, zumal Supervenienztheorien oft als epiphänomenalistische Theorien kritisiert werden, das heißt als Theorien, die das Phänomen der mentalen Verursachung nicht erklären können,48 und dies ja ein Vorwurf war, der auch gegen Hartmann erhoben worden war – wenn auch zu Unrecht, wie die Auseinandersetzung mit Cassirer gezeigt hat. Wird nach der möglichen systematischen Bedeutung von Hartmanns Kategorienlehre für die philosophy of mind gefragt, so scheint mir der Blick auf die Philosophie der Person allerdings genauso wichtig zu sein wie der auf Supervenienztheorien. Peter Strawson hat in seinem Buch Individuals (1959) den Meilenstein zum Personbegriff der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesetzt. Gegen die These Descartes’, dass Körper und Geist verschiedene Grundelemente der Wirklichkeit sind, nicht aber ihre als „Person“ bezeichnete Einheit, hat er für die logische Primitivität des Personbegriffs argumentiert: Mentale Zustände können „überhaupt nicht zugeschrieben werden, wenn sie nicht Personen zugeschrieben würden“, das heißt denselben Subjekten, denen auch körperliche Eigenschaften zugeschrieben werden.49 Anders gesagt: Die Subjekte von Bewusstseinszuständen können nicht als cartesianische Egos verstanden werden. Wenn der Personbegriff ein Grundbegriff ist, der „nicht als der Begriff eines beseelten Körpers oder einer in den Körper eingebetteten Seele zu analysieren“ ist,50 dann rückt er der Sache nach in den Mittelpunkt der philosophy of mind. Damit ist eigentlich der Weg für eine Ausprägung dieser Disziplin frei, in der deren Disziplinentitel mind tatsächlich durch einen vollwertigen Begriff des Geistes übersetzbar wäre. Doch dieser Weg ist, wenn ich richtig sehe, von der analytischen Philosophie noch zu wenig beschritten worden. Unter anderem mag das an einem Geburtsfehler von Strawsons Personbegriff liegen. Strawson bestimmt „Person“ als Begriff eines Typs von Entitäten, denen sowohl mentale Zustände als auch körperliche Eigenschaften zugeschrieben werden können. Er unterscheidet daher zwei Typen von Prädikaten: Person-Prädikate, kurz: „P-Prädikate“, die 47 48 49 50

Johansson (2001). Zentrale Beiträge zu dieser Debatte sind in Heil u. Mele (1993) versammelt. Strawson (1959), 131. Strawson (1959), 133.

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seitens der Entität, der sie zugeschrieben werden sollen, Bewusstsein voraussetzen, und „M-Prädikate“, die auch „korrekt auf materielle Körper angewandt werden, denen wir nicht im Traum Bewußtseinszustände zuschreiben würden“, wie „wiegt 5 kg“ oder „befindet sich im Wohnzimmer“.51 – Ein Einwand gegen Strawsons Personbegriff, den Harry Frankfurt erhoben hat, liegt auf der Hand: Da es „many entities besides persons“ gibt, „that have both mental and physical properties“, und zwar „animals of various lesser species“, ist Strawsons Personbegriff inadäquat.52 Um diesem Einwand Rechnung zu tragen, kann man sich an Hartmann halten. Strawson, so wäre dann einzuräumen, mag in ontologischer Hinsicht den cartesianischen Rahmen gesprengt haben, doch auf der Prädikat-Ebene lässt er einen Dualismus fortbestehen, der zu eng anmutet. Von Hartmann her wären Strawsons M-Prädikate und P-Prädikate als Ausdrücke für Eigenschaften zu verstehen, die verschiedenen Kategorienschichten zugeordnet sind. Dann zeigt sich aber, dass man mit zwei Typen von Prädikaten nicht auskäme, sondern zwei weitere bräuchte. Strawsons M-Prädikate müssten in solche für bloß materielle Körper und solche für Lebewesen unterteilt werden, sodass wir terminologisch von „M-“ und „L-Prädikaten“ sprechen könnten; und Strawsons P-Prädikate müssten in solche für Lebewesen mit Bewusstsein und in solche für geistige Lebewesen (Personen) eingeteilt werden, die wir terminologisch als „B-“ und „P-Prädikate“ auseinanderhalten können. Menschliche Personen wären dann solche Wesen, auf die die Prädikate aller vier Typen anwendbar sind. Nicht-menschliche Primaten beispielsweise würden dann nicht dazu gehören, da zwar B-Prädikate, aber nicht auch P-Prädikate auf sie anwendbar sind. Kandidaten für PPrädikate könnten nach dem gegenwärtigen Forschungsstand solche sein, die seitens der Akteure, denen sie zugeschrieben werden, kollektive Intentionalität oder eine propositionale Sprache voraussetzen. Überträgt man Strawsons Ansatz in den Kontext von Hartmanns Ontologie, so wäre also von vier Typen von Prädikaten auszugehen, die für Eigenschaftstypen stehen, die den vier Kategorienschichten – anorganisches, organisches, seelisches und geistiges Sein – zugeordnet sind. Entitäten, denen Prädikate von mehr als einem Typ zukommen, wären dann im Hartmannschen Sinne als geschichtet zu begreifen. Welchen Vorteil dieser Schritt in die Schichtenontologie bringt, kann man sich 51 Strawson (1959), 134 f. 52 Frankfurt (1971), 11.

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exemplarisch anhand des Person-Körper-Problems klar machen. Dieses lässt sich durch die Frage kennzeichnen, ob ich mit meinem Gehirn, oder besser gesagt, mit dem menschlichen Körper, dessen Organ es ist, identisch bin. Aus einer bestimmten materialistischen Sicht wäre die Frage mit „Ja“ zu beantworten. Im Rahmen der entsprechenden materialistischen Ontologie sind menschliche Personen und menschliche Körper keine voneinander unterschiedenen Entitäten. Ich halte diese Position nicht für richtig, sehe aber, warum sie verlockend sein mag: Ihre Annahme mag dem Eindruck geschuldet sein, dass die monistische Ontologie des Materialismus die einzige Alternative zu einer dualistischen Ontologie à la Descartes ist. Anders gesagt, man könnte sich zu der Auffassung gedrängt sehen, dass menschliche Personen nur dann von menschlichen Körpern verschieden sein können, wenn zu diesen Körpern etwas Immaterielles (wie eine res cogitans) hinzukommt, das sie allererst zu solchen Personen macht. Wer die cartesianische Ontologie ablehnt, scheint also auf die monistisch-materialistische verpflichtet zu sein. Dafür, dass dies jedoch nicht der Fall ist – die Preisgabe der Annahme einer immateriellen Substanz also nicht die Identität von menschlicher Person und menschlichem Körper impliziert –, hat im Rahmen der analytischen Philosophie Strawson mit seinem Nachweis der logischen Primitivität des Personbegriffs argumentiert. Allerdings bleibt Strawsons eigene Konzeption in einer wichtigen Hinsicht beschränkt. Sie klärt nicht, wie eine Ontologie der menschlichen Person im Einzelnen zu konzipieren wäre, die eine Alternative sowohl zur monistischen des Materialismus als auch zur dualistischen Descartes’ darstellt.53 Damit ist eine zentrale Aufgabe der zeitgenössischen Philosophie der Person benannt. Wer auf die Frage „Ist Herr N sein Körper?“ mit „Nein“ antworten will (was schon das Sprachgefühl nahelegt), muss doch immerhin einräumen, dass beide in einem sehr engen Zusammenhang stehen. Sie nehmen beispielsweise denselben Raum ein. Wie ist diese 53 In diese offene Flanke stößt beispielsweise Bernard Williams mit seinem Aufsatz „Sind Personen Körper?“ Er meint (meines Erachtens zu Recht), dass Strawson in dieser Titelfrage auf eine verneinende Antwort verpflichtet ist, hält selbst aber „Ja“ für die sachlich richtige Antwort und befürwortet bezüglich des PersonKörper-Problems damit einen monistischen Materialismus. Siehe Williams (1970). Allerdings liefert Williams keinen Beweis für seine These, sondern beschränkt sich auf den Versuch, vier Haupteinwände gegen sie zurückzuweisen. Diese Zurückweisung ist zudem, worauf ich hier nicht näher eingehen kann, nicht in jedem Fall überzeugend.

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Einheit in der Verschiedenheit, diese „unity without identity“ zu verstehen? 54 Auch in dieser Frage kommt man mit Hartmann voran, wie ich abschließend nur noch skizzieren kann. Für Hartmann ist die Ontologie der menschlichen Person ein Kernthema. Sein Grundgedanke ist, dass das spezifisch Menschliche nicht in den Kategorien des Anorganischen, des Organischen, des Seelischen oder des Geistigen aufgehen kann, „sondern erst in den besonderen Formen ihres Ineinandergreifens“.55 Bei diesen Formen handelt es sich um die Schichtungs- und Abhängigkeitsgesetze, die ich oben teilweise und auch nur mit Blick auf Schelers Anthropologie eingeführt habe. Der anthropologische Kern von Hartmanns Kategorienlehre scheint mir in dem schon angesprochenen Gedanken der lebensgebundenen Selbständigkeit des Geistes gegenüber dem Leben zu bestehen, in der, wie Hartmann selbst es formuliert, „Selbständigkeit in der Abhängigkeit“.56 Die Abhängigkeit ergibt sich strukturell aus der Wiederkehr von niederen Kategorien auf höheren Schichten sowie existentiell daraus, dass die niederen ohne die höheren Kategorien bestehen können, aber nicht umgekehrt. Die Abhängigkeit verhindert damit die Dissoziierung der Einheit des Menschen. Und die Schichtenontologie insgesamt bewahrt diese Einheit vor der Einebnung, das heißt vor jedweder monistischen Verkürzung. Dadurch schafft sie Raum für die Konzeption einer durch die Beschaffenheit der niederen Kategorien gebundenen geistigen Autonomie. Außerdem eröffnet die Schichtenontologie durch ihre Zurückweisung des ontologischen Monismus einen Rahmen, in dem verständlich wird, warum ein geistiges Lebewesen – wie eine menschliche Person – weder mit irgendeinem psychischen Lebewesen noch mit einem Organismus oder gar einem materiellen Körper identisch ist. Meines Erachtens müssen diese Nichtidentitäten des Lebendigen als Kern eines von Hartmann inspirierten Personbegriffs gelten.

54 Die Problemformel der „unity without identity“ stammt von Lynne R. Baker, die als eine der wichtigsten Vertreterinnen der zeitgenössischen Philosophie der Person gelten muss. Siehe Baker (1999) und ausführlich Baker (2000). Das Schlusskapitel ihrer jüngsten Monographie enthält zwei Abschnitte über „Ontological novelty“ und „Ontological levels“, Baker (2007), 234 – 237. Für eine Hartmann-Forschung, die den Anschluss an den zeitgenössischen philosophischen Diskurs sucht, wäre es ein Desiderat, Hartmanns Kategorienlehre in Beziehung zu Bakers allgemeiner Konstitutions-Auffassung zu setzen. 55 Hartmann (1944), 220. 56 Hartmann (1942), 231, vgl. ebd., 263.

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Helmuth Plessner, der neben Scheler zweite Begründer der modernen philosophischen Anthropologie, hat diesen Personbegriff auf den Punkt gebracht: „Das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person“.57 Die Einheit, die das „Person“ genannte Lebendige ausmacht – die inkompatiblen räumlichen Metaphern deuten es an –, ist ontologisch von einer dreifachen Nichtidentität geprägt. Das Lebendige, das außer dem Körper als Blickpunkt ist, ist genauso wenig mit dem Lebendigen identisch, das Körper ist oder im Körper ist, wie diese untereinander. Gleichwohl ist die Einheit dieser Nichtidentitäten die der Person. Plessner hat in Bezug auf diesen Grundgedanken und die verschiedenen Phänomene, in denen solche Nichtidentität in Erscheinung tritt, eine reichhaltige und facettenreiche Anthropologie entwickelt. Hartmanns Stufenlehre liefert dafür das ontologische Rüstzeug. Auf diese Weise wird sie aber zugleich für die zeitgenössische Philosophie der Person bedeutsam, insbesondere für das Verständnis der „unity without identity“, auf die das Person-Körper-Problem führt. Ich habe in der Hauptsache für zwei Thesen argumentiert, die ich, obwohl sie sich am Ende getroffen haben, noch einmal einzeln nenne. Erstens: Hartmanns Stufenlehre bildet die ontologische Basis für die philosophische Anthropologie der 1920er Jahre. Zweitens: Hartmanns kategorialanalytischer Ansatz ist auch für aktuelle Debatten in der Philosophie des Geistes und der Person systematisch relevant. Aus diesen beiden Thesen ergibt sich meines Erachtens aber drittens: dass sowohl aus philosophiehistorischen als auch aus systematischen Gründen eine Wiederbelebung von Hartmanns Kategorienlehre anstünde.

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Die Stellung des Menschen bei Nicolai Hartmann und Max Scheler1 Gerhard Ehrl In einem gewissen Verstande lassen sich alle zentralen Probleme der Philosophie auf die Frage zurückführen, was der Mensch sei und welche metaphysische Stelle und Lage er innerhalb des Ganzen des Seins, der Welt und Gott einnehme. […] Ist der Mensch ein Emporkömmling der untermenschlichen Natur? Ist er ein „depossedierter König“? […] Ist er zu sich selbst emporgestiegen? Bedürfen wir der Idee Gottes, um seine Einheit zu konstituieren und ihn von allen Seiten abzugrenzen? Oder ist diese Idee selbst nur ein Gleichnis und Gemächte des Menschen? 2

So schreibt Scheler in seiner ersten rein anthropologischen Schrift „Zur Idee des Menschen“ – und bringt damit in den ersten Sätzen den kosmisch-metaphysischen Ansatz seiner Anthropologie zum Ausdruck. Solche Fragen mögen als veraltet gelten, fügt er sogleich an, jedoch gehe es um die Sache, und die gesamte Philosophie der Gegenwart sei „geradezu durchtränkt vom Sachgehalt dieser Frage“. Nicolai Hartmanns Name wird gemeinhin nicht mit dem Sachgehalt dieser Frage und damit mit philosophischer Anthropologie in Verbindung gebracht, er wird nicht als genuin anthropologischer Denker gesehen; sein Interesse gilt nicht auf den Menschen, sondern auf die Welt gerichtet. Die anthropologische Frage scheint hinter eine allgemein ontologische Fragestellung zurückzutreten. Das Wesen des Menschen klärt sich für Hartmann von einer Schichtenontologie der realen Welt her auf. Der Mensch kann nicht ohne ein Verständnis der Welt begriffen werden, er muss aus seinem Zusammenhang mit dem Gesamtbau der Welt heraus verstanden werden. Und wenn Hartmann das Verstehen des Menschen und das der Welt in Korrelation stehend auffasst, dann ontologisch, mit 1

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Dem auf der Hartmann-Konferenz in Wuppertal gehaltenen Vortrag, der hier in leicht überarbeiteter Form erscheint, liegt meine Darstellung der Anthropologie Hartmanns in Ehrl (2003) zugrunde. Die (meisten) Thesen werden hier eingehend in Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur diskutiert. – Was die Anthropologie Schelers betrifft, möchte ich auf Ehrl (2001b) verweisen, für die Wertphilosophie auf Ehrl (2001a) und für Schelers Weg zur These von der Ohnmacht Gottes auf Ehrl (2004). Scheler (1914), 173.

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Blick auf die schichtenontologische Sachlage, dass dieselben Seinsschichten am Menschen auftreten, welche die ganze reale Welt durchziehen.3 Das anthropologische Problem wird Hartmann daher zu einem Problem des Ineinandergreifens dieser Schichten, der im Menschen vereinigten Schichten des Körperlichen, Organischen, Seelischen und Geistigen, die als solche Gegenstand von Hartmanns Ontologie sind. Mit einer solchen Bestimmung des Menschen als schichtenontologisch zu explizierender Mikrokosmos weist Hartmann Übereinstimmungen mit Scheler auf: Der Mensch ist Mikrokosmos, heißt es bei Scheler, er ist „Welt im Kleinen“, da alle Seinsschichten, alle „Wesensgenerationen des Seins“, sich im Sein des Menschen begegnen.4 Trotzdem wird der „Ontologe“ Hartmann in einen unvereinbaren Gegensatz zum „Anthropologen“ Scheler gerückt.5 Neutralisiert und reduziert Hartmanns Ontologie den Menschen, indem sie sich nicht auf den Menschen, sondern umgekehrt den Menschen auf das Sein bezieht? Und tut sie das vollständig, sodass der Mensch bei Hartmann nur „Reflexionspunkt des Seins“ ist? Ist andererseits bei Scheler der Mensch als Ort der Reflexion primär für alle Ontologie? Versucht Scheler, das Sein vom Menschen her zu fassen? Welche Stellung im Sein, im Kosmos, wird dem Menschen zugesprochen, vom „Ontologen“ Hartmann und vom „Anthropologen“ Scheler?

I. Mensch, Welt und Sein Hartmann vertritt den Primat des Seins: „Das Sein, ontologisch allgemein verstanden, steht jenseits von Subjekt und Objekt, umfaßt sie beide, in ihm sind sie gleichgestellt“. Das Subjekt ist „Spiegel des Seins“, derjenige Punkt im Seienden, an welchem sich dieses in sich selbst reflektiert. In ihm entsteht die Gegenwelt der ansichseienden Welt, das Reich der Repräsentation. Der Innenaspekt dieses Reiches ist das theoretische Bewußtsein. Das Sein als solches bedarf dieser Gegenwelt nicht. Es kann auch ohne Bewußtsein bestehen, braucht keinem Subjekt bewußt zu sein. Eine Objektwerdung für (Objektion an) ein Subjekt – soweit es sie gibt – ändert nichts an ihm. Es fügt seinem Gesamtbestande nur das Sein der

3 4 5

Vgl. Hartmann (1955a), 217. Vgl. Scheler (1929), 83. Vgl. Hülsmann (1959), 218.

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Erkenntnis selbst hinzu. Das Sein also ist gleichgültig gegen das erkennende Subjekt, das erkennende Subjekt nur ist nicht gleichgültig gegen das Sein.6

Scheler nennt „das Sein der Welt selbst vom zufälligen Dasein des Erdenmenschen und seinem empirischen Bewußtsein mit Sicherheit unabhängig“.7 Die Unvereinbarkeit der beiden philosophischen Positionen besteht daher nicht ohne Weiteres. In Bezug auf den realen Menschen lässt sich der Anthropologe Scheler gegen den Ontologen Hartmann nicht ausspielen. Das Sein lässt sich bei beiden nicht vom Menschen her begreifen, das wäre für beide „Anthropologismus“. Dem späten Scheler rückt zwar die Anthropologie ins Zentrum der Philosophie und der Mensch wird ihm in gewissem Sinne Ausgangspunkt des Weges zum absoluten Sein – aber, und das ist hier allein entscheidend, vom empirischen, vom realen Menschen und dessen Bewusstsein gilt beiden das Sein der Welt als unabhängig. Der Ontologe Hartmann bezieht den Menschen auf das Sein, der Anthropologe Scheler ebenfalls. Was also den Menschen als Teil der realen Welt betrifft, sind sowohl Hartmann als auch Scheler „Ontologen“. Die Fragen sind dann, ob beide im gleichen Sinne „Ontologen“ sind, das heißt, ob sich bei beiden der Gegenstand der Ontologie gleicht, und ob bei beiden der Gegenstand der Anthropologie derselbe ist. Der reale Mensch ist für Hartmann sekundär gegenüber der realen Welt, die Ontologie der realen Welt vorgängig einer Anthropologie des realen Menschen. Bei Scheler ist der reale Mensch sekundär gegenüber dem Sein, und damit erhält die Ontologie den Primat gegenüber dem Begriff des realen Menschen. Ist aber ein solcher Begriff des Menschen der einzige bei Scheler, und andersherum: Wie verhält sich Hartmanns Ontologie zu Schelers Begriff des Seins? Scheler hat schon in „Zur Idee des Menschen“ unterschieden zwischen einem „Naturbegriff des Menschen“ und einer „Idee des Menschen“, zwischen dem Menschen, der „eine kleine Ecke innerhalb der Klasse der höheren Wirbeltiere“ bedeutet, und der „Idee vom Menschen, nach der der Mensch der Ort ist für das Auftauchen und Insichtreten einer Ordnung der Dinge, die von aller Natur wesensverschieden ist“.8 Und auf den Menschen im Wesenssinne trifft das eben Dargelegte bei Scheler nicht zu. Er wird als ein jeder zufälligen Organisation bares Lebewesen überhaupt gefasst, sein Begriff enthält „nichts von den zuflligen empirischen 6 7 8

Hartmann (1926), 161. Scheler (1929), 142. Scheler (1914), 191. Vgl. auch Scheler (1928), 14: „Schon das Wort und der Begriff Mensch enthält eine tückische Zweideutigkeit“.

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Merkmalen des gleichnamigen Erdenwesens unserer Erdepoche“, nichts als „geistfhiges Vitalwesen“ überhaupt“.9 Mensch als „geistfähiges Vitalwesen“ bedeutet, dass er teilhat an der apriorischen Geistsphäre; und ein in diesem Sinne unabhängiges Sein, das Gegenstand von Schelers Ontologie, Schelers Wesensontologie ist, ein solches Sein geben die Akte des Geistes – nach erfolgter „phänomenologischer Reduktion“, nach der Zurückführung auf ihr Wesen. Und vom Wesensbilde des Menschen aus, und zwar „als Rückverlängerung seiner urtümlich aus dem Zentrum des Menschen quellenden Akte des Geistes“, und damit von einer – auf das Wesen und nicht auf das zufällige So-Sein des Menschen ausgerichteten – philosophischen Anthropologie ist dann auch „ein Schluß zu ziehen auf die wahren Attribute des obersten Grundes aller Dinge“: Da das Sein der Welt selbst vom zufälligen Dasein des Erdenmenschen und seinem empirischen Bewußtsein mit Sicherheit unabhängig ist, da aber gleichwohl strenge Wesenszusammenhnge bestehen zwischen gewissen Klassen geistiger Akte und bestimmten Seinsregionen, zu denen wir Zugang durch diese Aktklassen gewinnen – muß dem Grunde aller Dinge alles das an Akten und Operationen zugeschrieben werden, was uns vergänglichen Wesen diesen Zugang gibt.10

Zugrunde liegt das sogenannte phänomenologische Korrelationsapriori, die wesensmäßige Zusammengehörigkeit von intentionalen Akten und deren Gegenständen. Die Wasgehalte der Welt, ihr phänomenologisches Sein, sind unabhängig vom realen Menschen. Daher muss etwa die Wertordnung selbst vom wechselvollen menschlichen Bewusstsein geschieden werden, kann aber nicht in sich selbst bestehen, weil dem AktGegenstands-Zusammenhangsgesetz zufolge zu einer Wertordnung ein liebender Geist gehört. Daher muss der dem Gegenstand zugehörige Akt, muss letztlich alles an Akten, die solche Wesenheiten geben, dem Absoluten, d. h. einem einzigen Geist als Attribut des Absoluten zugeschrieben werden, angesichts der Werte das Wertfühlen einem liebenden Geist bzw. das Wertfühlen eines liebenden Geistes dem absolut liebenden Geist, der metaphysischen Idee vom Absoluten als Ens a se und Weltgrund. Wesensontologie, auch erste Philosophie genannt, und Anthropologie finden somit in der Metaphysik ihren Abschluss, d. h. Schelers Philosophie ist ausgespannt zwischen Wesensontologie und Metaphysik, sie beginnt mit der Trennung von Sosein und Dasein, der phänomenologischen Reduktion, als Ermöglichung der Wesensontologie, und 9 Scheler (1929), 96 f. 10 Scheler (1929), 82.

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findet ihren Abschluss in der Lehre vom Ens a se, der Metaphysik des Absoluten. Die Anthropologie ist der Metaphysik des Absoluten eng verbunden, sie dient der Bestimmung des absoluten Seins, steht aber immer schon selbst im Lichte der Metaphysik, ist auf das Absolute bezogen. Das Ausgreifen zum Absoluten ist gerade Schelers Wesensbestimmung des Menschen. Der Mensch als „geistfähiges Vitalwesen“ transzendiert alles Leben und damit sich selbst und hin zu von ihm völlig unabhängigen Ideen und Gesetzen, zu Wesenheiten eines Geistes, dessen Akte er in diesem Transzendieren mitvollzieht: Der Mensch ist damit der „Durchbruchspunkt einer allem sonstigen Natur-Dasein überlegenen Sinn-, Wert- und Wirkform, der ,Person‘“.11 Nur diese Idee gewährleistet die Einheit des Menschen, denn jegliche natürliche Einheit weist Scheler zurück. Die Sphäre eines absoluten Seins gehört für Scheler konstitutiv zum Menschen wie sein Selbst- und sein Weltbewusstsein; der Mensch muss, um ein solcher genannt werden zu können, diese Idee des Absoluten erfasst haben.12 Das zirkuläre Verhältnis zwischen Anthropologie und Metaphysik wird von Scheler daher im Gegenstand selbst verankert: „Das Sein des Menschen ist durchaus ,zirkuläres Sein‘ und ohne Zirkel gar nicht zu fassen“.13 Gegen die von Scheler behauptete Korrelativität von Mensch und Sein, d. h. gegen diese, phänomenologisch-wesensontologisch, unter Reduktion von Realität gewonnene Korrelativität wendet sich Hartmann, wenn er betont, dass die reale Welt an sich besteht, also auch dann, wenn sie niemandem gegeben ist: „Subjekte, denen sie bzw. ein Teil von ihr gegeben sein kann, tauchen vielmehr selbst erst in ihr auf, sind ganz und gar in sie eingebettet, von ihr getragen“.14 Hartmann hat eben allein den Menschen im Blick, wie er in der realen Welt nun mal entstanden ist – seine Philosophie fasst den realen Menschen in seinem zufälligen Sosein bzw. den Menschen in seinem kontingenten Sein; denn ihm gelten Sosein und Dasein als untrennbare Seinsmomente15, wohingegen ihre Scheidung voneinander als phänomenologische Reduktion, als Wesensreduktion, für Scheler den Grundakt des Geistes darstellt. Scheler 11 12 13 14 15

Scheler (1914), 189. Vgl. Scheler (1928), 105 f. Scheler (1927), 227. Hartmann (1926), 215. Vgl. Hartmann (1948), 128 – 150.

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weist daher einen anderen Weltbegriff als Hartmann auf; „Welt“ ist Scheler nicht reale Welt als solche, sondern deren Sosein, der Inbegriff der puren Was-Gehalte, und meint eine „daseins-absolute“, von der realen Menschheit völlig unabhängige Welt. Person als Zentrum der auf diese Wasgehalte bezogenen Akte und diese Wasgehalte, also Welt, sind ihm absolutes Sein und als solches stehen sie in Wesensbeziehung zueinander.16 Auf in solchem Sinne relatives Sein, zufälliges Sosein, auf das reale Lebewesen „Mensch“ bezieht sich hingegen Hartmanns Begriff des Menschen hier ausschließlich, also auf das ab einem bestimmten Zeitpunkt in der realen Welt aufgetauchte Lebewesen17; da nun die reale Welt vor dem Menschen bestand, wäre es widersinnig, ihre Korrelativität auf den Menschen zu behaupten; zudem sieht Hartmann, „kein Phänomen“ bzw. keine reale Erscheinung („Phänomen“ heißt bei Hartmann nicht wie bei Scheler „Wesenheit“ oder „pure Tatsache“), die überhaupt irgend einer Korrelation entspräche bzw. auf sie verwiese. Daher nennt Hartmann die Frage nach einem außerweltlichen Korrelat, sei es nun „Person“ im Sinne Schelers oder ihre Fundierung, also Gott, „jedem menschlichen Ermessen entzogen“.18 Bei Hartmann werden zwar Subjekt und Objekt – als „Gleichgestellte“ – von „dem Sein“ umfasst,19 und er spricht in einem Brief an Heimsoeth von einem „gewaltigen, fast mystischen Schauder“, den er nur als „Nähe des Seins“ bezeichnen kann.20 Dieses Sein wird als Grund und Umgreifendes der Seinsweisen – des realen und idealen Seins – und letztlich als Bedingung ihres Aufeinander-hingeordnet-Seins in Anspruch genommen, wird jedoch selbst nicht thematisch; denn dieses Sein „im höheren Verstande“ und die in ihm enthaltene „metaphysische Einheit idealen und realen Ansichseins“ sind für Hartmann etwas, das wir nicht kennen.21

16 Vgl. Scheler (1954a), 393 f. 17 Vgl. Hartmann (1955a), 218: „Das Auftreten des Menschen in dieser Welt ist sekundär und setzt, ontologisch gesehen, sie schon als bestehend voraus“, sowie Hartmann (1947), 226: „die ganze Natur von unten auf bis hinan zu den ihm verwandten Lebewesen ist Bedingung seiner Existenz“. 18 Hartmann (1926), 216. 19 Vgl. Hartmann (1965), 322. 20 Hartmann u. Heimsoeth (1978), 300. 21 Hartmann (1926), 160.

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II. Das Wesen des Menschen Hartmanns Anthropologie scheint zentriert um einen Begriff des zufälligen, des empirischen Menschen, wie er nun mal in der realen Welt entstanden ist. Und in dieser ganzen Sphäre herrscht allenfalls eine „zufällige Notwendigkeit“22. Schelers Wesensbegriff des Menschen meint ein Urphänomen aller möglichen Welten, das in unmittelbarer Beziehung steht zum Grunde aller Dinge, zu Gott. Ein echter Wesensbegriff in diesem Sinne scheint von Hartmann nicht intendiert, und mehr noch, als unerreichbar erachtet. Hartmann sieht zwar den Menschen die Natur überragen, jedoch nur als die Natur in der Erkenntnis spiegelnd – und als solcher überschreitet er nicht die reale Welt. Zwar macht für Hartmann den Menschen aus, dass er geistiges Wesen sei und damit eine Vorrangstellung den anderen Lebewesen gegenüber habe; aber den Geist des Menschen sieht er auf dem Fundament des leiblichen Lebens ruhen und in das Gesamtgefüge der realen Welt eingepasst.23 Hartmanns Philosophie des Geistes ist daher eine der ontisch höchsten Sphäre der realen Welt, und Hartmanns Anthropologie nennt diesen dann die „vom Menschen selbst geschaffene Mitwelt“,24 einem Menschen, den sie zunächst so auf den Begriff bringt: Der Mensch – so gut als Einzelner wie als Gemeinschaft und als geschichtliches Wesen – besteht im Ineinandergreifen des organischen, seelischen und geistigen Lebens. Er steht auch in seinen höchsten Leistungen noch im vollen Zusammenhange der Natur und ragt doch mit allem, was ihn eigentlich auszeichnet, über diesen hinaus.25

Er ragt über den Zusammenhang der Natur hinaus, nicht jedoch über die reale Welt, und daher lehnt Hartmann die Rede von einer Sonderstellung des Menschen ab – solange der Mensch in der geistigen Schicht nur als Erkennender auftritt, nur als Subjekt; erst als nicht mehr nur abbildender Geist ist er auch etwas für die Welt und erreicht damit die eigentliche Sonderstellung – den erkennenden Geist erklärt Hartmann damit zum „Boden möglicher Sinngebung“; „Sinnreichtum“ setzt erst ein „mit dem Charakter des Geistes als Person“.26 Hartmann unterscheidet also einen

22 23 24 25 26

Hartmann (1966), 205. Vgl. Hartmann (1947), 225. Hartmann (1952), 107. Hartmann (1955c), 219. Hartmann (1949), 124.

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subjektiven und einen personalen Geist bzw. eine subjektive und eine personale Seite am Menschengeist. Als Person transzendiert der Mensch die reale Welt, indem er in eine andere Welt ausgreift, mit seinen transzendenten Akten ins Reich der sittlichen Werte vorstößt. Das Wertreich besteht unabhängig vom Realen, jenseits der Wirklichkeit wie des Bewusstseins,27 und ihm kommt eine Sonderstellung innerhalb des idealen Seins zu, da ihre Selbstständigkeit die der anderen Wesenheiten überragt. Es handelt sich um eine dem realen Sein „ewig transzendent, jenseitig“ bleibende „intelligible Ordnung der Werte“, ein „Reich mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung“.28 Dieses öffnet sich dem Menschen im Wertfühlensakt. Als solche vollziehende Person erreicht der Mensch eine höhere Form, die auf der kategorialen des Subjekts aufbaut. Damit findet in Hartmanns Anthropologie nicht nur ein Übergang statt von einer Ontologie des realen und der Erkenntnis korrelierenden idealen Seins zu einer Ontologie der Werte als Sonderdisziplin der Ontologie idealen Seins, sondern von einer Ontologie zu einem „nicht-ontologischen“ Gebiet der Axiologie, denn eine solche Aktsphäre ist, wie er anmerkt, von „eigener, nicht ontologischer Art“29. Die Verbindung beider an sich seiender Sphären, der realen Welt und der idealen Wertewelt, bildet der Mensch als Person; und das macht für Hartmann die „großartige Stellung des Menschen in der Welt“30 aus, die „metaphysische Rolle als Mittler zwischen Wertreich und Wirklichkeit“31 innezuhaben und auf diese Weise zum Mitschöpfer der realen Welt zu werden. Da Hartmann „Wert“ und „Sinn“ unterscheidet und den Sinn als eine Wertbeziehung, als ein Wertvollsein für jemand auffasst, erhält der Mensch damit die Rolle des Sinngebers, er bringt Sinn in eine Welt, die vor ihm sinnlos – wenn auch nicht wertlos – war und ohne ihn dies 27 Wendet sich Hartmann gegen eine Korrelativiät einer das natürliche Menschsein überschreitenden Person und den Wesenheiten und Wesenszusammenhängen der Welt, spricht sich Scheler gegen die von Hartmann vertretene Auffassung des Wertreiches aus: „Überhaupt muß ich einen von Wesen und möglichen Vollzug lebendiger geistiger Akte ganz ,unabhängig‘ bestehen sollenden Ideen- und Werthimmel – ,unabhängig‘ nicht nur von Mensch und menschlichem Bewußtsein, sondern von Wesen und Vollzug eines lebendigen Geistes berhaupt – prinzipiell schon von der Schwelle der Philosophie zurückweisen“ Scheler (1954a), 21. 28 Hartmann (1926), 134, 136. 29 Hartmann (1926), 149. 30 Hartmann (1952), 117. 31 Hartmann (1926), 326.

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geblieben wäre. Hartmann spricht auch von der „kosmischen Stellung des Menschen“ oder dem „metaphysischen Sinn des Menschseins“.32 Diese Fassung des Menschen zeigt die zentrale Stellung, die der Anthropologie in der Philosophie Hartmanns zukommt; denn die Einheit der Welt kann nur in ihr thematisiert werden: „Der Mensch ist Bürger zweier Welten zugleich, und an ihm ist es, sie zu vereinigen“,33 sagt Hartmann, und: „Im Menschen schließt sich, wenigstens der Idee seines Wesens nach, die Welt zur Einheit“.34 Hartmanns Ontologie bildet damit nicht die Systemklammer, da ihr das unerreichbare Sein immer schon in eine Vielheit auseinandergefallen ist; vielmehr ist die Wertphilosophie in Gestalt einer Aktphilosophie unter anthropologischer Ausrichtung als eine solche Klammer bzw. als Bindeglied anzusehen. Diese normative Perspektive der Anthropologie, die Ausrichtung auf die „Idee seines Wesens“ – als Bestimmung des Menschen – fasst den Menschen im Hinblick auf dessen Mündigkeit und Verantwortungsfähigkeit. Damit stellt Hartmann einen neuen Begriff des Menschen auf, er gilt nicht mehr nur als viergeschichtetes Wesen, sondern als sittliches. Da Hartmann die Person nur als auf dem Subjekt aufbauende für möglich hält, beinhaltet dieser Wesensbegriff den vorherigen. Ist aber das nun ein „echter Wesensbegriff“? Hartmanns Rede vom metaphysischen Sinn des Menschseins scheint in der Tat eine andere Dimension zu eröffnen. Aber ein apriorischer Wesensbegriff würde erfordern, dass der Mensch nicht als letztlich zufällig so gewordener gefasst wird – und das geht wohl noch über das Konstatieren einer metaphysischen Stellung hinaus. Als zwecktätiges Wesen kommt dem Menschen „Teleologie“ zu. Als solches determiniert er die reale Welt „final“, d. h. der Finalnexus ist die Determinationsform der wertfühlenden, Zwecke setzenden und verwirklichenden Person. Die anorganische Natur ist kausal – oder „mechanisch“ – determiniert, der personale Geist hingegen kann anderes final determinieren. Er selbst ist aber als Wertfühlen determiniert von den Werten, besitzt jedoch als Wille Freiheit ihrem Sollen gegenüber. Die Verwirklichung von Zwecken ist nur deshalb möglich, weil der Kausalnexus der Natur „überformbar“ ist, d. h. indifferent gegenüber irgendwelchen Zielen. Diese kann der Mensch der Natur gleichsam vorgeben, unter Anerkennung ihrer Gesetze. Hartmann wendet sich damit gegen die Auffassungen, in einer durchgehend kausal determi32 Hartmann (1926), 9. 33 Hartmann (1949), 161. 34 Hartmann (1955a), 41.

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nierten Welt könnte der Mensch keine Zwecke verwirklichen, und betont umgekehrt, dies wäre nur unmöglich in einer bereits final determinierten Welt: „Wäre die Welt von unten auf final geordnet, so könnte der Mensch keinerlei Aktivität entwickeln. Seine Zwecksetzung würde in den Lauf der Geschehnisse nicht eingreifen können“.35 Hartmann konstatiert, dass die Kausaldetermination der umgebenden Welt „für den Menschen als aktives und zur Naturbeherrschung strebendes Wesen […] eminent zweckmäßig“ ist, warnt aber davor, „diese Zweckmäßigkeit teleologisch als auf den Menschen abzielend zu denken“;36 dies würde das natürliche Schichtenverhältnis und damit den Aufbau der Welt verkehren. Im Verhältnis Mensch – äußere Natur könne Anpassung nur beim Menschen liegen, weshalb es sich umgekehrt verhalte: die Zwecktätigkeit des Menschen kraft seines vorblickenden und vorbestimmenden Bewußtseins ist als eminent zweckmäßige Anpassung an die vorbestehende Kausalstruktur der ihn umgebenden äußeren Natur zu verstehen.37

Das mag für den die Natur beherrschen wollenden Menschen gelten, der als Trieb gesteuert ja selbst der Naturkausalität unterliegt,38 für den Menschen, zwischen dem und einem „klugen Schimpansen“ Scheler nur einen „Gradunterschied“ ausmacht, selbst wenn „Intelligenz und Wahlfähigkeit qualitativ beliebig, ja bis ins Endlose gesteigert“ vorgestellt würden.39 Hartmann merkt aber an, bei final determinierter Welt würde der Mensch „entrechtet“40, hätten seine „hohen Fähigkeiten“ kein „Schaffensfeld“.41 Wer würde entrechtet, wessen hohe Fähigkeiten griffen ins Leere? Diese und mithin den Menschen würde es dann doch gar nicht geben, er hätte nicht entstehen können. Versteht man den Menschen nicht nur als das zur Naturbeherrschung strebende Wesen, sondern als sittliches, erweist sich das Phänomen der Zweckmäßigkeit der Determinationsform der niedrigsten Schicht für den Menschen als Teil der höchsten Schicht in Gestalt des personal-sittlichen Geistes als Problem für die ontologischen Kategorien. Diese erklären das Novum des Hö35 36 37 38 39 40 41

Hartmann (1947), 300. Hartmann (1947), 300. Hartmann (1955c), 223. Vgl. Hartmann (1952), 116. Scheler (1928), 45 f. Hartmann (1926), 186. Hartmann (1951), 112.

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heren zwar als abhängig von den niederen Schichten, aber nicht als in seiner Eigengesetzlichkeit angewiesen auf eine bestimmte Struktur des Niederen. Hartmanns Ontologie eignet gleichsam der Blick „von unten“, vom Niederen zum Höheren; das Höhere erscheint dann als „Novum“ gegenüber dem Niederen, womit es sich in seiner Eigengesetzlichkeit einer Erklärung von unten sperrt. Hartmanns Aussagen, eine final determinierte Welt würde den Menschen als sittliches Wesen vernichten, das „freie Wesen“ zur „Ohnmacht“ verurteilen, indem es ihm „die ihm gemäße Art der Sinnerfüllung“ vorenthält,42 sind jedoch die einer Metaphysik „von oben“. Hartmanns Wertphilosophie gesteht den sittlichen Werten ein ontologisch ideales Ansichsein zu, d. h. ein ewiges, unveränderliches ideales Sein – Wertfühlen wird damit zu einem apriorischen Akt, wie Hartmann auch darlegt, wenn er sagt, „daß der Apriorismus des Wertbewußtseins ein strengerer und absoluterer ist als der der Wesensschau“,43 ja in ihr „vielleicht die reinste Apriorität“ zu finden ist.44 Zeigt sich aber dann das Phänomen der Zweckmäßigkeitsbeziehung von etwas in der realen Welt – wie den Determinationsformen der niederen Schichten – für das sittliche Sein des Menschen, kommt diesem der Vorrang zu: Die Hauptsache in alledem ist aber dieses: in einer schon von sich aus sinnerfüllten Welt wäre ein der Sinngebung mächtiges Wesen schlechthin überflüssig. Es hätte keine Aufgabe, die seinen Gaben gemäß wäre, könnte sich auch keine stellen, könnte nichts von sich aus in die Welt hineintragen, was sie nicht schon hätte. Der Sinn seines Wesens wäre in einer solchen Welt verloren, der Mensch wäre in ihr fehl am Platze. Der Sinn seines Wesens erfüllt sich gerade nur in einer an sich ,sinnlosen‘ Welt – wohlverstanden, in einer sinnindifferenten, nicht in einer sinnwidrigen. Und so ist denn die sinnlose Welt für ihn gerade die allein sinnvolle Welt.

Sie ist keine, die den Menschen „im Kern seines Wesens vernichten“ würde, sondern eine, „in der dieser sein Wesenskern sinngemäß zu seinem Recht kommt“.45 Die dem Menschen eigene Sinngebung erscheint nur dem Blick von unten als kontingent: „An der Welt ist Sinngebung, von ihr aus gesehen, eine zufällige. Am Menschen ist sie nicht zufällig“.46 42 43 44 45 46

Hartmann (1955d), 272. Hartmann (1948), 306. Hartmann (1965), 502. Hartmann (1951), 112. Hartmann (1949), 173. Vgl. auch die Formulierungen Schelers: „Nicht die kausale Determination, nicht der Mechanismus entrechtet ihn; er gibt ihm im Gegenteil die Mittel, das, was er in der streng objektiven Ideen- und Wertord-

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Sowohl Scheler als auch Hartmann weisen also einen echten, einen apriorischen Wesensbegriff des Menschen auf. Er fasst den Menschen als Lebewesen überhaupt und als Person, charakterisiert den Menschen also ohne Berücksichtigung einer spezifischen Organisation als vitales Geistwesen bzw. als moralisches Lebewesen – da „Geist“ für Scheler schlechthin eine Wesenssphäre darstellt, bei Hartmann zwar zur realen, empirischen Welt gehört, in auf ethische Werte gerichteten Akten diese jedoch überschreitet. Auch wenn Hartmann die sittliche Person den „Wesenskern“ des Menschen nennt – und Scheler betont, der Geist ist das, „was den Menschen allein zum ,Menschen‘ macht“47 –, ist der Mensch „nicht nur geistige Person, sondern auch beseeltes Lebewesen“.48 Ist für Scheler die Charakterisierung als Lebewesen von vornherein aufnahmefähig in einen Wesensbegriff des Menschen, da er „Leben“ für eine „echte Wesenheit“ hält49 – und damit den Menschen als „dynamische Verknüpfung von Geist und Leben“ fassen kann50 –, geschieht bei Hartmann die Aufnahme dieser für ihn als Faktum der realen Welt zufälligen Bestimmung in den Wesensbegriff über die Verbindung von Person und in der realen Welt auftretendem Subjekt bzw. Bewusstsein; denn diese Verknüpfung wird nicht als eine zufällige im Blick „von unten“ verstanden, sondern als notwendige vom Wesenskern der sittlichen Person aus; Personalität ist ohne diese Basis schlechthin nicht denkbar.51 So ist auch für Hartmann der Mensch wesenhaft ein „Mittleres zwischen Gottheit und Tier“52 – wie er es für Scheler ist, der seine Lage „zwischen dem Göttlichen und Tierischen“ verortet.53

III. Exkurs: Die Frage nach der Gegebenheit von Freiheit Da in der Diskussion des Vortrags in Wuppertal diese Frage gestellt wurde, möchte ich sie in diesem Rahmen behandeln.

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nung erschaut hat, in die Wirklichkeit einzuprägen. Ja, der Mechanismus ist das Instrument seiner Freiheit und seiner souveränen, selbstverantwortlichen Entscheidungen“. Scheler (1929), 142. Scheler (1928), 31. Scheler (1955b), 331. Vgl. schon Scheler (1914), 186. Scheler (1973), 87. Vgl. Hartmann (1926), 220 f. Vgl. Hartmann (1926), 325. Scheler (1913), 67.

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In den letzten Kapiteln der Ethik versucht Hartmann, die Willensfreiheit gegen ihre Widerlegungsversuche zu sichern; denn beweisen lasse sie sich nicht, da Willensfreiheit ein „metaphysischer Gegenstand“ sei. Phänomene des sittlichen Bewusstseins für das Bestehen der Freiheit in Anspruch zu nehmen, führe nicht über eine hypothetische Gewissheit hinaus. Die Freiheit der sittlichen Person sei aber ethisch notwendig und ontologisch möglich. Die ethische Notwendigkeit bezeugt für Hartmann das unmittelbare Phänomen der Verantwortung und Zurechnung als realer Akt, d. h. das Auf-sich-Nehmen der Verantwortung. Und das sei auf einer Strukturhöhe angesiedelt, wo nach den ontologischen Gesetzen kategoriale Freiheit besteht. Hier laufe bereits die evolutionistische Entstehungshypothese ins Leere, weil die Frage nach der Entstehung die Sache nicht berühre. Evolutionistische Erklärung stehe indifferent zum Freiheitsproblem – und könne auch nicht das ganze Phänomen einschließlich der Möglichkeit habitueller Täuschung aus der Welt schaffen; denn eine Täuschung beim realen Auf-sich-Nehmen von Verantwortung würde auf derselben metaphysischen Voraussetzung beruhen wie die reale Verantwortung der Person. Trotzdem spricht Hartmann von bloß hypothetischer Gewissheit, da man Freiheit selbst nicht zu fassen kriege und sich daher von ihrer Realität nicht wie von der eines Erlebten unmittelbar überzeugen könne. Von noch größerem Gewicht als das Verantwortungsphänomen ist für Hartmann der Tatsachenkomplex des Schuldbewusstseins, wo von vornherein jede evolutionistische Deutung auszuschließen sei. Festzuhalten bleibt hier die ethische Notwendigkeit und die ontologische Möglichkeit – aufgrund des kategorialen Novums. Ontologische Notwendigkeit wäre für Hartmann der „Beweis“ – der sei aber nicht möglich. Man kann hier durchaus fragen, ob das nicht reichen müsste, ob der Anspruch, Freiheit selbst zu fassen zu kriegen und sich daher von ihrer Realität wie von der eines Erlebbaren unmittelbar überzeugen zu können, nicht ein Missverständnis der Sache bedeute; immerhin gesteht Hartmann dem Menschen ein Freiheitsbewusstsein zu, das nicht als Funktion biologischer Notwendigkeit verstanden werden kann. Eine unmittelbare Erlebbarkeit von Freiheit würde Scheler auch nicht konstatieren. Sie liegt für ihn aber im Wertfühlensakt beschlossen; denn Scheler betont, wenn einem ein Wert in vollem Umfang gegeben ist, dann könne man nicht ihm zuwider handeln bzw. wollen – außer wenn einem auch ein höherer Wert voll zugänglich ist, dann wird dieser vorgezogen und der andere nachgesetzt: „Eine Freiheit ,gegenüber Gott‘ gibt es nicht. Ebensowenig eine Freiheit gegenüber einer vollen ad-

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äquaten Werteinsicht (oder daß ein Wert höher sei als ein anderer)“.54 Im Wertfühlen läge dann ein Gefühl positiver Freiheit, der Freiheit von allen niederen Determinanten und das Bewusstsein der alleinigen Determination durch den Wert. Das wäre für Hartmann freilich auch nur ein „Freiheitsbewusstsein“, kein unmittelbarer Zugang zu ihrer Realität – wie immer das hier zu verstehen wäre. Hartmann hat jedoch einen doppelten Freiheitsbegriff: Ebenso ist unter „freiem Willen“ einmal derjenige Wille verstanden, dem das Für und Wider inbezug auf das Prinzip noch offen steht; das anderemal aber derjenige, der sich für das Prinzip entscheiden hat und nun von ihm determiniert ist.55

Diese beiden Freiheitsbegriffe vermischen sich zuweilen in Hartmanns Argumentation; denn es leuchtet nicht ein, wie man kategoriale Freiheit als die des Novums als Stützung der Willensfreiheit im Sinne der Wahlfreiheit in Ansatz bringen könnte, da die neue Determinationsform der höheren Schicht die wertbedingte ist. Hartmanns doppelter Freiheitsbegriff führt dazu, dass sich der Mensch aus Freiheit zur Unfreiheit entschließen kann. Würde man dies vermeiden wollen, setzt Hartmann dagegen: „ist der böse Wille nicht frei, wie könnte denn gerade ihm Schuld gegeben werden, ja wie wäre das Schuldbewußtsein des Täters selbst möglich?“56 Die Frage in Wuppertal war aber die, die Hartmann auch selber stellt: Welcher menschliche Wille ist nun freier Wille? Ist nämlich nicht aller Wille frei, während er wohl doch immer – prinzipiell – frei sein kann, und wohl auch frei sein sollte. Worin liegt dann der Unterschied? Und woran ist im gegebenen Fall freier von unfreiem Willen zu unterscheiden? 57

Hartmann hat bereits im Argumentationsgang angemerkt: Der reale Wille – und das ist nicht der sittlich „reine“ – ist bestenfalls zum Teil im Sinne der sittlichen Werte bestimmt, zum Teil aber auch durch ganz andere Faktoren. Denn er ist durchgehend determiniert im Sinne der äußeren und inneren (psychologischen) Unfreiheit. […] Der empirische Wille ist immer mitbestimmt durch die äußere und innere Situation und allen Kausalmomenten, die zu ihr gehören.58

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Scheler (1927), 217. Hartmann (1926), 704. Hartmann (1926), 730. Hartmann (1926), 730. Hartmann (1926), 682.

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Der Wille gehört damit nicht allein zur obersten Schicht, sondern zu mehreren, auf jeden Fall auch zur psychischen Schicht. Hartmann fasst das dann werttheoretisch, indem er die Gegensätzlichkeit (wie auch Scheler) in die Wertsphäre selbst verlegt; aber der sittlich reine Wille würde nie den niedrigeren Wert vorziehen, oder gar geistige Werte denjenigen der anderen Wertklassen (psychische Werte, vitale, sinnliche). Der Wille würde dies nur dann tun, wenn auf den niedrigeren Wert Strebungen der unteren Schichten im Menschen gerichtet sind. Hartmann Fazit lautet dann: „Wir können auf keine Weise angeben, welcher Wille frei ist, und welcher nicht“.59 Freiheit erscheint Hartmann inmitten der allseitigen psychologischen Bedingtheit und Abhängigkeit wie ein Wunder; es sei unmöglich zu wissen, ob frei gewollt wurde oder nicht, aber es sei inmitten der vielen heteronomen Determinanten eine autonome, und die genüge als Grundlage der Selbstbestimmung, der Zurechnung und Verantwortung. Es hat durchaus Plausibilität, die Gegebenheit von Freiheit im Wertgefühl zu sehen – was freilich die Fragen nicht beantwortet, die aufgeworfen werden, wenn Freiheit nicht als gegeben angesehen werden kann. Auf das Wertgefühl verweist aber auch Hartmann. Er konstatiert, dass Freiheit Wertcharakter hat, und dieser Wert auch empfunden wird, im Gefühl der Zurechnung einer Handlung, der Schuld und Verantwortung. Dieses Phänomen ist ja Hartmanns stärkstes Argument beim Aufweis der Freiheit. Da aber Hartmann Akt und Gegenstand nicht wie Scheler zusammengehören sieht, sondern den Akt als auf einen an sich seienden ontologischen Sachverhalt verweisend auffasst, hat das nicht volle Beweiskraft. Die Möglichkeit der Täuschung ist zwar auch bei Scheler gegeben, der Akt kann aber „gereinigt“ werden und dann den Gegenstand zur vollen Gegebenheit bringen, einhergehend mit dem Gefühl der „Evidenz“, das nicht mehr am Sachverhalt zweifeln lässt. Allerdings wäre der Gegenstand des Verantwortungsgefühls wohl nicht Freiheit, sondern setzt diese voraus oder verweist auf sie. Hartmann führt in Der Aufbau der realen Welt aus, dass in der Willensfreiheit verschiedene „Autonomien“ zu unterscheiden seien. Die gegenüber der niederen Determination und die gegenüber den Werten; er nennt die erste „positive Freiheit“, die zweite „negative Freiheit“. Die erste verhält sich negativ zu den unteren Schichten und positiv zu den Werten, als Freiheit der Determination durch die eigene, geistige Schicht, und die zweite ist die Wahlfreiheit, dem Sollen der Werte nicht gehor59 Hartmann (1926), 731.

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chen zu müssen – was dann hieße, aus Freiheit sich von niederen Schichten determinieren zu lassen. Jedenfalls sagt Hartmann, dass erst „beide zusammen die eigentliche Willensfreiheit ausmachen“.60 Es ist also eine Freiheit, und man kann die These aufstellen, dass sie nur erlebt wird – dann aber erlebt werden kann – wenn man sich aus Freiheit zur Freiheit entscheidet, und d. h. wenn man der positiven Determination der geistigen Schicht, also den Werten bzw. dem jeweils höheren Wert folgt. Scheler führt aus, dass es nicht möglich ist, gut sein zu wollen: Der Wert „gut“ erscheint, in dem wir den (im Vorziehen gegebenen) höheren positiven Wert realisieren; er erscheint an dem Willensakte. Eben darum kann er nie die Materie dieses Willensaktes sein. Er befindet sich gleichsam „auf dem Rücken“ dieses Aktes, und zwar wesensnotwendig […].61

Hartmann stimmt dem – eingeschränkt – zu.62 Das könnte auch die Form der Gegebenheit der Freiheit sein, mitgegeben zu sein im guten Akt. Scheler sieht den guten Menschen allein auf die Werte gerichtet bzw. auf den höheren, den er zu verwirklichen strebt. Er sieht die Wahlfreiheit gleichsam in der Hingegebenheit an den Wert verschwinden. Ist uns also ein geistiger, in diesem Falle ethischer Wert gegeben, wird er vollständig erfasst – und verwirklicht-, dann können wir sicher sein, nicht einer niedrigeren Determination anheim gefallen zu sein; denn diese reicht nicht in den Wertungsakt der höheren Sphäre hinein. Wir sind dann der höheren Determination um ihretwillen gefolgt und sind hierbei frei gewesen, frei von psychologischen oder anderen Kausalitäten. Freiheit läge dann in dem Akt, und man könnte sich ihrer nur – aber immerhin – reflexiv versichern. Ihre Gegebenheit läge in einem Reflexionsakt, der sich auf den vollzogenen Wertungsakt richtet. Das Bewusstsein der Freiheit wäre also ein reflexives Aktbewusstsein.

60 Hartmann (1964), 516. 61 Scheler (1954a), 49. 62 Vgl. Hartmann (1926), 236: „Es besagt nur, daß das Wollen in einer sittlich guten Handlung nicht das Wollen des sittlich-gut-Seins dieser Handlung ist, sondern das Wollen eines anderen Guten und eines in anderem Sinne Guten, nämlich eines an sich guten Sachverhalts“.

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IV. Mensch und Gott Scheler hat in einer idealtypischen Gegenüberstellung verschiedener Auffassungen des Menschen Hartmanns Idee des Menschen einen „postulatorischen Atheismus des Ernstes und der Verantwortung“ genannt und dazu ausgeführt: „Ein Gott darf und soll nicht existieren, um der Verantwortung, der Freiheit, der Aufgabe – um des Sinnes vom Dasein des Menschen willen“. Scheler sieht hier den Menschen bzw. die Person in „eisiger Einsamkeit und absolut auf sich gestellt“ und spricht daher von der „denkbar äußerste[n] Steigerung von Verantwortung und Souvernitt“. Hartmanns Ethik habe den in Nietzsche gründenden postulatorischen Atheismus „zur höchsten Höhe geführt und streng wissenschaftlich zu begründen versucht“.63 Obwohl Hartmann die Fragen der Ethik „diesseits von Theismus und Atheismus“ verortet, begreift er sie als den „natrlichen Anwalt des Menschen in der Metaphysik“ und weist mit ihr – und einem traditionellen Gottesbegriff – das religiöse Weltbild zurück und etabliert eine anthropologische Metaphysik. Die Gott vom Theismus zugeschriebene Macht der Vorsehung nennt er „teleologisch“, einen „finalen Determinismus“, und sieht den Menschen mit seiner Teleologie „ihr gegenber ohnmchtig“64. Um des Wesens des Menschen als sittliches, als freies und verantwortungsvolles Wesen willen weist Hartmann das Sein eines solchen Gottes bzw. – da er die Vorsehung wie alle diskutierten Attribute zum Wesen Gottes gehörig auffasst – von Gott überhaupt zurück. Damit verfällt für ihn jeglicher religiöse oder metaphysische Gottesbegriff der Kritik. Die Vorsehung als „Gegenglied zur Freiheit“ könne man „einfach streichen“, da diese Entgegensetzung „Menschenwerk“ sei, der Vorsehungsgedanke bloßes Produkt und Argument „der menschlichen Schwäche, Passivität und des Sichtreibenlassens“, ein „Weltbild der Schwachen und Rückgebundenen“.65 Beim späten Scheler, dem der Stellung des Menschen in Kosmos, die zwei Jahre nach Hartmanns Ethik erschienen ist, finden sich ähnliche Gedanken. Habe sich der Mensch einmal aus der gesamten Natur herausgestellt und sie zu seinem Gegenstand gemacht, müsse er sich erschaudernd umwenden und nach seinem eigenen Standort fragen – und sein 63 Scheler (1929), 142 f. 64 Hartmann (1926), 741. 65 Hartmann (1951)

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Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern. Die Entdeckung seines nun „weltexzentrisch gewordenen Seinskernes“ könne zu einem unbezwingbaren „Drang nach Bergung“ führen, aus Angst, ins pure Nichts zu fallen: „Die Überwindung dieses Nihilismus in der Form solcher Bergungen, Stützungen ist das, was wir ,Religion‘ nennen“.66 Und die bräuchten eben schwache, unmündige Menschen; sie haben ein großes Bedürfnis der Bergung und Stützung auf eine außermenschliche und außerweltliche Allmacht, die mit Güte und Weisheit identisch gesetzt wird, und wünschen so eine halb kindliche, halb schwächlich distanzierende Beziehung zur Gottheit. Scheler gesteht dem „postulatorischen Atheismus“ daher zu, dass er aus einer „sehr berechtigten Ablehnung des Theismus“ hervorgegangen sei, des hinter dem Menschen stehenden vollkommenen, allgütigen, allweisen und allmächtigen Gottes und Vaters […]. Auch für uns gibt es kein „SichVerlassen“ auf Gott, auf ein von Hause aus teleologisches und mächtiges Agens. Auch wir lehnen jede „teleologische“ Natur- und Welterklärung ab.67

Hartmann spricht sich für eine „aufrechte und heroische Metaphysik“ aus,68 eine Philosophie, die dem Menschen sein Recht der Sinngebung in der Welt wiedergibt, eine, die Vorsehung, Vorbestimmung wie Sinnschöpfung allein dem Menschen zuweist, eine die Teleologie des Weltgeschehens zurückweisende und damit den Menschen rehabilitierende, und zwar „kosmisch und metaphysisch“.69 Hartmanns Zentrierung der Metaphysik um den Wesensbegriff des Menschen weist zwar eine Teleologie des Weltgeschehens zurück; seine anthropologische Metaphysik ist aber selbst eine teleologische, im Sinne einer Teleologie zweiter Ordnung. Gerade die sinnlose Welt ist für den Menschen sinnvoll, gerade das Fehlen der Weltteleologie ist für den Menschen zweckmäßig: „gerade dadurch ist in der Welt, wie sie ist, für Sinnerfüllung gesorgt, daß nicht eigentlich für sie gesorgt ist – nämlich nicht ,von oben her‘, nicht der Seinsordnung nach und nicht im Ganzen der Welt“.70 Hartmann lehnt damit das metaphysische Sinnbedürfnis gerade nicht ab, sondern hebt es eine Stufe höher: 66 67 68 69 70

Scheler (1928), 108 f. Scheler (1927), 211 f. Hartmann (1951), 134. Hartmann (1926), 187. Hartmann (1955d), 270.

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Eine Haupttriebfeder der Metaphysik war immer die Ablehnung einer „sinnwidrigen Welt“ […]. Ist die Welt, in der wir leben, bloß „sinnlos“, d. h. nicht auf Sinnprinzipen aufgebaut, so kann sie deswegen doch sehr wohl der Sinngebung zugänglich sein […]. Eine solche Welt wäre keineswegs abzulehnen. Sie könnte dem Sinnbedürfnis des Menschen noch sehr wohl entsprechen. Nur eine von sich aus „sinnwidrige“ Welt wäre abzulehnen.71

Es gibt also einen Sinn der Welt vor aller menschlichen Sinngebung. Er besteht darin, sinnlos zu sein; so entspricht sie dem Wesen des Menschen. Der Angelpunkt von Hartmanns Metaphysik ist die herausragende Stellung des Menschen, und der Weg verlief von einer den Menschen als Mittler zweier Reiche fassenden metaphysischen Anthropologie über das Konstatieren der Zweckmäßigkeit der Ordnung der realen Welt – ihrer Sinnlosigkeit und sinnfreien Determiniertheit – zur anthropologischen Metaphysik. Damit ändert sich auch die Stellung der Anthropologie gegenüber der Wertphilosophie, denn die anthropologische Metaphysik beansprucht ihr gegenüber den Primat; denn als Metaphysik kann sie sich nur vollenden über den Sinn der Sinnlosigkeit der Welt, und d. h. mit dem „Wert des Nichtrealseins der Werte“.72 Der späte Scheler hat sich durchaus einer „heroischen Metaphysik“ angenähert, ja er hat selbst eine solche ausgearbeitet, eine Metaphysik des Ernstes und der Verantwortung; aber auch der späte Scheler bleibt ein Metaphysiker des Absoluten, es geht ihm um die Folgerungen der Anthropologie für das „metaphysische Verhltnis des Menschen zum Grunde der Dinge“.73 Dem zur Religion führenden „Drang nach Bergung“ stellt er den kräftigen, hochgemuten, metaphysischen Sinn entgegen, das Absolute erfassen und sich in es eingliedern zu wollen. Das Absolute wird dann nicht mehr, kann dann wie bei Hartmann auch nicht mehr im Sinne der theistischen Idee als allmächtiges Wesen gefasst werden; Scheler begreift Gott nun als ohnmächtigen – und als werdenden Gott. Die beiden Sphären, an denen der Mensch als geistfähiges Vitalwesen teilhat, werden hierbei als echte Wesenheiten der Gottheit als Attribute zuerkannt. Der Mensch ist dann sowohl als Geist- wie als Lebewesen nur je ein Teilzentrum des Geistes und Lebens, von Geist und Drang des Urwesens. Diese beiden Attribute sieht Scheler als lebendig aufeinander bezogen, und am Menschen ist es, ihre gegenseitige Durchdringung zu leisten und auf diese Weise den werdenden Gott mit zu erzeugen, wie umgekehrt 71 Hartmann (1951), 108 f. 72 Hartmann (1926), 274. 73 Scheler (1928), 105.

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Gott sich damit im Menschen selbst erfasst und verwirklicht. Menschwerdung und Gottwerdung sind beim späten Scheler aufeinander bezogen. Hartmann hat Scheler in seinem Nachruf „große Entwürfe zur Anthropologie und Metaphysik“ attestiert und „im Laufe des letzten Jahrzehnts vor allem die Gottesidee“ zutiefst sich wandeln gesehen.74 Was Wielander ausführt, trifft auf Scheler zu: Ein traditioneller Weg zu Gott – oder: ein Weg zum traditionellen Gott – kommt nicht in Frage, […] nicht bei Hartmann und nicht bei ähnlichen Denkern. Hier muß ein Standpunkt jenseits des Theismus gefunden werden, gewissermaßen ein „Meta-Theismus“.75

Mit diesem Begriff soll ausgedrückt werden, „daß viele heutige Denker – und mit ihnen auch Hartmann – einen Standpunkt jenseits jeglichen Theismus und Atheismus einzunehmen scheinen“.76 Für Scheler gilt das, aber für Hartmann? Hartmanns Kritik am teleologischen Denken hat sich als ein Übergang von einer Teleologie erster zu einer zweiter Ordnung erwiesen. Aber den Umkreis der um den zeitlosen Wesenskern des Menschen zentrierten Anthropologie verlässt er nicht. Freilich mag man die Frage stellen, ob für Hartmanns anthropologische Metaphysik das gilt, was dieser jeder teleologischen Metaphysik zuschreibt, nämlich dass sie „unausweichlich auf ,Gott‘ hinausführt“77 – zumindest im Sinne eines „Ausklang[s] in einem Ersten und Absoluten“, denn in die theistische Gottesidee muss Hartmann zufolge ein metaphysisches Weltbild nicht auslaufen.78 Daher mag man diskutieren, welches Gottesbild hier in Frage käme; man könnte darauf hinweisen, dass die von Hartmann aufgestellte Antinomie von Freiheit und Vorsehung nur deshalb eine ist, weil er beides auf ein und derselben Schicht ansiedelt. Wie Freiheit und Naturdetermination zusammen bestehen können, weil Freiheit der geistigen Schicht und Naturdetermination den Schichten darunter zugeordnet werden, würden Freiheit und Vorsehung einander nicht widersprechen, wenn Gottes Vorsehung einer Schicht über der Geistigen – nennen wir sie die Schicht des Absoluten oder des Heiligen – zugesprochen wird. Da jede höhere Schicht zwar in die niedere eingreifen kann, aber deren Eigenart unangetastet lässt, würde 74 75 76 77 78

Hartmann (1958a), 350, 355. Wielander (1972), 311. Wielander (1972), 368. Hartmann (1926), 183. Hartmann (1957), 252.

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Gottes Vorsehung unsere Freiheit nicht berühren. Gott würde sie nur benutzen für seine Zwecke – ohne dass wir es merkten. Und es könnte sich analog dem tieferen Schichtenverhältnis so verhalten, dass ebenso wie für die Teleologie des Menschen die Naturdetermination unerlässlich ist, die Freiheit des Menschen für Gottes Teleologie notwendig ist. Das würde weder Hartmanns Ontologie, noch seiner Anthropologie und Metaphysik widersprechen. Was könnte er da einzuwenden haben? Zum einen würde es – was an sich kein stichhaltiger philosophischer (oder theologischer) Einwand wäre – einfach seinem Gottesbegriff widersprechen. Hartmanns Gottesidee, die seiner Argumentation zugrunde liegt und die er eben nicht wie Scheler der Möglichkeit der Wandlung aussetzt, lässt sich nicht mit seiner Anthropologie in Einklang bringen, sondern nur mit einer Sinnteleologie erster Ordnung. Hartmann weist die Möglichkeit zurück, dass die Welt von (einem allmächtigen) Gott für den Menschen geschaffen und auf ihn zugeschnitten ist, und der Mensch der Aufgabe der Erhaltung im Dasein ausgesetzt, „bedürftig“ und „hilflos“ ist.79 Einen solchen Gott scheint Hartmann auch nicht haben zu wollen – wie Scheler auch. Während diese Zurückweisung jedoch für Scheler den Anfang eines philosophischen Ringens um Gott ausmacht, ist es für Hartmann schon das Ende. Zum anderen würde Hartmann einwenden, dass die oben skizzierte Möglichkeit zwar denkerisch konsequent seinen kategorialen Gesetzen folge, sich aber der Erfahrbarkeit entzieht, und zwar vollständig – da Hartmann anders als Scheler einen die Absolutheitssphäre erfassenden metaphysischen oder den Wert des Heiligen innewerdenden Wertfühlensakt nicht für möglich hält. Ein solcher nur denkmöglicher Gott wäre daher für Hartmann auch philosophisch überflüssig. Hartmann geht daher nicht weiter, mit dem Weg seiner Anthropologie ist auch der seiner Philosophie hier zu Ende.

V. Schlussbemerkung Als zentrale Gestalt der klassischen philosophischen Anthropologie (wie auch als eigentlicher Begründer) gilt manchen nicht Scheler, sondern Helmuth Plessner, weil Scheler eine auf eine Metaphysik des Absoluten abzielende Metanthropologie aufweist – und der dritte Klassiker, Arnold Gehlen, mehr als empirisch-wissenschaftlicher denn als philosophischer Anthropologe angesehen wird. Das mag man so sehen, Scheler als der 79 Vgl. Hartmann (1958b), 387.

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anthropologische Metaphysiker, Plessner als der nachmetaphysische philosophische Anthropologe. Ein Platz wäre hier aber noch frei, nämlich für einen Philosophen, in dessen System die Anthropologie einen zentralen Stellenwert hat, dessen Denken zwar metaphysisch, aber nicht auf das Absolute bezogen ist, also für einen metaphysischen Anthropologen. Hier wäre der Name „Nicolai Hartmann“ zu nennen.

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Entwertung der Realität. Nicolai Hartmann als Kritiker der Ontologie Martin Heideggers Steffen Kluck Wohl kein Philosoph des 20. Jahrhunderts hat einen derartigen Relevanzverlust erlebt wie Nicolai Hartmann. Zu Lebzeiten als einer der führenden Denker seiner Zeit betrachtet,1 gerät er nach seinem Tod 1950 rapide aus dem Fokus. Die Gründe dafür sind vielfältig – man bedenke etwa die besonderen Zeitumstände nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges oder das Ausbleiben einer echten Schulbildung2 und ähnliches –, aber nicht zuletzt im Wirken der Theorien der philosophischen Kontrahenten Hartmanns zu suchen. Gerade die Virulenz der Ansichten Martin Heideggers, der zur selben Zeit ähnliche Problemkreise wie Hartmann aufgriff, führte zu der heutigen Rezeptionssituation. Das Besondere des Zusammenhangs von Hartmann und Heidegger ist dabei, dass beide nicht nur – mal verdeckt, mal offen – häufig theoretischen Bezug aufeinander genommen haben, sondern ihre konkurrierenden Ansätze für einige Jahre am selben Ort, Marburg, verlautbarten. HansGeorg Gadamer sind anekdotische Schilderungen jener schicksalhaften Tage zu verdanken.3 Heideggers Fortwirken, insbesondere das seiner in Sein und Zeit entwickelten „Fundamentalontologie“4, hat maßgeblich zur vermeintlichen Überwindung und damit Verdrängung des Ansatzes von 1

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Die von Wolfgang Harich aus der Erinnerung überlieferte, angeblich damals kursierende Rede, Hartmann habe in den 1930er und 1940er Jahren neben Martin Heidegger und Karl Jaspers nur als halber Philosoph gegolten (vgl. Harich (2000), 20), scheint zum einen nicht repräsentativ zu sein, zum anderen lässt sie Hartmann trotz aller Polemik als überhaupt erwähnenswerten Denker immerhin teilweise zu gewissem Recht kommen. Vgl. Stallmach (1987a), 10. Vgl. Gadamer (1995), 21 f., 30 – 36. Heidegger (2001), 13. Nur auf diese bezieht sich die folgende Abhandlung. Entwicklungen nach 1927 – insbesondere die „Kehre“ – werden nicht thematisiert. Solch ein Vorgehen ist dadurch legitimiert, dass sich auch bei Hartmann kaum einschlägige Verweise auf das Denken Heideggers, wie es sich nach 1930 gestaltet, zu finden sind.

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Hartmann geführt. Gerd Wolandt fasst diesen Sachverhalt pointiert zusammen: Der philosophische Zeitgeist ist dem Werke Hartmanns nicht eben wohlgesonnen. […] Andere Philosopheme sind in den Vordergrund des Interesses getreten. Die Neubelebung des Husserl-Studiums mag ihren Anteil an dieser Entwicklung haben, den Ausschlag gibt wohl ein anderes, nämlich dies, daß ein (wie es sich selbst versteht) „eigentlicheres“ Philosophieren den Sieg über die Kategorienanalyse davongetragen zu haben scheint.5

Der vorliegende Aufsatz versteht sich vor dem aufgezeigten rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund als ein Beitrag zu dem Versuch, philosophiehistorische Einseitigkeiten und Versäumnisse – insbesondere gegenüber Hartmann – zu beheben. Es geht dabei speziell um eine Würdigung der Ontologie Hartmanns als Alternative zum daseinanalytischen Vorgehen Heideggers.6

I. Gemeinsame Ausgangslage Bezeichnend ist, dass Hartmanns und Heideggers Philosophieren geprägt wurde durch eine gemeinsame geistesgeschichtliche Lage. Ohne es an dieser Stelle vertiefend begründen zu können,7 muss man feststellen, dass die Philosophie im ausgehenden 19. Jahrhundert in erhebliche Selbstzweifel gekommen war, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts virulent wurden.8 Dies geschah vor dem Hintergrund der sich verselbständigenden und erfolgreich voranschreitenden Einzelwissenschaften. Philosophie war in Gefahr geraten, weder methodisch noch im Hinblick auf 5 6

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Wolandt (1963), 304. Der Verweis auf Heidegger und seine Adepten ist offensichtlich. Einige Vorarbeiten, die sich dem Vergleich der Ontologien Hartmanns und Heideggers zumindest in Teilen gewidmet haben, gibt es durchaus, aber von Ausnahmen wie der schon zitierten Arbeit von Josef Stallmach (1987a) und der frühen, wegweisenden Übersichtsdarstellung von Gerhard Lehmann (1933) stehen sie oft implizit unter dem Einfluss einer Heidegger-nahen Grundperspektive (insbesondere das Werk von Katharina Kanthack), sodass sie Hartmann nur bedingt gerecht werden. Einschlägige Vorarbeiten sind: Münzhuber (1938), Pichler (1952), Kanthack (1962), Lotz (1987), Stallmach (1987b) und Crummenerl (1998). Leider scheint keine dieser Untersuchungen ein solches theoretisches Niveau zu erreichen, dass es als legitime Referenz betrachtet werden kann. Vgl. dazu als kurzen Überblick Pichler (1952), 131 f. Dafür sind die zahlreichen „Krise“-Schriften der Zeit vielfacher Beleg.

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ein Gegenstandsgebiet die eigene Existenz sichern zu können. Der Neukantianismus, die um 1900 dominante Strömung innerhalb der Philosophie,9 verlegte sich auf einen vor allem erkenntniskritisch fundierten transzendentalen Idealismus. Wesentliche Kernthese war dabei, dass die Philosophie sich zuvorderst idealen Entitäten, sogenannten „Werten“, zuzuwenden habe, dass der „Gegenstand [der Philosophie; S.K.] allein im transzendentalen Sollen, nicht im transzendentalen Realen gefunden werden kann.“ Es sei doch, so Heinrich Rickert weiter, „,Realität‘ selbst eine Wertform und das ,Wirkliche‘ schon das auf Grund des Sollens als wirklich Bejahte.“10 Man kann eine derartige Hinwendung zum Idealen als Reaktion auf die das Feld des Empirisch-Realen erfolgreich besetzenden Einzelwissenschaften wie Physik, Biologie usw. verstehen. Gleichwohl hatte eine solche Ansicht zur Folge, dass nicht mehr außenwirkliche Bestände, wie man sie im naiven Realismus als der typischen Alltagshaltung zu haben glaubt, verhandelt werden, sondern letzten Endes die Philosophie sich mit ihren Fragen ausschließlich in immanenten Sphären bewegt.11 Ein Entkommen aus dem Bewusstseins- und Erkenntnisapparat gelingt nicht mehr. Mit dem geschilderten Rückzug der Philosophie ins Ideal-Transzendentale ging zugleich die Aufwertung der Erkenntnistheorie zur philosophia prima einher. Wenn man das Real-Transzendente suspendiert, verliert die Ontologie ihren mindestens seit Aristoteles gewonnenen Status. Der Neukantianismus stellte keine ontologischen Fragen mehr,12 9 Vgl. als Überblicksdarstellung Pascher (1997). Dort werden auch die Binnendifferenzierungen des Neukantianismus, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, ausführlicher behandelt. Bezeichnenderweise für die Rezeptionshaltung Hartmann gegenüber kommt er in diesem Werk, trotz eines Schwerpunktes auf dem Marburger Neukantianismus, nicht vor, nicht einmal als möglicher Kritiker und Überwinder. 10 Rickert (1921), 394. 11 „Es erweist sich […] der Standpunkt der Immanenz, solange wir vom vorstellenden Bewußtsein oder Subjekt ausgehen, als der einzig mögliche.“ (Rickert (1921), 62) Gleichwohl bleibt der Neukantianismus dennoch transzendental orientiert, nur wird das Transzendentale auf bloßes Wert-Sollen reduziert; eine transzendentale Außenwelt spielt keine Rolle: „So überflüssig eine vom vorstellenden Subjekt unabhängige oder transzendente Realitt jetzt erscheint, nach der das Erkennen sich zu richten hat, so unentbehrlich ist ihm die transzendente Geltung des Sollens, das es auf Grund der Urteilsnotwendigkeit bejaht.“ (Rickert (1921), 205) 12 Zumindest realontologische Fragen spielten keine Rolle. Bezüglich des Seins der idealen Sphäre kann man in Grenzen durchaus noch von ontologischen Überlegungen des Neukantianismus sprechen.

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sondern ging in der Hauptsache der Frage nach, wie das Subjekt einem Objektiven begegnen kann13 – eine eminent erkenntnistheoretische Perspektive. Die Konzentration auf derlei erkenntnistheoretische Erwägungen muss als Widerhall der „kopernikanischen Wende“ Immanuel Kants verstanden werden. Er hatte bekanntlich in seiner Kritik der reinen Vernunft herausgestellt: Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten […]. Man versuche es daher einmal, […] daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten […].14

Dieser Vorgabe ist der Neukantianismus gefolgt und prägte damit maßgeblich die idealistische Phase der Philosophie um 1900. Gleichwohl ist er nicht unwidersprochen geblieben. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert hat Franz Brentano mit empirisch ausgerichteten Theoremen in gewisser Weise Kritik geübt, seine Schüler Alexius Meinong und Edmund Husserl setzten diesen Impuls fort.15 Von solchen ersten kritischen Ansätzen ausgehend entwickelte sich noch vor dem Ersten Weltkrieg eine breitere Strömung, die als allgemeine Wende der Philosophie zur Ontologie verstanden wurde. Häufig finden – auch bei Hartmann selbst16 – Arbeiten Hans Pichlers aus dem ersten Jahrzehnt nach 1900 als Initiationsurkunden Erwähnung,17 Heidegger würde vermutlich auch das für ihn wichtige Werk von Carl Braig von 1896 dazu zählen.18 Wie auch immer die genaue historische Verortung sein mag, in jedem Fall zeigt sich anhand der Publikationen der beginnende Umschwung in der Philosophie. Statt sich auf bloß erkenntnistheoretische Erwägungen zu konzentrieren, traute sich die Philosophie auch wieder zu, ontologische Fragen zu behandeln.19 In der Retrospektive werden vor allem Husserl und Heidegger als herausragende Vertreter für die neue ontologische Strömung benannt, aber die Wahrnehmung in der damaligen Zeit war 13 Vgl. Rickert (1921), 1. 14 Kant (2003), B XVI. 15 Darauf kann an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden. Vgl. dazu hinweisend Lehmann (1933), 8 f. und Pichler (1952), 133. 16 Vgl. Hartmann (1965), VIII. 17 Vgl. Pichler (1906), Pichler (1909) und Pichler (1910). Siehe zur Rolle Pichlers auch Lehmann (1933), 7. 18 Vgl. Braig (1896). Zur Relevanz des Buches vgl. Rentsch (2003), 51 f. 19 Vgl. dazu Hartmanns eigene Positionierung (Hartmann (1958a), 333) sowie seine Feststellung, die Neukantianer hätten die ontologische Erdung des Erkenntnisproblems vergessen, was – so der Umkehrschluss – nun durch ihn nachgeholt würde (Hartmann (1958b), 270).

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eine andere, differenziertere. Neben dem schon genannten Pichler wurden ebenso Günther Jacoby20 und vor allem Hartmann als bestimmende Figuren wahrgenommen.21 Abseits des Neukantianismus waren es weiterhin vor allem der Positivismus in seinen verschiedenen einzelwissenschaftlichen wie philosophischen Formen sowie der Psychologismus, also die Zurückführung logischer und realer Sachverhalte auf psychologische, die der geistigen Gesamtlage ihre Gepräge gaben. Auf beide Strömungen kann hier nicht weiter eingegangen werden,22 wie denn auch das bisher Gesagte als Hintergrundschilderung für die noch aufzuweisenden Ontologien Hartmanns und Heideggers genügen soll. Eingangs war darauf verwiesen worden, dass neben einer gemeinsamen Ausgangslage beide Denker auch eine Zeit lang am selben Ort lehrten, nämlich von Oktober 1923 – der Berufung Heideggers – bis zum Sommer 1925 – dem Weggang Hartmanns nach Köln. Diese gemeinsame Zeit war für beide jedoch – man möchte anmerken: leider – keine Zeit produktiver Zusammenarbeit, sondern geprägt durch eine theoretische wie habituelle Entgegensetzung.23 Dabei scheint Heidegger, wenn man einem Brief an Karl Jaspers vom 14. Juli 1923 Glauben schenken darf, von Anfang an die Opposition und Konfrontation zu Hartmann gesucht zu haben: „Ich werde ihm [Hartmann; S.K.] – durch das Wie meiner Gegenwart – die Hölle heiß machen.“24 Andererseits lassen die Briefe Heideggers an seine Frau ein durchaus entspanntes Verhältnis zu Hartmann und seiner Familie vermuten.25 Wie auch immer man die Mar20 Jacoby ist heute fast völlig vergessen, seine Ontologie (vgl. Jacoby (1925)) spielt keine Rolle mehr. Zur Einordnung Jacobys vgl. Frank u. Häntsch (1993), Rauh u. Frank (2003) und Kluck (2009). 21 So äußert sich etwa Erich Rothacker in seinen Erinnerungen wie folgt: „Von der ganzen neukantischen Schule trennte mich ihre befremdliche Auffassung der ,Realität‘. Interessant ist, wie rasch diese Mode vorüberging. Der Durchbruch gelang nicht erst Heidegger, sondern schon vor ihm Nicolai Hartmann.“ (Rothacker (1963), 60) 22 Vgl. als Überblicksdarstellungen zum Psychologismus Kusch (1995) und zum Positivismus der Zeit Haller (1993), 9 – 100. 23 Die habituellen Unterschiede illustriert sehr prägnant die schon angeführte Schilderung Gadamers. – Auch später noch kreuzten sich die Wege der beiden noch einmal, als es um die Neubesetzung eines Lehrstuhls in Berlin ging. Vgl. dazu Gerhardt u. a. (1999), 254 – 257. 24 Zitiert nach: Thomä (2003), 520. 25 Vgl. Heidegger (2005), 131 (Brief vom 14.10.23), 133 f. (Brief vom 27. 10. 1923), 142 (Brief vom 31. 7. 1925).

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burger Phase charakterisieren will, fest steht, dass es trotz gleicher Ausgangs- und Interessenlage26 es zu keiner nennenswerten theoretischen Verbindung gekommen ist, sich vielmehr unüberbrückbare Gräben auftaten.

II. Geteilte Perspektiven Bevor aus der Perspektive Hartmanns den Gründen für die Differenzen nachzugehen sein wird, muss ergänzend zur gemeinsamen Ausgangslage und zur gemeinsamen Marburger Zeit noch darauf verwiesen werden, dass auch inhaltlich prima facie durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Hartmann und Heidegger bestanden. In erster Linie fällt dabei der Anspruch auf, gegen Neukantianismus, Positivismus und Idealismus den rechten Zugang zur Ontologie wieder freilegen zu müssen. Bei Heidegger wird dieser Anspruch sehr prominent und vehement vertreten – „Die Seinsfrage wiederholen besagt daher: erst einmal die Fragestellung zureichend herausarbeiten.“27 –, aber auch Hartmann bekennt sich dazu: „Die Idee der neuen philosophia prima hat ihre methodische Einheit darin, daß sie auf allen Gebieten nach dem fragt, was das dem Sein nach Prinzipielle und Grundlegende ist.“28 Derlei Impetus wird vor der geschilderten Ausgangslage als Aufbruch verständlich, wie denn auch Pichler die neukantianische Lehre in ihren späten Formen als „lähmende Erscheinung“29 beschreibt. Gleichwohl zeichnet sich sofort eine unmittelbare Konkurrenzsituation ab, die insbesondere Heidegger, der sehr viel Wert auf Originalität und Neuartigkeit legte, wenig gefallen haben kann.30 26 Nicht nur die Ontologie trieb beide gleichzeitig um, sondern etwa auch die Beschäftigung mit Aristoteles (vgl. etwa Heideggers Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1924 (Heidegger (2002)) und Hartmanns Artikel „Aristoteles und Hegel“ von 1923 (Hartmann (1923)). Es mutet rückblickend geradezu paradox an, dass zwei einander thematisch so nahestehende Denker zur selben Zeit am selben Ort vom Wissen und Denken des jeweils anderen so wenig profitieren wollten und konnten. 27 Heidegger (2001), 4. 28 Hartmann (1965), 31. Andernorts bezeichnet Hartmann es als seine Aufgabe, eine echte philosophia prima erst zu entwickeln (Hartmann (1958b), 302). 29 Pichler (1952), 132. 30 Bemerkenswert für die geteilte Perspektive ist auch, dass der frühe Heidegger 1912 in einem Aufsatz in Auseinandersetzung mit Oswald Külpe eine Position erkennen lässt, die ihn – bei stetiger Fortführung dieser Gedanken – durchaus in

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Weiterhin fällt jedem Leser der Werke Hartmanns sofort deren starke phänomenologische Orientiertheit auf. Man kann – überspitzt formuliert – sagen, dass es außerhalb der phänomenologischen Schule wohl keinen überzeugteren Phänomenologen als Hartmann gegeben hat.31 Hartmann selbst bekennt sich zu einer solchen Anleihe, nennt die Phänomenologie eine „gesunde Tendenz“, wenn sie zurück zu den Sachen wolle.32 Aber auch hier zeigt sich recht bald, dass die Gemeinsamkeit nur bedingt tragfähig ist. Zum einen ist Hartmanns Blick auf die Phänomenologie mitunter undifferenziert – es scheinen Husserl, Heidegger und Max Scheler zum Teil darin zusammenzufallen33 –, zum anderen zeigt er der Phänomenologie auch explizit Grenzen auf. Sie kann als Zugang zu den Phänomenen Wichtiges und Relevantes leisten, danach aber müssen sich Aporetik und Theoriebildung anschließen, die nicht mehr phänomenologisch sind.34 Hartmann meint: Im Gesamtresultat: wo Phänomenologie eine vorbereitende Methode ist, leistet sie Ausgezeichnetes und Unentbehrliches; wo sie das Ganze der Philosophie an sich reißt, wird sie zum Verzicht auf wissenschaftliche Bildung und größere Zusammenschau, zum neuen Appell an den gesunden Menschenverstand […], also zu einer Art gewollt ungebildeten Philosophierens.35

Diese harsche Zurechtweisung wird vor den noch zu schildernden Vorwürfen Hartmanns an Heidegger verständlicher, lässt jedoch einsichtig werden, warum auch beider gemeinsamer Bezug zur Phänomenologie keine Brücke zu schlagen helfen vermochte.

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größere Nähe zu ontologischen Ansätzen Hartmanns hätte bringen können (vgl. Heidegger (1978), 4, 6, 13, 15). Jedenfalls lassen seine Äußerungen noch keinen radikalen Bruch mit der klassischen Seinslehre erkennen, wie er ihn später vollzogen hat. Zu Recht hat deshalb Herbert Spiegelberg Hartmann in seine grundlegende Darstellung der philosophischen Bewegung aufgenommen (vgl. Spiegelberg (1994), 306 – 335). Spiegelberg stellt fest: „Let it simply be said that Hartmann’s philosophy contains enough phenomenological ingredients to claim for him the status of an independent and highly unorthodox ally.“ (Spiegelberg (1994), 329) Vgl. Hartmann (1955a), 9. Solch vages Phänomenologieverständnis hatte schon früh Gadamers Kritik gefunden. Vgl. Gadamer (1923/24), 346 f. Zu Hartmanns methodischem Dreischritt Phänomenologie – Aporetik – Theorie vgl. Hartmann (1955a), 9; Hartmann (1955b), 125 und exemplarisch den Aufbau von Hartmann (1925). Hartmann (1965), 216.

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Schließlich sei als eine weitere sinnfällige geteilte Perspektive neben ontologischem Neuanfang und der Phänomenologie die Betonung der Rolle der Gefühle genannt.36 Bei Heidegger findet sich die Herausstellung des Vorrangs der „Befindlichkeit“, das heißt der Stimmungen und des Gestimmtseins, für den Weltzugang vor der rationalen Erkenntnis, insofern „die Erschließungsmöglichkeiten des Erkennens viel zu kurz tragen gegenüber dem ursprünglichen Erschließen der Stimmungen, in denen das Dasein vor sein Sein als Da gebracht ist.“37 Es handelt sich hierbei um eine gewisse Abkehr vom rational-kognitivistischen Paradigma, welches vor allem mit René Descartes verbunden wird. In gleicher Richtung argumentiert auch Hartmann, wenngleich natürlich mit anderer Terminologie. Er spricht in seinem veröffentlichten Vortrag „Zum Problem der Realittsgegebenheit“ 38 von den „emotional-rezeptiven Akten“, in denen „wir als Beteiligte im Leben stehen, in denen also alles dasjenige uns gegeben ist, was uns betrifft und angeht, womit wir uns stellen, auseinandersetzen und irgendwie fertig werden müssen.“39 Die Funktion der Gefühle scheint bei beiden Denkern die gleiche, anti-rationale oder zumindest gegen die Vorherrschaft des Rationalen gerichtete Pointe zu haben.40 Doch auch über diese offensichtliche gemeinsame Basis gelang keine produktive Zusammenarbeit, was damit zu tun hat, dass Hartmann die Akte zwar als Gegebenheiten akzeptiert, sie jedoch scharf vom Ansichsein als dem Sein schlechthin trennt. Heidegger dagegen – vermutlich in direkter Abwehr von Hartmanns und Schelers schichtentheoretischen Modellen – besteht aber etwa darauf, dass Zuhandenheit als „die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ,an36 Diese Aufzählung von Gemeinsamkeiten erschöpft keineswegs den Rahmen, will vielmehr als Hinweis auf durchaus vorhandene unmittelbare Anknüpfungspunkte beider Denker zueinander verstanden werden. Dass sie sich einander nie nahegekommen sind, wird ja erst vor dem Hintergrund geteilter Ansichten zu einem philosophiehistorisch relevanten Ereignis. 37 Heidegger (2001), 134. 38 Hartmann (1931). Der Aufsatz ist eine unmittelbare Vorarbeit zu Hartmann (1965), wo sich die entsprechende Theorie der emotionalen Akte weiter ausgeführt wiederfindet (vgl. Hartmann (1965), 163 – 209). – Schon der Zeitgenosse von Hartmann und Heidegger, Lehmann, hatte das zwischen beiden verbindende Element dieser Gefühls-Analyse gesehen. Vgl. dazu Lehmann (1933), 28 f. 39 Hartmann (1931), 15 f. 40 Diese gemeinsame Stoßrichtung zeigt sich auch darin, dass beide Philosophen das theoretische Weltverhältnis zugunsten des praktischen bzw. alltäglichen herabstufen in seiner Relevanz. Vgl. dazu Heidegger (2001), 58 f. und Hartmann (1965), 172 f.

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sich‘ ist“,41 verstanden werden muss. Gleiches gilt auch für Gestimmtheiten, die eben nicht ein material Vorhandenes bloß subjektiv einfärben, sondern vielmehr Seiendes überhaupt erst auftreten lassen.42 Der vorgenommene Exkurs zu geistesgeschichtlichen, biographischen und einigen ausgewählten inhaltlichen Gemeinsamkeiten lässt deutlich erkennen, welch naheliegende Verbindung Hartmann und Heidegger gerade nicht eingegangen sind. Im Folgenden soll versucht werden, dafür theoretische Gründe herauszustellen, insbesondere auf dem Feld der Ontologie. Die gewählte Perspektive rückt dabei Hartmanns Kritik an Heidegger in den Mittelpunkt, um die rezeptionsgeschichtliche Dominanz des Blickwinkels Heideggers und seiner Schüler auf den „unterlegenen“ Hartmann zu überwinden. Auf solche Weise gewinnt zum einen die Kategorialontologie Hartmanns schärfere Kontur, zum anderen wird sich zeigen, dass sie durchaus eine legitime Alternative zur Daseinsanalytik hätte werden können.

III. Hartmann als Kritiker von „Sein und Zeit“ Kritische Stellungnahmen zur Theorie des jeweils anderen finden sich im Rahmen ihrer ontologischen Abhandlungen sowohl bei Hartmann43 als auch bei Heidegger44. Häufig geschieht dies implizit, selten expressis 41 Heidegger (2001), 71. Vgl. auch Heidegger (2001), 69 ff. 42 Vgl. Heidegger (2001), 98 ff. 43 Vgl. v. a. Hartmann (1965), VII f., 14, 40 ff., 52, 73, 76, 79, 117 – 120, 172, 181 f., 196 ff., 215 f. Nicht an allen Stellen wird Heidegger mit Namen genannt, ist aber oft das eigentliche Bezugsthema. Daneben auch noch die folgenden Stellen, die teilweise Heidegger, teilweise allgemein die Phänomenologie betreffen: Hartmann (1955a), 20, 50, Hartmann (1955c), 54, 58, 61, Hartmann (1955b), 145, 152, Hartmann (1931), 90, sowie Hartmann (1933), 41, 314 – 319. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 44 Vgl. v. a. Heidegger (2001), 48, 55, 58, 59 f., 63, 183, 202 – 210 sowie aus dem Umfeld der Entstehung von Sein und Zeit die Hinweise in Heidegger (1994), 216, 221, Heidegger (1975), 86 – 93, Heidegger (1990), 204 f., und Heidegger (1995), 81. Hartmann steht für Heidegger zumeist als exemplarischer Vertreter einer „Gehäuse“-Metaphysik, die sich Gedanken darüber macht, wie das Subjekt denn zum Objekt Kontakt haben kann (oder umgekehrt). Heidegger bezieht sich dabei wohl vor allem auf Hartmann (1925), 43 – 121, 305 – 324. Frühe Aufnahme fand diese Sichtweise bei seinem Schüler Gadamer (vgl. Gadamer (1923/24), 348). – Ein weiterer Hinweis auf die gegenwärtige Hartmann-Vergessenheit kann darin gesehen werden, dass er im Heidegger-Handbuch (vgl. Thomä (2003)) praktisch nicht vorkommt (abgesehen von vier belanglosen Erwähnungen). Die ansonsten

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verbis. Die Kritik Hartmanns an „Sein und Zeit“, das, von Heidegger nach elfjähriger Publikationspause vorgelegt, seinem Verfasser mit „einem Schlage […] Weltruhm“ verschaffte,45 umfasst mindestens fünf Schwerpunkte. Es geht dabei zum einen um das Verständnis von Ontologie, weiterhin um die Rolle des Subjekts, um die Verwechslung von Sein und Gegebenheit, Einseitigkeiten der Sorge-Perspektive und schließlich um das Verhältnis der Ontologie zu Einzelwissenschaften. An all diesen Punkten, welche eng miteinander zusammenhängen, sieht Hartmann entscheidende Fehler Heideggers und glaubt, solche durch seine Ontologie zu umgehen. Schon im Grundverständnis davon, was Ontologie sein soll, liegen beide Philosophen im Widerstreit. Hartmann versteht darunter eine „universale Prinzipienlehre“,46 die sich in gleicher Weise allem Sein – realem wie idealem – zuwendet. Sie versucht, die Kategorien – darunter verstanden nicht mehr bloß Seins- und Erkenntnisprinzipien, sondern Prinzipien aller und jeder Art47 – zu erkennen und in ihren Beziehungen zu erfassen. Diese bei Hartmann im Anschluss an Aristoteles vorgenommene Fokussierung auf Kategorien ist Folge der Einsicht, dass man das „Sein selbst […] weder definieren noch erklären [kann]. Aber man kann die Arten des Seins unterscheiden und deren Modi analysieren.“48 Es geht in seiner kategorialanalytischen Ontologie demnach um eine Untersuchung der grundlegenden Strukturen aller den Menschen bekannten Seinsformen: Sie [die Ontologie; S.K.] ist das Desiderat der systematischen Philosophie in unseren Tagen. Sie kann in nichts anderem bestehen als in reiner Kategorialanalyse, d. h. in einer Untersuchung des Grundsätzlichen und Prinzipiellem in allem, was mit dem Anspruch auf Ansichsein auftritt.49

Gegen die alte Kategorienanalyse betont Hartmann, dass es ihm in der Ontologie um Seins-, nicht Erkenntniskategorien geht – eine bewusste Abgrenzung gegen den Neukantianismus.50 Die Seinskategorien sind

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gute Erläuterung der Entstehung und Rezeption von „Sein und Zeit“ (vgl. Rentsch (2003)) übersieht Hartmann völlig, was sachlich kaum zu verteidigen ist. So sah es zumindest Gadamer (1995), 210. Hartmann (1958b), 276. Vgl. Hartmann (1958b), 276. Hartmann (1958a), 335. Hartmann (1955a), 51. Zwischen beiden Kategorieformen besteht eine Grenze, keine Identität (vgl. Hartmann (1955d), 92). Generell zur Scheidung der beiden Kategoriengruppen vgl. Hartmann (1955b), 161 – 177, und besonders Hartmann (1958b), 296 – 299.

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immer umgreifender, größer als diejenigen der Erkenntnis, und der Mensch muss individuell wie kollektiv bestrebt sein, sich mit seinen Erkenntniskategorien den Seinskategorien anzunähern. Es geht um eine adaequatio rei et intellectus auf dem Wege der Kategorien.51 Das Besondere der Ontologie Hartmanns liegt dabei darin, dass er auf das Ansichsein der Objekte zielt. Unter diesem – kantisch geprägten – Begriff versteht er nicht einen genau zu bestimmenden Seinscharakter oder ähnliches, vielmehr ist es „kein streng ontologischer Begriff. Er ist nur eine Abwehr und ein Trennungsstrich gegen das bloße Gegenstandsein.“52 Nicht weil das Sein gewisse dauerhafte Eigenschaften mit sich bringt, ist die Rede vom „Ansich“ gerechtfertigt, sondern um Missverständnissen vorzubeugen, die aus der immanenztheoretisch geprägten Philosophie und deren Konzepten herrühren. Diese hatte das Sein nur als Erkenntnisprodukt des Menschen fassen können, das heißt als Gegenstand-Sein für ein Bewusstsein. Ein solches Gegenstand-Sein ist aber bloßes „für uns“, keineswegs ein „an sich“.53 Hartmann kehrt damit die traditionelle Blickrichtung auf das Bewusstsein (intentio obliqua) um, stärkt die Perspektive auf die Objekte und Sachen als Wirkliche (intentio recta).54 Seine Ontologie nimmt sich vor, das Sein so zu erfassen, wie es an sich besteht – wohlwissend, dass das immer nur näherungsweise möglich ist. Vor diesem Hintergrund formuliert Hartmann dann auch seine Kritik am Vorhaben Heideggers, welches sich – kurz gesagt – die Freilegung des Seins durch Hinwendung auf das alltägliche Seinsverständnis des Menschen unter Destruktion der überlagernden Tradition zur Aufgabe macht. Während es aus seiner Sicht an einer traditionskritischen Haltung zunächst nichts einzuwenden gibt,55 erscheint ihm die Hinwendung auf das alltägliche Seinsverständnis des Menschen, wie sie Heidegger mit seinem

51 Es heißt dazu, des Begreifens „Grundtendenz ist die der Annäherung an die Seinskategorien.“ (Hartmann (1955d), 120) 52 Hartmann (1965), 78. Stallmach formuliert treffend, Hartmann bekämpfe den „Korrelativismus von Sein und Erkennen“ (Stallmach (1987b), 12). 53 Vgl. dazu Hartmann (1965), 141. Siehe erläuternd dazu Stallmach (1987b), 26. 54 Vgl. Hartmann (1965), 142. 55 Auch Hartmann kennt etwa, wie Heidegger, das Problem des Verfalls der Sprache, d. h. ihr Uneigentlich-Werden (vgl. Hartmann (1965), 120, und dazu Heidegger (2001), 167 – 170). Gleichwohl ist Hartmann der Philosophiegeschichte gegenüber wesentlich weniger skeptisch, als es Heidegger mit seinem Vorhaben einer Radikaldestruktion ist.

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Ausgang beim besorgenden Umgang in der Welt vollzieht,56 aus mindestens zweierlei Gründen problematisch. Erstens folge daraus eine Hypostasierung des Subjekts, insofern es ontologisch in den Mittelpunkt gerückt würde. Heidegger stellt, so Hartmanns Einwand, das Dasein bewusst zentral in den Fokus seiner Ontologie, wodurch er die Rolle des Subjekts wie der Neukantianismus und Idealismus überstrapaziere. Es besteht die Gefahr der Subjektrelativität des Seins – für Hartmann als Vertreter einer am Ansich ausgerichteten Philosophie untragbar. Durch die Verlegung des Ansatzpunktes ins Dasein wird Heidegger für Hartmann zum Cartesianer, ähnlich wie schon zuvor Husserl.57 „Gemeint ist nur noch das Seiende, wie es für mich besteht, mir gegeben ist, von mir verstanden ist. […] Hier liegt der Grund, warum Heideggers ,Welt‘ eine auf den Einzelmenschen relative (,je meinige‘) ist.“58 Die Jemeinigkeit, wie Hartmann sie verstand,59 erscheint als bloße Subjektivität, wodurch man den daraus folgenden Seinsanalysen prinzipiell jede objektive Gültigkeit absprechen müsste. Ontologie würde unter einer solchen Perspektive relativiert. Gegen einen derartigen Subjektivismus war Hartmann im Angesicht ähnlicher Züge in neukantianischen Theorien vorgegangen durch seine eigene, anti-kantische kopernikanische Wende: der Mensch rückt im Sein wieder in die Peripherie.60 Diese Entwicklung führt, wie etwa der Philosoph Max Dessoir anmerkt, zu einem sehr passivistischem Menschenbild.61 Auch hin56 Vgl. dazu exemplarisch Heidegger (2001), 66 f. – Auch Hartmann geht vom „natürlichen Seinsverständnis“ aus, zieht dieses jedoch vor allem wegen der darin enthaltenen Realitätsannahme heran (vgl. z. B. Hartmann (1965), 49). 57 Vgl. Hartmann (1965), VII. 58 Hartmann (1965), 40, 42. 59 Ob die Auslegung der Jemeinigkeit in diesem Sinne Heideggers Ansicht gerecht wird, bleibt ihm Rahmen der hier verfolgten Perspektive, wie eingangs allgemein dargelegt, bewusst ausgespart. Vgl. dazu aber weiterführend Stallmach (1987b), 96, und zur Kritik an Hartmanns Analyse Kanthack (1962), 148. 60 Vgl. Lehmann (1933), 26, und ebenfalls zu diesem Aspekt sowie der unterschiedlichen Rolle des Subjekts bei Hartmann und Heidegger Stallmach (1987a), 15 und passim. – Hartmanns Anti-Existenzialismus, wie man es nennen könnte, gipfelt in der ganz anti-heideggerschen Formulierung, „der Mensch ist, ontologisch gesehen, ein Spätprodukt dieser Welt. Erst war also das Seiende da […].“ (Hartmann (1955b), 131) Dagegen Heidegger: „Mit dem Sein des Daseins und seiner Erschlossenheit ist gleichursprünglich Entdecktheit des innerweltlich Seienden.“ (Heidegger 2001, 221) Dort Vorrang des Seins, hier Abhängigkeit des Seins vom Auftreten des Daseins. 61 Zitiert nach: Hartmann (1931), 34. – Vor diesem Hintergrund kann der Vorwurf Kanthacks, Hartmann sei Theoretiker der subjektiven Allmacht, nur sehr ver-

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sichtlich der schon angeführten emotional-transzendenten Akte fällt auf, dass die den Menschen befallenden – das heißt Erfahren, Erleiden, Erleben – ein deutlich höheres Gewicht zu haben scheinen als die prospektiv-aktiven Akte. Hartmann fordert vom Menschen letztlich ein demütiges Ethos ein.62 Er übersieht dabei, dass ein zumindest teilweise ähnlicher Zug in „Sein und Zeit“ präsent ist, und zwar im Motiv der „Geworfenheit“.63 Ihm scheint jedoch grundsätzlich die Betonung der Rolle des Subjekts, wie sie Heidegger vornimmt, nur einem unvertretbaren Subjektivismus Vorschub zu leisten; Hartmann spricht gar von einer bei Heideggers Theorie sichtbaren „habituellen Verkehrtheit des Sich-selbst-Wichtignehmens“.64 Letztlich zeige sich Heidegger damit implizit als Anti-Phänomenologe, vielmehr als Anhänger eines Idealis-

wundern (vgl. Kanthack (1962), 157, 163). Es gibt zwar in der Ethik durchaus eine stärkere Fokussierung auf das Subjekt (vgl. z. B. Hartmann (1926), 624 – 728), aber es geht in diesem Buch immerhin um das Verhalten des Menschen, weshalb dort seine Einflussmöglichkeiten im Mittelpunkt stehen. Am grundlegend demütig-passiven Zug des Menschenbilds Hartmanns ändert das nichts. Inwiefern das anthropologische Leitbild durch Hartmanns Kontakt mit der Philosophischen Anthropologie geformt wurde, muss hier offen bleiben. Dass Hartmann allerdings in größerem Maße in diesen Denkansatz involviert war, hat zuletzt klar Joachim Fischer nachweisen können (vgl. z. B. Fischer (2008), 52 – 55). 62 Das geht fast bis hin zu stoischen, fatum-ergebenen Motiven: „Relativ gleichgültig wird der Tod für den, der sich selbst in unverfälscht ontischer Einstellung als geringfügiges Individuum unter Individuen sieht, als Tropfen im Gesamtstrom des Weltgeschehens.“ (Hartmann (1965), 182) 63 Vgl. Heidegger (2001), 135, 221. Wenn dort von einer „Faktizitt der berantwortung“ die Rede ist, so deutet dies an, dass es Heidegger nicht nur um den erleidenden Zug des Geworfenseins geht, sondern auch um die Notwendigkeit des Menschen, sich zu diesem Faktum aktiv zu verhalten. Insofern entspricht die Geworfenheit nur zum Teil der von Hartmann akzentuierten Passivität. Heidegger hat aber, wie David Espinet zeigen konnte, gegen Husserl auf einem anderen Feld – der sinnlichen Wahrnehmung – sehr wohl das Passive dem Aktiven vorgezogen. Vgl. dazu Espinet (2010), 135, 140, 144. 64 Hartmann (1965), 182. – Neben dem Subjektivismus-Vorwurf steht auch der Solipsismus-Vorwurf im Raum, insofern Heideggers Ausgang bei der Jemeinigkeit das Sein anderer Bewussthaber problematisch macht. Hartmann hält Heidegger für einen Sozialatomisten und Individualismus-Theoretiker; selbst insistiert er auf der Macht der Gemeinschaft (vgl. z. B. Hartmann (1933), 69, 210, und Hartmann (1965), 63, 187). Auf diese Kritik kann hier jedoch nicht weiter eingegangen werden.

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mus, denn er entwerte die natürliche Realität zugunsten einer höheren, nämlich der jemeinigen Welt.65 Zweitens aber ergibt sich aus dem Ausgang vom Dasein und dem alltäglichen Seinsverständnis desselben eine folgenschwere Verwechslung der Zuhandenheit mit dem Ansichsein. Unter Zuhandenheit verstand Heidegger die primäre Gegebenheitsweise von Dingen im In-der-WeltSein. In Abgrenzung womöglich gegen Kant – und implizit Hartmann – schreibt er: Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selber her offenbart, nennen wir Zuhandenheit. Nur weil Zeug dieses „An-sich-sein“ hat und nicht lediglich noch vorkommt, ist es handlich im weitesten Sinne und verfügbar.66

Heidegger erweist sich als fundamentaler Kritiker aller Schichten-Ontologie.67 Ihm ist das Zuhandene nicht bloß ein Vorhandenes, dem eine subjektive Deutung als zweiter Schicht zugewachsen ist. Es ist selbst ein Ansich, sogar das erste Begegnende. Solcherart Analyse widerspricht Hartmann energisch, da damit das Ansichsein, wie er es versteht, als ein nur subjektbezogenes Aufgefasst-Sein sich herausstellen würde. So erkennt er zwar die von Heidegger gelieferte Zuhandenheits-Untersuchung durchaus an, relativiert dann aber: „Das Zuhandensein […] ist vielmehr eine sehr bestimmte und unaufhebbare Gegebenheit der Realität der Welt als der einen und ansichseienden.“68 Die Pointe der Überlegung ist, dass Zuhandenheit nur eine Gegebenheitsweise ist, nicht das Ansichsein selbst, welches sich eben nur über Weisen des Fürmichsein – wie die Zuhandenheit – vermittelt darstellt. 65 So deutet es Hartmann provokativ an (Hartmann (1931), 90). – Wolandt stellt fest, dass Hartmann die Letztheit der konkreten Subjektivität nicht zeigen könne (Wolandt (1963), 315). Das ist sicher zutreffend, aber innerhalb des Theoriegebäudes Hartmanns gibt es und muss es eine solche auch nicht geben. Schon 1931 bei der Diskussion im Anschluss an einen Vortrag war durch Julius Stenzel von Hartmann die Entwicklung einer Theorie der Subjekts eingefordert worden (vgl. Hartmann (1931), 42). Er lehnt jedoch ab mit dem Verweis darauf, nicht wie Heidegger in weltanschauliche Ontologie verfallen zu wollen (Hartmann (1931), 90). Zur vermeintlich fehlenden Anthropologie bei vgl. auch Stallmach (1987a), 20. 66 Heidegger (2001), 69. 67 Vgl. dazu z. B. Heidegger (2001), 48, 63, 98. Vgl. dazu auch Wunsch (2010), 554, 558 f. 68 Hartmann (1965), 197. – Neben der Zuhandenheits-Analyse betont Hartmann andernorts auch die Vorbildlichkeit der Analyse des „Unechten im Geiste“, also des „Man“, des „Geredes“, der „Neugier“ usw. Vgl. Hartmann (1933), 314 ff.

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Beiden genannten Verfehlungen Heideggers – dem Subjektivismus und der Überhöhung der Zuhandenheit – liegt nach Hartmann dieselbe Ursache zugrunde, nämlich die fortwährende Verwechslung von Sein mit Gegebenheit. In den Augen Hartmanns missversteht Heidegger bestimmte Weisen des Gegebenseins mit dem Sein selber: Irrig […] ist die Vermengung von Gegebenheitsweise und Seinsweise. Die Art der Aufdeckung wird dem aufgedeckten Sein als seine Eigenart zugerechnet; dadurch wird dieses Sein auf das Ich bezogen, dem es gegeben ist, und die Welt steht relativiert als die „je meinige“ da.69

Eine derartige Kritik rührt an die Grundfeste der Phänomenologie, denn deren Ansatz war es gerade, dass das Gegebene als es selbst, wie es sich gibt, zu nehmen sei. Insbesondere Heidegger hatte in seiner Ontologie betont, inwiefern die Phänomene, also das Sich-Zeigende,70 das Gegebene, der einzige Forschungsgegenstand sind. Er hatte vehement gegen jedwedes „Hinterwelt-Theorem“, das heißt die Annahme einer hinter den Phänomenen sich verbergenden eigentlichen Seinssicht, argumentiert: „,Hinter‘ den Phänomenen der Phänomenologie steht wesenhaft nichts anderes […].“71 Das so verstandene Postulat greift Hartmann mit dem Verweis auf die mögliche Verwechslung von Gegebenheits- und Seinsweise an. Es heißt bei ihm mit deutlicher Anspielung auf die Phänomenologie: Alles direkt Gegebene hat als solches nur Phänomencharakter. Auf den Seinscharakter hin muß es immer noch besonders untersucht werden. Und in dieser Untersuchung erst besteht die Arbeit der Ontologie […]. Das wirkliche „Sein als solches“ ist niemals „Sein wie es sich zeigt“ (als Erscheinung), sondern das „Sein wie es an sich ist“ (als Erscheinendes hinter der Erscheinung).72

Hartmann bekennt sich zur Annahme einer hinter den Phänomenen liegenden, eigentlicheren Wirklichkeit, nämlich dem Ansichsein. Nur dieses ist der eigentliche Gegenstand der Ontologie, weshalb ihm Heideggers Insistieren auf dem Verweilen bei den Phänomenen nur als eine 69 Hartmann (1965), 197. An anderer Stelle heißt es: „Die Welt ist nicht ,jemandes‘ Welt […], weil jeder ,Jemand‘ schon real in der einen Welt steht und alle Verschiedenheit nur die Grenzen seiner Orientierung in ihr betrifft.“ (Hartmann (1965), 221) Das Sein ist nicht relativ, nur die Gegebenheitsweise, weshalb beide nicht verwechselt werden dürfen. 70 Vgl. dazu Heidegger (2001), 28 f. 71 Heidegger (2001), 36. 72 Hartmann (1955a), 50. Vgl. auch Hartman (1965) 52.

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Vorstufe, gleichsam nur als Propädeutik einer echten Ontologie sinnvoll erscheinen konnte. Es stellt sich für ihn außerdem die Frage, wie denn der Phänomenologe Unwahres und Täuschungen herausstellen will, wenn doch allein das Gegebene hinzunehmen ist. Nach seiner Auffassung bedarf es zur Konstatierung von Wahrheit eines ansichseienden Bezugspunktes, der Heidegger aber abgeht.73 Letzterer muss beim bloßen Gegebenen bleiben, während Hartmann – sich hierin im Einklang mit der natürlichen Weltauffassung glaubend – zwar von der Realität, nicht jedoch von der vollständigen Adäquatheit des Gegebenen ausgeht.74 Ein weiterer Kritikpunkt Hartmanns betrifft die Neuformulierung der ontologischen Frage. Er selbst hatte sich, wie gezeigt, vehement für eine Wiedergewinnung der intentio recta stark gemacht, weshalb ihm das Seiende als Seiendes der zu suchende Gegenstand der Ontologie war. Heidegger hingegen entwickelt bekanntlich eine andere Perspektive, er hält die Klärung des Sinns von Sein für die Fundamentalaufgabe jedweder Beschäftigung mit dem Sein.75 Das ist nun wiederum selbst keine ontologische Aufgabe mehr, sondern liegt dieser in gewisser Weise voraus. Wenn man aber, so Hartmann, den Sinn von Sein statt dem Ansichsein in die Perspektive nimmt, folgt daraus einerseits – wie schon in anderen Kontexten zuvor von ihm aufgezeigt – eine Subjektivierung der Ontologie, andererseits aber ist „Sinn“ keine grundlegende Begrifflichkeit, sodass die Sinn-Frage nicht die letzte Frage bilden kann, das heißt, sie ist nicht fundamental, wie Heidegger glaubte. Subjektiv wird die Ontologie durch die Fokussierung auf den Sinn deshalb, weil, so Hartmann, das Seiende „an sich selbst […] gar nicht Sinn haben [kann]. Es kann nur ,für jemand‘ Sinn haben.“76 Eine Beantwortung der Sinn-Frage liefe, folgt man der geschilderten Auslegung, auf eine je individuell-beliebige Sache hinaus. Dagegen betont Hartmann, hier seinem streng objektivistischen Duktus folgend, die Verbindlichkeit des Ansichseins. Außerdem aber ist die Frage nach dem Sinn von Sein, anders als Heidegger nahelegt, keine Fundamentalfrage. Er hält die Sinn-Frage für verfehlt, da sie nicht die letztmögliche, nicht die allgemeinste Frageperspektive ist. Sinn, so

73 Vgl. zu diesem Aspekt Hartmann (1965), 79 f., 152 f., und Hartmann (1955c), 54. 74 Vgl. Hartmann (1955c), 62. 75 Heidegger (2001), 11. 76 Hartmann (1965), 42. Vgl. dazu auch erläuternd Stallmach (1987b), 28 f., und Lehmann (1933), 28.

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Hartmann, müsse schließlich auch irgendwie ein Sein haben. Das Sein des Sinns bleibe jedoch ungeklärt und somit unausgewiesen.77 Mit den genannten Kritikpunkten sind die grundlegendsten Differenzpunkte benannt. Im Kern handelt es sich vor allem um die Fragen nach der Subjektivität (und das meint: Beliebigkeit) der Ontologie Heideggers, der Rolle des Menschen in Welt und Theorie sowie nach dem Charakter des Seins (Ansichsein oder Erscheinung), an denen beide Theorien sich aneinander reiben. Darüber hinaus aber finden sich noch peripherere, aber durchaus relevante weitere Kritikpunkte, die zeigen, dass Hartmann Heideggers Vorgehen durchaus detailliert analysiert und bewertet hat. Zum einen mahnt er an, dass Heideggers Betonung der Sorge- und Angst-Motive übersieht, dass mit diesen keineswegs umfassende Einsichten zu gewinnen sind, sondern sie vielmehr notwendig in Einseitigkeiten führen. Die Sorge nämlich sei fälschlich isoliert herausgestellt, vielmehr ist, „was wir kennen, […] immer schon ein erstrebendes, handelndes, arbeitendes, erleidendes, hoffendes oder fürchtendes Bewußtsein und zugleich auch stets schon ein erkennendes.“ Die von Heidegger stark gemachte Opposition von Sorge und theoretischem Blick78 wird hier verworfen, stattdessen werden beide harmonisiert gedacht. Auch in der Angst, so Hartmann, könne das Dasein keineswegs die erhoffte Zusammenfassung seiner Existenz und auch die Welt nicht eigentlicher erfahren: „Der Angsterfüllte ist von vornherein der zum nüchternen Blick ins Leben und in das Seiendes, wie es ist, Unfähige.“79 Außerdem differieren Hartmann und Heidegger auch hingehend ihres Verhältnisses zu den Einzelwissenschaften. Ersterer geht davon aus, dass „die Ontologie […] nur so erneuert werden [kann], daß alle Forschungsarbeit der anderen Wissensgebiete in ihr vorausgesetzt wird.“ Gleichwohl wird damit nicht die Fundamentalstellung der Ontologie preisgegeben, „man muss vielmehr über den Begriff der Fundamentalphilosophie selbst umlernen. Sie kann nicht erste, sie kann nur letzte 77 Hartmann (1965), 42. 78 Vgl. Heidegger (2001), 180 – 200. 79 Hartmann (1965), 181. Gerade die Betonung der Angst bringt, was sonst im Œuvre Hartmanns eigentlich nicht prominent auftritt, ihn dazu, polemisch zu werden, wenn er von „spekulativen Fanatikern“, Sören Kierkegaard als dem „unseligsten und raffiniertesten aller Selbstquäler“ und von Heideggers Theorie als einem „Gaukelspiel“ spricht. In der Auseinandersetzung mit der Angst treffen subjektiv-existenzialistische und objektivistische Theoretiker anscheinend mit besonderer Härte aufeinander.

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philosophische Erkenntnis sein, und zwar eben deswegen, weil sie Erkenntnis des an sich Ersten ist.“80 Ontologie bedarf im gewissen Sinne anderer Wissensgebiete und Disziplinen, um sich von ihnen her bestimmte Bestände vorgeben zu lassen.81 Ihr Gegenstand ist das Ansichsein, das Sein schlechthin, aber dieses wird eben erst als Letztes zu erkennen sein. Mit einer solchen Position erweist sich Hartmann als den Einzelwissenschaften gegenüber aufgeschlossen, denn die Philosophie wird in ihrer höchsten Form zugleich zu einer Auswertungs- und Fundierungsinstanz für spezialwissenschaftliche Erkenntnisse. Heidegger hingegen thematisiert in „Sein und Zeit“ in der Hauptsache die beschränkenden Folgen der Wissenschaften, wenn er etwa meint, dass „das Entdecken der betreffenden Wissenschaft einzig der Entdecktheit des Vorhandenen gewärtig ist.“82 Hierin kommt zum Ausdruck, dass die spezifische wissenschaftliche Thematisierung von Sein schon immer einen bestimmten Seinsmodus anpeilt und somit einer Fundamentalontologie im Wege steht, die gerade ganz grundsätzlich nach dem Sein fragen will. Damit erweist sich Heideggers Theorie weniger anschlussfähig an einzelwissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse, während Hartmann diese viel ausgiebiger integrieren kann. In Ansätzen ist das insbesondere in den naturphilosophischen Teilen seiner Kategorienlehre von ihm vollzogen worden.

IV. Kategorialanalyse als vergessene Alternative Mit dem Gesagten sind wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Kategorial- und Existenzialontologie benannt.83 Bedingt durch die zuvor aufgezeigten Umstände ist Hartmanns Philosophie größtenteils der Vergessenheit anheimgefallen. In der Sache begründet ist das jedoch nur zu einem gewissen Teil,84 vielmehr lassen sich gute Motive dafür angeben,

80 81 82 83

Hartmann (1965), 32. Vgl. dazu auch Hartmann (1955c), 58. Heidegger (2001), 363. Gleichwohl ist das Problemfeld damit keineswegs erschöpft. Eine umfassende Studie zum Verhältnis der Theorien Hartmanns und Heideggers ist noch immer ein Desiderat. 84 Die Kritik an Hartmanns Ontologie (von Heidegger und anderen) bleibt hier vor dem Hintergrund der gewählten Perspektive der Untersuchung ausgespart. Der Beitrag versteht sich als der Versuch einer historischen Rehabilitierung, weshalb

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Hartmanns ontologisches Denken als legitime Alternative zur wirkmächtigeren Heidegger-Tradition anzusehen. Vier Motive sind es, welche beachtenswert scheinen. Zum einen das schon geschilderte Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft, zweitens der starke Objektivismus, drittens der damit verbundene strikte Anti-Relativismus und viertens das von Hartmann entwickelte Emergenz-Modell. Anders als Heidegger verstand Hartmann die Philosophie nicht in einer Opposition zu den (natur)wissenschaftlichen Einzelforschungen,85 sondern verstand seine Ontologie als eine Art von Kategorien-Archäologie, die aus den ihr zukommenden Erkenntnissen aller Gebiete das Wesentliche an Seinsbestimmungen freizulegen hatte. Dies machte seine Philosophie auch für einzelwissenschaftliche Fragestellung relevant, wie exemplarisch die durchaus enge Verbindung zum Biologen Max Hartmann belegt.86 Heidegger hingegen – auch hierfür kann die Biologie als Beispiel dienen87 – maß der Philosophie eine hohe Weisungs-Befugnis zu, denn sie ist eine notwendige Tätigkeit des Menschen, Wissenschaft nicht: „Die Wissenschaft fassen wir […] als eine Existenzmöglichkeit des menschlichen Daseins, die für das Dasein des Menschen nicht notwendig, sondern eine freie Möglichkeit der Existenz ist.“88 Heidegger opponiert gegen eine Vorherrschaft bestimmter wissenschaftlicher Methoden,89 wobei er diese berechtigte Kritik übertreibt hin zu einer – zumindest in der hier thematisierten Phase seines Denkens – Wissenschaftsfeindlichkeit.90 Weiterhin zeichnet sich Hartmann, was er selbst gegen Heidegger ins Feld führte, durch das Bestehen auf absoluter Objektivität und damit

85

86

87 88 89 90

die – durchaus berechtigte, aber eben ohnehin omnipräsente – Kritik an Hartmann nicht wiederholt werden muss. Hartmann selbst war begeisterter Hobby-Astronom und Biologe (vgl. dazu die Äußerungen in Harich (2000), 79 – 92). Jasper Blystone betont wohl zutreffend, dass Hartmanns Weltbild demjenigen der führenden Physiker, Biologen und Anthropologen seiner Zeit sehr ähnlich war (vgl. Blystone (1987), 59). Vgl. dazu Harich (2000), 87 – 92, und die von Max Hartmann selbst vollzogene Anwendung der Kategorienontologie Hartmanns auf das Problem des Organischen (M. Hartmann (1952)). Eine Verbindung von Hartmann zur Physik zieht z. B. Hans Joachim Höfert (1952). Vgl. dazu die Analyse in Kessel (2011). Heidegger (1983), 282. Vgl. dazu z. B. Heidegger (1983), 281, 295, 535, Heidegger (1995), 72, oder Heidegger (2001), 303. Fortgesetzt wird die berechtige Kritik an der übermäßigen Dominanz bestimmter wissenschaftlicher Methoden dann von Husserl (vgl. Husserl (1976)).

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einhergehend der Absage an jedweden ontologischen Relativismus aus. Er war gegen den Neukantianismus und dessen Zentralstellung des erkennenden Bewusstseins argumentativ vorgegangen, um dem objektiven Ansichsein seine herausgehobene Position wiederzugeben. Jedwede Relativierung ontologischer Erkenntnisse und Sachverhalte auf die Auffassungs-, Gegebenheits- oder Gestimmtheitsweise eines Subjekts lehnt Hartmann kategorisch ab. Scheler sah darin „eine übertriebene Reaktion gegen die maßlosen Marburger Überspannungen eines ,erzeugenden Denkens‘“,91 aber man kann es auch als eine Rückkehr zu einem bestimmten Wissenschaftlichkeitsideal verstehen. Gerade vor dem Hintergrund der späteren Entwicklung Heideggers und des Existenzialismus wäre eine stärkere, gleichwohl nicht unkritische Beachtung des Objektivitätsgebotes Hartmanns womöglich wünschenswert gewesen. Eine solche ist aber ausgeblieben, da Heidegger auf die bedenkenswerten Subjektivismus-Vorwürfe nicht reagierte. Schließlich erweist sich das im Zuge der Kategorienlehre entwickelte Emergenz-Modell Hartmanns als dort tragfähig für eine Analyse der Wirklichkeit, wo Heidegger mit dem Verweis auf die Ganzheitlichkeit, die Immer-schon-Struktur und ähnliche Motive eine weiterführende Diskussion abbricht.92 Emergenz – also das Auftreten neuartiger Bestimmungen auf höherer Ebene, die nicht schon in den niederen Stufen vorhanden waren – ist, so Hartmann, bedingt durch die kategorialen Gesetze, insbesondere das „Gesetz des Novums“.93 Es bilden sich über den niederen, zum Beispiel materialen Schichten, deren Bestimmungen im höheren Gebilde auch zum Teil wiederkehren, neuartige Eigenschaften aus. So kommt es beim Übergang von der materiellen zur organischen Schicht zu einem kategorialen Novum, welches man wohl „Leben“ nennen kann, ohne aber dabei die Bestimmungen der niederen Schicht – also etwa eine bestimmte Härte oder einen bestimmten Aggregatszustand – aufzuheben. Diese von Hartmann sehr detailliert ausgeführte Analyse wird heute im Rahmen moderner philosophy of mindTheoreme wieder aktuell und kann besser als Heideggers undifferenzierteres Vorgehen angewandt werden. Solche durch die Kategorienlehre erklärbare Emergenz wird bei Heidegger auch deswegen wenig thema91 Vgl. Scheler (1980), 21. 92 Vgl. z. B. Heideggers Diskussion des Lebens- und Organismusbegriffes (Heidegger (1983), 261 – 388). 93 Dieses wird bei Hartmann immer wieder verhandelt. Vgl. exemplarisch Hartmann (1940), 503 ff.

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tisiert, weil er streng zwischen Existenzialien und Kategorien trennt und somit die Frage des Hervorgehens sich gar nicht oder zumindest radikal anders stellt: Weil sie sich aus der Existenzialität bestimmen, nennen wir die Seinscharaktere des Daseins Existenzialien. Sie sind scharf zu trennen von den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen.94

Wird so schon von vornherein ein bestimmter Seinsbereich ausgesondert, kann er nicht auf einen anderen zurückgeführt werden, wie es Heidegger selbst betont. Gegen eine solche Trennung, die allein aus der Verschiedenartigkeit des Seienden abgeleitet wird, betont Hartmann die Homogenität des Seins.95 Eine Unterscheidung von Kategorien und Existenzialien lehnt er folgerichtig ab. Sich den Anregungen Hartmanns nicht vertiefend gestellt zu haben, das sollte aus dem Gesagten hervorgehen, zeigt sich somit als ein historisches Versäumnis sowohl Heideggers selbst als auch der ihm folgenden Philosophen.96 Hartmanns Ontologie lässt sich zwar sicher nicht – dies sei betont – einfach unkritisch übernehmen, denn Heideggers Kritik am Schichten-Modell und am Subjekt-Objekt-Dualismus bekundet sich sehr wohl als triftig, aber es wären mit ihr Einseitigkeiten und Verfehlungen zu vermeiden gewesen, die gewisse Strömungen der Ontologie auch heute noch prägen. In jedem Falle erweist sich der Versuch, den „scharfsinnigen Analytiker Hartmann“ und den „meditative[n] Synthetiker Heidegger“ zusammen zu denken,97 als ein Desiderat, welches weiterführende ontologische Einsichten erwarten lässt.

94 Heidegger (2001), 44. 95 „[…] die Sphäre des Realen [ist] in sich homogen […], d h. daß alles Wirkliche in ihr ontisch gleichgestellt ist und der Seinsweise nach eine einheitliche Welt ausmacht.“ (Hartmann (1965), 200) Vgl. auch Hartmann (1965), 76, sowie die Kritik am Existenzialismus überhaupt, die herausstellt, dass es ein Fehler Kierkegaards und seiner Nachfolger war, den Existenz-Begriff zu isolieren. Hartmann meint, entweder habe alles Existenz (Dinge, Pflanzen, Menschen) oder nichts (Hartmann (1933), 72 f.). 96 Kanthack (1962), Stallmach (1987b) und auch Lotz (1987) haben zwar den Versuch dazu unternommen, jedoch sind sie über Ansätze nicht hinausgekommen. 97 So die Charakterisierung in Lotz (1987), 208.

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Der Organismus als Individuum Thomas Kessel „Meine Biologie ist richtig total antivitalistisch und antiteleologisch[…]. Aber sie ist nicht eigentlich mechanistisch.“1

Der folgende Beitrag versucht vordergründig, die Bedeutsamkeit der Organismus-Thematik in Hartmanns Denken und Werk und deren biowissenschaftliche Hintergründe aufzuzeigen, welche eine Darstellung der Grundgedanken der Theorien von Wilhelm Roux als auch von Hans Driesch mit einschließt, weil diese neben Ernst Haeckels monistischer Auffassung der Evolution den Ausgangspunkt der „Neuen Ontologie“ Hartmanns ausmachen. Erst aus einer solchen Vorbereitung heraus lässt sich überhaupt die Frage, inwieweit ein Seiendes von der Seinsweise des Organismus als Individuum qualifiziert werden kann, im rechten Sinne verstehen und beantworten.

I. Aufriss Die Entwicklung der Frage nach dem Wesen des Lebens, d. h. der Seinsweise alles Organischen, kommt in Hartmanns Aufbau der „Neuen Ontologie“ eine zentrale aber damit auch höchst komplexe Stellung zu. Denn am Übergang vom Anorganischen zum Organischen lässt sich der Schichtenbau des Weltgefüges am fasslichsten aufweisen und somit hängt der Erfolg der gesamten durchzuführenden Darstellung des Schichtenaufbaus der realen Welt an eben diesem ersten Aufweis der Überformung des Anorganischen durch das Organische. Damit ist eine umgreifende Bestimmung des Menschen von einer angemessenen Bestimmung des Organischen abhängig. Ohne Zweifel [ist] der Mensch […] geistiges Wesen. Das ist sein Vorrang vor anderen Lebewesen. Aber er ist nicht nur geistiges Wesen […]. Der Geist ist und bleibt leibgebunden, er kommt nur im organischen Wesen vor, ruht auf dessen Leben auf, lebt von seinen Kräften; und da das organische Leben der 1

Hartmann (1978), 100.

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materiellen Welt angehört und in ihren Energieumsatz eingefügt dasteht, so ist er mittelbar auch von ihr getragen.2

Der Organismus ist nach Hartmanns ontologischer Betrachtung ein zweischichtiges Wesen, wohingegen der Mensch von ihm als das vierschichtige vorgestellt wird, das über die Schichten des Anorganischen und Organischen hinaus noch über die Schichten des Seelischen und Geistigen verfügt. Dabei ist eine Analyse all dieser Schichten und deren Zusammenwirken nicht im Handstreich zu erledigen, sondern stellt für Hartmann eine generationenübergreifende Aufgabe dar, welche die immer wieder neu entdeckten Momente wissenschaftlicher Forschung in die Überlegungen aufzunehmen und auszuwerten habe. Gelinge eine solche zu erarbeitende Ontologie, dann könne diese als Fundament einer philosophischen Anthropologie dienen. Damit spricht sich Hartmann gleichsam gegen eine einseitige Betrachtung des Menschen seitens einer radikal verstandenen Deszendenz-Theorie, wie sie von Ernst Haeckel vertreten wurde, aus. „[M]an kann [den Menschen] nicht in einem seiner Teile finden, auch nicht im Leibe, sofern man ihn einfach als tierischen Organismus faßt.“3 Darin zeigt sich, dass selbst der menschliche Leib vom tierischen kategorial unterschieden ist. Es gilt somit, diesen entscheidenden Unterschied zu fassen, wozu eine vorlaufende, kategoriale Bestimmung des Organischen, welche „die ganze Breite der Erfahrung“4 voraussetzt, unerlässlich wird.

II. Konzeptionen des Organischen Ein einheitliches Bild vom Wesen des Organismus lag von wissenschaftlicher Seite nicht vor, da sich der Streit zwischen der auf Demokrit zurückgehenden mechanistischen und der durch Aristoteles etablierten vitalistischen Betrachtung des Organismus durch die Errungenschaften der neueren biologischen Forschung erneut entzündete. Bereits 1912 untersuchte Hartmann in seiner Schrift Philosophische Grundfragen der Biologie 5 Vertreter beider Positionen, um aus der besagten ganzen Breite des dort gebotenen Spektrums ein kategoriales Verständnis des Organismus zu entwickeln. Zu diesen Vertretern gehören seitens des Mechanismus 2 3 4 5

Hartmann (1942), 225. Hartmann (1971), 161. Hartmann (1942), 214. Hartmann (1958).

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Ernst Haeckel und Wilhelm Roux und seitens des Vitalismus Hans Driesch. Wilhelm Roux versteht seine Theorie als kausal-analytische Wissenschaft von der Entwicklung des Lebendigen, d. h. als Entwicklungsmechanik. „[I]ndem dabei das Wort Mechanik im allgemeinsten, philosophischen Sinne der Lehre vom mechanistischen, das heißt der Kausalitt unterstehenden Geschehen gebraucht wurde. Dieser Name bezeichnet unser Ziel, die mechanistische Erklrung der Entwickelung.“6 Er verstand den Organismus damit nicht als eine bloße Maschine, wie oft angenommen, sondern gestand ihm durchaus eine komplexere Form von Kausalgeschehen zu. Sein Ziel war es, die sich in den Entwicklungsvorgängen offenbarende Regelhaftigkeit zur Anordnung entsprechender Experimente zu nutzen, um ihr durch Aufdecken der letzten Ursachen der Ontogenese ihre gesetzliche Grundlage zu verschaffen. In alldem spricht sich Roux anders als Hartmann gegen die Verwendung des Begriffs der Zweckmßigkeit aus, welchen jener streng biologisch durch den Terminus Dauerfhigkeit ersetzt. Dauerhaftigkeit bezeichnet für ihn das Vermögen eines Organismus, seine Organe so auszubilden, dass es seinem Überleben zu längerer Lebensdauer verhilft. Die Annahme einer selektiv wirkenden Alleinursächlichkeit, wie sie der Monismus Haeckels propagierte, war damit aus der mechanistischen Lehre vom Lebendigen heraus selbst ansatzweise widerlegt.7 Hartmann hält hingegen an dem von Kant als heuristisch verstandenem Prinzip des Zweckbegriffes fest. Denn die rein kausale Forschung sei – so Hartmann im Einklang mit Kant  außerstande die Phänomene des Lebens zu erklären, es gelte in dieser wissenschaftlichen Haltung allein unüberprüfbaren Spekulationen entgegenzuwirken. Wir haben nämlich unentbehrlich nötig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisierten Produkten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen; und dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine schlechterdings notwendige Maxime […], weil sich nach derselben noch manche Gesetze derselben dürften auffinden lassen, die uns, nach der Beschränkung unserer Einsichten in das Innere des Mechanismus derselben, sonst verborgen bleiben würden.8

6 7 8

Roux (1905), 26. Vgl. Roux (1905), 15, 89. Kant (2001), B 334.

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So steht bei Hartmann der Begriff der Zweckmßigkeit nicht für ein konstitutiv teleologisches Konzept, sondern vielmehr als eine Art Platzhalter, ein X, für kommende Einsichten in das Geschehen des Lebens. Die Forschung Drieschs zielte hingegen auf ein Verständnis des Lebendigen ab, das sich nicht allein gegen eine einseitig mechanistische Betrachtungsweise, sondern gleichsam gegen eine wissenschaftlich ungesicherte und somit als naiv zu verstehende, vitalistische Deutung des Lebendigen ausspricht. Es ging ihm darum, den Prozess des Lebens als ein wissenschaftlich ausgewiesenes, vitalistisches Geschehen zu beweisen. Die Einen, die Mechanisten, berühren mit ihren Erörterungen das, was eigentlich in Frage steht, überhaupt gar nicht; die Anderen, also viele Vitalisten, bleiben mit ihren Beweisführungen in viel zu allgemeinem Rahmen, so daß sie den eigentlichen Kernpunkt der Frage […] nicht treffen kçnnen. 9

Es galt Driesch demnach, das Lebendige vorurteilsfrei zu fassen und zu zeigen: Was geschieht? Denn nur wenn gezeigt werden könne, was geschehe, könne die Frage nach dem Wie und dem Warum des Geschehens in rechter Weise beantwortet werden.10 Und wenn sich im Erforschen des Funktionellen die Annahme einer emtekeweia aufdränge, dann sei diese als Grund für das Entwicklungsgeschehen auch problemlos anzunehmen, solange diese Annahme nicht gegen die Kausalgesetze verstoße. „Ob man das X X bleiben lässt oder es, mit mir „Entelechie“ oder wie sonst nennt, ist für die Hauptsache ganz gleichgültig. Nur daß das X für die Erreichung des Endzustandes des Gesamtgeschehens verantwortlich ist, das wissen wir allerdings von ihm.“11 Man könnte demnach auch bei Driesch in Hinsicht auf dessen Gebrauch des Entelechie-Begriffs mit Fug und Recht von einem Platzhalter sprechen. Dass sich die Biologie nicht nur in ihren Grundpositionen unterschied, sondern sich noch in zahlreiche Teildisziplinen aufgliederte, machte die Aufgabe Hartmanns nicht leichter und so galt es, „über dieses weitverzweigte Forschungsgebiet zunächst einmal einen Überblick zu gewinnen“12, wozu das eingehende Studium der Schriften der eben genannten Forscher und anderer schon um 1912 diente.

9 Driesch (1935), 1. 10 „Ich frage an erster Stelle nicht: ,warum geschieht das, was hier geschieht?‘, sondern ich frage vor allem Anderen: ,was geschieht hier eigentlich?‘“ (Driesch (1898), 77). 11 Driesch (1935), 8. 12 Hartmann (1958), 79.

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Neben diesen Schwierigkeiten stellte sich noch das Problem eines möglichen Zugangs zum Organischen: „Unser Erkenntnisapparat hat eben kein Organ für die Erfassung des Lebens als solchen […]; es gibt hier nur das Eindringen von den benachbarten Seinsschichten her, sowohl von den niederen wie von den höheren, vom Anorganischen wie vom Seelischen her.“13 Auf die Gegebenheit des eigenen Leibes bezogen bedeute dies, dass dieser uns entweder als ein durch äußere Wahrnehmung vermitteltes Seiendes, „eingereiht in den Weltzusammenhang der Objekte“14 gegeben oder eben durch innere Befindlichkeit beschränkt zugänglich sei, welche über die organischen Funktionen selbst kaum Auskunft zu geben in der Lage sei. Dabei komme – nach Hartmann  der äußeren Betrachtung ein höherer Stellenwert zu, da sich in dieser die Möglichkeit der Analysen und des methodischen Erfassens viel zahlreicher darstelle. „An [diesen] hängt alles Wissen um den Formen- und Funktionsreichtum, um den Zusammenhang der Lebenserscheinungen mit den Vorgängen der unbelebten Natur“.15 In diesen beiden Möglichkeiten gründe letztendlich sowohl die mechanistische als auch die vitalistische Auslegung des Lebendigen. „Dieser Doppelaspekt hat die Zweischneidigkeit der Grenzüberschreitungen in den biologischen Theorien verschuldet, hat sie in „mechanistische“ und „vitalistische“ gespalten.“16 Denn die mechanistische Theorie wende Kategorien der anorganischen Natur, d. h. der unteren Seinsschicht, unbesehen auf die Bestimmung des Lebens an, während der Vitalismus Kategorien aus Schichten, die aus der höheren Seinsschicht des Menschen, seines geistigen Seins gewonnen würden, anwende. Es gilt in Hartmanns „Neuer Ontologie“ die Bestimmungen des Organismus aus diesem unzulässigen Grenzübergriff herauszudrehen, um die Seinsverfassung des Lebendigen so weit als möglich vorurteilsfrei von Grund auf zu fassen. „Dieser Sachlage muß die Kategorienlehre Herr zu werden suchen, indem sie die Einseitigkeiten des Außenaspektes wie des Innenaspektes überwindet und die unbesehene Übertragung von Kategorien niederer wie höherer Seinsschichten ausschalte.“17

13 14 15 16 17

Hartmann (1942), 229. Hartmann (1980), 27. Hartmann (1980), 27. Hartmann (1980), 521. Hartmann (1980), 521.

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III. Kategoriale Bestimmung des Organischen Die explizite, kategoriale Analyse des Organischen findet sich im dritten Teil der Philosophie der Natur, welche Hartmann nicht als ein abgeschlossenes Kategoriensystem, sondern vielmehr als Abriss der speziellen Kategorienlehre versteht, denn „[g]reifbar können einer jeden Zeit“, so Hartmann im Vorwort seiner „Naturschrift“, „nur diejenigen [Kategorien] sein, an welche die wissenschaftliche Forschung herangeführt hat. Was sich also in unserer Zeit an Naturkategorien fassen läßt, ist ein geschichtlich bedingter Ausschnitt […]“18. In der so verstandenen speziellen Kategorienlehre handelt es sich folglich nicht mehr um eine Analyse der Fundamentalkategorien, welche sich durch alle Seinsschichten hindurch, aber in stets abgewandelter Form wiederfinden, noch weniger um das reflexive Erfassen von Erkenntniskategorien, sondern um das Auffinden solcher Kategorien, die spezifisch für die Seinsweise des Lebendigen sind und folglich erst mit ihr und durch sie auftreten.19 Kategorien, welche den Organismus als Organismus prinzipiell und damit durchgängig determinieren, wie es die Gesetze des Prinzips und der Kohärenz in aller Klarheit aufweisen. „Das Prinzip-Sein einer Kategorie besteht darin, daß sie für bestimmte Züge des ihr zugehörigen Konkretums ,gilt‘, d. h. das Konkretum in diesen bestimmten Zügen determiniert. Die Kategorie hat kein anderes Sein neben diesem Prinzip-Sein.“20 Als solches Prinzip determinieren die diversen seinskonstitutiven Kategorien das Konkrete nie isoliert, sondern immer gemeinsam und in strengster und gegenseitiger Abhängigkeit. Die Kategorien einer Seinsschicht bedingen einander somit notwendig. „An jeder einzelnen Kategorie zeigt sich dieses darin, daß ihre Struktur die anderen Kategorien gleicher Schicht impliziert.“21 Wenn sich die Kategorien in solcher Weise als konstitutiv für jede Art von Seiendem zeigen, dann müssen sich diese als Prinzipien auch dem Konkreten ablauschen lassen.22 Ein Erfassen, welches nur soweit möglich ist, „als der Kategorienapparat der Erkenntnis 18 Hartmann (1980), VIII 19 Hartmann (1980), 523: „Wichtig für [die kategoriale Analyse des Organismus] ist es vielmehr nur, die Kategorien herauszuarbeiten, sowohl diejenigen, die am Organismus neu einsetzen, als auch diejenigen, die aus der niederen Schicht abgewandelt an ihm wiederkehren.“ 20 Hartmann (1926), 216. 21 Hartmann (1926), 222. 22 Vgl. Hartmann (1942), 209.

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reicht“23. Daher gilt es, die Probleme soweit einzugrenzen, dass der Bereich des Irrationalen auf das Nötigste beschränkt, aber auch als solcher offen gehalten und verstanden bleibt. Der speziellen Kategorienanalyse des Organismus in seiner „Naturschrift“ stellt Hartmann eine „[v]orläufige Aufzählung der Kategorien“24 voran, welche er gemäß den folgenden Kapiteln in vier Hauptgruppen mit den dazugehörigen Kategorien einteilt: I. Organisches Gefüge: 1. Individuum, 2. formbildender Prozess, 3. Widerspiel der Prozesse, 4. Form- und Prozessgefüge, 5. Selbstregulation. II. Überindividuelles Leben: 6. Leben der Art, 7. Wiederbildung und Erblichkeit, 8. Tod und Zeugung, 9. Variabilität, 10. Regulative Faktoren des Artlebens. III. Phylogenese: 11. Abartung, 12. Zweckmäßigkeit, 13. Selektion (Höherbildung), 14. Mutation, 15. Deszendenz. IV. Organische Determination: 16. Organisches Gleichgewicht, 17. Lebendigkeit, 18. Vitalnexus, 19. Artgesetzlichkeit. Wie der Titel des Beitrags ankündigt, soll es vornehmlich um die Darstellung der ersten Gruppe gehen, dabei aber wichtige Züge aufzeigend, welche das Verhältnis zu den Übrigen zumindest umreißt. Dass eine völlig isolierte Darstellung einzelner Kategorien nicht möglich ist, ergibt sich schon hinreichend aus der Konzeption Hartmanns und spräche zudem entschieden gegen das Gesetz der Kohärenz.

IV. Der Organismus als Individuum In den Philosophischen Grundfragen der Biologie von 1912 versteht Hartmann nicht allein den Organismus als Individuum, sondern gleichsam die diesen aufbauenden, einzelnen Zellen. Denn man habe, nach der Entdeckung der Zelle durch Theodor Schwan, diese als eine aus je spezifischen Teilen zusammengesetzte Einheit verstehen gelernt. Diese ließen sich jedoch nicht ohne Weiteres isolieren ohne einzugehen, da sie selbst einen Teil eines Ganzen darböten, in dem jedes einzelne allein im Verhältnis zu anderem Bestand haben könne.

23 Hartmann (1980), 14. 24 Hartmann (1980), 520.

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Ob man in diesem Fall vom Individuum sprechen kann, scheint zumindest problematisch. Verständlich kann diese Deutung seitens Hartmanns dennoch werden, wenn man dessen Aussage vor dem Hintergrund der Mosaiktheorie Roux’ liest. Roux war in seinen Versuchen an Froscheiern bestrebt, sowohl die lokalen, temporalen als auch alterrationalen Ursachen der Entwicklung und deren Entwicklungsrichtung methodisch zu belegen. Durch Deformation, Substanzentzug und letztendlich durch Teilung der beiden Hälften der Gastrula des Froscheies beobachtete Roux dessen Weiterentwicklung zu Halbembryonen. Es war ihm damit offenbar gelungen, das funktionelle Anpassungsgeschehen durch Selbstdifferenzierung und Bildungsenergie der einzelnen autonomen Zellen, aus denen sich ein jeder Organismus gleich einem Mosaik (Mosaiktheorie) aufzubauen schien, beweisen zu können. Denn es zeigte sich, dass sich jede Zelle eines Organismus in typischen Entwicklungsprozessen bis zu einem gewissen Moment eigengesetzlich und aktivisch im ständigen Kampf mit den übrigen Zellen aufbaut, bis sie unter den selektiven Druck der Außenwelt gerät. Für diese Interpretation scheint mir auch Hartmanns frühes Verständnis des Organismus als ein „Aggregat gleichwertiger Zellindividuen“25 zu sprechen. 1950 stellte sich hingegen die Sachlage zu Beginn der kategorialen Analyse des Organismus als Individuum in der „Naturschrift“ ganz anders dar: Der sichtbare Träger des Lebens ist das organische Individuum, das lebende Einzelwesen. Nur das Individuum ist „Organismus“ im ersten und eigentlichen Sinne. Als Organismus eben ist das Individuum nicht an eine bestimmte Stufe des Lebewesens gebunden, sondern allen Stufen gemeinsam. Die freilebende Zelle ist ebensosehr Individuum wie der vielzellige Organismus […].26

Hartmann stellt zwar klar, dass auch verschiedene tierische Lebensgemeinschaften, wie der Stamm, aber vielleicht auch unterhalb der Zelle stehende Formen als Individuum bezeichnet werden könnten, dass aber diese in der folgenden Untersuchung außer Acht gelassen werden können, da sie zu allzu hypothetischen Annahmen verleiten und damit das Irrationale zu rationalisieren versuchen. In ausgezeichneter Weise, so zeigt das Zitat, könne allein der einzellige bzw. der vielzellige Organismus als Individuum gelten. In dieser ersten Charakterisierung zeigt sich zudem Hartmanns Absage an alle Hierarchisierung der Natur und besonders der 25 Hartmann (1958), 126. 26 Hartmann (1980), 521.

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verschiedenen Lebensformen untereinander, wie sie durch die Klassifizierung von niederen und höheren Lebewesen in die Biologie hineingetragen wurde. „Individuen nun sind diese Stufen des Lebewesens alle in gleicher Weise, also keineswegs die einen mehr als die anderen.“27 Eine solche Hierarchisierung wiederspräche zudem der gesamten Konzeption der Schichtentheorie. Zunächst einmal ist zu fragen, was Hartmann unter dem Begriff Individuum versteht: Besitzt der Organismus eine eigens behauptete Individualitt? Hebt er sich wie auch immer von anderen Organismen in seinem Organismus-Sein ab, welches ihm eine Sonderstellung in Hinsicht auf eben diese anderen verbürgt? Ist ihm seine Individualität im Sinne eines Empfindens des Zuträglichen gegeben? Von alldem kann nicht die Rede sein und so ist es denn auch in Hartmanns Vorstellung des Begriffs des Individuums nicht: Das Individuum ist ein Individuum ohne Individualitt (Zweckmßigkeit ohne Zweck). Hartmann verwendet den Terminus Individuum im ursprünglichen Sinne als das Unteilbare, das, was sich nicht ohne Weiteres teilen lässt, ohne das zu verlieren, was es ist. Ein Stein, den wir mit einem Hammer zerschlagen, ist und bleibt ein Stein. Ein Organismus, der verletzt wird, kann sich zwar in gewissen, von ihm eigens errungenen Grenzen, durch den Prozess der Abschnürung beschädigter Substanzen bzw. durch Regeneration wieder in einen lebensfähigen Zustand versetzten, aber über diese Grenzen hinaus wird nicht allein der Organismus als Organismus, sondern gleichsam werden seine Teile als Teile zerstört, da sie ihre Funktion, die allein ihre Seinsweise bestimmt, verlieren. Mit Aristoteles gesprochen hieße das: „Wenn [die Funktion] sich entfernte, wäre das Auge kein Auge mehr, es sei denn nur im namensgleichen (äquivoken) Sinne, wie das steinerne oder das gezeichnete (Auge).“28 Darin zeigt sich Hartmanns Interpretation des Organismus als ein Gefüge an. Diese Art der Unteilbarkeit beruht natürlich schon auf dem Charakter des Gefüges. Das Gefüge als solches bedeutet ja schon, daß der Teil mehr ist als [nur ein] Teil [neben anderen], das Ganze mehr [ist] als [ein] Ganzes […]. Ein organisches „Glied“ ist von vornherein das, was es ist, durch seine Stellung im Ganzen des Gefüges: herausgerissen aus ihm ist es etwas ganz anderes.29

Spricht er sich in diesem Zitat gegen die von ihm selbst getroffene Aussage in den Grundfragen aus, in welcher er die Methode der Isolation einzelner 27 Hartmann (1980), 522. 28 Aristoteles (1995), 412b. 29 Hartmann (1980), 522.

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Zellen innerhalb der biologischen Forschung in direktem Bezug auf die Methodik Roux’ als unerlässlich beurteilte? Gesicherte ursächliche Schlüsse inbetreff der Lebensvorgänge lassen sich […] nur auf […] Umwege ziehen. Direkte Beobachtung gibt ja niemals isolierte Teilursachen und Teilwirkungen, sondern bloß unübersehbar komplexe Gesamterscheinungen. Folglich hängt hier an der „künstlichen“ Isolation so gut wie alles.30

Dass Hartmann 1950 die methodische Isolation einzelner Zellen zur Analyse des Gesamtgeschehens des Lebendigen ablehnte, ist unwahrscheinlich. Allein geht der Organismus nicht in seinen Teilfunktionen auf, sondern muss immer aus seiner Gänze her verstanden werden. Wie diese Gänze allerdings zu fassen ist, kann erst im weiteren Verlauf verständlich werden. Dem Organismus kommt seine Lebendigkeit somit allein vom Verbund des organischen Gefüges her zu. Dabei sind die Funktionen der Organe und nicht deren Vorhandenheit als das Primäre anzusehen. Denn die Organe bestehen nicht innerhalb eines Organismus und haben nebenher noch eine Funktion, sondern sie sind die Funktion. Denn weil das „Leben“ im organologischen Sinne entschiedenen Prozeßcharakter hat, so ist am „Gliede“ die Funktion weit wesentlicher als die dinglich-räumliche Gestalt (Form) […]. Glied in diesem Sinne ist das „Organ“ der bestimmten Teilfunktion und damit des Lebensprozesses. Und das Gefüge, dessen Teilfunktion es leistet, ist eben der lebende „Organismus“.31

Und eben genau darin ist das organische Gefüge vom rein mechanischen bzw. vom dynamischen Gefüge klar unterschieden, denn letztere beziehen ihre Bildungskräfte allein aus äußeren Umständen. Auch hiernach müsste Hartmann seine 1912 getroffene Aussage jede Zelle in einem Organismus sei ein Individuum revidieren. Diese Einsicht verstärkt sich noch durch die klare Feststellung Hartmanns: Jedes Organ und jede Zelle „ist Werkzeug (oqcamom) dieser Leistung, und es besteht wesentlich in ihr, aber es hat kein Eigenleben für sich, ist kein Individuum im Individuum, sondern funktional wie morphologisch nur ein Teilstück.“32 Worin gründet nun aber die Möglichkeit des dem Organismus zugesprochenen Individuum-Charakters? Denn den Organismus versteht Hartmann doch nicht als Individuum, weil es sich von artzugehörigen 30 Hartmann (1958), 106. 31 Hartmann (1980), 523. 32 Hartmann (1980), 524.

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Geschöpfen im Einzelnen und von Artfremden im Großen und Ganzen unterscheidet. Im Gegenteil, der Organismus besitzt seinen Charakter des Individuellen nur aufgrund der in ihm realisierten allgemeinen Züge seiner Art. Und genau dieses soll die Aussage Hartmanns: „[D]ie Individuen einer Art stehen qualitativ [also von gleichen arttypischen Eigenschaften] koordiniert da […]“33, treffen. Jedes einzelne Individuum, jedes unteilbare Lebensgefüge „ist Repräsentant einer Art“34, von der her es seine Wesensbestimmung [Qualität] empfängt. Als solches steht es aber allein als Eines unter Vielen und das heißt eben quantitativ neben seinen Artgenossen. Die einzelnen Individuen einer Art unterscheiden sich wohl individuell in ihrer phänotypischen Realisierung, aber ihren qualitativ ausschlaggebenden Genotypus empfangen sie vom Leben ihrer Art her, welches ihren Prozesscharakter determiniert. „Die Individualität ist also dem organischen Individuum als solchem durchaus äußerlich.“35 Der Begriff „Individuum“ scheint somit wohl nur im Zusammenhang mit der Problematisierung des Artbegriffs lösbar zu sein. Der Organismus als so verstandenes Unteilbares zeigt sich als organisches Funktionsgefüge, in welchem die einzelnen funktionalen Glieder einander bedingen und nur vom Ganzen her als solches qualifizierbar zu sein scheinen. Wie aber ist das Verhältnis von Form und Prozess oder von Prozess und Form in einem solchen Gefüge zu fassen? Ist die Entwicklung nicht ein Prozess, in dem die Organe erst ausgebildet werden, in welchem der Prozess den Organen, welche er zu bilden scheint, vorausgeht? Und vollziehen sich andersherum nicht Prozesse wie Assimilation und Dissimilation nur aufgrund der Vorhandenheit entsprechender Organe oder deren pränatalen Formen? Eine vorläufige Antwort gibt Hartmann im Kapitel 46 seiner „Naturphilosophie“. Was wir „Leben“ nennen, ist […] die gewachsene Einheit der mannigfaltigen Vorgänge, die den Teilformen der Gesamtform von vornherein eigen sind, so daß im Ganzen wie im Teil die Form mit der Funktion und diese mit ihr entsteht und vergeht. Und wie Form und Funktion, so sind auch die Funktionen miteinander unlöslich verbunden. Sie lösen einander aus, halten einander in Gang, sie erscheinen, je nachdem wie eine die andere hervorruft, als Ursache oder als Wirkung voneinander – eine Form der speziellen Wechselwirkung, die als funktionale Einheit des Ganzen den einen, unteilbaren Lebensprozeß des Individuums ausmacht.36 33 34 35 36

Hartmann (1980), 522. Hartmann (1980), 522. Hartmann (1980), 522. Hartmann (1980), 524.

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In diesem so geschilderten Prozess zeigt sich neben Hartmanns Verständnis des Verhältnisses von Form und Prozess deutlich eine Überformung des Anorganischen durch das Organische. Wenn eine solche Überformung vorliegt, dann gilt es, die besondere Bedeutung der Kategorien Prozess und Form innerhalb der organischen Seinsschicht genauer zu analysieren. Der Lebensprozess wird von Hartmann als ein sich selbst begrenzender Prozess bezeichnet, der durch artgleiche Individuen hervorgebracht wird, sich selbst im Prozess hält und ändert bis er, früher als sein Energiepotenzial es erfordert, stirbt. In der anorganischen Natur hingegen gehen Prozesse lediglich ineinander über. In diesen Übergängen endet zwar ein Teilprozess, dies kann aber nicht als ein eigentliches Entstehen und Vergehen verstanden werden. Erst auf der Stufe des organischen Gefüges treten die Kategorien Entstehen und Vergehen in den Vordergrund. Ein dynamischer Prozess läuft nur solange, bis ein Ausgleich der Gefälle stattgefunden hat, der einzelne Lebensprozess aber läuft sich zu Tode. In diesem geht das Leben des Tieres nicht in anderes über. „Nur was lebt, kann sterben; der Untergang des Leblosen ist bloßes [Hervorheb. v. Verf.] Vergehen, Übergang in anderes.“37 Soll der Lebensprozess weiterlaufen, so muss sich das Tier schon vor seinem Verenden in neues Leben übergeben. So stellt der Lebensprozess aufgrund seiner inneren Geschlossenheit und eigenen Führung eine Überformung, ein Novum auf der Stufe des Organischen dar, weil anorganische Prozesse durch ihre Übergänglichkeit nur relativ beginnen bzw. enden. „Prozeßganzheit in diesem Sinne gibt es unterhalb des Organischen nicht.“38 Erst durch die Geschlossenheit des organischen Prozesses gewinnt das Gefüge seine Identität. Das organische Gefüge stellt sich uns zwar in jedem seiner Entwicklungsstadien als ein Individuum dar, aber der Form nach unterscheidet sich ein jedes organisches Gefüge in den unterschiedlichen Endwicklungsstadien doch in gehöriger Weise.39 Die Identität des organischen Gefüges über alle Entwicklungsstadien hinaus wird erst durch dessen ihm eigentümlichen Prozesscharakter gestiftet. „Man sieht, das organische Gefüge ist ,Individuum‘ […], nicht nur der Form nach, sondern auch dem Prozeß nach.“40 Denn wenn sowohl der Stoff als auch 37 38 39 40

Hartmann (1980), 529. Hartmann (1980), 529. Vgl. Haeckel (1874). Hartmann (1980), 530.

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die Form der ständigen Umformung unterliegen, dann kann nur der Prozess des Lebens einheitsstiftend wirken und somit in gleicher Weise als ein Gefüge, als Prozessgefüge verstanden werden. [D]ie Prozeßkurve […] ist die in jedem Stadium miterscheinende Einheit eines zeitlich Ganzen. Denn so hängen die Stadien in dieser Prozeßform zusammen, daß die vergangenen in dem gegenwärtigen nicht schlechthin vergangen, die künftigen nicht schlechthin künftig sind. Jene erhalten sich in ihm als die noch ihm anhaftenden, diese kündigen sich an, als die schon vorweg richtungsbestimmenden.41

Wie ist aber ein so ganzheitlich bestimmtes Ineinander von Form- und Prozessgefüge ohne teleologischen Ansatz gedanklich zu fassen? Hans Driesch versuchte vornehmlich in seiner Schrift Philosophie des Organischen 42 den Begriff der Ganzheit nicht allein als Grundbegriff der vitalistischen Lehre, sondern gleichsam als Kategorie der Erfahrung schlechthin zu etablieren. Denn alles in der Erfahrung Gegebene erführen wir in seiner Ganzheit. Dabei spricht Driesch von einer Sachganzheit und nicht von einer Begriffsganzheit. Ganzheit ist Drieschs vitalistischer Gegenbegriff zum Terminus Zweckmßigkeit. „Dieses Wort ,ganzheitsbezogen‘ wollen wir nun also in der Tat an Stelle von ,zweckmäßig‘, ,zielstrebig‘, ,teleologisch‘, ,final‘ usw. verwenden und ebenso von Ganzheitsbezogenheit reden.“43 Ein Ganzes ist nach Driesch ein Lebewesen nicht erst am Höhepunkt seiner Entwicklung, sondern in jedem Entwicklungsstadium ist alles Organische ein Durchgangsganzes hin zu einem Endganzen vom Endganzen her, in dem es sich zeitlebens erhält. Dieses Verständnis einer vorlaufenden Ganzheit steht dem Rouxschen als auch Hartmannschen Ansatz diametral entgegen. Denn gerade sie verstehen ja den Organismus als ein sich aus kleinsten Einheiten aufbauendes Ganzes. Trotz dieser Auffassung kann Hartmann das Problem der Ganzheit nicht ignorieren und muss diese auf ontologischem Wege zu fassen suchen. Bevor wir uns aber diesem Versuch Hartmanns zuwenden können, gilt es noch ein weiteres Problem aufzuzeigen, welches ebenfalls auf die Frage nach einem dem Organismus eigentümlichen, Ganzheit bildenden Nexus hinausläuft. Und dies ist die Frage nach der dem Organismus eigentümlichen Umweltzugehçrigkeit, die Hartmann 1950 zwar soweit thematisiert, als die Möglichkeit evolutionären Einwirkens der Umge41 Hartmann (1980), 530. 42 Driesch (1928). 43 Driesch (1928), 367.

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bung auf den Organismus sichtbar wird. Eine Analyse der dem Tier zueigenen Fähigkeiten innerhalb dieses Umweltbezugs und deren Bedeutung für das Tier wird jedoch nicht durchgeführt. Hartmann knüpft zwar an den von Jakob von Uexküll schon Ende des 19. Jahrhunderts etablierten Umweltbegriff an, gehalten, das Tier innerhalb seiner Umwelt zu untersuchen und zu bestimmen, da sich zeigte, dass ein angemessenes Verständnis des Tieres in seiner Ganzheit nur zu bewerkstelligen sei, wenn man es in Zusammenhang mit seiner von ihm erschaffenen Umwelt betrachte.44 Doch trotz dieser durch Uexküll motivierten wissenschaftlichen Haltung wirft Hartmann ihm einen biologistischen Subjektivismus vor. Der Terminus „Umwelt“ ist hier nicht in dem heute geläufig gewordenen Sinne v. Uexkülls gebraucht, sondern im ursprünglichen Wortsinne. Dieser meint die umgebende Welt, wie sie „ist“, jener nur, wie sie dem Lebewesen gegeben ist oder erscheint. Die Uexküllsche „Umwelt“ ist für die biologische Grundfragen viel zu eng. Denn mit seinen Lebensfunktionen angepaßt ist das Tier nicht an sie, sondern an die umgebende wirkliche Welt.45

Hartmanns Auffassung des Uexküllschen Umwelt-Begriffs ist aber in keinster Weise haltbar, da dieser die Umwelt des Tieres als die einem jeden Lebewesen (auch dem Menschen) eigentümliche und aktiv errungene Sphäre des ihn Umgebenden versteht. Uexküll möchte – meines Dafürhaltens  damit keinen biologisch fundierten Subjektivismus entwerfen, sondern vor allem herausstellen, dass es in der Forschung überaus fraglich ist, die Welt des Menschen auf die Umgebung des Tieres zu übertragen. Denn eine solche Übertragung birgt die Gefahr, das Tier von dem her zu interpretieren, was dem Menschen als Lebenswelt gegeben ist und somit das Tier erneut von der höheren Seinsschicht her zu fassen sucht. Denn Augen-Haben, Sehen und etwas Sehen sind im höchsten Maße voneinander zu unterscheiden und daher scheint Uexkülls Auffassung der Umwelt gegen Hartmann keineswegs zu eng gefasst zu sein. Welt versteht 44 „Die weiteren Versuche von Romanes und Ewart über die Centrumfrage können nicht als physiologische Experimente gelten, da sie die Seeigel dabei aus dem Wasser nahmen und auf den Tisch setzten, was ihnen jede Möglichkeit nimmt, sich normal fortzubewegen und durch die dabei eintretenden abnormen Druckverhältnisse im Inneren verderblich auf die übrigen Lebensfunktion einwirken muss.“ Uexküll (1896), 311. 45 Hartmann (1980), 532 f. Dem diesbezüglich bestehenden Problem des Weltbegriffs geht vor allem Martin Heidegger in Die Grundbegriffe der Metaphysik (Heidegger (2004)) nach. Siehe auch: Kessel (2011).

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Uexküll hingegen als eine blutleere Ansammlung wissenschaftlich errungener Daten, die einer lebensbezogenen Umwelt entnommen sind.46 Ob sich ein echter Lösungsansatz dieses Streites finden ließe, bedürfte einer eingehenderen Gegenüberstellung beider Positionen als sie an diesem Ort geleistet werden könnte. Hartmann – so bleibt festzuhalten  versteht ebenfalls das organische Gefüge als aufs Äußerste mit seiner von ihm eingenommenen Umgebung verbunden, was sich deutlich an Phänomenen wie der Nahrungsaufnahme, der Suche nach Behausung und Geschlechtspartnern, dem Fliehen vor dem Feinde zeigt. „Der Organismus bringt es zu einer Zentralität […], indem er sich selbst zum Zentrum einer Sphäre macht, der er den Stempel seines Lebensbereichs aufprägt.“47 Die Frage nach dem Verständnis des Organismus als Individuum weitet sich somit auf die Frage nach dem Wesen des Organismus als Individuum in seiner Umgebung aus, d. h. der Organismus wird auch von Hartmann nicht mehr als Untersuchungsobjekt sondern als aktiv umgebungsschaffendes, organisches Gefüge verstanden, womit es sich deutlich von der Seinsweise dynamisch anorganischer Gefüge absetzt. Aus einem solchen Verständnis heraus verbietet sich auch für Hartmann jeglicher Versuch seitens der Biologie, das Tier außerhalb seiner ihm eigentümlichen Umgebung betrachten und beschreiben zu wollen, was ohne die bahnbrechende Forschung Uexkülls zu dieser Zeit unmöglich gewesen wäre, wenn man von den Ansätzen Karl Ernst von Baers, Franz Doofleins und Wilhelm Buytendijks absieht. Es gilt, die Frage nach Hartmanns Verständnis der Ganzheit mit Bezug auf die Umweltgebundenheit des Lebendigen deutlicher herauszustellen, mit deren Gelingen die Frage nach der möglichen Bestimmbarkeit des Organismus jetzt überhaupt erst in Reichweite kommt. Dazu gilt es, das Verhältnis von Form, Prozess und Umwelt in deren Zusammenwirken aufzudecken. Und die Frage nach dem Verhältnis von Form und Prozess ist die Frage nach der Weise, wie sich organische Formen anorganische unterordnen. Der Organismus nimmt fremde Stoffe auf und bildet sie in köpereigene Stoffe hinauf, aus denen er seine Form nicht ausschließlich aufbaut, sondern sich zudem in ständiger Erneuerung befindet; ein Prozess, den wir als Assimilation verstehen und der ein absolutes Novum auf der Schichthöhe des Organischen darstellt. Stoff und Form befinden sich im ständigen Fluss, während der als dynamisch zu verstehende Prozess als das alles Umgreifende beharrt. Der Prozess bildet die Formen 46 Vgl. Uexküll (1921). 47 Hartmann (1980), 533.

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und die Formen bestimmen die Prozesse mit und führen diese aus. Die Wechselbeziehung der gegenseitigen Bedingtheit ist selbst erst Resultat des ProzessFormVerhältnisses. Zu jedem aufbauenden Prozess verhält sich gleichsam ein abbauender: die Dissimilation. Dissimilation und Assimilation bilden ein labiles Gleichgewicht, da sonst das organische Gefüge bei uneingeschränkter Assimilation endlos wachsen würde oder bei übermäßiger Dissimilation zusammenschwinden müsste. Vor allem könnte sich der Organismus ohne Dissimilation niemals im Wechsel seiner Entwicklungsstadien umgestalten. Die primäre Funktion kommt ontologisch im ersten Hinsehen der Assimilation zu, da die Dissimilation auf ihr aufzuliegen und von ihr gesteuert zu sein scheint. Versteht man allerdings den Organismus als eine Seinsform, welche ihr Enden von sich her mitbringt, dann muss die Assimilation als das dem Enden entgegenwirkende Geschehen verstanden werden, sodass der Dissimilation die entscheidende Bedeutung zugesprochen werden muss, gegen welche sich die Assimilation abarbeitet. Entscheidend ist letztendlich aber, dass beiden Stoffwechselfunktionen zusammen die entscheidende morphogenetische Bedeutung zukommt. Denn, wenn es auch neben den morphogenetischen Prozessen noch weitere gibt, so sind diese doch die tragenden. „Der Organismus ist im Gegensatz zu den bloß dynamischen Gefügen das sich selbst erbauende Gefüge.“48 Für den Aufbau der anorganischen Gefüge sind lediglich die äußeren Verhältnisse ursächlich. Der Organismus bedarf zum Energiegewinn natürlich auch der Umgebung, diese aber ist nicht maßgeblich am Entwicklungsverlauf desselben beteiligt. Der Organismus ist von seiner Anlage her auf seine Form hin angelegt, welche durch das Wechselspiel von Prozess und Form gebildet und erhalten wird. Der Prozess bringt die von ihm zu bildende Form von der Form (Art) her mit, von der er selbst seine Wirkung bezieht, das gilt sowohl für die einzelne Zelle als für den gesamten Organismus. Somit zeigt sich der Prozess nicht allein als ein Prozess der Bildung, sondern vielmehr als ein Prozess der Wiederbildung. Der Organismus bildet und erhält sich demnach nicht wie die anorganischen Gefüge durch das zufällige Zusammentreffen gleicher Substanzen, sondern durch die Konsistenz des komplexen Wechselpiels von Form- und Prozessgefüge selbst. Dabei stellt sowohl die Selbstbildung als auch die Konsistenz ein kategoriales Novum dar. Denn die Weise des organischen Zusammenhalts, wird nicht von den anorganischen Stoffen aus geregelt, die er assimiliert, sondern vom organischen Gefüge her, welches auf ersteren aufliegt. 48 Hartmann (1980), 541.

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Damit ist aber immer noch nicht die Frage nach der Ganzheit im vollen Umfang gefasst, denn es stellt sich noch das Problem der Determination, welche das Prozess-Formgefüge ganzheitlich bestimmt. „Driesch“, so Hartmann anerkennend „hat für eine solche Wirkungsweise den Terminus der ,Ganzheitskausalität‘ eingeführt.“49 Dieser sei aber durch den Begriff der Ganzheitsdetermination zu ersetzen, da in diesem ja gerade die Überformung des in der anorganischen Natur herrschenden Kausalgeschehens zum Ausdruck kommen soll. Die Frage nach der Ganzheitsdetermination muss somit die Auflösung des Ganzheitsproblems und in eins damit des Individuum-Charakters des Organischen in den Blick bringen. Ganzheit darf demnach nicht erneut vitalistisch oder teleologisch vom Endganzen her verstanden werden, denn der Organismus ist – nach Hartmann  in jedem Moment seiner Entwicklung als Durchgangsganzes zu einem Endganzen, ohne von einer jeweiligen Finalität sein Wirken zu empfangen, zu denken. Denn – so Hartmann  die Ganzheit könne niemals eine Rückwirkung des Endganzen auf die Teile bedeuten. Denn ein Wirken von Unerwirktem gliche einem Schattenspiel. Sie, die Ganzheit könne demnach nur die Wirkung des schon jeweils erreichten Entwicklungsstandes auf die Teile, deren Lage und den von ihnen gemeinsam bedingten, folgenden Entwicklungsschritten bedeuten. Die Annahme eines Zweckgedankens ist von diesem Geschehen völlig fern zu halten. Hilfreich sei daher gegenüber der vitalistischen Annahme die schon in den anorganischen Gefügen aufkommende Determinationsweise der Zentraldetermination, welcher im Fall des organischen Gefüges natürlich eine ihm entsprechende Überformung zukomme. Eine solche finde sich in den Anlagesystemen, dem genetischen Pool wohl vor. Dies zeigten deutlich die Teilungsprozesse der Zellen, in welchen die genetischen Informationen an die neu entstehenden und je nach Differenzierungsgrad bis zum vollständig entwickelten organischen Gefüge weiter gegeben würden. Darin zeige sich ein Wechselbezug von „ursprünglicher Zentraldetermination und jeweiliger Ganzheit, die als jeweilige Funktion der Lage wirkt.“50 Weil sich eine so verstandene Ganzheit aber erst bilden müsse, um wirken zu können, sei der Zentraldetermination der von Driesch beschriebenen prospektiven Potenz des Anlagesystems ein Vorrang einzuräumen und die Frage nach der Lösung des Ganzheitsproblems und in eins damit der Frage des Verständnisses des Organismus als Individuum zu einem vorlufigen Ab49 Hartmann (1980), 698. 50 Hartmann (1980), 699.

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schluss gebracht, welchem allerdings eine Analyse des Zusammenhangs mit den weiteren Kategorien folgen müsste; zumal Hartmann selbst einräumt, dass es in der Begründung einer „Neuen Ontologie“ nicht um eine vollständige inhaltliche Ausarbeitung der Kategorie des Individuums gehen könne, sondern allein um die Erarbeitung eben solcher organismusspezifischer Kategorien. Alles andere bleibe Sache der Biologie.

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Roux (1905): Wilhelm Roux, Vortrge und Aufstze ber Entwicklungsmechanik der Organismen. Die Entwicklungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft, Leipzig. Uexküll (1896): Jakob von Uexküll, „Ueber Reflexe bei den Seeigeln“, in: W. Kühne u. C. Voigt (Hgg.), Zeitschrift fr Biologie, Band 34 der ganzen Reihe, München-Leipzig. Uexküll (1921): Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin.

III. Person, Freiheit und Geschichte

Über Personalität. Das Problem des Geistigen Seins Walter Jaeschke I. Vorüberlegungen „Was Personalität ist, läßt sich deskriptiv an Phänomenen – zumal den ethischen – erfassen.“1 Nicolai Hartmann hat sehr viel geleistet, um diese programmatische Aussage einzulösen. Doch trifft es ja allgemein zu, dass das immense Potential seines Denkens nicht ausgeschöpft, ja kaum berührt ist (was übrigens der Philosophie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weder zur Ehre noch zum Vorteil gereicht). Und im besonderen scheint mir dies für seine Philosophie des Geistes zu gelten, vielleicht sogar nochmals verstärkt für seine Lehre vom „personalen Geist“. Hierfür kann man eine lange Reihe von Gründen namhaft machen – etwa dass Hartmann seine Lehre vom geistigen Sein ausdrücklich an eine ältere und nicht allerorten geschätzte Tradition anschließt, aber ebenso die Nähe und zugleich die Differenz seines Ansatzes gegenüber Max Scheler und Helmuth Plessner –, und daneben mögen noch viele weitere Gründe stehen. Aber es geht mir hier nicht um Probleme der Rezeptionsgeschichte. Allerdings: Ganz so „deskriptiv“, wie Hartmann im hier vorangestellten Satz behauptet, lässt sich Personalität denn doch nicht erfassen. Bei der Erfassung von „Personalität“ kann es gar nicht so rein deskriptiv zugehen; vielleicht entzieht sich ja gerade das Wichtigste der Beschreibung. Und ohnehin beschränkt Hartmanns Lehre vom „personalen Geist“ sich ja keineswegs auf bloße Deskription. „Personalität“ ist nun einmal nichts, was Gegenstand der Empirie wäre – sie ist ja nichts Vorhandenes, sondern etwas Gedachtes. „Person“, „Personalität“, „Persönlichkeit“ sind Begriffe, und Begriffe haben nun einmal die unangenehme Eigenschaft, dass sie sich nicht „deskriptiv“ erfassen – geschweige denn erschöpfen lassen. Dies lässt sich ja am Begriff „Person“ besonders deutlich veranschaulichen. Mittels bloßer Deskription wird man nie zu einem Begriff von Personalität gelangen. Etwas paradox gesprochen: Es 1

Hartmann (1933), 58.

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hat ja Jahrhunderte und sogar Jahrtausende lang Personen gegeben, ohne dass sie gewusst haben, dass sie Personen sind – Personen, die sich zwar als Menschen, aber nicht als Personen verstanden haben. Und dass wir sie als Personen konzeptualisieren, verdankt sich nicht der Empirie, sondern einer mehrhundertjährigen Bewusstseinsgeschichte und nicht zuletzt der Philosophiegeschichte. Und weil es sich bei „Personalität“ nicht um einen objektivierbaren Gegenstand, sondern um einen Begriff handelt, ist auch die große Bandbreite seiner Semantik nicht verwunderlich.2 Vor allem aber: Wenn ich recht sehe und wenn ich von einigen antiken, in die Rechtsgeschichte gehörenden Antizipationen absehe und auch die weit verbreiteten Retrojektionen aussortiere, hat es bis ins 17. Jahrhundert gedauert, bis man damit begonnen hat, Menschen ganz allgemein „Personalität“ zuzuschreiben. Und auch als man damit begonnen hat, ist das, was man unter „Personalität“ verstanden hat, durchaus unterschiedlich gewesen. Man darf sich ja nicht durch die immer wieder aufgewärmte und auch nicht falsche, aber irrelevante Erzählung vom Rollenspiel im antiken Theater abspeisen lassen. Ein zwar bei weitem nicht eindeutiges, aber immerhin geschärftes Profil gewinnt der Personbegriff einerseits – seit Thomas Hobbes’ Leviathan – im Gegenzug gegen eine Vielzahl früherer Bedeutungsvarianten. Hobbes knüpft zwar zunächst noch an sie an, indem er vom Wechselspiel von „auctor“ und „persona“ ausgeht. Doch dann setzt er gerade dieses Element der Stellvertretung, der Repräsentation, zu einem nicht mehr konstitutiven Moment des Personbegriffs herab: „Eine Person ist der, dessen Worte oder Handlungen entweder als seine eigenen angesehen werden, oder als solche, die die Worte oder Handlungen eines anderen Menschen oder Dinges vertreten, denen man sie tatschlich oder durch Fiktion zuschreibt.“3 Diese Definition steht noch – gleichsam mit einem Bein – in dem für die Rede von „Person“ traditionellen Gedanken der „Stellvertretung“: „als Person auftreten heißt soviel wie sich selbst oder einen anderen darstellen oder vertreten.“ Doch wenn die Person auch sich selber darstellen kann, ist diese Struktur der Vertretung nicht mehr konstitutiv für das Verständnis von „Person“. Zumindest erlaubt diese Definition die Identität von Vertretenem und Vertreter: Die Person kann auch für sich selber sprechen und handeln. In wessen Namen sie spricht und handelt, ist sekundär gegenüber dem Umstand, dass sie spricht, will und handelt. Deshalb werden in 2 3

In diesem ersten Abschnitt gehe ich von Überlegungen aus, die ich an anderer Stelle weiter ausgeführt habe: Jaeschke (2008), 61 – 74. Hobbes (1984), 123.

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der weiteren Begriffsgeschichte – etwa in der Klassischen Deutschen Philosophie – die auch bei Hobbes noch verbliebenen Relikte des Stellvertretungsgedankens eliminiert: Eine Person ist jemand, der spricht und handelt – und zwar entweder tatsächlich (wenn es sich um eine natürliche Person handelt) oder durch Fiktion (wenn etwa vom Staat als Person die Rede ist). Und daran ist zugleich die Imputabilität geknüpft: Wer handelt, ist für seine Handlungen verantwortlich. Nun ist fraglos diejenige „natürliche Person“, die will, spricht und handelt und für ihre Handlungen verantwortlich ist, ein Mensch und niemals etwas anderes als ein Mensch. Jemanden als „Menschen“ anzusprechen bedeutet jedoch, ihn als eine leiblich-seelisch-geistige Einheit anzusprechen; ihn als „Person“ anzusprechen hingegen bedeutet damals, ihn als ein sittliches Wesen anzusprechen: ihm ein „moralisches Sein“ zuzusprechen – ein „moralisches Sein“ im Sinne eines „Bereichsbegriffs“– also nicht etwa im Unterschied zu einem „unmoralischen“, sondern zum „physischen Sein“. Als Person ist der Mensch als ein „moralisches“ oder „sittliches Sein“ angesprochen – als Glied einer „Seinsordnung“, die neben und über derjenigen des physischen Seins besteht. Im Personbegriff ist nicht nur eine abstrakte Qualität am Menschen hervorgehoben, sondern seine Zugehörigkeit zu dieser eigentümlichen Sphäre des geistigen Seins, die, obschon unsichtbar, immer nur in Verbindung mit physisch Seiendem besteht, aber gleichwohl nicht auf dieses physische Sein reduziert werden kann. Denn sie hat eine eigene Ordnung, eine Struktur, die nicht mit der des physischen Seins identisch ist, ja begrifflich überhaupt nicht mit ihr verbunden ist und auch nicht aus ihr erhoben werden kann, eine interne Logik. Sie ist, könnte man sagen, eine „geistig-sittliche Welt“, deren „Substanz“ die Person – oder genauer: eine Pluralität von Personen – ist. Sie wird durch Akte von Personen konstituiert, und sie weist eine eigene, spezifische Struktur und Gesetzlichkeit auf; vor allem aber: Sie hat als ganze einen normativen Charakter. Sie ist auch erkennbar – allerdings nicht als ein Gegenstand der theoretischen Philosophie. Zu ihrer Erkenntnis bedarf es einer „Ontologie des moralischen Seins“ oder einer Disziplin anderen Namens und anderer Methoden, aber letztlich mit demselben Erkenntnisinteresse. Hegel spricht dann nicht mehr vom „moralischen“, sondern, bedeutungsgleich, vom „sittlichen Sein“, und Nicolai Hartmann schließlich vom „geistigen Sein“ und speziell vom „personalen Sein“ und „personalen Geist“.

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II. Personaler Geist und Personalität 1. Hartmanns Begriff des personalen Geistes steht – dies habe ich eben angedeutet – in dieser Tradition, nicht in der anderen, von John Locke ausgehenden, die die Personalität von der Identität des Bewusstseins her versteht.4 „Das Problem des geistigen Seins“ ist das Problem des „esse morale“ in dem vorhin spezifizierten Sinn – allerdings mit zwei markanten Verschiebungen: Zum einen umfasst das „geistige Sein“ Hartmanns weit mehr als das „esse morale“ der Tradition – nämlich die Lehren vom objektiven und vom objektivierten Geist. Zum anderen umfasst es aber auch weniger – sofern Hartmann das „psychische Sein“ aus dem Bereich des „geistigen Seins“ ausschließt. In Hartmanns Schichtenmodell des „Aufbaus der realen Welt“, in der Schichtung des Materiellen, des Organischen, des Psychischen und des Geistigen, nimmt dieses, das Geistige, die höchste Stelle ein; es wird getragen vom Psychischen, das seinerseits die beiden niederen Sphären des Organischen und Materiellen „überbaut“, während das Materielle durch das Organische „überformt“ wird.5 Hartmanns Schichtungsmodell – daran darf ich hier der Vollständigkeit halber kurz erinnern, weil dies für den zweiten Teil meiner Überlegungen wichtig werden wird – kennt unterschiedlich scharfe Zäsuren. Die erste, die Unterscheidung zwischen dem Materiellen und dem Organischen, ist vergleichsweise wenig scharf ausgebildet, aber dennoch ist sie begrifflich präzise zu fassen. Hartmann deutet sie lediglich als „Überformung“, da die kategorialen Bestimmungen des Materiellen – Schwere und Räumlichkeit – auch in der Sphäre des Organischen ihre Gültigkeit behalten und dort zu ihnen nur noch die Bestimmung des Lebens hinzutritt und sie eben „überformt“. Zwischen dem Organischen und dem Psychischen hingegen liegt für Hartmann ein tiefer Schnitt. Denn für das Psychische und ihm folgend für das Geistige entfallen die 4 5

Locke (1981), Bd. 1, Kap. XXVII, bes. §§ 9 – 18. Hartmann (1933), 66 – 101. – Diese Bezeichnungen „Überbauung“ und „Überformung“ stehen für die unterschiedlichen Verhältnisse, in denen diese Schichten zueinander stehen – je nachdem, ob sich die für sie jeweils gültigen Kategorien (etwa Räumlichkeit, Schwere) in den höheren Schichten fortsetzen oder ob sie durch andere ersetzt werden. Das begriffliche Fundament für diesen Schichtungsgedanken bildet der dritte Teil von Hartmanns Ontologie: Hartmann (1940).

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zuvor so wichtigen, dem Materiellen und dem Organischen gemeinsamen Kategorien der Räumlichkeit und der Schwere.6 Es überrascht deshalb nicht, dass er hier eine scharfe Zäsur sieht. Denn diese Differenz zwischen Organischem und Psychischem entspricht sachlich der traditionellen Unterscheidung zwischen „Natur“ und „Geist“. An diese Unterscheidung sind wir gewöhnt; wir lassen sie uns gefallen – und vor allem: Die vielfachen Versuche, diese Zäsur im Namen des Materialismus oder Spiritualismus einzuebnen, sind bislang wenig überzeugend und deshalb auch wenig erfolgreich gewesen. Und dies wird wohl auch so bleiben, auch wenn uns heute von interessierter Seite fast täglich versichert wird, dieser garstige breite Graben werde schon demnächst endlich zugeschüttet sein. Eine vergleichbar scharfe Zäsur konstatiert Hartmann jedoch auch zwischen der dritten und der vierten Schicht, zwischen dem Psychischen und dem Geistigen. Es habe sich, so Hartmann, „ein einschneidender Wesensunterschied zwischen den seelischen Vorgängen und den objektiven Inhaltsgebieten des gemeinsamen geistigen Lebens herausgestellt, der hier nicht weniger schwer ins Gewicht fällt als dort der Unterschied des bloß Physischen und des Lebendigen.“ Wenn man dies „nicht weniger schwer“ wörtlich nehmen wollte, wäre auch das Verhältnis von Geistigem zu Psychischem als Überformung zu deuten. Doch dies trifft nicht zu. Hartmann beschreibt die Differenz des Geistigen und des Psychischen anschaulich und überzeugend: Das seelische Sein habe jeder für sich, es sei unübertragbar und einem anderen im eigentlichen Sinne nicht zugänglich – im Unterschied zur Allgemeinheit des geistigen Seins. Der Gedanke hingegen sei etwas Allgemeines; einmal ausgesprochen sei er allen zugänglich, könne von ihnen nachgedacht, geprüft und vielleicht auch verworfen werden. Und deshalb resümiert er: „Der Geist […] verbindet, das Bewußtsein isoliert“ – ein Satz, der für Hartmann so wichtig ist, dass er ihn gleich dreimal in fast identischem Wortlaut niederschreibt.7 Und so sieht er sich zu der Folgerung berechtigt, „daß die spezifischen Kategorien des Seelischen, die Subjektivität und das Bewußtsein, sich nicht darauf“ – sc. auf das Geistige – „übertragen lassen“.8 Doch während er die interne Differenzierung zwischen materiellem und organischem Sein als bloße „Überformung“ deutet, sei das Verhältnis des 6 7 8

Hartmann (1933), 69. Hartmann (1933), 71. – Vgl. ebd., 143 u. 140: „Das Bewußtsein trennt die Menschen. Der Geist verbindet sie.“ Hartmann (1933), 70.

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geistigen Seins zum psychischen wiederum, wie auch das Verhältnis des Psychischen zum Organischen, als ein Verhältnis der „Überbauung“ zu verstehen.9 Und allein hieraus lasse sich bereits die „einzigartige Autonomie“ des Geistigen gegenüber der „Enge der seelischen Vorgänge“ begreifen. 2. Seine Abhandlung des Problems des geistigen Seins beginnt Hartmann mit umfangreichen Ausführungen, die den Begriff des Geistes überhaupt betreffen. Er setzt sich hier mit früheren Versuchen auseinander, den Geist von anderen Entitäten abzuleiten – etwa vom Leben oder vom Selbstbewusstsein oder vom Menschen; im zweiten Abschnitt führt er „ontologische Grundbestimmungen“ ein, der dritte ist dem „geistigen Individuum“ gewidmet und erst im vierten Abschnitt, unter dem Titel „Die Personalität“, geht er gezielt auf die erste Form des „geistigen Seins“ ein, auf den „personalen Geist“, dessen Abhandlung dieser ganze Teil eigentlich gewidmet ist. Doch trotz dieser Komprimierung des Inhalts eines „Teils“ auf den Inhalt eines „Abschnitts“: Es ist ein höchst eindrucksvolles Panorama, das Hartmann nun unter diesem Titel „Die Personalität“ in fünf Kapiteln entfaltet. Hier macht er ernst mit seinem Programm der Deskription des Phänomens – mit seiner „Phänomenologie des Geistes“, zunächst als Phänomenologie des personalen Geistes. „Personaler Geist“: Damit ist die erste „Grundkategorie“ des geistigen Seins genannt, auf die noch der „objektive“ und der „objektivierte Geist“ folgen. Doch allein der „personale Geist“, so Hartmann, „kann lieben und hassen, nur er hat ein Ethos, trägt Verantwortung, Zurechnung, Schuld, Verdienst; nur er hat Bewußtsein, Voraussicht, Willen, Selbstbewußtsein“.10 Hartmanns Begriffsbildung hat fraglos programmatischen Charakter: Sie ordnet seine Ausführungen, die etwa auch unter dem Titel „Anthropologie“ stehen könnten, sehr dezidiert in eine Philosophie des Geistes ein, und sie kappt die sonst häufig hervorgehobenen Verbindungslinien zwischen dem als Person gedeuteten Menschen und seiner natürlichen Basis (einschließlich seiner „psychischen Natur“). Selbstverständlich bestreitet Hartmann diese Basis nicht; er optiert ja ausdrücklich für die Unablösbarkeit des 9 Hartmann (1940), 174, ähnlich 180; vgl. Hartmann (1933), 66 – 69. 10 Hartmann (1933), 73.

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personalen Geistes sowohl vom natürlichen und organischen als auch vom psychischen Sein. Doch bestreitet er vehement, dass sich das Proprium der Personalität von diesen anderen Schichten aus angemessen in den Blick nehmen lasse, und er plädiert – trotz aller Anerkennung der Trägerfunktion dieser Schichten – geradezu kompromisslos für die Autonomie des Geistigen. 3. Doch was ist eine Person? Person sei, so Hartmann, die „Einheit des geistigen Einzelwesens“ – eine Einheit, die aber nicht mehr auf einer substantialen Einheit basiert. Als Personen bezeichnet er „die menschlichen Individuen, sofern sie als handelnde, redende, wollende und strebende, als Vertreter ihrer Meinungen, Einsichten, Vorurteile, als Wesen mit Ansprüchen und Rechten, Gesinnungen und Wertungen irgendwie Stellung nehmen.“11 Hartmann bescheidet sich damit, das Wort „Person“ in diesem, wie er ausdrücklich einräumt, „lose umrissenen Sinn“ festzuhalten, und er legt stattdessen alles Gewicht auf die Bestandsaufnahme der Erscheinungsweisen solcher Personen. Aus der Fülle seiner ausführlichen Beschreibungen und behutsamen Analysen möchte ich hier nur zwei Aspekte herausheben. Zunächst: Wie schon dieser „lose umrissene Sinn“ erkennen lässt, hat „Personalität“ für Hartmann ihren Ort im Kontext der gesellschaftlichen Interaktion, im „Zusammenstehen der Personen“ in einer von ihnen gemeinsam gebildeten und geteilten geistigen Sphäre – eben der Welt des „objektiven Geistes“. Auch darin zeigt sich seine Zugehörigkeit zu der durch Hobbes initiierten Tradition: Sprechen und Handeln sind demnach die ersten Charakteristika der Person, und im Begriff des Handelns ist das Wollen fraglos eingeschlossen. Hier liegt für Hartmann die spezifische Differenz des Personbegriffs gegenüber dem Begriff des Subjekts, den er nur durch die Entgegensetzung gegen die Objektivität bestimmt sieht: Das heute mit „Intersubjektivität“ Gemeinte wäre deshalb in seiner Perspektive als „Interpersonalität“ zu fassen.12 Dies allerdings betrifft primär die Ter-

11 Hartmann (1933), 125. 12 Dies ist übrigens auch das von Fichte gebrauchte Wort. – Hartmann hat übrigens ein anderes Verständnis von „Intersubjektivität“, als es heute üblich ist; siehe Hartmann (1933), 182: „Intersubjektiv ist das am Geiste, was nicht erst durch Ablösbarkeit von der Person auf andere Personen übergreift, sondern von

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minologie; begrifflich wichtig ist hingegen, dass für Hartmann „Personalität“ nur im Kontext von „Interpersonalität“ gedacht werden kann – auch wenn er dieses Wort (soweit ich sehe) nicht gebraucht. Der zweite Aspekt: Anders als den Begriff des Subjekts löst Hartmann den Begriff der „Personalität“ ganz von der Sphäre des Natürlichen: des Leiblichen und auch des Psychischen. Während die Begriffe „Bewusstsein“ und „Selbstbewusstsein“ schon aufgrund der für sie grundlegenden Individualisierung noch eine Verbindung zum psychischen Sein assoziieren lassen, denkt er „Personalität“ als eine Form ausschließlich des geistigen Seins. Dies aber hat zur Folge, dass „Personalität“ nichts Vorhandenes oder Gegebenes, sondern etwas Hervorgebrachtes – oder besser: etwas Hervorzubringendes – ist. Und dies ist nicht etwa eine unbedachte Konsequenz seines Ansatzes, sondern es ist ausdrücklich so beabsichtigt: „Person“ ist für Hartmann eine selbstgeschaffene Einheit, eine Einheit, die auf tätiger Identifizierung beruht, und zwar in einer anderen Weise als die Einheit des Subjekts oder des Bewusstseins, der ja doch wohl auch eine (wenn auch nicht bewusste) Tätigkeit zugrunde liegt. Aber hier geht es um etwas anderes und um mehr: „Die Einheit des persönlichen Seins fällt einem nicht zu, sie ist und bleibt immer eine Frage des Einsatzes, des Einstehens für sich, der Kraft – die innere Synthese des in den Wandel Auseinandergerissenen zu vollziehen. Was wir Persönlichkeit, sittlichen Charakter, individuelles Ethos eines Menschen nennen, beruht ganz und gar auf dieser Kraft. Mit ihr steht und fällt die geistige Einheit des Menschen.“13 Diese Akzentuierung des expansiven Hinausgreifens der Person auf andere Personen und auf „einen gewissen Ausschnitt der Welt, mit dem sie sich im Strom des Geschehens schicksalsverbunden fühlt“, auf ihren „Lebenskreis“ oder „Bannkreis“, den sie sich selbst geschaffen hat, in dem sie verwurzelt ist und der von ihr nicht ablösbar ist, macht die „Person“ ganz zu einer Gestalt des geistigen Seins. Das Selbstbewusstsein hingegen (gedacht nicht als formales Ichbewusstsein, sondern als „inhaltlich erfüllte“ bzw. „wirkliche Selbsterkenntnis“) versteht Hartmann zwar als ein „Wesensmoment der Person“, aber doch als „sekundär, gemessen am ganzen geistigen Sein der Person“: Es sei erst „das nachträgliche Erfassen dessen, was die Person ohnehin schon ist.“14 vornherein allein gemeinsam ist als die alle verbindende Struktur und Gesetzlichkeit des Geistes.“ 13 Hartmann (1933), 91. 14 Hartmann (1933), 140 – 145.

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Dieser Begriff der Person ist fraglos von einem hohen ethischen Pathos getragen. Doch so schätzenswert dies einerseits ist: Gerät man auf diese Weise nicht in die Gefahr, demjenigen, der nicht in diesem qualitativen Sinn als „Persönlichkeit“ anzuerkennen ist, eine geminderte Form von Persönlichkeit zuzusprechen oder im schlimmsten Fall: ihm die Personalität gleich ganz abzusprechen – und welche Folgen sind daraus zu ziehen? Als Subjekte, könnte man sagen, sind wir alle gleich, da allen Menschen, die das frühe Kindheitsstadium hinter sich gelassen und auch eine gewisse phylogenetische Entwicklungsstufe erreicht haben, die Fähigkeit der „Objektion“ gegeben ist, und da in der Weise, wie sie diese Objektion, also die Vergegenständlichung zu Objekten, vollziehen, keine qualitativen und nicht einmal graduelle Unterschiede zu erkennen sind. Nun könnte man das Bedenken, das diese Anfrage motiviert, durch den Hinweis beschwichtigen wollen, dass Hartmann mit dieser qualifizierenden Rede von „Persönlichkeit“ doch nur dem üblichen Sprachgebrauch folge, in dem wir ja häufig einem herausragenden Menschen „Persönlichkeit“ zuschreiben und noch mehr: indem wir ihn als „Persönlichkeit“ bezeichnen. Dies ist sicherlich richtig, und niemand wird einen Anlass sehen, auf solche qualifizierenden Aussagen zu verzichten – im Gegenteil. Dennoch wollen die Bedenken hier nicht so ganz verstummen. Denn eine derartige qualitative Skala von „Persönlichkeit“ dürfte allein dann unproblematisch sein, wenn sie durch die Gleichheit des personalen Seins aller ausbalanciert und kompensiert wird – also etwa durch eine Unterscheidung von Personalität (in einem allgemeinen, ausnahmslos allen zukommenden Sinne) und „qualifizierter Persönlichkeit“. Wichtig wird dies deshalb, weil Hartmann „Personen“ ja (in der vorhin referierten weiten Definition) „als Wesen mit Ansprüchen und Rechten“ bestimmt. Solche Rechte kommen dem Menschen ja nicht deshalb zu, weil er Subjekt ist und tagaus, tagein ebenso kontinuierlich wie bewusstlos den Vorgang der Objektion vollzieht, sondern eben weil er „Person“ ist und nur deshalb. Doch eine Quantifizierung der Personalität zieht nur allzu leicht eine Quantifizierung von Rechten nach sich. Es ist jedoch eine Folge von Hartmanns kompromissloser Verortung der Personalität in der Sphäre des geistigen Seins, in der Sphäre nicht des natürlich oder immer schon Vorhandenen, sondern in der Sphäre „des Einsatzes, des Einstehens für sich, der Kraft“, dass ihm für einen solchen nicht-qualifizierten – und ich wähle ein stärkeres Wort: für einen „nichtdiskriminierenden“ – Begriff des Personseins keine begrifflichen Mittel mehr zur Verfügung stehen. Selbst der Begriff des Selbstbewusstseins – sofern er nicht bloß formales Ichbewusstsein, sondern „inhaltlich erfüllte

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Selbsterkenntnis“ aussagt – scheidet hierfür aus, weil Hartmann in ihm nur „das nachträgliche Erfassen dessen, was die Person ohnehin schon ist“, sieht, also etwas gegenüber dem qualifizierten Personsein Sekundäres. Und doch: In eben diesem Kontext findet sich, wenn auch sehr versteckt, ein kleiner Hinweis: Es liege „im Wesen des personalen Geistes“, „in aller Bezogenheit auf anderes eine gewisse Rückbezogenheit auf sich selbst zu haben.“ Hartmann spricht hier von einem „Mitgegebensein des eigenen Personseins“, wenn auch „ohne Wissen um dessen Beschaffenheit“ – oder anders: „Er“ – der personale Geist – „hat Reflexivität.“ Doch was ist damit gewonnen, zumal Hartmann diese basale und auch völlig unbegriffen gelassene Rückbezogenheit eigentlich nur einräumt, um gegen sie den Reichtum der „wirklichen Selbsterkenntnis“ auszuspielen? 15

III. Geistiges und psychisches Sein 1. Es liegt mir fern, von dem vorgetragenen Bedenken aus Hartmanns Begriff des personalen Geistes revidieren oder gar aushebeln zu wollen. Es ist zwar nicht bloß marginal, doch für eine solche Operation wäre es nicht hinreichend tragfähig. Und ohnehin scheint mir, dass Hartmanns Beschreibungen und Analysen der Phänomene sowohl des geistigen Seins im allgemeinen als auch speziell des „personalen Geistes“ äußerst nachdenkenswert und fruchtbar sind, und dass sie das Kernstück einer Anthropologie bilden müssen, die sich vor der Verirrung auf naturalistischen Abwegen schützen will. Die Anthropologie hat ja sowohl aufgrund ihrer Geschichte im 19. Jahrhundert, der von ihr betriebenen fortschreitenden Naturalisierung des Menschen, als auch im Blick auf heute modische Tendenzen allen Grund, auf der Hut zu sein. Dennoch scheint mir hier ein geeigneter Punkt zu sein, um vom Begriff der Personalität aus nochmals die Frage nach dem Verhältnis des geistigen Seins zum psychischen zu stellen. Es ist dabei nicht meine Absicht, Hartmanns Position von einem anderen Ansatz aus zu korrigieren; es geht mir lediglich darum, das systematische Problem aufzuwerfen, ob es im Interesse des Begreifens von Personalität geraten sei, die scharfe Zäsur zwischen dem Seelischen und dem Geistigen so stehen zu lassen – also die Frage zu 15 Hartmann (1933), 144 f.

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stellen, ob nicht ein anderes Modell dem von Hartmann ja stets beschworenen und gegen spekulative Vergewaltigungsabsichten wortreich verteidigten Phänomen besser gerecht werde. Und hierfür bieten sich mehrere Ansatzpunkte an, die Hartmann zudem selber bereitgestellt hat.

2. Dieser Weg scheint freilich durch eine unüberwindbare Mauer von Äußerungen blockiert, die diese Zäsur bekräftigen und vertiefen. Hartmann spricht, ich habe es eingangs schon zitiert und knüpfe hier nochmals an, von einem „einschneidenden Wesensunterschied“ zwischen psychischem und geistigem Sein; es gebe „gewisse Grundphänomene unüberbrückbarer Andersheit im Stufengange der Realgebilde“, und dies ist auch im Blick auf das Verhältnis von Psychischem und Geistigem gesagt. Im Hintergrund solcher massiven Abgrenzungen ist noch deutlich das Getümmel des Kampfes gegen den Psychologismus zu hören.16 An den damals erkämpften und auch von Hartmann bekräftigten Positionen möchte ich keine Abstriche machen: Psychisches und geistiges Sein sind und bleiben verschieden. Und dennoch zeigt sich in Hartmanns Darlegung dieses Verhältnisses mehrfach eine Unklarheit, die die sonst so klar gezogenen Abgrenzungslinien zu verwischen droht. Es finden sich immer wieder Aussagen, die an der Berechtigung zweifeln lassen, den Schnitt so tief und scharf vorzunehmen, wie er dies gemeinhin als notwendig behauptet: teils ausdrückliche Hinweise, teils unscharfe Formulierungen, denen anzusehen ist, dass sie über systematische Probleme hinweghelfen sollen. Ich möchte sie im Folgenden unter zwei Gesichtspunkte stellen. Individualisierung und Unzugnglichkeit: Hartmann räumt unumwunden ein, dass sich von der ersten Form des Geistes, vom personalen Geist her, die Abgrenzung gegenüber dem Psychischen nicht evident durchführen lasse: „[L]ägen die ausschlaggebenden Bestimmungen [des Geistes] beim personalen Geist, so bliebe der Unterschied der ganzen Sphäre [des Geistes] von der des Seelenlebens ein schwer greifbarer.“17 Und dann 16 Hartmann (1940), 179 bzw. 174. 17 Hartmann (1933), 71. – Vgl. 69: „Wäre der Geist nichts anderes als personaler Geist, so ließe sich die Andersheit des Verhältnisses auch nicht mit Bestimmtheit aufzeigen.“ – Ähnlich Hartmann (1940), 174: Der Unterschied des Geistigen und des Psychischen falle innerhalb der traditionell gedachten Sphäre des „Geistigen“ „nicht weniger schwer ins Gewicht“ als im Bereich der „Natur“

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wäre sicherlich hier nicht von „Überbauung“ zu sprechen, vielleicht ja nicht einmal von „Überformung“. Nun ist es aber auf der Basis der behaupteten „unüberbrückbaren Andersheit“ des Psychischen und Geistigen überhaupt nicht einzusehen, weshalb die erste Form des Geistigen dem Psychischen näherstehen solle als die zweite oder die dritte – anders hingegen, wenn man, entgegen Hartmann, statt des Schichtungsmodells ein Stufenmodell zu Grunde legt. Es gibt zu denken, dass Hartmann die Charakteristika des geistigen Seins so gut wie ausschließlich aus der Betrachtung von dessen zweiter Gestalt, des objektiven Geistes, gewinnt, während er einräumt, dass der personale Geist einige – und keineswegs unwichtige! – Bestimmungen mit dem psychischen Sein teile: vor allem die Individualisierung und die räumliche Fixierung. Das Psychische und der personale Geist kommen ja in der spezifischen Form ihrer Individualisierung überein, während deren Aufhebung das Proprium der beiden anderen Formen des geistigen Seins ist: Die Person, das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein sind ebenso individualisiert und sie sind ebenso wenig von außen zugänglich wie spezifisch seelische Regungen – darin steht der „personale Geist“ dem psychischen Sein näher als der nächst höheren Form des Geistes: geradezu zum Verwechseln nahe. Die Individualisierung und Raumgebundenheit des personalen Geistes unterscheidet sich ja völlig von derjenigen, die der „objektive Geist“ aufweist: die Bindung an eine Stadt, an ein Land, an einen Kontinent.18 In dieser Hinsicht ist das geistige Individuum sogar räumlich ungebunden. Hingegen ist es, wie das psychische Sein, an ein individuell-organisches Leben gebunden – oder sogar „gefesselt“, wie Hartmann einmal schreibt.19 Somit überschneiden sich im personalen Sein also die Geltungsbereiche von Kategorien des Psychischen und des Geistigen. Und die damit gegebene zumindest partielle Nähe des „personalen Geistes“ zum psychischen Sein deutet weniger auf „Überbauung“ als auf einen graduellen Übergang vom Psychischen zum Geistigen – wenn auch auf einen Übergang, der zwei dann doch wieder klar auseinandertretende Seinsbereiche miteinander verbindet.

„der Unterschied des bloß Physischen und des Lebendigen. Er ist nur wieder ein ganz anderer und nicht so leicht eindeutig zu fassen.“ Für die Abgrenzung des Geistigen vom Psychischen beruft Hartmann sich auch hier auf die inzwischen vollzogene Trennung der Gegenstandsbereiche der Wissenschaften. 18 Hartmann (1933), 94. 19 Hartmann (1933), 95.

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Bewusstsein und Selbstbewusstsein: Es ist sehr zu bedauern, dass Hartmann nicht ein Gegenstück zu seinem „Problem des geistigen Seins“ mit dem Titel „Das Problem des psychischen Seins“ geschrieben hat. Dies hätte wahrscheinlich etliche Fragen geklärt – so auch insbesondere das jetzt sehr undurchsichtige Verhältnis von „Bewusstsein“ und „geistigem Sein“. Bei seinem Versuch, die Selbständigkeit des Geistes aufzuweisen, zunächst gegenüber dem „Leben“, kommt Hartmann auch auf die Beziehung zwischen Geist und Bewusstsein zu sprechen, und er betont, der Geist sei „nicht aus dem Bewußtsein zu verstehen. Geistiges Sein ist keine psychologische Angelegenheit. Dieser Satz darf als eine Errungenschaft der letzten Jahrzehnte gelten“ – der Jahrzehnte nämlich des Kampfes gegen den Psychologismus, durch den der philosophische Blick auf das Reich des geistigen Seins erst frei geworden und geschärft worden sei. Demnach fällt das Bewusstsein klar auf die Seite des Psychischen – und dies ist ja auch keineswegs unplausibel. Doch neben dieser markanten Trennung von Geist und Bewusstsein stehen Sätze, die eine gewisse Ratlosigkeit verraten – wie insbesondere der folgende: „Freilich gehört das Bewußtsein irgendwie zum Geiste“. Auf die begriffliche Bestimmung dieses „irgendwie“ wäre es jedoch angekommen. Denn wie kann das Bewusstsein doch „irgendwie“ zum Geist „gehören“, wenn es seinen Ort in einer Schicht hat, die durch „unüberbrückbare Andersheit“ vom Geist getrennt ist? Und es macht die Differenzierung nicht leichter, dass Hartmann sowohl von „geistlosem Bewusstsein“ als auch von „geistigem Bewusstsein“ spricht. Ihren Unterschied gibt er sogar prägnant an: Das geistlose Bewusstsein unterscheide sich dadurch vom geistigen, dass es keine Objektion vollziehe und somit keine Objekte habe.20 Doch wenn es sowohl geistloses als auch geistiges Bewusstsein gibt, so ist „Bewusstsein“ eine, die Differenz des Psychischen und des Geistigen überbrückende Form, von der man nicht recht weiß, ob sie nun eine Form des Psychischen oder des Geistigen oder von beidem oder von keinem von beiden sei. Dem Bewusstsein scheint somit zumindest eine Doppelrolle zuzukommen: Es gehört zum psychischen Sein, oder zumindest ist es der Schicht des Psychischen sehr eng benachbart – hierfür spricht auch seine Individualisierung und Geschlossenheit, seine Unzugänglichkeit von außen. Doch andererseits reicht es ebenso in das Reich des personalen Geistes hinüber – denn auch wenn nicht alles Tun des Geistes bewusst ist, so gibt es doch auch (und auch für Hartmann) „geistiges Bewusstsein“; 20 Hartmann (1933), 118.

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anderenfalls stünde es schlecht um den bewusstlosen Geist. Mit dieser Rede von „geistigem Bewusstsein“ ist ja weit mehr gesagt als mit dem Satz, dass der persönliche Geist unablösbar an das Bewusstsein gebunden sei;21 solche Bindung könnte ja auch völlig äußerlich bleiben. Und Hartmann geht sogar noch einen Schritt weiter: „Selbstbewußtsein wird man schwerlich einem anderen als dem geistigen Sein zusprechen können.“22 Damit knüpft er die Verbindung zwischen den Formen des psychischen und des geistigen Seins nochmals enger – freilich ohne dadurch beide gleichzusetzen. Doch trotz aller sonstigen terminologischen Prägnanz, die gerade seine Arbeiten auszeichnet: Eine solche Gleichsetzung unterläuft Hartmann sogar in einigen Partien seiner Geistesphilosophie, in denen er sich auf die bloße Kontrastierung des Organischen und des Geistigen beschränkt, bis hin zur Aussage, der Geist überbaue das Vitale – womit er selber eklatant gegen seinen Schichtungsgedanken verstößt und Seelisches und Geistiges ihm faktisch zu einer Einheit zusammenwachsen. Dies dürfte zwar mehr ein Versehen sein, aber doch kein bloß zufälliges. Denn noch einige Jahre nach dem Problem des geistigen Seins, in seinem Aufbau der realen Welt, bestätigt Hartmann mit Blick auf die Unterscheidung des Psychischen und Geistigen, es sei „nicht so einfach, die Unterscheidung durchzuführen; denn teilweise sind es dieselben Bewußtseinsakte, die dem seelischen und geistigen Sein zugleich angehören.“ Und dies führt ihn zu der Einsicht: „[D]ie hier entstehenden Aporien zu lösen, kann ohne die genauere Untersuchung der Aktphänomene nicht gelingen. Diese Untersuchung aber läuft auf die Kategorialanalyse beider angrenzenden Schichten hinaus. Was vor der Hand eine cura posterior bleiben muß.“23 Allerdings stellt sich dann unausweichlich die Frage, ob ein Modell, das „Seele“, „Bewusstsein“ und Geistiges im engeren Sinne als Differenzierungen innerhalb der einen umfassenden Sphäre des Geistigen versteht24 (und dies, ohne dem Psychologismus zu verfallen!), nicht einen Vorzug gegenüber einer scharfen begrifflichen Scheidung der Schichten aufweise, die sich bei der Beschreibung der Phänomene dann doch nicht durchhalten lässt.

21 22 23 24

Hartmann (1933), 92. Hartmann (1933), 48 f., 51; vgl. 108 – 115. Hartmann (1940), 181. Siehe – neben Hegels Enzyklopdie (1830), §§ 377 – 482 – jetzt die Ausgabe der Nachschriften: Hegel (2008/2011). Vgl. hierzu Sandkaulen (2010).

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Es sei nur noch am Rande vermerkt, dass die unerwartete begriffliche Unschärfe, die in der Rede vom „geistlosen“ und „geistigen Bewusstsein“ manifest wird, auch noch den gesamten Bereich des Emotionalen umfasst. Fürchten und Hoffen, Lieben und Hassen verortet Hartmann auf der Seite des Geistes. Allein der „personale Geist“ könne „lieben und hassen“. Doch wenn er sonst die Tätigkeiten des personalen Geistes beschreibt, fehlen die Hinweise auf diese emotionale Seite – wie es auch hier in der Fortsetzung des Zitats heißt, allein der personale Geist „hat ein Ethos, trägt Verantwortung, Zurechnung, Schuld, Verdienst; nur er hat Bewußtsein, Voraussicht, Willen, Selbstbewußtsein“.25 Diese Zuschreibung ist allerdings nicht voll belastbar, da sie im Kontext der Gegenüberstellung des personalen und des objektiven Geistes erfolgt, nicht im Blick auf die Zuordnung von psychischem und geistigem Sein – aber sie bleibt doch bezeichnend für die am personalen Geist herausgehobenen Begriffe. Personalitt: Angesichts dieser Unschärfe, angesichts des Festhaltens an der Schichtentrennung trotz ihrer faktischen Durchbrechung durch die Einsicht, dass der personale Geist gar nicht präzise vom psychischen Sein geschieden werden könne, weil es teilweise dieselben Bewusstseinsakte sind, „die dem seelischen und geistigen Sein zugleich angehören“, ist abschließend nochmals die Frage nach dem systematischen Ort der Personalität zugespitzt zu stellen. Vorweg möchte ich erneut betonen, dass mir Hartmanns Beschreibung und Analyse der Personalität als einer Form des geistigen Seins nach wie vor berechtigt erscheint. Die Stichworte, die er dort gibt, ordnen die Personalität überzeugend dem geistigen Sein zu. Doch bleibt dabei eine Frage offen: die Frage, ob er dort denn überhaupt eine vollständige – oder nicht vielmehr nur eine verkürzte oder einseitige – Beschreibung von Personalität gebe. Anders gesagt: So sehr es zutrifft, dass weite Bereiche von Personalität in den Bereich des geistigen Seins fallen, so ist dadurch ja nicht schon ausgeschlossen, dass Personalität auch in den Bereich des Psychischen hineinreiche – ja: hinabreiche –, und vielleicht ja gar noch tiefer: dass sie letztlich in einer seelisch-leiblichen Einheit verankert sei – was ja nicht im geringsten ausschließt, dass sie sich auf der anderen Seite bis in den Bereich des geistigen Seins erhebe. Und nochmals anders und sehr direkt, vielleicht ja allzu direkt gefragt: Lässt sich ein zureichendes Verständnis von Personalität denn wirklich unter Abstraktion von allem Psychischen 25 Hartmann (1933), 73; vgl. ebd., 103 f.

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bilden? Ist es nicht nur eine Seite eines komplexen Begriffs von Personalität, die Hartmann hier unter den Titel „personaler Geist“ stellt? Es trifft ja zu: Hartmann betont unentwegt, der Geist sei immer vom Psychischen getragen – schon um dadurch dem Unfug der Annahme eines „schwebenden Geistes“ entgegenzuwirken, und insofern mit gutem Recht. Er betont aber ebenso, dass der Geist trotz dieser für ihn notwendig vorhandenen Beziehung doch stets nur „aufruhe“ – oder noch etwas plakativer: dass die Einzelpersönlichkeit „uns nie anders als an ein leiblich-seelisches Wesen gebunden und gleichsam ihm aufsitzend begegnet“.26 „Aufsitzen“: Man braucht seinen Wehrdienst nicht bei der Kavallerie geleistet zu haben, um hierdurch zur Assoziation eines Reiters genötigt zu werden, der den Fuß in den Steigbügel setzt, um sich in den Sattel seines Pferdes zu schwingen. Doch wenn es auch malerische und ergreifende Schilderungen gibt, wie Ross und Reiter geradezu zu einer Einheit verwachsen: Auf das „Aufsitzen“ folgt früher oder später doch stets ein „Absitzen“ – und manchmal ja gar ein unfreiwilliges. Im Falle des Geistes allerdings wäre beides fatal. Anders, und ohne Bild, wenn auch im Modus nicht eines gesicherten Wissens, sondern einer Vermutung, die aber zumindest eine gewisse Anfangsplausibilität für sich hat: Es gibt, scheint mir, eine Reihe ernsthafter Gründe dafür, dass der personale Geist nicht bloß „auf“ der Seele „sitzt“ und dass er auch nicht bloß „auf“ der Seele „ruht“. Beides sind äußerliche und dem Verhältnis des Geistes zur Seele schwerlich angemessene Bilder. Auch wenn wir – mit Hartmann – unsere Personalität als geistige erst zu verwirklichen haben, und sicherlich auch durch persönlichen „Einsatz“ und „Kraft“, so wäre dies doch schwerlich möglich, wenn ihre Wurzeln nicht unter die Ebene des geistigen Seins hinunterreichten, in das Psychische und wohl auch in das Organische. Denn vor all den hohen ethischen Qualifikationen, in denen Hartmann das personale geistige Sein gipfeln lässt, ist doch das zu bedenken, was mich zu dieser Person macht und nicht zu jener. Was ich hingegen durch „Einsatz“ und „Kraft“ verwirkliche, ist gerade nicht geeignet, mich zu dieser unverwechselbaren Person zu machen, die ich bin. Hierzu könnte ein – im Duktus von Hartmanns Ausführungen eher marginaler – Hinweis hilfreich sein, den ich vorhin bereits kurz gestreift habe: Es liege „im Wesen des personalen Geistes“, „in aller Bezogenheit auf anderes eine gewisse Rückbezogenheit auf sich selbst zu haben. Er hat Reflexivität.“ Und Hartmann spricht hier weiter von einem „Mitge26 Hartmann (1933), 76.

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gebensein des eigenen Personseins selbst, ohne Wissen um dessen Beschaffenheit.“27 Aber er erwähnt eben nur einmal am Rande, dass diese „Rückbezogenheit auf sich selbst“ „im Wesen des personalen Geistes“ liege, und er macht sie nicht zum Gegenstand seiner Analyse dieses „Wesens“. Demgegenüber möchte ich hier die Vermutung wagen, dass eben in dieser vielleicht nicht unerklärlichen, aber doch von Hartmann unerklärt gelassenen „Rückbezogenheit“ die Wurzel der Personalität liege – sicherlich nicht als ein „Wissen“ und nicht als ein Objekt des Bewusstseins, sondern eher als ein Gefühl, als das Selbstgefühl meiner unverwechselbaren Identität, deren ich mich nicht erst durch „Kraft“ und „Einsatz“ zu vergewissern brauche. Und vielleicht ist es ja so, dass auch das Zentrum der Personalität gar nicht im geistigen Sein liegt, sondern dass es nur in das geistige Sein ausstrahlt – woraus sich auch Hartmanns Einsicht besser verstehen ließe, dass es gar nicht so leicht sei, die Charakteristika des geistigen Seins vom personalen her zu gewinnen. Doch möchte ich mich in der Frage der Verortung dieses „Zentrums der Personalität“ nicht zu weit vorwagen. Festhalten möchte ich hingegen, dass Personalität nicht allein im geistigen Sein beheimatet sei, und unterstreichen möchte ich noch etwas anderes, das Hartmann so ausspricht: „Nicht auf die Unüberbrückbarkeit der Einschnitte kommt es hierbei an – denn es könnte sein, dass diese nur „für uns“ besteht –, sondern auf das Einsetzen neuer Gesetzlichkeit und kategorialer Formung, zwar in Abhängigkeit von der niederen, aber doch in aufweisbarer Eigenart und Selbständigkeit gegen sie.“28 Und vielleicht ist es ja an der Zeit, von dieser Einsicht aus das Unternehmen der kategorialen Analyse des Psychischen in seinem Verhältnis zum Geistigen, das für Hartmann im Jahr 1939 „vor der Hand“ eine „cura posterior“ bleiben musste, nunmehr wieder aufzugreifen und es zum Ende und zum Erfolg zu führen.

Literaturverzeichnis Hartmann (1933): Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 3. Auflage: Berlin 1962. Hartmann (1940): Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre, 3. Auflage: Berlin 1964. 27 Hartmann (1933), 144. 28 Hartmann (1940), 182.

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Hobbes (1984): Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und brgerlichen Staates, hrsg. v. I. Fetscher, Frankfurt a.M. Hegel (1830): Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff., Bd. 20, Hamburg 1992. Hegel (2008/2011): Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes“, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff., Bde. 25, 1 u. 25, 2., hrsg. v. Christoph Johannes Bauer, Hamburg. Jaeschke (2008): Walter Jaeschke, „Person und Persönlichkeit. Anmerkungen zur Klassischen Deutschen Philosophie“, in: Alexander Haardt u. Nikolai Plotnikov (Hgg.), Der Diskurs der Personalitt. Philosophische Begriffe im interkulturellen Umfeld, München, 61 – 74. Locke (1981): John Locke, Versuch ber den menschlichen Verstand, in vier Büchern, Hamburg. Sandkaulen (2010): Birgit Sandkaulen, „,Die Seele ist der existierende Begriff‘. Herausforderungen philosophischer Anthropologie“, in: Hegel-Studien 45, 35 – 50.

Person und Persönlichkeit bei Max Scheler und Nicolai Hartmann Inga Römer I. Einleitung Im Bereich philosophischer Ethik sind Max Scheler und Nicolai Hartmann als Vertreter einer materialen Wertethik bekannt, wie sie in anderer Gestalt auch von Edmund Husserl, Hans Reiner und Dietrich von Hildebrand entwickelt wurde. Die Tradition der materialen Wertethik war zwar in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von einiger Bedeutung, ist jedoch in den letzten Jahrzehnten deutlich in den Hintergrund gerückt und kann keinesfalls mehr als eine derjenigen Traditionen gelten, denen innerhalb der Debatten um eine philosophische Ethik ein tragender Stellenwert zukommt. Zu Recht, so lässt sich sagen, denn die materiale Wertethik versucht, bestimmte Werte in einer bestimmten Rangordnung als a priori geltend auszuweisen, während sich mit guten Gründen die These aufstellen lässt, dass den derart ausgewiesenen Werten allenfalls der Status von Typen, nicht aber von Wesen a priori zukommt. Innerhalb der kulturellen und historischen Vielfalt von Wertschätzungstypen erscheinen die von den materialen Wertethiken behaupteten Werte und Rangordnungen lediglich als spezifische, historisch und kulturell bedingte Generalitäten. Es findet sich jedoch eine Konzeption in der materialen Wertethik, die meines Erachtens auch heute noch nähere Beachtung verdient, weil sie über ihren Ort in der materialen Wertethik hinaus fruchtbar gemacht werden könnte: Es handelt sich um den Begriffskomplex von Person und Persönlichkeit1, der den Ansätzen von Scheler und Hartmann die Gestalt eines ethischen Personalismus verleiht. „Ethischer Personalismus“ ist ein Ausdruck, der von Scheler programmatisch im Untertitel seines 1

Hartmann unterscheidet den Begriff der Person von demjenigen der Persönlichkeit. Scheler nimmt diese begriffliche Trennung zwar nicht vor, macht der Sache nach aber dieselbe Unterscheidung, weshalb wir sie in unseren Titel aufgenommen haben.

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Hauptwerkes Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus verwendet wird. Dem ethisch relevanten Begriff der Person wollen wir im Folgenden in den Ethiken von Scheler und Hartmann nachgehen. Ein erster Abschnitt erörtert den gemeinsamen Bezugspunkt von Scheler und Hartmann in Kants Ethik beziehungsweise in Kants Begriff der Person, welcher als kritische Kontrastfolie für die Entwicklung der beiden Personalismen gedient hat. Der darauf folgende Abschnitt arbeitet den Personbegriff in Schelers Ethik heraus, so wie er von ihm im Zeitraum der Niederschrift des Formalismusbuches konzipiert wird. Ein dritter Abschnitt befasst sich mit Hartmanns Kritik an Scheler und entwickelt Hartmanns eigenen Begriff der Person beziehungsweise der Persönlichkeit anhand von dessen Werk Ethik. Ein vierter und letzter Abschnitt enthält eine kritische Perspektive auf die Personbegriffe bei Scheler und Hartmann sowie einen Ausblick auf mögliche weiterführende Ansätze. Aufgrund der gebotenen Kürze werden einige Theoreme stark zusammenfassend dargestellt.

II. Kant als gemeinsamer Bezugspunkt von Schelers und Hartmanns Personbegriffen Das „Nebenziel“ des Werkes, so heißt es 1916 im Vorwort zur ersten Auflage von Schelers Formalismusbuch, sei eine „Kritik der ethischen Lehren Kants“.2 Während damit zum einen die Kritik an der vermeintlichen Formalität und Leere des Kantischen Sittengesetzes gemeint ist, an deren Stelle Scheler ein durch das Wertgefühl zu erfühlendes materiales Apriori der grundlegenden Wertklassen setzen will, bezieht sich die Formulierung zugleich auf Kants Begriff der Person.3 Was wirft Scheler dem Kantischen Personbegriff vor? Kants Gesetzesethik, so Scheler, „entwürdige“ die Person, indem „sie dieselbe unter die Herrschaft eines unpersönlichen Nomos stellt, dem gehorchend sich erst ihr Personwerden vollziehen soll“.4 Die sittliche Person sei eine bloße Vernunftperson, „das X der dem Sittengesetz gemäßen Willensbetäti2 3

4

Scheler (1966), 9. Vgl. zu der Unterscheidung verschiedener Begriffe der Person und Persönlichkeit bei Kant selbst: Baum (2004). Vgl. zudem den ausführlichen Vergleich zwischen Kants Begriff der Person und Schelers Begriff der Person bei Blosser (2002). Scheler (1966), 370.

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gung“.5 Diese Bestimmung aber bedeute zugleich, „daß jede Konkretisierung der Personidee auf eine konkrete Person schon von Hause aus mit einer Entpersonalisierung zusammenfällt“ und „der Begriff einer ,individuellen Person‘ […] streng genommen zu einer contradictio in adjecto“ werde.6 In Abgrenzung von Kants Begriff einer Vernunftperson, deren moralische Persönlichkeit ausschließlich in einer dem formal-universalen Sittengesetz folgenden Freiheit besteht7 und laut Scheler daher auf eine „Logonomie und […] äußerste Heteronomie der Person“8 führt, will Scheler den Begriff einer individuellen Person entwickeln. Allerdings weist er hierbei sofort auf eine Schwierigkeit hin, mit der dieses Vorhaben konfrontiert ist: Eine zwecks Individualisierung des Personbegriffs vorgenommene Anreicherung des Kantischen Begriffs einer Vernunftperson durch materiale Momente würde einen „ethische[n] Auslebeindividualismus“ zur Folge haben, in dem letztlich alles, bis zum „momentanen Augenzwinkern und einer beliebigen launischen Stimmungsverschiebung“9, zur Würde und Autonomie der Person gerechnet werden müsste. Dies aber sei nicht plausibel, so dass ein anderer Begriff der individuellen Person gefunden werden müsse. Hartmann entwickelt seine 1926 erstmals veröffentlichte Ethik ebenfalls vor dem Hintergrund einer Kritik an Kant, die er jedoch unmittelbar mit Schelers kantkritischen Ausführungen im Formalismusbuch in Verbindung bringt. So enthält der „Die Kantische Ethik“ überschriebene IV. Abschnitt des ersten Teiles der Ethik zwei Kapitel, die die Scheler’sche Kritik an Kant behandeln, während sich lediglich das erste Kapitel direkt der Kantischen Ethik widmet. Obgleich sich in diesem IV. Abschnitt keine ausdrückliche Kritik am Kantischen Personbegriff findet, wird später im Buch deutlich, dass Hartmann dem Kantischen Personbegriff ähnlich kritisch gegenübersteht wie Scheler. Dabei sucht er jedoch nach einer kritischen Weiterentwicklung, die in einer stärkeren Kontinuität zu Kant steht als dies bei Scheler der Fall ist. Ein Zeugnis dafür finden wir in der Ethik im Kapitel 57 über die Persönlichkeit, wo 5 6 7

8 9

Scheler (1966), 371 Scheler (1966), 371. „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen, der Identität seines Daseins bewußt zu werden)“. Kant (1968a), 223. Scheler (1966), 372. Scheler (1966), 372.

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Hartmann eine Reinterpretation des Kantischen Konzeptes eines intelligiblen Charakters vorlegt. Dort heißt es: „Der Kantische Terminus ,intelligibler Charakter‘ – sofern man die Kantische Metaphysik der Vernunft mit ihrem Universalismus fallen läßt und auf die eigentliche Wortbedeutung zurückgreift – dürfte der genaue Begriff des ,Persönlichkeits-Wertes‘ sein.“10 Tatsächlich setzt Hartmann mit dem intelligiblen Charakter bei einem mit dem Personbegriff verbundenen Kantischen Begriff an, der eine gewisse Zweideutigkeit mit sich führt: In Kants Anthropologieschrift heißt es, der Mensch habe „überhaupt einen Charakter (einen moralischen), der nur ein einziger, oder gar keiner sein kann“11, da er an die Denkungsart eines freien, dem universalen Sittengesetz folgenden Wesens gebunden ist; an anderen Stellen scheint es allerdings so, dass Kant eine gewisse Individualisierung des Charakters annimmt, wenn er beispielsweise einen „Mann von Grundsätzen“ mit „einen bestimmten Charakter zu haben“12 zu identifizieren scheint, wobei sich in den spezifischen, allerdings sämtlich dem universalen Sittengesetz folgenden Grundsätzen eine Individuierung angedeutet findet. Diese Zweideutigkeit sucht Hartmann in Richtung eines die sittliche Person charakterisierenden individuellen Persönlichkeits-Wertes aufzulösen.13 Wir werden noch sehen, wie dies im Einzelnen zu verstehen ist. Vorerst bleibt festzuhalten, dass Hartmann sich Schelers Kant gegenüber kritischer Suche nach einem individualisierten Begriff der Person anschließt, dabei jedoch die Kontinuität zu Kant stärker betont als Scheler.

10 11 12 13

Hartmann (1962), 512. Kant (1968b), 285. Kant (1968b), 295. Hartmann legt im Zuge dessen sowohl in der Ethik als auch in einer kurzen Schrift über „Kants Metaphysik der Sitten und die Ethik unserer Tage“ einen Vorschlag zur Umkehrung des kategorischen Imperativs vor. Diese Umkehrung des Kantischen kategorischen Imperativs könne letzterer jedoch in sich aufnehmen. Vgl. Hartmann (1958b), 349 f.; Hartmann (1962), 524. Ob eine derartige „Dialektik des Sittengesetzes“ (Hartmann (1958b), 350) aus einer Kantischen Perspektive nicht vielmehr eine für die Sittlichkeit fatale Dialektik der Ausnahme begünstigt, kann hier nicht erörtert werden.

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III. Schelers Begriff der Person Wenden wir uns nun zunächst Schelers Begriff der Person zu, so wie er ihn in seiner mittleren, phänomenologischen Phase entwickelt hat. Das sich ursprünglich der phänomenologischen Analyse Darbietende ist für Scheler in Anschluss an den frühen Husserl die Korrelation von Akt und Aktgegenstand. Als dieses Ursprüngliche seien Akte allein in ihrem Vollzug gegeben und könnten niemals zu Gegenständen werden. Ein erstes Moment der Subjektivität zeigt sich in dem, was Scheler „individuelle[s] Erlebnisich“ nennt.14 Dieses sei ein Anschauungsdatum, welches jedes Erlebnis durch eine individuelle Art des Erlebens töne. Es sei in jedem adäquat gegebenen Erlebnis mitgegeben, gehe aber nie in einem solchen Erlebnis auf. Die Individuation des Ich erfolgt hier nicht durch einen spezifischen materialen Gehalt des Erlebten, sondern durch die anschaulich gegebene Erlebnisart des Erlebten. Das Ich allerdings könne durch einen Akt der inneren Wahrnehmung zum Gegenstand werden. Diesem überempirischen „transzendental-individuellen Ich“15 mit seinem materialen Gehalt der nicht-empirischen Anschauung schreibt Scheler ein Primat vor jeder Konzeption einer allgemeinen, überindividuellen Ichstruktur zu, wie sie in Kants Bestimmung des reinen „Ich denke“ als einer formal-allgemeinen Bedingung der Einheit der Gegenstände zum Ausdruck komme. Dieses individuelle Ich sei jedoch noch nicht die Person. Die Person sei vielmehr die Antwort auf die Frage nach dem wesenhaft zum Wesen eines Aktvollzugs gehörigen „einheitliche[n] Vollzieher“16. Scheler definiert sie folgendermaßen: „Person ist die konkrete, selbst wesenhafte Seinseinheit von Akten verschiedenartigen Wesens, die an sich (nicht also pq¹r Bl÷r) allen wesenhaften Aktdifferenzen (insbesondere auch der Differenz äußerer und innerer Wahrnehmung, äußeren und inneren Wollens, äußeren und inneren Fühlens und Liebens, Hassens usw.) vorhergeht. Das Sein der Person ,fundiert‘ alle wesenhaft verschiedenen Akte.“17 Wie die Akte, deren Vollzieher sie ist, sei sie ausschließlich im Vollzug gegeben und niemals Gegenstand. Scheler präzisiert diese Vollzugsgegebenheit der Person näher, indem er schreibt, es „steckt in jedem voll konkreten Akt die ganze Person und ,variiert‘ in und durch jeden Akt die 14 15 16 17

Scheler (1966), 376. Scheler (1966), 379. Scheler (1966), 380. Scheler (1966), 382 f.

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ganze Person – ohne daß ihr Sein doch in irgendeinem ihrer Akte aufginge, oder sich wie ein Ding in der Zeit ,vernderte‘.“18 Diese Bestimmungen der Person stellen den Interpreten allerdings vor einige Herausforderungen, denn: Wie lässt sich die Person als ein einheitlicher Vollzieher der Akte denken, wenn sie keine den Akten zugrunde liegende Substanz ist? Wie lässt sie sich fassen, wenn sie selbst in jedem Akt als ganze variieren soll, ohne dies wie ein Ding in der Zeit zu tun? Wie kann sie nur in den Akten gegeben sein und in ihnen variieren, ohne jedoch in den Akten aufzugehen? Die Person ist weder Akt noch Substanz und scheint doch von beiden etwas zu haben. In seinem Buch Wesen und Formen der Sympathie spricht Scheler von der Person gar als einer „Akt-substanz“19. Dieser Ausdruck erscheint jedoch keinesfalls als eine Lösung dieser Fragen, sondern mutet vielmehr wie ein hölzernes Eisen an: Handelt es sich bei Schelers Erörterungen der Person um einen Aktualismus oder einen Substantialismus? Um diese Fragen einer Aufklärung näherzubringen, ist zunächst eine Hinwendung zu Schelers Begriff der Variation hilfreich. Die Variation der Person meint ein „pure[s] ,Anderswerden‘“20, das sich jedoch nicht auf eine das Anderswerden ermöglichende Zeit, nicht auf eine dingliche Veränderung, nicht auf ein Nacheinander des Wechsels, kurzum das sich nicht auf ein dauerndes Sein stützt. Die Identität der Person, so Scheler, liege nicht in einer Substanz, sondern „allein in der qualitativen Richtung dieses puren Anderswerdens selbst“.21 Darin lebe die selbst nicht in der phänomenalen Zeit seiende Person in die Zeit hinein und vollziehe derart das Anderswerden ihrer Akte. Dieser Gedanke eines puren Anderswerdens bleibt jedoch seinerseits so lange unverständlich, wie man nicht geklärt hat, was mit einem qualitativen und nicht zeitlichen Anderswerden gemeint sein kann. Um diese Klärung zu leisten, schließe ich mich im Folgenden einer These von Heinz Leonardy an, dem zufolge die Person bei Scheler strukturell zu begreifen ist. Aktsubstanz, so Leonardy, meint bei Scheler Aktstruktur und verweist auf die Person als ein zeit- und raumfreies, wesenhaft bestimmtes Ordnungsgefüge von Akten.22 Dieses Ord18 19 20 21 22

Scheler (1966), 384. Scheler (1973), 219. Scheler (1966), 384. Scheler (1966), 385. Vgl. Leonardy (1976), 144. Kompatibel mit dieser Bestimmung sowie ihrer Veranschaulichung dienlich ist meines Erachtens das von Blosser gebrauchte Bild

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nungsgefüge, diese Aufbauordnung der Akte aber wiederum sei das, was Scheler in einem zwischen 1914 und 1916 entstandenen Nachlassfragment in Anlehnung an Pascal den „ordo amoris“ nennt.23 Der Kern der Person, so Leonardy, liege für Scheler in ihrem ordo amoris, wenngleich Scheler selbst dies nie ausdrücklich ausgeführt habe. Fragen wir hier weiter: Was versteht Scheler unter dem ordo amoris und wie lässt er sich erkennen? Scheler unterscheidet in dem genannten Nachlassfragment einen normativen von einem faktischen ordo amoris. Der normative ordo amoris verweist auf eine objektiv rechte Ordnung der Liebe und des Hasses, die als erkannte auf das Wollen des Menschen bezogen normativen Charakter gewinnt. Mit dem faktischen ordo amoris hingegen bezieht sich Scheler auf „die besondere Art des Aufbaus“ der „Liebes- und Haßakte und Liebes- und Haßpotenzen“ eines einzelnen Menschen; dieser faktische ordo amoris sei „die sittliche Grundformel […], nach der dieses Subjekt moralisch existiert und lebt.“24 Allerdings ist der faktische ordo amoris eines Menschen nicht als eine immer schon fertig vorliegende Aktstruktur zu begreifen. Er bildet sich vielmehr erst allmählich heraus, und zwar „nach ganz bestimmten Regeln allmählicher Funktionalisierung primärer Liebeswertobjekte in seiner frühen Kindheit“.25 Wer aber diesen ordo amoris eines Menschen hat, so Scheler, „hat den Menschen. […] Er durch-schaut den Menschen so weit, wie man einen Menschen durchschauen kann.“ (ebd.) Auch wenn Scheler hier vom Menschen spricht, scheint seine Bestimmung des faktischen ordo amoris gerade den Kern der Person als Aktstruktur zu bezeichnen. Und die allmähliche Herausbildung des faktischen ordo amoris ließe sich als Erläuterung des qualitativen puren Anderswerdens der nichtsubstanziellen Person verstehen. In ihrer unverstellten Form richte sich die werterfühlende Liebe innerhalb des faktischen ordo amoris eines Einzelnen auf die eigene individuelle Bestimmung. Diese individuelle Bestimmung allerdings stehe einem niemals klar und deutlich vor Augen: „Es gibt kein begrenztes Bild von ihr, noch weniger ein formulierbares Gesetz.“26 Wir spürten ledig-

23 24 25 26

eines Wellenkammes zur Beschreibung der spezifisch dynamischen Substantialität der Person. Vgl. Blosser (2002), 58. Vgl. Scheler (1957). Scheler (1957), 348. Scheler (1957), 350. Scheler (1957), 354.

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lich, wann wir von ihr abweichen beziehungsweise erhaschten Aspekte von ihr. Diese Erfahrungen könnten sich äußern in Sätzen wie „dies ist es, was ich liebe“ oder „dies ist es, was ich hasse“. Wenn unsere ethische Aufgabe darin besteht, diese individuelle Bestimmung zu entschleiern und zu verwirklichen, so können wir dieser Aufgabe nur mithilfe von Eingrenzungserfahrungen nachkommen, die dem Muster der negativen Theologie folgen.27 Gerade weil sie uns nicht klar und deutlich vor Augen steht, können wir unsere individuelle Bestimmung jedoch auch verfehlen. Dies geschieht, wenn wir aufgrund eines dsordre du cœur die objektiv rechte Ordnung des Liebens und Hassens aus dem Blick verlieren.28 Um Schelers Position sogleich mit derjenigen Hartmanns in Beziehung setzen zu können, ist es nötig, summarisch einige weitere Aspekte der Scheler’schen Personkonzeption darzulegen. Erstens, in Anschluss an die vom frühen Husserl übernommene Korrelation von Akt und Aktgegenstand behauptet Scheler, dass zu einer Person immer eine Welt als Korrelat gehöre. Da die Person ursprünglich individuell sei, sei auch die Welt ursprünglich individuell persönlich.29 Die eine Welt sei hingegen einerseits eine Abstraktion von den vielen personalen Welten und andererseits das Korrelat der höchsten Person, nämlich Gott, ohne den sie nicht gedacht werden könne.30 Zweitens gibt es für Scheler Kollektiv27 Vgl. Scheler (1957), 354. 28 Die „allgemeinste Form der Zerstörung und Verwirrung des ordo amoris“ bezeichnet Scheler als „Vergaffung“ (Scheler (1957), 360). Die „absolute[] Vergaffung“ erfolgt, wo der Mensch die stets notwendig und in jedem vorhandene […] Absolutstelle seines faktischen Wertbewusstseins mit dem Werte eines endlichen Gutes, resp. einer Güterart besetzt vorfindet“ (ebd.). „[R]elative[] Vergaffung“ hingegen liege vor, wo sich der Mensch „gegen die objektive Rangordnung des Liebenswerten vergeht“ (ebd.). Die Beschränktheit des Subjekts hinsichtlich der zugänglichen Teile des Wertreiches aber zählt nicht zu dieser Vergaffung. Eine weitere Form einer dsordre du cœur kann im von Scheler ausführlich behandelten Ressentiment gesehen werden. Vgl. Scheler (1955), dazu Frings (2004), XIII. 29 Vgl. Scheler (1966), 392 – 395. 30 Vgl. Scheler (1966), 395 f. Scheler nimmt hier in seiner phänomenologischen Untersuchung auf rationalistisch-metaphysisches Gedankengut Bezug, wenn er die Personalwelten als Mikrokosmen versteht, die im Kleinen dem Makrokosmos einer einzigen Welt entsprächen. In Letzterem sind Gedanken aus Leibnizens metaphysischer Monadologie wiederzuerkennen. Ob und inwiefern diese, in anderer Gestalt auch bei Husserl zu findende Perspektive auf eine Metaphysik der Einheit im Bereich des Ethischen phänomenologisch ausweisbar ist, habe ich andernorts erörtert. Vgl. Römer (2011).

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individuen, so genannte Gesamtpersonen wie den Staat und die Kirche.31 Vorausgesetzt die Interpretation der Person als faktischer ordo amoris trifft zu, so wäre zu sagen, dass auch Gesamtpersonen einen faktischen ordo amoris, eine spezifische Liebesordnung aufwiesen. Drittens gibt es für Scheler trotz der Individualität der Person in einer an sich gültigen Rangordnung stehende so genannte Wertpersontypen – Heiliger, Genius, Held, führender Geist und Künstler des Genusses –, die allen Vorbildmodellen guter Personen zugrunde lägen und ihrerseits in der Gottesidee ihren Grund und ihre Einheit fänden.32 Viertens führt Scheler zwar Vollsinnigkeit, Mündigkeit und die Herrschaft über den Leib als Bedingungen der ethischen Person an,33 nicht aber die Freiheit. Warum Scheler zwar die Selbständigkeit der Person gegenüber ihren Anlagen, der Situation und dem Charakter behauptet, nicht aber die Freiheit zu einem zentralen Kriterium der Person erklärt, lässt sich angesichts seines Sokratischen Ansatzes in der Ethik begreiflich machen: Ich müsse lediglich einsehen, was das Gute ist, dann würde ich es auch wollen und bemühte mich um seine Umsetzung. Vergaffung und Verwirrung des ordo amoris kämen nur dann zustande, wenn ich meine Bestimmung nicht deutlich vor Augen habe.

IV. Hartmanns Kritik an Scheler und Hartmanns Begriffe der Person und der Persönlichkeit Hartmanns zentrale Kritik an Scheler konzentriert sich in dem Vorwurf, Scheler habe eine personalistische Metaphysik und Weltanschauung entwickelt.34 Diese Grundkritik differenziert sich in drei wesentliche Momente. Erstens wirft Hartmann Scheler eine Umkehrung der kategorialen Gesetze vor. Er ist entgegen Scheler der Auffassung, dass die Welt nicht ursprünglich personal und als Korrelat der Person aufgefasst werden darf, denn die Welt sei vielmehr das, in dem die Person gemeinsam mit den Dingen eingebettet ist, der Grund, auf dem sie steht. Die Welt sei ursprünglich das Ganze, das alle Korrelationen umspannt. Personen wiederum ließen sich ihrerseits nicht im luftleeren Raum und mit einem bloßen Weltkorrelat denken, sondern sie seien als axiologische Wesen die 31 32 33 34

Hierin stimmen Scheler und Husserl überein. Vgl. u. a. Husserl (1989), 56 – 59. Vgl. Scheler (1966), 568 – 580. Vgl. Scheler (1966), 469 – 475. Vgl. Hartmann (1962), Kapitel 24 und 25.

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höchste Schicht der Subjektivität, die sich als Träger von Werten über den Schichten des Lebens und des bewussten Subjekts erhebt. Ohne Leben und Subjekt aber sei eine Person nicht zu denken. Daher könne es auch, anders als Scheler meint, keine Gesamtpersonen geben, denn Kirche, Staat und ähnlichen Instanzen fehle die Verankerung in einem lebendigen Organismus und einem subjektiven Bewusstsein. Schelers personalistische Metaphysik, so meint Hartmann, sei durch ein Schichtenmodell zu ersetzen, in dem von unten auf zur Schicht der Person fortgeschritten wird und nicht von oben herab eine Individualisierung und Personalisierung der Welt erfolge. In diesem Schichtenmodell sei auch sehr wohl eine Vergegenständlichung von Personen möglich, die Gegenstände der Stellungnahme, Gesinnung oder Handlung sein könnten. Nur über diesen Weg könne Schelers Verabsolutierung der Person und seine Personalisierung der Welt korrigiert werden, ohne das Grundprogramm eines ethischen Personalismus aufzugeben. Zweitens kritisiert Hartmann Schelers Gottesbegriff: Die Welt sei eigenständig und benötige kein subjektives Korrelat in Gott;35 zudem könne Gott auch gar nicht personal gefasst werden, weil er als allumfassendes Wesen „das absolut impersonale Wesen“36 wäre. An diese Argumente gegen Schelers personalen Gottesbegriff schließt Hartmann eine weitere, speziell die Ethik betreffende Kritik an: Nähme man Gott als den letzten Einheitsgrund der Ethik an, so fände man sich angesichts der Idee einer göttlichen Vorsehung mit einer teleologischen Determination konfrontiert, die – im Unterschied zur bloß kausal-mechanischen Determination – der menschlichen Freiheit keinerlei Spielraum mehr ließe und der Person so ihre Würde nähme. Scheler habe die Freiheit bei seiner Bestimmung der Person vernachlässigt, während sie für Hartmann jedoch wesentlich zur Person gehört. Tatsächlich enthält der dritte, sich mit dem Problem der Willensfreiheit befassende Teil der Ethik einige der fruchtbarsten Analysen des Buches. In einem Versuch der Weiterentwicklung des Kantischen Freiheitsbegriffes erörtert Hartmann hier den Begriff einer individuellen menschlichen

35 In seinem Nachruf auf Scheler erkennt Hartmann ausdrücklich an, dass Scheler später von seinem frühen Gottesbegriff Abstand genommen hat. Er rückt Schelers späte Wende sogar in eine gewisse Nähe zu seinem eigenen Ansatz: „Die Schwere des Realitätsproblems, die ihn von Jahr zu Jahr mehr erfasste, zwang ihn zur Umorientierung.“ Hartmann (1958), 355. 36 Hartmann (1962), 248.

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Freiheit, die sich sowohl von dem Kausalnexus der Natur als auch von der an sich bestehenden Ordnung des Wertreiches emanzipiert.37 Wenden wir uns nach dieser Skizzierung von Hartmanns Kritik an Scheler nun Hartmanns eigenem Personbegriff näher zu. Hartmann unterscheidet zunächst den Begriff der Person von demjenigen der Persönlichkeit: „Person ist jeder Mensch, darin gleichen sich alle; das Personsein als solches ist darum ein Allgemeines […]. Persönlichkeit ist das an einem Menschen, was er für sich allein hat, was nicht an anderen wiederkehrt, das Einmalige und Einzige an einer Person.“38 Das allgemeine Personsein bestimmt Hartmann mithilfe folgender Definition: „Unter Personen verstehen wir die menschlichen Individuen, sofern sie als handelnde, redende, wollende und strebende, als Vertreter ihrer Meinungen, Einsichten, Vorurteile, als Wesen mit Ansprüchen und Rechten, Gesinnungen und Wertungen irgendwie Stellung nehmen.“39 Die Persönlichkeit hingegen kann aufgrund ihrer Einzigartigkeit nicht in einer allgemeinen Definition philosophisch erfasst werden, denn sie „lernen wir erst nach und nach aus ihren Taten, ihrem Verhalten, ihrer Stellungnahme kennen; wir müssen sie erst erfahren, um sie zu verstehen.“40 Auch Scheler war auf dieses Problem aufmerksam geworden, das sich einem auf die Individualität der Person konzentrierten philosophi-

37 In dem im Jahre 1926 veröffentlichten Vorwort zur dritten Auflage des Formalismusbuches hat Scheler zwar zur im selben Jahr erschienenen Ethik Hartmanns Stellung genommen (vgl. Scheler (1966), 19 – 23), im Wesentlichen jedoch seine eigenen, von Hartmann kritisierten Thesen aus dem Formalismusbuch erneut affirmiert und seinerseits Kritikpunkte an Hartmanns Ethik formuliert. Erstens vermisse er bei Hartmann eine Analyse des sittlichen Lebens der Persönlichkeit, zweitens sei Hartmanns „Realontologismus“ und „Wertwesensobjektivismus“ (Scheler (1966), 21) nicht überzeugend und mute fast mittelalterlich an, drittens könne eine Person nie Gegenstand sein, viertens gäbe es Gesamtpersonen, fünftens sei anstatt einer an zeitlosen Werten orientierten individualistischen Ethik eine Entwicklungsphilosophie des sittlichen Bewusstseins in Geschichte und Gesellschaft zu entwickeln und sechstens könne man Ethik und Metaphysik beziehungsweise Religionsphilosophie sachlich nicht voneinander trennen. Allein Hartmanns Analysen über den Unterschied zwischen idealem und normativem Sollen sowie seine Differenzierung in Wertstärke und Wertschwäche der niederen und höheren Werte fasst Scheler als eine „wertvolle Verfeinerung“ (Scheler (1966), 19 Anm.) seiner eigenen Analysen auf. 38 Hartmann (1955b), 311. 39 Hartmann (1949), 125. 40 Hartmann (1949), 129.

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schen Personalismus stellt.41 Hartmann zieht aus diesem Problem die genannten terminologischen Konsequenzen. Die Persönlichkeit kann aufgrund ihrer Einzigartigkeit nur insofern philosophisch erörtert werden, als es möglich ist, ihren Ort in der Ethik und ihre Strukturmomente anzuzeigen. Eben dies unternimmt Hartmann. Die Persönlichkeit enthält ein ideales und ein reales Moment. Jede einzelne Persönlichkeit hat einen ihr eigenen Wertcharakter, der in einem idealen und an sich seienden Persönlichkeitswert liegt. Persönlichkeitswerte sind für Hartmann nicht nur die höchsten, sondern auch die schwächsten Werte im geschichteten Wertreich, da das Wertgefühl einen Verstoß gegen sie – anders als bei niedrigen, starken Werten wie dem Lebenswert42 – nicht mit starker Empörung, eine Erfüllung aber mit großem Lob beantwortet. Als höchste Werte stehen die Persönlichkeitswerte ganz oben im idealen, an sich bestehenden Wertreich. Die Realisierung der niederen Werte ist Bedingung ihrer Realisierung und sie haben – auch darin folgt das Wertreich ganz den Gesetzen des Schichtenmodells – die Gestalt einer spezifischen „Art der Komplexion“43 allgemeiner Werte, die ein ihr eigenes Novum enthält. Das ideale Ethos selbst jedoch kann wiederum kleiner oder größer sein, je nach dem, ob es sich dem Typischen oder dem differenziert Individuellen nähert. Es ist dieser Bereich des Persönlichen, der nicht mehr von einer auf das Allgemeine gerichteten philosophischen Ethik, sondern nur vom individuellen Wertfühlen erfasst werden könne. Eine Unschärfe der sittlichen Erfahrung, wie wir sie im Zusammenhang mit den Eingrenzungserfahrungen bei Scheler ausgemacht haben, stellt auf eine andere Weise auch Hartmann fest, wenn er schreibt, die sittliche Forderung „sagt uns zwar nie direkt, was wir im bestimmten Falle tun oder lassen sollen, wohl aber im Allgemeinen und Grundsätzlichen.“44 Anders als Scheler jedoch vertritt er, dass das dem Persönlichkeitswert entsprechende ideale Ethos nicht in einer von der Eigenliebe differenzierten Selbstliebe erfasst werden könne, sondern ausschließlich mithilfe der persönlichen Liebe

41 „Es ist selbstverständlich, daß daher Ethik als philosophische Disziplin wesentlich niemals die sittlichen Werte erschöpfen kann: Sie hat es nur zu tun mit den allgemeingültigen Werten und Vorzugszusammenhängen. […] Niemals also kann Ethik, niemals soll sie das individuelle Gewissen ersetzen.“ Scheler (1966), 486. 42 Vgl. zum Werthöhen- und Wertstärkenverhältnis Hartmann (1962), Kapitel 63. 43 Hartmann (1962), 511. 44 Hartmann (1955a), 287.

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eines Anderen zugänglich zu werden vermag.45 Von diesem idealen Persönlichkeitswert nun gehe eine Sollensforderung aus, die sich nur an eine einzige Person richte. Der sittliche Wert einer Persönlichkeit liege in der Erfüllung ihres idealen Ethos, das Hartmann ähnlich wie Scheler auch als individuelle Vorzugsrichtung und innere Bestimmung auffasst.46 Wesentlich für Hartmanns Theorie der Persönlichkeit ist nun aber, dass die reale Freiheit einer Person sich die Erfüllung des idealen Persönlichkeitswertes zum Ziel setzen soll. Anders als Scheler vertritt Hartmann keine Sokratische Position, der zufolge eine bloße Einsicht in die Werte zu ihrer Erfüllung ausreicht. Die menschliche Freiheit sei vielmehr dem idealen Wertreich und so auch den Persönlichkeitswerten gegenüber autonom und könne sich auch gegen eine Erfüllung der an sie gerichteten Werte entscheiden.47 Hartmann versucht mit dieser Autonomie der Freiheit gegenüber dem Wertreich eine bei Kant ungelöste Frage anzugehen, welche lautet: Wie lässt sich eine Freiheit denken, die sich nicht an das Sittengesetz beziehungsweise an das ideale Wertreich hält? Allerdings ergibt sich auch in Hartmanns Freiheitstheorie ein von ihm selbst identifiziertes „Restproblem“48, welches darin besteht, die reale 45 Hartmann, (1962), 533. Vgl. Scheler (1966), 483. Scheler fügt sich mit dieser Wertschätzung der Selbstliebe in eine Tradition mit Rousseau und Kant ein, die beide eine amour de soi von einer amour propre beziehungsweise eine vernünftige Selbstliebe vom Eigendünkel unterscheiden. Vgl. Rousseau (1969), 149; Kant (1968c), 73. 46 Sowohl Scheler als auch Hartmann sind der Auffassung, dass diese Erfüllung nicht in einer direkten Intention auf den Persönlichkeitswert, sondern nur in einer Ausrichtung auf Erfüllung derjenigen Werte, die zu meinem Persönlichkeitswert gehören, gelingen kann. Zudem erörtert, wie schon Scheler, auch Hartmann mögliche Gründe für das Verfehlen des idealen Ethos: Die Person könne sich von ihrem feststehenden idealen Ethos aufgrund von Nachahmung eines fremden Ethos, einem Sich-mitreißen-lassen von Trieben oder aber auch aufgrund einer Tyrannei einzelner allgemeiner Werte entfernen. Vgl. Hartmann (1962), 511 f. 47 Hartmann spricht aufgrund der Autonomie gegenüber Kausalnexus und Wertreich auch von einem „Zwang zur Freiheit“. Hartmann (1955a), 284. Diese Formulierung, welche an Sartres Gedanken eines zur Freiheit verurteilt Seins erinnert, sowie der von Hartmann zugunsten der menschlichen Willensfreiheit postulierte Atheismus rücken Hartmanns Ethik in eine gewisse Nähe zum Existenzialismus. Vgl. Morgenstern (1997), 140 f. und Bíró (2011), 208 f. Allerdings sind die Grenzen dieser Nähe hier unbedingt hervorzuheben, denn Hartmanns ideales, an sich seiendes Wertreich steht in einem diametralen Gegensatz zu den immer nur vom menschlichen Für-sich entworfenen Werten bei Sartre. 48 Hartmann (1962), 787.

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Freiheit der einzelnen Person positiv und nicht nur negativ als Freiheit von der Determination durch Naturkausalität einerseits und durch das Wertreich andererseits zu bestimmen. Die positive Frage „nach dem Prinzip der Selbstbestimmung als solchem“, so Hartmann, „ist unlösbar“.49 Die Kantische Aporie der Freiheit bleibt letztlich erhalten.

V. Kritik und Ausblick In dem nun folgenden letzten Abschnitt möchte ich eine Kritik und einen Ausblick auf weiterführende Perspektiven entwickeln. Trotz aller Differenzen, so lässt sich sagen, gibt es einen gemeinsamen Kern der Bestimmung der Person in den ethischen Personalismen von Scheler und Hartmann: Beide gehen davon aus, dass jede Person eine individuelle Bestimmung in sich trägt, während die Aufgabe darin liegt, diese Bestimmung im Ausgang von der realen Existenz zu finden und zu erfüllen. Scheler ist zwar etwas vorsichtiger als Hartmann, wenn er diese Bestimmung als Korrelat eines möglichen Wertgefühls und nicht wie Hartmann als einen in einem idealen Wertreich angesiedelten Persönlichkeitswert bestimmt. Beide jedoch gehen davon aus, dass es eine Bestimmung für den Einzelnen gibt, die dieser nicht erzeugt, sondern einfach vorfindet und erfüllt oder aber verfehlt. Mit dieser Voraussetzung und dem Rahmen, in den sie eingebettet ist, überschreiten aber beide Philosophen auf unterschiedliche Weisen den Bereich des Ausweisbaren. Obgleich Schelers Ansatz phänomenologisch ist und eine Ethik nach dem Vorbild von Husserls Logischen Untersuchungen zu erarbeiten versucht, entwickelt er letztlich einen phänomenologischen Idealismus, der ins spekulativ Metaphysische umschlägt, wenn er a priori bestehende Wesensgesetze der materialen Wertwelt und deren Einheit in Gott behauptet. Hartmann wiederum verzichtet weitestgehend auf methodische Überlegungen und vertritt geradeheraus einen ontologischen Realismus sowie einen werttheoretischen Idealismus, die die Welt als den realen Boden aller Personen bereits voraussetzen und ein an sich und unabhängig vom Menschen bestehendes ideales Wertreich mit seinen ewigen Rangordnungen behaupten. Weil Hartmann jedoch von seinem Schichtenmodell davon abgehalten wird, die Analyse der Einzelperson auf den Gottesbegriff oder auch nur auf Gesamtpersonen hin zu überschreiten, sind seine Untersuchungen in phänomenologischer Sicht zum 49 Hartmann (1962), 793.

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Teil anschlussfähiger als die von Scheler. Nichtsdestotrotz bleibt jedoch der Rahmen seiner Ethik einem werttheoretischen metaphysischen Idealismus verhaftet. Diese unausgewiesene metaphysische Überschreitung lässt die Ansätze von Scheler und Hartmann letztlich hinter Kants Ethik zurückfallen. Trotzdem formulieren beide eine treffende Kritik an Kant, wenn sie fordern, dass die Person in ihrer Individualität gedacht werden müsse und nicht auf eine Exemplifizierung eines universalen Vernunftgesetzes reduziert werden dürfe. Der Schritt von einer treffenden Kritik an Kant zu einem überzeugenden neuen Personbegriff gelingt jedoch beiden Wertethikern nicht, weil ihre Versuche in eine personalistische Metaphysik und einen werttheoretischen Idealismus münden. In welcher Weise können angesichts dieser Kritik aber dennoch der Scheler’sche und der Hartmann’sche Personalismus für die Ethik fruchtbar gemacht werden? Mir scheint, dass eine phänomenologische Analyse des Ethischen insbesondere auf zwei Elemente der beiden Ansätze zurückgreifen kann: Schelers Analyse des sittlichen Lebens und Hartmanns Freiheitsbegriff. In seiner Analyse des sittlichen Lebens legt Scheler dar, dass dem sittlichen Leben Eingrenzungserfahrungen wesentlich sind, die es leiten, ohne dass uns ein Gesolltes klar und deutlich vor Augen steht. Die sittliche Persönlichkeit gewinnt damit die Gestalt eines einheitlichen Werdens, das sich in seinem Streben auf ein nur durch Einkreisung fragmentarisch zugängliches Ziel richtet. Dieses Ziel ist bei Scheler die Realisierung der individuellen Bestimmung. Diese scheint jedoch tatsächlich allenfalls im Sinne eines Postulates verständlich zu sein. Das Postulat definiert Kant als „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“50. Ändert man diese Definition dahingehend, dass die individuelle Bestimmung ein theoretischer, als solcher aber nicht erweislicher Satz ist, der nicht einem unbedingt geltenden praktischen Gesetz, sondern vielmehr der ethischen Gestalt des unhintergehbaren Strebens des Menschen anhängt, so böte dies die Möglichkeit, die individuelle Bestimmung nicht als etwas theoretisch Erwiesenes, wohl aber als einen individuellen praktischen Horizont personalen Strebens zu verstehen. Es gibt bei Scheler einige Anhaltspunkte für eine derartige Interpretation, wenn er schreibt, dass das Woraufhin des Liebens in einem „grenzenlosen, aber ,leeren‘ Feld[]“51 50 Kant (1968c), 122. 51 Scheler (1957), 361. Vgl. dazu Gabel (2000), 57.

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bestehe, eine Leere, die immer wieder gegen die Gefahr der ,Vergaffung‘ bewusst gemacht werden müsse. Der zweite fruchtbare Aspekt des ethischen Personalismus liegt meines Erachtens in Hartmanns Versuch, einen Begriff individueller Freiheit zu entwickeln, die sowohl von der Naturkausalität als auch von dem ethisch Guten unterschieden ist. Diese individuelle reale Freiheit ist nicht nur ein Fortschritt gegenüber Kants, mit einer Zwei-Welten-Lehre verbundenen Konzeption einer intelligiblen Freiheit, sondern sie ist auch ein Fortschritt gegenüber der von Kant vorgenommenen direkten Verknüpfung von Freiheit und Sittengesetz. Hartmann ist mit der Definition der individuellen Freiheit als realer, höherer, teleologisch geprägter Schicht über dem Reich der Naturkausalität, die zugleich autonom gegenüber dem Wertreich ist, eine Differenzierung des Kantischen Freiheitsbegriffes gelungen, an die angeknüpft werden könnte. Allerdings stößt auch Hartmanns Begriff einer individuellen realen Freiheit der Person an eine Grenze, denn das „Restproblem“ einer positiven Bestimmung derselben kann laut Hartmann nicht gelöst werden. Will man die materialen Wertethiken von Scheler und Hartmann sowie den in ihnen enthaltenen Personbegriff weiterentwickeln, ohne auf die metaphysischen Grundannahmen der beiden Autoren zurückzugreifen, so könnte man versuchen, Schelers Analyse des sittlichen Lebens sowie Hartmanns Freiheitsbegriff im Rahmen einer Ethik des Begehrens aufzugreifen, wie sie beispielsweise von Sartre, Lacan und Levinas entwickelt wurde.52 Auf verschiedene Weisen entwickeln diese Autoren das aus der Wertethik bekannte Wertgefühl zu einem Begriff des Begehrens weiter, das sich nicht an a priori objektiv geltenden und prinzipiell erfüllbaren Werten, sondern an etwas nicht ein für alle Mal Feststehendem orientiert, und welches zudem eine prinzipielle Differenz zwischen das Begehren und sein Ziel einführt. Das Postulat eines individuellen praktischen Horizonts personalen Strebens, von dem wir vorhin sprachen, gewinnt bei Sartre die Gestalt eines durch eine freie Urwahl gesetzten Wertes beziehungsweise später der Freiheit selbst; bei Lacan findet es sich wieder im Begriff des Dinges, das als ein ungreifbares Nichts das Begehren strukturiert; und bei Levinas konkretisiert es sich im unendlichen, mir gegenüber einen Anspruch erhebenden Anderen, welcher das Begehren zu einem unerschöpflichen macht. Den genannten Autoren ist trotz der immensen Verschiedenheit ihrer Ansätze gemeinsam, dass sie die Ethik an 52 Vgl. insbesondere Sartre (1943); Sartre (1983); Lacan (1986); Levinas (1971); Levinas (1978).

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die Dynamik des Begehrens der einzelnen Person zurückbinden, ohne eine ideale und feststehende individuelle Bestimmung derselben zu behaupten. Die Beantwortung der Frage jedoch, wie ihre Ansätze zueinander stehen und für welchen Ansatz die stärksten Argumente sprechen, muss einer zukünftigen Untersuchung vorbehalten bleiben.

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Nicolai Hartmanns Metaphysik der Freiheit László Tengelyi Seit Kant gilt die Freiheit des Willens als ein metaphysischer Gegenstand, zu dem kein empirischer Zugangsweg hinführt. Nicolai Hartmann widmet diesem Gegenstand den dritten und letzten Teil seiner Ethik, dem er den Titel „Metaphysik der Sitten“ gibt.1 Der tief angelegte Gedankengang, der in diesem Teil des Werkes entwickelt wird,2 stützt sich auf subtile Analysen, in denen ein überwältigend reiches Gedankenmaterial minutiös disponiert und souverän diskutiert wird.3 Hartmann ringt sich in diesen Analysen zu einem Freiheitsverständnis durch, das sich aus grundlegenden Einsichten nährt und deshalb auch heute noch seine volle Bedeutung behält. Aber der Leser von Hartmanns „Metaphysik der Sitten“ stößt auf manche Hindernisse, die ihm die richtige Einschätzung der Freiheitsanalyse leicht verwehren. Es handelt sich um Hindernisse, die aus Hartmanns Wertethik, seiner Schichtenontologie und der von ihm methodisch verwendeten Aporetik stammen. Im Folgenden wollen wir zunächst diese Hindernisse näher ins Auge fassen. Damit soll der Weg zu den grundlegenden Einsichten, die in Hartmanns Freiheitsanalyse enthalten sind, freigemacht werden. Im zweiten Kapitel des vorliegenden Aufsatzes werden dann diese Einsichten erörtert. Der Gedankengang wird in einem dritten Kapitel mit Bemerkungen über das metaphysische Substrat von Hartmanns Kategorialanalyse der Freiheit abgeschlossen.

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Dieser Ausdruck wird bei Kant entlehnt, aber es ist mit ihm wohl weniger das gleichnamige Werk aus dem Jahre 1797 gemeint als vielmehr eine besondere Untersuchungsart, die in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1785 von den werttheoretischen Überlegungen im zweiten Abschnitt zur Lehre von der Freiheit im dritten Abschnitt hinüberführt. Hartmann (1935), 565 – 746. Der DDR-Philosoph Wolfgang Harich, der übrigens nach einem Schauprozess acht Jahre lang in einem Gefängnis von Walter Ulbricht gesessen hat, sagt treffend von seinem akademischen Lehrer, Nicolai Hartmann: „Seine Fähigkeit, ein überwältigend reiches Gedankenmaterial minutiös zu disponieren, hat nicht ihresgleichen.“ (Harich (2004), 6.)

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I. Hindernisse der richtigen Einschätzung von Hartmanns Freiheitsanalyse Hartmanns Grundüberzeugung vom idealen Ansichsein ewiger Werte ist ein erstes Hindernis auf dem Weg zum angemessenen Verständnis seiner Freiheitsauffassung. Dieser Auffassung zufolge ist zwar, ähnlich wie bei Kant, eine Sollensnötigung für die Freiheit des Willens geradezu unerlässlich. Ob jedoch diese Sollensnötigung von einem formalen Gesetz herrührt, wie bei Kant selbst, oder von materialen Werten, wie bei Scheler, bleibt für das Freiheitsverständnis ohne Belang. Im Übrigen ist Hartmanns „Metaphysik der Sitten“ ein einziger Beleg dafür, wie in seiner Ethik, anders als in Schelers Formalismusbuch,4 der Personalismus der axiologischen Grundüberzeugung letztlich ins Gehege kommt. Aus ihr wird deutlich, dass es in der Ethik nicht auf die Werte ankommt, sondern auf den Umgang der persönlichen Freiheit mit den Forderungen und Ansprüchen, die Hartmann im Anschluss an Scheler auf die Werte zurückzuführen sucht: Die Sittlichkeit des Menschen liegt nicht in den Werten als solchen […]. Werte überhaupt […] sind nur Bedingungen des sittlichen Seins und Nichtseins; sie sind nur das, in Bezug worauf menschliches Verhalten gut oder böse ist, also nur die Maßstäbe, unter die es fällt. Ob es aber den Maßstäben gemäß oder nicht gemäß ist, bleibt Sache einer anderen Instanz. Und diese Instanz ist das eigentlich Metaphysische im menschlichen Ethos, seine rätselhafte, nur den Werten gegenüber in Betracht kommende Seinsweise, die Autonomie der realen Person, die persönliche Freiheit.5

Die „Freiheit der Person“ tritt nach Hartmann „dem bloßen Anspruch, der reinen Forderung als solcher“ gegenüber.6 Daher ist Hartmanns „Metaphysik der Sitten“ mit ihrem Hauptgegenstand „persönliche Freiheit“ relativ unabhängig von seiner Option für eine materiale Wertethik Scheler’scher Provenienz.7 Das zweite Hindernis, das ein angemessenes Verständnis von Hartmanns Freiheitsanalyse erschwert, ist überraschenderweise seine Schichtenontologie, die heute ansonsten gerade im Mittelpunkt eines wiederbelebten Interesses steht. In unserer Zeit, die stark von naturalistischen Tendenzen geprägt ist, fesselt diese Schichtenontologie vor allem 4 5 6 7

Scheler (1966). Scheler (1966), 688. Hartmann (1935), 703. Bereits Husserl trat für eine materiale Wertethik ein. Siehe Husserl (1988).

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deshalb die Aufmerksamkeit mancher Gegner des Naturalismus, weil sie jedwedem Reduktionismus schroff gegenübersteht, ohne sich irgendeinem teleologischen Entwicklungsprinzip zu verschreiben. In dem frühen Stadium, zu dem auch die Ethik gehört, gründet sie sich auf drei „kategoriale Gesetze“.8 Das „Gesetz der Stärke“9 macht deutlich, dass die höheren Seinsschichten von den niederen abhängig bleiben. Auf der anderen Seite hebt das „Gesetz der Freiheit“10 ausdrücklich hervor, dass die höheren Seinsschichten jeweils durch ein „kategoriales Novum“11 charakterisiert sind. Schließlich erklärt das „Gesetz der Materie“12, wie ein kategoriales Novum entsteht: Die kategoriale Struktur der niederen Schichten verhält sich zu den höheren Schichten als bloße „Materie“, indem sie sich durch neue Formung „überformen“ oder auch „überdeterminieren“ lässt.13 Ohne Zweifel kann auf diesen – oder ähnlichen14 – kategorialen Gesetzen ein hinreichend differenziertes Schichtenmodell aufgebaut werden. In seiner Anwendung auf das Freiheitsproblem erweist es sich jedoch deshalb als ein fragwürdiges Denkmittel, weil es von vornherein voraussetzt, dass die Person zu einer höheren Seinsschicht gehört als die sie bedingenden Wirkungsmächte und Umstände. Es leidet damit an einem Mangel, von dem auch andere Stufenmodelle – wie etwa das von Scheler in seinem späteren Entwurf zur philosophischen Anthropologie15 – betroffen sind. Aus dieser Sicht heraus kommt der Kritik, die Martin Heidegger in seinen Vorlesungen zwischen 1928 und 1930 an Hartmanns und Schelers Ansätzen zu einem Stufen- oder Schichtenbau der Wirklichkeit übte, auch heute noch eine Aktualität zu.16 Die in der Marburger Vorlesung Metaphysische Anfangsgrnde der Logik im Ausgang von Leibniz entwickelte Idee einer „Metontologie“ gründet sich auf den Gedanken, dass der Aufbau der realen Welt erst im Ausgang von einem Weltentwurf fassbar wird, der den Überstieg über die Natur zur Welt hin, 8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Hartmann (1925). Zum Folgenden siehe die Gesetze XIII–XVI auf 248 f. Hartmann (1935), 607. Hartmann (1935), 607. Hartmann (1935), 607. Hartmann (1935), 607. Hartmann (1935), 620. Im Vorwort zu seinem späteren Werk Der Aufbau der realen Welt unterwirft Hartmann seine frühere Auffassung vom Gesetz der Materie einer grundsätzlichen Kritik (Hartmann (1940), V f.). Die neuen Gesetze der Schichtung, zu denen er in diesem Werk gelangt, sind in den Abschnitten III und IV des dritten Teils (Hartmann (1940), 472 – 575) zusammengefasst. 15 Scheler (1976), 7 – 71. 16 Heidegger (1992), 283, 403 f.

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also die „Transzendenz des Daseins“ und damit die Freiheit immer schon voraussetzt.17 Hat Heidegger recht, so stellt sich die Anwendung der Schichtenontologie auf das Freiheitsproblem als eine petitio principii heraus. Ob dies jedoch tatsächlich der Fall ist, sei hier dahingestellt. Auf jeden Fall erweist sich die Einbeziehung der mit eigenen Schwierigkeiten belasteten Schichtenontologie in die „Metaphysik der Sitten“ als ein Hindernis der richtigen Einschätzung von Hartmanns Freiheitsanalyse. Genau so steht es mit der von Hartmann methodisch verwendeten Aporetik, obgleich es sich dabei um eine auf Platon und Aristoteles zurückgehende Vorgehensweise handelt, deren erneuernde Weiterführung zur stärksten Seite der Hartmann’schen Philosophie gerechnet werden muss.18 Aber in der Freiheitsanalyse generiert dieses Verfahren Widersprüche, die, selbst wenn sie sich zuletzt als bloß scheinbar abtun lassen, das Verständnis des Gedankengangs erheblich erschweren. Gemeint sind damit nicht die drei Antinomien und sechs Aporien, die Hartmann in seiner Freiheitsanalyse ausführlich erörtert.19 Das sind Schwierigkeiten, die nicht nur eigens dargestellt, sondern auch auf befriedigende Weise aufgelöst werden.20 Aber aus diesen methodisch behandelten Schwierigkeiten erwachsen zumindest drei weitere – wenngleich nur scheinbare – Widersprüche, die als solche nicht intendiert sind und die selbst nach ihrer Auflösung irritierend bleiben: 1) Erstens bekennt sich Hartmann zunächst ganz zum Kant’schen Gedanken einer „Freiheit im positiven Verstande“,21 indem er die Idee einer negativen Wahlfreiheit sogar einer beinahe vernichtenden Kritik unterwirft,22 um schließlich doch auch eine gewisse „Freiheit im negativen Verstande“ zuzulassen.23 2) Zweitens weist er, wiederum nur mit Kant, auf die Untrennbarkeit der positiven Freiheit von Sollensprinzipien hin,24 um dann doch gegen Kant die Unabhängigkeit der persönlichen Freiheit von allem Sollen zu betonen.25 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Heidegger (1990), 212. Martin (1952), 249 – 255. Hartmann (1935), 642 – 647. Hartmann (1935), 696 – 715. Hartmann (1935), 596. Hartmann (1935), 587 – 589. Hartmann (1935), 708 – 711. Hartmann (1935), 624. Hartmann (1935), 626.

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3) Drittens preist er Kants kritische Philosophie deshalb hoch, weil sie die in früheren Zeiten religiös besetzte und mit irrationalen Schwierigkeiten behaftete Idee der Freiheit in die engen Grenzen einer rationalen Problemstellung einwies,26 aber am Ende entdeckt er in der persönlichen Freiheit doch selbst einen „irrationalen Restbestand“.27 Diese scheinbaren Widersprüche verschränken und verflechten sich vielfach mit den methodisch behandelten Antinomien und Aporien, und auch nach ihrer Behebung hinterlassen sie das Gefühl ungeheurer Spannungen. Um diese dreifachen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, gehen wir im Folgenden mit Hartmanns Freiheitsanalyse ähnlich um, wie er selbst mit Kants Freiheitstheorie umgeht, indem er sie von ihrer „standpunktlichen Einkleidung“ zu befreien und ihr einen positiven Gedankenkern zu entnehmen sucht.28 Im heutigen Stand der Forschung über Hartmann gilt es, erst überhaupt zu beweisen, dass im letzten Teil der Ethik trotz scheinbarer Widersprüche und bleibender Spannungen ein folgerichtig ausgearbeiteter, kohärenter Freiheitsbegriff zu finden ist. Das ist die Aufgabe, zu der wir nun weiterschreiten wollen. Auf die drei Widersprüche, die in dem Gedankengang scheinbar auftreten, kommen wir dann in unseren abschließenden Bemerkungen über Hartmanns Metaphysik der Freiheit zurück.

II. Grundlegende Einsichten in Hartmanns Freiheitsanalyse Hartmanns Freiheitsanalyse ist von vier grundlegenden Einsichten getragen. Es ist lohnenswert, sie zunächst aufzuzählen, um sie dann je einzeln zu betrachten: Die erste ist die Einsicht in die „Ablenkbarkeit der Kausalreihe“29, die zweite die in die „Heterogeneität“30 der „Determinationstypen“31, die dritte die in den „Indeterminismus“32 der „Sol26 27 28 29 30 31

Hartmann (1935), 577. Hartmann (1935), 648 f. Hartmann (1935), 592 f. Hartmann (1935), 601. Hartmann (1935), 595 und öfters. Hartmann (1935), 613: „Schichtungsverhältnis der Determinationstypen“; „heterogene Gesetzlichkeiten“. Vgl. Hartmann (1935), 607: „beliebig heterogene Determinanten“. Vgl. auch 598: „das Vorhandensein der heterogenen Determinanten“ und 600: „einander überlagernde Typen der Determination“.

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lenstendenzen“33 und die vierte die in die Grundtatsache des „Sollenskonfliktes“34 (Hartmann sagt auch „Wertkonflikt“35). Diese vier Einsichten machen nur zusammen begreiflich, wie eine persönliche Freiheit von Initiative, Wahl und Entscheidung möglich ist. Allerdings wird dabei nicht alles voll verständlich; es bleibt ja nach Hartmann bei einem metaphysischen Gegenstand wie die Freiheit notwendig ein „irrationaler Restbestand“ zurück.

1. Die Ablenkbarkeit der Kausalreihe Ähnlich wie Leibniz und Hegel fasst Hartmann die Gesamtursache eines Vorgangs in der Welt als die Totalität der Bedingungen auf, unter denen dieser Vorgang stattfindet. Er versucht, die „kategoriale Struktur“ des so verstandenen „Kausalnexus“ herauszustellen.36 Zu dieser Analyse gehört an allererster Stelle die Feststellung, dass die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung aus Bedingungen erwächst, die auch ohneeinander in der realen Welt auftreten können und folglich miteinander nicht notwendig zusammengehören. Die Bedeutung dieser Beobachtung wird aus einem Vergleich mit der kategorialen Struktur der Handlungsteleologie, des „Finalnexus“ deutlich. Der Finalnexus ist nach Hartmann durch eine dreifache „Bindung zwischen Anfangs- und Endstadium“ charakterisiert: „[…] erstens ist mit Überspringung des Zeitlaufs der Zweck im voraus bestimmt (vorgesetzt), zweitens ist rcklufig gegen den Zeitfluß die Reihe der Mittel bestimmt, und drittens wird vom ersten Mittel aus rechtlufig durch dieselbe Reihe der Zweck verwirklicht.“37 Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Reihe der Mittel in dem an dritter Stelle erwähnten Verwirklichungsprozess als eine echte Kausalreihe fungiert. Der Finalnexus stützt sich auf den Kausalnexus. Aber sie verändert ihn zugleich. Denn in den Dienst eines Zweckes gestellt gehören die Bedingungen, aus denen die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung erwächst, nunmehr notwendig miteinander zusammen. 32 33 34 35 36 37

Hartmann (1935), 701. Hartmann (1935), 700. Hartmann (1935), 684. Hartmann (1935), 683. Hartmann (1935), 598. Hartmann (1935), 602.

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Hartmann fasst diese Verwandlung des Kausalzusammenhangs durch den Finalnexus als „Überformung“ oder „Überdeterminierung“ auf. Auf diese Weise versucht er, Hegels Beobachtungen über die Teleologie Rechnung zu tragen, ohne Hegels teleologische Weltansicht zu übernehmen. In der Wissenschaft der Logik heißt es: „Dass der Zweck sich […] in die mittelbare Beziehung mit dem Objekt setzt und zwischen sich und dasselbe ein anderes Objekt einschiebt, kann als die List der Vernunft angesehen werden.“38 Hegel setzt hinzu, dass die Vernunft die Bedingungen, die zur Verwirklichung ihres Zweckes notwendig sind, in einem Begriff zusammenhält oder, wie es im Text der Wissenschaft der Logik heißt, „als identisch mit dem einfachen Begriffe“ setzt.39 Dieser „einfache Begriff“ verleiht den ansonsten einander äußerlichen Bedingungen eine notwendige Zusammengehörigkeit. Die Kehrseite der Medaille ist es dabei, dass außerhalb des begrifflich durchgeprägten Zusammenhangs der Vernunftteleologie die der Kausalität eigentümliche „reale Notwendigkeit“ laut Hegel „an sich auch Zuflligkeit“ bedeutet.40 Unschwer entdeckt man in Hartmanns Freiheitsanalyse einen Anklang an diesen Gedanken. Im letzten Teil der Ethik heißt es: „Vom Finalnexus aus gesehen ist im Kausalzusammenhang alles ,zufällig‘.“41 Genauer genommen kann dabei, wie Hartmann präzisierend hinzufügt, allerdings nur von einer „teleologischen Zuflligkeit des kausal Notwendigen“42 die Rede sein; denn die „bloß kausale Notwendigkeit ist finale Zuflligkeit“.43 Gerade die finale Zufälligkeit kausaler Notwendigkeit macht nach Hartmann die Überformung oder Überdeterminierung des Kausalzusammenhangs durch den Finalnexus überhaupt möglich. Anders als dem Mittel ist es einer kausalen Bedingung gleichgültig, mit welchen anderen Bedingungen sie sich in einer konkreten Situation verbindet und welches Ergebnis aus ihrem Beisammensein mit diesen Bedingungen hervorgeht. Die Kausalreihe ist, wie Hartmann sagt, „an kein bestimmtes Endstadium 38 Hegel (1969), 452. Aus Hartmanns Hegel-Buch, das als zweiter Band seines Werkes Die Philosophie des Deutschen Idealismus zum ersten Mal im Jahre 1929 erschienen ist, geht der Zusammenhang zwischen Hegels Auffassung von der Teleologie und Hartmanns kategorialanalytisch fundiertem Freiheitsbegriff deutlich hervor. Siehe Hartmann (1960), 474. 39 Hartmann (1960), 455. 40 Hartmann (1960), 212. 41 Hartmann (1960), 609. 42 Hartmann (1960). 43 Hartmann (1960).

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gebunden“.44 Es war bereits davon die Rede, dass der Kausalnexus jeweils eine ganze Totalität von Bedingungen erfordert. Hartmann setzt jedoch mit vollem Recht hinzu: „Aber diese Totalität ist niemals eine absolut geschlossene, sie widersetzt sich nicht dem Hinzukommen neuer Bestimmungsstücke – wenn es solche gibt –; und der Prozeß wird durch solches Hinzukommen nicht unterbrochen, sondern nur abgelenkt.“45 Diese Ablenkbarkeit ist nach Hartmann für den Kausalnexus als solchen geradezu bezeichnend. Sie ermöglicht die Überformung oder Überdeterminierung des Kausalzusammenhangs durch den Finalnexus.

2. Heterogeneität der Determinationstypen Für die Möglichkeit der Freiheit ist die Ablenkbarkeit der Kausalreihe zwar eine notwendige, aber in sich selbst noch nicht hinreichende Bedingung. Eine Freiheit kann es nur dann geben, wenn in der realen Welt außer der Kausalität auch noch eine anders geartete Determinationsweise vorhanden ist: „Freiheit ist nur möglich, wo wenigstens zwei Typen der Determination in einer Welt einander überlagern […].“46 Die Forderung „einander überlagernde[r] Typen der Determination“47 folgt aus der Kant’schen Einsicht, dass Freiheit keineswegs Unbestimmtheit und Gesetzlosigkeit bedeuten kann.48 Das ist zumindest der Schluss, den Hartmann aus der Kant’schen Freiheitsantinomie zieht. Demnach setzt die Freiheit nicht allein die Ablenkbarkeit der Kausalreihe voraus, sondern darüber hinaus auch noch „das Vorhandensein der heterogenen Determinanten“.49 Auf den ersten Blick hat man leicht den Eindruck, Hartmann finde damit zu Aristoteles zurück, der ja immer schon von der Heterogeneität kausaler Ketten ausgegangen ist und dabei die Idee einer kausalen Vorherbestimmtheit der Zukunft von der Hand wies. Dieser Eindruck ist jedoch täuschend. In Wahrheit schlägt sich Hartmann auf die Seite des megarischen Dialektikers Diodoros Kronos, der den Möglichkeitsbegriff des Aristoteles in Frage stellte und ihm eine durchgehend deterministische 44 45 46 47 48 49

Hartmann (1935), 601. Hartmann (1935), 591. Hartmann (1935), 597. Hartmann (1935), 600. Hartmann (1935), 577. Hartmann (1935), 598.

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Ansicht der Welt entgegensetzte. Nach dem Zeugnis von Ciceros De fato 50 erwächst die antike Diskussion über Schicksal und Freiheit im Zeitalter des Hellenismus gerade aus der Auseinandersetzung von Diodoros Kronos mit Aristoteles.51 Das ist in unserem Zusammenhang deshalb von Bedeutung, weil Hartmann den megarischen Möglichkeitsbegriff weiterführt. Seine ausdrückliche Stellungnahme zur Auseinandersetzung von Diodoros Kronos mit Aristoteles52 stammt zwar aus der Abfassungszeit des Buches Mçglichkeit und Wirklichkeit,53 aber in der Ethik versteht er die Möglichkeit eigentlich schon genau so wie später. Aus dem megarischen Grundsatz, dass nichts möglich sein kann, ohne wirklich zu sein oder künftig wirklich zu werden, zieht er in der Ethik bereits eine radikale Konsequenz, indem er behauptet: „[…] alles, was ontologisch möglich wird, wird eben damit auch ontologisch notwendig. Sofern also nur das Mögliche wirklich sein kann, muss auch alles Wirkliche zugleich ontologisch notwendig sein.“54 Diese Auffassung von den ontologischen Modalitäten der realen Welt verpflichtet Hartmann zur Annahme eines lückenlosen Determinationszusammenhangs kausaler Vorgänge. Dadurch verbaut er sich aber bereits in der Ethik den Rückweg zu Aristoteles, dem das Kausalitätsprinzip – alles, was in der Welt geschieht, hat eine Ursache – zwar durchaus geläufig ist, der aber keine allumfassende, die verschiedenen Ursachenarten gleichschaltende und vereinheitlichende Kausalkette kennt. Unter diesen Umständen scheint nur noch ein kantischer Weg offen zu bleiben, der dazu führt, die Heterogeneität der Determinationstypen, wenn auch nicht notwendig im Sinne einer metaphysischen Zweiweltentheorie, so doch im Sinne einer Schichtenontologie der einzig realen Welt zu nehmen. So ist es wohl zu verstehen, wenn Hartmann sich die Frage stellt: „Was bleibt als Wesensstück der Kantischen Freiheitslehre übrig, wenn man die metaphysische Aufmachung fallen läßt?“ und diese Frage auf folgende Weise beantwortet: „Nur zwei Momente: die kategoriale Fassung des Kausalnexus und die Zweischichtigkeit der Welt.“55 Um jedoch die Möglichkeit der Freiheit deutlich zu machen, genügt bei näherem Zusehen auch Geringeres als eine Schichtenontologie der 50 51 52 53 54 55

Cicero (1959). Vuillemin (2004); partielle englische Übersetzung: Vuillemin (1996). Hartmann (1937). Hartmann (1938). Hartmann (1935), 599. Hartmann (1935), 593.

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realen Welt. Nicht die kausale Determination selbst, sondern nur der „Monismus“ kausaler Determination macht die Freiheit unmöglich;56 die Freiheit ist folglich bereits gerettet, wenn die „totale Determination“ des Willens „eine doppelte, komplexe, in sich qualitativ heterogene: nämlich eine Synthese kausaler und unkausaler Determinanten“ ist.57 Eine derartige Synthese ist uns aber aus der Handlungsteleologie auch ohne jede Schichtenontologie sehr wohl bekannt. Im Finalnexus tritt der Zweck zu den kausalen Determinanten als eine neue Determinante hinzu, indem er „ein Plus an Determination“58 – oder auch eine „Überdeterminiertheit“59 – mit sich bringt. Nur dass ein bloßer Hinweis auf die Handlungsteleologie noch nicht erklärt, inwiefern der Zweck eine neue, den kausalen Determinanten gegenüber heterogene Determinante ist.60 An diesem Punkt erhält Kants Auflösung der Freiheitsantinomie mit ihrer Berufung auf Sollensforderungen eine eigene Bedeutung für Hartmann. Denn erst Sollensansprüche scheinen eine eigenständige, von der Kausalität wohlunterscheidbare Determinationsweise des Willens anzudeuten. Es geht dabei bereits aus Kants Lehre von den technischen und pragmatischen Imperativen hervor, dass die Teleologie des Menschen nicht erst im moralischen Handeln durch Sollensansprüche geleitet wird. Handlungsregeln haben selbst dann den Charakter von Sollensforderungen, wenn sie sich darauf beschränken, bei vorgegebenem Zweck die Auswahl der geeigneten Mittel zu bestimmen. Bereits diese Sollensansprüche sind demnach den kausalen Determinanten gegenüber heterogene Faktoren der Willensbestimmung. Mit den eigentümlich ethischen Sollensforderungen, die selbst noch die Zwecksetzungen regeln, verhält es sich noch deutlicher. Sie deuten zweifelsfrei auf einen Determinationstyp hin, der sich von der kausalen Determination unterscheidet.

56 57 58 59 60

Hartmann (1935), 597. Hartmann (1935), 591. Hartmann (1935). Hartmann (1935), 600. Man denke nur an Spinoza, dem zufolge „alle Zweckursachen nichts als menschliche Einbildungen sind“. (Spinoza (1977), 99.)

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3. Indeterminismus der Sollenstendenzen Bei Kant entsteht allerdings der Eindruck, als könnte eine Sollensforderung den Willen eines vernünftigen Wesens wie ein unwiderstehliches Gesetz bestimmen und übe auf den menschlichen Willen nur deshalb eine bloße Nötigung aus, weil der Mensch kein rein vernünftiges Wesen ist, sondern auch ein Wesen mit sinnlichen Bedürfnissen, Begierden und Neigungen, das ebendeshalb halbwegs der Natur verhaftet bleibt.61 Demgegenüber hält Hartmann daran fest, dass Sollensansprüche den Willen niemals vollständig bestimmen, sondern auf ihn immer nur eine Nötigung ausüben können und deshalb immer nur Tendenzen bleiben. Dieser Gegensatz hängt damit zusammen, dass Hartmann im Anschluss an Scheler einen Personalismus entwickelt, den er Kants Idee einer allgemeinen praktischen Vernunft gegenüberstellt. Die „transzendentale“ Freiheit der Vernunft – meint er – sei alles andere als „eine Freiheit der Person als Einzelwesen“.62 Das Problem einer persönlichen Freiheit lässt sich nach Hartmann keineswegs verdrängen. Denn die Sollenstendenzen bestimmen von sich aus niemals vollständig den Willen. Von ihnen allein „geht überhaupt kein Determinismus aus“; vielmehr besteht unter ihnen „ein deutlicher Indeterminismus“.63 Folglich sind sie für sich allein noch nicht die gesuchten Determinanten, die eine neue Formung in den Kausalnexus einführen, sondern eben nur Faktoren, die in der „Selbstbestimmung“ des Willens64 eine Rolle spielen. Aber die „Initiative“ überlassen sie dabei gänzlich der Person.65 Sie setzen „die Urheberschaft der Person“66 voraus. Nicht als vernünftiges Wesen überhaupt, sondern als „Person“ ist der Mensch ebendeshalb „Träger einer anderen Determination“.67 Anders als Kant stellt Hartmann daher das Problem der persönlichen Freiheit in den Mittelpunkt seiner „Metaphysik der Sitten“. Er geht dabei von der These aus, dass die persönliche Freiheit den Sollensansprüchen gegenüber den Charakter einer „Freiheit des Für und Wider“ hat.68 Damit trennt er seine Freiheitsauffassung endgültig von der Kants. Zu61 62 63 64 65 66 67 68

Vgl. Kant (1911), 412 f. (vgl. Kant (1983a), 41). Hartmann (1935), 625. Hartmann (1935), 701; vgl. 711: „Indeterminismus der Werte“. Hartmann (1935), 708. Hartmann (1935), 695; vgl. 690. Hartmann (1935), 674. Hartmann (1935), 610. Hartmann (1935), 626; vgl. 708 – 713.

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gleich versucht er aber, der Grundidee von Kants Auflösung der Freiheitsantinomie in seiner eigenen Ansicht einen Platz einzuräumen. Diese Bestrebung drückt sich in seiner Lehre von einem „Komplementärverhältnis“ zwischen der persönlichen Freiheit und dem Sollensprinzip aus.69 Um diese Gedanken deutlicher werden zu lassen, müssen wir jedoch noch eine weitere Einsicht von Hartmann in unsere Überlegungen einbeziehen. 4. Die Grundtatsache des Sollenskonflikts Nach Kant „ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar“.70 Diese Ansicht hat bekanntlich schon früh den Widerspruch von Hegel gegen sich herausgefordert. Ohne Zögern schlägt sich Hartmann in dieser Debatte auf Hegels Seite. Der axiologischen Grundausrichtung seiner Ethik gemäß sagt er dabei allerdings nicht „Pflichtkollision“, sondern eher „Wertkonflikt“ oder, noch deutlicher, „Konflikt von Wert und Wert“.71 Gemeint ist aber damit bei ihm eigentlich – allgemeiner – überhaupt ein „Sollenskonflikt“,72 woher auch immer die einander widerstreitenden Sollensansprüche stammen. Wenn wir heute dazu neigen, im Anschluss an Levinas einfach von Ansprüchen zu reden und mit Waldenfels dabei einen Anspruchskonflikt im Sinne eines „Widerstreits simultaner Ansprüche“73 herauszustellen, so entfernen wir uns gar nicht weit davon, was Hartmann durch seine Rede vom Konflikt der Werte zur Sprache zu bringen suchte. Umso weniger, als Hartmann nicht allein eine Gegensätzlichkeit von Werten im Auge hatte, sondern mehr noch konkrete Situationen, in denen selbst einander an und für sich nicht widerstreitende Sollensansprüche miteinander in Konflikt geraten können.74 In seiner Theorie der Sollenskonflikte geht Hartmann so weit, den kantischen Gegensatz von „Pflicht und Neigung“ ebenfalls als Sollenskonflikt zu deuten.75 Damit bestreitet er die letztlich aus der stoischen Ethik stammende Ansicht, dass die Bedürfnisse und die Begierden – oder 69 70 71 72 73 74 75

Hartmann (1935), 707. Kant (1983b), 330. Hartmann (1935), 688 f. Hartmann (1935), 684. Waldenfels (1994), 356; vgl. 582. Hartmann (1935), 688: „empirische Wertkonflikte“. Hartmann (1935).

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auch die „Leidenschaften“ – der vernünftigen Freiheit in ihrer unmittelbar vorgefundenen, naturwüchsigen Gegebenheit entgegentreten. Er macht klar, dass im Menschen ein derartiger Widerstreit von vornherein die Gestalt eines Sollenskonflikts annimmt. Daraus zieht er zugleich den Schluss, dass über den Ausgang eines derartigen Konflikts niemals etwa die Stärke der Natur gegenüber der Freiheit, sondern einzig und allein die Freiheit selbst entscheidet. Daraus geht der Grund hervor, der uns dazu bewegen kann, der Person eine „Freiheit des Für und Wider“ zuzuschreiben. Hartmann begreift, dass die Selbstbestimmung des Willens nur einander widerstreitenden Sollensansprüchen gegenüber „den Sinn einer Entscheidung hat“.76 Denn einzig und allein ein Sollenskonflikt bietet dem Willen „die offene Alternative“ an,77 ohne die er zu seiner Selbstbestimmung nicht den nötigen „Spielraum“ haben könnte.78 Daraus wird zugleich ersichtlich, warum – und in welchem Sinne – ein „Komplementärverhältnis“ zwischen der persönlichen Freiheit und dem Sollensprinzip angenommen werden muss. Der Mensch als Person ist nur dadurch „Träger einer anderen Determination“, dass sein Wille ein Vermögen ist, sich selbst zu bestimmen. Ohne einander widerstreitende Sollensansprüche könnte aber die Selbstbestimmung des Willens nicht „den Sinn einer Entscheidung“ haben. Erst mit der Grundtatsache des Sollenskonflikts sind die Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen gegeben, die in einer durchgehend kausal determinierten Welt ansonsten nicht aufkommen könnten. Die Selbstbestimmung des Willens besteht darin, fr einen Sollensanspruch im Gegensatz zu einem oder mehreren anderen einzutreten. Als dieses „Für-und-wider-Können“79 erweist sich die persönliche Freiheit als eine echte „Wahlfreiheit“.80

76 77 78 79 80

Hartmann (1935), 708. Hartmann (1935), 712 f. Hartmann (1935), 713. Hartmann (1935), 709. Hartmann (1935), 710.

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III. Abschließende Bemerkungen über Hartmanns Metaphysik der Freiheit In unserem Überblick über die vier Hartmann’schen Einsichten zeichnet sich eine Freiheitsauffassung ab, der eine hochgradige Folgerichtigkeit eignet. Zwei Grundgedanken liegen dieser Freiheitsauffassung zugrunde: 1) Der erste wird von Hartmann genau formuliert: „Freiheit […] ist durchaus nicht einfach eine Art der Determination, sondern ein spezifisches Verhltnis zwischen mindestens zwei Arten der Determination […].“81 Es ist nicht schwer, in diesem Satz eine weiterentwickelte und verfeinerte Fassung des Kant’schen Kompatibilismus zu erkennen. 2) Der zweite Grundgedanke wird von Hartmann selbst weniger eindeutig ausgesprochen. Es handelt sich dabei um die Überzeugung, dass Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen beim Menschen die Gestalt einander widerstreitender Sollenstendenzen annehmen, die alle einen Anspruch auf Eingang in die Selbstbestimmung des Willens erheben. Erst aus einem derartigen Anspruchskonflikt erwächst ein fester Willensentschluss und damit zugleich ein zweckorientiertes, zielstrebiges, teleologisches Handeln, das den Kausalnexus überformt und überdeterminiert. Warum Hartmann diese durchaus ernstzunehmenden Gedanken in eine Reihe scheinbarer Widersprüche einkleidet, ist nicht leicht zu sagen. Vermutlich liegt der Hauptgrund dieser Vorgehensweise nicht einfach in seiner aporetischen Methode, sondern in seiner Nähe zu Kant, die ihm nur schwer erlaubt, sich von den Vorgaben der Kritik der reinen Vernunft zur Auflösung der Freiheitsantinomie freizumachen. Wohl deshalb betont er zunächst die Bedeutung der von Kant entdeckten „Freiheit im positiven Verstande“,82 und deshalb unterwirft er die negative Freiheit der Wahl einer beinahe vernichtenden Kritik,83 um die negative Wahlfreiheit dann – im Sinne des „Für-und-wider-Könnens“ – am Ende doch in ihre verlorenen Rechte wieder einzusetzen.84 Dass es sich dabei nur um einen scheinbaren Widerspruch handelt, geht daraus hervor, dass mit der negativen Freiheit der Wahl auf der einen Seite 81 82 83 84

Hartmann (1935), 606. Hartmann (1935), 596. Hartmann (1935), 587 – 589. Hartmann (1935), 708 – 715.

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ein cartesianisches liberum arbitrium indifferentiae gemeint ist, das wegen seiner Unbestimmtheit und Unentschiedenheit abgelehnt wird, auf der anderen Seite aber das von Hartmann selbst aufgewiesene Für-und-wider-Können, das offensichtlich kein liberum arbitrium indifferentiae ist, da es in seinem Komplementärverhältnis mit dem Sollensprinzip zu voller Bestimmtheit und Entschiedenheit gelangt. Es liegt wohl wieder nur an seiner Nähe zu Kant, dass Hartmann auch dieses Komplementärverhältnis zwischen der persönlichen Freiheit und dem Sollensprinzip in einen scheinbaren Widerspruch einkleidet, indem er einerseits die restlose Angewiesenheit der Freiheit auf die Sollensansprüche als unkausale Determinanten hervorhebt, andererseits aber die Freiheit als eine „Potenz der Person, der Sollensforderung auch ablehnend entgegenzutreten“,85 auffasst. Bereits Schelling stellte zwar dem Kant’schen Freiheitsbegriff, in dem er nur ein einseitiges Vermögen zum Guten sah, den „reale[n] und lebendige[n] Begriff der Freiheit“, dem zufolge sie „ein Vermögen zum Guten und zum Bösen“ ist, gegenüber.86 Aber der aus der Marburger Schule des Neukantianismus kommende Hartmann empfindet es selbst mehr als hundert Jahre später noch als einen Anschlag auf Kants Ethik, gleichsam als ein Sakrileg, wenn er klarstellt, dass eine Sollensforderung kein Gesetz, sondern ein Gebot ist, und hinzufügt: „Zum Wesen des Gebotes aber gehört es, daß es übertreten werden kann.“87 Wohl deshalb gibt er dieser Beobachtung auch dadurch ein Eigengewicht, dass er aus ihr – unter dem Namen „Sollensantinomie“ – eine zweite, bei Kant unentdeckt gebliebene Freiheitsantinomie konstruiert, die er dann allerdings durch einen Hinweis auf das Komplementärverhältnis zwischen der persönlichen Freiheit und dem Sollensprinzip ohne größere Schwierigkeiten auflösen kann. Anders verhält es sich dagegen mit dem dritten scheinbaren Widerspruch, der sich daraus ergibt, dass Hartmann einerseits Kant das Verdienst zuschreibt, durch seinen Begriff der Freiheit der religiösen Überlieferung und der theologisch besetzten Metaphysik einen rationalen Problemkern abgewonnen zu haben, und dass er andererseits doch meint, ein metaphysischer Gegenstand wie die Freiheit höre auch bei und nach Kant nicht auf, einen „unauflöslich irrationalen Restbestand“88 in sich zu

85 86 87 88

Hartmann (1935), 704 f. Schelling (1999), 64. Hartmann (1935), 626. Hartmann (1935), 648 f.

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schließen. Hier ist wohl der eigentümliche Gebrauch des Wortes „irrational“ die Quelle der Verwirrung. Für die Neukantianer deutete der Terminus „irrational“ schon vor Hartmann eher eine Grenze der Vernunfterkenntnis als eine Grenze der Vernünftigkeit überhaupt an. Emil Lask verwendet ihn beispielsweise in seinem Werk Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre dazu, „die Undurchdringlichkeit, Unbegreiflichkeit und Un[v]erklärbarkeit, diese ,Gegebenheit‘ und Unauflöslichkeit fürs Logische“ zu bezeichnen,89 wobei er unter dem Logischen das Reich „kategorialer Form“ überhaupt versteht.90 Dieser Wortgebrauch erwächst bei Lask aus einem Versuch, das von Kant in der Erfahrungserkenntnis herausgestellte Verhältnis des Sinnlich-Anschaulichen zur kategorialen Form auf alle Sphären der neukantianischen Geltungs- und Wertphilosophie – also auf die Logik, die Ethik und die Ästhetik – zu übertragen. In Fußnoten verweist Lask auf eine Vorgeschichte dieses Versuchs bei Lotze, Windelband und Rickert. Es geht dabei um einen „supranaturalen“ oder „suprasensualistischen Empirismus“,91 der das irrationale, alogische Kategorienmaterial gleichsam als eine eigentümliche Empirie selbst noch im Nicht-Empirischen zu entdecken sucht. Auch bei Hartmann verweist der „irrationale Restbestand“ metaphysischer Probleme auf eine Grenze der Vernunfterkenntnis und nicht auf eine Grenze der Vernünftigkeit überhaupt. Hartmanns ganzes Anliegen besteht darin, den metaphysischen Gegenständen durch eine Ontologie kategorialer Formen beizukommen. Dazu gehört jedoch die nüchterne Einsicht, dass dabei ein Kategorienmaterial als Restbestand zurückbleibt. Auch der Ausdruck „supranaturaler“ oder „suprasensualistischer Empirismus“ ist nicht ganz abwegig, um zu bezeichnen, was Hartmann unter Metaphysik versteht. Denn als das metaphysische Substrat ontologischer Kategorialanalysen erweist sich bei ihm immer etwas Positives, Gegebenes, das keine apriorische Erklärung oder Ableitung zulässt. Parallel zu Hartmanns Entwicklung in den 1920er Jahren bildet sich in der Phänomenologie, und zwar nicht allein bei Martin Heidegger, sondern ebenso sehr auch bei Edmund Husserl, ein anderer Begriff zur Erfassung dieses Sachverhalts heraus: „Faktizität“. In Forschungstexten,

89 Lask (1923), 75. 90 Vgl. Lask (1923), 77. 91 Lask (1923), 211 f.

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die aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre stammen, spricht der Begründer der Phänomenologie insbesondere von metaphysischen „Urtatsachen“.92 In Hartmanns Freiheitsanalyse ergibt sich ein „unlösbares Restproblem“ aus einer gewissen Spannung zwischen den beiden Einsichten, die sich auf die Sollensforderungen beziehen. Die Grundtatsache des Sollenskonflikts wirft die Frage auf, wie sich überhaupt ein Komplementaritätsverhältnis zwischen der persönlichen Freiheit und dem Sollensprinzip einstellen kann. Selbst wenn Sollensforderungen als Tendenzen aufgefasst werden, die schon von sich aus einen Anspruch auf Eingang in die Selbstbestimmung des Willens erheben, können Initiative, Wahl und Entscheidung nicht auf solche Tendenzen zurückgeführt werden. Daraus folgt aber: „[…] die Selbstbestimmung der Person muß eine ganz eigene, neue Determinationsweise haben […].“93 Mit der Frage jedoch, was denn eigentlich Selbstbestimmung als eine eigene Determinationsweise sei, taucht deshalb ein unlösbares Restproblem auf, „weil die neue Determinante selbst sich nicht greifbar machen lässt.“94 Ebendeshalb verletzt aber jede Antwort auf diese Frage eine „unüberschreitbare Rationalittsgrenze“95 und deutet damit auf einen „irrationalen Rest“ hin.96 „Irrational“ heißt aber dieser Rest offensichtlich nicht im Sinne des Vernunftwidrigen, sondern im Sinne des in seiner Positivität und Gegebenheit unerklärbaren und unableitbaren Materials einer ontologischen Kategorialanalyse.97 Dementsprechend kann gezeigt werden, dass die Selbstbestimmung der Person mit so grundlegenden ethischen Phänomenen, wie etwa moralische Beurteilung, Selbstbestimmungsbewusstsein, Verantwortung, Zurechnung und Schuldbewusstsein es sind, durchaus in Einklang steht und dadurch gleichsam in ihrer Faktizität gesichert ist.98

92 93 94 95 96 97 98

Siehe zum Beispiel Husserl (1973), 385 (Text Nr. 22). Hartmann (1935), 719. Hartmann (1935). Hartmann (1935), 720. Hartmann (1935). Vgl. Hartmann (1925), 210 f. Hartmann (1925), 652 – 680.

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Zum Verhältnis von Personalität und Temporalität bei Nicolai Hartmann und Wolfhart Pannenberg Thomas Renkert In den Konzeptionen menschlicher Personalität im Denken des Philosophen Nicolai Hartmann und des Theologen Wolfhart Pannenberg finden sich ontologische und anthropologische Kategorien eng miteinander verknüpft und als Element einer breit angelegten philosophischen bzw. theologischen Systematik dargestellt. Wo Pannenberg mit diesem Ansatz spätestens seit Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhundert eine feste Größe in der gegenwärtigen Theologielandschaft darstellt1, gilt für die Rezeption des Werkes von Nicolai Hartmann2, dass erst seit dem Wiederaufkeimen metaphysischer und ontologischer Fragestellungen der letzten beiden Jahrzehnte eine erneute zaghafte Annäherung an sein Denken stattgefunden hat. Zwischen Nicolai Hartmann und Wolfhart Pannenberg bestehen neben dieser konzeptionellen Grundentscheidung einer systematischen und möglichst umfassenden Darstellung von Wirklichkeit aber auch inhaltliche, biographische und wirkungsgeschichtliche Überschneidungen und Anknüpfungspunkte. Zunächst ist das Denken des systematischen Theologen Pannenberg, dessen Rezeption ab den sechziger Jahren in der deutschen und amerikanischen Theologielandschaft beginnt3, und der in seinen Arbeiten die damals aktuellen Entwicklungen der philosophischen Anthropologie Bezug nimmt, naturgemäß ein Stück Rezeptionsgeschichte dieser Entwicklungen, und damit implizit auch von Hartmanns Wirken. Daneben setzt sich Pannenberg jedoch auch explizit mit Hartmanns Ideen auseinander, insbesondere in seinen Arbeiten zur Anthropologie und zur Ethik. Auch wenn diese Verweise auf Hartmann oft nicht sehr ausführlich sind, scheint es doch so, dass sein Denken für Pannenberg über die Jahre hinweg ein konstanter Bezugspunkt gewesen ist. 1 2 3

Vgl. Schwöbel (1996). Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption Hartmanns Morgenstern (1997), 173 – 176. Zu einer zeitgenössischen Darstellung der Ausgangssituation von Pannenbergs Theologie vgl. Robinson (1967), 11 – 134.

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Der Grund für diese Rückgriffe mag in der Tatsache liegen, dass Pannenberg in den Jahren 1948 und 1949 bei Hartmann in Göttingen studiert, und sich dort auch intensiver mit dessen Werk befasst hat. Pannenberg bezeichnet Hartmann als „den wahrscheinlich gelehrtesten deutschen Philosophen jener Zeit, noch vor Karl Jaspers und sogar Martin Heidegger.“4 Hartmanns Didaktik übte einen solchen Einfluss auf Pannenberg aus, dass seine für ihn obligatorische Methode der Entfaltung theologischer Probleme vor dem Hintergrund ihres ideengeschichtlichen Verlaufs offenbar Hartmanns Art zu unterrichten geschuldet ist.5 Pannenberg verdanke darüber hinaus seine Kenntnis antiker Philosophie der Auslegung Hartmanns, die ihn, wie er 2006 schreibt „immun gemacht hat gegenüber der ziemlich willkürlichen Auslegung Martin Heideggers“.6 Schließlich widmet Pannenberg auch die Publikation seiner letzten Münchner Vorlesung Theologie und Philosophie – Ihr Verhltnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte 7 neben Jaspers und Löwith auch Hartmann. Trotz dieser Wertschätzung ist Pannenberg kein Hartmannschüler, das Werk beider Denker unterscheidet sich (neben der unterschiedlichen philosophischen bzw. theologischen Ausrichtung) in Intention, Vorgehen und inhaltlicher Konzeption beträchtlich. Dies macht m. E. den Blick auf die dennoch bestehenden Parallelen umso lohnenswerter. Das Ziel dieses Aufsatzes ist, aufzuzeigen, wie Hartmann und Pannenberg dieselbe Fragestellung im Grenzbereich von Anthropologie und Ontologie, nämlich die der menschlichen Freiheit im Verhältnis von Zeitlichkeit und Personalität, in ihren jeweiligen systematischen Konzeptionen auf ähnlichen Wegen zu beantworten suchen. Ich möchte im Folgenden die Personkonzepte dieser beiden Denker insbesondere unter dem m. E. fruchtbaren Aspekt der Zeitlichkeit in vier Teilen einander gegenüberstellen: Ich gehe zunächst (1) auf das Personalitätskonzept Hartmanns ein, und werde dann (2) die Frage nach der Zeitlichkeit der Person allgemeiner skizzieren. Im letzten Teil (3) gebe ich einen Überblick über den Zusammenhang von Personalität und Zeit4 5 6 7

Pannenberg (2006), 185. Übersetzung T.R. Pannenberg (2006), 185. Dies ist umso interessanter, da Hartmann in seinen Hauptwerken auf umfassendere Darstellungen der Philosophiegeschichte verzichtet. Pannenberg (2006), 185. Grundsätzlich sind die klassischen Auslegungen der Philosophie der Antike von entscheidender Bedeutung für Pannenbergs Denken, vgl. Pannenberg (1959). Pannenberg (1996).

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lichkeit bei Pannenberg, um schließlich die Problemstellung menschlicher Freiheit bei beiden Denkern zu vergleichen.

I. Das Personalitätskonzept Nicolai Hartmanns Die Personalität ist der eigentliche Kernpunkt, der kategorische Grundcharakter des geistigen Individuums. Aber den Geist durch sie als ein Bekanntes zu definieren, geht nicht an. Denn was sie ist, läßt sich um nichts eher angeben, als was der Geist ist. Allem Eindringen sind hier enge Grenzen gezogen, und selbst die Beschreibung kann nur Umwege einschlagen. Alles Zergliedern versagt hier, wir kennen sie überhaupt nur als Ganzheit. Alles Herleiten ist aussichtslos, denn es gibt nichts, worauf man sie zurückführen könnte. Das Eigentümlichste des Geistes, das große kategoriale Novum, das ihn radikal von allem sonstigen Seienden abhebt, ist auch das eigentlich Undurchdringliche, das am meisten Irrationale – alogisch und transintelligibel zugleich.8

So formuliert Hartmann in Das Problem des geistigen Seins. Dieses Zitat macht deutlich, dass es sich für Hartmann bei dem Konzept der Person um eine Gegebenheit handelt, die in ihrer Universalität und Normalität zwar in unserer Lebenswirklichkeit ständig präsent und dennoch (oder gerade darum) nicht rational weiter analysierbar ist. Obwohl Hartmann die Phänomene des Geistes, des Seelenlebens und des Bewusstseins als „ontisches Überbauungsverhältnis“9 im Schichtenbau der Wirklichkeit mit relativer Autonomie gegenüber den physikalisch determinierten Gesetzlichkeiten des Organischen verorten und beschreiben kann, entzieht sich deren Konkretion in der Personalität einer solchen „zergliedernden“ Beschreibung. Aus der Perspektive des Systems der kategorialen Schichtung lässt sich das Phänomen der Person daher zunächst fast nur negativ und auf Umwegen beschreiben. Der Grund für diese Entzogenheit der Personalität liegt darin, dass Personalität in ihrer Ganzheit nicht einfach gleichzusetzen ist mit den Besonderheiten der Geistkategorie. Dies wird bei Hartmanns Beschreibung des objektiven Geistes deutlich, wenn er schreibt: Man begegnet für gewöhnlich der Auffassung, der persönliche Geist sei wohlbekannt, der objektive Geist aber eine fragwürdige Sache. Hält man sich streng an das Gegebene, so ist das Umgekehrte der Fall. Wir wissen wenig

8 9

Hartmann (1949), 128. Hartmann (1949), 66 ff.

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vom Wesen der Person, des Subjekts, des Ich, relativ viel aber vom geschichtlichen Gemeingeist.10

Der Gemeingeist ist jedoch gerade nicht Person, sondern ein „geschichtlich gegebenes geistiges Niveau“11, wie Hartmann u. a. gegen Schelers Konzept der Gesamtpersonen betont: „Nur der Einzelmensch […] ist echte Person. Was man darüber hinaus noch als Person bezeichnet ist nur gleichnishaft zu verstehen.“12 Obwohl Hartmann somit die Kategorien des objektiven und des personalen Geistes voneinander unterscheidet,13 bestehen dennoch enge Verschränkungen zwischen beiden Konzeptionen. Gegen eine Geistmetaphysik im Sinne Hegels betont er: „Es gibt keine geistigen Phänomene, die man als solche des objektiven Geistes allein verstehen kann, – genau so wenig, wie es solche gibt, die man vom Individuum allein aus verstehen kann.“14 Das „Ineinssein“15 des objektiven mit dem personalen Geist und umgekehrt bedingt das geistige Leben und ist somit eine der Voraussetzungen menschlicher Personalität, wie das folgende Zitat verdeutlicht: Sprache, Recht, Sitte, Moral, Gemeinschaftsformung, Religion, Kunst, Technik machen den objektiven Geist aus. In ihm gibt es keine Akte, kein Bewußtsein (das ihm als ganzem entspräche), keine Erblichkeit; sein Fortbestehen ist ein unpersönliches […] Die Individuen aber sind durch das Umfaßtsein von ihm mehr als Subjekte, sind Personen. Die kategorialen Grundbestimmungen der Person sind wiederum von neuer Art: Vorsehung und Vorbestimmung (Zwecktätigkeit), Freiheit und Wertbewußtsein. Erst in der Gemeinschaft und im objektiven Geiste stehend, ist die Person ein sittliches und verantwortungsfähiges Wesen.16

Für Hartmann kann es keine Personalität in der Isolation, getrennt vom objektiven Geist geben, denn der objektive Geist schafft durch das geteilte Wertbewusstsein einer Gemeinschaft erst die Bedingungen, für das 10 11 12 13

Hartmann (1958a), 322. Hartmann (1949), 70. Hartmann (1954), 119. In Hartmanns Geistkonzeption findet sich ferner auch die Kategorie des objektivierten Geistes, die den „in einer Materie fixierten“ (Hartmann 1949, 72) objektiven Geist – also z. B. Kulturerzeugnisse – meint, die er aber als „irreal“ im Unterschied zum personalen und objektiven Geist definiert. 14 Hartmann (1949), 74 f. Hartmann verweigert sich einer ontologischen Priorisierung einer seiner drei postulierten Geistformen: „Es gibt nur das eine, einheitliche geistige Sein, ungeteilt und unteilbar.“, Hartmann (1949), 72 f. 15 Hartmann (1949), 72. 16 Hartmann (1958b), 335 f.

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Subjekt, zum Handlungsträger werden zu können. Als Handlungsträger ist das Subjekt eine freie, verantwortungsfähige und damit auch verantwortliche Person. Handlungen (im Sinne von Zielsetzungen und Durchführungen) haben für Hartmann, wie wir noch sehen werden, eine identitätsstiftende Funktion für die Person, indem sie eine Zeitdistanz überbrücken. Zunächst tritt im Verhältnis der beiden Geistformen jedoch das Moment der Sittlichkeit zur Beschreibung des Personbegriffs hinzu. In der Kategorie der Person sieht Hartmann ontologische und axiologische Aspekte miteinander verschränkt, sie nimmt eine „eigenartige Vermittlerstellung zwischen Werten und Wirklichkeit“17 ein. Eine gegenüber der rein ontologischen Perspektive inhaltlich gefülltere, positivere Definition der Person kann Hartmann daher erst in der Entfaltung der Ethik geben: Dort, wo der handelnde Mensch sich Zwecke setzt, die auf Wertgefühlen beruhen, dort erst „eröffnet sich ein unerwarteter Einblick in das Wesen der menschlichen Person. […] Das Wesen der Person in ihm [d. h. im Menschen] ist so geartet, daß er nur wollen kann, was ihm in irgendeiner Richtung als wertvoll einleuchtet.“18 Das, was dem Menschen als wertvoll einleuchtet, ist Grund und Ziel seiner Zwecktätigkeit. Diese wiederum ist im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung ethisch bestimmt. Im Begriff der Zwecktätigkeit, dem Handlungsspielraum des Menschen, tritt nun wiederum ein ontologisches Moment zu den ethischen Aspekten hinzu. Ähnliches gilt für die Frage nach dem Wesen der Person als unteilbare Einheit und Ganzheit: Die Konzeption von Zeitlichkeit. 1. Zeitlichkeit der Person Sowohl Hartmann als auch Pannenberg stellen Personalität und Temporalität in einen engen Zusammenhang. Pannenberg kann Hartmann auch diese „Einsicht in die Temporalität der Person“19 bescheinigen, und sowohl für Hartmann als auch für Pannenberg geht es beim Problem der Zeitlichkeit um die Identität der Person und ihre Handlungsfreiheit. In diesem Abschnitt möchte ich darstellen, wie beide Denker das grund-

17 Hartmann (1962), 227. 18 Hartmann (1949), 158. 19 Pannenberg (1983), 231.

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legende Problem adressieren und welche Parallelen und Differenzen hier bestehen. Das Wesen der Person ist für Hartmann keine beharrende, oder in der Gegenwart schlicht vorhandene Substanz, sondern in zweifacher Hinsicht durch Zeitlichkeit bestimmt. Für Hartmann ist die Möglichkeit der Zwecksetzung und -erfüllung konstitutiv für das Phänomen der Person. Das heißt: Einerseits kann sich die Person Zwecke nur dann setzen, wenn sie die Zukunft mit den möglichen Konsequenzen ihrer Handlungen zumindest teilweise im gegenwärtigen Moment antizipieren kann. Dabei überspringt das Subjekt den Zeitlauf und gibt seinen Handlungen ein zu realisierendes Ziel. Diesen Vorgang von Zwecktätigkeit nennt Hartmann Finalnexus. Er gehört, wie wir gesehen haben, zum Wesen der Person, durch sie erst wird das Subjekt zum Handlungsträger. Andererseits – und das ist die zweite Form von Temporalität – ist die Ganzheit, in der uns die Person begegnet, keine schlicht gegenwärtig vorhandene: Sie ist durch den Zeitfluss, den Wandel, bedroht und muss jeweils durch die Person in der (ebenfalls prozesshaften) Erfüllung der von ihr gesetzten Zwecke aktualisiert werden. Zunächst zur Zwecktätigkeit, die der einzige Fall von Teleologie in der Wirklichkeit ist, den Hartmann annehmen kann, ohne in spekulative metaphysische Mutmaßung zu geraten oder die Handlungsfreiheit des Menschen aufs Spiel zu setzen: „Teleologie ist das Eigentümliche des Menschenwesens.“20 Dieser im Handeln des Subjekts bestehende Finalnexus ist nach Hartmann ein dreifacher: Zum einen besteht er in der antizipierenden Zwecksetzung des Bewusstseins, die eigentlich der Zeit enthoben stattfindet, zum anderen in der Bestimmung der Mittel zur Realisation durch den Zweck, zum dritten im „reale[n] Bewirktwerden [des Zweckes] durch die Reihe der Mittel“21. In der Zwecksetzung überspringt das handelnde Subjekt die Begrenzungen der Zeitfolge, indem es eine Zukunft, die noch nicht existiert, antizipiert. In der Rückwirkung des Zweckes auf die Mittel sieht Hartmann den eigentlichen „Finalcharakter“22 des Finalnexus, an diesem Punkt läuft die teleologische, retroaktive Wirkung des Finalnexus der Kausalreihe des Zeitprozesses entgegen. Dem Subjekt obliegt schließlich die Verwirklichung des Zweckes durch die „Reihe der Mittel“, die wiederum kausal bedingt ist. 20 Hartmann (1962), 199. 21 Hartmann (1962), 194. 22 Hartmann (1962), 196.

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Wie kann Hartmann trotz der unterschiedlichen Momente innerhalb dieses Vorgangs von Zwecktätigkeit und obwohl das Subjekt darin an verschiedenen Stellen unterschiedliche Funktionen erfüllt, in seiner Ethik von der Identität23 und Einheitlichkeit des Finalnexus sprechen? Diese Frage stellt sich, wenn man bedenkt, dass es bei praktisch allen menschlichen Handlungen, in der bewusst Zwecke gesetzt und ihre Verwirklichung über einen Zeitraum verfolgt wird, notwendigerweise zu Inkongruenzen kommt. Die Zielsetzung und die Realisierung dieser Ziele ist ja nie eine vollkommene – im Sinne von vollständig und einheitlich. Das Problem verschärft sich noch, wenn man die einzelnen Zwecktätigkeiten nicht isoliert, sondern im Kontext der anderen Handlungen des Subjektes betrachtet: Wie kann nicht nur die „interne“ Konsistenz der jeweiligen Zwecktätigkeit, sondern auch die Kohärenz der einzelnen Tätigkeiten des Handlungsträgers untereinander gewährleistet werden? Hier wird der prozessurale Charakter des Finalnexus und damit die Temporalität des bewussten menschlichen Handelns zum Problem. Zwischen Zwecksetzung und Realisierung im Handeln des Subjekts liegt nicht nur Zeit, sondern mit ihr auch Wandel, Veränderung. Gute Vorsätze können aufgrund von schlechter Umsetzung das Ziel verfehlen. Für Hartmann liegt dieses Problem aber nicht im „Wesen des Finalnexus, sondern in dem Unwesen des seiner nicht mächtigen Subjekts.“24 An dieser Stelle bringt Hartmann den axiologischen Aspekt der Personkategorie, auf den ich oben hingewiesen habe, ins Spiel. In der Tat ist es das handlungstragende Subjekt, das die Identität des Finalnexus, die Einheitlichkeit und Übereinstimmung der kontitutiven Akte, garantieren soll. Da das Subjekt jedoch selbst in diesem Prozess so verschiedene Funktionen übernimmt, liegt Hartmanns Lösung darin, dass auch dem Finalnexus „eine Identität prinzipiell übergeordnet [ist]: die Identität des Subjektes selbst als Einheit dieser Funktionen (Akte), d. h. als personalen Wesens.“25

23 Hartmann (1962), 196 ff. 24 Hartmann (1962), 197. Hervorhebung T.R. 25 Hartmann (1962), 197 f.

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2. Identität der Person Hartmann optiert also dafür, dem Maximalkontext der Handlungen eines Subjektes in ihrer Gesamtheit identitätsstiftende Funktion zuzuweisen. An dieser Stelle sind wir bei der zweiten Form von Temporalität, durch welche die Person bestimmt ist, angelangt: Dem Problem der Ganzheit und Identität des Subjekts. Diese Form von Zeitlichkeit ist wiederum verschränkt mit der ersten Form des Finalnexus. Um das eben genannte Zitat Hartmanns weiter zu führen: Und auch hier [d. h. in der Einheit der Person] ist der Kreislauf praktisch niemals ein vollständiger, er schließt im konkreten Falle nie genau. Das Subjekt, an das sich die in der Zwecksetzung liegende Anforderung wendet, ist in seinen empirischen Intentionen zumeist nicht mehr dasselbe wie das zwecksetzende, es tritt mit seinem Wollen nur bedingterweise für den von ihm selbst gesetzten Zweck ein. Es identifiziert sich nicht unbedingt und nicht restlos mit dem zwecksetzenden Subjekt. Bestünde die Möglichkeit solchen empirischen Auseinanderklaffens nicht, so wäre der Weg zur Hölle nicht mit guten Vorsätzen gepflastert. Aber auch dieses bekannte Phänomen ist nicht im Wesen des Finalnexus gegründet, sondern in der moralischen Inkonsequenz und Schwäche des Subjekts, in seiner Unfähigkeit, sich für die eigenen ethischen Intentionen auch wirklich einzusetzen. Es ist das Zerreißen der Einheit des personalen Wesens, seine Spaltung, seine Selbstpreisgabe.26

Die Frage nach der Identität der Handlungen wird so zur Frage nach der Identität des Handelnden: Das personale Wesen trägt nun nicht nur die Verantwortung für die zeitübergreifende Identität des Finalnexus, sondern auch für sich selbst, für seine eigene Einheit. Ja, diese Einheit ist überhaupt die Voraussetzung für die Identität und Konsistenz der Handlungen. Und indem dem handelnden Subjekt die Kongruenz von Zwecksetzung und Verwirklichung obliegt, wird es im Handeln, in der Realisierung dieser Identität des Zweckes, auf seine eigene Identität als Person zurückgeworfen.27 26 Hartmann (1962), 198. 27 Darin sehe ich eine wichtige Einsicht Hartmanns, die Verschränkung von Wirkungskreis und Aktzentrum als konstitutiv für die Personkategorie. Eine solche Fassung von „Person“ würde aber m. E. eine stärkere Betonung des Sozialitätaspekts und damit der Verschränktheit von Zwecktätigkeiten verschiedener Handlungsträger bedeuten. Eine Frage, die sich, sofern man sich innerhalb der Hartmannschen Begrifflichkeiten bewegt, hieran anschließt, wäre die Frage, wo man die Grenze der Person zieht. Mit dem Verschwimmen der

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Diese Identität der Person besteht in ihrer Einheit und Ganzheit über die Zeit und den Wandel hinweg. „Person ist Ganzheit“28, wie Hartmann in Das Problem des geistigen Seins formuliert. Da diese Ganzheit aber in keinem einzelnen Moment der Gegenwart vorhanden ist, da die Ganzheit der Person in der Ganzheit ihres Lebens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, ist es notwendig, dass das Subjekt auch sich selbst schon vorgreift, um seine eigene Identität in der Gegenwart zu realisieren. Diese Antizipation gelingt dadurch, dass das Subjekt zu sich steht, sich treu bleibt. Die Synthese der Person zeigt sich „im Festhalten am gefaßten Entschluß, am Willensziel, am gemachten Einsatz, am gegebenen Versprechen und an der Fähigkeit, es einzulösen. Es ist die Kraft, für sich gutzusagen und einzustehen, was die Person mit sich selbst zur Einheit zusammenschließt.“29 Diese optimistische Konzeption impliziert aber offensichtlich auch ihre Kehrseite bei Hartmann: Was sich im Leben forttreiben, hin und her werfen läßt, was wir als Person gelten lassen, weil es fortvegetiert oder den Namen weiter trägt, das ist nicht Person. Individuum, Subjekt, Bewußtsein mag es sein, der empirische Einzelmensch in seiner Halbheit. Person ist Ganzheit. Sie ist das geistige Wesen, das sich zu dem immer erst machen muß, was es in Wahrheit ist.30

An dieser Stelle wird deutlich, dass beide Formen von Zeitlichkeit und die doppelte Aufgabe der Identifizierung, die der Person gestellt ist, in Wirklichkeit eine einzige sind: Da Einheit und Ganzheit der Person von der Kongruenz (d. h. der Identität von Wollen und Vollbringen) ihrer Handlungen abhängen, diese Handlungen aber ihrerseits Identität erst durch die Verlässlichkeit, Treue und Konsequenz des handelnden Subjekts als Person erhalten, bedingen sich Zwecktätigkeit und Personalität letztlich wechselseitig. Da es sich bei Personalität jedoch um eine ontologische Kategorie handelt, wird ebenfalls deutlich, wie stark Hartmann hier die Verschränkung von ontologischen und axiologischen Momenten denkt. Durch die Verantwortung, die hier dem handelnden Subjekt übertragen wird, liegt das Gewicht dieser Achse auf der Seite der wertsetzenden und ethischen Seite. Die Aspekte der ontologischen Perspektive, das Vorklaren Umgrenzung dürfte aber auch die Ganzheit und Einheit der Person fraglich werden. 28 Hartmann (1949), 132. 29 Hartmann (1949), 131. 30 Hartmann (1949), 132. Hervorhebung T.R.

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handensein des individuellen und objektiven Geistes, die Nichtdeterminiertheit der Zukunft und die Reihe der Mittel zur Zweckrealisierung sind letztendlich nur die Bedingungen der Möglichkeit von Personalität: „Der empirische Einzelmensch in seiner Halbheit“ zeigt das Scheitern an dieser Möglichkeit auf.

3. Die Möglichkeit von Personalität Ist damit Personalität im Hartmannschen Sinn eine Frage der Ethik? Trotz der offensichtlichen Nähe des Personbegriffs in Hartmanns Denken zum ethischen Anspruch, kann man diese Frage m. E. verneinen. Ich bin der Ansicht, dass der Anspruch an das Individuum, Person zu sein, im Denken Hartmanns eine proto-ethische Qualität hat, die ihrerseits erst die Bedingung zur wirklich ethischen Lebensführung darstellt. Zur Begründung dieser Sicht weise ich darauf hin, dass zum einen das spezifisch Ethische der Person in Hartmanns Ethik noch einmal gesondert als Kategorie der Persçnlichkeit auftaucht, als das „menschliche Eigensein, das außer ihm nicht wiederkehrt. Das ist mehr als bloße Personalität überhaupt.“31 Damit ist der Begriff der Persönlichkeit von dem der Personalität klar unterschieden, wenn auch nicht getrennt. Personalität ist für Hartmann, trotz des hohen Anspruchs, den er an sie stellt, eine allen zwecksetzenden Subjekten gemeinsame Qualität. Der Begriff der Persönlichkeit meint jedoch gerade die höchst individuellen Charakteristika der jeweiligen Person, wobei Hartmann den Schwerpunkt auf das individuelle Ethos und die individuellen Werte des Einzelnen legt.32 Vielleicht lässt sich der Persönlichkeitsbegriff Hartmanns als das Moment begreifen, das dort, wo der Begriff der Personalität einen Aspekt der objektiven Wirklichkeit – wenn auch primär vage und negativ – beschreiben soll, die radikale, unmittelbare Individualität33 der Subjekte und damit die Mannigfaltigkeit ihrer Ausformung und ihren Handlungsspielraum garantieren soll.34 31 Hartmann (1962), 509. 32 Für eine eingehendere Bearbeitung des Persönlichkeitsbegriffs bei Hartmann, vgl.: Kraenzel (1974). 33 Vgl. Hartmann (1949), 255: „Persönliche Individualität […] bildet sich spontan nach eigenem Gesetz, und sei es auch im Gegensatz zu allem Lehrbaren und Erziehbaren.“ 34 Vgl. auch Hartmann (1949), 254 – 256.

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Es wäre hilfreich, die von Hartmann angenommene Zwischenstellung der Person zwischen Werten und Wirklichkeit und seine Ausdifferenzierungen von Personalität und Persönlichkeit an anderer Stelle eingehender zu betrachten. Es scheint jedoch so, dass Hartmann mit seiner Rede von der Persönlichkeit ein weiteres Moment der Steigerung gegenüber der bloßen Personalität verbindet. Schon zuvor hat sich die Frage aufgedrängt, ob der Mensch dieser Aufgabe seiner selbstherzustellenden Personalität realistischerweise überhaupt gerecht werden? Nicht nur, dass diese Forderung auf den schwerlich allgemeingültigen Setzungen seiner Wertethik beruht. Diese Frage läuft letztlich auf das Problem der Freiheit hinaus, das ja eine herausragende Rolle im Denken Hartmanns spielt. Auch Hartmann hält diese Aufgabe für alles andere als trivial, wenn er über die Person sagen kann: „Ihre Selbsterhaltung ist auf Freiheit gestellt und muß den Mächten, die sie auseinanderreißen die Tendenz haben, jederzeit erst abgerungen werden.“35 Der Mensch ist „das aus sich selbst heraus gefährdete Wesen“.36 Noch pointierter wird die Anfrage, wenn man auf die Kehrseite dieses bis hin zum Elitismus anspruchsvollen Personbegriffs blickt, auf den „empirischen Menschen in seiner Halbheit“, dem ja in der Folge das eigentliche Personsein aberkannt wird, es wird höchstens gelten gelassen bzw. ist es nur dem Namen nach. Wenn sich die herzustellenden Identitäten von Person und Handlung also nicht nur, wie wir gesehen haben, wechselseitig bedingen, sondern wenn diese Verwirklichung ebenfalls immer als Kehrseite der Freiheit37 eine gravierende Selbstgefährdung bedeutet, läuft dann Hartmanns zeitliche Personalität nicht in unlösbare Paradoxien?

35 Hartmann (1949), 131. 36 Hartmann (1949), 165. 37 Damit ist die Möglichkeit der bewusst bösen Handlung noch gar nicht angesprochen. Hartmann kann unter diesem Aspekt die sittliche Freiheit des Menschen dann auch als den „irrationale[n] Kern der Person als solcher“ und als ein „tiefes metaphysisches Rätsel“ bezeichnen. Hartmann (1949), 163.

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II. Person und Zukunft – Der Personalismus Wolfhart Pannenbergs Dies ist auch Pannenbergs Kritik an Hartmann, wenn er schreibt: Bei Hartmann erfährt man jedoch nichts Näheres darüber, was das ,Selbst‘ eigentlich ist, mit dem die Person ,sich‘ zusammenschließt, noch auch wie ihre Identität ,hergestellt‘ wird und wer sie überhaupt herstellt, da doch die Person erst durch diesen Vollzug konstituiert sein soll. Wenn Hartmann, wie es scheint, der Meinung ist, daß die Person sich in ihrer Freiheit selber konstituiert, indem er sie über ihren zeitlichen Wandel hinübergreifen läßt, wüßte man doch gern, wie die Person als zugleich Grund und Resultat ihrer selbst gedacht werden soll. Während Hartmann trotz seiner Einsicht in die Temporalität der Person auf das Schema der Selbstsetzung zurückfällt, obwohl er es nur als Paradoxie aufrechterhalten kann, hat Heidegger sechs Jahre zuvor die Frage der Ganzheit des ,Daseins‘ und ihre temporale Struktur sehr viel differenzierter untersucht.38

Für Pannenberg bedeutet gerade die Entdeckung der Temporalität der Person die Überwindung einer paradoxen Selbstsetzung. Für Pannenberg kann, im Anschluss an Dilthey39, die Ganzheit der Person nur in der Vorwegnahme der Ganzheit des Lebens des Menschen bestehen. Dabei geht Pannenberg jedoch über Dilthey und auch Heidegger hinaus40, da für ihn gerade der Tod nicht das konstitutive Element von Ganzheit sein kann. Für Pannenberg existiert die Person – und hier verfährt er kreativ mit der Terminologie der philosophischen Anthropologie41 – ekstatisch in ihrer „radikalen Offenheit“42 nicht nur für die Welt sondern auch für Gott und insbesondere für die Zukunft. Für ihn ist die Wirklichkeit der menschlichen Existenz nicht beschränkt auf das Setzen und Erfüllen von Zweck, sondern strebt immer über jedes innerweltliche Ziel und jeden gegenwärtig erreichten Zustand hinaus auf einen absoluten Zweck. Bzw. als Zukunftsoffenheit in die absolute, die nicht mehr nur innerweltliche Zukunft, des Eschatons. Aus der Antizipation dieser Zukunft heraus besteht die Ganzheit und Einheit der Person außerhalb ihrer eigenen Fähigkeit zur Selbstsetzung. In der Person kommt das Ganze des individuellen Lebens zu gegenwärtiger Erscheinung. […] Das Wort ,Person‘ bezieht das die Gegenwart des Ich 38 39 40 41 42

Pannenberg (1983), 230 f. Dilthey (1927), 233. Pannenberg (1967a), 146. Vgl.: Pannenberg (1976), 5 – 12. Pannenberg (1976), 32.

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übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen individuellen Lebensgeschichte auf den gegenwärtigen Augenblick des Ich. Person ist die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich, in der Beanspruchung dieses Ich durch unser wahrhaftes Selbst und im vorwegnehmenden Bewußtsein unserer Identität.43

Im Unterschied zur Konzeption Hartmanns, in der, wie wir sahen, die ethischen und axiologischen Anteile gegenüber den ontologischen überwiegen, ist Pannenbergs Fassung der Personalität eine primär ontologische. Pannenberg problematisiert explizit die theoretischen Grundannahmen der Wertethik Hartmanns und Schelers: Doch noch im Scheitern der Wertethik an den von ihr produzierten Aporien des Verhältnisses von Wert und Sein zeigt sich die Priorität des ontologischen Problems, die grundlegende Bedeutung des Wirklichkeitsverständnisses für jede Bemühung um eine Grundlegung der Ethik.44

Pannenberg geht sowohl in methodologischer als auch in metaphysischer Hinsicht von einer Priorität ontologischer Fragestellungen und insbesondere von einer ontologischen Prioritt der Zukunft aus. Wie die Detailfragen dieser Konzeption genau zu verstehen sind und welcher Kritik sich Pannenberg mit ihr ausgesetzt sieht, kann im Rahmen dieses Essays nicht dargelegt werden. Mit den Begriffen Hartmanns ließe sich Pannenbergs Position so fassen, dass es durch die Zeitlichkeit und den zeitbedingten Wandel der Gegenwart zu keinem Jetzt-Moment zu einer vollständigen, ungebrochenen und ganzheitlichen Selbstaktualisierung und damit Selbstidentifizierung der Person kommen kann. Der Grund dafür liegt in der Annahme, dass die dem Zeitprozess unterworfene Wirklichkeit (und alle Wesenheiten in ihr) selbst noch nicht vollständig und ungebrochen identifizierbar ist. Erst im Moment des Eschatons, in welchem der Wandel der Zeit an sein Ende kommt, kann über das Wesen der Wirklichkeit endgültig entschieden werden. Für Pannenberg handelt es sich aber nicht um eine bloße epistemologische Frage, als ob das Wesen der Wirklichkeit am Ende der Zeit nur enthüllt werden müsste. Vielmehr fallen für ihn epistemologische und ontologische Kategorien im Eschaton in eins, und so kommt der letzten, absoluten Zukunft der Status einer ontologischen Priorität zu. Das Wesen der Wirklichkeit speist sich aus dieser Zukunft, welches die Vergangenheit und Gegenwart antizipieren.

43 Pannenberg (1983), 233. 44 Pannenberg (1977), 59.

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1. Freiheit, Zukunft und Ganzheit In ihren Konzeptionen von Personalität geht es Hartmann und Pannenberg jeweils an zentraler Stelle um die Freiheit der Person. Für Hartmann besteht die Freiheit des menschlichen Handlungsspielraums darin, dass auf der Seinsschicht des Geistes eine kategoriale Eigenständigkeit besteht, die einen Freiraum gegenüber der kausalen Determination der niedrigeren Schichten darstellt. An dieser Stelle möchte ich die grundsätzlichere methodologische Differenz, die zwischen den Denkweisen Hartmanns und Pannenbergs besteht, ansprechen. Pannenbergs Theologie nimmt ihren Anfang als Geschichtstheologie, die versucht, das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, den Prozess der Schöpfung als temporalen Prozess zu beschreiben und zu deuten. (Inwiefern alle Implikationen dieses Ansatzes von Pannenberg gesehen und adressiert werden, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.) Demgegenüber bildet Hartmanns Metaphysik ein synchronstatisches, im Kern atemporales System.45 Wie nun der Gedanke menschlicher Freiheit unter diesen verschiedenen systematischen Rahmenbedingungen von beiden Denkern gefasst wird, soll den Abschluss dieses Aufsatzes bilden.

2. Kategoriales Novum Für Hartmann besteht die Freiheit des Geistes auf dem kategorialen Novum, das den höheren Seinsschichten Eigendynamik und im Falle des Geistes Handlungsspielraum eröffnet:

45 Mit dieser Aussage sind natürlich nur Grundtendenzen benannt, mir ist bewusst, dass sowohl Hartmann als auch Pannenberg zuweilen aus diesen Schemata ausbrechen. Vgl. im Fall Hartmann: „Im Falle der Weltenstehung ist das zeitlich spätere Aufkommen der höheren Seinschichten sogar eine unabweisbare Konsequenz der eindeutig von unten nach oben gerichteten Schichtenabhängigkeit. […] So hat es sehr wohl einen guten Sinn, in der Rangordnung und Abhängigkeit der Seinsschichten die Spuren einer Entstehungsgeschichte zu erblicken. Freilich kann es nicht Aufgabe der Ontologie sein, eine solche zu entwerfen; sie würde damit nur wieder in spekulative Konstruktionen fallen. Aber erwarten darf man von ihr, daß ihre Aufstellungen über den Bau der realen Welt wenigstens eine genetische Deutung zulassen.“ Hartmann (1942), 88.

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Am „Novum des Höheren […] hängt das kategoriale Moment der Freiheit.“46 Dabei besteht die menschliche Freiheit für Hartmann in der Entscheidungsfähigkeit des bewussten Geistes, in der „Freiheit zur Initiative“47, die nur auf der Grundlage des determinierenden Kausalnexus der niederen Schichten besteht. Das handelnde Subjekt kann durch die Wahl der Mittel die Kausalreihe so beeinflussen, dass der gesetzte Zweck erreicht wird. Die kausale Determination des Geschehens wird bei Hartmann damit nicht einfach im Falle des menschlichen Handelns zurückgefahren oder in einen Widerspruch zum Element teleologischen der Zwecktätigkeit gesetzt. Vielmehr ist auch die kausale Determination selbst überhaupt erst die Bedingung für die Möglichkeit freien Handelns, gerade indem der Mensch die Folgen der kausalen Determination rational (zumindest teilweise) antizipieren und entsprechend auf den sich selbst gesetzten Zweck hin beeinflussen kann. Mit dieser Verbindung von Bewusstsein, Zeitlichkeit und Handlungsfähigkeit ist der personale Geist für Hartmann ein singuläres Phänomen im Schichtenbau der Wirklichkeit: Die Freiheit des handelnden Subjekt ist das Proprium der Personalität, im objektiven Geist gibt es keine Akte. Indem nun aber Hartmanns Freiheitstheorie auf der ethischen oder proto-ethischen Fähigkeit zur Selbstaktualisierung, durch die der Mensch erst die Kausaldetermination der Wirklichkeit durch das Novum des Finalnexus überformen kann, indem also die ontologische Voraussetzung zum freien Handeln an die proto-ethische Qualität des „Für-sich-Einstehens“ der Person geknüpft wird, stellt sich die Frage, ob Hartmann nicht im Kern einen elitistischen Freiheitsbegriff vertritt, und ob damit die Kategorie der Personalität nicht doch ein fundamental paradoxes Phänomen darstellt. 3. Kontingenz der Zukunft Gegen eine Personalität als „Produkt der Selbstdisziplin“48 entwirft Pannenberg ein Konzept von menschlicher Freiheit, welches sich aus der dem Menschen trotz aller Antizipation letztlich unverfügbaren, kontingenten Zukunft speist. Der Spielraum für eine menschliche Autonomie wird hier also nicht kategorial sondern temporal entwickelt. Das Novum 46 Hartmann (1940), 547. 47 Hartmann (1949), 165. 48 Pannenberg (1991), 231.

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ist hier kein Prinzip des Schichtenbaus der Wirklichkeit, sondern durch die Unverfügbarkeit und Nichtdeterminiertheit der Zukunft gewährleistet. Jeder einzelne Moment der Zukunft, letztendlich meint Pannenberg allerdings die absolute Zukunft Gottes, ist nicht nur durch Kausalität bestimmt, sondern durch das seinerseits freie Schöpfungshandeln Gottes. Dieses Schöpfungshandeln bedeutet nicht einfach alldeterminierende Allmacht Gottes, die in ihrem Wirken keinen Raum mehr lässt für andere Ursachen, sondern meint die Identifizierung des Wesens der Gesamtwirklichkeit „von außen“, d. h. aus der Perspektive der Ewigkeit im Moment des Eschatons. Bezeichnend ist, dass Zukunft Gottes im Denken Pannenbergs einerseits Nähe, andererseits Distanz Gottes zum Schöpfungsprozess bedeutet. Zwar ist die Zukunft jedes Momentes der Geschichte immer schon die Zukunft Gottes, allerdings ist sie eben Zukunft, neben der die Gegenwart der Handelnden und der kausaldeterminiert Zeitprozess ihr eigenes Recht haben. Gottes Wille zur relativen Autonomie der Schöpfung ist der Grund für den Zeitprozess überhaupt, und für Pannenberg ist freies menschliches Handeln ohne die Kategorie der Zeit als die Eröffnung des dazu notwendigen Handlungsspielraums überhaupt undenkbar. Anzumerken ist, dass es Pannenberg allerdings nicht nur um das spezifisch menschliche Handeln geht, sondern auch um die Entstehung und Entwicklung von Gesetzmäßigkeiten im kosmologischen Gesamtprozess der Natur, die ebenfalls ihr Recht und ihren Entfaltungsspielraum gegenüber der Zukunft Gottes haben. Für Pannenberg ist somit das Sein Gottes als Macht der Zukunft die Garantie der Freiheit des Menschen: Ein vorhandenes, mit Allmacht ausgestattetes Wesen würde solche Freiheit durch seine Übermacht zunichte machen. Aber die Macht der Zukunft hat ihre Eigentümlichkeit darin, den Menschen aus seinen Bindungen an das Vorhandene zu befreien für seine Zukunft, zu seiner Freiheit.49

Die Zukunft Gottes ist als der Ort, von dem aus kontingent Neues dem Menschen entgegenkommt, und damit die Ermöglichung eines Neuansatzes: Der Mensch kann mehr und anderes sein und tun als nur eine kausale Verlängerung des schon Vorhandenen. Bei Hartmann ist das kategoriale Novum des Finalnexus ja dennoch gebunden an den Rahmen, der den jeweils gegenwärtigen Stand der Kausaldetermination 49 Pannenberg (1967b), 394.

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darstellt. Das temporale Novum im Zukunftsverständnis Pannenbergs ist demgegenüber in anderer Weise frei (und unfrei), da es sich aus der wirklichkeitstranszendenten Ewigkeit Gottes schöpft. Das Handeln des Menschen ist dadurch innerhalb seiner geschöpflichen Grenzen autonom, aber es erlangt nie eine vollständige, ungebrochene Identität von Handlungen oder Person in der Gegenwart, sondern nur aufgrund der Antizipation des Eschatons. Insofern aber Hartmann und Pannenberg darin übereinstimmen, dass beide die Einheit und Ganzheit der Person als fundamentale Bestimmung der Personalität sehen, existiert diese Personalität und damit die Freiheit der Person im Denken Pannenbergs nur in der absoluten Zukunft. Damit ist die Zukunft Gottes zugleich die Zukunft des Menschen, darin liegt seine Freiheit begründet. Mit diesem Verständnis von Zukunft als Freiraum gelangt Pannenberg wieder zum Personbegriff, womit diesmal ist nicht die menschliche Person gemeint ist: Er argumentiert, dass Zukünftigkeit als Bedingung der Freiheit den Kern des Personalen ausmacht […]. Die in bloßer Latenz verharrende Macht ist unpersönlich, – aber insoweit verliert sie auch ihren Machtcharakter und bleibt allenfalls Weltgrund als kraftloses Hintergrundsphänomen. Darum ist im Unterschied zur bloßen Tiefe der Wirklichkeit im Sein die Macht der Zukunft personhaft, weil sie jede Gegenwart konkret als deren Zukunft betrifft in den Möglichkeiten ihrer Veränderung.50

Person ist konkret und deshalb immer noch anderes und mehr, als was die Rede von Personalität als Kategorie auszudrücken vermag. Bezeichnend ist ja, dass sowohl Hartmann als auch Pannenberg den Geheimnischarakter der Person betonen. Nun liegt die Idee, dass Gott Person ist, im Zentrum des christlichen Glaubens und wurde seit den ihren Anfängen bis heute in der christlichen Theologie und Religionsphilosophie immer wieder diskutiert und neu gefasst. Lässt man die Personkonzepte Hartmanns und Pannenbergs in einen kreativen Diskurs treten, so erhält man eine Idee von Personalität, die auf dem zeitüberbrückenden Handlungsspielraum der Person Gottes und den Personen der Schöpfung besteht. Wenn die Zukunft der Ort ist, den sich das freie Handeln des Menschen und das freie Handeln Gottes teilen, dann findet dort eine Begegnung von Personen stat. Nach Pannenberg ist aufgrund der Unabgeschlossenheit des Geschichtsprozesses nicht nur das Ganze der 50 Pannenberg (1967b), 396.

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Schöpfung, sondern damit auch jedes einzelne Menschenleben noch nicht vollendet. Die Welt ist noch im Werden, weshalb sich nicht nur unsere Erkenntnisse über die Welt ändern können, sondern das Wesen der Welt und das Wesen des Menschen ebenfalls noch nicht gänzlich sondern nur in Antizipation vorhanden sind. Die Unvollständigkeit, die Gebrochenheit und Fragmentarizität der Individualperson ist in dieser universalen Konzeption mitinbegriffen. Wenn Persönlichkeit für Hartmann den radikal individuellen Anteil der Personalität darstellt, dann ist in theologischer Perspektive die je eigene Lebensgeschichte – aber eben nicht nur mit ihren tugendhaften Elementen – gemeint Wie steht es aber mit der anderen Person, mit Gott? Wenn sich mit Hartmann eine Person und ihre Handlungen wechselseitig identifizieren, und wenn so erst von einer Ganzheit dieser Person gesprochen werden kann, dann ist Gott im christlichen Verständnis in der Verantwortung, seine Verheißungen zu erfüllen, wenn er am Ende der Zeit gänzlich als der identifizierbar sein will, als der er sich in der Geschichte offenbart hat. Und zwar geht es hier nicht nur um eine Identifikation „von außen“, sondern um eine wesensmäßige Selbstidentifikation. Die für die Herstellung von Ganzheit notwendige Treue zu sich selbst ist aber an die Einheit und Identität von Gottes Handlung gebunden. Diese seine Handlung ist aber die Schöpfung und ihre Identifizierung ist die Herstellung ihrer Ganzheit und Einheit. Oder theologisch gesprochen: ihre Heiligung.

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History and Tradition in Nicolai Hartmann’s Theory of Spiritual Being Carlo Scognamiglio I. Aim One of the most promising topics in Nicolai Hartmann’s philosophical writings is the theme of historical being. This topic is not among those most analyzed by Hartmann. It is treated in Das Problem des geistigen Seins and in some of his studies on Hegel’s philosophy (Hartmann 1949b, 1957, 1958). However, as Ingetrud Pape wrote in an interesting essay of 1952, it may be that the theme of history, and especially the problem of the bearer of historical becoming, is the underlying subject of all his work (Pape 1952). Apparently, Hartmann’s favourite questions concerned other fields of philosophical thinking: a part of his ontological inquiry was devoted to the problem of personhood, but he regarded it as unsolvable without exploring the relationship with the objective spirit, and also with objectified spirit. Likewise, as in more strictly ontological works, the most intriguing passages in the famous Mçglichkeit und Wirklichkeit are devoted to the problem of modality in the real sphere of being, and also and “obliquely” concern historical becoming (Hartmann 1938). The same interest is apparent in Teleologisches Denken and in other phases of Hartmann’s ontological work (Hartmann 1951). Hartmann’s idea of history is latent in all of his reflections. Moreover, from Hartmann’s perspective, the theme of historical being is highly problematic because of two features in particular: the peculiarity of the internal dialectic in the composition of spiritual being, and the enigmatic nature of historical determination. To date, Hartmann scholars have paid inadequate attention to the theme of history. The aim of this paper is consequently to expound some robust arguments with which to start a new and profound inquiry into Hartmann’s theory of history, highlighting three key concepts especially: 1) the ontological nature and the phenomenological analysis of the objective spirit; 2) the superseding of every epistemological ap-

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proach to historiography; and 3) the phenomenological description of historical “protraction”. This aim is obviously important for gaining a complete understanding of Hartmann’s philosophy. But it is also important for setting a new order to the contemporary debate on this topic. In this preliminary phase, it is also important to specify that central importance will be given to the notion of “tradition”. With this term Hartmann referred to the specific kind of determination-nexus that we find in historical becoming. It embodies the complex category of “protraction”, and it simultaneously comprises all the difficulties of the relationship between the three moments of historical being.1

II. History and objective spirit. In his introduction to Das Problem des geistigen Seins Hartmann devotes an important section of his incipit to the definition of the philosophy of history from a historical perspective. Its principal feature is metaphysical, in the sense of a vocation to find a regularity in the flow of events – as is evident in the most famous of the theories of history in European thought: the philosophy of Hegel. Hartmann was a scholar of Hegel and of idealism, and he often emphasised Hegel’s contribution to the definition of a complete vision of spiritual being. However, he denounced, as most of Hegel’s critics have done, his abuse of the dialectical method, which changes some important philosophical intuitions into an unacceptable metaphysical construct. This happens especially in regard to the topic of history, where Hegel’s philosophical coercion generates an unjustified teleology (Hartmann 1949b, 1951, 1958). In Hartmann’s view, we can use the adjective “historical” only with reference to a circumscribed sphere of being, which was defined for the first time by Hegel: the common-spirit; or better, the objective spirit. Only spiritual being is historical, and history is the distinctive change process of the objective spirit. Hartmann also maintained, in a lecture of 1931, that the notion of the objective spirit is the key concept behind what we usually mean by the term “history” (Hartmann 1958).

1

It is surprising that the notion of tradition is totally neglected by G. D’Anna’s recent article on this topic (D’Anna 2011), for, as should become evident, this is the core of the problem of historical being in Hartmann’s thinking.

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Hartmann defined the concept of the “objective spirit” as follows: […] Ein Wesen höherer Ordnung über dem Einzelmenschen, eine allgemeine Geist-Substanz mit eigener Seinsweise und eigenem Leben. Die individuellen Geister verhalten sich zu ihm wie Akzidentien. Nicht sie, sondern er in ihnen ist das Eigentliche, um das allein es geht (Hartmann (1949b), 6).

But, according to Hartmann, notwithstanding his intuition, Hegel went too far in his metaphysical tendency: Diese Hegelsche Geschichtsteleologie ist in jeder Hinsicht unhaltbar. Und wenn der Begriff des objektiven Geistes mit ihr stünde und fiele, so müßte man ihn schlechterdings mit preisgeben. Es läßt sich aber zeigen, daß er nicht mit ihr steht und fällt, daß vielmehr in Hegels Gedanken selbst ein unbestreitbar geschauter und unverlierbarer Kern steckt, der sich von allem Konstruktiven leicht ablösen läßt, wenn man das Phänomen als solches unvoreingenommen ins Auge faßt und schlicht zu beschreiben sucht (Hartmann (1958), 322).

Hartmann suggests accepting the crucial legacy of the notion of the objective spirit, and seeking to study and describe it, but without reproducing Hegel’s metaphysical unilateralism. The case of Marx is similar. According to Hartmann, Marx and Hegel can be considered as representing two symmetrically opposed conceptions of the same problem. Both had important intuitions and made a fundamental contribution to the history of philosophy, but they were at fault for the unilateralism of their perspectives. If – as Hartmann argues – the most important result of the metaphysical approach is the Hegelian notion of the objective spirit, Marx’s achievement was to show the importance of economic elements in the determination of the historical process. Although Hegel and Marx were both dialecticians, so that they both took account of a plurality of factors in the dynamic of the real world, they ended up by being monists, in the sense of being victims of a reductionism2. In Hartmann’s interpretation, Hegel’s and Marx’s philosophies of history both relied on a restricted idea of dependence in the relationship among the elements of the historical process: Nicht um zeitliche Abhängigkeit im Prozeß handelt es sich dabei – diese könnte ja auch eine homogene sein, zwischen Gleichartigem –, sondern um die in anderer Dimension gelagerte, an sich zeitlose Abhängigkeit der he2

With the term “reductionism” I refer here to a tendency to oversimplify being, or of a region of it, through a unifying point of view.

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terogenen Phänomengruppen im geschichtlichen Sein; letzten Endes also um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen ungeistigem und geistigem Sein (Hartmann 1949b, 13).

Both theories ultimately seek to understand reality on the basis only of a restricted group of phenomena: Beide also stimmen darin überein, daß sie nur einseitige, irreversible Abhängigkeit gelten lassen, das Ineinandergreifen selbständiger Determinationen verschiedener Schichten aber von vornherein ausschließen (Hartmann (1949b), 13).

Contrary to this form of reductionism, Hartmann’s ontology describes a multistratified phenomenology of the real world according to which there is a succession of four strata connected by a system of categorical laws (Hartmann 1949c). The lowest and strongest one, and which is the basis of the highest ones, is the inorganic stratum. Then, in ascending order there follow the organic, the psychic, and the spiritual strata. Put briefly, the most important categories of the inorganic stratum are: spatiality, materiality, physical causality and substantiality; the most important categories of the organic stratum are: spatiality, materiality, life-processes, substantiality and the group of special “life-categories” (for example phylogenesis, reproduction, and so on); the most important categories of the psychic stratum are: psychic causality, constancy and subjectivity (conscience); the most important categories of spirit are: teleological and free determination, historical protraction, constancy, subjectivity (personality) and inter-subjectivity. A special system of laws dominates all the strata: the first principle is the “law of strength”: the upper category implies the lower one, but the reverse does not hold. The second is the “law of indifference”: the lower category is indifferent to its being the basis of the upper one. The third is the “law of matter”: in the over-forming relation the lower category is matter with respect to the upper one. The fourth is the “law of freedom”: every new category has a kind of freedom and independence. Referring to the first and to the fourth laws, Hartmann concludes: Man sieht nun leicht, wie die beiden Gesetze allem einseitigen Ableiten, allem monistischen Weltklären „von oben“ wie „von unten“ und damit aller metaphysischen Konstruktion von „Ismen“ einen Riegel vorschieben. Dem Erklären „von oben her“ tritt das Gesetz der Stärke entgegen, indem es nur Abhängigkeit des Höheren vom Niederen zuläßt. Und dem Erklären „von unten her“ verdirbt das Gesetz der Freiheit das Spiel, indem es die Unfähigkeit der niederen Kategorien, höhere Formungsfülle herzugeben, bloßlegt (Hartmann (1949b), 19).

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Moreover, this stratification yields better understanding as to why Hartmann considers the Hegelian concept of the objective spirit and, through the fourth law, its autonomy, as fundamental. Evoking the Hegelian category may surprise contemporary scholars, but Hartmann remarks that even if – in a naive approach – we are sure that we know much about the individual, and nothing about the apparently obscure objective spirit, it is the reverse which is in fact the case. Indeed, the domain of psychology appears extremely poor (Scognamiglio 2011), whereas we have great deal of experience and information about fields such as the history of art, of law, of religion, and so on. In general, we have no difficulty in speaking of the Greeks, the Romans, the AngloSaxons, or more specifically of Pericles’ Athens, of Cicero’s Rome, and we can also describe the difference between the civilizations and the periods. When we think of an individual actor of a period, we refer to an “einheitlich geprägte Geistessphäre” (Hartmann (1958), 323). Hartmann puts forward these theses (Hartmann (1958), 323 – 325) in order to defend his conception of the objective spirit (O.S.): 1) The O.S. is not a collectivum. It does not coincide with an addition of individuals, even if it is shared by individuals. The most evident example is language – in its regard, the number of individuals is irrelevant, and individuals share it. 2) The O.S. of a specific period is shared by individuals, but it is never dominated by a single mind. 3) The O.S. forms a common sphere which the individual finds in front of him/her and in which s/he is immediately immersed. The process of appropriation is the apprehending of spiritual contents. 4) The O.S. is a huge force in the life of the individual. The O.S. is the bearer of the individual and, in the meantime, his/her limit. 5) Also the individual is a force in the O.S. 6) The O.S. is not universal, but it is temporal, and hence real. 7) The O.S. appears universal for contemporaries, but it is individual if observed in its historical and irreversible factuality. 8) The O.S. has no consciousness, but individuals have consciousness of it. 9) The O.S. depends on the inferior strata (inorganic, organic, psychic), but cannot be understood through their categories. It is autonomous. History cannot be read through processes which are not specific to the O.S.

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But if the world is multistratified, a complete understanding of history requires assuming this stratification and, in a certain sense, importing it into the interpretation of the historical process as well. According to Hartmann, history receives the character of stratification as a “legacy” from the structure of the world. In the historical process, physical, chemical, geographical, as well as psychological factors play their role in the determination of historical events. For this reason, Hartmann defines the concept of history as follows: [Die Geschichte] ist ein Prozeß, in den Faktoren aller Seinsstufen bestimmend hineinspielen, ein Prozeß also, der – wenn überhaupt, so jedenfalls nur als Gesamtresultante heterogener Mächte verstanden werden kann, die dauernd aufeinanderstoßen (Hartmann (1949b), 19).

According to Hartmann, a thinker must not refrain from expressing his doubts or difficulties. For this reason, he affirms that, because we are faced with a multistratified conception of history, it seems illusory to imagine that a complete description and analysis of the process is possible. This is because there are too many factors playing a role in the chains of events, with the consequence that the philosophy of history has a vast field of inquiry. Hartmann therefore asserts that we can continue to accept the mission of a metaphysics of history only if we renounce an unilateral interpretation of the process. However, we can make a categorical analysis of historical phenomena.

1. Epistemology and historicism Before undertaking this kind of analysis, Hartmann suggests discussing the model for philosophical treatment of the theme of history chosen by the majority of twentieth-century thinkers. This is the epistemological approach to historiography, which questions the possibility of obtaining solid and certain knowledge. However, the relationship between the metaphysics of history and epistemological thinking reproduces Hartmann’s typical difference between intentio recta and intentio obliqua (Hartmann (1921, 1935): looking at the sun is different from looking at its reflection. In a certain sense, the debate on the categories of history, in the form of a Kantian legacy, expresses a kind of methodological non-reductionism. The fundamental insight of Windelband, in fact, was his distinction between the natural sciences and historical sciences, thereby

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separating a research approach oriented to finding natural laws from the analysis of individual situations. Whilst in the natural sciences individuals are not important, and generalizations and laws are the real aim of scientific research, individuals are the principal object of historiography; however, in order to think about them, it is always necessary to resort to concepts. But, as Hartmann observes, it is impossible to represent “individual concepts” (Hartmann (1949b), 26 – 27). For this reason, the application of historiography in the sciences is still problematic today. In regard to this conceptual impasse, Wilhelm Dilthey propounded a hypothesis on intuitive understanding. Dilthey’s philosophy extends the dualism between nature and spirit from the epistemological point of view to the ontological one. For this reason, it is entirely inappropriate to consider history as a science in the sense of a conceptual construct. History, in Dilthey’s view, is determined by another kind of knowledge process: understanding, where, even if we continue to use concepts, their building depends on the internal structure of intuition. But Dilthey was never able to “codify” a method, because the real nature of this intuition is evanescent (Hartmann (1949b), 27). In general, according to Hartmann, also Dilthey’s interesting solution confirms that the methodological approach, especially in historical sciences, is an ambiguous procedure because every method is in fact inseparable from its object. It develops together with the inquiry, and thinkers can use it, but cannot use a set of objective procedures to explain what it is. For this reason, Hartmann observes that the methodological problem is a secondary problem. On the other hand, methodological inquiry in the twentieth century opened the way to historicism. The latter produces an argument which unifies the methodological perspective with the ontological one. Historicism opens new discussion about the historicity of the historical conscience itself. Even if the complexity of the work of historians may induce speculation as to the super-historicity of the scholar’s scientific instruments and methodologies, these too must be based on a pre-scientific historical consciousness which is founded on tradition. With the term “tradition” Hartmann refers to the synthesis of two concepts: 1) the direct tradition, which everyone can identify in their own experience and in the direct narratives that they receive in their lives;

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2) the consolidated tradition strictly connected with the social context in which it evolves, and which refers to styles of aggregation, kinds of monuments, public buildings, anniversaries and celebrations. Tradition, as a synthesis of these two elements, is regarded by Hartmann as the basis for a pre-scientific historical consciousness.

2. Towards a critical-ontological approach to history: Tradition and protraction From a phenomenological point of view, the foregoing rapid analysis of the relationship between philosophical thinking and historical research directs attention to the phenomenon of tradition. This point constitutes also the access point in the phenomenological analysis of the objective spirit. According to Hartmann, tradition is the phenomenon of a particular kind of determination, typical of the spiritual sphere, and which differs from causal determination and finalism. The phenomenon of tradition shows us how the past continues to exist into the present. And we must understand what this protraction (Hineinragen) means: Es ist danach also zu fragen, was es mit diesem „Hineinragen“ auf sich hat und wie überhaupt es beschaffen ist. Denn seine bloße Tatsache ist merkwürdig genug: es liegt in ihr eben doch, so widersprechend es klingen mag, ein Gegenwärtigsein des Vergangenen. Hier stehen wir offenbar vor einem Grundfaktor der Struktur geschichtlichen Seins, sofern er geschichtliches Werden und Geschichtsbewußtsein zugleich bestimmt (Hartmann (1949b), 34).

The past falls back in time, yet it somehow still lives in the present. We have here a building-above relation in the stratification of the categories of determination. As there is a stratification of the real world, so there is a stratification of the modes of determination. For Hartmann, all strata have a kind of determination, and the upper one respects the lower one, but it also comprises the novum, which, as already seen, makes it freer but at the same time weaker than its base. In short, if the “process” constitutes a common category, every level of reality exhibits a proper type of direction and strength in determination (Hartmann 1949c). Hence the inorganic world has causal (mechanical) determination, while the organic sphere has “vital” determination (it is very difficult to define this kind of process, because it is always confused with a sort of teleological tendency, but this is not the place to examine this problem).

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More complex and unclear is the definition of a psychic causality in Hartmann’s works, where it appears to be different from the personal will (Scognamiglio, 2011). Because spiritual being, as a form of subjectivity, distinguishes itself from objects, it is – like the psyche – placed in a situation, in a context of circumstances, but its response to its conditioning is qualitatively different from an obedience to natural laws. Freedom, as a teleological determination, emerges as a fundamental category of spiritual being. Moreover, this final determination has a causal foundation. Indeed, if the real world were not determined by mechanical consequentiality, every realization would be impossible because of the total range of possibilities. Instead, humans are able to produce artefacts because they can understand and manage causal chains. They also undertake a control function, because other unpredictable causes may occur and prevent realization. If an act of “looking ahead” can foresee the ends and predict the processes, the ways in which the resources realize the aims have to be conceived only through causality. The final process requires the causal one (Hartmann 1951). However, spiritual being cannot be totally explained in terms of free determination. Whilst personal being and production processes appear understandable in light of this category, this is not the case of social processes. Will and intentionality are indeed special processes of a personal being, but not so of a social structure. In social phenomena – as in history, tradition transmission, and communication – we can always discern determination processes which are not the results of free acts. As in the psychological case, social and historical determination is very “obscure”. Probably a group, a nation or a population, a culture, a language, cannot boast of free determination, because we know only the individual consciousness wherein lies the aim representation. However, tradition and social influences must have a role in individual deliberative choices, as they do in forms of ideas, sensibilities, habits, languages and so on. Then, in a dialectical system, we can argue that the determination processes in the human sphere depend on individual acts, but also that these acts are influenced through modification of the evaluative capacity. Indeed, on analyzing individual behaviour, choices and actions, we observe that these elements do not depend solely on personal dynamics of deliberation; rather, they are strongly (or totally?) influenced by social and historical factors, as well as by other inescapable environmental processes (Becker 1990). A person, in his/her behaviour, is a bundle of processes. We must always bear in mind the double function of physical

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and biological processes in a person’s body, but also in the antecedents of his/her behaviour. Moreover, before the emergence of freedom, we have to note all psychological dynamics, from instincts to emotions and cognitive processes, as well as social and historical transformations. As Leo Tolstoy understood and expressed in his epilogue to War and Peace (and Isaiah Berlin individuated specifically the philosophical outcome of this novel), the human being is always at a crossroads: from a scientific-rational point of view, it is impossible to admit to the existence of human freedom, because profound knowledge of an event requires knowledge of its conditions and causes. Instead, from a moral perspective it is unacceptable to deny freedom, because if we do not admit this concept, we cannot think of our own human nature (Tolstoy 2001; Berlin 1953). Something similar can be observed in Hartmann’s oscillation between the theories expressed in Ethik (or more strictly in Das Ethos des Persçnlichkeit) and the notes on the real process that he studied in Mçglichkeit und Wirklichkeit (Hartmann 1926, 1938, 1949a). However, Hartmann responds to this difficulty by asserting (albeit with some effort) the ontological truth of personal freedom (Scognamiglio 2010). Leaving aside this dilemma and returning to the phenomenological description of the historical processes, it is useful to analyze the phenomenon of the “protraction” of tradition, which is markedly different from the physical mechanism. In physics, Hartmann maintains, the cause disappears in the effect, and it becomes impossible, unless one knows the scientific law governing the phenomenon in question, to identify the cause from the effect. Instead, he emphasises, this does not occur in historical processes. In history we know, in a certain way, the origins of the present. Tradition is substantially the dynamic of protraction in itself. This kind of movement exists by virtue of two modes of being: (1) a tacit form and (2) a perceivable form. The former is the historical legacy which governs and influences us. We cannot control it and we are not completely aware of it. The content of the tacit form of tradition is something contemporary, but we can perceive in it the reference to something more original. This concept holds for all kinds of surviving traditions, from simple idioms to religious and philosophical intuitions: Es lebt in den Lebenden noch fort als das, was er war, – nicht unverändert, aber dem Wissenden wiedererkennbar. Das Vergangene ist hier noch gegenwärtig, aber unbemerkt, stillschweigend (Hartmann (1949b), 37).

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Otherwise, the perceivable protraction is the tradition that we can find in documents, monuments or signs. On superficial inspection, we can distinguish this form of tradition from the previous one, according to Hartmann, because of the strong presence of the objectified spirit in the perceivable tradition, and the centrality of the objective spirit in the tacit form. However, this distinction is not entirely correct. If we attentively follow Hartmann’s analysis of the internal dialectic in the spiritual being, we see that the objective spirit cannot be conceived without a living spirit that recognizes it. Moreover, the objective spirit is conveyed by a personal being, and it is always accompanied by a form of Objektivation. Thus, for a complex reason that cannot be explored here, we must always bear in mind that in Hartmann’s philosophy it is impossible, from a rigorous ontological perspective, to draw a distinction among the three moments of spiritual being. They are only three abstractions, three phenomenological sides of the same entity.3 This is obviously problematic. But it seems more problematic to conceive personhood as isolated from historical conditions, or artefacts as isolated from the living spirit. In this sense, the historicism movement was based on a true intuition. If tradition influences our pre-scientific consciousness, and there are periods in which tradition is held in major or minor account, then the historiographical approach is always defined by historical conditions. There are spheres of spiritual life in which tradition assumes an extraordinary importance. In moral customs, religion and in law, the heritage of the past is fundamental, and philosophy often resorts to its tradition as well (“so said Aristotle”, “so observed Kant”, etc.). Instead, in the case of technology or the economy, even though the tradition is important for progress, it does not take this element into account. For 3

Silvia Becker effectively defines this relationship thus: “Die drei Seinsformen des Geistes setzen die Schichtung der realen Welt allerdings nicht fort, d. h. sie überformen und überbauen einander nicht, sondern sie stellen eine ontische Einheit dar. Wäre beispielsweise der objective Geist einseitig vom personalen Geiste getragen, so müßte letzterer ja unabhängig von ihm existieren können. In Wirklichkeit liegt aber vielmehr ein Verhältnis des Aufeinander-Angewiesen-Seins vor. Ohne objektiven Geist könnte der personale gar nicht erst heranwachsen; ohne personalen Geist fiele der objektive in sich zusammen; ohne objektivierten Geist wäre jeglicher Geist in sich verschlossen, keiner könnte zum anderen kommen, sich dem anderen mittelien. Aus diesem Grunde müssen alle Geistesausprägungen dasselbe Getragensein von den unteren Schichten der realen Welt besitzen. Sie alle haben dasselbe Fundament und bilden dasselbe Überbauungsverhältnis” (Becker (1990), 21).

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this reason, the primacy of one or another of these spheres in a social context and in a historical period determines the relationship of the present with the past, and in this sense it influences also the conscience of the historian. However, Hartmann observes how this phenomenological digression on the nature of tradition generates the idea of something ahistorical in the historical process. In other words, not everything is changing in the becoming of events: Es gibt Bedingungen der Struktur des Geschichtsprozesses, die selbst keine geschichtlichen Bedingungen sind. Greifbar können solche Bedingungen nur in einer Betrachtung werden, die in anderer Dimension, gleichsam senkrecht zur Zeit ausschaut. Denn sie liegen in Wesensstrukturen (Hartmann (1949b), 43).

It is now evident that the concept of tradition plays an important role in the transition from a phenomenological point of view to the ontology of spiritual being. It contributes to overcoming historicism, and from another point of view it is a fundamental notion of that ontology as a distinctive nexus of determination. Thus far we have considered only one side of the question: that relative to the modes of determination. Tradition is a form of protraction of the past into the present, but this “past” must have a form and a content. We need in fact to specify what the content of tradition is. In Hartmann’s theory, it is constituted by the ablçsbaren Gebilden of the objective spirit: Sie sind ablösbar von der Person, deren Meinungen, Ansichten oder Anschauungen sie sind. Sie überdauern nicht nur innerlich im Geistesleben der Person den Akt, der sie hervortreibt, bleiben nicht nur für sie selbst in objektiver Ausgeformtheit gewonnener Meinungen bestehen, sondern können auch von Person zu Person weitergegeben werden, können in der Vielheit der geistigen Individuen fortwandern und sich zu einer Art Gemeinbesitz einer beliebigen Menge von Individuen auswachsen (Hartmann (1949b), 178).

This feature of the spiritual life distinguishes it from the psychic sphere of being. The living tradition is defined by the phenomenon of the Wandern of the spiritual contents among persons, and, if significant, through time and generations. In this way, the individual is not only a channel for the passage of spiritual contents, but also a being filled with them. The individual acquires through tradition the contents of the objective spirit, grows in them, and is strongly conditioned by them. This is the “law of tradition”:

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Übernehmen läßt sich nur, was „übergeben“ (tradiert) werden kann (Hartmann (1949b), 214).

This law expresses the idea of spiritual growth as a movement internal to the same spirituality. This growth is learning and acquiring. Consider, for example, the learning of a language. We master a language when the language takes hold of us and we are inwardly dominated by it. This holds, in general, for the phenomenon of tradition. For these reasons, we again observe how this topic is also decisive for the definition of a complete ethical thinking: what is a person? what is the Spielraum for freedom? Man defines himself through tradition, through the assimilation of the spiritual contents: Die Menschwerdung des Menschen […] steht nicht beim Einzelnen. Das widerspricht nicht der Tatsache, daß sie sich in jedem Einzelnen neu vollzieht. Denn in jedem Einzelnen ist sie der abgekürzte Prozeß er geschichtlichen Menschwerdung. Die Abkürzung eben ist das Übergeben und Übernehmen, das Hineinwachsen des Individuums in den geschichtlich gewordenen Geist (Hartmann (1949b), 290).

However, the originality of the individual follows from an important phenomenon in historical processes. Tradition, as the general form of the protraction of spiritual contents, affects the individual, but at the same time it requires him or her to take a position, to make a commitment, whatever the outcome of the individual’s will. In this way the historical process receives and produces impulses.

Literaturverzeichnis Becker (1990): Silvia Becker, Geschichtlicher Geist und politisches Individuum bei Nicolai Hartmann, Bonn. Berlin (1953): Isaiah Berlin, The Hedgehog and the Fox: An Essay on Tolstoy’s view of History, London. D’Anna (2011): Guiseppe D’Anna, “Der objektive Geist als Formgebung der Gemeinschaft. Die Geschichtsphilosophie Nicolai Hartmanns”, in: S. Wilke (Hg.), Moderne und Historizitt, Weimar, 166 – 176. Hartmann(1921): Nicolai Hartmann, Grundzge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin–Leipzig. Hartmann (1926): Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin. Hartmann (1935): Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin. Hartmann (1938): Nicolai Hartmann, Mçglichkeit und Wirklichkeit, Berlin. Hartmann (1949a): Nicolai Hartmann, “Das Ethos der Persönlichkeit”, in: Actas del Primer Congreso Nacional de Filosofia (Mendoza), I (1949), Universidad Nacional de Cuyo, 300 – 308.

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Carlo Scognamiglio

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Sphären der Geschichtlichkeit und ihre Kontexte bei Nicolai Hartmann Mirko Wischke Otto Liebmanns eindringlicher Hinweis auf die der Philosophie drohenden Gefahr, Paul Natorps beschwörende Worte, mit denen er der Philosophie einen drohenden Untergang voraussagt, und Wilhelm Windelbands Schilderung der dramatischen Situation der Philosophie legen in bewegten Worten eine Entwicklung dar, die für sie von der Problematik der Geschichtlichkeit ausgeht: Läuft für Liebmann die Philosophie Gefahr, zu einem „Gut historiographischer Darstellung“ zu werden,1 sagt Natorp der Philosophie einen drohenden Untergang in der Sogwirkung historischer Untersuchungen voraus2 und für Windelband bahnt sich angesichts des Relativismus des Historismus eine dramatische Situation für die Philosophie an.3 Im Sog der Tendenz eines theoretischen Selbstverständnisses, wonach Philosophie mit Geschichte der Philosophie zusammenfalle,4 drohe die Philosophie in Historismus und – in der Konsequenz – in Relativismus unterzugehen.5 Die Dramaturgie philosophischer Endstadien, wie sie Liebmann, Windelband und Natorp in unterschiedlicher Weise entwerfen, resultieren aus der Auffassung von Geschichtlichkeit, wie sie in den philosophiehistorischen Untersuchungen von Schülern Hegels ( J. E. Erdmann, E. Zeller und K. Fischer) anzutreffen ist, und der aus dieser Auffassung folgenden Konsequenz des Relativismus. Ersteres kritisiert Windelband angesichts der „Gefahr“, dass rein „historisches Philosophieren“ in „Historismus“ verfällt;6 letzteres ergibt sich aus dem Ansatz „historischen Philosophierens“, den Windelband als „historischen Em-

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Liebmann (1912), 223. – Diese Befürchtung findet sich u. a. auch bei Rickert (1931), 11. Natorp (1882), V. Windelband (1909), 92. So formuliert es Fischer (1912), 8. Zu dieser Konstellation vgl. Wischke (2001). Windelband (1907), 542.

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pirismus“ bezeichnet.7 Eine solche Charakterisierung stützt sich auf eine Prämisse, in der das methodische Paradigma „historischen Philosophierens“ zum Ausdruck kommt: Dass philosophische „Entwicklung […] aus […] vielen zusammenwirkenden Bedingungen“, wie z. B. die „Persönlichkeit der Philosophen, die Einwirkung der früheren Systeme auf die späteren, der Einfluß der allgemeinen politischen und Kulturzustände“ sich zusammensetzt, d. h. „Faktoren“, die sich ihrerseits aus „vielerlei Elementen“ zusammensetzen, wobei „der Anteil eines jeden an dem schließlichen Ergebnis […] bald ein größerer bald ein geringerer“ ist.8 Historisch „korrekt“, aber philosophisch problemlos ist eine solche Forschung laut Hartmann,9 weil man versuche, den geschichtlichen Zusammenhang der Philosophie in der Abfolge der einzelnen Denker und ihrer Lehren zu verorten,10 die in ihrer „historischen Tatsächlichkeit“ eine gegensätzliche und widerspruchsvolle Mannigfaltigkeit darstellen,11 deren chronologische Anordnung weder Kontinuität noch Entwicklung nachweisen lassen. Die an die umfangreichen philosophiehistorischen Untersuchungen von Hegels Schülern gerichtete Kritik, vergessen zu haben, „was Philosophie eigentlich“ sei,12 entzündet sich an der Diskrepanz zwischen philosophiegeschichtlicher Forschung, „Verfeinerung der Methoden“ sowie „zunehmende(n) Vorsicht der Interpretation“13 einerseits und der fehlenden rezeptiven Aufnahme sowie produktiven Fortführung andererseits, die Hartmann in der These zum Ausdruck bringt, Philosophie „lebt dem Vergangenen zugewandt“, „aber […] nicht von ihm“.14 Wie der letztere Aspekt – die fehlenden Aufnahme und Fortführung – deutlich macht, geht es Hartmann in seiner Kritik um mehr, als nur um den Vorwurf, vergessen zu haben, was Philosophie eigentlich sei. Es ist die Vorstellung von der Geschichtlichkeit des ,historischen Empirismus‘ (Windelband), die einen zweiten, zentralen Aspekt in Hartmanns Kritik bildet, erkennbar in der These, dass es nicht gilt, „über geschichtliche

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Windelband (1907), 532. Zeller (1888), 9. Hartmann (1957), 16. Zeller (1888), 7 f. Das wird hervorgehoben von Windelband (1907), 531. Hartmann (1957), 11. Hartmann (1957), 11. Hartmann (1949), 42.

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Bedingtheit und Relativität […] umzulernen, sondern über das, was sich in ihr erhält“.15 Mit der Prämisse, geschichtlich real sei nicht der „objektivierte“, sondern der „lebende“ Geist gibt Hartmann nicht nur Auskunft über das, was sich ungeachtet geschichtlicher Bedingtheit „erhält“; ersichtlich wird auch ein weiterer Aspekt in Hartmanns Kritik am „historischen Empirismus“: der der Reduzierung von Geschichtlichkeit auf die Objektivierungen „geistiger Gehalte“, die in den Forschungen des „historischen Empirismus“ als Strukturen des Geschichtsprozesses erscheinen. Objektivation sind „stets an ein Gebilde gebunden […], das als solches nicht geistiger Gehalt, geschweige denn geistiges Leben, sondern ein sinnlich wahrnehmbares, dingliches Realgebilde ist“.16 Für den historischen Empirismus sind das philosophische Werke, Biographien, Briefe und Zeugnisse von geschichtlichen Ereignisse: selbständige, „ontisch an sich seiende Realgebilde“, reale „Schichten“, die Hartmann vom „irrealen“ Hintergrund als dem „eigentlich geistige(n) Gehalt“ unterscheidet, der „nicht von selbständiger Seinsweise, sondern stets nur „für“ einen wiedererkennenden, lebenden Geist daseiend“ ist.17 Das Beispiel eines Werkes, das „vergessen im Staub einer Bibliothek schlummert“,18 veranschaulicht nicht nur die Aufgabe des Wiedererkennens, sondern legt auch eine tieferliegende Schicht an Hartmanns Kritik frei, der „historische Empirismus“ habe vergessen, was Philosophie sei: Wie im Zustand eines solchen Werkes lediglich das „Geschriebene als solches“ – in Hartmanns Terminologie der „objektivierte geistige Gehalt“– erhalten bleibe, so fixieren die Untersuchungen des „historischen Empirismus“ den geistigen Gehalt auf seine Objektivierungen. „Objektivierter Geist“, wie er uns in einem philosophischen Werk entgegentritt, ist laut Hartmann ein Gebilde mit zwei Schichten „von heterogener Seinsweise“: Eine „sinnlich-reale Schicht“, die „unabhängig vom auffassenden Geiste“ in einem „Realgebilde“ existiert, 19 und eine Schicht, die insofern irreal sei, als sie für den in diesem Gebilde im „Hintergrund“ fixierten „geistigen Gehalts“ steht.20 Im Zusatz, dass diese Schicht lediglich „für“ einen wiedererkennenden „Geist“ existiert, bringt 15 16 17 18 19 20

Hartmann (1957), 14. Hartmann (1949), 425. Hartmann (1949), 426. Hartmann (1949), 427. Hartmann (1949), 425. Hartmann (1949), 426.

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Hartmann zum Ausdruck, dass die „Spuren“ dieser Schicht „verschüttet und vergraben“ sind und bleiben können, wenn nicht der in dieser Schicht verborgene „geistige Gehalt“ wiederentdeckt, wiedergefunden und wiedererkannt wird.21 Hartmanns These stützt sich auf die Annahme, dass „Geschichte […] nicht ein bloßes Aufeinanderfolgen der Geschehnisse“ ist, sondern ein Zusammenhang, worin „das Vergangene nicht absolut vergangen und verschwunden, nicht durchaus tot ist, sondern im Gegenwärtigen noch irgendwie lebendig bleibt“: Die „Gegenwärtigkeit des Vergangenen“ ist „eine Art Erhaltung“, ein „Gegenwärtigbleiben […] des Gewesenen“;22 ein „Hineinragen des Vergangenen in die Gegenwart“.23 Die Untersuchung der „Gegenwärtigkeit des Vergangenen“ bildet den Kern dessen, was Hartmann unter Geschichtlichkeit versteht: die „Struktur und Seinsweise dessen, was im Geschichtsprozeß steht, d. h. dessen, was „Geschichte“ hat“.24 Bestätigt in seiner Annahme sieht sich Hartmann von den Systematikern, die er den Historikern unter den Philosophen gegenüberstellt; philosophische Systeme mit „Kartenhäuser des Gedankens“ vergleichend, die bei der „leiseste(n) Erschütterung […] zusammen stürzen“, würdigt Hartmann die Systematiker mit den Worten, im „Schutt der Systeme“ Probleme und Erkenntnisse wiedergefunden zu haben, die „sich im Kommen und Gehen der Systeme“ erhalten.25 Geht es den Historikern um „reines“ Wiedererkennen von „Gedankengut“, so lautet Hartmanns Fazit, richtet sich das theoretische Hauptaugenmerk der Systematiker auf die „Auseinandersetzung“ mit dem in den philosophischen Problemen sedimentierten „Gedankengut“.26 Durch die Integration der Philosophiegeschichte in den systematischen Zusammenhang der Philosophie tritt der Systematiker aus dem Schatten rein historischer Forschung, in den die Philosophie sich nach Hegels Tod gerettet zu haben schien. Auch wenn Systematiker dazu neigen, das Wiedergefundene umzudeuten, beweisen sie, dass historisches Philosophieren nicht in Historismus verfallen muss.

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Hartmann (1949), 37. Hartmann (1949), 34. Hartmann (1949), 35. Hartmann (1949), 42. Hartmann (1957), 4. Hartmann (1957), 16.

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I. Geschichtlichkeit als „Verdichtung des Denkens“? „Historische Tatsachen“ seien nicht nur Lehrmeinungen und Systeme, wie von den Systematikern zu lernen sei, sondern auch die sachlichen Probleme; allein auf sie treffe zu, was den Systemen abgesprochen werden müsse: Beständigkeit.27 In der „bunten Vielheit und Gegensätzlichkeit der Systeme“ sind die Grundprobleme „philosophischen Sinnens“ von Beständigkeit, weil zum einen „die Welt und das Leben dem Menschen dauernd dieselben Rätselfragen aufgeben“; beständig „in gleicher Ratlosigkeit“ hinsichtlich dessen dastehend, „was nicht in seiner Macht steht, dessen also, was er ,Zufall‘ nennt“, ist das „Nichtwissen“ des Menschen um das Zukünftige „unaufhebbar“.28 Wie Hartmanns Würdigung der Systematiker zeigt, lässt sich das, worin den Problemen Beständigkeit zukommt, zum anderen als Vorgang einer „Verdichtung des Denkens“ beschreiben,29 erfolgend in der zunehmenden Ausformulierung, gegebenenfalls Umwertung und veränderten Gewichtung einzelner philosophischer Probleme und ihrer jeweiligen denkgeschichtlichen Kontexte und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge (wie beispielsweise philosophischen Lehrstücken). Die eigentliche Aufgabe philosophischer Geschichtsforschung ist die Forcierung eben dieser Verdichtung,30 erfolgend in der rezeptiven Aufnahme und systematischen Fortführung von Fragestellungen, Problemen und Denkhorizonten. Diese Programmatik steht hinter der Forderung, dass die Forschung philosophischer Geschichte selbst Teil der Philosophie ist und demzufolge im systematischen Zusammenhang von Philosophie zu erforschen ist. Ein solches Programm hat seine indirekten Vorläufer in denjenigen Versuchen posthegelianischen Philosophierens, Kriterien für den „wissenschaftlichen Werth“ geschichtlicher Erkenntnisse der Philosophie zu finden, um mittels eines kritischen Vergleichs „das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Gehaltvolle vom gehaltlosen zu sondern“.31 Direkte Vorgänger hat ein solches Programm in neukantianischen philosophiehistorischen Untersuchungen, unter denen

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Hartmann (1957), 34. Hartmann (1949), 39. Lazarus (1862). Auf diesen Zusammenhang verweist Lembeck (1996), 169. Lazarus (1865), 18 f. Brandis (1835), 16.

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Paul Natorps viel diskutierte Platon-Monographie als „epochemachend“ gilt.32 Natorps Untersuchung über „Platos Ideenlehre“ (1903) ist eine „Verdichtung des Denkens“, die in der Prämisse zum Ausdruck kommt, dass der Wert philosophiegeschichtlichen Forschens darin besteht, einen Beitrag zur „Fortarbeit an eben dem geistigen Gute“ darzustellen, „dessen geschichtlicher Werdegang untersucht wird“.33 Man könnte meinen, dass diese Ansicht der Grund dafür ist, dass letztlich das Verdienst echten Wiedererkennens den Systematiken gebührt, wie Hartmann betont, und nicht den Historikern.34 Wie ambivalent diese Maxime jedoch ist, lässt sich an der Prämisse erkennen, die Natorp mit seiner These verbindet: dass es nämlich überhaupt keine sinnvolle Frage sei, nach dem zu fragen, wie es eigentlich gewesen ist, sondern darum, was an philosophiegeschichtlich Tradiertem mit neueren Auffassungen und daraus resultierenden Positionen korrespondiert bzw. kompatibel ist.35 Die deutliche Abgrenzung gegen den „historischen Empirismus“ (Windelband) sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Natorp und andere neukantische Autoren eine Tendenz fortführen, die bereits bei den sog. „Historikern“ (wie beispielsweise Brandis) insofern angelegt ist, als diese um Auswahlkriterien für die philosophiegeschichtliche Forschung bemüht sind. Dass unter Neukantianern Natorps Prämisse keine Ausnahme darstellt, lässt sich der Forderung von Heinrich Rickert entnehmen, dass nicht „die Vergangenheit unbefangen oder gar vollständig (zu) würdigen“ ist, sondern allein das aus ihr herauszuheben sei, „was für unsere Zwecke brauchbar ist“.36 Ein solcher Zweck ist die Geschichte der Philosophie, die Neukantianer wie Natorp insofern neu schreiben, als sie ihr theoretisches Hauptaugenmerk auf die Entwicklung des Erkenntnisproblems richten, was eine entsprechende Selektion zur Folge hat. Die Philosophie von Platon und Descartes als philosophische Meilensteine in der „Vorgeschichte“ der kritischen Behandlung des Erkenntnisproblems begreifend,37 tritt die Schwäche dieses Ansatzes hervor, wenn Natorp beispielsweise die Platonische Dialektik und Ideenlehre als autochthonen Idealismus interpretiert, der sich in die Vorgeschichte der 32 Gadamer (1986a), 228. Vgl. auch Gadamer (1986b), 91. 33 Natorp (1918), S. 426. Zu Natorps Verständnis von Philosophiegeschichtsschreibung vgl. Lembeck (1994). 34 Hartmann (1957), 16. 35 Natorp (1918), 426. 36 Rickert (1924), 12. 37 Natorp (1882), 1.

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Kantischen Transzendentalphilosophie einreiht. Mit dieser Auffassung steht Natorp unter Neukantianern keineswegs allein da: Prinzipielle Übereinstimmung herrscht in der Einschätzung des „erkenntnistheoretischen Charakter(s) der Platonischen Ideenlehre“,38 und nicht wenige Autoren teilen mit Natorp die Ansicht, dass von Platon die „schlechthin einfachste“ und „durchsichtigste Formulierung“ des Erkenntnisproblems stammt.39 In keinem anderen Werk ist jedoch das Ziel, Platon als einen Vorläufer in der kritischen Behandlung des Erkenntnisproblems darzustellen, so offen formuliert, wie von Natorp: In Platons Ideenlehre legt er die philosophiegeschichtlichen Wurzeln jenes kritischen Idealismus frei, als die der neue Kantianismus der Marburger Schule die kantische Transzendentalphilosophie auslegt. Mit Blick auf die Möglichkeit einer „Kontinuität sachlicher, methodischer Art“, die sich ergibt, wenn „über den Abstand der Zeit […] hinweg“ sich „unsere“ gegenwärtigen „Probleme […] im Denken früherer Zeitalter in anderer Gestalt wiederfinden lassen“,40 teilt Hartmann mit Natorp die Prämisse eines epistemologischen Fortschritts in der Geschichte der Philosophie, jedoch nicht in der Weise, dass die Wirkungsgeschichte notwendiger Weise Indizien der Weiterentwickelung und dergestalt ein höheres theoretisches Niveau hervorbringt. Der Zusammenhang zwischen dem philosophischen Systemgedanken und der Geschichtlichkeit beruht nicht auf der Prämisse eines epistemologischen Fortschritts schlechthin, da seine Kriterien durch die sachlichen Problemen vorgegeben sind, die „Gemeingut des lebenden Geistes“, d. h. des jeweiligen Philosophierens seien,41 und einem „ungeheure(n) […] Schatz“ gleichen, die die „Philosophie als Ganzes genommen […] mit sich“ wälzt.42 Im Unterschied zu Natorp sind diese Probleme weder allein rein erkenntnistheoretischer Natur noch ist die gegenwärtige Philosophie im Verstehen und in der produktiven Fortführung der Probleme davor geschützt, hinter dem, was sie dem Stand ihrer Entwicklung nach potentiell sein könnte, zurückzubleiben und gegebenenfalls sogar hinter dem Ertrag der ihr vorausgegangenen Philosophien zurückzufallen. Auch wenn Hartmann das Verhältnis der Philosophie zur eigenen Geschichte 38 Vaihinger (1876), 217. 39 So Bauch (1923), 308. Zur neukantianischen Platonrezeption vgl. Holzhey (1997). 40 Hartmann (1910), 461. 41 Hartmann (1949), 219. 42 Hartmann (1910), 478.

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als einen Prozess erklärt, den er mit einer Reihe von Stadien charakterisiert, schließt er nicht aus, dass Entwicklungsschübe philosophischen Denkens stagnieren, ausbleiben oder gar regressiv sein können. Wenn „wiedergefundene Problemansätze“ sich „weit über ihre historische Tatsächlichkeit hinaus“ als durchaus „fruchtbar“ für gegenwärtiges philosophisches Denken erweisen können,43 so sind frühere Formen des Nachdenkens über heute immer noch gegenwärtige Probleme keineswegs weniger entwickelt und komplex als heutige Denkformen. Ist die Geschichte der Philosophie kein eindimensional sich vollziehender Fortgang in der Erfassung und Vertiefung erkenntnistheoretisch relevanter Einsichten, ist eine „durchgängige Kontinuität“ nicht von der Prämisse abzuleiten,44 dass der „Keim aller philosophischen Probleme“ sich allein in seiner entwickeltsten Gestalt am angemessensten begreifen und beurteilen lässt,45 der erst hier zu „voller Klarheit“ gereift sei.46 Wie lässt sich die Annahme einer solchen Entwicklung – so ist mit Hartmann zu fragen – rechtfertigen, wenn doch diese Entwicklung generell in Phasen verläuft, beginnend damit, dass fast alle philosophischen Begriffe zunächst „zufällig im Rahmen ganz anderer, viel speziellerer Probleme“ auftauchen, von denen sie sich allmählich zu lösen beginnen, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie in andere Kontexte eingebunden werden.47

II. Philosophiehistorische Forschung in der Perspektive einer „Verdichtung des Denkens“ Das Zugeständnis, dass die Entwicklung der Probleme nicht geradlinig erfolgt, erbringt noch keine zufriedenstellende Antwort darauf, wie der Prozess philosophischer Erkenntnis mit der immer wieder erneut anhebenden Arbeit am Problembestand zusammen fallen soll, zumal der Aufsatz Der philosophische Gedanke und seine Geschichte den Eindruck von einer zeitlosen Unerschöpflichkeit der Probleme hinterlässt – ein Eindruck, der sich mit der im späteren Aufsatz Zeitlichkeit und Substantialitt (1938/39) getroffenen Behauptung verstärkt, dass die Probleme als „relativ beharrliche Substrate begrenzter Veränderungsprozesse“ begriffen 43 44 45 46 47

Hartmann (1910), 461. Natorp (1923), 25. Natorp (1891), 459. Natorp (1994), 463. Hartmann (1965), 332.

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werden müssten.48 Mit der Aufgabe, sowohl die einzelnen Probleme in der „Fülle des vorgegebenen Materials“ zu klassifizieren als auch die „Stadien ihrer systematisch-philosophischen Bewußtwerdung“ zu untersuchen,49 scheint Hartmann dem Missverständnis Vorschub zu leisten, dass systematisches Philosophieren sich mehr oder minder darin erschöpft, die zeitliche Abfolge der Probleme und deren jeweilige Ordnung zu rekonstruieren, d. h. aus den jeweiligen Systemen zu extrahieren. Wenn die Geschichte der Philosophie „nicht als Abfolge der Theorien und Systeme, sondern als die […] sachliche Fortarbeit an den immer wiederkehrenden Grundproblemen“ zu verstehen ist,50 „welches „Schicksal“ widerfährt diesem Problembestand, so daß man von seiner Geschichte sprechen könnte?“51 Wenn das begrenzte Veränderungsvermögen das Erklärungspotential für die Geschichtlichkeit von Problemen sein soll, inwiefern kann Hartmann dann seine Behauptung begründen, dass an den Problemen ein „stete(r) Gang fortschreitender Erkenntnis“ systematischen Philosophierens beobachtbar ist? 52 Um bei einer rezeptiven Aufnahme und systematischen Fortführung von Fragestellungen, Problemen und Denkhorizonten von einer „Verdichtung des Denkens“ zu sprechen, bedarf es bestimmter Kriterien für eben diese Verdichtung. Wie Natorps „epochemachende“ Platonuntersuchung zeigt, kann die „Verdichtung des Denkens“, als die Cohens Lehrer Moritz Lazarus die eigentliche Aufgabe der Geschichtsforschung beschreibt,53 ihren Gegenstand in der systematischen Struktur philosophischer Erkenntniskritik haben. Natorps Untersuchung macht das geschichtliche „Material“ an überlieferten Lehren der Platonischen Philosophie zum Ausgangspunkt der philosophischen Kritik, indem er die Geltung dieser Lehren zunächst am gegenwärtigen Entwicklungsniveau theoretischer Standards in der Philosophie misst, sodann überprüft und – als Konsequenz der Kritik und über diese hinausgehend – schließlich modifiziert und ausdeutet. Während Kritik und Modifikation in Natorps Platondeutung ineinander übergehen, sind sie bei Hartmann methodologisch strikt voneinander getrennt: Die Forcierung der Verdichtungsfunktion philosophiegeschichtlicher Forschung beginnt mit der Kritik und setzt sich in der 48 49 50 51 52 53

Hartmann (1938/39), 29. Oehler (1957), 523. Hartmann (1940), 71. Lembeck (1996), 168. Hartmann (1957), 4. Lazarus (1862).

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Deutung und Rekontextualisierung (Umdeutung, Modifizierung) fort. Die „Arbeit der Kritik“ ist keine „Destruktion“, sondern deren Gegenteil: „vorsichtige“ und „behutsame Kritik“, deren Aufgabe es ist, die „bleibenden Errungenschaften aus den Trümmern der spekulativen Gedankenbauten“ freizulegen und wiederzugewinnen.54 Hartmanns These, dass die Entwicklung philosophischer Probleme nicht geradlinig erfolgen kann, weil ihre „Materie […] weder einschichtig noch eindimensional“ ist,55 setzt die Verdichtungsfunktion philosophiegeschichtlicher Forschung voraus. Was Hartmann darlegt, wenn er seine Annahme von der nichtlinearen Entwicklung mit der sukzessiven Metamorphose der „sachlichen Probleme“ begründet, die zwar im „Denken verschiedener Köpfe und Zeiten unentwegt wiederkehren“ und ein lediglich begrenztes Veränderungsvermögen aufweisen,56 jedoch historische Stadien durchlaufen, in denen der Problembestand durch die Differenzierung der Problemstellung umgeprägt werden kann, ist gleichsam eine phänomenologische Beschreibung des Prozesses der „Verdichtung des Denkens“ – ohne dass vorerst erkennbar wäre, an was für Kriterien eine solcherart zu beschreibende „Verdichtung des Denkens“ zu messen wäre. Ob es bestimmter Kriterien für eine solche „Verdichtung“ bedarf, ist ein klärungsbedürftiges Problem, dem nachzugehen Klarheit darüber geben soll, unter welcher Voraussetzung Hartmann die Verdichtungsfunktion philosophiegeschichtlicher Forschung voraussetzen kann.

III. Die „Verdichtung des Denkens“ und seine Voraussetzungen Um das im philosophischen Werk involvierte Gedankengut nicht von der „Realität des lebenden Geistes“ auszuschließen,57 bedarf es eines „Wiedererkennen(s) des geistigen Gutes“, und indem philosophisches Wissen durch Wiedererkenntnis Gemeingut aktueller Diskussionszusammenhänge wird, vollzieht sich die Wiedererkenntnis als Teil der Tradierung. Diesen Vollzug verdeutlicht Hartmann mit der Präzisierung des Wie-

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Hartmann (1940), 72. Hartmann (1957), 3. Hartmann (1957), 21. Hartmann (1949), 427.

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dererkennens als Prozess „nachträglichen Aufsammelns“,58 und zwar des „geschichtliche(n) Gut(s)“, das aufgrund fundamentaler Problemverschiebungen „nicht jederzeit sicher als solches (zu) erkennen“ ist.59 Fundamentale Problemverschiebungen erfolgen in unmerklicher Differenzierung, Aufspaltung und „Kreuzung“, vergleichbar einer Metamorphose, und finden dort statt, wo sich „Problemlinien vereinigen und in dieser Vereinigung neue, bisher unbekannte Problemeinheiten ergeben, oder auch umgekehrt, wo bisher ununterschiedene Probleme sich differenzieren“.60 Inwiefern Hartmann mit der Metamorphose, Vereinigung und Differenzierung von Problemeinheiten der Spontaneität philosophisch neuartiger Denkhorizonte und –wege geschichtstheoretisch Rechnung trägt, wie sie sich beispielsweise bei der „Verdichtung des Denkens“ durch die Transkribierung zentraler Begriffe ergeben können, wird im Kontext der Ausführungen zur Philosophie des Geistes deutlich, wie sie sich in der Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften (1932) finden. Geistphilosophisch besteht die Bedeutung des Wiedererkennens darin, eine bestimmte Art von „Gegenleistung“ darzustellen, auf die das „Fortbestehen des objektivierten Geistes stets […] angewiesen bleibt“, soll der „geistige Gehalt der Objektivation“ nicht „ungehoben“ bleiben, sondern durch den „lebende Geist“ wieder „zum Leben“ erweckt werden.61 Die Wiedererkenntnis umfasst das Wiederfinden und Wiedererschauen des in Schriften und anderen „geformten Gebilden“ sedimentierten ,geistigen Guts‘,62 das das Wiedererkennen jeweils in „bestimmter Weise“, d. h. geschichtlich wahrnimmt.63 Auf diese Weise ist im Wiedererkennen das Vergangene präsent, ohne das es den Abstand von Einst und Jetzt überwindet: Denn „geschichtlich real ist nur der lebende 58 Hartmann (1957), 12. Im Neukantianismus finden sich unterschiedliche Auslegungen der platonischen Lehre von der Wiedererkenntnis (Anamnesis). So deutet Liebmann (1912, 56) diese Lehre als Initiierung eines Denkprozess, der ein „aus Fragen und Antworten zusammengeketteter Monolog“ ist. Natorp (2000, 371) hebt die Bedeutung des Vollzugs der Sprache bei der Wiedererkenntnis hervor, und zwar im Sinne des „Unterredens“ und „Verständigens“ in Form des Fragens und „Antwort-Gebens“. Zu den Differenzen in der Auslegung der platonischen Anamnesislehre bei Natorp und Hartmann vgl. Wischke (2003). 59 Hartmann (1949), 42. 60 Hartmann (1958), 16. Die Hervorhebung findet sich nur in Hartmann (1910), 478. 61 Hartmann (1949), 423. 62 Hartmann (1949), 423. 63 Hartmann (1949), 420.

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Geist“,64 d. h. das von Vergangenem, was in Gebilden „objektivierten Geistes“ an geistigen Gut wiedererkannt wird; der „Gegenstand der Erinnerung“ ist das Vergangene, das in der Erinnerung, wenn es mit dem Wiederkennen ins Licht der Gegenwart gerückt wird, kein „Vergangenseiendes“ mehr ist.65 Das Wiedererkennen, das die „sachliche Fortarbeit an den immer wiederkehrenden Grundproblemen“ und den in ihnen mehrschichtig sedimentierten Erkenntnissen und Wissensgehalten voraussetzt,66 bezieht sich in zweifacher Weise auf Erinnerungen: auf „vernehmliche“ Erinnerungen und auf „unvernehmliche“, stillschweigende Erinnerungen. Einerseits halten Erinnerungen fest, was in die Gegenwart „vernehmlich“ hinein ragt, und zwar all das, was in „Spuren“ fortlebt, d. h. „nur noch durch gegenständliche Vergegenwärtigung“ in die Gegenwart hineinragen kann: das „vernehmliche Hineinragen“, wie es in dieser Art von Erinnerung anzutreffen ist, bezeichnet „das Gegenwärtigsein des Vergangenen im Vergangenheitsbewusstsein der Gegenwart“.67 Andererseits halten Erinnerungen auch das fest, „was noch vom Ehemaligen in uns lebendig ist, uns anhaftet oder uns beherrscht“ und „als gegenwärtig empfunden“ wird: Das Vergangene ist in solchen Erinnerungen „stillschweigend“ gegenwärtig, wenn auch nicht unverändert, so doch wiedererkennbar.68 Beide Formen von Erinnerung und der in ihnen in unterschiedlicher Weise erfolgenden Tradierung bilden die Voraussetzung, unter der Hartmann die Verdichtungsfunktion philosophiegeschichtlicher Forschung voraussetzen kann. Dass sich die „Verdichtung des Denkens“ als eine Tradierung von wiedererkanntem „geistigen Gut“ darstellt, ist mit Blick auf die erste Art von Erinnerung damit zu rechtfertigen, dass Vergangenes oftmals nur noch in Spuren fortlebt und in der Erinnerung an solche Spuren einer Selektion unterliegt. Mit Blick auf die zweite Art von Erinnerung ist die „Verdichtung des Denkens“ insofern eine Tradierung von Wissen, als Modifikationen und Differenzierungen sowie 64 65 66 67 68

Hartmann (1949), 423. Hartmann (1938/39), 7. Hartmann (1940), 71. Hartmann (1949), 36. Hartmann (1949), 35 f. Laut Hartmann (1949), 35, gilt das „ebenso für Sprachund Denkformen, von Anschauungen (etwa religiösen oder weltanschaulichen Dingen), von moralischen, rechtlichen, politischen Tendenzen, von Ideen und Wertungen, von Vorurteilen und Aberglauben. Bei alledem denkt im praktischen Leben niemand daran, woher es stammt.“

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radikale Umprägungen früherer Wissensformen vorausgesetzt werden müssen, wenn diese stillschweigend in gegenwärtigen Denkkontexten präsent sein sollen. Um darin jedoch stillschweigend präsent zu bleiben, muss wiedererkanntes „geistiges Gut“ für andere Denkkontexte anschlussfähig sein bzw. diesen Kontexten erschlossen werden. Dazu bedarf es der umgestaltenden „Kraft des lebenden Geistes“, „das Alte […]umzugestalten“, optimal mittels einer „Umgestaltung von innen heraus“69 – was nicht ausschließt, dass einzelne Aspekte dominieren oder „zurücktreten und gleichsam „verschwinden“ können.70 Wird diese umprägende Kraft auf die Wiederkenntnis und der in ihr und mit ihr erfolgenden Tradierung „geistigen Guts“ zurückbezogen, öffnet sich der Blick auf den in der „Verdichtung des Denkens“ sich vollziehenden „geschichtliche(n) Wandel“.71 Umgestaltend ist die ,Kraft des lebenden Geistes‘ in der Umprägung des Problembestands durch die Differenzierung der Problemstellung(en). Dieser Vorgang lässt sich zunächst so verstehen, dass im Wechselspiel von tradierten Problemen und neueren Problemlösungen, Antworten und Fragen die Philosophie Impulse für neuartige Diskussionszusammenhänge aufnimmt, in denen tradierte Fragestellungen den theoretischen Blick auf neuartige Phänomene freigeben und bisherige Lösungsansätze umformuliert werden, um sie anschlussfähig an neuere Diskussionszusammenhänge und deren Fragestellungen zu machen. Unter dieser Voraussetzung kann das, was sich „als ein Vergangenes“ in der Philosophie „aufbewahrt“,72 als der Anfang „einer anderen Entwicklung“ angesehen werden.73 Die Umprägung des Problembestands durch die Differenzierung der Problemstellung(en) kann freilich auch in Form einer Applikation des Interpretationshorizonts auf (kanonisierte) Texte „älterer“ Philosophien erfolgen, wodurch im philosophiegeschichtlichen Rückblick lediglich das wahrgenommen wird, was aus der Perspektive des eigenen Philosophie- und Problemverständnisses relevant ist (so in Natorps erwähnter Untersuchung), kaum jedoch das, was in früheren, vergangenen Denkformen an fremd gewordenen Gedanken involviert ist, die vergessen wurden und nunmehr fremd und vielleicht auch unverständlich wirken. 69 70 71 72 73

Hartmann (1949), 37. Hartmann (1940), 22. Hartmann (1949), 37. Hegel (1996), 61. Hegel (1996), 45.

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Wie die zweite Lesart der Umprägung des Problembestands durch die Differenzierung der Problemstellung(en) deutlich machen soll, kann bei einer rezeptiven Aufnahme und systematischen Fortführung von Fragestellungen, Problemen und Denkhorizonten die „Verdichtung des Denkens“ ambivalente Züge annehmen. Nicht auszuschließen ist, dass solche Züge die Umprägung des Problembestands auch in der ersten Lesart annehmen kann, wenn es um die Anschlussfähigkeit an neuere Diskussionszusammenhänge geht. Diese Ambivalenz nimmt Hartmann nicht als problematisch wahr, weil sie im Schatten der Voraussetzung steht, unter der die Philosophiehistorie in der Perspektive einer „Verdichtung des Denkens“ von ihm wahrgenommen wird – eine Perspektive, die hegelianisch fokussiert ist. Der Wechsel der philosophischen Tradition von „vernehmlich“ in „stillschweigend“ gegenwärtig, wie er für philosophiehistorische Untersuchungen neukantianischer Autoren wie Natorp charakteristisch ist, setzt den Bruch mit überlieferten philosophischen Denkformen voraus. Ungebrochen leben philosophische Traditionen nur in der Weise fort, dass einzelne Aspekte ebenso dominieren wie anderen „verdeckt“ werden bzw. „zurücktreten und gleichsam „verschwinden“, um später „nach und nach […] ins Licht gerückt“ zu werden.74 Philosophiehistorisch besteht die Annahme, unter der Hartmann eine Verdichtungsfunktion des Denkens voraussetzen kann, darin, dass die Philosophie das geistige Erbe ihrer Traditionen weniger dadurch vermehrt, dass sie etwas Neues hinzufügt, als vielmehr dadurch, dass sie Altes durch die Bearbeitung des überlieferten Materials an Untersuchungen und der Umbildung von Elementen dieses Materials verändert.

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IV. Nicolai Hartmann im Gespräch – Was bleibt?

Zur Aktualität der Ontologie Nicolai Hartmanns Daniel Dahlstrom „Schichtung“ ist freilich ein verfängliches Bild Heidegger, 19271

Nach vielen Jahren der Vernachlässigung gibt es Anzeichen eines Wiederauflebens der ontologischen Untersuchungen. Ich teile mit anderen die Meinung, dass die vernachlässigte Ontologie Hartmanns, insbesondere seine Lehre der Seinsschichten theoretische Schwerpunkte dieser Renaissance der Ontologie vorwegnimmt und – noch wichtiger – dass seine ontologische Denkweise einen wesentlichen Beitrag zu heutigen ontologischen Untersuchungen leisten kann. Gründe dafür vorzulegen und damit die unverminderte Aktualität der Ontologie Nicolai Hartmanns klarzumachen, ist der Hauptzweck der folgenden Überlegungen. Ich habe meine Betrachtungen in fünf Abschnitte aufgeteilt. (1) Der erste Abschnitt enthält eine Skizze der Themen „Supervenienz“ und „Emergenz“, die eine erhebliche Rolle in der heutigen Wiederbelebung der Ontologie im anglo-amerikanischen Sprachraum spielen. (2) Der zweite Abschnitt zeigt, inwieweit diese Themen von Hartmann selbst ausgearbeitet wurden. Ich glaube, dass er einen ergiebigeren Ansatz zu ontologischen Fragestellungen anbietet als einige der gegenwärtigen Versuche. (3) Im dritten Abschnitt fasse ich einiges, was wir von Nicolai Hartman lernen können, zusammen. (4) Der vierte Abschnitt ist ein Versuch, einen zeitgenössischen Vorwurf gegen Hartmanns Auffassung der Seins-Schichten zu entkräften. (5) Zum Schluss erwähne ich vier Bedenken zur Ontologie Hartmanns, die meines Erachtens nicht entkräftet werden können.

1

Heidegger (1975), 396.

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I. Supervenierende Emergenz Im anglo-amerikanischen Sprachraum stammt die Rede von „Emergenz“ aus den Untersuchungen C. D. Broads in den zwanziger Jahren. In einer maßgebenden Analyse des Begriffes „Emergenz“ unterschied Broad zwischen „emergenten“ und „reduzierbaren“ Eigenschaften. Lässt die Eigenschaft eines Dinges sich allein aus denjenigen Gesetzen erklären, unter die dessen Teile stehen, dann ist sie eine „reduzierbare“ Eigenschaft. „Emergente“ Eigenschaften sind dagegen diejenigen, die sich solchen Gesetzen nicht unterordnen lassen. M.a.W., die Bestimmung der „emergenten“ Eigenschaft eines Dinges geht über die Bestimmungen aller Eigenschaften der Teile hinaus.2 Diese Schilderung der Emergenz ist eher erkenntnistheoretisch als ontologisch. Deswegen liegt die Vermutung nahe, dass das, was man für „emergent“ hält, bloß vom heutigen Zustand der wissenschaftlichen Forschung bzw. vom gegenwärtigen Mangel an entsprechenden reduktionistischen Erklärungen abhängt. Bei einem derartigen erkenntnistheoretischen Begriff der Emergenz handelt es sich um eine Frage des Wissens, nicht des Seins. Um den ontologischen Sinn der „Emergenz“ deutlich zu machen und ihn damit von jedem nur erkenntnistheoretischen Begriff zu unterscheiden, hat man den Begriff einer supervenierenden Emergenz eingeführt.3 Der Grundgedanke ist – nach wie vor – der alltägliche Unterschied zwischen Seinsschichten, z. B. zwischen einem bloßen Haufen von Dingen oder Eigenschaften und einem mehr oder weniger „organisierten Wesen“.4 Obwohl ein organisiertes Ding nicht ohne Teile vorhanden ist, besteht es nicht einfach aus der Summe aller Eigenschaften und Verhältnisse der Teile oder aus dem Inbegriff der Teile. Bei einem jeden solchen Ding gibt es zumindest eine Eigenschaft, die verglichen mit den Eigenschaften von dessen Teilen „neu“ ist. Dementsprechend gibt es neue Gesetze, unter denen das Ding einer höheren Seinsschicht zugehört. Einerseits gründen sich die der höheren Seinsschicht geeigneten Gesetze auf den Gesetzen der niederen Seinsschicht; andererseits betreffen sie Sachverhalte, die den Gesetzen der niederen Seinsschicht fehlen. Wenn es Emergenz in diesem starken, d. h. ontologischen Sinne gibt, dann nehmen die Gesetze der emergenten Seinsschicht Ursachen und Wirkungen 2 3 4

Broad (1925), 61. McLaughlin (1997), 38 f. Kant (1968), 372 – 377.

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in Anspruch, die außerhalb der Reichweite der Gesetze der niederen Seinsschicht liegen. Um diese Struktur präziser zu machen, verwendet man den Begriff von („synchronischer“) Supervenienz. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts haben anglo-amerikanische Philosophen die theoretische Bedeutung des Begriffes „Supervenienz“ zum Zweck von dessen Anwendung auf verschiedenen Gebieten erarbeitet. Donald Davidsons Behauptung, dass psychische Eigenschaften auf irgendeine Weise von physischen Eigenschaften abhängig sind oder dass sie über den physischen Eigenschaften „supervenieren“, ist ein Beispiel für diese Ansicht, das von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit ist.5 Nur mit einer Änderung in einer physischen Hinsicht kann sich etwas in einer psychischen Hinsicht ändern: Darin liegt die Grundidee der Supervenienz. Dieser Sinn von „Supervenienz“ lässt sich anhand des Beispiels eines modernen Bildschirms erläutern.6 Das schärfere Bild eines hochauflösenden Fernsehers – im Vergleich zum Bild der alten analogen Fernsehgeräte mit PAL [PhaseAlternation-Line] – geht auf mehrere Faktoren zurück: gesteigerte Pixelzeilen, diejenige Bildquelle, die eine entsprechende Auflösung übermittelt usw. Man kann deshalb sagen, dass insofern das Fernsehbild von derartigen Faktoren abhängt, das Bild über ihnen superveniert. Ein anderes Beispiel wäre, wenn man behauptet, dass moralische bzw. psychische Eigenschaften über gewissen neuronalen Eigenschaften bzw. über Eigenschaften der neurologischen Ereignisse und Zuständen des Gehirns supervenieren. Das Beispiel des Fernsehbildes zeigt eindeutig, dass der Begriff Supervenienz im Allgemeinen sich per se keineswegs mit dem Begriff der ontologischen Emergenz deckt.7 Das Bild und seine Komponenten stehen ohne Ausnahme unter denselben Gesetzen. Die Eigenschaften und Verhältnisse des Bildes werden von denselben Gesetzen geregelt, die auch dessen Teile regulieren. Die Notwendigkeit von solcher Supervenienz beruht darauf, dass die supervenierenden Eigenschaften (hiernach: „SEigenschaften“) und die Grundeigenschaften (hiernach: „G-Eigenschaften“) sich unter derselben Gesetzmäßigkeit einordnen lassen. Man findet allerdings zwei Auffassungen der Supervenienz in der gegenwärtigen Diskussion. Einer Auffassung zufolge drückt Supervenienz bloß aus, dass die G-Eigenschaften die S-Eigenschaften bestimmen. 5 6 7

Davidson (1980), 214; vgl. auch Hare (1952), 145. Lewis (1986), 14; Lewis (1999), 294. Humphreys (1997), 337 – 345.

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James van Cleve fasst dies wie folgt zusammen: „keine S-Unterschiede ohne G-Unterschiede“.8 Formelhaft ausgedrückt: Wenn x und y gewisse gemeinsame G-Eigenschaften besitzen, dann haben sie auch gewisse gemeinsame S-Eigenschaften; oder kürzer: wenn G-Eigenschaften, dann S-Eigenschaften. Dieser Begriff der Supervenienz lässt sich auch wieder am Beispiel des Fernsehbildes verdeutlichen. Gewisse G-Eigenschaften wie die Anzahl der Pixelzeilen oder die Lichtquelle z. B. bestimmen die Eigenschaften des Bildes. Wenn physische Eigenschaften mentale Eigenschaften auf eine ähnliche Weise bestimmen, dann supervenieren die mentalen Eigenschaften über den physischen Eigenschaften als die G-Eigenschaften. Obwohl die eben geschilderte Auffassung der Supervenienz (also: wenn solche G-Eigenschaften, dann die entsprechenden S-Eigenschaften) heute weit verbreitet ist, hat man auch gemerkt, dass sie nicht hinreicht, ein zentrales Element des geläufigen bzw. intendierten Sinnes von „Supervenienz“ wiederzugeben.9 Das fehlende Element ist die Abhängigkeit der S-Eigenschaften von den G-Eigenschaften. Dank der determinierenden Formulierung bestimmt die G-Eigenschaft eine S-Eigenschaft; doch aus dieser Formulierung folgt nicht, dass es eine entsprechende S-Eigenschaft geben muss bzw. dass die S-Eigenschaft von der G-Eigenschaft abhängt. Um dieses Defizit aufzuheben, wird „Supervenienz“ auf folgende Weise definiert: Supervenienz: Wenn x die Eigenschaft A bekommt, dann (a) gibt es eine Eigenschaft B, die auch x hat, und zwar so, dass (b) – notwendigerweise – wenn irgendetwas die Eigenschaft B besitzt, dann besitzt es auch die Eigenschaft A.

Diese Definition schließt die Auffassung von Supervenienz als bestimmendes Verhältnis ein; darüber hinaus bestimmt sie Supervenienz aber auch eindeutig als ein Abhängigkeits-Verhältnis. Also superveniert die Eigenschaft A (= S-Eigenschaft) über der Eigenschaft B (= G-Eigenschaft), weil die S-Eigenschaft von der G-Eigenschaft abhängt. Supervenieren mentale Eigenschaften über physischen Eigenschaften in diesem Sinn, dann hängen die mentalen Eigenschaften von den sie bestimmenden physischen Eigenschaften ab. Dabei stellt sich die Frage nach Art der Abhängigkeit oder der Notwendigkeit, die hier stattfindet. In diesem Zusammenhang unter8 9

van Cleve (1990), 226; McLaughlin (2005), 1. van Cleve (1990), 225 – 238; Yoshimi (2007), 118.

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scheidet man zwischen metaphysischer Notwendigkeit und nomologischer Notwendigkeit. Dabei kommt es darauf an, ob die Supervenienz in jeder möglichen Welt oder nur in unserer Welt notwendig ist. So scheint es z. B. metaphysisch notwendig, dass die Fläche einer Kugel über deren Volumen superveniert. Dies deshalb, weil man sich keine Welt vorstellen kann, in der dieses Verhältnis nicht gilt. Dagegen ist es nomologisch notwendig, aber metaphysisch kontingent, dass Boyles Gesetz gilt, d. h. dass das Volumen eines Gases im umgekehrten Verhältnis zum Druck steht, der auf das Gas ausgeübt wird. Wir können uns eine Welt vorstellen, in der das Volumen eines Gases über dessen Druck nicht superveniert. Anhand der eben geschilderten Auffassung der Supervenienz als einer nomologischen Notwendigkeit lässt sich der ontologische Sinn der „Emergenz“ weiter präzisieren. Dabei setze ich mit Broad voraus, dass Emergenz ein mereologischer Begriff ist. Ich verstehe also die emergente Eigenschaft (E-Eigenschaft) als eine Eigenschaft eines Ganzen und als eine S-Eigenschaft. Das Verhältnis der S-Eigenschaften zu den G-Eigenschaften ist also eingeschränkt, insofern die in Frage kommenden SEigenschaften zugleich auch Eigenschaften des Ganzen sind. Supervenierende Emergenz: A ist genau dann eine emergente Eigenschaft, wenn erstens A eine Eigenschaft eines Ganzen ist, zweitens A eine S-Eigenschaft ist, die über den Eigenschaften der Teile dieses Ganzen auf eine nomologische Weise superveniert und drittens es einige Gesetze gibt, die sowohl A als auch die Verbindung der Eigenschaften der Teile mit A bestimmen, die aber nicht zu denjenigen Gesetzen gehören, die die Teile bestimmen. Das heißt, einige Gesetze der Verbindung der Eigenschaften der Teile mit den Eigenschaften des Ganzen sind Grundgesetze (Gesetze, die sich aus keinen anderen Gesetzen ableiten lassen).

Einerseits besagt die hier geschilderte supervenierende Emergenz, dass die E-Eigenschaft von Teil-Eigenschaften abhängt. Andererseits aber sind diejenigen Gesetze, welche die Verhältnisse der Teile unter sich regeln, nicht hinreichend, um entweder die E-Eigenschaften oder ihre Verhältnisse zu den Eigenschaften der Teile zu erklären. Dazu benötigt man andere Gesetze, und zwar Grundgesetze, die aus den die Teile bestimmenden Gesetzen nicht herzuleiten sind. Hier wird Emergenz als diejenige Art der supervenierenden Eigenschaft aufgefasst, die von den Grundeigenschaften abhängen, die sie determinieren, wenn auch nur teilweise.

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II. Schichtung, Novum und Dependenz Im Aufbau der realen Welt versucht Hartmann Fundamentalkategorien, d. h. diejenigen Kategorien, die „die einheitliche Grundlage der gesamten realen Welt“ bilden, aufzustellen. Da es allerdings verschiedene Sphären des Seins gibt, deckt sich die kategoriale Gesamtmannigfaltigkeit nicht mit der realen. Es gibt zwar eine ideale Sphäre „sowohl des Mathematischen als auch der Wesenheiten und Werte“, die „das natürliche Gegenstück der Kategorien [des Realen]“ bildet; doch bleibt die Kluft zwischen jener idealen Seinssphäre und der realen unüberbrückbar.10 Auch die sekundären Sphären des Logischen sowie des Erkenntnistheoretischen sind in die Schichten des Realen „eingeordnet“.11 Man kann also sagen, dass die reale Seinssphäre für Hartmann in gewisser Weise vorrangig ist. Dazu unterscheidet er drei Gruppen der Fundamentalkategorien: Modalkategorien, Elementarkategorien und kategoriale Gesetze. Seine Bearbeitung der dritten Gruppe – „der eigentliche Schwerpunkt der allgemeinen Kategorienlehre“12 – ist für unsere Zwecke die wichtigste, und zwar weil sie sich mit dem oben dargestellten Begriff der supervenierenden Emergenz weitgehend überschneidet. Hartmann fasst die Welt als eine Einheit, nämlich die Einheit eines Systems, auf; „aber das System ist ein Schichtensystem“.13 Dementsprechend entwirft er ein Bild des Schichtenbaus der Welt, „und zwar als eine Überlagerung von vier Hauptschichten“14 : physische, organische, seelische und geistige Seinsschichten. Schon in seiner vorläufigen Darstellung der Lehre von „Schichten“ ist die Ähnlichkeit mit der supervenierenden Emergenz unverkennbar. Zu jeder höheren Schicht „gehört eine gewisse kategoriale Selbständigkeit […], aber auch stets Abhängigkeit von der tragenden niederen Schicht“.15 Worauf es hier ankommt, ist „das Einsetzen neuer Gesetzlichkeit und kategorialer Formung, zwar in Abhängigkeit von der niederen, aber doch in aufweisbarer Eigenart und Selbständigkeit gegen sie“.16 Die kategorialen Gesetze sollen „die Überlagerung der Real10 11 12 13 14 15 16

Hartmann (1964), 49. Hartmann (1964), 191. Hartmann (1964), 188. Hartmann (1964), 182. Hartmann (1964), 181. Hartmann (1964), 183. Hartmann (1964), 182.

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schichten, einschließlich des eigenartigen Wechselspiels von Abhängigkeit und Selbständigkeit, klären“.17 Hartmann erklärt dieses Wechselspiel besonders bei zwei Gruppen der kategorialen Gesetze, nämlich bei der Gruppe der kategorialen Schichtung und bei der kategorialen Dependenz. Diesen Gesetzen gemäß sind „Kategorien der niederen Schichten […] weitgehend in den höheren enthalten, aber nicht umgekehrt diese in jenen“.18 Die Kategorien der niederen Schichten kehren – auf eine mannigfaltig abgewandelte Weise („das Gesetz der Abwandlung“) – in den höheren wieder, aber nicht umgekehrt („das Gesetz der Wiederkehr“). Diese Wiederkehr gestaltet sich so, dass die niederen Kategorien entweder Teile der höheren Schicht sind oder dass sie die höhere Schicht nur bedingen. Dementsprechend unterscheidet Hartmann zwei Überlagerungsverhältnisse: das Überformungsverhältnis, nach dem niedere Gefüge als Elemente in die höheren eingehen (wie zum Beispiel ein Molekül als ein Gefüge der physischen Seinsschicht in organischen Gefügen wiederkehrt) und das Überbauungsverhältnis, nach dem die höhere Schicht auf der niederen Stufe beruht, doch deren Material hinter sich lässt (wie zum Beispiel das Seelische auf den räumlichen Formen des Organischen beruht, ohne diese Formen als Elemente in sich aufzunehmen).19 Insofern die höhere Schicht von der sie bestimmenden niederen Schicht in jedem Fall abhängt, bilden die Überlagerungsverhältnisse – Überformung so wie Überbauung – zwei mögliche Arten der Supervenienz. Dass Hartmann dabei so etwas wie der heutige Begriff der „Supervenienz“ vorgeschwebt haben muss, wird noch klarer, wenn man seine Dependenzgesetze miteinbezieht. Das zeigt sich vor allem durch die Dependenzgesetze der „Stärke“ so wie der „Indifferenz“. Die niederen Schichten sind „stärker“, indem die höheren Schichten sie voraussetzen, aber nicht umgekehrt. Den höheren Schichten gegenüber sind sie übrigens „indifferent“, weil sie sich gleichgültig gegen alle Überformung und Überbauung verhalten.20 Der ontologische Entwurf Hartmanns nimmt also den heutigen Begriff der Supervenienz vorweg. Der Begriff der Emergenz lässt sich ebenso eindeutig in seiner Theorie wiederfinden. Hartmanns Ontologie kennt es als das „Novum“, wie es sich in seiner Formulierung des Gesetzes des Novums findet: 17 18 19 20

Hartmann (1964), 188. Hartmann (1964), 431. Hartmann (1964), 441 f. Hartmann (1964), 471 f.

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Auf Grund der Wiederkehr [der Elemente] ist jede höhere Kategorie aus einer Mannigfaltigkeit niederer Elemente zusammengesetzt. Aber sie geht niemals in deren Summe auf. Sie ist stets noch etwas darüber hinaus: sie enthält ein spezifisches Novum, d. h. ein kategoriales Moment, das mit ihr neu auftritt, das also weder in den niederen Elementen noch auch in deren Synthese enthalten ist und sich auch in sie nicht auflösen läßt.21

Hartmann kennzeichnet dieses „Nichtaufgehen der höheren Kategorien in den wiederkehrenden Elementen“ als „vielleicht das wichtigste Moment der Schichtungsgesetzlichkeit“.22 Dies allein bezeugt schon eindeutig und klar die wegweisende Aktualität der Ontologie Hartmanns. „Wegweisend“ nicht nur, weil Hartmann schon den Begriff der supervenierenden Emergenz antizipiert, sondern weil er ihn im Rahmen seines Entwurfs vom Aufbau der realen Welt als eines Systems der überlagerten, irreduziblen Schichten verwendet, und zwar auf eine Weise, die dem damaligen Zustand der wissenschaftlichen Forschung genau entsprechen sollte.23

III. Was wir von Nicolai Hartmann lernen können Ich möchte aber keineswegs den Eindruck hinterlassen, dass Hartmanns philosophische Leistung sich in der geschilderten Vorwegnahme des gegenwärtigen Begriffes der supervenierenden Emergenz erschöpft. Viel wichtiger ist die Art und Weise, wie er diesen und andere ontologische Begriffe in seinem Entwurf derjenigen Prinzipien herausarbeitet, die dem 21 Hartmann (1964), 432. 22 Hartmann (1964), 456. 23 Das Interesse am Begriff der Supervenienz liegt nicht zuletzt darin, dass die Möglichkeit eines „nicht reduktionistischen Materialismus“ dadurch rettbar ist, und zwar weil eine supervenierende Eigenschaft sich aufgrund von unterschiedlichen G-Eigenschaften realisieren lässt. Das heißt, die S-Eigenschaften sind mannigfaltig realisierbar; es kann ein eins-zu-vielen („one-to-many“) Verhältnis der S-Eigenschaften zu G-Eigenschaften geben. So wie ein Viereck von derselben Größe aus Glas oder aus Holz sich gestalten kann, kann die gleiche Vorstellung des Viereckes, sei sie geträumt oder wahrgenommen, aus unterschiedlichen Zuständen des Gehirns hervorgehen. Diese sogenannte mannigfaltige Realisierbarkeit der S-Eigenschaften, die einen nicht-reduktionistischen Materialismus angeblich sicherstellt, ist – soweit ich weiß – in der Theorie Hartmanns nicht zu finden. Das ist an und für sich keine Kritik; daraus aber entsteht die Frage, ob und, falls so, wie dieser Aspekt der Supervenienz sich in seiner Ontologie unterbringen lässt.

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Aufbau der realen Welt zugrunde liegen. Die Aktualität der Philosophie Hartmanns besteht sowohl in ihrer kraftvollen Denkweise als auch in ihren systematischen Feststellungen. Ihresgleichen wird heute kaum gewagt. Deshalb ist die gegenwärtige Philosophie dürftiger. Uns fehlt die Auffassung der Philosophie als Ontologie, der Versuch, angesichts der gesamten Ergebnisse der Wissenschaften den Aufbau der realen Welt von Grund aus zu durchdenken. Ich möchte drei Aspekte dieser Aktualität der Ontologie Hartmanns näher erläutern.

1. Philosophische Scharfsinnigkeit Wie schon oben erwähnt, differenziert Hartmann sowohl vier SeinsSphären als auch vier Seins-Schichten. Auch wenn man bereit wäre, solche Differenzierungen in Frage zu stellen, kann man den methodologischen Wert der philosophischen Haltung, die dieser Differenzierung zugrunde liegt, nicht bestreiten. Hartmann kämpft gegen die menschliche-allzu-menschliche Tendenz, Kategorien aus einer Sphäre oder Schicht ohne Weiteres auf eine andere zu übertragen. Damit befolgt er auf musterhafte Weise die Maxime: „Nicht verallgemeinern ohne hinreichenden Grund“. Sich in aller Strenge an diese Maxime zu halten ist die sine qua non eines Philosophen, wohl der einzige Schutz gegen die „faule Vernunft“, wie Kant sie nennt.24 Sowohl in der Geschichte der Philosophie als auch im alltäglichen Leben gibt es mehrere Ausdrücke für „die kategoriale Grenzüberschreitung“25, die sich ergibt, wenn diese philosophische Tugend fehlt: metabasis eis allo genos 26, „category mistake“27, „eine Größe passt nicht allen“. Im 18. Jahrhundert nannte man die Unterscheidungs-Fähigkeit „Scharfsinnigkeit“ im Gegensatz zu „Witz“ oder der Fähigkeit, Gemeinsamkeiten festzustellen. Hartmanns Denken ist ein glänzendes Beispiel philosophischer Scharfsinnigkeit. Er macht den Mangel an dieser philosophischen Tugend verantwortlich für „krasse Typen der kategorial einseitiger Weltbilder“ bzw. solche „Ismen“ wie Intellektualismus, Pragmatismus, Mathematizismus, Materialismus, Biologismus, Psychologismus, Idealismus und Naturalismus.28 Damit 24 25 26 27 28

Kant (1971), B 717, B 801. Hartmann (1964), 79. Aristotle (1984), 1, 268b; Quintilian (1921), 5, 23. Ryle (1949), 16. Vgl. Hartmann (1964), 80 – 83.

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bestreitet er nicht die Möglichkeit, dass gewisse Kategorien „eine auf andere Gebiete übergreifende Geltung“29 haben. Dennoch betont er, dass die erste Aufgabe „die Herausarbeitung der für jede Seinsschicht charakteristischen und ihr eigentümlichen Kategorien“ ist.30 Heutzutage fällt der Mangel an derartiger Differenzierung besonders auf bei der Erörterung der Supervenienz, Definitionen der „Supervenienz“ werden ohne Rücksicht auf besondere Sphären oder Schichten entworfen. Oft bleibt die Frage, ob die Definition für ein Verhältnis geeignet ist oder nicht, auf verdächtige Weise im Hintergrund. In Hartmanns Sprache könnten wir sagen, dass die heutigen Denker nicht in der Lage sind, genau zu bestimmen, ob die so beschriebene Supervenienz der logischen, der erkenntnistheoretischen oder der realen Sphäre angehört.

2. Ontologische Ergiebigkeit der Geschichte der Ontologie Hartmann ist völlig zuhause in der Geschichte der Philosophie. Das heißt aber auch, dass er mit den Einzelheiten der Denk- und Lebensweisen der früheren Philosophen und ihren Zeitaltern vertraut ist. Wie seine Studien zur antiken Philosophie und zum deutschen Idealismus bezeugen, scheut er sich nicht vor näheren Untersuchungen seiner Vorgänger auf dem Weg der Ontologie. Ganz im Gegenteil. Zum Zweck der rein ontologischen Untersuchung setzt er sich unnachgiebig mit seinen Vorläufern auseinander. Er lehrt uns, wie der Philosoph sich in voller Achtung mit der Geschichte der Disziplin abfindet. Heute pendeln Forscher der Geschichte der Philosophie einerseits viel zu oft zwischen den Extremen – um mit Nietzsche zu reden – der monumentalischen und antiquarischen Betrachtungen. Andererseits haben diejenigen, die sich mit der Ontologie intensiv beschäftigen, keine Zeit für die Geschichte der Philosophie. Wenn man sich heute für die Ontologie interessiert, dann ist die Geschichte der Ontologie meistens eine Nebensache, ein Zeitvertreib, der höchstens die Gelegenheit anbietet, die Überlegenheit der Gegenwart aufzuzeigen. Im Gegensatz zu diesen zwei zeitgenössischen Tendenzen legt Hartmann den Akzent eindeutig auf die ontologische Ergiebigkeit der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ontologie. Da seine kritische Perspektive auf eine genaue Wiedergabe der früheren ontolo29 Hartmann (1964), 84. 30 Hartmann (1964), 85.

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gischen Entwürfe aufbaut, bietet sein unermüdliches Zwiegespräch mit der Geschichte ein lehrreiches Beispiel und musterhaftes Gegenstück zu den heutigen Vorurteilen, dass die Geschichte ohne ihre Ontologie und die Ontologie ohne ihre Geschichte verstanden werden können.

3. Mut und Demut bei der Übernahme der eigensten Aufgabe der Philosophie Manchmal sieht es so aus, als sei es der unaufhaltsame Aufstieg der Wissenschaften, der die Philosophie in den Schatten stellt. Im zwanzigsten Jahrhundert ersetzt Wissenschaft die Religion als der zuverlässigste Bote der Wahrheit, wie Feyerabend bemerkt. In früheren Zeiten gelang es der Philosophie, der Religion gleichzutun, als Ergänzung wenn nicht als Ausgleich. Beim Fortschritt der Wissenschaften dagegen ist die Philosophie immer mehr entbehrlich. Besonders auffallend ist diese Entwicklung bei der sogenannten Neurophilosophie, die sich anmaßt, alle – oder fast alle – traditionellen Probleme der Philosophie des Geistes durch Deutung der Ergebnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften lösen zu können.31 In Fragen der Ethik, Gesellschaft und Freiheit beharrt man ebenso darauf, dass die Spekulation der Philosophie dem wissenschaftlichen Experiment auszuweichen hat.32 Im Gegensatz zu dieser immer schneller werdenden Entwicklung traut Hartmann der Philosophie eine selbständige, konstruktive Rolle, und zwar als Ontologie, den Wissenschaften gegenüber, zu. Damit bricht er mutig mit den vorherrschenden Traditionen der Philosophie zu seiner Zeit ab. Die Aufgabe der Philosophie ist die Ontologie bzw. der Versuch, das Sein der Dinge grundlegend zu verstehen, wobei „grundlegendes Verständnis“ heißt, die Dinge im Verhältnis mit allen anderen Dingen bzw. das Seiende im Ganzen zu begreifen. Menschliches Verständnis dieses Ganzen ist zwar begrenzt; doch schließt dieses begrenzte Verständnis keineswegs die Möglichkeit, das Ganze von einem Gesichtspunkt aus zu betrachten, aus. Da eine derartige Thematisierung des Ganzen außerhalb des Gesichtskreises der besonderen Wissenschaften fällt, ist diese Aufgabe – die echt ontologische Aufgabe – der Philosophie anheimgegeben. Daran hat Hartmann uns erinnert – und nicht nur an 31 Churchland (2002). 32 Vgl. die „Website“ der sogenannten Experimental-Philosophie und Appiah (2010).

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dies. Die Philosophie hat ihre eigene Bestimmung nicht nur, weil sie das Ganze anvisiert, sondern weil das Ganze gegliedert ist, d. h. SeinsSchichten enthält. Um die Dinge angemessen verstehen zu können, wird von dem Philosophen verlangt, jede Schicht sowohl für sich als auch im Verhältnis zu anderen Schichten aufzufassen und zu verstehen. Das kann er aber nur im stetigen Dialog mit den Wissenschaften und ihren Entwicklungen leisten. Das heißt, nur wenn die Philosophie sich permanent als Lehrling den Wissenschaften unterstellt, kann sie ihre eigenste Bestimmung als Ontologie leisten. Die eigenste bzw. ontologische Aufgabe der Philosophie zu bewältigen, erfordert also Mut und Demut – den Mut, sich nicht bloß für einen „underlaborer“ der Wissenschaften zu halten, und die Demut, seine Ergebnisse immer als bloß vorläufige zu konzipieren. Die Ontologie steht stets vor der außergewöhnlichen Aufgabe, über den Stand der wissenschaftlichen Forschung, von dem sie doch abhängt, hinausgehen zu müssen. Anders gesagt, im Vergleich mit den Wissenschaften ist die Ontologie selbst die supervenierende und emergente Disziplin.

IV. Kohärenz und Wiederkehr: der Vorwurf Johanssons Ingvar Johansson versucht in einem wertvollen Aufsatz zu zeigen, inwieweit erwünschte Aspekte der Supervenienz schon im „Überbauungsverhältnis“ Hartmanns enthalten sind. Johansson entwirft einen Begriff der Supervenienz, der Hartmanns Auffassung des Überbauungsverhältnisses wiedergeben soll; dabei aber weist er zugleich Mängel der Auffassung Hartmanns auf. Er wirft Hartmann vor, denjenigen Begriff der Kovarianz, der im Mittelpunkt der zeitgenössischen Ansätze zu Supervenienz steht, außer Acht zu lassen. Johansson gibt wohl zu, dass Hartmann ein solcher Begriff – vor allem seiner Auffassung der einseitigen Abhängigkeit der höheren von der niederen Schicht (vgl. die Dependenzgesetze) 33 – wohl naheliegt, aber angeblich bleibt der Begriff der Kovarianz Hartmann fern. Glauben wir Johansson, dann hat diese Vernachlässigung zur Folge, dass Gesetze zwischen Schichten von Hartmann eigentlich nicht eingeräumt werden. Hartmann verpasst dann grundsätzlich die Möglichkeit, verschiedene Fälle der nomologischen Kova-

33 Vgl. Hartmann (1964), 470.

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rianz der G- und S-Eigenschaften – wie, zum Beispiel, die Kovarianz der neuronalen und seelischen Eigenschaften – zu bestimmen.34 Meines Erachtens ist dieser Vorwurf von zweifelhafter Gültigkeit. Hartmann redet zwar nicht buchstäblich von der Kovarianz solcher Eigenschaften. In seiner Erklärung des Gesetzes der Schichtendistanz hebt er übrigens hervor, dass Seinsschichten „geschlossen“ und „eindeutig voneinander abgehoben“35 sind. M. a. W., statt kontinuierlicher Übergänge zwischen den Schichten, gibt es eine Schichtendistanz, d. h. eine Zäsur bzw. einen Sprung zwischen Schichten. Also schließt das Gesetz der Schichtendistanz die von Johansson erforderten Gesetze zwischen Schichten („inter-strata laws“) aus. Die Eigenschaften einer Schicht lassen sich mit denen einer anderen Schicht tatsächlich nicht variieren. Daraus folgt es aber nicht, dass Hartmann auf die Bestimmung der Gesetze der Kovarianz neuronaler und seelischer Eigenschaften, wobei diese über jenen supervenieren, verzichten muss. Ganz im Gegenteil. Nur dürfen die Eigenschaften, den Kohärenzgesetzen zufolge36, nicht in verschiedene Schichten auseinanderfallen. Da kategoriale Elemente einer niederen Schicht in höheren Schichten immer wieder auftauchen, ergibt sich die Möglichkeit, die wiederkehrenden, aus der niederen Schicht hervorgehenden Elemente in Verknüpfung mit Elementen des Novums zu betrachten. Die Tatsache, dass die wiederkehrenden Elemente der niederen Schicht auf eine abgewandelte Weise in höheren Schichten enthalten sind, ändert nichts an der Sache. Im Laufe seiner Erörterung des Gesetzes der Abwandlung als „Kehrseite“ der Wiederkehr erklärt Hartmann: Die wiederkehrende Kategorie rückt in den Verband der höheren Schichtenganzheit ein. Damit aber fällt sie unter die Kohärenz der höheren Schicht; und da diese in gegenseitiger Implikation besteht, so muß die niedere Kategorie mit den Elementen der höheren Schicht irgendwie behaftet sein.37

Hartmann betont selbst also das enge Verhältnis (oder „behaftet sein“) der wiederkehrenden Elemente in anderen Elementen der höheren Schicht. Hier dürfte man von einer nomologischen Kovarianz zwischen den aus der niederen Schicht des Organischen wiederkehrenden neurologischen Eigenschaften und denjenigen seelischen Eigenschaften sprechen, die von ihnen abhängen bzw. über ihnen supervenieren. 34 35 36 37

Johansson (2001), 202, 208, 212. Hartmann (1964), 461. Vgl. Hartmann (1964), 394. Hartmann (1964), 453.

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V. Abschließende Bedenken In diesem Essay habe ich versucht, einige Vorteile der Ontologie Hartmanns – vor allem im Vergleich mit bestimmten zeitgenössischen Ansätzen – hervorzuheben. Ich wollte zeigen, dass es sich lohnt, die staubigen Bände Hartmanns wieder aus dem Regal zu nehmen und sich ernsthaft mit seinem ontologischen Projekt auseinanderzusetzen. Dennoch wäre es philosophisch unzulässig, gewisse Probleme seines Projektes zu vergessen. Zum Schluss also möchte ich deshalb auf vier Bedenken zur Ontologie Hartmanns hinweisen.

1. Erstes Bedenken: Quantenmechanische Reduktion und die Entdeckung der DNA Hegel hat uns gelehrt, dass die Philosophie über ihre gegenwärtige Welt nicht hinausgehen kann.38 Da das von Hartmann nicht bestritten wird, käme das erste Bedenken ihm wohl kaum unerwartet oder überraschend vor. Dennoch gibt es neue Entdeckungen und Theorien, die Aspekte seiner Ontologie in Frage stellen oder doch zumindest ihre Revidierung erfordern. Ich denke dabei an den Erfolg bei der Reduktion der chemischen Bindung auf Quantenmechanik so wie an die (damit verbundene) Entdeckung der DNA.39 Es scheint, dass Hartmann mit Folgen der Quantenmechanik nicht vertraut war.40 Man kann hierauf erwidern, dass solche Entdeckungen nur die inhaltliche Bestimmung der interkategorialen Gesetze der physischen Schicht betreffen. Doch diese Erwiderung 38 Siehe die Vorrede zur Rechtsphilosophie (Hegel (1979)). 39 McLaughlin (1997): „The quantum mechanical reduction of chemistry is held as the leading paradigm of reductive materialism. The British Emergentists all worked with a Newtonian conception of mechanism. Quantum mechanics has broadened our conception of mechanism – introducing a holistic notion of mechanism – and thereby of reductive explanation. Quantum mechanics reductively explains chemistry, but without appeal to additive or even linear compositional principles, and without the postulation of new irreducible higherlevel forces (General relativity too invokes nonlinearity). Moreover, quantum mechanics has led to the development of molecular biology, and the successes of this discipline (e. g., the discovery of the structure of DNA) have virtually eradicated any sort of vitalism from biology. On the current evidence, it appears that all fundamental forces are exerted below the level of the atom.“ Vgl. auch Johansson (2001), 197. 40 Feyerabend (1963), 91 – 106.

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greift zu kurz. Mit der Entdeckung der DNA als sich-selbst-reproduzierenden Molekülen wird der Unterschied zwischen der physischen und der organischen Seins-Schicht fraglich. Dies deswegen, weil DNA als „Stoff“ der physischen Schicht von Kategorien der organischen Schicht bestimmt wird. Also widerspricht diese Entdeckung eindeutig dem Gesetz der Schichtendistanz.41

2. Zweites Bedenken: Spannung bzw. Antinomie zwischen Dependenz und Kohärenz Das zweite Bedenken geht aus dem Unterschied zwischen kategorialer Dependenz und kategorialer Kohärenz hervor.42 Einerseits gibt es „eine kategoriale Abhängigkeit der Schichten voneinander, aber nur einseitig als Abhängigkeit der höheren von der niederen Schicht“.43 Hartmann kennzeichnet dieses Verhältnis als die „einseitige Abhängigkeit“ bzw. kategoriale Dependenz.44 In der Terminologie der Supervenienz heißt das, dass die S-Eigenschaften auf den G-Eigenschaften beruhen – und nicht umgekehrt. Andererseits aber behauptet Hartmann ebenso die gegenseitige Abhängigkeit bzw. die „Kohärenz“ der Gesetze einer Schicht. Also lautet das vierte Kohärenz-Gesetz, das sogenannte Gesetz der Implikation: „Jede einzelne Kategorie impliziert die übrigen Kategorien gleicher Schicht.“45 Zwischen jener einseitigen Abhängigkeit und dieser gegenseitigen Abhängigkeit gibt es – so scheint es mir – eine erhebliche Spannung, wenn nicht sogar eine unlösbare Antinomie. Das zeigt sich vor allem daran, dass der für den Begriff der Supervenienz unentbehrliche Unterschied zwischen S- und G-Eigenschaften durch die so geschilderte Kohärenz der Schicht verwischt wird.46 41 Vgl. Hartmann (1964), 460 f. 42 Ein ähnlicher Einwand ergibt sich aus der Paarung der Gesetze der Dependenz und Indifferenz (vgl. Hartmann (1964), 469 – 471, 480 f.). 43 Hartmann (1964), 470. 44 Wie oben gemerkt wurde, führt er dieses Verhältnis anhand des Gesetzes der Wiederkehr weiter aus. „Dass überhaupt niedere Kategorien in den höheren als deren Elemente wiederkehren, ist die Grundlage der kategorialen Schichtung“ (Hartmann (1964), 436). 45 Hartmann (1964), 394. 46 Bildhaft ausgedrückt stellt die Kohärenz die horizontale Dimension der Schicht dar, die Dependenz ihre vertikale Dimension. Insofern alle Kategorien einer Schicht voneinander abhängen, kann es keine vertikale Dimension innerhalb der Schicht geben.

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3. Drittes Bedenken: Seinsschichtung ohne Seinsgebilde Hartmann hält den Menschen nicht für eine Seins-Schicht, sondern für ein Seins-Gebilde, und zwar deshalb, weil der Mensch selbst „ein geschichtetes Wesen“ ist. Er argumentiert also, dass die Kategorienlehre sich an die Schichtung der Welt, statt an ihre Stufenordnung halten muss, weil solche Gebilde – ja, sogar „die Stufenfolge der Gesamtgebilde der realen Welt (Sache, Lebewesen, Mensch, Gemeinschaft)“ jene Schichtung voraussetzt.47 Was mir dabei fraglich vorkommt, ist nicht die Behauptung dieser Voraussetzung, sondern die entsprechende Bedeutung der seelischen Schicht, wenn sie von Phänomenen des menschlichen bzw. tierischen Seins losgelöst wird. (In diesem Zusammen wiederholt Hartmann den alten, von Locke aufgestellten Unterschied zwischen dem zeit-bestimmten inneren Sinn und dem räumzeitlich-bestimmten äußeren Sinn.) Wird man den seelischen Phänomenen gerecht, wenn man sie getrennt von dem Körper, von den aus dem Körper hervorgehenden Neigungen oder Abneigungen, und so auch von den körperlichen Interaktionen mit der Umwelt zu verstehen versucht? Hartmann besteht zwar auf der „Heterogeneität“ bzw. „die Schichtendistanz zwischen Organischem und Seelischem“48 ; das ist aber für sich genommen noch kein Argument.

4. Viertes Bedenken: Prinzip, Konkretum und die ontologische Differenz Im gewissen Sinne setzt die Ontologie Hartmanns die aristotelische Stellungnahme zum alten Problem der Universalien wieder in Kraft. Prinzipien, Kategorien und Gesetze sind zwar anders als diejenigen wirklichen Dinge, Lebewesen, Menschen usw., die sie regeln und bestimmen. Dennoch besteht Hartmann auf der „Wiederherstellung der Einheit der Welt durch einen jede Distanz überbrückenden Zusammenhang von Prinzip und Concretum“49. Er redet von einem ursprünglichen Ineinandersein, wobei es kein Prinzip ohne Concretum gibt und umgekehrt. „Und das bedeutet, dass das Sein der Kategorien in der Bestimmung des konkreten Seienden aufgeht. Kategorien haben kein anderes Sein als die von ihnen ausgehende, das Concretum betreffende 47 Hartmann (1964), 450, 452. 48 Hartmann (1964), 180. 49 Hartmann (1964), 71.

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Determination […]. Das Verhältnis lässt sich nicht umkehren. Die Fülle der Seinsbestimmtheit am Concretum braucht ihrerseits in der kategorialen Determination nicht aufzugehen.“50 Hartmanns Auffassung des Verhältnisses zwischen Prinzip und Concretum scheint mir höchst plausibel. Dennoch möchte ich seinen Ansatz zu dieser ontologischen Differenz in Frage stellen. Dieser Gegensatz ist der erste der Seinsgegensätze, die diejenigen Fundamentalkategorien, die für alle Seins-Sphären wie -Schichten gelten, ausmachen. Offensichtlich nimmt er diese Differenz für grundlegend, ja sogar für unhintergehbar. In den dreißiger Jahren bemühte sich Heidegger jedoch, den Grund solcher Differenzen zu denken, und zwar als das Ereignis der Seinsgeschichte. Das Sein/Seiendes Verhältnis – so wie das Prinzip/Concretum Verhältnis – ist geschichtlich gegründet, was allerdings die Rolle des Seinsverständnisses bzw. des menschlichen Daseins in diesem Ereignis miteinbezieht. Der ontologischen Tradition gegenüber bedeutet Denken an solche Differenz einen neuen Anfang, der freilich nichts über dessen Gültigkeit entscheidet. Doch bietet dieser neue Anfang eine Möglichkeit, das Prinzip/Concretum und damit die fundamentalsten der Fundamentalkategorien zu hintergehen, wobei es mir übrigens nicht klar ist, ob ein solcher Versuch sich der Ontologie Hartmanns letzten Endes entgegenstellt oder sie ergänzt. Obwohl Heidegger immer wieder scharfe Kritik an der Philosophie Hartmanns übte, plädierte Hartmann offensichtlich beim Ministerium, Heidegger nach Berlin zu berufen. Man kann nur spekulieren, was dahinter steckte. Dennoch ist es ohne Weiteres klar, dass dadurch eine große Gelegenheit für beide Denker verpasst wurde, weil dies nicht geschah. Angesichts der hier formulierten Bedenken, eine letzte Bemerkung. Es bleibt nach wie vor einer der erheblichen Vorteile von Hartmanns Denken, dass es die Klarheit und Stärke besitzt, sich durch die eben erhobenen Fragen und Einwände herausfordern zu lassen. In dieser Hinsicht auch können wir Zeitgenossen vieles von dem Philosophen aus Riga lernen.

50 Hartmann (1964), 72.

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Was nutzt eine ontologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft? Überlegungen zu Nicolai Hartmanns Das Problem des geistigen Seins Robert Schnepf I. Ontologie, Geschichtsphilosophie und Geschichte bei Nicolai Hartmann Die Philosophie Nicolai Hartmanns ist in der gegenwärtigen philosophischen Arbeit weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei ist die Alternative „zu Recht/zu Unrecht“ im Umgang mit seinen Texten wenig attraktiv, geht sie doch an seinem Anspruch recht eigentlich vorbei. Nimmt man nämlich seine leicht polemische Unterscheidung zwischen „Systemdenkern“ und „Problemdenkern“ ernst,1 dann wird man Hartmann nicht Unrecht tun, wenn man ihn sich selbst eher der Gruppe der hart an den Phänomenen orientierten „Problemdenker“ zuordnen sieht, die falschen, vereinfachenden oder verzerrenden Systemzwängen nicht nachgeben wolle. Den unterschiedlichen Gegenstandsbereichen soll nicht eine einheitliche Systematik übergestülpt werden, die sich aus einer wie auch immer konzipierten Erkenntnistheorie und Methodologie ableitet. Vielmehr soll die Grundeinsicht respektiert werden, dass unterschiedliche Gegenstände unterschiedliche Behandlungsarten erfordern, dass also alles darauf ankommt, unterschiedliche Gegenstandsbereiche mit der ihnen jeweils angemessenen Begrifflichkeit zu erfassen. Das lässt erwarten, dass die Philosophie Hartmanns Ressourcen bereitstellt, philosophische Probleme unterschiedlicher Einzelwissenschaften produktiv zu bearbeiten und für die Arbeit in den entsprechenden Einzelwissenschaften selbst fruchtbar gemacht werden können. Diese Fruchtbarkeit müsste sich weniger daran zeigen, dass sich die von ihm vorgeschlagenen Begrifflichkeiten in der konkreten Arbeit bewähren, 1

Vgl. Hartmann (1957).

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also der einzelwissenschaftlichen Forschung unverändert ein stabiles Fundament bieten, als vielmehr darin, dass seine Art und Weise der Arbeit an den Grundproblemen der jeweiligen Einzelwissenschaften aussichtsreich und weiterführend ist. Statt also zu fragen, ob Hartmanns Philosophie zu Recht oder zu Unrecht aus dem philosophischen Diskurs verschwunden ist, kann man vielmehr diesen Anspruch probeweise ernst nehmen und zusehen, ob sie tatsächlich Ressourcen zur produktiven Weiterarbeit an philosophischen Problemen einer Einzelwissenschaft und in der Einzelwissenschaft selbst bereithält. Genau diese Frage soll im Folgenden am Beispiel der Geschichtswissenschaft untersucht werden. Das Ergebnis der Überlegungen und Beobachtungen wird indessen gleichwohl sein, dass Hartmanns Analysen letztlich nicht im skizzierten Sinn fruchtbar gemacht werden können. Der Umstand, dass seine Analysen weder in der geschichtswissenschaftlichen Arbeit noch in den geschichtstheoretischen Grundlagendiskussionen nennenswerte Spuren hinterlassen haben, ist ein Indiz für ihre Unfruchtbarkeit, das letztlich auch auf zentrale Probleme seiner Philosophie insgesamt aufmerksam macht (und aus ihnen erklärt werden kann). Vor allem zwei Gründe sind – so wird sich zeigen – für diese mangelnde Anschlussfähigkeit der Arbeiten Hartmanns ausschlaggebend: Zum einen bedeutet sein Versuch, an einer Ontologie, die nicht von unseren Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisbedingungen ausgeht, sondern Kategorien des Seienden, insofern es unabhängig vom erkennenden Subjekt Seiendes ist, zu entdecken, dass seine Begriffsbildungen oftmals nicht an die Methoden und Erkenntnismöglichkeiten der Einzelwissenschaften zurückgebunden werden können. Sie lassen sich gelegentlich nicht in die einzelwissenschaftliche Arbeit „übersetzen“. Zum anderen ist die Ankündigung, bei der Erarbeitung der für bestimmte Einzelwissenschaften spezifischen Kategorien die Besonderheit der jeweiligen Gegenstände zu bewahren und durch eine Art Phänomenologie zu beschreiben, günstigstenfalls die halbe Wahrheit über Hartmanns Methode. Die andere Hälfte ist, dass Hartmann versucht, die Kategorien einzelner Gegenstandsbereiche von vornherein in einen systematischen Gesamtzusammenhang zu integrieren. So sollen sich besondere Kategorien im Rahmen seiner Schichtenlehre als Abwandlungen anderer Kategorien anderer, fundamentalerer Gegenstandsbereiche darstellen lassen, wobei diese Abwandlungen wiederum einer Art kategorialer Gesetzmäßigkeit unterliegen sollen. Tatsächlich üben diese Regeln kategorialer Begriffsbildung eine Art Systematisierungszwang aus, der oftmals die – über eine Art phänomenologischer Beschreibung weit hinausgehende – Kon-

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struktion von Begriffen erfordert und dazu führt, dass die Begriffe eben nicht aus der einzelwissenschaftlichen Forschung aufgenommen und entwickelt, sondern von außen an sie herangetragen werden. Beide Eigenheiten der Methode Hartmanns zusammengenommen lassen die Probleme, bei der einzelwissenschaftlichen Arbeit an seine Kategorialanalysen anzuschließen, verständlich werden. Alles das gilt es in der Folge plausibel zu machen. Dazu sollen methodische Probleme der Geschichtswissenschaft als Beispiele genommen werden. Ein Problemknoten bietet sich dabei geradezu an: Man mag lange darüber streiten, doch hat es Geschichtswissenschaft zumindest auch mit der Erklärung historischer Ereignisse, Prozesse oder Entwicklungen zu tun.2 Ohne nun auf die Diskussion über die Probleme des Erklärens in der Geschichtswissenschaft allzu detailliert einzugehen, wird man sagen müssen, dass Ereignisse, Entwicklungen, Prozesse – aber auch Handlungen einzelner Personen – nur so gut erklärt werden können, wie sie zuvor beschrieben worden sind. Wer beschreiben will, braucht Begriffe, und zwar Begriffe, die das zu Erklärende in relevanter Hinsicht hinlänglich erfassen. Möchte man beispielsweise erklären, wie „ganz normale Männer“ in Polen und Russland zu Massenmördern wurden, muss man eventuell nicht die Haarfarbe der Täter in die Beschreibung aufnehmen, vielleicht aber ihren beruflichen Hintergrund.3 Schnell zur Hand sind dann aber auch ganz andere Begriffe, etwa solche, mit denen Mentalitäten charakterisiert werden, oder Strukturen (wie etwa Hierarchien) oder Entscheidungszwänge und Handlungsspielräume.4 Der Witz solcher Begriffe besteht darin, dass sie nicht einfach Beobachtbares benennen: Mentalitäten und Strukturen kann man nicht sehen (nur ihre Manifestationen); Entscheidungszwänge oder Handlungsspielräume auch nicht (dazu braucht man vielmehr Urteile über das, was in einer Situation möglich war, oder eben nicht). Erklärungen in der Geschichtswissenschaft (und nicht nur dort) erfordern deshalb Begriffe, die nicht unbedingt direkt durch Erfahrung ausweisbar sind und die wie selbstverständlich in harmlos daherkommende Beschreibungen eingehen können.5 Diese Begriffe bedürfen der Ordnung und der Rechtfertigung. 2 3 4 5

Vgl. zum Folgenden Schnepf (2011). Vgl. dazu Browning (1992). Mir scheint diese Arbeit methodisch in vielerlei Hinsicht mustergültig. Die Begriffe „Mentalität“ und „Handlungsspielraum“ charakterisieren beispielsweise die beiden divergierenden Fassungen der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ – sie werden in den Begleitpublikationen ausführlich diskutiert. Vgl. dazu ausführlicher Schnepf (2011), Kap. 4.

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Die Arbeit an diesen Begriffen ist nun aber nicht unbedingt Aufgabe allein der eigentlichen Geschichtswissenschaft. Ein Teil dieser Aufgabe mag der Philosophie zufallen. Die näher liegende Reaktion geschichtswissenschaftlicher Forschung besteht indessen darin, unterschiedliche Forschungsprogramme auszuprobieren und zu verfolgen, die jeweils unterschiedliche begriffliche Rahmen voraussetzen und die zu regelrechten Subdisziplinen werden können – etwa Mentalitätsgeschichte, Strukturgeschichte, Ereignisgeschichte, Mikrogeschichten usf. Die Lage mag unübersichtlich erscheinen, grundlos ist sie indessen nicht. Diese unkoordinierte Vielheit wirft natürlich das Problem auf, welcher Typ von Erklärungen adäquat ist, die „Wahrheit“ in irgendeinem Sinn trifft, oder gar die Wirklichkeit. Zu einem guten Teil beruht sie darauf, dass eben strittig ist, in welcher Terminologie bzw. in welchem begrifflichen Rahmen Ereignisse am angemessensten beschrieben werden können – und man mag hier die Hoffnung haben, eine umfassende philosophische Kategorienlehre könne aus dieser Schwierigkeit herausführen. Auf dieses Problembündel der Geschichtswissenschaft lässt sich nun die Philosophie Nicolai Hartmanns beziehen. Er hat nämlich seiner Schrift Das Problem des geistigen Seins eine Art geschichtsphilosophischer Problemexposition vorangestellt. Diese ausführliche Einleitung macht deutlich, dass Hartmann einen Zusammenhang zwischen seinen Untersuchungen über das geistige Sein einerseits und der Arbeit der Geschichtswissenschaft andererseits herstellen möchte. Er verspricht nämlich nicht mehr und nicht weniger, als dass seine Untersuchungen über das geistige Sein eine Theorie der Struktur dessen, was Geschichte hat, bieten. Mehr noch verspricht er Einsicht in die „Faktoren des Geschichtsprozesses“.6 Grob gesprochen ist es Hartmanns Strategie, von der „Frage nach dem Geschichtsprozess und seiner Struktur“ zur „Frage nach der Struktur und Seinsweise dessen, was ,Geschichte hat‘“ überzugehen, um daraus letztlich die in der Geschichte relevanten Faktoren zu bestimmen und gegeneinander zu gewichten.7 Anders gesprochen: Die Frage, welcher Typ von Erklärungen bzw. welches begriffliche Schema der geschichtswissenschaftlichen Arbeit angemessen ist, muss sich seiner Meinung nach an der Frage entscheiden, wie verfasst der Gegenstand ist, der eigentlich Geschichte hat bzw. um dessen Geschichte es gehen soll. Versteht man die Frage nach der Seinsweise dessen, was Geschichte hat, als eine Frage, über die in einer Ontologie zu entscheiden ist, dann ist 6 7

Hartmann (1933), 12. Hartmann (1933), 19.

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eben in der Ontologie zu entscheiden, welcher Typus von Erklärungen bzw. welches begriffliche Rahmenwerk alleine der Geschichtswissenschaft angemessen ist. Auf den ersten Blick scheint das ein vielversprechendes Programm zu sein: Gelänge es, Einsicht in die Struktur oder Seinsweise dessen, was Geschichte hat, zu erlangen, dann wäre in der Tat ein begrifflicher Rahmen etabliert, dem geschichtswissenschaftliche Beschreibungen und Erklärungen gerecht werden müssten, sollen sie ihren Gegenstand tatsächlich treffen. Nichts erscheint fruchtbarer für die Arbeit des Historikers. In diesem Sinn arbeitet Hartmann tatsächlich am oben skizzierten philosophischen Problem der Geschichtswissenschaft. Doch zeichnet sich schon auf dieser vorläufigen Ebene ab, dass sich die beiden oben benannten Gründe dafür, dass weder die geschichtswissenschaftliche Forschung noch die geschichtstheoretische Grundlagendiskussion an Hartmann anknüpft, bereits in dieser Programmatik identifizieren lassen: Hartmann fasst den Geschichtsprozess und das, was Geschichte hat, als ein Seiendes auf, nach dessen Seinsweise man sinnvoll und mit Aussicht auf Erfolg fragen könne. Es geht dabei um den Geschichtsprozess und das, was Geschichte hat, in spezifisch ontologischer Einstellung, also nicht im Ausgang von Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Die Antwort auf diese Frage soll sich vielmehr aus einem eigentümlichen Methodenmix ergeben, in dem eine produktive Aporetik bisheriger Geschichtsphilosophien mit den Hintergrundtheorien von Hartmanns allgemeiner Ontologie die Hauptrolle spielen. Die zu erarbeitende Begrifflichkeit wird also weder in Auseinandersetzung mit der konkreten geschichtswissenschaftlichen Arbeit gewonnen, noch ist den erarbeiteten Begriffen ihre Anwendbarkeit bei geschichtswissenschaftlicher Forschung gleichsam eingeschrieben. Genau das soll im Folgenden etwas detaillierter gezeigt werden. Dazu ist zunächst aus der geschichtsphilosophischen Einleitung von Das Problem des geistigen Seins die allgemeine Strategie Hartmanns herauszuarbeiten (2.). Dann müssen einige Charakteristika der von ihm skizzierten Lösungsstrategie und der von ihm herausgearbeiteten Begrifflichkeit benannt werden (3.). Anschließend müssen sie dann mit einigen besonderen Problemfällen geschichtswissenschaftlicher Arbeit kontrastiert werden (4.). Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist es dabei weniger, eine Art innerphilosophischer oder systemimmanenter Kritik Hartmanns zu entwickeln, sondern am Beispiel der Philosophie Hartmanns zu untersuchen, welche philosophischen Haltungen und Methoden eher weniger

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geeignet sind, will man Philosophie und Einzelwissenschaften in ein sinnvolles Verhältnis zueinander bringen.8

II. Hartmanns Plausibilisierung seines Ansatzes in Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern Hartmann entwickelt und motiviert in der langen Einleitung zu Das Problem des geistigen Seins seine Lösungsstrategie durch eine kurze Auseinandersetzung mit einigen Geschichtsphilosophien. Dabei sind seine Bemerkungen zu Hegel und Marx die entscheidenden, und an ihnen kann man bereits ablesen, wie er sich im weiteren Verlauf seines Buchs auch zu anderen Ansätzen positioniert.9 Hartmann schreibt Hegel die These zu, der Geist sei alles, er sei entsprechend auch der Träger des Geschichtsprozesses, die Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des Geistes und dementsprechend auch das Grundgesetz aller Geschichte, „was auch der Einzelmensch in ihr verfolgen möge“.10 Knapp skizziert er Hegels Lehre vom Weltgeist und den Volksgeistern. Ihr stellt Hartmann die „Materialistische Geschichtsphilosophie“ gegenüber, worunter er die Theorien von Karl Marx versteht. Der Gegensatz zu Hegel komme dadurch zustande, dass „nicht von der Sphäre des Geistes“, sondern von der „des Bedürfnisses und der Wirtschaft“ ausgegangen werde.11 „Nach Marx entscheiden in der Geschichte immer die ökonomischen Verhältnisse, und zwar speziell die Produktionsverhältnisse“.12 Im Wesentlichen konzentriert sich Hartmann in dieser Skizze auf das Verhältnis von „Basis“ und „Überbau“. „In der Konsequenz dieser Abhängigkeit liegt nun ferner, dass der Ideologiebegriff sich 8 Im Folgenden wird also nicht Hartmanns Theorie des Geistes im Ganzen Thema sein, wie man vielleicht erwarten mag. Der Grund dafür ist, dass sich m. E. die meisten Probleme schon aus dem Grundansatz der Schichtenlehre ergeben – Probleme, die sich recht gut auf Methodenprobleme der Geschichtswissenschaft beziehen lassen. Eine ausführliche Interpretation von Hartmanns Philosophie des geistigen Seins hat beispielsweise Becker (1990) vorgelegt – vgl. aber auch Zimmermann (1982) und Baumgartner (1982). 9 Es kommt mir im Folgenden nicht auf eine Kritik der Hegel- und Marx-Interpretationen Hartmanns an. Sie sind derart einseitig und undifferenziert, dass man den Wert philosophiehistorischer Aporetik nicht an diesem Beispiel diskutieren sollte. 10 Hartmann (1933), 6. 11 Hartmann (1933), 9. 12 Hartmann (1933), 9.

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ungeheuer erweitert und schließlich die ganze Fülle der geistigen Welt mit all ihren Sondergebieten umfasst: die Moral, das Wissen, die Bildung, Kunst, Weltanschauung, Religion.“13 Hartmann geht dabei davon aus, dass den entgegengesetzten Positionen je ein Wahrheitsmoment zukomme, das es zu bewahren gelte.14 Beide Positionen machten auf Faktoren aufmerksam, die in der Tat den geschichtlichen Prozess bestimmen, nämlich den Geist einerseits, die materielle Basis andererseits. Beide seien aber darin verfehlt, dass sie diesen Faktor einseitig überbewerteten. Darin sieht Hartmann den gemeinsamen Grundfehler von Hegel und Marx: „Beide suchen von einer einzigen Phänomengruppe aus das Ganze des geschichtlichen Seins zu verstehen (…) Beide suchen es ausschließlich von einem Ende her zu begreifen, nur eben vom entgegengesetzten.“15 Hartmann führt diese Einseitigkeiten auf eine allgemeine Tendenz in der Metaphysik zurück, „komplexe Gebilde einseitig-monistisch von oben oder von unten her zu begreifen“.16 Für die Form von Erklärungen historischer Handlungen, Ereignisse oder Prozesse ergeben sich bereits daraus erste Konsequenzen: Fasst man beispielsweise tatsächlich alle historischen Geschehnisse in irgendeiner Weise als von den Produktionsverhältnisse bestimmt auf (wie es Marx in Hartmanns Sicht tut), dann benötigt man gleichsam Brückenprinzipien, die diese Ebene der Produktionsverhältnisse etwa mit Mentalitäten, Ideologien, Handlungsmotiven, juristischen Formen und Institutionen verknüpfen. Die eigentlichen Erklärungsaufgaben müssen diese Brückenprinzipien leisten.17 Ähnlich verhält es sich bei Hegel: Auch hier muss es Brückenprinzipien geben, die die Entwicklung des Geistes mit den Handlungen der Menschen verknüpfen (und Hartmann deutet das auch an, wenn er auf die Leidenschaften der Individuen als Mittel des Geistes verweist). Die eigentliche Erklärung eines historischen Phänomens, eines Ereignisses, einer individuellen Handlung ist eben nicht schon damit gegeben, dass man überschlägig auf die Entwicklung der Produktionsverhältnisse oder des Geistes verweist, sondern erst dadurch, dass man sie (durch welche Prinzipen auch immer) von dieser Entwicklung der Produktionsverhältnisse oder des Geistes her begreifen und 13 Hartmann (1933), 9. 14 Diese methodische Maxime begründet Hartmann in dieser Einleitung nicht weiter – sie ist durchaus diskutierbar. 15 Hartmann (1933), 11. 16 Hartmann (1933), 13. 17 Vgl. dazu Schnepf (2011), Kap. 4.3.

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verstehen kann. Geschichtsphilosophie ersetzt in diesen Konzeptionen Geschichtswissenschaft dabei nicht – vielmehr orientiert sie diese. Hartmann versucht demgegenüber, ein Begriffssystem zu entwickeln, das die „Einseitigkeiten“ – die in den beiden Ansätzen durch die spezifische Form der Erklärungen ausgeglichen werden sollen – von vornherein vermeidet, indem es die verschiedenen Faktoren in ein bestimmtes Verhältnis setzt. Sind die Brückenprinzipien in den anderen Ansätzen erst Resultate historischer Forschung, werden sie hier zu Resultaten der philosophischen Begriffsarbeit. Hartmanns Einwand bezieht sich entsprechend auch weniger darauf, dass in den Geschichtsphilosophien von Hegel und Marx Phänomene der einen Ebene mit Phänomenen einer anderen Ebene durch Brückenprinzipien verknüpft werden (das blendet er in seinen Überlegungen weitestgehend aus). Er besteht vielmehr darin, dass die Verbindung der verschiedenen Ebenen letztlich darauf hinauslaufe, alle anderen Ebenen – durch wie auch immer komplexe Zwischenschritte – auf eine Ebene zu reduzieren. In Hartmannscher Redeweise stehen sich nämlich letztlich zwei metaphysische Thesen schroff gegenüber: Die These, dass der Geist das einzig wirkliche sei, und die andere These, dass die Materie das einzig wirkliche sei. Der Einwand besagt also weniger, dass die Erklärungen in den anderen Ansätzen schlecht mit den Phänomenen in Einklang zu bringen seien, als vielmehr, dass ihnen eine falsche, nämlich reduktionistische, Ontologie zu Grunde liege. Es ist klar, dass Hartmann diesen Konflikt zwischen zwei reduktionistischen Thesen (und nicht nur diesen) durch seine Theorie von den Schichten auflösen will: „Das Gesamtphänomen ,Welt‘, so undurchdringlich es im einzelnen sein mag, zeigt doch unbestreitbar und schon für den oberflächlichen Blick erkennbar den Charakter der Schichtung. Gelingt es, diesem Charakter wenigstens mit der Problemstellung gerecht zu werden, so ist die Fehlersituation behoben.“18 Hartmann motiviert diese These von der Schichtung an dieser Stelle doppelt, nämlich einmal dadurch, dass der Konflikt zwischen Idealismus und Materialismus ein aufzulösender sei (also vor dem Hintergrund dessen, was er gelegentlich Aporetik nennt), dann aber auch dadurch, dass der Schichtungscharakter „schon auf den ersten Blick zu erkennen sei“: „Um die Mehrschichtigkeit zu begreifen, genügt es, sich an allgemein Bekanntes zu halten. Niemand zweifelt, dass organisches Leben sich vom Physisch-Materiellen wesenhaft unterscheidet. Aber es besteht nicht unabhängig von diesem; es 18 Hartmann (1933), 13.

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enthält es in sich und beruht auf diesem. (…) Ähnlich ist es mit dem Verhältnis des seelischen Seins zum organischen Leben“ usf.19 Die Schichtenlehre wird nicht aus der Arbeit an konkreten Aufgaben der Geschichtswissenschaft oder anderer Einzelwissenschaften gewonnen, sondern an diese herangetragen. Die Konsequenzen für Beschreibungen und Erklärungen in der Geschichtswissenschaft sind absehbar: Will man ein komplexes historisches Phänomen erklären und dazu angemessen beschreiben, muss man den Schichtungscharakter in Rechnung stellen. Faktoren unterschiedlicher Schichten mögen dabei zusammenspielen. Diese Grundidee lässt sich mit einem längeren Zitat aus Neue Wege der Ontologie gut illustrieren. Dasselbe gilt vom Geschichtsprozess. Um ihn ist viel gestritten worden, vornehmlich darüber, welcher Art von Determination ihn beherrscht. Die Theorien sind dabei fast immer in die Extreme gefallen: sie wollten den Lauf der Menschengeschichte entweder kausal erklären oder ihn auf richtungsgebende Ideen zurückführen, die vom Menschen gesetzt und aktiv verwirklicht werden. Für beides ließen sich Tatsachen anführen, und doch blieb beides einseitig. Man fiel entweder in einen historischen Naturalismus oder in einen historischen Teleologismus. Die Wahrheit ist, dass beide Formen der Determination sich überdecken und vielfach ineinandergreifen. Aber auch das genügt nicht, weil außer ihnen auch noch die organische Determination wesentlich mitspricht; alle Kraftentfaltung, Ausbreitung, aller Reichtum an Talenten, aber auch alle Dekadenzerscheinungen sind durch sie bestimmt. Man muss sich also damit befreunden, dass die bestimmenden Mächte im Geschichtsverlauf sehr verschiedenen Schichten angehören. Dabei aber kommt alles auf die richtige Fassung ihres Ineinandergreifens an.20

Will ich beispielsweise das Verhalten einer Person erklären, kommen Faktoren aller Schichten in ihrem Zusammenspiel in Betracht. Um diesen Erklärungstypus schematisch von den beiden, von Hartmann als einseitig charakterisierten Ansätzen anzugrenzen: Wo dort etwas dann erklärt war, wenn es – durch welche Brückenprinzipien wie auch immer – mit be19 Hartmann (1933), 14 – ein Punkt, auf den nur am Rand hinzuweisen ist, liegt darin, dass es natürlich falsch ist, wenn Hartman etwa behauptet, niemand zweifele, dass organisches Leben von Physisch-Materiellem oder gar von seelischem eben wesenhaft verschieden sei: Die Monisten tun das in gewisser Weise – das ist ja gerade die These eines jeden Reduktionismus, dass solche Unterschiede keine wesentliche Verschiedenheit begründen. Und natürlich ist es zunächst nicht mehr als ein argumentativer Hilfszug zu behaupten, der Konflikt zwischen Theorien müsste nicht entschieden, sondern durch Korrektur ihres gemeinsamen Fehlers (der ja nur in den Augen des Schichtentheoretikers ein Fehler ist) aufgelöst werden. 20 Hartmann (1949a), 40.

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sonderen Konstellationen auf der als grundlegend angenommenen Ebene verknüpft werden kann, so kommt es hier darauf an, das Zusammenwirken verschiedener Faktoren einer Schicht mit dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren aller anderen beteiligten Schichten zu verbinden. Das erfordert natürlich, dass nicht nur die Art und Weise, in der Phänomene oder Ereignisse einer Schicht miteinander zusammenhängen, auf den Begriff gebracht werden kann, sondern mindestens ebenso sehr, dass die Art und Weise, in der Phänomene und Ereignisse verschiedener Schichten zusammenwirken oder einander beeinflussen, erfasst und diagnostiziert werden kann. Die Erklärungsaufgabe scheint also gegenüber reduktionistischen Ansätzen komplexer zu werden, muss doch diesem Ineinanderwirken der Ebenen Rechnung getragen werden. Doch mag dieser Eindruck täuschen: Das System von Brückenprinzipen eher reduktionistischer Ansätze wird nicht minder komplex sein dürfen, wollen diese überzeugen. Aus alldem lässt sich eine Art allgemeiner Strategie Hartmanns im Umgang mit unterschiedlichen Geschichtsphilosophien und Geschichtstheorien ablesen, die auch seine anfängliche Attraktivität bei der Arbeit an den Problemen der Geschichtstheorie ausmachen mag: Hartmann kann versuchen, an unterschiedlichen divergierenden Ansätzen – und ihm lagen ja nicht nur Hegel und Marx, sondern beispielsweise Dilthey und Max Weber, aber auch die Anfänge statistischer Geschichtsschreibung seit Stephen Buckle oder die Sozialgeschichte Karl Erdmanns vor – dadurch in seinen Ansatz zu integrieren (ihr „Wahrheitsmoment“ in Hartmanns Augen also festzuhalten), dass er sie als (noch inadäquate) Thematisierungen tatsächlich für den Geschichtsprozess relevanter Faktoren anerkennt, ihren Anspruch jedoch dadurch begrenzt, dass er sie als Thematisierungen von Faktoren nur einer Schicht auffasst (und damit als einseitige und reduktionistische). Von hier aus lässt sich auch eine Strategie skizzieren, in der Hartmann für die geschichtstheoretischen Grundlagendebatten attraktiv sein könnte: Man mag versuchen, unterschiedliche heutige geschichtswissenschaftliche Ansätze ebenso als einseitige und deshalb inadäquate Thematisierung von tatsächlich für den Geschichtsprozess relevanten Faktoren zu interpretieren. Unterschiedliche begriffliche Rahmenwerke könnten dann vor dem Hintergrund der Schichtenlehre korrigierend re-interpretiert und miteinander systematisch verknüpft werden. Entscheidend für Antwort auf die Frage, ob diese Attraktivität nicht gleichwohl nur eine vermeintliche ist, sind vor allem zwei Fragen: (1.) Die Frage, wie man die Schichten jeweils identifiziert und in ihrer relativen Selbständigkeit charakterisiert;

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und (2.) die Frage, wie genau das Verhältnis der verschiedenen Schichten zueinander zu bestimmen ist, und zwar so, dass es nicht nur in einer Kategorialanalyse beschrieben, sondern auch im konkreten historischen Einzelfall diagnostiziert werden kann. Die Möglichkeiten der Faktorendiagnose zu sichern, muss eine der zentralen Aufgaben der Theoriediskussion sein, sollen die Resultate der Theoriediskussion für die alltägliche Arbeit der Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht werden können. Um hier die Ressourcen des Hartmannschen Ansatzes abschätzen zu können, ist seine Schichtenlehre etwas genauer in den Blick zu nehmen.

III. Der Kern von Hartmanns Lösungsansatz: Die Schichtenlehre Die Äußerungen zur Schichtenlehre im Allgemeinen sind in Das Problem des geistigen Seins äußerst knapp gehalten, gilt das Hauptaugenmerk doch dem geistigen Sein. Sie lassen sich aber ergänzen durch Passagen der ausführlicheren Skizze in Neue Wege der Ontologie und Der Aufbau der realen Welt. Auch diese Schriften bieten natürlich nicht die gesamten Argumentationen, die Hartmann für seine Positionen aufbietet. Doch sind für die nachfolgenden Überlegungen, die weniger die systemimmanente und innerphilosophische Diskussion betreffen, sondern das Verhältnis zur Geschichtswissenschaft, diese Begründungszusammenhänge weniger wichtig.21 Es sind vor allem fünf Punkte, auf die es m. E. in diesem Kontext ankommt: 1. Hartmann unterscheidet mehrere Schichten (nicht etwa nur zwei, wie die bisherigen Überlegungen zu Hegel und Marx nahe legen könnten): Die Schicht der materiellen unorganischen Dinge, die Schicht des organischen Lebens, die Schicht des seelischen Seins und schließlich die Schicht des Geistes (der sich wiederum dreiteilt in individuellen Geist, objektiven 21 Ich kann mich hier auch kürzer fassen, weil einige Beiträge des Sammelbandes die Schichtenlehre ausführlicher – und in Einzelfragen auch anders – interpretieren. Allgemein zu Hartmanns Schichtenlehre Morgenstern (1997), 78 ff., Wolandt (1984), und Stegmüller (1978), 255 ff.

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Geist und objektivierten Geist). Dabei mag man die einzelnen Schichten durchaus noch weiter auffächern. Diese Schichten stehen nicht in einem gleichartigen, kontinuierlichen Verhältnis zueinander. Vielmehr soll zwischen Schichten mit solchem, das räumlich ist (materielle Dinge, organisches Leben), und solchem, das primär durch Akte des Bewusstseins eine „unräumliche Innenwelt“ konstituiert, ein radikaler Schnitt bestehen.22 Das Verhältnis einer jeweiligen niedrigeren zur entsprechenden nächsthöheren Schicht ist jeweils einzeln zu untersuchen. Hartmann betont – und das ist entscheidend –, dass es sich nicht etwa um Gruppen von Dinge handelt, die exklusiv der einen oder anderen Schicht angehörten, sondern dass sich in einzelnen Dingen mehrere Schichten finden können. So habe der Mensch beispielsweise Anteil an all den bisher genannten Schichten. Schichten dürften nicht zu einem Substanzendualismus à la Descartes führen, sie sollen die psycho-physische Einheit nicht verletzen.23 Die Welt ist, wenn man so reden will, eine Art dynamisches Ganzes, das aus mannigfaltigen Determinationsverhältnissen innerhalb und zwischen verschiedenen Schichten aufgebaut ist, in dem also – und das wird wichtig werden – nicht eine Determinationsart (etwa die für unorganische materielle Gegenstände charakteristische kausale) die einzige universale ist. Die Vielzahl der Schichten und die Bestimmung ihres genauen Verhältnisses ist der entscheidende Schritt Hartmanns, um den verschiedenen Einzelwissenschaften ihren genauen Platz zuzuweisen und ihre Arbeiten in ein Verhältnis zueinander zu setzen.

2. Die Differenz zwischen den einzelnen Schichten soll also keine substanzielle sein, wodurch reale Unterschiede zwischen Dingen begründet würden, sondern vor allem darin bestehen, dass Kategorien der einen Schicht in der anderen entweder gar nicht mehr auftreten (z. B. Raum im Geist) oder aber in abgewandelter Form, und dass zwischen den Schichten ein dynamisches Verhältnis wechselseitiger Determination besteht. Ein Beispiel für die Abwandlungen der Kategorien bietet die These, dass die einzelnen Schichten durch unterschiedliche Formen der Determination gekennzeichnet sein sollen: Während kausale Determination in Reinform nur die Ebene der unorganischen materiellen Dinge 22 Hartmann (1949a), 36 f. 23 Vgl. Hartmann (1949a), 38.

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charakterisiere, erscheine diese Kategorie bereits auf der Ebene des Organischen als Determination durch Zweckmäßigkeit, seelisches Sein verfüge seinerseits über eine eigene Determinationsform und spätestens der Geist als Wille verfügt über die spezielle Determinationsform, sich selbst zu determinieren. Ein gemeinsames Grundprinzip, das man in etwa als eine Art weiches „principium rationis sufficientis“ charakterisieren kann, durchzieht zwar alle Schichten, aber eben entscheidend abgewandelt.24 Warum dieses Prinzip – das Hartmann selbst zur Charakterisierung heranzieht – nur als ein (im Vergleich zu Leibniz) – „weiches“ auftritt, wird sofort deutlich, wenn man sich die Determinationsformen auf der Ebene des Geistes ansieht: Noch mancherlei andere Determinationsformen (außer dem Finalnexus) treten im Geistesleben auf. Eine davon ist die Wertdetermination. Werte bestimmen den Willen nicht mit Notwendigkeit, sondern nur als Forderung. Der Wille braucht ihr nicht zu folgen, kann sie aber also solche auch nicht aufheben.25

Dass Determinationsformen im Bereich des Geistes nicht mit Notwendigkeit determinieren, ist einer der entscheidenden Punkte der Hartmannschen Schichtenlehre: „Der freie Wille ist nicht der unentschiedene, sondern gerade der ,entscheidende‘. Es ist also ein positiv determinierendes Moment in ihm, und das gerade ist die Hauptsache.“26 Der Wille bei Hartmann muss sich so oder anders entscheiden können. Das „principium rationis sufficientis“ muss also so „weich“ gelesen werden können, dass es letztlich keinen zureichenden Grund mehr fordert, warum etwas (eine Willensentscheidung etwa), der Fall ist, und nicht vielmehr nicht.27 Gleichwohl ist diese Abschwächung des „principium rationis sufficientis“ für Hartmann entscheidend: Denn nur so lässt sich, seiner Meinung nach, die „Selbstbestimmung des Willens“ so denken, dass es „Zurechenbarkeit und Verantwortung“ gibt.28

24 25 26 27

Hartmann (1949a), 56. Hartmann (1949a), 58. Vgl. Hartmann (1949a), 58. Die Frage, ob das überhaupt noch als ein einheitliches Prinzip aufgefasst werden kann, sei hier nicht weiter verfolgt. 28 Hartmann (1949a), 58.

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3. Natürlich stellt sich neben der Frage, wie Vorkommnisse auf ein und derselben Schicht sich determinieren können, ebenso dringend die Frage nach dem dynamischen Verhältnis dieser Schichten untereinander, bzw. danach, in welchem Verhältnis Vorkommnisse verschiedener Schichten einander determinieren können und inwieweit dabei die unterschiedlichen Determinationsformen zu berücksichtigen sind. Hartmann charakterisiert die Verhältnisse zwischen den Schichten zunächst durch eine ganze Reihe von Gesetzen und eine ganze Reihe von Metaphern, die primär die Systematik der Abwandlung der Kategorien und den Grad an Autonomie der verschiedenen Schichten erfassen sollen. Eine ganze Reihe von Formulierungen Hartmanns ist hier zu registrieren: Zunächst behauptet er, dass untere Schichten in die höheren in dem Sinn „hineinragen“, dass Kategorien der niederen Schichten in verwandelter Form auch dort auftreten. Weiterhin soll gelten, dass die höheren Schichten in bestimmtem Sinn kein selbständiges Sein haben, sondern „getragen“ sind von den niederen. Sie haben lediglich ein „aufruhendes Sein“. Weiterhin behauptet Hartmann, dass die höheren Schichten die „Gefüge“ der niederen Schichten nicht durchbrechen könnten, sondern nur „überformen oder überbauen“. Wie genau das auszulegen ist, ist schwierig (dazu unten mehr). Hartmann charakterisiert die Rolle der niederen Schicht relativ auf die höhere gelegentlich auch nur als die einer conditio sine qua non, und entsprechend behauptet er, dass die höhere Schicht, obzwar getragen von den niederen, „gegenüber ihr unbegrenzten Spielraum habe“, bzw. autonom sei.29 Wie auch immer hier die Zusammenhänge zu interpretieren sind: Die Charakteristika der höheren Schicht sind nicht aus der niederen Schicht erklär- oder ableitbar, in ihr ist ein Moment des Neuen, ein Novum. Diese These ist ein Kernstück der Theorie Hartmanns, ist sie doch die Abgrenzung von jeglicher Form des Reduktionismus. 4. Die genannten Thesen und Formulierungen betreffen zum einen die Verhältnisse in den irreduziblen einzelnen Schichten, dann die Fragen nach dem Abwandlungsverhältnis der kategorialen Bestimmungen von 29 Vgl. Hartmann (1957), 15; sowie Hartmann (1949a), 101.

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Schicht zu Schicht und schließlich das Verhältnis der Schichten untereinander. Entscheidend für die weiteren Überlegungen ist dabei vor allem die letzte Frage, verstanden als die Frage nach den Möglichkeiten und Formen, in denen Vorkommnisse etwa der niederen Schicht Vorkommnisse der Höheren beeinflussen oder bewirken können (und gegebenenfalls – umgekehrt). Ein Beispiel dafür bietet etwa die Frage, wie es zu erklären ist, dass ein bestimmtes Molekül zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle in einer Zelle (also einem Organismus) ist. Nun ist klar, dass – außerhalb des funktionalen Kontextes der Zelle – hierfür der Möglichkeit nach eine Erklärung gemäß den Determinationsformen materieller Dinge gegeben werden soll. Zugleich ist aber auch klar, dass derselbe Umstand, insofern das Molekül Bestandteil der Zelle ist, der Möglichkeit nach gemäß dem Prinzip der Zweckmäßigkeit aus der Funktionalität der Zelle erklärt werden soll. Die entscheidende Frage ist, wie sich – im Kontext der Schichtenlehre – beide Typen von Erklärungen zueinander verhalten. Hier wird deutlich, dass es nicht genügt zu sagen, dass eben dann, wenn kausal determiniert auf der niederen Ebene eine bestimmte Konstellation eintritt, sich auf der höheren Ebene zwangsläufig das irreduzibel Neue einstellen muss (eben die Zelle). Das wäre schlicht kein Spielraum der höheren Ebene, sondern ihre vollständige Determination durch die niederere. Hartmann versucht – wenn ich es richtig sehe –, diese Frage so zu lösen, dass er annimmt, die höhere Ebene könne ihren Spielraum nicht dadurch ausnutzen, dass sie die Determination der Bestandteile der niederen Ebene einfach durchbrechen, deren Determinationsformen einfach außer Kraft setzen und sich so umstandsund bedingungslos „durchsetzen“ könne. „Durchsetzen“ soll sie sich in gewissem Rahmen gleichwohl können.30 Hartmann scheint anzunehmen, dass es einerseits durchaus möglich ist, dass die niedere Schicht auch insofern in die höhere „hineinragt“, als sie in irgendeiner Weise beeinflusst, was auf dieser höheren Ebene geschieht, wie auch umgekehrt, dass Ereignisse der höheren Ebene in irgendeiner Weise beeinflussen können, was auf der niederen Ebene geschieht. Die Metapher vom „durchsetzen“ suggeriert hier, dass Kräfte der verschiedenen Ebenen um Einfluss ringen.

30 Vgl. Hartmann (1949a), 99.

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5. Diese Probleme werden auf den Ebenen des Geistes noch dringender, denn hier gilt es, das Problem der Willensfreiheit zu lösen: Spätestens mit dem Seelenleben setzt in den Augen Hartmanns ein Moment der Spontaneität ein, die natürlich auf Ereignisse der niederen Schichten zurückwirkt. Höhere Schicht bedeutet eben auch „Autonomie“: Die Autonomie des Organismus gegenüber der Gesetzlichkeit der unbelebten Natur ist an sich um nichts weniger merkwürdig als die des Willens gegenüber dem Geflecht seelischer Motive. Denn hier wie dort setzt sich die Autonomie gegen Abhängigkeit ,von unten her‘ durch, die nicht zu bestreiten ist. Und nicht anders ist es mit der Autonomie des Bewusstseins, sofern sie sich gegen die Determination des sie tragenden Organismus durchsetzt. Wir haben es also mit einer aufsteigenden Reihe von Autonomien zu tun.31

Auf den niederen Schichten bestehen Determinationsverhältnisse, die sich nicht verändern lassen. Schon in diesem Sinn ruhen die höheren Schichten auf den niederen auf. Obwohl sich die Determinationsverhältnisse nicht verändern lassen, lassen sich – so Hartmann – in diese Verhältnisse „neue Komponenten“ einfügen; die Schichten sind gegeneinander nicht abgeschlossen. Diese „neuen Komponenten“, von denen Hartmann spricht, sind vermutlich Resultate von Vorkommnissen auf der höheren Ebene, die dann in der niederen Ebene als ganz reguläre Faktoren gemäß der spezifischen Determinationsweisen dieser niederen Ebene fungieren. Bestimmte Resultate in der materiellen Welt kann der freie Wille – um bei diesem Beispiel zu bleiben – nur erzielen, wenn er durch „neue Komponenten“ zusätzliche Faktoren in der materiellen Welt schafft, denn die Determinationsverhältnisse selbst kann er nicht durchbrechen.32 31 Hartmann (1949a), 99. 32 Ich stütze mich bei dieser Lesart auf folgende Passage: „In jedem Stadium einer Kausalreihe ist eine Mannigfaltigkeit bestimmender Faktoren beisammen, welche die Komponenten einer gemeinsamen Resultante ausmachen. Aufheben läßt sich keine von ihnen, denn jede hängt selbst schon an einer Kette von Ursachen. Wohl aber lassen sich neue Komponenten hinzufügen. Die Gruppe der Komponenten ist kein geschlossenes System, sie steht jedem Eingriff offen, der dem determinativen Ganzen ein bestimmtes Glied hinzuzufügen vermag. (…) Darum ist der Kausalnexus überformbar (…) Wäre die Welt von unten auf final geordnet, so könnte der Mensch keinerlei Aktivität entwickeln. Seine Zwecksetzung würde in den Lauf der Geschehnisse nicht eingreifen können. Ist sie aber bloß kausal bestimmt, und ist finale Bestimmung ein Vorrecht des Menschen, so steht

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Für positive Freiheit des Willens bleibt Spielraum, ohne daß die Kausalkette durchbrochen würde, sofern nur der Mensch als sittliches Wesen einen intelligiblen Kern hat, der in der Willensentscheidung mitspricht.33

Wenn ich es richtig sehe, darf deshalb das Verhältnis zwischen den einzelnen Schichten nicht umstandslos als Supervenienzverhältnis gedeutet werden. Für Supervenienzverhältnisse ist charakteristisch, dass gleiche Konstellationen der Supervenienzbasis (der niederen Schicht) gleiche Konstellationen auf der supervenierenden Ebene haben (der höheren Schicht), und dass es keine Veränderung auf der höheren Schicht gibt, ohne dass es eine Änderung auf der niederen Schicht gäbe. Die Verhältnisse korrelieren also, so dass eine neue, von der höheren Schicht bewirkte Komponente ohne entsprechende Konstellation in der niederen Schicht nicht möglich ist. Bei Hartmann scheint es aber so zu sein, dass etwa bei gleichem Zustand des lebendigen Organismus eines Menschen sein sich selbst determinierender Wille sich verschieden determinieren kann. Das ist geradezu eine Voraussetzung seiner Ethik.34 Es ist deshalb kein Zufall, dass Hartmann bei seiner „Auflösung“ des Problems Freiheit/ Determinismus durchaus von autonomen, spontanen „Eingriffen“ des Willens in die Konstellationen niederer Schichten redet.35 ihm die Umlenkung der Prozesse in den Grenzen seines Verständnisses für Kausalzusammenhänge frei. Denn diese nehmen die Komponente des von ihm gesetzten Zweckes auf und führen sie im Gesamtablauf ebenso weiter fort wie die Auswirkungen ihrer eigenen Komponenten.“ (Hartmann, 1949a, 104, Hervorh. R.S.) – vgl. dazu auch Hartmann (1949b), 566 ff., sowie Baumgartner (1982), der die Zusammenhänge dieser Position Hartmanns ebenso analysiert wie ihre Aporien. 33 Hartmann (1949a), 101. 34 Vgl. hierzu Hartmann (1949b), 569 f.: „Es ist notwendig sich hierbei klarzumachen, daß Willensfreiheit ein überaus komplexes Verhältnis ist. Man kann in ihr drei übereinandergeschaltete Autonomien erkennen. Die eine ist die gegenüber den niederen Determinationen, vor allem also gegenüber dem Kausalnexus, sofern er den Willen bestimmt; die zweite aber ist die gegenüber dem moralischen Prinzip (dem Sittengesetz, den Werten), sofern der Wille auch gegen das Prinzip verstoßen kann. Die erste hat die Form der positiven, die zweite die der negativen Freiheit.“ 35 Hartmann (1949a), 104 – ob es angesichts dieses Vorschlags zur Auflösung des Freiheitsproblems genügt, bei der Hartmann-Interpretation den Supervenienzbegriff um einen Emergenzbegriff zu ergänzen, kann hier nicht diskutiert werden. Wichtig scheint mir dabei allerdings der Umstand, dass es nicht genügt, eine Interpretation für das Verhältnis der unorganischen und der organischen Schicht zu finden, sondern dass eben auch das Verhältnis zu der Schicht, die den freien Willen ausmacht, damit erfasst werden können muss.

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Nun kann man durchaus skeptisch sein, ob diese Konzeption des Einfügens neuer Komponenten in einen Kausalzusammenhang tatsächlich eine überzeugende Lösung des Freiheitsproblems darstellt. Dabei ist es vielleicht weniger wichtig, ob durch solche Eingriffe nicht elementare Erhaltungssätze der Naturwissenschaft verletzt werden. Wichtiger wäre vielmehr zu prüfen, ob Hartmann letztlich überhaupt über einen kategorialen Begriff vom Einfügen solcher neuen Komponenten verfügt und ob er sich überhaupt entwickeln lässt: Erschaffen Vorkommnisse auf der höheren Ebene (z. B. Willensakte) Vorkommnisse auf der niederen gleichsam ex nihilo? Gibt es besondere Kräfte von Vorkommnissen auf der höheren Ebene, die auf die niederere einwirken können? Unproblematisch ist die Konzeption Hartmanns in diesem Punkt sicherlich nicht, wenn denn die hier vorgelegte Skizze annähernd angemessen ist. Gerade weil es im gegenwärtigen Zusammenhang weniger um eine systemimmanente und innerphilosophische Diskussion der Schichtenlehre Nicolai Hartmanns geht, als vielmehr um die Frage, ob er damit einen produktiven Beitrag zu den Grundlagendiskussionen der Geschichtswissenschaft geleistet hat, wird diese Unklarheit im Folgenden noch eine Rolle spielen müssen.

IV. Die Schichtenlehre und die Methodenprobleme der Geschichtswissenschaft Um die bisherigen Überlegungen nun auf die Methodenprobleme der Geschichtswissenschaften zuzuspitzen, ist kurz eine Reihe von Fragen zu verfolgen. Sie betreffen zum einen die Konsequenzen der Schichtenlehre für die Aufgaben des Erklärens in der Geschichtswissenschaft, zum anderen die Frage, ob diese Anforderungen überhaupt in die methodische Arbeit der Geschichtswissenschaft übersetzt werden können. Letztlich geht es bei diesen Überlegungen auch darum, die eingangs exponierte These plausibel zu machen, dass sowohl Hartmanns Anspruch, Kategorien des Seienden als solche zu entdecken, wie die internen Systematisierungszwänge seiner Schichtenlehre dazu führen, dass in der Geschichtswissenschaft nicht produktiv an Hartmanns Versuche angeschlossen werden kann. Natürlich geht es dabei auch darum, eine Richtung anzudeuten, in der Alternativen zu suchen sind. Zu den Konsequenzen seiner Schichtenlehre für die Aufgabe des Erklärens in den Geschichtswissenschaften hat Nicolai Hartmann in der Einleitung zu Das Problem des geistigen Seins einige Hinweise gegeben:

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Weil das geschichtliche Sein in den Augen Hartmanns ein im skizzierten Sinn mehrschichtiges ist, müssen Erklärungen historischer Phänomene diesem komplexen Aufbau der Schichten gerecht werden. Die kategoriale Dependenzgesetzlichkeit wird also in ihnen auch grundsätzlich dieselbe sein, wennschon sie Besonderung zeigen kann. Die niedere Schicht muss die ,tragende‘ sein, die höheren aber müssen als getragene zugleich doch auch autonom ihnen gegenüber sein. Woraus folgt, dass die besonderen Faktoren jeder Schicht in ihrer Eigenart unableitbar sind und nur dem einschlägigen Phänomenkreis abgewonnen werden können. Die volle Struktur oder Form des Geschichtsprozesses muss hiernach eine überaus komplexe sein. Es kann grundsätzlich alles in sie hineinspielen, was die Welt an Seinsmannigfaltigkeit enthält.36

Anders gesprochen: Es sind Faktoren auf unterschiedlichen Schichten in Rechnung zu stellen, die einerseits innerhalb der jeweiligen Schicht in verschiedener Weise determiniert sind (vom Kausalgesetz bis hin zur spontanen Selbstdetermination des Wollens) und andererseits in irgendeiner Weise durch Faktoren anderer Schichten beeinflusst sein können oder aber Faktoren anderer Schichten beeinflussen. In gewisser Weise trägt Hartmann damit dem Umstand Rechnung, dass prinzipiell Faktoren jeglicher Art in der Geschichtswissenschaft eine Rolle spielen können. Dass jedoch mit Hartmanns Formulierung der Zusammenhänge in der Tat hohe Anforderungen an Erklärungen gestellt sind, die zumindest über die alltäglichen Anforderungen an Erklärungen hinausgehen, lässt sich an Beispielen verdeutlichen, die zunächst noch gar nichts spezifisch Geschichtswissenschaftliches an sich haben. Wenn ich mich frage, warum ich mir beim Schreiben des Aufsatzes eine Zigarette anzünde, dann müsste ich idealer Weise bei der Erklärung dieses Ereignisses sämtliche relevanten Faktoren auf sämtlichen involvierten Schichten zusammendenken und in ihrem Zusammenwirken rekonstruieren. Dazu gehören die physiologischen Prozesse meines Körpers ebenso wie mein Verhalten gegenüber Werten, dazu gehören aber auch die Reize, die der Gedanke an eine Zigarette auf mich ausüben mag, oder die Nervosität beim Schreiben oder aber der Einfluss, den der Kaffeekonsum auf meine Stimmungen hatte usf. Der entscheidende Punkt, den Hartmann geltend macht, ist, dass man sich eben nicht damit begnügen darf, nur Faktoren eines Typs in Rechnung zu stellen – etwa meinen Wunsch – sondern das Zusammenspiel von Faktoren verschiedener Schichten. Eine vollständige Erklärung müsste alle relevanten Faktoren in ihrem Zusammenspiel 36 Hartmann (1933), 18.

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gemäß den dafür in der allgemeinen Ontologie von Hartmann entwickelten Zusammenhängen in Rechnung stellen. Allerdings wird schon hierbei sichtbar, dass die oben angedeutete Unklarheit für das Erklären von Handlungen – und entsprechend auch der eigentlichen geschichtlichen Ereignisse – ein massives Folgeproblem aufwirft: Mein Griff nach der Zigarette ist nämlich auf ganz verschiedene Weise erklärbar. Er könnte sich entweder dem Umstand verdanken, dass mein freier Wille sich zu dieser Handlung entscheidet und entsprechend in den niederen Schichten durchsetzt, so dass es zur Handlung kommt, oder er könnte sich schlicht dem Suchtverhalten verdanken, also einer niedrigeren Schicht, selbst wenn mein Wille das eigentlich gar nicht wollte oder aber – aufgrund der Konzentration aufs Schreiben – gar nicht damit befasst war. Diese Fälle scheinen unproblematisch, denn ich müsste mich ja eigentlich nur erinnern, um herauszubekommen, welche der beiden Alternativen tatsächlich der Fall war. Doch ist noch ein dritter Fall denkbar: Es mag sein, dass mein Wille den Entschluss gefasst hat, zu rauchen, der Wille sich aber gar nicht in den niederen Schichten durch Anordnung der entsprechenden Komponenten durchsetzt, sondern die Handlung ausschließlich aufgrund der – natürlich – zugleich wirksamen Suchstruktur zustande kam. Hier vermag auch sorgfältigste Introspektion nicht zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Die Hartmannsche Konstruktion formuliert Differenzierungen, die wir zwar auch in unserem Alltagsverständnis gerne machen, bei denen wir aber nicht entscheiden können, was tatsächlich der Fall gewesen ist.37 Das liegt nicht etwa an der Vollständigkeitsforderung (die in allen Ansätzen nur ein Ideal ist), sondern an den Problemen der vorgängigen Bestimmung der Arten und Weisen des Zusammenspiels der Faktoren verschiedener Ebenen in einer, der eigentlichen einzelwissenschaftlichen Arbeit vorgelagerten philosophischen Theorie. Die hier entscheidende Frage lässt sich auch folgendermaßen formulieren: Wenn für die Theorie Hartmanns der Begriff des „Spielraums“ der höheren Schichten und insbesondere des freien Willens zentral ist (um nur bei diesem Beispiel zu bleiben), und das Verhältnis zwischen Schichten als eine Art Spiel der Kräfte gedeutet werden muss, dann muss man fragen können, wie solche Fälle, in denen aufgrund dieser Kräfte37 Das Problem kommt hier natürlich durch den Freiheitsbegriff ins Spiel – der Kant Anlass zu der Beobachtung gab, dass wir durch Erfahrung nicht wissen können, ob eine bestimmte unserer Handlungen tatsächlich frei gewesen ist (oder nicht vielmehr heteronom).

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verhältnisse keinerlei Spielraum bestand, von solchen Fällen zu unterscheiden sind, in denen dieser Spielraum bestand. Ansonsten hat dieser Begriff – zumindest für die geschichtswissenschaftliche Arbeit – wenig Bedeutung. Wenn ich richtig sehe, gibt es jedoch keinerlei Möglichkeiten, diese Frage mit guten Gründen im Einzelfall zu entscheiden. Das ist für sich genommen kein Grund, den Begriff des „Spielraums“ aufzugeben. Man kann sich allerdings überlegen, ob er nicht auf andere Weise zu bilden ist, als es Hartmann vorschlägt, auch wenn der Begriff dann einige der Ansprüche insbesondere für die praktische Philosophie, die er damit verbinden mag, nicht mehr erfüllen kann. Dazu ist allerdings ein kurzer Blick auf die Art und Weise hilfreich, in der in der Geschichtswissenschaft der Begriff „Handlungsspielraum“ gebildet wird. Ein Beispiel bietet dafür der Katalog zur zweiten Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“, in dem es ein regelrechtes Kapitel zu „Handlungsspielräumen“ gibt.38 Gerade in diesem Punkt versucht nämlich die zweite Ausstellung den konzeptionellen Bruch mit der weitaus umstritteneren ersten Ausstellung deutlich zu machen, die eher auf das Konzept einer spezifischen, für die Morde hinreichenden „Mentalität“ der Verbrecher setzte. Die Autoren und Ausstellungsmacher nähern sich diesem Begriff nicht so, wie man es vielleicht erwarten mag: Sie untersuchen nicht Befehlsstrukturen, Verordnungen und Gesetzestexte. Sie haben vielmehr einen Fall herausgesucht, in dem drei Kommandanten in drei hinreichend ähnlichen Situationen denselben Befehl (zur Erschießung von Juden) erhalten und sich vollkommen verschieden verhalten haben. Der eine führt den Befehl aus, der andere zögert, bespricht sich, versichert sich durch Rückrufe des Befehls, bevor er ihn ausführt, und der dritte führt ihn – ohne nennenswerte Konsequenzen – nicht aus. Der Schluss, der sich dann aus diesem Befund ziehen lässt, ist der, dass es – unter den gegebenen Bedingungen – gewisse Handlungsspielräume gab. Um den m. E. springenden Punkt herauszuarbeiten: Der Begriff „Handlungsspielraum“ wird hier relativ auf eine Menge von Bedingungen gebildet, bei denen, wenn sie gegeben sind, immer noch verschiedene Möglichkeiten oder Resultate offen sind. Dabei kann man verschiedene Typen von Bedingungen in den Blick nehmen und entsprechend verschiedene Begriffe von Handlungsspielräumen bilden. 38 Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (2002), zum Hintergrund Lüdke (2006) – meine Interpretation dieses Begriffs weicht dabei von Reemtsma (2006) ab.

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Unter Umständen sind – wenn vergleichbare Umstände vorliegen – gut begründete Antworten auf die Frage nach möglichen Handlungsspielräumen zu erwarten. Der Begriff ist so gebildet, dass die Verfahren zur Beantwortung solcher Fragen aus ihm entwickelt werden können und es nur von den bekannten Fällen abhängt, ob sie sich tatsächlich beantworten lassen (oder nicht). Dabei ist dieser Begriff des „Handlungsspielraums“ relativ auf den Typ von Bedingungen, die in ihn eingehen und von Hause aus mit keiner ontologischen These über Determinismus oder Indeterminismus verbunden. Alles, was mit der Diagnose von Handlungsspielräumen gesagt wird, ist, dass unter den in den Blick genommenen Bedingungen kein eindeutiges Ergebnis zwingend ist; nicht ausgeschlossen wird damit, dass unter Hinzunahme weiterer Bedingungen dasselbe Resultat vollständig erklärbar wird. So mag man sich in obigem Beispiel vorstellen, dass unter Hinzunahme von Bedingungen wie Bildungsgeschichte, Konfessionszugehörigkeit, Familiensituation usf. erklärbar wird, warum der eine der Kommandanten so, und der andere anders gehandelt hat. Wenn sich das dann noch bei ähnlichen Fällen analog beobachten lässt, liegt die Vermutung nahe, dass es notwendig war, dass der eine so und der andere anders gehandelt hat. Mit anderen Worten: Einsetzbar ist der Begriff „Handlungsspielraum“, wenn er epistemisch relativiert und nicht als ontologischer Begriff verstanden wird, und wenn er von vornherein mit Möglichkeiten zur Diagnose von Handlungsspielräumen verbunden ist. Ähnliches lässt sich auch für den Grundbegriff geltend machen, der die Konzeption der ersten Ausstellung tragen sollte, also den Mentalitätsbegriff.39 Man kann Mentalitäten vielleicht am besten fassen als ein Bündel von Erwartungen, relativ auf gegebene Bedingungen. Etwa mag man von einem Geizigen erwarten, dass er in bestimmten Dingen über das Maß hinaus sein Geld zusammenhält. Diese Bündel von bedingten Erwartungen sind dabei zurückgebunden etwa an bestimmte Äußerungen des Betreffenden, eine bestimmte Lebensgeschichte, eine bestimmte Milieuzugehörigkeit usf. Kurz gesprochen: Mentalitäten lassen sich vielleicht am besten als eine Art theoretischer Begriffe rekonstruieren, in die gesetzesartige Aussagen eingehen, und mit deren Hilfe eine (zumindest statistisch wohl begründete) Verknüpfung über bestimmte Lebensumstände etc. einerseits und erwartbare Verhaltensweisen anderer-

39 Vgl. Heer u. Naumann (1995).

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seits hergestellt wird.40 Auch diese Begriffe sind mithin epistemisch relativ, für bestimmte Erklärungsaufgaben entwickelt, sie können verschiedenste Umstände verknüpfen, und sie dienen insbesondere der Handlungserklärung. Insofern gesetzesartige Aussagen in sie eingehen, sind sie der methodischen Kontrolle zugänglich. Dabei sollte man sich nicht durch den Umstand irritieren lassen, dass mentale Ereignisse (wie zum Beispiel bestimmte Überzeugungen, Wahrnehmungen, Erfahrungen etc.) im Einzugsbereich dieser so konstruierten Begriffe liegen können.41 Alles in allem sind Begriffe von Mentalitäten damit weniger letzte Erklärungsgründe oder Erklärungsstopper, sondern gleichsam methodische Hilfsmittel und Zwischenschritte beim Erklären. Auch hier handelt es sich also um eine Gruppe von Begriffen, die eng in Auseinandersetzung mit dem konkreten historischen Material gebildet werden. Grund zu ontologischen Hypostasierungen gibt es dabei nicht – recht aufgefasst, schließen sich Mentalitätsbegriffe und Begriffe von Handlungsspielräumen auch gar nicht aus (erst die ontologische Deutung dieser Begriffe weckt dieses Problem). Dazu muss man nur annehmen, dass mit der Zuschreibung von Dispositionsbegriffen auch statistische Zusammenhänge behauptet werden können. Blickt man von hier aus zurück, dann fällt auf, dass sich der Begriff des Spielraums bei Hartmann nicht aus einem bestimmten einzelwissenschaftlichen Erkenntnisproblem in einer bestimmten epistemischen Situation und unter bestimmten wissenschaftlichen Methoden ergibt, sondern letztlich eine Konsequenz aus den Konstruktionsprinzipien seiner Schichtenlehre ist: Der Begriff des Spielraums verdankt sich dort nämlich den Gesetzen der Abwandlung der Kategorien und der Forderung nach einer Steigerung der Autonomie der höheren Schicht trotz all ihrer Abhängigkeit von der niedereren. Er verdankt sich damit letztlich den Systemzwängen des vermeintlichen Problemdenkers. Weil es Hartmann als Ontologen darum geht, Begriffe des Seienden als solchen zu entdecken, gehen in die Bildung solcher Begriffe auch nicht die Kriterien ihrer Anwendbarkeit ein. Alles das führt dazu, dass sich die ontologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft erstaunlich weit von den Problemen der geschichtswissenschaftlichen Arbeit entfernt und für diese kaum fruchtbar zu machen ist. Eine Philosophie, die einen wirklichen Beitrag zur einzelwissenschaftlichen Arbeit leisten möchte, wird sich 40 Vgl. dazu ausführlicher Schnepf (2011), Kap. 4.1 – vgl. Grauss (1987) und Gilcher-Holtey (1998). 41 Vgl. dazu Schnepf (2010).

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entsprechend in noch höherem Maße, als es Hartmann getan hat, auf die spezifischen Probleme – aber auch die konkurrierenden Begriffsbildungen – dieser Einzelwissenschaften einlassen müssen, um sich – zumindest in ihren ersten Schritten – mit erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Reflexionen zu bescheiden. Will man aber gleichwohl an einer ontologischen Grundlegung der Geschichtswissenschaft arbeiten, dann wird man methodisch sichern müssen, dass ihre Begriffsbildung flexibel an die geschichtswissenschaftlichen Begriffsbildungen anknüpft und dabei ständig die Bedingungen der Anwendbarkeit dieser Begriffe im Blick hat – von Hartmanns Programm müsste man sich dann allerdings nachhaltig verabschieden.

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,Wahrnehmung‘ in Nicolai Hartmanns erkenntnistheoretischem Realismus1 Magnus Schlette Eine kritische Untersuchung muss, wie Hartmann in der Einleitung zu seinem erkenntniskritischen Hauptwerk Grundzge einer Metaphysik der Erkenntnis aus dem Jahr 1921 schreibt, „ihren Ausgangspunkt einzig im Gehalt der Probleme […] wählen und sich […] den Standpunkt erst aus dem sachlichen Gang der Untersuchung zu bilden suchen“2, also standpunktlos beginnen. Als einzige Voraussetzung der philosophischen Forschung anerkennt Hartmann „die ganze Breite der Erfahrung […], sowohl der des Alltags und des praktischen Lebens, als auch der wissenschaftlichen“3. Wer daher die Resultate der Einzelwissenschaften missachte, betreibe ein „von vornherein verlorenes Spiel“4. Die Argumentationsarchitektonik seiner ,neuen Sachlichkeit‘5 für den Stufengang erkenntnistheoretischer Selbstvergewisserung hat Hartmann mit den Stichworten „Phänomenologie“, „Aporetik“ und „Theorie“ benannt. Die Erkenntnistheorie soll dem Sachlichkeitsgebot dadurch entsprechen, dass sie – Stichwort Phänomenologie – vom Erkenntnisphänomen ihren Ausgang nimmt. „Die Phänomene wahren, ist erstes Erfordernis“6, mahnt Hartmann wiederholt und mit Referenz an das Deskriptionspostulat von Husserls Phänomenologie, demzufolge der Anspruch jeder erkenntnistheoretischen Untersuchung auf Wissenschaftlichkeit „den 1

2 3 4 5 6

Ich danke Thomas Kirchhoff und Thorsten Moos von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft sowie Lambert Wiesing und den Teilnehmern an seinem Kolloquium an der Jenaer Universität für Kommentare zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. Ebenso danke ich den Teilnehmern an der Wuppertaler Nicolai Hartmann-Tagung vom Frühjahr 2011 für die Diskussion meines Vortrages, auf dem der Aufsatz basiert. Hartmann (1949), 8. Hartmann (1947), 213. Hartmann (1955), 1. Auf die Geisteshaltung der „neuen Sachlichkeit“ im Kontext der Zwanziger Jahre, an der auch Hartmann durch den Stil seines Philosophierens Anteil habe, weist Jasper Blystone hin (vgl. Blystone (1982), 63). Hartmann (1955), 8.

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strengen Ausschluß aller Aussagen“ erzwingt, „die nicht phänomenologisch voll und ganz realisiert werden können“.7 Der in diesem Sinne phänomenologische Anfang der Philosophie dient – Stichwort „Aporetik“ – der Problematisierung menschlicher Erkenntnistätigkeit. Ihre aporetische Struktur beruht laut Hartmann im Wesentlichen darauf, dass Erkenntnis sub specie ihres Vollzugs bewusstseinsimmanent und sub specie ihres Gehalts bewusstseinstranszendent ist. Daraus ergibt sich die Frage, wie das Subjekt der Erkenntnis mit deren Objekt überhaupt in Tuchfühlung gelangen kann. Wenn Hartmann schließlich im Bemühen um die Lösung dieses Problems – Stichwort „Theorie“ – selbst einen Standpunkt bezieht, dann jedenfalls mit dem Anspruch, der phänomenologischen Basis seines Unterfangens treu zu bleiben, das heißt: die Relata der Subjekt-Objekt-Relation nicht in dem jeweils anderen zu fundieren oder aus ihm abzuleiten, sondern in ihrer Gleichwertigkeit für die Erkenntnistätigkeit zu bewahren. Will man Hartmann grundsätzlich die „neue Sachlichkeit“ seines Philosophierens zugestehen – die Nüchternheit phänomensensibler, problemorientierter Standpunktlosigkeit –,8 dann gilt es auch, sie beim Wort zu nehmen und jeweils immer nur im einzelnen daraufhin zu prüfen, ob sie ihren eigenen Ansprüchen genügt. Zur Prüfung stehen dabei gerade auch diejenigen Einzelanalysen an, welche die spätere Theoriebildung argumentationsarchitektonisch fundieren. Damit treten also vor allem die Phänomenanalysen und die daraus entwickelte Aporetik des Erkenntnisproblems in den Fokus der Aufmerksamkeit. Denn Phänomenanalyse und Aporetik sollen ja überhaupt erst die Nachfrage nach einem philosophischen Standpunkt erzeugen, der Hartmann dann mit seiner Ontologie gerecht werden will. Ich beschränke mich im Folgenden auf einen bestimmten Phänomenbereich des Erkenntnispro7

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Vgl. Husserl (1993), 19. Hartmann wirft Husserl allerdings vor, diesem Anspruch selbst nicht gerecht zu werden. Ebenso ausdrücklich wie er an die phänomenologische Methode anschließt, weist er die Methodenlehre der Phänomenologie als standpunktlichen Idealismus zurück (vgl. Hartmann (1949) V). Lewis White Beck bezweifelt allerdings, dass Standpunktlosigkeit möglich ist und versteht Hartmanns Ausgangspunkt von der natürlichen Einstellung als nicht minder standpunktlich als die von ihm kritisierten Positionen der idealistischen Tradition (vgl. Beck (1982), 47). Vielleicht kann man sagen, dass Hartmann insofern vorstandpunktlich philosophiert, als er den Anspruch erhebt, dass die Philosophie der natürlichen Einstellung gegenüber verantwortlich ist, dass ihre Ergebnisse also aus der Perspektive der Ersten Person als plausible Beschreibung dieser Perspektive nachvollziehbar sein können müssen. Das verbindet ihn mit der husserlschen Phänomenologie.

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blems, nämlich auf die Wahrnehmung äußerer Gegenstände. Und ich lege mir die Frage vor, ob Hartmanns Phänomenanalyse der Wahrnehmung seinem grundlegenden Anspruch gerecht wird, standpunktfrei im Ausgang von und in Verantwortung gegenüber der natürlichen Einstellung zu argumentieren. Ich gehe so vor, dass ich zunächst Hartmanns Phänomenanalyse ausführlich darstelle (I). Ausgehend von einer problemgeschichtlichen Verortung seiner Wahrnehmungskonzeption werde ich dann die These entwickeln, dass es eine Reihe von unplausiblen wahrnehmungsphilosophischen Weichenstellungen in Hartmanns Argumentation gibt, die seine Version eines erkenntnistheoretischen Realismus betreffen und auch Konsequenzen für den begrifflichen Zuschnitt seiner Ontologie haben (II). Abschließend will ich mit einem kursorischen Ausflug in John McDowells Philosophie eine aktuelle Alternative zu Hartmanns erkenntnistheoretischem Realismus andeuten, die diese Weichenstellungen vermeidet (III).

I. Hartmanns Wahrnehmungsanalyse Die Wurzel des Erkenntnisproblems ist eine Auffassung, von der Hartmann gleich in den ersten Zeilen seines erkenntnistheoretischen Hauptwerks schreibt, dass sie standpunktlich unhintergehbar sei, die Auffassung nämlich, „dass Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegenstandes ist […], sondern ein Erfassen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist“9. Auf die Frage, warum diese Auffassung standpunktlich unhintergehbar sein soll, lautet Hartmanns Antwort sinngemäß, dass der Gegenstand erkenntnistheoretischen Philosophierens der jeweilige Erkenntnisakt sei, dass ferner der Ausgangspunkt erkenntnistheoretischen Philosophierens die intentio obliqua auf diesen Gegenstand und schließlich dasjenige, was intentione obliqua, das heißt in einem Bewusstseinsakt zweiter Ordnung, zugänglich werde, der bewusstseinstranszendente Bezug des Bewusstseinsaktes erster Ordnung sei. Die Pointe besteht nun darin, dass das zweiter Ordnung Bewusste „reines Gegenstandsbewußtsein [ist], d. h. weder Subjekts- noch Akt- noch Bildbewußtsein“; mit anderen Worten: „der intentio obliqua erschließt sich, dass in der intentio recta der Gegenstand allein […] ,erfaßt‘ [wird], nicht außer ihm auch noch sein Erfaßtwer9

Hartmann (1949), 1.

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den“10. Der Gegenstand erkenntnistheoretischer Forschung ist demnach der reflexiv evidente Sachverhalt, im Vollzug alles erkennenden Bewusstseins, alltagssprachlich formuliert, ganz bei den Dingen zu sein, selbstvergessen bei ihnen zu verweilen, und zwar bei Dingen, deren Gegenständlichkeit, deren Gegenübersein – im Unterschied beispielsweise zu den intentionalen Gegenständen der Tagträumerei – im Gegenstandsbewusstsein mitbewusst ist. Das Wissen wiederum um die Gewissheitsanmutung, im Erkennen intentione recta ganz bei den Dingen zu sein, bedarf der erkenntnistheoretischen intentio obliqua, gerade weil das Subjekt im Vollzug des Bewusstseinsaktes erster Ordnung sich nicht mitbewusst ist, sondern ganz vom jeweils Bewussten absorbiert wird. Der Zusammenhang dieser Erkenntniskonzeption mit Hartmanns Wahrnehmungsbegriff ist nicht schwer herzustellen. Bei der Wahrnehmung handelt es sich – mit einer technischen Metapher – um ein Modul der Erkenntnis realer Gegenstände (im Unterschied zur Erkenntnis idealer Gegenstände), und zwar der Erkenntnis a posteriori (im Unterschied zur Erkenntnis a priori). Das heißt, zusammenfassend, dass die Wahrnehmung für die Erkenntnis erfahrbarer Einzeltatsachen der realen Welt eine maßgebliche Rolle spielt. Denn erstens sei die Anmutung der Bewusstseinsempfänglichkeit für bewusstseinstranszendente Gegenständlichkeit, wie Hartmann bereitwillig konzediert, „in erster Linie in der Wahrnehmung faßbar“11, und zweitens falle ins Gewicht, dass „die gesamte äußere Gegenstandserkenntnis, auch die streng wissenschaftliche, sich auf die Wahrnehmung als letzten und absoluten Zeugen verläßt“12. Mit anderen Worten: Das Erkenntnisproblem, sofern es sich für die Erkenntnis realer Gegenstände stellt, ist in erster Linie eine Frage der Wahrnehmungsphilosophie. Nicht zuletzt von der richtigen Interpretation des Wahrnehmungsphänomens hängt Hartmanns Behandlung des Realismusproblems und schließlich auch die erkenntnistheoretische Grundlegung seiner Ontologie ab. Den Kern der äußeren Wahrnehmung erfasst Hartmann „im Hinsehen auf den konkreten Gegenstand, im Hinnehmen dessen, was von ihm unmittelbar entgegentritt, als eines Faktums“13. Entgegen treten zunächst die „letzten Gegebenheitselemente der Wahrnehmung“, nämlich die der Empfindung. Das spezifisch wahrnehmungsmäßig 10 11 12 13

Hartmann (1949), 45. Hartmann (1949), 339. Hartmann (1949), 381. Hartmann (1949), 380.

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Empfundene sei nichts weniger als ein „indifferentes, bestimmungsloses ,X‘“, sondern „unmittelbares Realitätszeugnis“.14 Die Gewissheit einer bewusstseinsunabhängigen Welt realer Gegenstände beruht demnach auf der für die Wahrnehmung spezifischen Empfindung; „Empfindung gewährt eben erst das Bewußtsein von Wirklichkeit berhaupt, und das […] Existentialurteil hat in ihr seine Basis“15. Die Pointe liegt darin, dass das Bewusstsein von der „Wirklichkeit überhaupt“ ein Bewusstsein – wie er sich üblicherweise ausdrückt – von der mannigfaltigen Objizierbarkeit einer bewusstseinstranszendenten Wirklichkeit ist. Hartmann will darauf hinaus, dass uns im Sinneszeugnis Realität in Gemeinsamkeit und Differenz mit seiner Erscheinung für uns als mannigfach erkennbar, wiewohl noch nicht erkannt gegeben ist. In der Wahrnehmungsempfindung erscheine real Seiendes als sich gleichzeitig Entziehendes, als an sich Seiendes, das zwar nicht erkenntnisinkommensurabel, aber doch erkenntnisinkongruent ist. In Hartmanns Worten: „Da sie [gemeint ist die Empfindung – M.S.] […] zugleich ein qualitativ Differenziertes ist, welches auch Mannigfaltigkeit des Realen vermittelt, so ist Empfindung als Erkenntnisquelle zugleich ein berechtigtes inhaltliches Wirklichkeitszeugnis. Daß die Qualitäten, welche sie gibt, nicht direkt als solche des realen Objekts gelten dürfen, sondern entsprechender wissenschaftlicher Interpretation unterliegen, ändert hieran nicht das geringste.“16 14 Hartmann (1949), 382, 383. 15 Hartmann (1949), 384. 16 Hartmann (1949). Hartmanns Formulierung erinnert an die „Erkenntnis überhaupt“, die Kant in seiner dritten Kritik der reflektierenden ästhetischen Urteilskraft zubilligt und deren Begriff dort eine wichtige argumentationsstrategische Funktion einnimmt. Denn über den Begriff der Erkenntnis überhaupt sichert sich Kant gegen den Einwand ab, seine Rezeptionsästhetik sei erkenntnistheoretisch belanglos; mit ihm wahrt er den Anschluss an Baumgartens Theorie einer cognitio sensitiva unter erkenntniskritischen Bedingungen. Kants Pointe ist eine systematische Nähe zwischen dem Erkenntnisurteil und dem ästhetischen Urteil. Während das Erkenntnisurteil den Gegenstand durch dessen Subsumption unter allgemeine Begriffe bestimmt, erschließt das ästhetische Urteil den Gegenstand sub specie seiner mannigfaltigen Bestimmbarkeit (,die wiederum als subjektiv belebend erfahren wird). Die Erkenntnis überhaupt der Bestimmbarkeit charakterisiert den Eigenwert des ästhetischen Gegenstandsbezugs gegenüber dem theoretischen (vgl. zu dieser Interpretation der „Erkenntnis überhaupt“ Scheer (1997), 87 – 92; Früchtl (1996), 75). Kants ,Erkenntnis überhaupt‘ hat also den Sinn, einen Horizont der Gegenstandserkenntnis zu eröffnen. Das ist die Parallele zu Hartmann, dessen durch die Wahrnehmung erschlossene „Wirklichkeit überhaupt“ einen Horizont bestimmter Wirklichkeitserkenntnis – im Sinne des objizierbaren Seienden – eröffnet.

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Damit ist für Hartmann schon klar, dass sich die Wahrnehmungsrelation nicht in einer Subjekt-Objekt-Relation erschöpft, sondern in ihr das Objekt sub specie der Objizierung eines an sich, das heißt unabhängig vom erkennenden Subjekt bestehenden Gegenstandes gemeint ist. Und dieser Bezug auf etwas an sich Seiendes ist konstitutiv für den Wahrnehmungsbegriff. Daraus ergeben sich dann auch Hartmanns Vorbehalte gegenüber der husserlschen Phänomenologie. Denn wenn – in der Formulierung John Searles – ,Geist-auf-Welt-Ausrichtung‘ und ,Weltauf-Geist-Verursachung gleichermaßen zum Inhalt unseres Begriffes des intentionalen Wahrnehmungsobjekts zählen,17 dann können wir auch nicht in phänomenologischer Epoché vom Transzendenten absehen; die Epoché würde unter der Hand den Gegenstand der phänomenologischen Beschreibung ändern. Darum notiert Hartmann, seine Analyse des Erkenntnisphänomens weiche in einer Beziehung von derjenigen der Phänomenologen ab (- wobei diese pauschale Kritik aber vor allem die Phänomenologie Husserlscher Provenienz trifft und keineswegs alle Phänomenologen seiner Zeit): „Diese halten sich ausschließlich an das Immanente im Phänomen und lassen das Transzendente in seiner Eigenart nicht zu Wort kommen“. Wer aber, so Hartmann, „das vom Bewusstsein gemeinte Ansichsein des Objekts ignoriert, oder auch nur als bloß logisches auffasst“, der „schränkt […] das Gewicht des Phänomens ein und mischt in seine Beschreibung ein Moment der Theorie“ – für Hartmann ist das „ein Rest standpunktlicher Voreingenommenheit“.18 Dieser Kritik würden sich diejenigen Phänomenologen sofort anschließen können, die Husserls Neu-Cartesianismus wahrnehmungsphilosophisch ablehnen, wie prominenterweise Merleau-Ponty oder in der Gegenwart zum Beispiel Lambert Wiesing, der sich ausdrücklich auf Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung bezieht, wo er die phänomenologische Epoché im Sinne einer Inhibierung der Seinssetzung für ein wahrnehmungsphilosophisches Ding der Unmöglichkeit erklärt. „Ich bin eben nur ein Wahrnehmender“, so Wiesing, „wenn ich in dem Zustand bin, mich in einer realen Wirklichkeit und nicht in einer Scheinwelt für anwesend zu halten. Folglich widerspricht der Gedanke einer phänomenologischen Epoché dem Gedanken einer phänomenologischen Beschreibung meiner Situation, in die ich durch meine Wahrnehmung geraten bin. Wird bei der Wahrnehmung ihre Daseinssetzung eingeklammert, also Epoché geübt, dann beschreibt man schlicht 17 Vgl. John Searle (1991), 73, 93. 18 Hartmann (1949), 77, 79.

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nicht mehr das Phänomen der Wahrnehmung. Das bedeutet: Die Epoché in der Wahrnehmungsphilosophie vollzieht sich nicht als eine Enthaltung bei der Frage nach dem Sein des Wahrgenommenen, sondern ausschließlich als eine Enthaltung bei der Verwendung von Modellen bei der Beschreibung der Wahrnehmung“19 – mit den Modellen sind theoretische Konstruktionen gemeint, die von der phänomenologischen Beschreibung nicht gedeckt werden können. Den Vorschlag, die Epoché als Enthaltung von der Modellverwendung bei der Phänomenanalyse zu verstehen, würde wiederum Hartmann vorbehaltlos unterschreiben können – er entspricht seinem Anspruch standpunktlicher Unvoreingenommenheit. Zurück zum Begriff der „Wirklichkeit überhaupt“, demzufolge die Wahrnehmungsempfindung einen Horizont bestimmter Wirklichkeitserkenntnis – im Sinne des objizierbaren Seienden – eröffnet: Darin steckt die Zweideutigkeit einerseits der Gewissheit des Wahrnehmenden, dass er an sich Seiendes erfasst, und andererseits der Ungewissheit, wie das Erfasste an sich ist. Zumindest ein phänomenologisch unmittelbar einsichtiger Grund für diese Zweideutigkeit könnten Phänomene des Irrtums und der Täuschung sein. So bestehe der Prozess der Erfahrung als einer fortschreitenden Erkenntnis wesentlich in fortschreitender Berichtigung von Täuschungen und Irrtümern.20 Täuschungen und Irrtümer sind aber, sofern wir uns auf die Erkenntnis realer Gegenstände beschränken, im Wahrnehmungsakt lokalisiert. Auf die Frage, wie sich der Realitätsbezug der Wahrnehmung mit der Anerkenntnis von Wahrnehmungstäuschungen, also doch wohl einer bestimmten Art des Irrealitätsbewusstseins vereinbaren lasse, liefert Hartmann zufolge die Struktur der Erkenntnisrelation die Antwort. Denn der Erkenntnisakt sei „in Wirklichkeit stets eingebettet in einen breiten Erlebniszusammenhang“21, und in diesem Erlebniszusammenhang begegneten uns die Gegenstände als etwas „was uns praktisch „angeht“, mit dem wir uns im Leben „stellen“ und „auseinandersetzen“ müssen, womit wir „fertig werden“ müssen, was wir benutzen, überwinden oder ertragen müssen. Das Erkennen“, so Hartmann, „hinkt gemeinhin erst weit hinterher“22 und wo es dann auftritt, ist die „Meinung über das Erfaßte […] direkt in das 19 20 21 22

Wiesing (2009), 146. Hartmann (1949), 46. Hartmann (1949), 15. Hartmann (1931), 15.

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Erfaßte hineininterpoliert, erscheint also am Inhalt des Erfaßten“23. Wahrnehmungsphilosophisch zugespitzt: der Realitätsbezug der Wahrnehmung ist der Unterscheidung zwischen veridischen und non-veridischen Wahrnehmungen vorgelagert, und diese Unterscheidung ist im wesentlichen eine Frage der Meinungen über das Erfasste, die der Wahrnehmende in das Wahrgenommene „hineininterpoliert“. Die Fundiertheit der Meinungen in praktischen Interessen ist dabei allerdings nur eine Fehlerquelle der Gegenstandserfassung; eine andere besteht in der physiologischen Ausstattung des Menschen und den kontingenten physischen Wahrnehmungsbedingungen. Kurz, der phänomenologisch einsichtige Sachverhalt, dass die Erkenntnisrelation einer Seinsrelation aufruht, ist auch der Grund dafür, dass Irrtümer und Täuschungen diese Erkenntnisrelation eintrüben können. Legen wir Hartmanns allgemein erkenntnistheoretische Argumentation wahrnehmungsphilosophisch weiter aus, dann bringen wiederum die Irrtümer und Täuschungen den Wahrnehmenden zum Bewusstsein der Differenz zwischen dem Gegenstand, wie er an sich ist, und „wie er gesehen, erfasst oder gemeint ist“, und zwar tun sie das genau dann, wenn „erneutes Erfassen zu erstmaligem Erfassen in inhaltlichen Gegensatz tritt“.24 In der durchschauten Täuschung wird demnach der Wahrnehmungsgehalt als „Erkenntnisgebilde“ sichtbar, anders formuliert: der vermeintlich direkte Bezug auf bewusstseinstranszendente Realität wird als indirekter Bezug durchschaut, der durch ein Bild des Wahrgenommenen vermittelt ist. Erwäge man ferner, „daß zwar nicht alle Erkenntnis Täuschungen enthält, wohl aber alle Erkenntnis Täuschungen enthalten kann“, so folge daraus, dass „notwendig in aller Erkenntnis jenes Dritte“ – das Bild des Seienden – „in die Subjekt-Objekt-Relation schon eingeflochten ist, und folglich unabhängig von seiner Bewusstheit oder Unbewußtheit – ja unabhängig auch vom Grade seiner Aufzeigbarkeit im Einzelfall – immer schon vorhanden ist“25. Im Horizont dieser Abbildtheorie der Erkenntnis kann Hartmann dann auch sagen, die Individualerkenntnis realer Gegenstände verdanke ihren Gegebenheitscharakter den Sinnesdaten“, diese seien „eine Art Materie der Gegenstandserkenntnis“, die dem durch sie bildhaft Repräsentierten keinesfalls ähnlich sei.26

23 24 25 26

Hartmann (1949), 46. Hartmann (1949), 47. Hartmann (1949), 47. Hartmann (1949), 406, 407.

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Dabei soll für die Wahrnehmungsinhalte wie für alle Bewusstseinsgehalte der Satz gelten: „ihre Subjektivitt hebt ihre Objektivitt nicht auf“, will heißen: „daß Bewußtseinsgebilde als solche allen Seinsgebilden jenseits des Bewußtseins heterogen sind, hindert nicht, daß erstere die letzteren im Subjekt repräsentieren, und somit zugleich subjektiv und objektiv sind“27. Diese grundsätzliche Vereinbarkeit von Subjektivität und Objektivität der Erkenntnisgebilde muss natürlich in jedem Einzelfall erwiesen werden, und deren Erweis bleibt angesichts der Zukunftsoffenheit des Erkenntnisprozesses prinzipiell fallibel. Aber sie beruht laut Hartmann jedenfalls auf „einer seienden Grundrelation zwischen den Qualitäten des Objekts und denen der sinnlichen Repräsentation“, die „ihren festen, für jeden Sinn identischen Modulus des Umsatzes besitzt“28. Die Sinnesdaten fungieren darin als Symbole, welche das durch sie objizierte bewusstseinstranszendente Sein repräsentieren. „Innerhalb eines solchen Systems von Symbolen kann der geringste Winkelzug des repräsentierten Seienden seinen Ausdruck typischer Art, gleichwie in einer Sprache, haben. Das heißt aber, alles in ihm Ausgedrückte kann sehr wohl im Sinne einer eindeutigen Zeichensprache wahr sein, ohne doch dem Gegenstande ähnlich zu sein. Seine Wahrheit würde einfach in der Eindeutigkeit der Zuordnung zwischen Symbol und Symbolisiertem bestehen.“29 Die Sinne sind also erkenntnisfunktional als ein repräsentationales Notationssystem des objizierten Seienden.

II. Problemgeschichtlicher Zusammenhang und Kritik Nach dem forciert realistischen Auftakt seiner Erkenntnistheorie mag Hartmanns repräsentationalistische Wende überraschen. Aber man muss berücksichtigen, was er sich davon erhofft. Seine Spielart des Repräsentationalismus soll – um seinen eingangs zitierten Anspruch zu wiederholen – „die ganze Breite der Erfahrung […], sowohl der des Alltags und des praktischen Lebens, als auch der wissenschaftlichen“30, zur begrifflichen Geltung bringen. In wahrnehmungsphilosophischer Engführung ist damit nicht nur die grundsätzliche Berücksichtigung der Bewusstseinstranszendenz des Wahrgenommenen gemeint, sondern auch 27 28 29 30

Hartmann (1949), 385. Hartmann (1949), 408. Hartmann (1949), 398 f. Hartmann (1947), 213.

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die Einsicht in die nicht minder grundsätzliche Irrtumsanfälligkeit der Wahrnehmung, die einen wissenschaftlichen Fallibilismus nahelegt. Schließlich ist aber auch die Anerkenntnis gemeint, dass Wahrnehmung niemals bloß rezeptiv ist, sondern immer auch Anteil an geistiger Spontaneität hat.31 Denn andernfalls ließe sich nicht erklären, dass Perspektivendifferenz und Gegenstandsidentität intrinsisch wechselbezügliche Aspekte sowohl des einzelnen Wahrnehmungsvollzugs als auch der intersubjektiven Koordination einzelner Wahrnehmungen sind, in Hartmanns Worten: „Phänomen ist die Sphäre der Wissenschaft, Phänomen ist die Möglichkeit der dialogischen Verständigung und die partiale Deckung der exzentrisch zueinander gestellten Vorstellungswelten […]; kurz, Phänomen ist die immanente oder intersubjektive Apriorität einer ganzen Klasse von Erkenntniselementen, die aller und jeder konkreten Sacherkenntnis beigemischt sind“32. Dass die auf Wahrnehmung beruhende Erkenntnis a posteriori, also die Erkenntnis des Einzelnen, überhaupt möglich ist, hat beispielshalber einen Begriff des Einzelnen zur Voraussetzung, der allgemein ist und intersubjektiv geteilt wird. Nur durch diesen Begriff lässt sich Einzelnes als Einzelnes in Abweichung und Gemeinsamkeit mit anderem Einzelnen situationsübergreifend identifizieren und reidentifizieren. Hartmanns Repräsentationalismus versteht sich problemgeschichtlich als eine Art Synthese aus dem realistischen Dogmatismus der natürlichen Einstellung und dem idealistischen Kritizismus. „Der natürliche Realismus“, so lesen wir in Grundzge einer Metaphorik der Erkenntnis, „hat recht mit der nackten Realitätsthese, denn das Reale liegt in der Objektrichtung der natürlichen Erkenntnis; aber er hat unrecht mit der Adäquatheitsthese. Die spekulativen Standpunkte“ – und darunter versteht er gesamthaft die transzendentalphilosophischen Idealismen subjektiver Gegenstandskonstitution – „haben recht mit der Aufhebung der letzteren“ – also der Adäquatheitsthese –, „aber unrecht mit der Streichung des Realen aus der Objektrichtung.“ Diese Kritik richtet sich gleichermaßen gegen Kants Behauptung der schlechthinnigen Unerkennbarkeit des ,Ding an sich‘ wie gegen die Husserlsche Epoché. Die 31 „Repräsentation“, so Hartmann, „braucht weder bloß rezeptiv noch bloß spontan zu sein, sie kann auch aus Elementen beider Art zusammengesetzt sein. Und dieses ist der Fall, der auf das Phänomen der Objekterkenntnis zutrifft“ – und zwar ausdrücklich bereits in der Wahrnehmung (vgl. Hartmann (1949), 339, 340). 32 Hartmann (1949), 344.

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Aufgabe bestehe darin, die Realitätsthese des natürlichen Weltbildes beizubehalten, aber die Adäquatheitsthese aufzuheben.33 Der repräsentationalistische Pfad, den er einschlägt, ist zunächst der empiristischskeptischen Tradition verwandt, die von Locke und Hume bis in die positivistischen Spielarten der Hartmann zeitgenössischen Erkenntnistheorie führt. So zeigt seine Argumentation für das Erkenntnisgebilde als einer Schnittstelle zwischen dem Wahrnehmenden und dem Seienden eine frappierende Ähnlichkeit mit dem „argument from illusion“, mit dem Alfred Ayer die Theorie der Sinnesdaten begründet hat.34 Aber natürlich will Hartmann die Konsequenz der empiristischen Phänomenanalyse vermeiden, wonach die Sinnesdaten respektive die Erkenntnisgebilde, deren Materie sie sind, zwar von der realen Welt verursacht werden, aber in keiner epistemischen Relation zu dieser stehen. Denn dagegen führt Hartmann die Grammatik des Wahrnehmungsbegriffs – und allgemeiner: des Erkenntnisbegriffs – an. Martin Morgenstern hat daher Recht, dass Hartmanns Phänomenologie „im Grunde eine verschleierte Begriffsanalyse ist“35. Aber besser sollte man sagen, Hartmann erläutere die phänomenologische Grammatik der Wahrnehmung, derzufolge Sprache und Erleben wechselseitig die natürliche Überzeugung stützen, dass wir auf eine bewusstseinstranszendente Welt bezogen sind. Nicht diese habe sich daher zu rechtfertigen, sondern die Beweislast falle demjenigen zu, „der sich vom natürlichen Gegenstandsbewußtsein und von der Sachlage des Erkenntnisphänomens entfernt und eine Behauptung aufstellt, die von vornherein den Stempel der Widernatürlichkeit trägt“36 – wie er in Richtung idealistischer Gegenstandskonstitution formuliert, aber ebenso gut gegen die Sinnesdatentheoretiker in der empiristischen Tradition Humes argumentieren könnte. Nicht nur dieser Einwand rückt Hartmann in die Nähe Thomas 33 Hartmann (1949), 188. 34 Dieses Argument, so Ayer, basiere auf der Tatsache, „that material things may present different appearances to different observers, or to the same observer in different conditions, and that the character of these appearances is to some extent causally determined by the state of the conditions and the observer“ (Ayer (1940), 3). Da es keinen intrinsischen Unterschied zwischen veridischen und illusorischen Wahrnehmungen gebe, vielmehr beide nur graduell differierten, würde folgen, dass wir nicht nur im Täuschungsfalle, sondern grundsätzlich immer „indirekt“, nämlich vermittelt über Sinnesdaten die Welt wahrnähmen. Vgl. Ayer (1940), 6, 8. 35 Morgenstern (1997), 34. 36 Hartmann, (1949), 229.

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Reids. Mit Reid verbindet ihn auch der Aufweis der phänomenologischen Grammatik unserer Wahrnehmung37 sowie deren Fundierung in Empfindungen, die „by a natural kind of magic“, wie Reid das formuliert, als Zeichen für die realen Gegenstände fungieren. „Empfindungen sind mentale Zustände, die insofern unverzichtbar für die Wahrnehmung sind, als sie von den Gegenständen der Wahrnehmungen in unserem Geist ausgelöst werden und dafür verantwortlich sind, dass wir die entsprechenden Vorstellungen und Überzeugungen über diese Gegenstände erwerben.“38 In diesem Sinne hat Alexander Staudacher Reids Wahrnehmungstheorie als „semiotischen Realismus“ bezeichnet und bezweifelt, „ob sich Reids Auffassung am Ende wirklich so stark von dem von ihm kritisierten System der Ideen“ – dem Repräsentationalismus Lockes und Humes – „unterscheiden kann wie es zunächst den Anschein hat“39. Denn die Empfindungsmaterialität der Wahrnehmung tritt nun zwischen Subjekt und Objekt. Dabei weist sie im Falle primärer und sekundärer Qualitäten zeichenfunktional jeweils unterschiedlich über sich hinaus. „Although there is no resemblance“, so Reids Beobachtungen in seiner Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense, „nor, as far as we know, any neccessary connection, between that quality in a body which we call its colour, and the appearance which that colour makes to the eye, it is quite otherwise with regard to its figure and magnitude. There is certainly a resemblance, and a necessary connection, between the visible figure and magnitude of a body, and its real figure and magnitude; no man can give a reason why a scarlet colour affects the eye in the manner it does; no man can be sure that it affects his eye in the same manner as it affects the eye of another, and that it has the same appearance to him as it has to another man; – but we can assign a reason why a circle placed obliquely to the eye, should appear in the form of an ellipse. The visible figure, magnitude, and position may, by mathematical reasoning, be deduced from the real; and it may be demonstrated, that every eye that sees distinctly and perfectly, must, in the same situation, see it under this form, and no other.“40 Die Begriffe der Ähnlichkeit und der notwendigen Verbindung in der zitierten Passage qualifizieren die jeweilige Zeichenrelation, in der die Empfindungen zu der Sache stehen. Im Falle der Wahrnehmung primärer 37 38 39 40

Vgl. Reid (1983), 83 f. Staudacher (2008), 323. Staudacher (2008), 337. Reid (1983), 70.

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Qualitäten ist die Empfindungsmaterialität (die z. B. aus Farbkontrasten besteht) dem Wahrnehmungsgehalt (z. B. Gestalteigenschaften) äußerlich, dagegen ist dieser Wahrnehmungsgehalt bestimmten Eigenschaften des realen Gegenstandes ähnlich bzw. notwendig verbunden; im Falle der Wahrnehmung sekundärer Qualitäten verhält es sich umgekehrt: die Empfindungsmaterialität (z. B. die Rotempfindung) ist dem Wahrnehmungsgehalt (z. B. der Rotwahrnehmung) wesentlich, dagegen ist der Wahrnehmungsgehalt den Eigenschaften der realen Gegenstände nur äußerlicherweise, oder, in den Worten Hartmanns, über einen „identischen Modulus des Umsatzes“ verbunden. Dieser Modulus besagt zum Beispiel, dass eine bestimmte Oberflächeneigenschaft des realen Gegenstandes unter (eigens zu definierenden) normalen Wahrnehmungsbedingungen von Sprechern der deutschen Sprache so wahrgenommen wird, dass sie das Wahrgenommene mit ,rot‘ prädizieren. Die Gemeinsamkeiten zwischen Reid und Hartmann sind frappant. Nicht nur berufen sich beide auf die Wahrnehmung als Quelle einer realistischen Verteidigung der natürlichen Einstellung, nicht nur konzeptualisieren beide das Verhältnis zwischen Empfindung und Wahrnehmung ähnlich, sie halten auch beide grundsätzlich an der Unterscheidung der epistemischen Dignität primärer und sekundärer Qualitäten fest, und sie reduzieren beide den Realitätsbezug sekundärer Qualitäten auf eine Art „funktionale[r] Abhängigkeit“ der repräsentierenden qualia von der repräsentierten Sache.41 So gesehen erweist sich Reids Wahrnehmungskonzeption in Grundzügen als ein Vorläufer von Hartmanns Realismus. Darum trifft die Kritik, Reid werde seinem Anspruch nicht gerecht, den common sense gegen dessen philosophische Nivellierung zu verteidigen,42 auch Hartmann. Und es stellt sich die Frage, ob dem Realismus sowohl Reids als auch Hartmanns nicht ein latenter Szientismus zugrunde liegt. Was Reid betrifft, so orientiert sich seine Philosophie an dem Bild eines Baumes der Erkenntnis, der mit dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen im Boden des common sense verwurzelt ist, dessen Stamm der gemeine Verstand ist und dessen Äste die Wissenschaften bilden. „Reid kann in diesem Sinne“, so Brady Bowman, „auch Newtons […] regulae philosophandi naturalisieren und für ,Maximen des Common Sense‘ erklären. Diese behauptete Kontinuität zwischen dem Common Sense und der idealisierten Methodologie (Newtonscher) Naturwissenschaft“ erkläre die „ungeheuerlichen Erfolge, welche die 41 Hartmann (1949), 395. 42 Vgl. Staudacher (2008), 339.

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empirischen Wissenschaften infolge der neuzeitlichen Emanzipation aus spekulativen Vorgaben der Theologie erzielt haben.“43 An Hartmann wäre die Frage zu richten, ob seine Beteuerung, er wolle „die ganze Breite der Erfahrung […], sowohl der des Alltags und des praktischen Lebens, als auch der wissenschaftlichen“, gegen das standpunktliche Philosophieren verteidigen, nicht den Hintersinn hat, die wissenschaftliche Erfahrung gegen „die Kinderschuhe des naiven Bewußtseins“44 auszuspielen. Wo Hartmann schreibt, die intersubjektive Übereinstimmung über den realen Gegenstand sei der Möglichkeit nach eine totale, und darauf beruhe „die Allgemeingültigkeit der transzendenten Gegenstandserkenntnis und die Möglichkeit der Naturwissenschaft“,45 da meint man umgekehrt herauszuhören: die Wirklichkeit der Naturwissenschaft sichere die Möglichkeit totaler intersubjektiver Übereinstimmung über den realen Gegenstand. Hartmanns Abweichung vom Pfad der natürlichen Einstellung beruht auf zwei Voraussetzungen seiner Argumentation, die schließlich auch seine Philosophie der Standpunktlichkeit überführen. Erstens setzt er den Repräsentationalismus seiner Phänomenanalyse voraus, anstatt ihn aus ihr heraus zu entwickeln. Und zweitens versteht er die Möglichkeit totaler intersubjektiver Übereinstimmung in der Erkenntnis realer Gegenstände als sukzessive Erweiterung des Raums standpunktirrelativen Wissens, das den „view from nowhere“ (Th. Nagel) auf die Gesamtheit des realgegenständlich Seienden erstrebt; das ist der wissenschaftliche bias seiner Philosophie. Verbindet sich die erste Voraussetzung mit der zweiten, so wird die Wahrnehmung der real gegenständlichen Welt dem Anspruch permanenter Korrektur unterworfen, die alle sekundären Qualitäten als subjektive Projektionen aus dem Begriff realer Gegenständlichkeit ausfiltert. Die Hauptlast an dieser doppelten Weichenstellung trägt der Repräsentationalismus, der entgegen Hartmanns Beteuerungen keinesfalls mit der natürlichen Einstellung vereinbart werden kann. Begründet werden soll der Gedanke eines Gegenstandsbezugs, der durch Erkenntnisgebilde vermittelt ist, durch das Phänomen der Täuschung und des Irrtums. So argumentierten, wie ausgeführt, auch schon Ayer und andere Sinnesdatentheoretiker. Und die Kritik, die an diesen geübt wurde, passt auch auf Hartmann. 43 Bowman (2003), 152. 44 Vgl. Hartmann (1949), 188. 45 Hartmann (1949), 369.

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So wendete John Austin gegen Ayers „argument from illusion“ ein, nur weil es im Allgemeinen stimme, dass wir auch wirklich die Dinge gesehen haben, die wir gesehen zu haben glauben, könnten wir uns überhaupt „täuschen“, d. h. diesen Begriff jeweils situationsangemessen richtig verwenden. Unsere Erfahrungen richten die Normalitätsstandards auf, an denen wir uns orientieren oder die uns vorgehalten werden, wenn wir erkunden, ob wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt getäuscht haben.46 Genau dasselbe Argument wendete Max Scheler gegen Nicolai Hartmann. Schon der Begriff der „möglichen Täuschung“ in Hartmanns Sinne setze Einsicht in die Sache selbst voraus und gerade das Phänomen der Enttäuschung widerlege die Schlussfolgerung von dem vermeintlichen Täuschungsbild auf das grundsätzlich auch im veridischen Fall vorliegende Erkenntnisbild.47 Auch Austins zweiter Einwand gegen die Ausbeutung von Täuschungsphänomenen für den Repräsentationalismus trifft nicht nur Ayer und Price, gegen die sie sich vor allem richtet, sondern auch Hartmann. Denn zwar gebe es, so Austin, fraglos genügend Fälle, in denen nicht entscheidbar ist, ob wir etwas tatsächlich wahrgenommen oder uns das nur eingebildet haben. Diese Fälle seien aber kein Einwand gegen unseren direkten Realitätsbezug. Denn aus der phänomenalen Ununterscheidbarkeit des Täuschungsfalls vom täuschungsfreien Wahrnehmungsfall folge mitnichten, dass beide denselben intentionalen Gehalt haben. Es ist aber umgekehrt ebenso falsch, dass „zwei Dinge, die nicht ,generisch dieselben‘ – d. h., nicht von ,gleicher Art‘ – sind, sich weder gleichen noch sehr ähnlich sein können“. Austin verdeutlicht das am Beispiel des Spiegelbildes: „[…] [W]enn ich z. B. nie einen Spiegel gesehen hätte und man mir sagte, (a) daß man in Spiegeln die Reflexion von Gegenständen sieht und (b) daß Reflexionen von Dingen nicht „generisch dasselbe“ seien wie die Dinge selbst, bestünde dann ein Grund für mich, nun zu erwarten, daß es einen riesengroßen Unterschied zwischen meinem Sehen der Dinge und meinem Sehen ihrer Reflexionen gäbe? Natürlich nicht; wenn ich klug wäre, würde ich einfach abwarten, um zu sehen, wie eine Reflexion aussieht.“48 Wenn Hartmanns Begründung des Repräsentationalismus unplausibel ist, dann betrifft das aber auch seine Formulierung der Erkenntnisaporetik. Sie soll auf der Antinomie des Bewusstseins beruhen, derzufolge das Bewusstsein einerseits – These – aus sich heraustreten msse, sofern es 46 Austin (1975), 24. 47 Scheler (1976) 203. 48 Austin (1975), 69.

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etwas außer sich erfasst, und es andererseits – Antithese – nicht aus sich heraustreten kçnne, sofern, Wortlaut Hartmann: „es nur seine Inhalte erfassen kann, d. h. sofern es erkennendes Bewußtsein ist“.49 Auf Hartmanns Antithese trifft nun aber Lambert Wiesings Vorwurf zu, die genaue Phänomenbeschreibung der Modellbildung geopfert zu haben. Die Erkenntnisaporetik lässt sich aus einer Analyse der natürlichen Einstellung nicht begründen. Vielmehr ist Hartmanns Repräsentationalismus in das Problem verstrickt, Erkenntnis als Übereinstimmung von Erkenntnisgebilde und an sich seiendem Gegenstand denken zu müssen. Demnach setzt Erkenntnis eine Art Selbstverdoppelung voraus sowie danach die Prüfung, wie die eigenen mentalen Zustände auf die Welt bezogen sind. Wo läge der Standpunkt, von dem aus diese Prüfung vorgenommen werden könnte? Im Falle Hartmanns liegt es nahe, wie gesagt, diesen Standpunkt der Wissenschaft zu reservieren. Das zeigt das Beispiel der Farbwahrnehmung. Ähnlich wie Reid, nur im Einzelnen noch differenzierter, nimmt Hartmann hier eine identische Gesetzlichkeit der Zuordnung zwischen elementarer Sachbeschaffenheit und Wahrnehmungselement (etwa zwischen einer bestimmten Oberflächenbeschaffenheit des Körpers und dem Rot)“ an. „In dieser Gesetzlichkeit steckt“, so Hartmann, „die doppelte Identitt und Allgemeinheit: 1. die intersubjektive für alle Wahrnehmenden und 2. die objektive, d. h. das Entsprechen zwischen Gleichartigkeit der Sachstrukturen und Gleichartigkeit der Sinnesqualitäten.“50

III. Eine neuere Alternative zum Realismus à la Hartmann Hartmanns Zuordnung von Sinnesqualitäten zu Sachstrukturen verlangt, was Bernard Williams in seiner Verteidigung der Idee von Wissenschaft als eines „project of pure inquiry“ als „archimedischen Punkt“ bezeichnet hat.51 Die Objektivität der äußeren Wahrnehmungswelt wird zwar in der natürlichen Einstellung intendiert, aber erst in der wissenschaftlichen verbürgt. Dieser Vorstellung eines archimedischen Punktes des Wissens, den die Wissenschaften setzen, ist vielfach widersprochen worden, und zwar mit Argumenten, die auch gegen Hartmann gerichtet werden könnten. Ich beschränke mich im Folgenden auf John McDowells 49 Hartmann (1949), 62. 50 Hartmann (1949), 412. 51 Williams (1990), 67.

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Version dieser Einwände. „Ohne in eine skeptische Einstellung zur allgemeinen Verlässlichkeit der Wissenschaft zu verfallen“, so McDowell, „kann man durchaus vermuten, so etwas wie ein philosophisches Hirngespinst stecke in dem Gedanken, die Vorstellung von der Wissenschaft könne einen Begriff von einem ,archimedischen Punkt‘ vermitteln, der es ermögliche, zwischen bestimmten Repräsentationen der Welt und der Welt selbst einen Vergleich anzustellen.“52 Allerdings will McDowell nicht so missverstanden werden, dass er glaube, „die Vorstellung von einem zum Konvergenzpunkt tendierenden Fortschritt der Wissenschaft sei ein Mythos“53. Auch ohne den archimedischen Punkt lasse sich eine wissenschaftlich objektive Komponente ausmachen, die unserer Weltsicht innewohnt. Und die Verwirklichung des Ideals wissenschaftlicher Konvergenz würde sich dann auf dem Weg der internen Kontrolle des Inhalts dieser objektiven Komponente vollziehen. Nur betont McDowell: „Das, worüber wir nicht mehr verfügen, ist ein metaphysischer Grund dafür, der objektiven Komponente unserer Weltsicht den Rang eines Rahmens zuzuschreiben, in dem jede philosophische Reflexion über den restlichen Teil unserer Realitätssicht angestellt werden muß.“54 Hartmann verfolgt gewiss kein Programm, das auch Fragen des Geistes von demselben archimedischen Punkt wissenschaftlicher Objektivität glaubt in the long run beantworten zu können, von dem aus Fragen der Naturbestimmung angegangen werden. Dem steht der Gedanke der Emergenz von Seinsschichten mit jeweils eigenen, ihnen angemessenen Kategorien entgegen, die zu den jeweils unteren Schichten und deren kategorialer Struktur in einem Überbauungsverhältnis stehen, wonach das Höhere vom Niedrigeren getragen wird und von ihm abhängt, sogar Höheres dem Niedrigeren gesetzmäßig korreliert, es aber darum noch lange nicht reduzibel auf das Niedrigere ist. „Der Einheitstypus der Welt“, so Hartmann, „ist eben nicht so einfach. Alle metaphysischen Besorgnisse, die Ontologie könnte mit ihrem Gesetz der Wiederkehr die irreduzible Eigenart des seelischen und geistigen Seins einebnen, könnte auf diese Weise einem verkappten Materialismus das Wort reden, erweisen sich an diesem Punkte als unbegründet. Und ebenso unbegründet ist die umgekehrte Befürchtung, sie könnte das Heterogene unverbunden in der Schwebe lassen, ohne sich um seine 52 McDowell (2009a), 198. 53 McDowell (2009a), 201. 54 McDowell (2009a), 202.

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Einheit zu kümmern. Darauf gerade kommt es der neuen Ontologie an, das Verhätnis von Homogeneität und Heterogeneität in der Mannigfaltigkeit der Seinsschichten vorsichtig abwägend herauszuarbeiten, ohne sich von Vorurteilen der einen oder der anderen Art blenden zu lassen.“55 Aber er scheint doch der Auffassung anzuhängen, dass es für jede dieser Schichten – für das anorganisch und das organisch Seiende, fürs Seelische und Geistige – jeweils eigene archimedische Punkte gibt, also eine seinsschichtenspezifische wissenschaftliche Objektivität, die im Falle der unteren Seinsschichten die Objektivität der Naturwissenschaften, im Falle des Geistigen die der geisteswissenschaftlichen Verstehenskultur ist. „Nicht alles in der realen Welt, vielleicht das wenigste in ihr“ sei „sinnhaltig“, und nicht an allen Arten von Gegenständen sei „das Verstehen die adäquate Weise des Erfassens“56. Hartmann empfiehlt also eine Art ontologischer Departmentalisierung der Erkenntnistätigkeit, die nicht mit dem gleichen Operationsbesteck in allen Seinsschichten herumfuhrwerken dürfe. Wahrnehmungsphilosophisch führt das darauf hinaus, dass zum Beispiel Farbe und Ton – gemeint sind Farbe und Ton sub specie ihres phänomenalen Charakters – nicht dem Gegenstand zukommen, sondern „nur für uns“ bestehen – ganz zu schweigen von der physiognomischen Textur des Seienden – seiner „Heiterkeit“, „Bedrohlichkeit“ oder dergleichen, an der Farbe und Ton ja ebenfalls Anteil haben und die Hartmann mit „Gefühlstöne[n]“ identifiziert, die dem Gegenstand ebenso projektiv zugeschrieben werden wie die erlebten Farben und Klänge.57 McDowell dagegen, der nicht nur den (einen und einzigen) archimedischen Punkt des Descartes-Williamsschen „project of pure inquiry“ zurückweist, sondern schon den Begriff des archimedischen Punktes selbst für verfehlt hält, weist diese Departmentalisierung zurück. Bleiben wir bei den Farben: McDowells entscheidendes Argument lautet hier, es sei nicht wirklich so, „als müsse man stets annehmen, die Dinge hätten wirklich die Farbe, die sie zu haben scheinen. Aber nur jemand, der mit ,…ist grün‘ etwas anfangen kann oder wenigstens etwas anfangen könnte, vermag zu verstehen, was es heißt, etwas sehe grün aus“58. Das ist eine zwar unausgewiesene, aber gleichwohl fast wörtliche Referenz an eine von Wittgensteins Bemerkungen über die Farben und 55 56 57 58

Hartmann (1947), 260. Hartmann (1947), 224. Hartmann (1953), 49. McDowell (2009a), 193.

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soll auch so verstanden werden. Im Phänomen erkennt Wittgenstein kein bloßes Symptom für eine letztlich auch phänomenindifferent begreifbare Relation zwischen dem Wahrnehmenden und dem Erscheinenden, sondern, wie er ausdrücklich sagt, „Realität“. Aber andererseits gilt auch, wie er einmal im Big Typescript mit wünscheswerter Bündigkeit festhält: „Phänomenologie ist Grammatik“. „Wäre es richtig zu sagen, in unseren Begriffen spiegelt sich unser Leben?“, fragt er in den Bemerkungen ber die Farben. Seine Antwort: „Sie stehen mitten in ihm. Die Regelmäßigkeit unserer Sprache durchdringt unser Leben.“59 Die Objektivitätsunterstellung ,…ist grün‘ ist demnach nicht auf den metaphysischen Rahmen naturwissenschaftlicher Objektivität angewiesen, sondern die naturwissenschaftliche Objektivität ist vielmehr abkünftig von einer Lebensform, die verschiedene Relationierungen von Subjekt und Objekt vorsieht und in der wir immer schon maßgebende Erfahrungen mit grünen Sachen gemacht haben.60 Lebensformen sind unter anderem dadurch bestimmt, dass sie eine phänomenologische Grammatik instanziieren, die Regeln der Unterscheidung des Objektivitätssinns unseres Realitätsbezugs enthält. Die wahrnehmungsphilosophische Konsequenz dieser Einsicht ist McDowells Anerkenntnis, dass es standpunktrelative Objektivität des Wahrnehmungsgehalts gibt. Das gilt zumal von den sekundären Qualitäten.61 Standpunktirrelative Objektivität ist dagegen nur eine Variante von Standpunktlichkeit; der Begriff des archimedischen Punktes ist selbst nur ein Knotenpunkt in dem semantischen Netz unserer phänomenologischen Grammatik.62 Aus der Art unseres Realitätsbezugs folgen für McDowell nun zwei Konsequenzen, nämlich erstens ein antirepräsentationalistischer Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisbegriff und zweitens ein Begriff der Natur, der nicht auf den logischen Raum der Naturwissenschaft eingeschränkt ist, sondern im „logical space of reasons“ (Sellars) lokalisiert werden kann. 59 Wittgenstein (1979), 117. 60 Vgl. McDowell (2009b), 211. Vgl. auch die ähnliche Argumentation von Colin McGinn (1983), 121, auf die McDowell eigens verweist. 61 Deren Objektivität hat Jonathan Dancy daher in expliziter Anlehnung an McDowells Argumentation als ,secondary objectivity‘ und Amartya Sen als „positional objectivity“ bezeichnet. Vgl. Dancy (1997), 156; Sen (1993), 126 – 145; Sen (2010), Kap. 7 („Position, Relevance, and Illusion“). 62 So erwägt McDowell denn auch, ob man die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten – jedenfalls, was die vermeintlich qualitative Differenz ihres jeweiligen Objektivitätsstatus anbelangt – nicht besser fallen lassen solle. Vgl. McDowell (2009b), 225.

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Beides, Wahrnehmungs- und Naturbegriff, verschränkt McDowell in seiner Konzeption einer „zweiten Natur“. Damit referiert McDowell zunächst nur auf den menschlichen Organismus, der in einem entwicklungsgeschichtlichen Prozess „Dispositionen des praktischen Intellekts“63 habe ausbilden können. Unsere Entwicklungsgeschichte aktualisiere Potentiale einer Vernunft, „die ein Merkmal des normalen Erwachsenwerdens der Art von Tieren ist, die wir nun einmal sind“, und die den Rahmen abgeben, „in dem wir für die Bedeutung zugänglich werden“64. Was McDowell hier unter „Bedeutung“ versteht, entspricht Hartmanns Verständnis der „Sinnhaltigkeit“, die er Teilen der realen Welt – den schichtenontologisch niederen Regionen – vorenthalten will. Und der Rahmen, von dem McDowell in dem zitierten Satz spricht, ist nicht der metaphysische Rahmen, in dem die Rede von einem archimedischen Punkt einen Sinn ergäbe, sondern der Rahmen unserer menschlichen Lebensform, für die wiederum gilt, was Wittgenstein über das Verhältnis von Leben und Begriffen notierte: „Sie stehen mitten in ihm. Die Regelmäßigkeit unserer Sprache durchdringt unser Leben.“ Darum besteht die Pointe des Begriffs der „zweiten Natur“ darin, dass er auch auf die nicht-menschliche Natur muss bezogen werden können. Denn auch diese ist „zweitheitlich“, insofern die natürliche Entwicklungsgeschichte einer Durchdrungenheit von Sprache und Leben unhintergehbar für alles ist, was wir über die äußere Natur sagen können. Unhintergehbar ist damit für McDowell auch die Pluralität von Objektivitätsbegriffen,65 die unserer Wahrnehmung der Welt eingeschrieben sind.66 Dieser Auffassung liegt die Schichtenmetapher fern; angemessen wäre vielleicht eher das Bild eines Netzes mit Knoten von Sprachspielen, die durch den Realitätsbezug der Wahrnehmung miteinander vermittelt sind. Wer einwendet, eine solche Position sei keine Korrektur einzelner Unstimmigkeiten des erkenntnistheoretischen Realismus, sondern ein anti-realistischer Gegenentwurf, dem sei es unbenommen. McDowell aber hat mehrfach sein Befremden über diesen „deformierenden Dualismus“ bekundet. 63 64 65 66

McDowell (2001), 109. McDowell (2001), 114. Vgl. McDowell (2009a), 202. Die Sensibilisierung für diese Pluralität bezeichnet McDowell unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung als Bildung. Allerdings versteht McDowell die Horizontverschmelzung nicht nur geschichtlich, sondern umfassender als eine Perspektivendifferenzsensibilität. Vgl. McDowell (2001), 152 f.

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Was bleibt von Hartmanns Ethik? Christian Thies Die Bücher von Nicolai Hartmann (1882 – 1950) erinnern mich an die alten Luftschiffe: Die frühesten stammen noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die berühmtesten aber aus der Zwischenkriegszeit; damals wurden sie viel bewundert, nicht nur in Deutschland. Hugo Eckener war es, der das Unternehmen des Grafen Zeppelin weiterführte; was die „Ethik“ betrifft, tat dies Hartmann mit dem Entwurf von Max Scheler: Dessen inspirierende Ideen aus der Schrift Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916) wurden von Hartmann systematisiert. Bald waren jedoch die Konkurrenten, bei Hartmann zunächst die Existenzphilosophie, viel erfolgreicher. Vor allem ist er in der Zeit des Dritten Reiches gescheitert, ohne selbst nationalsozialistisch zu sein – nicht so spektakulär wie LZ 129 in Lakehurst 1937, aber doch durch seine Indifferenz gegenüber diesem Regime. Denn was ist eine Ethik wert, deren Verfasser nicht in irgendeiner Weise gegen maßlose Verbrechen Stellung bezieht? Heute wecken beide, die Zeppeline wie Hartmanns Bücher, eher ein historisches Interesse; sie erfreuen wohl noch einige Liebhaber, sind insgesamt aber nicht mehr einsatzfähig. Hartmanns Ethik hat schon damals keine besondere Wirkung entfalten können. Deren Kritiker Martin Heidegger und Carl Schmitt waren sehr viel einflussreicher. Obwohl (oder: weil) die Ethik (1926/21935/ 3 1949/41962) unter seinen vielen dicken Büchern das umfangreichste ist, wurde Hartmann primär als Begründer einer neuen Ontologie verstanden. Das entsprach durchaus seinem Selbstverständnis; dennoch wird ihm keiner, der seine Ethik studiert hat, sittlichen Ernst und feine Kenntnis des Moralischen absprechen. Es ist bereits lobenswert, dass überhaupt ein moralphilosophischer Entwurf vorgelegt wurde. Denn für die deutschsprachige Philosophie dieser Jahrzehnte war es eher charakteristisch, die Disziplin der Ethik ganz abzulehnen oder einfach zu ignorieren; das gilt für alle wichtigen Strömungen, von der Existenzphilosophie über die ältere Frankfurter Schule bis zum Wiener Kreis. Bezeichnenderweise beschritten sogar Hartmanns beste Schüler (Robert Heiß, Hermann Wein) andere Wege. Nur wenige Autoren, in erster Linie Otto Friedrich Bollnow und Hans Reiner, bemühten sich, seinen Ansatz weiterzuent-

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wickeln; Hartmann selbst hat darauf noch positiv reagiert. Aber schon in den 1950er Jahren wurde dieses Forschungsprogramm nicht mehr ernsthaft verfolgt. Im anglophonen Sprachraum konnte Hartmann ohnehin nie reüssieren (trotz der Übersetzung der Ethik ins Englische 1932); eine gewisse Ausnahme bildet die weiterlaufende Rezeption in der spanischsprachigen Welt, die sich aber auch eher auf die sog. Neue Ontologie richtete. Schließlich ist noch Wolfgang Harich zu erwähnen, der Nicolai Hartmann für den wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts hielt; aber auch dieser spätmarxistische Aneignungsversuch ließ die Ethik weitgehend unberücksichtigt.1 Als man in Westdeutschland in den 1970er Jahren die praktische Philosophie rehabilitierte, kam es zwar vereinzelt zu interessanten wertethischen Ansätzen, etwa bei Franz von Kutschera2. In der Öffentlichkeit ist von Werten seit den 1980er Jahren ohnehin wieder viel die Rede; sogar die aristotelische Tugendethik, die für Hartmann besonders wichtig war, erlebte eine Renaissance (Philippa Foot, Alasdair MacIntyre u.v.a.). Aber das alles konnte Hartmanns Ethik nicht wieder zum Leben erwecken und auch ich möchte eine solche Reanimation hier gar nicht versuchen. Tatsächlich ist dieser Ansatz gegenüber den entwickelten moralphilosophischen Konzeptionen der Gegenwart, vom Präferenzutilitarismus über die Diskursethik bis zu den verschiedenen Gerechtigkeitstheorien, hoffnungslos veraltet – eben wie der Zeppelin, den niemand zurückhaben will. Allerdings boten diese Luftschiffe gegenüber ihren erfolgreicheren Konkurrenten auch einige Vorzüge, u. a. lautloses Manövrieren in niedriger Höhe, bequeme Fahrgasträume und hohe Transportkapazitäten. Könnte man nicht vergleichbare Stärken auch in Hartmanns Ethik finden? Tatsächlich lassen sich, was etwa bei Heideggers Seinsdenken unmöglich wäre, aus der materialen Wertethik einzelne Elemente herauslösen. Einige von diesen können, so meine Überzeugung, die gegenwärtigen Debatten befruchten. Heute gibt es nämlich kaum noch so weit reichende Entwürfe (1), die sich nicht bloß auf ein Grundprinzip stützen (2), die bipolare Ordnung unserer moralischen Bewertungen verständlich machen (3), die antithetische Kontrastierung zur Religion nicht scheuen (4) und das Problem der Willensfreiheit so systematisch angehen (5). Ich behaupte nicht, dass Hartmann in diesen Punkten ge1 2

Siehe Harich (2000) und Harich (2004). Zur Kritik an Hartmann siehe aber Kutschera (21999), 228 ff.; außerdem Baumgartner (1962).

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genüber seinen Nachfolger(inne)n vollständig Recht hat; aber anregend ist er allemal.

I. Der umfassende Rahmen Nicolai Hartmann war in mehrfacher Hinsicht ein äußerst systematischer Denker: Zu den zentralen philosophischer Disziplinen, zur Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik, legte er jeweils grundlegende Schriften vor. Diese sollten aber fundiert sein in einer Kategorienlehre bzw. einer neuen Ontologie. Obwohl dieses Projekt als gescheitert betrachtet werden muss, ist die Modernität seines Ansatzes anzuerkennen: Hartmann geht nicht historisch-hermeneutisch vor; kenntnisreiche KlassikerExegesen sind niemals Selbstzweck. Jede Überschwänglichkeit ist ihm fremd; deshalb betont er die Grenzen der Philosophie und die Fülle unlösbarer Probleme. Die Maxime lautet stattdessen: Problemorientierung; hier will jemand nicht nur zu den Sachen selbst, sondern dies auch auf sachliche Weise. Expressionismus, Subjektivismus und Parteilichkeit waren Hartmann verhasst. Gerade das wurde ihm in aufgewühlten Zeiten zum Vorwurf gemacht.3 Zudem schreibt Hartmann verständlich, ohne Neologismen und geraunte Anspielungen, mit einem absoluten Minimum an Zitaten und Fußnoten; er denkt in weiten Bögen und mit großer Umsicht – wer kann das alles heute noch? In der Zeit der Kurznachrichten und der wissenschaftlichen paper sind solche dicken Bücher schwer verdaulich. So wie es der wissenschaftliche Fortschritt verlangt, zerfließt und zersplittert die gegenwärtige Ethik in Einzeluntersuchungen und Detailprobleme. Meta-ethische Analysen und die Philosophie der Lebenskunst führen ein Eigenleben; in der allgemeinen Ethik stehen verschiedene Ansätze relativ unverbunden nebeneinander. Nicolai Hartmann erstrebt hingegen in seiner Ethik eine möglichst umfassende Synthese. Das gilt zunächst wegen der Berücksichtigung unterschiedlicher Ebenen. Man kann nämlich den ersten Teil, „Die Struktur des ethischen Phänomens“, als eine Erörterung meta-ethischer Fragen lesen, inklusive des Begründungsproblems. Hartmann ist Kognitivist, aber kein Intellektualist: Wir können zu moralischen Fragen wahrheitsfähige Aussagen machen; aber die Geltung der moralischen Werte wird nicht durch den 3

Als Erinnerung eines Zeitgenossen: Gadamer (1982), 115 f.; vgl. Stegmüller (1969), 243 f. u. 287.

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Verstand erfasst, sondern durch besondere Emotionen, durch unser moralisches Wertfühlen. Dadurch steht Hartmann dem Intuitionismus nahe. Man kann seine Ethik aber auch als rekonstruktiven Ansatz verstehen, also als eine Theorie, die die faktisch existierende Moral phänomenologisch durchdringen möchte.4 Am wichtigsten ist für Hartmann die ontologische Fundierung: Moralische Werte haben denselben Status wie die Ideen bei Platon. An dieser Behauptung kann man große Zweifel hegen, auch wenn ein schwacher Wertrealismus sich heutzutage wieder einiger Beliebtheit erfreut (u. a. bei Michael Quante und Dieter Schönecker). Immerhin ist es möglich, wie im Folgenden noch deutlich werden soll, viele der werttheoretischen Ausführungen in ein deontologisches oder tugendethisches Vokabular zu übertragen. Der zweite Teil des Buches, „Das Reich der ethischen Werte“, ist Hartmanns normative Ethik. Diese hat zwei Ebenen: Im allgemeinen Teil werden die normativen Prinzipien dargelegt („sittliche Grundwerte“). Im besonderen Teil liefert Hartmann eine oft gelobte phänomenologische Darstellung der „speziellen sittlichen Werte“; hier nähert sich das Ganze einer systematischen Tugendethik.5 Der dritte Teil des umfangreichen Buches ist ganz dem „Problem der Willensfreiheit“ gewidmet und endet mit einem Anhang zum Verhältnis von Moral und Religion. Integrativ ist Hartmann aber auch inhaltlich. Sein erstes Ziel ist nämlich „eine Synthese antiker und neuzeitlicher Ethik“6. Für seinen Ansatz bekam Hartmann, wie er so schön schreibt, „Hilfe von unerwarteter Seite“7, nämlich durch den „Altmeister ethischer Forschung Aristoteles“8. Dessen Nikomachische Ethik wird als materiale Wertethik interpretiert.9 Aber auch Platon ist wichtig; im Abschnitt über die Tugenden orientiert sich Hartmann zunächst an dessen vier Kardinaltugenden; was sich darüber hinaus bei Aristoteles findet, wird als Anhang behandelt. Dann folgt die Darstellung der christlichen Werte; hervorzuheben sind die Nächstenliebe, Vertrauen und Glaube sowie Bescheidenheit und Demut. Faszinierend ist schließlich die Art, wie Nietzsche 4 5 6 7 8 9

Vgl. Birnbacher (2003), 64. Vgl. Bollnow (1952) und Bollnow (1975). Hartmann (1962), VII. Hartmann (1962), VI. Hartmann (1962), VI. Vgl. Hartmann (1962), 282 ff. – Dem hat übrigens Scheler im Vorwort zur 3. Auflage seiner materialen Wertethik entschieden widersprochen; er sah darin einen der Belege dafür, dass seine Position moderner ist als die von Hartmann, nämlich post-kantianisch; siehe Scheler (1966), 19 f.

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rezipiert wird: Hartmann gelingt es, die Provokation durch dessen Moralkritik und Anti-Ethik („Immoralismus“) konstruktiv zu wenden. Nietzsche wird so zum Vertreter moderner Tugenden, vor allem der Fernstenliebe und der schenkenden Tugend sowie des Werts der individuellen Persönlichkeit und der persönlichen Liebe.10 Ein sehr wichtiger Bezugspunkt ist und bleibt Kant. Als Filter dient aber die materiale Wertethik von Max Scheler; ähnlich wie Plessner (und später Gehlen) in der Anthropologie sowie Mannheim in der Wissenssoziologie systematisiert Hartmann die Ideen dieses genialen Wirrkopfes. Scheler hatte sich scharf von Kant abgesetzt; Hartmann möchte beide versöhnen. Wie alle großen Philosophen kann er also unterschiedliche, ja entgegen gesetzte Ansätze zusammenbringen. Dennoch bleibt sein Ansatz in gewisser Weise provinziell: Die dominierende englischsprachige Strömung, der Utilitarismus, kommt viel zu schlecht weg.11 Hartmann übersieht schlicht und einfach, dass dessen Vertreter sehr wohl angeben können, wozu eine Handlung oder eine Regel nützlich sein soll, nämlich zum Glück aller. Darüber hinaus fällt auf, dass Hartmann zwar biologisch-evolutionstheoretische Erklärungen ernst nimmt (wenn auch auf dem Kenntnisstand der 1920er Jahre), nicht jedoch sozialwissenschaftliche und (tiefen) psychologische Einsichten. Probleme der Angewandten Ethik kommen bei Hartmann, wie bei anderen Autoren seiner Zeit, nicht vor. Bezeichnend ist das sehr wohl vermeidbare Fehlen von sozial-, rechts- und staatsphilosophischen Überlegungen. Von Menschenrechten ist nirgends die Rede; stattdessen wird die „Entrechtung des Menschen“ durch empiristische und spekulativ-metaphysische Ansätze beklagt.12 Paradoxerweise ist diese materiale Wertethik oft so formal und unbestimmt, dass sie problemlos in der NaziZeit gelobt werden konnte. Vor allem aber vertritt Hartmann die Auffassung, dass Völker ideale Wesenheiten mit einer welthistorischen Mission seien. Er verwendet sogar den Begriff des Völkischen, wenn auch ohne rassistische oder nationalistische Untertöne.13 Die Idee der Menschheit sei hingegen unwirklich und nivellierend.14

10 Zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Liebe siehe auch den letzten Absatz von Hartmann (1952). 11 Vgl. Hartmann (1962), 87 f. 12 Vgl. Hartmann (1962), 206. 13 Vgl. Hartmann (1927). 14 Vgl. Hartmann (1962), 334 f.

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Wichtig ist für Hartmann, dass Ethik nicht nur als Moralphilosophie im engeren Sinne die Kantische Frage „Was soll ich tun?“ zu beantworten sucht. Er stellt zu Recht fest, dass man die antike Ethik nicht als Ganze darauf beziehen könne. Hartmann schlägt deshalb eine „zweite Grundfrage“15 vor, die ausführlich zitiert sei: Wofür gilt es die Augen offen zu haben, um daran teilzuhaben? Was ist wertvoll im Leben, ja in der Welt überhaupt? Was gilt es sich zu eigen zu machen, zu begreifen, zu würdigen, um Mensch zu sein im vollen Sinne des Wortes? Wofür fehlt uns noch der Sinn, das Organ, so daß wir es erst in uns bilden, schärfen, erziehen müssen? … Die Tragik des Menschen ist die des Verhungernden, der an der gedeckten Tafel sitzt und die Hand nicht ausstreckt, weil er nicht sieht, was vor ihm ist. Denn die wirkliche Welt ist unerschöpflich an Fülle, das wirkliche Leben ist wertgetränkt und überströmend, und wo wir es fassen, da ist es voller Wunder und Herrlichkeit.16

Hartmann ordnet die Kantische Frage dem äußeren Handeln zu, die zweite Frage unseren inneren Stellungnahmen. Das ist eine zu grobe Grenzziehung, denn jedes Handeln verlangt solche Stellungnahmen und diese sind wiederum mit Handlungen eng verwoben. Es wäre aber auch zu einfach, die erste einer universalistischen Moralphilosophie, die zweite hingegen einer pluralistischen Philosophie der Lebenskunst zuzuordnen, also mit Wollen und Streben zu parallelisieren.17 Denn das menschliche Glücksstreben, das für jede Philosophie der Lebenskunst zentral ist, spielt bei Hartmann eine ganz untergeordnete Rolle. Eher führt die zweite Frage zu einer Lehre vom sinnvollen Leben, zur metaphysischen Sinnfrage. Hartmann hat dies später in einem längeren Artikel ausgeführt.18 Gegen einen Einwand ist Hartmann jedoch schlecht gewappnet. Wie aus dem obigen Zitat deutlich wird, ist Hartmann Optimist. Dabei vernachlässigt er, dass die Welt nicht nur voller Sinn und Wert ist, sondern auch voller Schrecken, Gewalt und Leiden. Negative Stimmungen wie Schwermut und Langeweile, Furcht und Ekel, von denen die Existenzphilosophie ihren Ausgang nahm, sind bei ihm von marginaler Bedeutung. Ferner arbeitet Hartmann zwar zutreffend heraus, dass es „das Wesen des Menschen“ ist, sich sowohl zum Guten wie zum Bösen entscheiden zu können.19 Er hält aber an der sokratischen These fest, dass jeder immer nur das Gute sucht und auch der Böse nur seinen eigenen 15 16 17 18 19

Vgl. Hartmann (1962), 9. Hartmann (1962), 10 f. Wie es etwa Morgenstern (1997), 136, vorschlägt. Hartmann (1955); siehe dazu ausführlich Thies (2008). Hartmann (1962), 381.

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Nutzen mehren möchte; deshalb muss er folgern, dass niemand das Böse um seiner selbst willen erstrebe.20 Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs hätten ihn in dieser Hinsicht schon eines Besseren belehren können: Gibt es nicht doch so etwas wie einen menschlichen Todestrieb, der auf die Zerstörung um der Zerstörung willen aus ist, auch ohne eigenen Vorteil? Bezeichnend ist schließlich, dass er 1949 im Vorwort zur dritten Auflage von der „Unruhe des letzten Jahrzehnts“ spricht, die „einer Umarbeitung (seines Buches) nicht günstig war“21. Mehr war nicht los?

II. Die Vielfalt der Prinzipien Fast alle wichtigen Ethik-Ansätze lassen sich auf ein Grundprinzip zuspitzen: Bei den meisten ist es das Gute; wer gegenüber diesem großen Wort etwas skeptischer ist, lässt es beim Gerechten bewenden. Hartmann kennt jedoch vier Prinzipien bzw. (in seinen Worten) „sittliche Grundwerte“ und will nicht einmal ausschließen, dass es weitere gibt. Diese Prinzipien werden, wie schon erwähnt, abgegrenzt von den spezifischen Werten sowie von den nicht-moralischen Werten, vor allem den technischen bzw. zweckrationalen Werten (Erfolg, Macht, Gesundheit, Leidensfähigkeit) sowie den ästhetischen Werten. Die vier Prinzipien werden phänomenologisch sehr eindringlich geschildert; man sollte dies jedoch nicht als eine Axiologie verstehen, sondern als eine Typologie moralischer Vorbilder. Das erste Grundprinzip ist, spätestens seit Platon, das Gute. Hartmann folgt jedoch Kant, dass das Gute im intendierenden Akt selbst liegt, in einer Handlungsabsicht. Leider könne man das Gute nicht definieren. Es bestehe aber immer in einem Vorziehen gegenüber anderen Werten oder Handlungsmöglichkeiten. Diese Präferenz müsse nicht intellektuell sein; sie erfolge eher „spontan, unreflektiert“ und zwar „jedesmal von Grund aus neu, aus immer lebendiger Wertfühlung heraus“22. Insofern hätten die neuzeitlichen Ansätze einer Logik des Herzens von Pascal über Hemsterhuis bis Scheler richtig gelegen.23 „Es ist eine Ordnung eigener Art, mit eigenen Gesetzen, die sich intellektuell nicht beweisen läßt, aber ebenso 20 21 22 23

Hartmann (1962), 271, 378 u. ö. Hartmann (1962), X. Hartmann (1962), 386. Vgl. Hartmann (1962), 286.

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sehr jeder intellektuellen Gegenargumentation spottet.“24 Ein moralischer Mensch sollte in jedem Fall gut sein. Eine Steigerung des moralisch Guten sei nicht möglich; es gebe kein moralisch besser oder am besten. Allerdings sei auch eine Unterbietung des Guten keineswegs gestattet. Dennoch gibt es bei Hartmann ein zweites normatives Prinzip, mit dem das Gute übertroffen wird: das Edle. Dieses aristokratische oder elitäre Ideal, das früher auf herausragende Persönlichkeiten bezogen wurde, bekommt eine plausible Fassung. Denn auch wenn alle gut sind, können wenige darüber hinaus noch edel sein. Das Edle sei also axiologisch zu bestimmen als das Gute „plus einem Novum“25. Auch das Edle wird von Hartmann deontologisch gefasst: „Es besteht in nichts als im Adel der Gesinnung.“26 Kennzeichnend für den edlen Menschen ist „der innerlich große Stil in Leben und Wirken“27. Er besitze die von Aristoteles beschriebenen Tugenden wie Großzügigkeit und Hochherzigkeit, er engagiere sich ganz selbstverständlich für das moralisch Große um seiner selbst willen und könne dabei andere mitreißen. Brutale Gegner bringen ihn jedoch leicht zu Fall. Während der gute Mensch die universal gebotenen negativen und positiven Pflichten erfüllt, handelt der Edle supererogatorisch, also über das hinaus, was sich von allen verlangen lasse. Seine Werte bzw. die entsprechenden Pflichten und Einstellungen sind deshalb nicht universal begründbar. Er dient jedoch als Vorbild und antizipiert vielleicht sogar eine künftige Moral. Nicolai Hartmann nennt keine Beispiele, Mahatma Gandhi oder Albert Schweitzer wären wohl welche. Das dritte normative Prinzip ist die Flle. Gemeint ist „die innere Haltung des allseitigen Geöffnetseins“28. Während der Edle sich nur an den allerhöchsten Prinzipien orientiere, sei der moralische Mensch, der nach dem Prinzip der Fülle lebt, eher an einer Synthese der Werte interessiert. Er weiß um die Konflikte, die es zwischen den Werten gibt, ja um die dem Guten entgegen stehenden Kräfte. Auf den Umgang mit den Kontingenzen der Welt, auch mit dem Risiko des Scheiterns, möchte ein solches Vorbild nicht verzichten; auch daraus könne man seine Lehren ziehen. „Das Ethos der Fülle ist die Tendenz, dem Leben innerlich ge24 25 26 27 28

Hartmann (1962), 389. Hartmann (1962), 395. Hartmann (1962), 392. Hartmann (1962), 399. Hartmann (1962), 403.

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recht zu werden, ihm die Größe abzugewinnen, die es hat.“29 Der Mensch, der nach diesem Ethos lebe, sei im tiefsten Inneren optimistisch eingestellt, weil er im Niedrigen und Unvollkommenen noch das Wertvolle erkenne. Gerade durch die Auseinandersetzung mit dem Bösen wolle er die Welt verbessern. Auch hier nennt Hartmann keine Beispiele. Geeignet wären Personen, die unter ungünstigen Bedingungen aufwuchsen, viel durchlitten und hart gekämpft haben, dabei auch oft zu fragwürdigen Mitteln greifen mussten, aber nie ein hohes Ziel aus den Augen verloren haben. Als Beispiele schlage ich Politiker wie Winston Churchill oder Willy Brandt vor. Das vierte und letzte Prinzip ist die Reinheit. Diese steht, wie man sofort sieht, in Opposition zur Fülle. Es werde alles das ausgeschlossen, was nicht höchsten Ansprüchen genügt, aber nicht beschränkt auf die höchsten Werte, an denen sich der Edle orientiert, sondern unter Einschluss der kleinen, ganz selbstverständlichen Pflichten. Der reine Mensch sei zudem nicht großgeartet, sondern trete in ganz schlichter Gestalt auf, wie ein Kind. Hartmann sieht hier die „christliche Urtugend“, die die antike Ethik noch nicht kannte.30 Das herausragende Vorbild sei Jesus von Nazareth, ein anderes Dostojewskis Fürst Myschkin31. Wichtige Tugenden sind Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit sowie eine gänzlich unreflektierte Art der Menschenliebe. Das Schlechte und Niedrige, das beim Ethos der Fülle integriert ist, werde hier gar nicht gesehen. Der reine Mensch kennt insofern auch kein Misstrauen. „Der Reine bekennt sich frei zu seinem wirklichen Empfinden“, gegenüber sich selbst und gegenüber anderen.32 Rein ist man, man könne es eigentlich nicht werden. Ein Mensch der Fülle sehne sich nach Reinheit wie nach verlorener Unschuld, während der Reine seinen Zustand als langweilig betrachte und den Erfahrungshunger entwickele, der zur Fülle führen könnte. Diese Skizze der vier normativen Prinzipien sollte andeuten, wie differenziert und kraftvoll Hartmanns Ethik ist. Die Grundwerte werden nicht bloß aufgezählt, sondern sehr genau expliziert und in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Das Gute behält seinen Vorrang, denn gut sein muss jeder immer. Leider gibt er keine entsprechende Darstellung der Gegenbegriffe; dabei würde sich die Unterscheidung zwischen dem 29 30 31 32

Hartmann (1962), 406. Vgl. Hartmann (1962), 408. Vgl. Hartmann (1962), 410 f. Vgl. Hartmann (1962), 412.

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Schlechten, dem Bösen, dem Leeren und dem Verdorbenen anbieten. Der Schlechte erstrebt seinen Vorteil auf Kosten anderer; der Böse tut das Böse um seiner selbst willen; der Leere hat überhaupt keine Werte verinnerlicht; der Verdorbene schließlich handelt spontan so, dass sich das Negative vermehrt.

III. Die bipolare Ordnung der moralischen Gefühle Ist das individuelle menschliche Leben eigentlich das höchste Gut? Einerseits scheint dies so zu sein, denn kein Verbrechen wird so hart bestraft wie ein Mord; andererseits ist die Respektierung fremdes Leben keine großartige moralische Leistung und das eigene Leben darf manchmal sogar aufs Spiel gesetzt werden. Hartmann kann diese bipolare Ordnung unserer Moral verständlich machen.33 Unterschieden wird nämlich zwischen Werthöhe und Wertstärke.34 In beiden Dimensionen gebe es eine Abstufung, wobei die Rangordnungen genau gegenläufig sind. Hartmann orientiert sich am moralischen Fühlen; entsprechende Aussagen gelten aber auch für moralische Bewertungen rationaler Art. In der einen Hierarchie steigt die Wertschätzung, so dass nach oben hin die Gefühle stärker werden; in der anderen Stufenfolge sind die Gefühle unten am stärksten und werden nach oben hin schwächer. Folgende Reihen werden genannt: zum einen Billigung, Anerkennung, Verehrung, Bewunderung, Begeisterung; zum anderen Missbilligung, Verwerfung, als-ehrenrührig-Empfinden, Verachtung, Empörung, Abscheu usw.35 Ein Beispiel: Es ist eine negative Pflicht, seine Versprechen zu halten. Wenn man dies tut, löst man aber kaum moralische Gefühle aus. Anerkennung findet eher die Erfüllung positiver Pflichten wie bei einer Hilfeleistung, Bewunderung sogar supererogatorisches Handeln, beispielsweise eine außerordentliche und widrigen Umständen abgetrotzte Wohltat. Umgekehrt ist es aber so, dass der Bruch eines Versprechens starke negative Gefühle auslöst, also etwa Empörung. Das bewusste Vermeiden einer Hilfsaktion wird verworfen, deren Unterlassen bloß missbilligt. Gegenüber dem Verzicht auf eine supererogatorische Wohltat bleibt man sogar neutral oder bedauert es bloß. Oder 33 Vgl. das Schaubild in Hartmann (31954), 173; außerdem Landmann (1982), 179 ff. 34 Vgl. Hartmann (1962), 276 f., 595 ff. 35 Vgl. Hartmann (1962), 601.

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noch einmal mit den obigen Prinzipien: Der Edle kann Menschen begeistern, der Gute wird anerkannt. Der Schlechte wird abgelehnt, der Böse jedoch verachtet. Man kann Hartmanns Gedanken auch am Verhältnis der beiden Güter Leben und Gerechtigkeit verdeutlichen: Eines der schwersten Vergehen ist, wie bereits erwähnt, der Mord; dennoch ist das einzelne Menschenleben nicht das höchste Gut; vielmehr wird dessen Bewahrung als selbstverständlich vorausgesetzt. Der Einsatz für globale Gerechtigkeit verdient höchstes Lob; ein ungerechtes Handeln, wie es jedoch tagtäglich vorkommt, löst kaum noch Empörung aus. „Das Verdienst um die Erfüllung eines Wertes nimmt nicht direkt proportional zur Schwere seiner Verletzung zu, sondern indirekt proportional.“36 Hartmann findet hier seine allgemeinen Schichtungsgesetze wieder. Die beiden hierarchischen Ordnungen dürfen, so Hartmann zu Recht, nicht auseinander brechen, sondern müssen in einer Synthese vereinigt werden. Daraus ergibt sich eine zweifache Forderung: „die niederen Werte nicht zu verletzen und zugleich die höheren zu realisieren“.37 Einen „Stempel der Unechtheit“ tragen diejenigen Menschen, die zwar höhere Tugenden verwirklichen, aber nicht niedere. Beispiele seien der unbeherrschte Weise und der vertrauensunwürdige Liebende.38 Genannt werden könnte auch der berühmte Wissenschaftler, der sich international anerkennenswert engagiert, aber seine kleinen universitären Pflichten, etwa bei der Betreuung von Dissertationen, sträflich vernachlässigt. Philosophisch richtet sich Hartmann in diesem Zusammenhang gegen Nietzsche, der zu Recht neue Werte wie die Fernstenliebe propagierte, alte Werte wie die christliche Nächstenliebe und ein elementares moralisches Gefühl wie das Mitleid aber lächerlich machen wollte. Vorbildlich sei hingegen die Haltung von Jesus gegenüber dem mosaischen Gesetz: nicht auflösen, sondern erfüllen39. Jedoch darf man, worauf Hartmann gar nicht eingeht, nicht Konventionen mit moralischen Normen verwechseln: Die zupackende Hilfe für bedürftige Menschen kann durchaus einmal die Etikette verletzen, also moralisch neutrale Regeln der Höflichkeit und der Diplomatie. Denn Konventionen gehören einer anderen Sphäre an. Es gibt mehr

36 37 38 39

Hartmann (1962), 602. Hartmann (1962), 608. Vgl. Hartmann (1962), 606. Vgl. Hartmann (1962), 612.

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soziale Regeln als nur die moralischen. Eine Aufgabe der Ethik müsste es sein, die moralischen trennscharf von anderen Normen zu unterscheiden. Hartmann fasst richtig zusammen: „Echte Sittlichkeit erbaut sich von unten auf. Ihr Wesen ist eben nicht das ideale Ansichsein der Werte, sondern seine Erfüllung in der Wirklichkeit. Erfüllung des höheren Wertes aber ruht solide nur auf Erfüllung des niederen.“40 Ziel muss die Synthese der beiden Rangordnungen sein, aus der sich eine bipolare Ordnung des Moralischen ergibt. Eine weitere Implikation dieser These ist, dass ein moralischer Fortschritt weder ein grundstürzender Umsturz noch die Weiterentwicklung eines Einzelteils sein kann, sondern „nur ein Vorrücken auf der ganzen Linie“41. Eine Fortschrittsperspektive, wie sie Scheler zur selben Zeit mit der Idee des Ausgleichs entwickelte42, hat Hartmann aber nicht; er ist ein im tiefsten Kern unhistorischer Denker.

IV. Zum Gegensatz von Religion und Moral Zu den philosophischen Disziplinen, die man bei Hartmann vermisst, gehört die Religionsphilosophie. Während bei Scheler die höchsten Werte die religiösen sind (das Heilige), sind dies bei Hartmann die sittlichen. Er wertet die Religion jedoch nicht nur ab, sondern stellt sie sogar in einen Gegensatz zur Moral bzw. Ethik43. Er sieht eine fünffache Antinomie, die er jeweils zu Ungunsten der Religion entscheiden möchte. Erstens gebe es einen Widerspruch in der „praktischen Gesamtrichtung“44 : Die Religion orientiere alles auf das Jenseits, die Moral auf das Diesseits. Der zweite Gegensatz betreffe die höchsten Werte oder grundlegenden Prinzipien: Für religiöse Menschen sei Gott (oder das Heilige) der höchste Wert, für die Ethik jedoch der Mensch, etwa (wie wir heute ergänzen können) im Prinzip der Menschenwürde. Der dritte Gegensatz liege in der Begründung der Ethik: Die Vertreter der Religion halten nur eine metaphysische, ja religiöse Fundierung für möglich. Das führe aus Sicht der Ethiker zu einer heteronomen Moral, obwohl sehr wohl eine rationale Begründung möglich sei, also eine ethische Rechtfertigung mit einer Vernunft nach Menschenmaß. 40 41 42 43 44

Hartmann (1962), 606. Hartmann (1962), 613. Vgl. Scheler (1976b); siehe auch seine Kritik an Hartmann in Scheler (1966), 22. Vgl. Hartmann (1962), 808 – 821, schon 248 f., 354, 416, 449, 698 u. ö. Hartmann (1962), 811.

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Alle drei Gegensätze sind sehr überspitzt. So kennt Hartmann offensichtlich nur die christliche Religion und hat von dieser ein viel zu einfaches Bild. Denn die kosmozentrischen Religionen, wie sie östlich des Hindukusch vorherrschen (Buddhismus, Daoismus, Schintoismus u. a.), sind keineswegs durchgängig an einem Jenseits oder an Gott orientiert. Auch viele moderne Vertreter der monotheistischen Religionen bestreiten, dass ein entsprechender Dualismus vorliege. Im Protestantismus gibt es seit langem die Tendenz, sich allein um das Seelenheil der Menschen zu kümmern und die weltliche Moral anderen zu überlassen. Auch im Rahmen des Katholizismus werden, spätestens seit dem zweiten Vatikanischen Konzil, autonome Ethiken vertreten.45 Hartmanns Gegensätze gelten aber weiterhin für die Fundamentalisten der verschiedenen Konfessionen und Religionen. Zudem ist nicht zu bestreiten, dass es Unterschiede zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit zu geben scheint. Ein berühmtes Beispiel ist Jesu Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, auf das sich Paulus im Rçmer-Brief bezieht.46 Sicherlich kann man die Parabel unterschiedlich deuten, aber nach menschlichem Maßstab ist die Bezahlung der Arbeiter tatsächlich ungerecht. Wichtiger aus Hartmanns Sicht sind die beiden letzten Gegensätze. Als viertes konstruiert er eine „Antinomie der Vorsehung“47: In einer Welt, die von einem allmächtigen Gott geschaffen und kontrolliert wird, herrsche ein finaler Determinismus, so dass menschliche Freiheit unmöglich ist. Schließlich, als fünften Punkt, sieht Hartmann eine „Antinomie der Erlösung“48 : Entweder (so die Ethik) sei der Mensch schuldfähig und der Wert der Schuld bestehe gerade darin, dass sie einem vernünftigen Subjekt nicht abgenommen werden kann. Das ist nur bei Kindern möglich; in gewisser Weise zeige sich die Würde des Menschen sogar in seiner Bestrafung. Oder (so der religiöse Standpunkt) Gott könne uns erlösen und damit alle Schuld auf sich nehmen; mit Jesu Kreuzestod sei das sogar bereits geschehen. Wir müssten allerdings glauben und zur Sühne bereit sein. Es existiert also, mit Dostojewski gesprochen, ein Gegensatz von Schuld und Sühne.49 Während für die Ethik die menschliche Freiheit eine notwendige Voraussetzung ist, sei diese aus 45 46 47 48 49

Grundlegend u. a. Auer (1971). Neues Testament, Matthäus 20, 1 – 16 u. Römer 9: 16 ff. Hartmann (1962), 814. Hartmann (1962), 817. Vgl. Hartmann (1962), 746.

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religiöser Sicht „ein gleichgültiges Nebenstück“50 oder sogar gefährlich. Dostojewskis Großinquisitor repräsentiert diese Auffassung. Max Scheler brachte es frühzeitig auf den Punkt: Hartmann vertritt einen postulatorischen Atheismus. 51 Während Kant aus der Absolutheit der Ethik einen moralischen Gottesbeweis konstruierte, folgert Hartmann genau umgekehrt aus der Freiheit des Menschen und der Gewissheit des Moralischen, dass kein Gott sein darf. Um ihrer eigenen Existenz willen fordert die Ethik die Nichtexistenz Gottes. Hartmann steht in diesem Punkt ganz nahe bei Nietzsche und den atheistischen Existenzialisten, etwa dem frühen Sartre. Sein faires und differenziertes Vorgehen zeigt sich aber darin, dass er dennoch die christlichen Tugenden ausführlich behandelt und gegen Nietzsches Kritik verteidigt.

V. Willensfreiheit als Plus an Determination Am wichtigsten war Hartmann wohl der dritte Teil seines Buches.52 Dort liefert er eine tiefschürfende und weit ausgreifende Darstellung des Problems der Willensfreiheit, das seit einigen Jahren wieder heftig diskutiert wird, ausgelöst durch einige aufsehenerregende neurobiologische Erkenntnisse. In dieser verworrenen Debatte mag ein Blick auf Nicolai Hartmann nützlich sein. Die Rekonstruktion seiner Gedankengänge müsste eigentlich in einer eigenen Monographie erfolgen; ich beschränke mich hier auf zwei Aspekte. Der erste Punkt ist, dass es Hartmann gelingt, die zentrale Stellung der Freiheitsproblematik in der Ethik klar herauszuarbeiten. Dem dient eine ausführliche Begriffsklärung; Willensfreiheit ist nämlich ein irreführender Ausdruck. Diese ist zunächst nicht zu verwechseln mit der Handlungsfreiheit (tun kçnnen, was man will) und mit der rechtlichen Freiheit (tun drfen, was nicht verboten ist). Sodann ist sie abzugrenzen von empirisch erforschbaren Phänomenen wie Willensschwäche bzw. Willensstärke. Ein willensschwacher Mensch weiß zwar, dass er eigentlich moralisch handeln sollte; aber ihm gelingt es nicht, seinen Willen gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen. Das setzt jedoch, wie Hartmann richtig bemerkt, schon eine prinzipielle Freiheit voraus53. Man darf aus 50 51 52 53

Hartmann (1962), 819 f. Scheler (1976a), 142. Vgl. die Kurzfassung in Hartmann (21947), Kap. XII (294 – 302). Vgl. Hartmann (1962), 640.

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der systematischen Relevanz der Freiheit auch keineswegs ableiten, dass der Wert einer moralischen Handlung mit der Anstrengung steigt, die für die Überwindung anderer Einflüsse erforderlich ist. Auf empirischem Wege wird man das Freiheitsproblem überhaupt nicht lösen können. Sodann bezieht sich die Willensfreiheit nicht bloß auf Handlungen, sondern ebenso auf den kognitiven Bereich; wir loben und tadeln Menschen auch für Sprechakte und Stellungnahmen jeglicher Art. Wissenschaftliche und politische Debatten, ja jede zwischenmenschliche Kommunikation setzen ein „prinzipielles Frei-Sein“54 voraus. Erforderlich ist aber nicht, dass jedem moralischen Akt eine Entscheidung vorangeht. Auch Impulse und Gewohnheiten unterliegen der Beurteilung, obwohl in beiden Fällen im direkten Sinn nicht von freien Handlungen gesprochen werden kann. Dennoch verlangen wir im ersten Fall bessere Selbstkontrolle und im zweiten Fall das Ablegen solcher Routinen, auch wenn beides noch so schwer fallen mag. Willensfreiheit meint also eigentlich „die Freiheit aller inneren Stellungnahme und Richtunggabe.“55 Auch im Begriff der Persönlichkeit wird ein „Freiheitsmoment … stillschweigend vorausgesetzt“56. Letzter Punkt: Gerade weil Freiheit die Voraussetzung der Moral ist, bleibt diese immer gefährdet. Zum einen ermöglicht unsere Freiheit auch die Entscheidung für das Schlechte oder gar das Böse; zum anderen ist es eben gerade die Frage, ob wir Menschen überhaupt frei sind. Der zweite Aspekt, der für heutige Debatten relevant sein könnte, ist die Einordnung der individuellen menschlichen Freiheit in eine umfassende Schichtenontologie. Im Stufenaufbau der Welt, so Hartmanns Lieblingssatz, besitzt jede höhere Schicht eine begrenzte Freiheit gegenüber den niederen Schichten. Allerdings sind diese jeweils stärker, so dass ein Zurücksinken auf das untere Niveau wahrscheinlich ist, die relative Unabhängigkeit immer erkämpft werden muss. Ein biologischer Organismus kann sich beispielsweise den physikalischen Gesetzen nicht entziehen. Sein Verhalten lässt sich aber durch diese allein nicht plausibel erklären; dafür brauchen wir Gesetze der höheren Schicht, etwa evolutionstheoretische Annahmen. Dass sich diese einmal auf allgemeine Naturgesetze zurückführen lassen, hält Hartmann für ausgeschlossen. Leben sei auf Materie nicht reduzierbar. Begrifflich muss man klar unterscheiden zwischen Bedingtheit und Determiniertheit: Jedes reale 54 Hartmann (1962), 626. 55 Hartmann (1962), 622 f. 56 Hartmann (1962), 628.

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Phänomen ist auf vielfältige Weise bedingt; je höher im Stufenaufbau der Welt, umso mehr Bedingungen. Es bleibt aber eine relative Autonomie, ein Dx, das den Unterschied ums Ganze ausmacht. So sei es auch mit der individuellen Freiheit eines Menschen. Die Gesetze der unteren Schichten bleiben voll in Kraft, also sowohl die physikalischen als auch die biologischen. (Hartmann kennt noch mehr Schichten, was hier nicht zu thematisieren ist.) Deren Gesetze werden nicht ausgeschaltet, man sollte ihnen sogar Rechnung tragen; aber sie werden überformt oder überbaut. Hartmann ist klar, dass dies nur ein „räumliche(s) Gleichnis“57 ist. Damit noch nicht genug: Man dürfe nun nicht den Fehler machen, den Hartmann bei Kant entdeckt, die Gesetze der praktischen Vernunft als determinierend zu denken. Gegenüber der moralischen Welt sind wir Menschen ebenfalls frei. Unsere Freiheit, so betont Hartmann, ist eine doppelte, zum einen (positiv) gegenüber den Naturgesetzen aller Art und zum anderen (negativ) gegenüber den normativen Prinzipien. Wir sind gleichsam frei nach unten und nach oben, im Hinblick auf die materiellen und die ideellen Faktoren. Hinzu komme nämlich eine weitere determinierende Kraft; dies könne aber kein intelligibler Charakter oder das Wesen der Person sein, sondern nur etwas individuell Zurechenbares. Beweisen lasse sich dies Hinzutretende nicht, immerhin aber phänomenologisch aufzeigen. Hartmanns zentrale These lautet jedenfalls, Freiheit sei ein „Plus an Determination“58. Die Willensfreiheit, die jede Moral voraussetzt, ist keine Freiheit vom Gesetz, sondern eine „Freiheit über dem Gesetz“59. Damit entwickelt Hartmann eine Freiheitstheorie, die zwei Extreme vermeidet: Auf der einen Seite ist sie nicht so stark wie die These einer absoluten Freiheit, also der Auffassung, dass der menschliche Wille wie eine creatio ex nihilo wirke, losgelöst von allen Bedingungen. Auf der anderen Seite ist Willensfreiheit auch nicht bloße Urheberschaft, wie man sie ebenso Naturphänomenen zusprechen könne, beispielsweise einer Katze, die eine Vase umkippt, oder einer Windhose, die ein Haus zerstört. Dagegen steht hier die Auffassung, dass die menschliche Willensfreiheit etwas Besonderes ist, auch wenn es ähnliche Phänomene auf den anderen Stufen der realen Welt gibt. Wenn wir Hartmanns Position auf die gegenwärtigen Debatten beziehen, so würde er eine interessante Variante des Kompatibilismus 57 Hartmann (1962), 682. 58 Hartmann (1962), 649, 654, 659, 687, 753, 762, 764, 775, 779, 782, 794. 59 Hartmann (1962), 759.

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vertreten, aber eben mit viel weiterem Horizont. Auf die Parallelen, die sich mit neueren Konzeptionen der Emergenz und mit Poppers DreiWelten-Theorie ergeben, kann ich nicht mehr eingehen.60 Sicherlich wird man den Stufenaufbau der Welt auch nicht im strengen Sinne als Ontologie ansehen, wie dies Hartmann tat, sondern eher als phänomenologisch oder pragmatisch zu rechtfertigende Konstruktion. Diese muss sich in der üblichen Theorienkonkurrenz gegenüber anderen Forschungsprogrammen und Deutungsangeboten bewähren – und dafür hat sie, so meine Überzeugung, keine schlechten Chancen, zumindest gegenüber einem radikalen Reduktionismus und einem überschwänglichen Platonismus. Wie man also sieht, bleibt doch einiges von Hartmanns Ethik. Den Rahmen oder das Fundament für die heutige Moralphilosophie kann sie gewiss nicht bereitstellen, aber doch einige anregende Gedanken.

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Christian Thies

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Namenregister Adorno, Theodor W. 135, 147 Arendt, Hannah 133, 147 Aristoteles 2, 6, 47, 51–55, 60, 63, 67, 80, 95, 133, 197, 200, 204, 220, 227, 280, 284f., 418, 422 Austin, John 17, 407 Ayer, Alfred 17, 403, 406f. Baer, Karl Ernst von 233 Baker, Lynne R. 166 Benjamin, Walter 135, 147 Blystone, Jasper 213, 393 Bonitz, Hermann 51f. Bowman, Brady 405f. Braig, Carl 198 Brandis, Christian August 335f. Brelage, Manfred 74 Brentano, Franz 46f., 51f., 198 Bultmann, Rudolf 135, 147 Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes 136, 233 Carnap, Rudolf 3, 32, 135, 147 Cassirer, Ernst 12, 39, 105f., 108, 110–112, 114, 122, 133, 136, 155–163 Cicero, Marcus Tullius 285, 321 Cohen, Hermann 1, 4, 46, 69, 74, 105, 339 Dahlstrom, Daniel 163 Dancy, Jonathan 411 Davidson, Donald 162, 351 Descartes, René 46, 88, 91, 96, 156, 163, 165, 202, 336, 378, 410 Dessoir, Max 110, 206 Dilthey, Wilhelm 46, 52f., 63, 133, 137, 308, 323, 376 Diodoros Kronos 284f. Dmitrieva, Nina 107f.

Dooflein, Franz 233 Driesch, Hans 13, 219, 221f., 231, 235 Durkheim, Émile 53 Eisler, Rudolf 48 Erdmann, Johann Eduard Erdmann, Karl 376 Espinet, David 207

331

Feuerbach, Ludwig 133 Fichte, Johann Gottlieb 135, 137, 247 Fischer, Joachim 207 Fischer, Kuno 4, 108, 331 Frankfurt, Harry 164 Freud, Sigmund 135, 148 Gadamer, Hans-Georg 195, 199, 201, 203f., 412, 417 Gehlen, Arnold 2, 5, 59, 62, 131–133, 141–143, 147, 191, 419 Geiger, Moritz 111f. Groethuysen, Bernhard 133 Gurvitch, Georges 106f. Habermas, Jürgen 142f. Haeckel, Ernst 13, 219–221 Harich, Wolfgang 195, 277, 416 Hartmann, Max 213 Hartung, Gerald 133f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 4, 6, 15, 46, 48–50, 60, 63, 67, 108, 137, 161, 243, 282f., 288, 300, 317–319, 331f., 334, 362, 372–374, 376f. Heidegger, Martin 2, 13, 25, 29, 46, 105f., 110, 131–133, 135–137, 140, 146f., 155, 162, 195f.,

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Namenregister

198–215, 232, 279f., 292, 298, 308, 349, 365, 415f. Heimsoeth, Heinz 48, 176 Heiß, Robert 415 Heisenberg, Werner 10f., 85–88, 91–97, 99–101 Herbart, Johann Friedrich 49f. Herbst, August 59 Herder, Johann Gottlieb 141 Hildebrand, Dietrich von 259 Hobbes, Thomas 242f., 247 Horkheimmer, Max 135, 147 Hume, David 403f. Husserl, Edmund 3, 6, 11, 46, 60, 81, 105f., 109–115, 117–123, 125, 196, 198, 201, 206f., 213, 259, 263, 266f., 272, 278, 292f., 393f., 398, 402

Maier, Heinrich 110 Marcuse, Herbert 135, 147 Marx, Karl 15, 148, 319, 372–374, 376f. Mauthner, Fritz 45, 60 McDowell, John 17, 395, 408–412 Merleau-Ponty, Maurice 133, 398 Morgenstern, Martin 105

Jacoby, Günther 199 Jaspers, Karl 131, 133, 147, 195, 199, 298 Johansson, Ingvar 163, 360–362

Quante, Michael

Kant, Immanuel 2, 4, 7, 14, 25, 36, 46, 49f., 53–56, 61, 67, 69–71, 82, 106, 113f., 135, 137, 161, 198, 208, 221, 260–263, 271, 273f., 277f., 280f., 284, 286–288, 290–292, 327, 350, 357, 386, 397, 402, 419, 421, 428, 430 Kanthack, Katharina 196 Kierkegaard, Sören 137, 211, 215 König, Josef 140, 146 Lacan, Jacques 14, 274 Landmann, Michael 133 Lask, Emil 46, 69, 76, 78, 106, 292 Lazarus, Moritz 339 Lehmann, Gerhard 202 Leibniz, Gottfried Wilhelm 282, 379 Leonardy, Heinz 264f. Levinas, Emmanuel 14, 274, 288 Locke, John 244, 364, 403f. Lorenz, Konrad 7, 53, 61 Losskij, Nikolaj O. 109f. Lotze, Hermann 292 Löwith, Karl 298

Nagel, Thomas 406 Natorp, Paul 1f., 46, 69f., 74–78, 81, 105, 108, 110f., 123, 331, 336–339, 341, 343f. Nekrasov, M. 109 Neurath, Otto 135, 147 Newton, Isaak 405 Nietzsche, Friedrich 45, 60, 135, 148, 187, 358, 418f., 425, 428 418

Pannenberg, Wolfhart 14f., 131, 297–299, 301, 308–313 Pascal, Blaise 265, 421 Pfänder, Alexander 111f., 121 Pichler, Hans 198–200 Platon 2, 67, 78, 95, 109, 153, 280, 336f., 418, 421 Plessner, Helmuth 2, 11f., 47, 62, 67, 72, 131–149, 153, 167, 191f., 241, 419 Popper, Karl Raimund 8, 25, 431 Price, Carolyn 407 Reid, Thomas 17, 404f., 408 Reinach, Adolf 112 Reiner, Hans 259, 415 Rickert, Heinrich 197f., 292, 336 Rothacker, Erich 131, 136, 142, 199 Roux, Wilhelm 13, 219, 221, 226, 228 Sartre, Jean-Paul 14, 133, 271, 274, 428 Scheler, Max 2f., 11f., 14, 62, 106, 109f., 112, 131–149, 153–162, 166f., 171–178, 180–191, 201f., 214, 241, 259–274, 278f., 287,

435

Namenregister

300, 309, 407, 415, 418f., 421, 426, 428 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 291 Schlick, Moritz 135 Schnädelbach, Herbert 132 Schöffler, Herbert 142 Schönecker, Dieter 418 Schwan, Theodor 225 Searle, John 398 Sen, Amartya 411 Solov‘jov, Vladimir S. 108f. Spiegelberg, Herbert 201 Spinoza, Baruch 286 Spranger, Eduard 110 Stallmach, Josef 195f., 205f. Stasjulevicˇ, M. M. 109 Staudacher, Alexander 404f. Strawson, Peter 163–165 Thies, Christian 133 Thomä, Dieter 199, 203 Tomasello, Michael 63 Trendelenburg, Friedrich Adolf 46–52, 54, 57, 63 Troeltsch, Ernst 110

Ueberweg, Friedrich 46 Uexküll, Jakob von 232f. Vaihinger, Hans 54 Vierkandt, Alfred 110 Vvedenskij, Aleksandr I.

Waldenfels, Bernhard 288 Weber, Max 376 Wein, Hermann 142, 415 Weizsäcker, Victor von 136 Wielander, Hans 190 Wiesing, Lambert 393, 398f., 408 Williams, Bernard 17, 165, 408, 410 Windelband, Wilhelm 109, 292, 322, 331f., 336 Wittgenstein, Ludwig 17, 63, 105, 147, 410–412 Wolandt, Gerd 196, 208 Wundt, Wilhelm 46 Zeller, Eduard 331f.

4,

108f.

4, 45–47, 51, 108f.,