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German Pages 359 Year 2009
Schriften zum Internationalen Recht Band 177
Von der Parlamentssouveränität zur Verfassungssouveränität Der britische Verfassungswandel am Beispiel des Human Rights Act 1998
Von
Almut Mareen Fröhlich
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ALMUT MAREEN FRÖHLICH
Von der Parlamentssouveränität zur Verfassungssouveränität
Schriften zum Internationalen Recht Band 177
Von der Parlamentssouveränität zur Verfassungssouveränität Der britische Verfassungswandel am Beispiel des Human Rights Act 1998
Von
Almut Mareen Fröhlich
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-12764-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern und Lars
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation angenommen. Später erschienene Literatur konnte in Einzelfällen berücksichtigt werden. Der Grundstein für die Idee zu dieser Arbeit wurde in Christchurch, Neuseeland gelegt. Während eines unvergesslichen Studienjahrs an der University of Canterbury öffnete sich mir die faszinierende Welt des common law. Konkrete Gestalt nahm diese Arbeit dann während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre von Herrn Prof. Dr. Oliver Lepsius an der Universität Bayreuth an – eine Zeit, die ich in jeder Hinsicht als besonders bereichernd empfunden habe. Großen Dank schulde ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Oliver Lepsius, vor allem für die stete Hilfe und Zuversicht, mit der er die Entstehung dieser Arbeit – auch über meine Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin hinaus – begleitet und gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Markus Möstl gilt mein aufrichtiger Dank für die prompte Erstellung des Zweitgutachtens. Von Herzen danke ich auch meiner Familie – insbesondere meinen Eltern. Vor allem ihr ideeller Rückhalt war mir eine stetige Ermutigung und Quelle der Motivation. Meinem Mann Lars angemessen danken zu wollen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Ohne seine unermüdliche Unterstützung und seine grenzenlose Geduld wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ihm und meinen Eltern ist das Werk in Liebe zugeeignet. Für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses danke ich schließlich dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Bonn, im August 2008
Almut Mareen Fröhlich
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 § 1 Einführung in die Thematik der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 § 2 Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
§ 3 Einführung in Besonderheiten der britischen Verfassungsordnung . . . . . . . . . . 35 I. Fehlen einer formalisierten Verfassungsurkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 II. Hat Großbritannien eine Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Teil Das traditionelle Verfassungsverständnis – Die Zeit der richterlichen Unterwürfigkeit § 4 Prägende Komponenten des traditionellen Verfassungsverständnisses . . . . . . . I. Die britische Doktrin der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Albert Venn Dicey – Vater der Doktrin der Parlamentssouveränität . . . . 2. Inhalt der Doktrin der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Positive und negative Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Juristische und politische Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. „Parliament cannot bind its successor“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Relativierende Merkmale der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . a) Die parlamentarische Trias von Monarch, Ober- und Unterhaus . . . b) Das common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das traditionelle Demokratieverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Albert Venn Dicey und die Idee der Volksherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . 2. Albert Venn Dicey und die Mehrheitsdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das rechtstheoretische Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die rule of law als formales Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die rule of law als materielles Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diceys Konzeption der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtmäßigkeit der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gleichheit vor dem Recht (sei es geschriebener oder ungeschriebener Natur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43 44 44 45 50 51 52 54 56 56 57 61 61 68 70 73 77 78 79 81 82
10
Inhaltsverzeichnis c) Freiheit des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 d) Formelle oder materielle Konzeption? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Das Verhältnis der rule of law zur Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . 87 a) Auswirkungen der Doktrin der Parlamentssouveränität auf die rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 b) Auswirkungen der rule of law auf die Parlamentssouveränität . . . . . 89 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 V. Freiheitsschutz unter Dicey: Das Konzept der self-correcting democracy . 90 1. Tatsächliche Prämissen des Dicey’schen Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Plausibilität seiner Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Freiheitsschutz durch Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Freiheitsschutz durch extrajuristische Grenzen der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 c) Freiheitsschutz durch common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 aa) Unmittelbar-negativer Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 bb) Mittelbar-positiver Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
§ 5 Das traditionelle Verfassungsverständnis und das Verhältnis der Judikative zur Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die institutionellen Auswirkungen – keine Verfassungsgerichtsbarkeit . . II. Die verfahrensmäßigen Auswirkungen – keine Normenkontrolle . . . . . . . 1. Keine Möglichkeit der Überprüfung formeller Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Möglichkeit der Überprüfung materieller Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die methodischen Auswirkungen – die literal rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der statutory interpretation und ihre Anwendungspraxis . a) Die Wortlautauslegung oder literal rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander . . . . . . . . . . . . b) Gründe für die Auslegungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorboten einer Veränderung der Auslegungspraxis . . . . . . . . . . . .
104 105 106 108 110 110 112 113 113 114 119
§ 6 Zusammenfassende Betrachtung zum „traditionellen Verfassungsverständnis“
119
101 102 102 103
Inhaltsverzeichnis
11
2. Teil Die Einführung des Human Rights Act 1998 – Großbritannien auf dem Weg zur Verfassungssouveränität? § 7 Der Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Inkorporierungskampagne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Regelungsinhalt des Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Adressaten der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Durchsetzung der Konventionsrechte vor nationalen Gerichten . . a) Die Auslegungsregel (rule of construction) – section 3 . . . . . . . . . b) Die Inkompatibilitätserklärung – section 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die „fast track procedure“ – section 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Kompatibilitätserklärung (statement of compatibility) – section 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zum Wesen des Human Rights Act 1998 als Fremdkörper im britischen Verfassungssystem und Katalysator des Verfassungswandels . . . . . . . . . . 1. Der Human Rights Act 1998 als legal irritant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Human Rights Act 1998 als Teil eines fundamentalen Verfassungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Die Wandlung des traditionellen Verfassungsverständnisses durch den Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Substanzverlust der Doktrin der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . 1. Faktische Modifikation des positiven Bedeutungsgehalts der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aushöhlung des negativen Bedeutungsgehalts der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einschränkungen des Grundsatzes „Parliament cannot bind its successors“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einschränkungen der „rule of implied repeal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Herausbildung einer Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Materielle Aufladung der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Folgen des Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Am weiteren Kontext des fundamentalen Verfassungswandels orientierte Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Konstitutionalisierung“ des Individualrechtsschutzes – Von residual freedoms zu positive rights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Pre-Human-Rights-Act-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung des Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122 122 124 129 129 131 131 132 132 133 134 135 135 137 142 143 144 147 148 149 152 155 158 158 160 163 163 165 168
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Inhaltsverzeichnis IV. Das moderne Demokratieverständnis – Von majority rule zu einer rights based democracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Einführungsdebatte des Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . 2. Der politikwissenschaftliche Kontext – unterschiedliche Demokraktieverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die liberalen Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die liberal democratic position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die bourgeois liberal position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die republikanischen Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die communitarian position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Position des liberal republicanism . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Human Rights Act und die Veränderungen im demokratietheoretischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Abkehr vom Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenbetrachtung: Auf dem Weg zu einem (neuen) öffentlichen Recht
§ 9 Verschiebungen in der Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative durch den Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Institutionelle Auswirkungen – die Einführung eines Supreme Court . . . 1. Einführung von Normenkontrollmaßstäben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einführung eines Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahrensmäßige Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung einer parlamentarisch legitimierten Normenkontrolle . . . . 2. Die judicial review in Großbritannien – Von judicial review zur constitutional judicial review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehungsgeschichte der judicial review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Legitimationsgrundlage der judicial review – die „Ultra-ViresDebatte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die traditionelle Ultra-Vires-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Common-Law-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das General-legislative-Intent-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Methodische Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Methode der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der generous approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der purposive approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der realistic approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Methode der Gesetzesinterpretation – section 3 Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Abkehr von einer wortlautdominierten Auslegung . . . . . . . . . b) Struktur einer section 3 Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170 170 172 173 173 174 174 175 175 175 178 181 185 186 186 187 191 191 196 197 202 203 203 204 205 207 207 209 209 210 210 211 211 214
Inhaltsverzeichnis
13
c) Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 § 10 Zwischenbetrachtung: Das neue Verfassungsverständnis und das Konzept des constitutional dialogue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
3. Teil Die Gegenbewegung der judicial deference? – Der Human Rights Act 1998 in der praktischen Anwendung
225
§ 11 Zur Entwicklungsgeschichte der judicial deference . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Margin-of-Appreciation-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nationales Konzept der deference . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227 227 229 231
§ 12 Judicial deference in der jüngeren obergerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . I. Der 1. Schritt: Überprüfung eines herkömmlich ausgelegten Gesetzes am Maßstab der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. R (on the application of Pretty) v Director of Public Prosecutions (HL 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung des House of Lords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Poplar Housing & Regeneration Community Association Ltd v Donoghue (CA 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung des Court of Appeal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. R (on the application of ProLife Alliance) v BBC (HL 2003) . . . . . . . . a) Die Entscheidung des House of Lords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lord Hoffmann und judicial deference . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. A v Secretary of State for the Home Department (HL 2004) . . . . . . . . a) Die Vorgeschichte des Falls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidung des House of Lords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Lord Bingham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Lord Nicholls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Lord Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der 2. Schritt: „As far as possible“ – Das Verhältnis zwischen der Interpretationsregel der section 3 Human Rights Act 1998 und der Inkompatibilitätserklärung der section 4 Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Incorporationists v Third Wave Protagonists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsprechung des House of Lords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
232 232 233 233 235 236 236 237 237 238 239 241 242 243 244 245 248 250 251
254 254 258
14
Inhaltsverzeichnis a) Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) R v A (No 2, HL 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Zwischentrend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) R v Lambert (HL 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) (HL 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) R (Anderson) v Secretary of State for the Home Department (HL 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bellinger v Bellinger (HL 2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die aktuelle Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ghaidan v Godin-Mendoza (HL 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 13 Abschließende Betrachtung
258 258 261 265 265 267 267 269 270 271 271 275
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 § 14 Zusammenfassung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
§ 15 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ein Blick ins Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Commonwealth Model of Constitutionalism – Kanada, Neuseeland und Australien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuseeland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Australien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Commonwealth Model of Constitutionalism . . . . . . . . . . . . . . 2. Anfälligkeiten des Commonwealth Model of Constitutionalism . . . . . . a) Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuseeland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entwicklung in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legislative und Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286 286 286 286 287 289 289 290 290 290 292 292 292 295 298
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Abkürzungsverzeichnis Abs. AC ACT All ER Am.J.Comp.L. AöR APuZ ARSP Art. Aufl. BORA CA ch Ch C.L.J. col ders. d. h. dies. DÖV DPP DVBl. ECR ed., eds. edn. EEC EGMR EHRLR EHRR EMRK EuGRZ EWCA EWHC ex p f., ff. FLR Fn GG HC
Absatz Appeal Cases (Law Report) Australian Capital Territory All England Law Reports American Journal of Comparative Law Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage New Zealand Bill of Rights Act Court of Appeal chapter Chancery (Law Report) Cambridge Law Journal column derselbe das heißt dieselbe(n) Die Öffentliche Verwaltung Director of Public Prosecution Service Deutsches Verwaltungsblatt European Court Reports editor, editors edition European Economic Community Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Human Rights Law Review European Human Rights Reports Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Europäische Grundrechte-Zeitung Court of Appeal of England and Wales High Court of England and Wales ex parte folgende (Seite), fortfolgende (Seiten) Family Law Reports Fußnote Grundgesetz House of Commons
16 HL HL Deb HRA HRNZ Hrsg. I.C.L.Q. IRLR J JJ JöR JZ KB LC L.Q.R. LRev. M.L.R. MR m.w. N. NJW No NYULR NZLR OJLS p. para. P.L. PVS QB QBD R Rn. S. SAJHR SCR UCLA UK UKHL v VerwArch vgl. vol. WLR ZaöRV z. B. ZNR ZRP
Abkürzungsverzeichnis House of Lords House of Lords Debates Human Rights Act 1998 Human Rights Reports of New Zealand Herausgeber International and Comparative Law Quarterly Industrial Relations Law Reports Justice Justices Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristenzeitung King’s Bench Lord Chancellor Law Quarterly Review Law Review Modern Law Review Master of the Rolls mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift number New York University Law Review New Zealand Law Reports Oxford Journal of Legal Studies page paragraph Public Law Politische Vierteljahresschrift Queen’s Bench Queen’s Bench Division Rex / Regina Randnummer Seite South African Journal of Human Rights Canada Supreme Court Reports University of California, Los Angeles United Kingdom United Kingdom House of Lords versus Verwaltungsarchiv vergleiche volume Weekly Law Reports Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift für Rechtspolitik
Einleitung § 1 Einführung in die Thematik der Arbeit I. Thema Das Vereinigte Königreich durchläuft derzeit eine Phase des profound constitutional change 1. So hat die britische 2 Verfassungslandschaft in den letzten Jahrzehnten durch eine Flut von Reformen tiefgreifende Veränderungen erfahren, die manch einen die von politischen – im Gegensatz zu rechtlichen – Kontrollen geprägte Westminster representative democracy 3 nur noch als Schatten ihrer selbst erahnen lassen. Auslöser und Ursachen für den skizzierten Wandel sind vielfältiger Natur. Neben innerstaatlichen Problemen 4 und einem grundlegenden Wandel im Regierungsstil 5 leisten europäische Einflüsse 6 und die fortschreitende Globalisierung 7 einen 1
Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, preface. Begrifflicher Hinweis: Das Vereinigten Königreich umfasst England, Wales, Schottland und Nordirland. Es gelten dort drei verschiedene Rechtsordnungen (das englische Recht gilt auch in Wales) mit durchaus signifikanten Unterschieden. Da aber nur eine Verfassungsordnung gilt, ist es gerechtfertigt, vom „britischen“ Verfassungswandel (etc.) zu sprechen. 3 Für einen kurzen Überblick vgl. z. B. Philip A. Joseph, Constitutional and Administrative Law in New Zealand, 2001, S. 1 ff. oder ausführlicher mit politikwissenschaftlichen Bezügen, Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 7 ff. 4 Z. B. die Krise des Wohlfahrtsstaates, wirtschaftliche Probleme, das zunehmende Gefühl mangelhafter gesetzgeberischer Qualität angesichts einseitiger Machtverhältnisse aufgrund des Mehrheitswahlsystems und des wachsenden parteipolitischen Einflusses, Ämterpatronage und vieles mehr. Vgl. hierzu Michael Zander, A Bill of Rights?, 1997; Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003. 5 So wird der rigorose Regierungsstil Margret Thatchers, der zur Missachtung und Aushöhlung sog. konventioneller Verfassungsregeln geführt hat, als Grund dafür genannt, dass die überkommene Verfassung endgültig in Zweifel gezogen wurde, Vernon Bogdanor, Politics and the Constitution: essays on British government, 1996, S. 21, Stefan Schieren, Der Human Rights Act 1998 und seine Bedeutung für Großbritanniens Verfassung, Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), 999 f. Vgl. hierzu auch unten § 7 I. Nach Thomas Poole machten es Margret Thatchers Reformen des öffentlichen Sektors und die damit verbundene Verwischung der Grenze zwischen öffentlichem und privatem Sektor erforderlich, erneut die Notion des öffentlichen Rechts zu diskutieren, Thomas Poole, Back to the Future? Unearthing the Theory of Common Law Constitutionalism, (2003) 23 OJLS 436 f. Nach Schieren führte die Thatcher-Ära zu Überzentralisierung und Legitimationsdefiziten, 2
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Einleitung
wesentlichen Beitrag. Die Art und Weise des Wandels vollzieht sich aber – wie noch zu zeigen sein wird – als evolutionärer Prozess 8 in typisch inkrementeller Common-Law-Manier und speist sich aus dem dem traditionellen System vgl. Stefan Schieren, Die stille Revolution – Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001, S. 95 ff. Tony Blair hat den Wandel von einer Kabinett- zu einer „Premierministerregierung“ weiter vorangetrieben. Zu seinem präsidialen Regierungsstil vgl. z. B. Peter Hennessy, Rulers and Servants of the State: The Blair Style of Government 1997 –2004, (2005) 58 Parliamentary Affairs 6 ff.; Kevin Theakston, Prime Ministers and the Constitution: Attlee to Blair, (2005) 58 Parliamentary Affairs 17 ff.; Robert Stevens, The English Judges. Their Role in the Changing Constitution, 2005, S. 147; Richard Heffernan, Why the Prime Minister cannot be a President: Comparing Institutional Imperatives in Britain and America, (2005) 58 Parliamentary Affairs 53 ff.; Andres Blick / Iain Byrne / Stuart Weir, Democratic Audit: Good Governance, Human Rights, War against Terror, (2005) 58 Parliamentary Affairs 408 ff. 6 Die europäischen Einflüsse stark in den Vordergrund stellend, Stefan Schieren, Die stille Revolution – Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001. Dies zu Recht relativierend, Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005. Ebenso kritisiert Vogenauer die Überschätzung der Auswirkungen des Europarechts, Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band II, 2001, S. 1371 ff. Auch Paul Craig misst dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Union lediglich einen „Katalysator-Effekt“ zu, vgl. Sir William R. Wade, Sovereignty – Revolution or Evolution?, (1996) 112 L.Q.R. 574. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die zunehmende „Konstitutionalisierung“ anderer nichteuropäischer Commonwealth-Staaten wie z. B. Kanada, Neuseeland und Australien. Gleichwohl ist der europäische Einfluss für den britischen Konstitutionalisierungsprozess von Bedeutung, auch wenn Großbritannien – wie das Beispiel um die Einführung einer Verfassung für Europa gezeigt hat – bemüht ist, sich diesem Einfluss weitestgehend zu entziehen: „By early this morning, Britain was satisfied it had defended its so-called ‚redlines‘, most importantly by gaining an extra ‚protocol‘ that ringfenced Britain against European court litigation an a legally binding charter of fundamental rights. ‚Nothing in the charter creates justiciable rights applicable to the United Kingdom,‘ said the new wording drafted by the Germans.“ Ian Traynor / Patrick Wintour, European leaders reach new deal on future of union, Guardian, 23. Juni 2007, verfügbar unter: http://politics.guardian.co.uk/ print/0,,330070409-107988,00.html. 7 In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch der weltweite Siegeszug von sog. Menschenrechten zu nennen. Lord Cooke of Thorndon nannte diese Bewegung „the rise of constitutionalism“, vgl. Lord Cooke of Thorndon, Constitutional renaissance timely, (1999) 519 Law Talk 9. Zum Einfluss der Globalisierung auf die Rechtstheorie siehe W. Twining, Globalisation and Legal Theory, 2000; D. Kostakopoulou, Floating Sovereignty: A Pathology or a Necessary Means of State Evolution?, (2002) 22 OJLS 135. 8 Zum evolutionären Charakter der britischen Verfassung Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 12 m.w. N. Auch die Ausbildungsliteratur betont immer wieder den evolutionären Charakter der britischen Verfassung, vgl. z. B. Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 2002, S. 15 f.; A. W. Bradley / K. D. Ewing, Constitutional and Administrative Law, 2003, S. 31 ff.; Philip A. Joseph, Constitutional and Administrative Law in New Zealand, 2001, S. 2 f.
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der Parlamentssouveränität seit jeher inhärenten, wenn auch nicht offenkundigen Spannungsverhältnis von Parlamentssouveränität und rule of law, demokratischer Legitimation und gerichtlichem Freiheitsschutz, sowie dem Rechtsdualismus von common law und statute law. Einen wesentlichen Baustein in diesem Reformprozess 9 stellt der am 2. Oktober 2000 in Kraft getretene Human Rights Act 1998 (HRA) dar. Durch ihn werden Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention in das nationale britische Recht inkorporiert, und es wird – mit Ausnahme der Legislative – erstmals alle öffentliche Gewalt an diese Rechte 10 gebunden. Zwar ist der Human Rights Act 1998 nur eine Komponente von vielen, die den derzeitigen Wandlungsprozess ausmachen. Er eignet sich aber aus mehreren Gründen in besonderer Weise zur Veranschaulichung der stattfindenden Veränderungen. So ist er insbesondere durch das demokratisch legitimierte Gebot der konventionskonformen Auslegung und der Möglichkeit, ein Gesetz mit den Anforderungen der Konventionsrechte für inkompatibel zu erklären, 11 von besonderer Relevanz für die Stellung von Judikative und Legislative im Verfassungsgefüge des Vereinigten Königreichs und wesentlicher Faktor für die rechtsnormative Anreicherung der britischen Verfassung. Noch ist das gesamte Ausmaß des Einflusses des Human Rights Act 9 Als weitere Eckpunkte des Verfassungsreformprozesses können beispielhaft genannt werden: Devolution, d. h. Autonomierechte für Schottland, Wales und Nordirland, die Reform des House of Lords (vgl. hierzu The House of Lords: Reform. Presented to Parliament by the Leader of the House of Commons and Lord Privy Seal by Command of Her Majesty, London, Februar 2007, www.official-documents.gov.uk) und die Modernisierung der Arbeitsweise des House of Commons, Gesetze über die Informationsfreiheit (Freedom of Information Act 2000) und Gleicheit, die Stärkung des local government, die Umstrukturierung des Amtes des Lord High Chancellor, die Einführung eines Supreme Courts und gerade kürzlich die Einrichtung eines Ministry of Justice (vgl. hierzu House of Commons Constitutional Affairs Committee, The creation of the Ministry of Justice, Sixth Report of Session 2006 –07, Report, together with formal minutes, oral and written evidence, HC 466, London, Juli 2007). Einen instruktiven Beitrag über den britischen Verfassungsreformprozess im Allgemeinen bietet das kürzlich erschienene Werk von Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005. Siehe auch Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003 oder die sehr informative Website des University College London: http://www.ucl.ac.uk/constitution-unit/publications/constitutional-update/index.html. Im Hinblick auf die Einführung des Human Rights Act 1998 darf hingewiesen werden auf Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004; Markus Verbeet, Die Stellung der Judikative im englischen Verfassungsgefüge nach dem Human Rights Act 1998, 2004. 10 Die in der Europäischen Menschenrechtskonvention normierten Rechte, die durch Einführung des Human Rights Act 1998 in das britische Recht „inkorporiert“ wurden, werden im weiteren Verlauf der Arbeit „Konventionsrechte“ genannt. 11 Siehe section 3 und 4 Human Rights Act 1998 (HRA). Ein Kassationsrecht steht den Gerichten jedoch nicht zu, vgl. section 3 (2) HRA.
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1998 auf das britische Verfassungsgefüge nicht absehbar; sicher ist jedoch, dass er bereits jetzt schon vielerorts als „the most important domestic legal development for a generation“ 12 angesehen wird, der einen „paradigm shift in the foundations of British constitutional law“ 13 bewirkt haben soll. Im Jahr 2002 beschrieb Sir John Laws den gegenwärtigen Stand der Entwicklung wie folgt: „In its present state of evolution, the British system may be said to stand at an intermediate stage between parliamentary supremacy and constitutional supremacy (...).“ 14
Dieses Zitat ist in mehrfacher Hinsicht interessant. So verdeutlicht es zunächst einmal, dass der verfassungsrechtliche Antipode zum traditionellen britischen System der Parlamentssouveränität in der sog. Verfassungssouveränität 15, d. h. einem dem US-amerikanischen oder auch deutschen entsprechenden Verfassungsmodell, in dem alle staatliche Gewalt an höherrangiges Recht – die Verfassung – gebunden ist, gesehen wird. In ihren idealtypischen Ausprägungen werden Parlaments- und Verfassungssouveränität sowohl in der britischen als auch in der deutschen Literatur einander gerne – wie „schwarz“ und „weiß“ – gegenübergestellt. 16 Eine derart kontrastierende Vorgehensweise hat durchaus ihre Berechtigung, wenn sie als heuristisches Mittel dazu dient, einen Gegenstand, der unmittelbar schwer fassbar ist, von seinen Extremen her zu erschließen. 17 Bedenklich ist sie jedoch, wenn die Modelle als Beschreibung der Wirklichkeit aufgefasst werden und durch ihre Übersimplifizierung der Blick für Konvergenzen und Gemeinsamkeiten verstellt wird. 18
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Alex Carroll, Constitutional and Administrative Law, 2002, S. 387. Richard A. Edwards, Judicial Deference under the Human Rights Act, (2002) 65 M.L.R. 866. 14 International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department [2002] 3 WLR 344, para. 71. 15 Zur Erläuterung dieses in der deutschen juristischen Fachsprache eher ungewöhnlichen Begriffs siehe unter § 2. 16 Vgl. z. B. Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?, 2000, S. 10; Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, PVS 1 (1995) 49 ff.; Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 443 ff.; Lord Irvine of Lairg, Sovereignty in Comparative perspective: Constitutionalism in Britain and America, (2001) 76 NYULR 3 ff., der diese Unterscheidung als Ausgangspunkt nimmt, um auf Konvergenzen in der gegenwärtigen Entwicklung hinzuweisen. 17 Es ist hilfreich, sich zur Verdeutlichung eines Begriffs mit seinem Gegenbegriff auseinanderzusetzen, denn nur die Vorstellung von theoretischen Alternativen ermöglicht es, das bestehende Modell adäquat einzuschätzen. Grundlegend zum „pluralistischen Alternativdenken“ im Rahmen demokratischer Verfassungstheorie, Peter Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 1978, S. 17 ff. 13
§ 1 Einführung in die Thematik der Arbeit
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Indem Sir John Laws von intermediate stage spricht, bringt er zutreffend zum Ausdruck, dass sich die beiden Systeme nicht diametral gegenüberstehen (müssen), sondern graduelle Annäherungen möglich sind; anschaulicher gesagt: Auf der Skala von „schwarz“ bis „weiß“ werden die „Grautöne“ entdeckt. Dies ist insofern wenig verwunderlich, als beide Modelle Lösungsversuche des gleichen Problems darstellen. Sowohl das System der Verfassungs- als auch der Parlamentssouveränität streben vor dem Hintergrund unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrungen in einem weitgehend gewaltenteiligen 19 demokratischen System einen adäquaten Ausgleich des Spannungsverhältnisses zwischen demokratischer Legitimation und gerichtlicher Kontrolle an. So war die Kontrastierung beider Systeme schon immer überzeichnet. 20 Dementsprechend sprach der damalige britische Lord High Chan18
In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass eine Arbeit, die sich allein dem britischen Verfassungswandel widmet, auch für den deutschen Juristen von Interesse sein kann. Abgesehen hiervon erschöpft sich ein Blick über die deutschen Grenzen hinaus nicht allein in einem allgemeinen rechtspolitischen Erfahrungsgewinn, sondern vermag sogar als „fünfte Auslegungsmethode“ Bedeutung erlangen. Vgl. hierzu, Peter Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 27 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 2006, S. 268. Als Beispiel dafür, dass das britische öffentliche Recht von kontinentaleuropäischen – nicht zuletzt deutschen – Vorbildern lernt, kann die allmähliche Etablierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im britischen Recht dienen, siehe unten § 9 III.2.c). Insofern kann die vorliegende Untersuchung über den Fortgang der Verfassungsdiskussion in Großbritannien auch ein lohnender Betrachtungsgegenstand für die deutsche Staatsrechtswissenschaft sein. So auch Stephen Gardbaum, The New Commonwealth Model of Constitutionalism, (2001) 49 Am.J.Comp.L. 707 ff., im Hinblick auf die USA. 19 Zur im Vergleich zu dem US-amerikanischen System schwächeren Tradition der Gewaltenteilung in Großbritannien, die z. B. Fitzgerald auf den geringeren Einfluss John Lockes auf das britische Verfassungssystem zurückführt, vgl. Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, verfügbar unter http://law.bepress.com/expresso/eps/278. Nach Robert Stevens hat Diceys Doktrin der Parlamentssouveränität eine Gewaltenteilung im US-amerikanischen Sinn gänzlich verhindert. Dies gelte insbesondere für die Richterschaft: „As of 1997, one could have said categorically that in England the judges were not a separate or co-equal branch of government.“ Siehe Robert Stevens, The English Judges. Their Role in the changing Constitution, 2005, S. 89 ff. Vgl. auch Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn., 2002, S. 13 f., 105 ff.; Lord Lester, House of Lords Debate on the Separation of Powers vom 17. Februar 1999, Hansard HL Db, vol 597, col 710 ff. Zu dem Versuch, der häufig vieldeutigen und mitunter gar widersprüchlichen Verwendung des Begriffs Gewaltenteilung in Wissenschaft und Rechtsprechung eine systematische Konzeption entgegenzusetzen, die die Bedeutungsvielfalt des Begriffs aufhebt und in einen rechtsdogmatischen und rechtsvergleichenden Rahmen setzt, Christoph Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005. 20 Vergleiche in diesem Zusammenhang z. B. Richard Bellamy, Political Constitutionalism. A Republican Defence of the Constitutionality of Democracy, 2007, S. 5. Siehe auch Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Ver-
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Einleitung
cellor, Lord Irvine of Lairg, anlässlich der 31. James Madison Lecture im Herbst 2000 in New York auch zutreffend von „two different parts of a continuum“ 21. Den Worten intermediate stage wohnt aber auch eine zeitliche Komponente inne, die nahelegt, dass es sich bei der derzeitigen Verfassungssituation lediglich um eine Interimsphase handelt, die mit der Zeit zwangsläufig zur Übernahme des Modells der Verfassungssouveränität führen werde. So befand Lord Irvine of Lairg bereits 2001, dass „the distinction between our two constitutional systems, it is now nothing more than an outdated caricature“. 22
Doch hat seine Lordschaft Recht? Befindet sich Großbritannien wirklich auf dem Weg, ein Verfassungsstaat nach deutschem oder amerikanischem Muster zu werden, bzw. ist es dies bereits? Die hier vertretene These lautet, dass ein solches Ergebnis durch die momentane Entwicklung keineswegs präjudiziert ist. Zwar durchläuft das Vereinigte Königreich derzeit einen tiefgreifenden Verfassungswandel, der als ein Prozess des Konvergierens oder der Annäherung beschrieben werden kann, der aber nicht zwingend zu einer Kongruenz der beiden Systeme führen muss. Vielmehr ist das Vereinigte Königreich angesichts der Einführung des Human Rights Act 1998 gefragt, unter Berücksichtigung der britischen Verfassungstradition seinen eigenen spezifischen „Grauton“ zu finden. Am Beispiel der Einführung des Human Rights Act 1998 soll daher gezeigt werden, dass die ehemals „politische Verfassung“ 23 Großbritanniens zwar ohne Frage durch rechtsnormative Komponenten angereichert wird, ihren politischen Charakter aber nicht vollends verloren hat. Verschriftlichte Grundrechtskataloge stellen durch ihre verrechtlichten herrschaftsbegrenzenden Wirkungen dem Grunde nach einen Fremdkörper im britifassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 1 ff., der auf Parallelen in der deutschen und englischen Verfassungstradition hinweist und einen prinzipiellen Widerspruch von herrschaftsbegründenden und herrschaftsbegrenzenden bzw. -formenden Verfassungstraditionen verneint. 21 Lord Irvine of Lairg, Sovereignty in Comparative perspective: Constitutionalism in Britain and America, (2001) 76 NYULR 7. Vor diesen Hintergrund stellt sich auch die spannende Frage, ob und inwiefern nicht auch Angleichungstendenzen des deutschen Rechtssystems an das britische zu verzeichnen sind bzw. sein sollten. Siehe in diesem Zusammenhang z. B.: Bernhard Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157 ff.; Rainer Wahl, Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, DVBl. 2003, 1285 ff.; Rüdiger Breuer, Zur Lage der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 2003, 271 ff. 22 Lord Irvine of Lairg, Sovereignty in Comparative perspective: Constitutionalism in Britain and America, (2001) 76 NYULR 11. 23 J. A. G. Griffith, The Political Constitution, (1979) 42 M.L.R. 1 ff.
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schen Verfassungssystem dar und können als sogenannter legal irritant 24 begriffen werden, d. h. als ein Fremdkörper, der sowohl die bestehende Verfassungordnung formt als auch wiederum durch sie geprägt wird. So ist der Human Rights Act 1998 unbestritten der gesetzesförmige Ausdruck einer veränderten Grundrechtsauffassung und offenbart und fördert einen grundlegenden Wandel des tradierten Demokratieverständnisses im Vereinigten Königreich. Er ist somit Ausdruck und Katalysator eines veränderten Verfassungsverständnisses zugleich. Auf der anderen Seite entspricht jedoch die zur Umsetzung der Gewährung von Freiheitsschutz durch den Human Rights Act 1998 – der hinsichtlich der Kontrolle des Gesetzgebers primär auf Prävention und politischen Druck setzt – gewählte Form weiterhin dem Wesen einer political constitution. 25 Durch den Human Rights Act 1998 wird das der britischen Verfassung inhärente Spannungsverhältnis somit nicht aufgehoben, sondern lediglich unter den Vorzeichen positivierter rechtsnormativer Anreicherungen fortgeschrieben. Bei aller Berechtigung, die graduelle Annäherung beider Systeme herauszuarbeiten und zu analysieren, darf daher der Blick für die weiterhin bestehenden Differenzen und ihre mögliche Berechtigung nicht verstellt werden. 26 So hat sich durch die Einführung des Human Rights Act 1998 in Großbritannien nichts an der Frage geändert, wem formal das Letztentscheidungsrecht zusteht und wer danach in diesem Sinne souverän ist. Allerdings erweist sich diese Feststellung hinsichtlich der Beschreibung der Verfassungswirklichkeit als immer weniger aussagekräftig. Will man eine Aussage über die Verortung von (rechtlicher) Macht innerhalb des verfassungsrechtlichen Gefüges treffen, rücken daher die „Grautöne“ in den Fokus des Interesses. Angesichts des Umstands, dass das System der Parlamentssouveränität mangels rechtlicher Beschränkungen durch die Allmacht des Parlaments gekennzeichnet ist und das Modell der Verfassungssouveränität mit seinen gerichtlich durchsetzbaren verfassungsrechtlichen Schranken gerade in der ausländischen Literatur auch gerne überspitzt als judicial supremacy 27 bezeichnet wird, ist für die Betrachtung 24 Gunther Teubner, Legal Irritants: Good Faith in British Law or How Unifying Law Ends Up in New Divergences, (1998) 61 M.L.R. 11 ff. 25 Zur Debatte um das Grundverständnis der britischen Verfassung als politische Verfassung siehe Nicholas Bamforth / Peter Leyland, Public Law in a Multi-Layered Constitution, 2003. 26 So verzeichnet Reimann eine neue Strömung im Bereich der Rechtsvergleichung, die sich zunehmend von der herkömmlichen Forschung, die das „rechtliche Universum“ vornehmlich im Sinne von Einheit, Harmonie und gradueller Annäherung begreift, distanziert und dafür Kategorien wie z. B. Komplexität, Ambiguität und (persistierende) Heterogenität in den Vordergrund rückt. Siehe Mathias Reimann, The Progress and Failure of Comparative Law in the Second Half of the Twentieth Century, (2002) 50 Am.J.Comp.L. 680 m.w. N.
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der „Grautöne“ naturgemäß das Verhältnis von Judikative und Legislative von entscheidender Bedeutung. Dies soll daher im Zentrum der Betrachtung stehen. Welche Rolle kommt der Einführung des Human Rights Act 1998 im Hinblick auf das Verhältnis von Judikative und Legislative zu? Und welche Bedeutung kommt im Rahmen dieses Wandlungsprozesses – angesichts der Vieldeutigkeit des Human Rights Act 1998 und der durch ihn inkorporierten Konventionsrechte – wiederum den Gerichten und ihrem Selbstverständnis im Allgemeinen 28 und ihrer Auslegungspraxis bzw. Interpretationstechnik im Besonderen zu? Durch den Human Rights Act 1998 wird den Gerichten erstmals eine Art Normenkontrolle ermöglicht, im Rahmen derer sie sich mit der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen und damit einhergehend einem der Verfassungsinterpretation ähnlichen Phänomen auseinandersetzen müssen. Dies bewirkt auf den ersten Blick eine Verschiebung rechtlicher Macht von der Legislative zur Judikative hin, als deren Vehikel vor allem die Auslegungspraxis bzw. Interpretationstechnik der Gerichte dient. 29 Doch in welcher Weise – auf der Basis welchen Vorverständnisses – machen die Gerichte von dieser Macht Gebrauch? Gerade die Veränderungen in der Vorgehensweise englischer Gerichte bei der Gesetzesauslegung werden häufig als Annäherung an die kontinentaleuropäische Auslegungspraxis gesehen. So wird – mit dem berechtigten Anliegen, überkommene und teilweise unzutreffende Kontrastierungen korrigieren zu wollen 30 – von der „fundamentalen Einheit der Interpretationspraxis“ gesprochen. 31 Soweit hiermit aber eine über die Auslegungskriterien hinausgehende Einheit 27
Z. B. Richard Ekins, Judicial Supremacy and the Rule of Law, (2003) 119 L.Q.R. 127. Der ehemalige Chief Justice Hugh des United States Supreme Court stellte einmal fest, dass „a constitution is what the judges say it is“, vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 67. Demgegenüber bemerkte Sir Stephen Sedley „the reverse is true as well: if the judges are not prepared to speak for it, a constitution is nothing“, vgl. Sir Stephen Sedley, The Sound of Silence: Constitutional Law Without a Constitution, (1994) 110 L.Q.R. 270. Es obliegt somit den Gerichten, die angemessene Balance zwischen diesen beiden Polen zu finden. 29 Vgl. z. B. K. D. Ewing, The Human Rights Act and Parliamentary Democracy, (1999) 62 M.L.R. 79, der feststellt, dass „(t)he Act ...(...) represents an unprecedented transfer of political power from the executive and legislature to the judiciary ...(...)“ und auf Seite 92 fortführt: „As a matter of constitutional legality, Parliament may well be sovereign, but as a matter of constitutional practice it has transferred significant power to the judiciary.“ 30 So ist es Vogenauers ausdrückliches Anliegen „verantwortungslose Vereinfachungen“, wie z. B. der These vom fundamentalen Unterschied, die die englische und die kontinentale Methode der Gesetzesinterpretation ohne Weiteres als Prototypen zweier miteinander unvereinbarer Auslegungstraditionen präsentiert, entgegenzutreten, vgl. Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band II, 2001, S. 1303. 31 Vgl. Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band II, 2001, S. 1295. Sich dem anschließend, Markus Verbeet, Die Stellung der Judikative im englischen Verfassungsgefüge nach dem Human Rights Act 1998, 2004. Vogenauer selbst weist darauf hin, dass es sich bei der These der fundamentalen Einheit, 28
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der Gesetzeskontrolle 32 suggeriert werden sollte, ist dieses Urteil jedoch zu pauschal und in seiner Reduziertheit auf bloße Technikalitäten irreführend. Trotz oder gerade wegen der unbestrittenen Tendenz einer Vereinheitlichung der Gesetzesauslegung in Europa wird dem spezifischen verfassungsgeschichtlichen Hintergrund und den aktuellen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen in Großbritannien – im Hinblick auf die nunmehr vom Human Rights Act 1998 geforderte „konventionsrechts“-konforme Gesetzesauslegung und der damit einhergehenden Kontrolle des Gesetzgebers – zu wenig Beachtung geschenkt. 33 Das vorherrschende Verfassungsverständnis 34 und das damit verbundene richterliche Selbstverständnis dienen jedoch quasi als außerdogmatische Ausgangslage für die Rechtsanwendung und sind daher – insbesondere angesichts des dem Human Rights Act 1998 inhärenten Spannungsverhältnisses – von erheblicher Bedeutung. Vor diesem Hintergrund stellt sich somit die Frage, wieviel Raum dem traditionellen Verfassungsdenken im aktuellen Verfassungsgefüge noch zukommt bzw. welche Relevanz ihm verbleibt. Ein Bereich, an dem sich dies verdeutlichen lässt, ist das in jüngster Zeit vieldiskutierte Phänomen der judicial deference 35, welches u. a. das Problem der angesichts der beschränkten Anzahl denkbarer Auslegungskriterien und ihrer begrenzen Kombinierbarkeit bzw. Hierarchisierung um eine Trivialität handelt und es weiterhin eine bedeutende Funktion der Rechtsvergleichung darstelle, Gegensätze zwischen verschiedenen Rechtsordnungen herauszuarbeiten, Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band II, 2001, S. 1302 f. 32 Jeder Interpretation eines Gesetzes ist auch ein gewisses Maß an Kontrolle des Gesetzgebers inhärent. 33 Diesen Vorwurf muss sich auch die jüngst erschienene Arbeit von Verbeet gefallen lassen, Markus Verbeet, Die Stellung der Judikative im englischen Verfassungsgefüge nach dem Human Rights Act 1998, 2004. 34 Der Begriff des „Verfassungsverständnisses“ wird hier nicht rein rechtlich verstanden, sondern bezieht auch außerrechtliche Faktoren wie z. B. politiktheoretische und philosophische Anschauungen mit ein. Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1993, S. 246 f., benutzt hierfür den schwer definierbaren Begriff der „Rechtskultur“, dem er eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hinsichtlich der richterlichen Interpretationspraxis beimisst. 35 Vgl. z. B. Sandra Fredman, From deference to democracy: The role of equality under the Human Rights Act 1998, (2006) 122 L.Q.R. 53 ff.; Lord Steyn, Deference: A Tangled Story, [2005] P.L. 346 ff.; Francesca Klug / Keir Starmer, Incorporation through the „front door“: the first year of the Human Rights Act, [2001] P.L. 654; dies., Standing Back from the Human Rights Act: how effective is it five years on?, [2005] P.L. 716 ff.; Stephen Tierney, Determining the State of Exception: What role for the Parliament and the Courts, (2005) 68 M.L.R. 668 ff.; Alison L. Young, Ghaidan v Godin-Mendoza: avoiding the deference trap, [2005] P.L. 23 ff.; Richard Clayton, Judicial deference and „democratic dialogue“: the legitimacy of judicial intervention under the Human Rights Act 1998, [2004] P.L. 33 ff.; Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004; Lord Lester of Herne Hill, The Human Rights Act 1998 – Five Years On, Third Annual Lecture of the Bar Council Law Reform Committee, 25 November 2003, verfügbar unter: http://
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Einleitung
richterlichen Kontrolldichte im Rahmen der durch den Human Rights Act 1998 eingeführten Normenkontrolle beschreibt, wodurch in Großbritannien erstmals offenkundig die Frage nach den Grenzen gesetzgeberischen Ermessens aufgeworfen wird. Judicial deference stellt zwar keine Auslegungsmethode im engeren Sinne dar, steht aber mit diesen in unauflöslichem Zusammenhang. So erfordert z. B. eine „konventionskonforme Gesetzesauslegung“ i. S. d. Human Rights Act 1998 die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, da die Frage, ob und wie das betreffende Gesetz konventionskonform ausgelegt werden kann, ohne Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit des mit der Erreichung des gesetzgeberischen Ziels einhergehenden Eingriffs in den Schutzbereich eines Konventionsrechts anzustellen, nicht beantwortet werden kann. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs wiederum birgt die Frage nach der Reichweite der richterlichen Kontrolle über die Gesetzgebung in sich und berührt somit einen Kernaspekt der judicial deference. Wörtlich übersetzt, bedeutet judicial deference „richterliche Achtung“ und drückt eine auf Respekt basierende Nachgiebigkeit aus. 36 Doch was heißt das genau? Wie wirkt judicial deference, welche Wurzeln hat sie und welche Folgen hat sie für das Verhältnis der Gewalten zueinander? Stellt sie eine Gegenbewegung www.hrla.org.uk/docs/lord%20lester.pdf; Lord Irvine of Lairg, The Impact of the Human Rights Act: Parliament, the Courts and the Executive, [2003] P.L. 308 ff.; Lord Woolf, European Court of Human Rights on the Occasion of the Opening of the Judicial Year, (2003) 8 EHRLR 257 ff.; Francesca Klug, Judicial Deference under the Human Rights Act 1998, (2003) 8 EHRLR 125 ff.; Keir Starmer, Two Years of the Human Rights Act, (2003) 8 EHRLR 14 ff.; Trevor R. S. Allan, Constitutional Dialogue and the Justification of Judicial Review, (2003) 23 OJLS 563 ff.; ders., Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, chapter 6; ders., Common Law Reason and the Limits of Judicial Deference, in: David Dyzenhaus (ed.), The Unity of Public Law, 2004, S. 289 ff.; Jeffrey Jowell, Judicial Deference and Human Rights: A Question of Competence, in: Paul Craig / Richard Rawlings (eds.), Law and Administration in Europe, 2003, 67 ff.; ders., Judicial Deference: Servility, civility or institutional capacity?, [2003] P.L. 592 ff.; Richard Ekins, A Critique of Radical Approaches to Rights Consistent Statutory Interpretation, (2003) 8 EHRLR 641 ff.; Richard A. Edwards, Judicial Deference under the Human Rights Act, (2002) 65 M.L.R. 859 ff.; ders., Generosity and the Human Rights Act: the right interpretation?, [1999] P.L. 400 ff. Danny Nicol, Are Convention Rights A no-go Zone for Parliament, [2002] P.L. 438 ff.; Danny Friedman, From due deference to due process: Human Rights Litigation in the Criminal Law, (2002) 7 EHRLR 216 ff.; Paul Craig, The Courts, the Human Rights Act and Judicial Review, (2001) 117 L.Q.R. 589; David Pannick, Principles of interpretation of Convention rights under the Human Rights Act and the discretionary area of judgment, [1998] P.L. 545 ff. 36 Im PONS Kompaktwörterbuch wird deference mit „Achtung“, „Respekt“ übersetzt, Erich Weis (Hrsg.), PONS-Kompaktwörterbuch, 1982. Im Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English wird der Begriff wie folgt umschrieben: „giving way to the wishes, accepting the opinions or judgements, of another or others; respect“. A. S. Hornby (ed.), Oxford Advances Learner’s Dictionary of Current English, 1980.
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zum sogenannten judicial activism, der der Einführung des Human Rights Act 1998 vorausging, dar? Soviel sei schon einmal vorweggenommen: Judicial deference ist bildlich gesprochen der Ort, an dem im heutigen britischen Verfassungsgefüge alte und neue Kräfte um ein neues Gleichgewicht „ringen“, das heißt, einen adäquaten Grauton zu finden versuchen. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass es nicht nur neuerdings in Großbritannien, sondern in allen Staaten, die einen Katalog von Rechten kennen, an denen Gesetzgebungsakte gemessen werden können, seit jeher die Kardinalfrage ist, wie eine Trennlinie zwischen richterlicher Normenkontrolle und der Recht setzenden Gewalt gezogen werden kann. 37 Es darf hier daher keine erschöpfende Antwort auf dieses Problem erwartet werden. 38 In diesem Bewusstsein soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit das Phänomen der judicial deference sowohl als Erkenntnisgegenstand als auch Erkenntnismittel genutzt werden. So soll der bisher häufig vage und schlagwortartig gebrauchte Begriff der judicial deference näher analysiert und systematisiert werden, um zugleich anhand dieses Phänomens die noch bestehenden Einflüsse traditionellen 37 Für die diesbezügliche Diskussion in Deutschland in den 70er Jahren vgl. Norbert Achterberg, Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote – Judicial, political, processual, theoretical self-restraints, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts – Ausgewählte Abhandlungen 1960 –1980, 1980. Siehe aber auch gerade kürzlich Winfried Hassemer, Politik aus Karlsruhe?, JZ 2008, 1 ff.; Martin Kriele, Richterrecht und Rechtspolitik, ZRP 2008, 51 ff. Zum „Gesetzgebungsermessen“ in Deutschland heute siehe Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000. Vgl. auch Otfried Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, Der Staat 38 (1999), 171 ff. und Ino Augsberg / Steffen Augsberg, Prognostische Elemente in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, VerwArch 98 (2007), 297 ff. Ohne dass im Rahmen dieser Arbeit näher auf die deutsche Situation, die ausführlich von Meßerschmidt dargestellt wurde, eingegangen werden soll, stellt sich u. a. vor diesem Hintergrund die Frage, ob die Vereinheitlichung der Rechtssysteme nicht auch unter der Überschrift der Annäherung Deutschlands an Großbritannien diskutiert werden sollte. 38 So hat schon Fritz Ossenbühl davon gesprochen, dass „jedem Eingeweihten bewusst (sei), dass die Grenzziehung zwischen gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit einerseits und verfassungsgerichtlicher Kontrolle andererseits eines der ewigen Grundprobleme jeder Verfassungsgerichtsbarkeit darstellt, um deren Lösung fortdauernd gerungen werden muss, ohne dass je ein Ende in Sicht wäre. Mit anderen Worten: Diese Grenzen werden sich nur recht vage ziehen lassen und niemals zu starren Linien gerinnen können.“. Vgl. Fritz Ossenbühl, Maßhalten mit dem Übermaßverbot, in: Peter Badura / Rupert Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens: Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 159. Auch Jutta Limbach weist darauf hin, dass es „(d)ie intellektuelle Redlichkeit gebietet (...) festzustellen, dass es einen handhabbaren Katalog von Kriterien nicht gibt, der als Wegweiser bei der Gratwanderung zwischen Recht und Politik dienen könnte“. Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?, 2001, S. 22.
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Einleitung
Verfassungsdenkens zu untersuchen sowie den Gebrauch von judicial deference im gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Kontext zu bewerten.
II. Vorgehensweise Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen soll – ohne entsprechenden Überleitungen zu den nachfolgenden Teilen an dieser Stelle zu weit vorzugreifen – wie folgt vorgegangen werden: Zunächst werden noch im Rahmen der Einleitung (§ 2) die beiden Antipoden, das heißt die Begriffe der Parlaments- und der Verfassungssouveränität, kurz erläutert, da sie im deutschen Sprachgebrauch nicht als geläufig vorausgesetzt werden können, hier aber als Referenzpunkte dienen. Daran anschließend (§ 3) soll eine kurze „vor die Klammer gezogene“ Einführung in einige Besonderheiten der britischen Verfassungsordnung das Verständnis für die nachfolgenden Teile vorbereiten und erleichtern. Da sich der britische Verfassungswandlungsprozess und das Phänomen der judicial deference nur mit Kenntnis und vor dem Hintergrund des traditionellen Verfassungsverständnisses adäquat fassen lässt, widmet sich der erste Teil unter besonderer Berücksichtigung der für das Verhältnis von Judikative und Legislative maßgeblichen Faktoren dem sogenannten Ancien Regime 39 – welches im Rahmen dieser Arbeit etwas überspitzt als die Zeit der richterlichen Unterwürfigkeit bezeichnet wird. Wie bereits zuvor angedeutet wurde, wohnt der traditionellen Verfassungsordnung ein Spannungsverhältnis inne, ohne dessen Kenntnis sich das Wesen des britischen Verfassungssystems nicht erschließt und das sich angesichts des „politischen Charakters“ der Verfassung nicht allein durch eine rein rechtliche Betrachtung fassen lässt. Aus diesem Grund soll das Ancien Regime anhand der Doktrin der Parlamentssouveränität, dem traditionellen Demokratie- und dem traditionellen rechtstheoretischen Verständnis auf der einen Seite sowie der rule of law und dem gerichtlichen Individualrechtsschutz auf der anderen Seite untersucht werden. Daran anschließend wird das traditionelle Verfassungsverständnis im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Judikative und Legislative in institutioneller, verfahrenstechnischer und methodischer Hinsicht betrachtet, um auf diese Weise möglichst vielschichtig die Facetten des Ancien Regime zu fassen.
39 Diese Bezeichnung des traditionellen Verfassungssystems wurde von Schieren geprägt, vgl. Stefan Schieren, Die Stille Revolution – Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001.
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Der zweite Teil widmet sich der Einführung des Human Rights Act 1998 und den damit verknüpften Erwartungen bzw. der Frage, ob und inwieweit diese auf die Einführung der Verfassungssouveränität gerichtet sind. Die Anknüpfung an den Human Rights Act 1998 als äußeres Zeichen des Wandels soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits einige Jahrzehnte vor seiner Einführung ein im Wesentlichen durch die Richterschaft forcierter Reformprozess seinen Anfang nahm, als dessen „parlamentarische Fortschreibung“ man den Human Rights Act 1998 begreifen kann. So werden im Rahmen dieses Kapitels auch immer wieder Bezüge zu diesem Veränderungsprozess hergestellt. Nach einer kurzen Einführung in die Entstehungsgeschichte, das Regelwerk und Wesen des Human Rights Act 1998 werden dann – spiegelbildlich zum Aufbau des ersten Teils – die mit der Einführung des Human Rights Act 1998 verbundenen (fortschreitenden) Veränderungen des traditionellen Verfassungsverständnisses und der damit im Zusammenhang stehende Wandel des Verhältnisses zwischen Judikative und Legislative – so wie er in institutioneller, verfahrenstechnischer und methodischer Hinsicht seinen Ausdruck findet – betrachtet. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Veränderungen im traditionellen Verfassungsverständnis um einen Prozess handelt, der noch nicht abgeschlossen ist. Darüber hinaus ist die diesbezügliche aktuelle Verfassungsdebatte äußerst vielschichtig und berührt verfassungspolitische, -dogmatische und -theoretische Ansätze, die zum Teil miteinander verwoben werden, so dass nicht immer eindeutig zwischen Anspruch und Wirklichkeit unterschieden werden kann. Vor diesem Hintergrund wird in § 10 auf das sich andeutende neue Verfassungsideal des sogenannten constitutional dialogue eingegangen. Anschließend wird im dritten Teil untersucht, ob und wieweit die tatsächliche Umsetzung des Human Rights Act 1998 durch das Phänomen der judicial deference eine Art Gegenbewegung erfahren hat, in der das alte Verfassungsverständnis zum Tragen kommt, bzw. ob und inwieweit dem neuen Verfassungsideal Rechnung getragen wird. Da sich die judicial deference in der Anwendung des Human Rights Act 1998 durch die Gerichte äußert, werden zu diesem Zweck einige ausgesuchte Urteile der höchstrichterlichen Rechtsprechung dargestellt und analysiert. Die Arbeit schließt mit einem Kapitel über mögliche Entwicklungstendenzen der britischen Verfassung unter Berücksichtigung der Reaktionen der Exekutive und Legislative sowie einem kurzen Überblick über die Erfahrungen und Entwicklungen anderer ehemals der traditionellen Doktrin der Parlamentssouveränität verpflichteter Staaten wie z. B. Kanada, Neuseeland und Australien.
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Einleitung
§ 2 Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität Sowohl die Wahl als auch Bedeutung und Inhalt der hier verwandten Begriffe der Parlaments- bzw. Verfassungssouveränität bedürfen einer kurzen Erläuterung, da sie nicht als geläufig vorausgesetzt werden können. Dabei ist ihre Funktion im Rahmen dieser Arbeit zu berücksichtigen. Sie sollen hier als Referenzpunkte für die Beschreibung des sich in den letzten Jahrzehnten in Großbritannien vollzogenen verfassungs- und staatsrechtlichen Entwicklungsprozesses dienen und dabei behilflich sein, die staatstheoretischen Grundlagen der gesetzgeberischen Gestaltungsmacht und ihrer Grenzen ein wenig aufzuhellen. Beide Begriffe sollen daher lediglich die Eckpunkte einer Skala widerspiegeln, und weder eine Beschreibung des Ist-Zustands 40 noch eines tatsächlich anzustrebenden Ideals sein. Obwohl die besseren Gründe angesichts der Komplexität des modernen, mannigfach differenzierten und vernetzten Staates dafür sprechen, das Staatsverständnis künftig nicht mehr um den Souveränitätsbegriff zu konstruieren, 41 haben diese 40 Es ist jedoch zuzugeben, dass die Referenzpunkte anhand der Realmodelle Großbritannien und Deutschland modelliert werden. 41 Ähnlich z. B. F. H. Hinsely, Sovereignty, 1986, S. 222 f.; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 2003, S. 101 ff.; Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, 1889, S. 118, 252 ff.; Harold Laski, The Foundations of Sovereignty and Other Essays (1921), Reprint 1968, S. 1 ff., 26 ff. Auch Oeter ist der Meinung, dass Souveränität für das Staatsrecht eine überflüssig gewordene Kategorie beschreibt, die einzig noch als Rudiment im staatstheoretischen Legitimationsprinzip der „Volkssouveränität“ aufscheint, vgl. Stefan Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: Hans Joachim Cremer / Thomas Giegerich / Dagmar Richter / Andreas Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts: Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, S. 283. Vgl. auch Stefan Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union. Fragen aus Verfassungstheorie und Verfassungsgeschichte an die deutsche Debatte um Souveränität, Demokratie und die Verteilung politischer Verantwortung im geeinten Europa, ZaöRV 55 (1995), 659 ff.; Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt – die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts in Mehrebenensystemen, 2004, S. 100, 137. Abromeit weist darauf hin, dass die Variante, die Souveränität für überholt zu erklären – sei es aus Gründen der Verfassungsstaatlichkeit oder der Supranationalität wegen – sehr verbreitet ist, Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, PVS 1 (1995), 49 ff. Sie zieht es daher vor, der etwas „aufgeblähten“ staatsrechtlichen Vorstellung von Souveränität eine bescheidenere politikwissenschaftliche Variante gegenüberzustellen, die sich an der Frage nach dem Letztentscheidungsrecht orientiert und nicht mehr als ein Indiz für tatsächliche Machtverhältnisse sein kann. Die Souveränitätskategorie verteidigend dagegen z. B. Hans Lindahl, Sovereignty and symbolization, (1997) Rechtstheorie 28, 347 ff.
§ 2 Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität
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Begriffe dennoch in dem hier interessierenden Kontext in ihrer heuristischen Funktion eine Berechtigung. Dadurch, dass die Modelle plakativ und undifferenziert bleiben, werden sie gerade ihrer Kontrastierungsfunktion gerecht. Daher wird an dieser Stelle auf ein vertieftes Eingehen auf den Souveränitätsbegriff 42 und seine geschichtliche Entwicklung, sowie auf eine detaillierte und umfassende Analyse der hier vorgestellten Referenzbegriffe verzichtet. Stattdessen beschränkt sich die Darstellung auf das zur Akzentuierung Notwendige und Erforderliche. Bei dem Begriff der „Parlamentssouveränität“ fällt es schwer, ihn von dem britischen Realmodell, 43 so wie es von Traditionalisten verstanden wurde, zu trennen. Ausgehend von der Definition Herbert Krügers, wonach Souveränität die Kompetenz zum „letzten Wort“ bedeutet und somit Letztentscheidungsrecht meint, 44 ist demnach unter Parlamentssouveränität ein System zu verstehen, bei dem nach Verabschiedung eines Parlamentsgesetzes kein Gericht oder eine andere Institution befugt ist, die Gültigkeit eines Gesetzes in Zweifel zu ziehen (negativer Aspekt). Zudem sind die Gesetzgebungsbefugnisse des Parlamentes unbegrenzt (positiver Aspekt). Ein derartiges System ist durch die tendenziell schwächere Stellung der Judikative 45 gekennzeichnet und weist typischerweise folgende Merkmale auf, die sich aus der Vorrangstellung des Parlaments ergeben:
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Maßgeblich in dem hier interessierenden Zusammenhang ist lediglich die sogenannte „innere Souveränität“, d. h. die Frage nach der Machtverteilung innerhalb eines Staatssystems auf die verschiedenen Kompetenzträger. Zum Souveränitätsbegriff im Allgemeinen vgl. z. B. Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität: Die Grundlagen, 1970; Jean Bodin, Über den Staat, 1976; Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts: Beitrag zur reinen Rechtslehre, 1928, S. 2; Hermann Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, 1927; Neil MacCormick, Sovereignty, Democracy, Subsidiarity, (1994) Rechtstheorie 25, 281 ff., 285 ff. Für jüngere Auseinandersetzungen mit dem Souveränitätsbegriff vgl. Markus Kotzur, Souveränitätsperspektiven – entwicklungsgeschichtlich, verfassungsstaatlich, staatenübergreifend betrachtet, JöR 52 (2004), 197 ff.; Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt – die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts in Mehrebenensystemen, 2004, der allerdings eine Auseinandersetzung mit der britischen Parlamentssouveränität vermissen lässt. 43 Für einen kurzen deutschsprachigen Überblick zur Parlamentssouveränität in Großbritannien siehe: Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität – Drei Modelle der Legitimation staatlichen Handelns, PVS (1) 1995, 56 ff.; Erhard Glaser, Verfassungsrechtliche Grundprinzipien des englischen Verwaltungsrechts, DVBl. 1988, 677 f.; Julian Rivers, Menschenrechtsschutz im Vereinigten Königreich, JZ 2001, 131 f. 44 Herbert Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, 1957, S. 20. Diese Definition soll nur als prägnanter Ausgangspunkt der Herleitung des Begriffs der Parlamentssouveränität dienen und ihn nicht abschließend abdecken oder seiner vollständigen Inhaltsfüllung dienen. Auf der Grundlage dieses Souveränitätsverständnisses folgt lediglich der negative, nicht aber auch der positive, Aspekt der Parlamentssouveränität, der eher von einem traditionellen Allmachtsverständnis abzuleiten wäre.
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Einleitung
• keine rechtliche Bindung des Gesetzgebers (und damit einhergehend ein eingeschränkter Individualrechtsschutz); • keine gerichtliche Institution, die die Autorität besitzt, im Konfliktfall die Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Rechtsakten zu überprüfen und diese ggf. aufzuheben; • keine rechtliche Unterscheidbarkeit von Verfassungsrecht und einfachem Recht. Wie noch zu zeigen ist, fallen rechtliches Letztentscheidungsrecht und „tatsächliche Herrschaftsgewalt“ hierbei nicht zwangsläufig zusammen. Schwieriger ist es, den Gegenpol adäquat zu besetzen. Bisher ist es noch nicht gelungen, einen eingängigen und einheitlichen Gegenbegriff zu etablieren. Geeignet für eine an das deutsche Realmodell angelehnte Bezeichnung erscheint mir allerdings, der von Abromeit 46 und Meßerschmidt 47 benutzte Begriff der „Verfassungssouveränität“ zu sein, auch wenn er in der deutschen juristischen Fachsprache eher ungewöhnlich ist. Unter Wahrung des sprachlichen Symmetriebedürfnisses bringt er – indem er sich nicht auf den Staat sondern die Verfassung bezieht – der Sache nach treffend zum Ausdruck, dass es im Kern um den Vorrang der Verfassung und die daraus resultierende Verfassungsbindung der Gesetzgebung geht. Inhaltlich gesehen sind es in erster Linie drei Punkte, die mit dem Begriff der Verfassungssouveränität zum Ausdruck gebracht werden sollen: • die Bindung des Gesetzgebers an das Verfassungsrecht (und damit einhergehend verstärkter Individualrechtsschutz); • eine gerichtliche Institution, die die Autorität besitzt, im Konfliktfall die Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Rechtsakten zu überprüfen und diese ggf. aufzuheben; 48 • die Unterscheidbarkeit von Verfassungsrecht und einfachem Recht (d. h. Vorrang der Verfassung bzw. Stufenbau der Rechtsordnung). Obwohl es paradox erscheint, ein Konzept, das erklärtermaßen gerade ohne jeden Souverän auskommen will, 49 mit dem Wort „Souveränität“ zu umschreiben, ist die Verwendung dieses Begriffs dennoch angemessen, wenn damit lediglich die herausragende Bedeutung der Verfassung, die als Kern der Rechtsordnung absolut gesetzt wird, 50 zum Ausdruck gebracht werden soll. 45 Es bleibt allerdings zu berücksichtigen, dass im britischen Realmodell den Richtern innerhalb des nicht von Gesetzesrecht überformten Bereichs des common law weiterhin ein nicht zu unterschätzender Autonomie- und Machtbereich verbleibt. 46 Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, PVS 1 (1995), 49 ff. 47 Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 443 ff. und S. 544 ff. 48 Vgl. Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?, 2001, S. 12. 49 Vgl. Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 2003, S. 101 ff.: „Im Verfassungsstaat gibt es keinen Souverän.“
§ 2 Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität
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Der Begriff der Verfassungssouveränität sollte auch nicht durch den im Ausland zur Bezeichnung des deutschen Systems gern gebrauchten Begriff der judicial supremacy ersetzt werden. Zugegebenermaßen sind Verfassungsnormen meist allgemein, selten eindeutig und daher interpretationsbedürftig; zudem erhält das Prinzip vom Vorrang der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht mit seinem letztverbindlichen Entscheidungsrecht letztlich seine „praktische Pointe“. 51 Aus der damit einhergehenden relativ starken Stellung der Judikative wird daher schnell eine Art „Gerichtssouveränität“ abgeleitet. 52
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Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, PVS 1 (1995), 52. 51 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), 485. 52 Gerade kürzlich hat Bernd Rüthers, die These aufgestellt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland durch die Methodenpraxis der obersten Gereichte (Vorwurf: Methodensynkretismus) von einer parlamentarischen Demokratie in einen oligarchischen Richterstaat wandele, und damit eine hitzige Debatte ausgelöst: Bernd Rüthers, Geleugneter Richterstaat und vernebelte Richtermacht, NJW 2005, 2759; ders., Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, 53; Günter Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat? Vom Verhältnis des Richters zum Gesetzgeber in unserer Zeit, JZ 2007, 853; Winfried Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213; Martin Kriele, Richterrecht und Rechtspolitik, ZRP 2008, 51 ff. Bereits in der Weimarer Republik wurde die Souveränitätsfrage hinsichtlich der Richterschaft im Zusammenhang mit dem richterlichen Prüfungsrecht aufgeworfen. Vgl. z. B. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 1933, S. 527 ff.; Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze von 1924 –1954: Materialien zu einer Verfassungslehre, 2003, S. 63 ff. Im Übrigen vgl. René Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, 1963, S. 204 ff. oder Mauro Capelletti / Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, JöR 20 (1971), 72 f.: „Eine Verfassungsordnung, die den Richtern die Befugnis zur Normenkontrolle gibt, erkennt ihnen eine gewisse Suprematie im Verfassungsleben zu.“ Maus geht sogar davon aus, dass „durch die Interpretation ‚souveräner‚, vorgegebener Verfassungsinhalte“ und durch die „Herrschaft der Exegese“ die „demokratische Willensbildung“ ersetzt wird, vgl. Ingeborg Maus, Sinn und Bedeutung der Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft, Kritische Justiz 24 (1991), 140 ff. Dagegen ausdrücklich z. B. Otto Bachof, Die richterliche Kontrollfunktion im westdeutschen Verfassungsgefüge, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit: Festschrift für Hans Huber zum 60. Geburtstag, 1961, S. 42; Hans H. Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstrukutur: Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat, in: Paul Kirchhof (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht und Finanzpolitik; Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 511. Zum sogenannten Leitsatz- bzw. Rechtsprechungspositivismus in Deutschland siehe Klaus Adomeit, Der Rechtspositivismus im Denken von Hans Kelsen und von Gustav Radbruch, JZ 2003, 166.
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Einleitung
Es ist jedoch mit Häberle festzustellen, dass „(...) (in) die Prozesse der Verfassungsinterpretation potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet (sind). Es gibt keinen numerus clausus der Verfassungsinterpretation!“ 53
Darüber hinaus ist Meßerschmidt zuzustimmen, dass aus der punktuellen Kompetenz zum letzten Wort ohne ein genuines Initiativrecht oder eigene Durchsetzungsmacht die supremas potestas eines Verfassungsorgans nicht hergeleitet werden kann. 54 Dem Verfassungsgericht obliegt lediglich ein „Reservatrecht“: 55 das der letztgültigen Zustimmungsverweigerung. Außerdem steht es dem Gesetzgeber in dem von der Verfassung gesteckten Rahmen frei, sich im Wege der verfassungsändernden Gesetzgebung über die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Wertung hinwegzusetzen. 56 Dennoch ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass gerade außerhalb Deutschlands „Verfassungssouveränität“ und „Verfassungsgerichtssouveränität“, das heißt constitutional supremacy und judicial supremacy, häufig synonym gebraucht oder gezielt dazu instrumentalisiert werden, um Zustimmung oder Ablehnung im Hinblick auf eine weitere Konstitutionalisierung Großbritanniens auszudrücken. 57 Indem der Begriff „Verfassungssouveränität“ die Verfassung in das Zentrum der Staatsgewalt stellt, erteilt er jedoch jedem generellen Vormachtsanspruch eines einzelnen Verfassungsorgans, dem Parlament wie auch dem Verfassungsgericht, eine Absage und rückt gerade das bindende Element in den Vordergrund. Gemeinhin werden mit beiden Systemen bestimmte Vorurteile verbunden, deren Berechtigung es im Verlauf der Arbeit noch näher zu erörtern gilt. So wird z. B. eingewandt, dass das System der „Verfassungssouveränität“ mit der ihm inhärenten gerichtlichen Normenkontrolle undemokratisch sei. 58 Immerhin überprüfen die Gerichte Gesetze, die mehrheitlich durch den vom Volk gewählten 53 Peter Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 156 und S. 160; ders., Europäische Verfassungslehre, 2006, S. 263 ff. Hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, 2093 f. 54 Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 538 f. 55 Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, PVS 1 (1995), 53. 56 Abgesehen von Art. 79 III GG und den für eine Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheitsverhältnissen liegt hierin eine gewisse Nivellierung der Dichotomie zwischen Parlaments- und „judicial“ supremacy. 57 Vgl z. B. Richard Ekins, Judicial Supremacy and the Rule of Law, (2003) 119 L.Q.R. 127 ff. 58 So erst kürzlich wieder, Richard Ekins, Judicial Supremacy and the Rule of Law, (2003) 119 L.Q.R. 127 ff. Siehe auch Jeremy Waldron, A rights-based critique of constitutional rights, (1993) 13 OJLS 18 ff. Vgl. dazu im US-amerikanischen Kontext Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch – The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962.
§ 3 Einführung in Besonderheiten der britischen Verfassungsordnung
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Gesetzgeber verabschiedet worden sind. Sie setzen sich über die die Demokratie prägende Mehrheitsregel hinweg, obgleich die Richter selbst weder vom Volk gewählt sind noch ihm Verantwortung schulden; schließlich können sie nicht in periodischen Wahlen abberufen und damit auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ebensowenig kann die Zusammensetzung der Richterschaft als repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung betrachtet werden. Darüber hinaus besteht die Befürchtung, dass ein Letztenscheidungsrecht der Richterschaft zu einer Schwächung der politischen Kultur führen könne, da öffentliche durch richterliche Verantwortung ersetzt werde. 59 Dem System der „Parlamentssouveränität“ wird hingegen vorgeworfen, dass es – da es weder höherrangiges Recht noch damit einhergehend eine Normenkontrolle kenne – „Grundrechte“ des Einzelnen nicht ausreichend sichere, somit den individuellen Freiheitsschutz vernachlässige und zu einer Diktatur der Mehrheit führe. 60 Dass letztlich weder das System der Parlaments- noch das der Verfassungssouveränität absolute Schlüssigkeit und Kohärenz für sich in Anspruch nehmen können, bedarf keiner weiteren Ausführung. Entscheidend ist die Frage, welches Prinzip sich mit dem jeweiligen Rechtssystem, der politischen Kultur und mit den geschichtlichen Erfahrungen am besten verträgt. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden daher vor allem die „hybriden“ Formen, das heißt die verschiedenen Schattierungen von Grau, in den Vordergrund des Interesses rücken.
§ 3 Einführung in Besonderheiten der britischen Verfassungsordnung Um die wechselseitige Beziehung zwischen Bedeutung und Einfluss des Human Rights Act 1998 und der Rolle der Richterschaft bzw. ihrer Selbstwahrnehmung in seiner ganzen Tragweite erfassen zu können, ist ein zumindest grundlegendes Verständnis des verfassungsrechtlichen Hintergrunds, vor dem sich der Human Rights Act 1998 entfaltet, unentbehrlich. Daher sollen, nach einer kurzen Einführung in Spezifika der Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs, zunächst einige 59 Vgl. Stephen Gardbaum, The New Commonwealth Model of Constitutionalism, (2001) 49 Am.J.Comp.L. 740 m.w. N. 60 Lord Hailsham prägte bereits 1978 den Begriff des elective dictatorship und forderte eine neue Verfassung für das Vereinigte Königreich, Lord Hailsham, The Dilemma of Democracy. Diagnosis and Prescription, 1978, S. 125 –132. Für einen kurzen Überblick zum defizitären „Grundrechtsschutz“ in Großbritannien unter dem System der Parlamentssouveränität vgl. z. B. Francesca Klug, Values for a Godless Age. The Story of the UK’s New Bill of Rights, 2000, S. 35 ff.
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wichtige Charakteristika der britischen Verfassung, inklusive rechts- und demokratietheoretischer Grundlagen, erläutert werden, um sodann ihre Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Judikative und Legislative näher zu betrachten.
I. Fehlen einer formalisierten Verfassungsurkunde Die Verfassung des Vereinigten Königreichs weist – insbesondere aus deutschem Blickwinkel betrachtet – einige zum Teil erstaunliche Besonderheiten auf. Offensichtlicher Anknüpfungspunkt und von großer Relevanz für die rechtsdogmatische Ausgangslage ist das Fehlen einer formalisierten Verfassungsurkunde, 61 in der die maßgeblichen Prinzipien für die Beziehungen zwischen Bürger und Staat und die Grundsätze der Staatsorganisation niedergelegt sind. 62 Die britische Verfassung speist sich vielmehr aus einer Reihe heterogener (Rechts-)quellen, die Ausdruck einer über Jahrhunderte gewachsenen politischen Kultur sind. 63 Zu diesen Quellen gehören neben bestimmten Elementen des von der Rechtsprechung herausgearbeiteten und kontinuierlich weiterentwickelten Gewohnheitsrechts (common law) die für die Staatsordnung bedeutsamen Teile des Gesetzesrechts (statute law) und die in beträchtlichem Umfang das Verhältnis der Staatsorgane zueinander regulierenden Konventionen (constitutional conventions) 64, die zwar gerichtlich nicht einklagbar sind und daher nicht „Recht“ im 61 Einige Autoren weisen darauf hin, dass das Vereinigte Königreich neben Israel die einzige liberale Demokratie ohne geschriebene Verfassung ist, vgl. O. Hood Phillips / Paul Jackson / Patricia Leopold, Hood Phillips & Jackson: Constitutional and Administrative Law, 2001, S. 5. Entgegen dieser Beurteilung ist aber auch Neuseeland trotz des Constitution Act von 1996 ebenfalls als ein solcher Staat zu klassifizieren. Insofern zutreffender in dieser Hinsicht, Alex Carroll, Constitutional and Administrative Law, 2002, S. 15. 62 Die Einführung einer geschriebenen Verfassung wird immer mal wieder diskutiert und war erst 2004 Gegenstand einer Debatte im House of Lords (HL Deb, vol 664, col 1242). Mit seinem Green Paper zur Verfassungsreform, The Governance of Britain, CM 7170, Juli 2007, S. 62 setzt Gordon Brown dieses Thema wieder auf die politische Agenda. Mit welchem Erfolg bleibt abzuwarten. 63 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Dieter Dicke, Englisches Verfassungsverständnis und die Schwierigkeiten einer Verfassungskodifikation, DÖV 1971, 409 ff. und Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998), 309. 64 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass etwas, das nach britischem Verständnis verfassungswidrig ist, nicht notwendigerweise auch rechtswidrig sein muss. So stellen die conventions Regelungen von Verfassungsrelevanz dar, werden aber nicht als „Recht“ im engeren Sinne begriffen. In namhaften Lehrbüchern werden sie vielmehr unter der Überschrift „non-legal rules of the constitution“ behandelt, vgl. z. B. A. W. Bradley / K. D. Ewing, Constitutional Law and Administrative Law, 2003, S. 19. Dicey selbst bezog sich auf sie als „(...) conventions, understandings, habits or practices which, though they may regulate the conduct for the several members of the sovereign power ...(...) are not in reality laws at all since they are not enforced by the courts“, vgl. Albert Venn
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engeren Sinne darstellen, von den politischen Akteuren in der Praxis aber als verbindlich angesehen werden. 65 Die britische Verfassung lässt sich somit nicht positivrechtlich fassen bzw. abgrenzen. Dennoch darf trotz der mangelnden Existenz eines einheitlichen kodifizierten Verfassungstextes nicht übersehen werden, dass wichtige Teile der Verfassung schriftlich niedergelegt sind. So zum Beispiel grundlegende Dokumente wie die Magna Charta (1215), die Petition of Rights (1627), der Habeas Corpus Act (1679), 66 die Bill of Rights (1689) und The Act of Settlement (1700), die heute alle noch Geltungskraft besitzen, wenn auch ihre unmittelbare praktische Bedeutung eher gering einzuschätzen ist. 67 Zudem wurde vieles, was üblicherweise dem staatsorganisatorischen Teil einer Verfassung zuzuordnen ist, im Laufe der Jahrhunderte ohne verfassungstextliche Verankerung einfach-gesetzlich normiert. 68 Obwohl das aktuelle Interesse in Großbritannien an einer geschriebenen Verfassung auf der politischen Tagesordnung eine eher untergeordnete Rolle spielt, ist die britische Verfassung – gerade in den letzten Jahren – aufgrund der Devolution-Regelungen, 69 dem Human Rights Act 1998, Änderungen im Wahlrecht Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 24. Er misst den conventions als „constitutional morality“ aber aufgrund ihrer praktischen Relevanz einen dem Recht ähnlichen Stellenwert bei: „But side by side with the law have grown up certain stringent conventional rules, which, though they would not be noticed by any court, have in practice nearly the force of law.“ Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 29. Siehe auch Karl-Ulrich Meyn, Die Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens, 1975. 65 Insofern kann von einem mittelbar rechtlichen Sanktionsmechanismus der conventions gesprochen werden. Gelegentlich werden auch die Werke von Walter Bagehot und Albert Venn Dicey als Verfassungsquelle genannt, siehe das Green Paper des neuen Premierministers Gordon Brown, The Governance of Britain, CM 7170, Juli 2007, S. 62. 66 Siehe hierzu Eibe H. Riedel, Die Habeas-Corpus Akte – 300 Jahre Tradition und Praxis einer britischen Freiheitsgarantie, EuGRZ 1980, 192 ff. 67 Für eine Zusammenstellung der britischen Verfassungstexte in deutscher Sprache siehe Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789 –1949; wissenschaftliche Textedition unter Einschluss sämtlicher Änderungen sowie mit Dokumenten aus der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, 2006, S. 87 ff.; zu den vorverfassungsrechtlichen Gewährleistungen des englischen Parlamentsrechts vgl. S. 9 ff. 68 So z. B. Wahlrecht und das Wahlverfahren (1832, 1867, 1884, 1918, 1928 und 1969), das Verhältnis von Oberhaus und Unterhaus in den zwei Parliament Acts von 1911 und 1949 und die Unabhängigkeit der Richter im Act of Settlement von 1700. 69 D. h. der Föderalisierung vor allem von Schottland und Wales. Vgl. hierzu z. B. B. Winetrobe, Scottish Devolution: Aspirations and Reality in multi-layer Governance, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2004, S. 173; Richard Rawlings, Delineating Wales: Constitutional, Legal and Administrative Aspects of National Devolution, 2003; James Mitchell, Großbritannien nach der Devolution, APuZ 47 (2005), 26 ff.; Andreas Schwab, Devolution – die asymmetrische Staatsordnung des Vereinigten Königreichs, 2002. Siehe unten § 7 III.2.
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sowie dem Aufkommen des Ministerial Code und des Code of Conduct for MPs durch eine Reihe von schriftlichen Regelungen, die teilweise Rechtskraft besitzen, ergänzt worden und weist daher nunmehr einen noch nie dagewesenen Grad der Verschriftlichung auf. 70 Diese Tatsache wird gelegentlich zum Anlass genommen, um darauf hinzuweisen, dass bei näherer Betrachtung die Unterscheidung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungen weniger aussagekräftig und von geringerer Tragweite sei, als zumeist angenommen werde. 71 Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass die Unterscheidung zwischen geschriebener und ungeschriebener Verfassung allein wenig über das durch die Verfassung bewirkte Schutzniveau für den Bürger aussagt. 72 Dennoch entbehrt sie nicht jeglicher Relevanz, da mit der fehlenden Verschriftlichung gewisse Besonderheiten und Probleme des britischen Verfassungsrechts verknüpft sind. 73 Irreführend ist hingegen die Behauptung, dass der Unterscheidung zwischen geschriebener und ungeschriebener Verfassung – aufgrund des prozentualen Anstiegs des verschriftlichten Teils der britischen Verfassung – keinerlei eigenständige Relevanz zukomme, da man eine vollständige Verschriftlichung aller Regeln von verfassungsrechtlicher Bedeutung auch bei den klassischerweise als „geschrieben“ bezeichneten Verfassungen, wie z. B. der deutschen, nicht finden werde und viele der dort niedergelegten Prinzipien der weiteren Konkretisierung bedürften. 74 Diese Betrachtung mag bei rein quantitativer Analyse vielleicht zutreffend sein, übersieht jedoch eine wichtige Besonderheit: Eine Verfassung im Stil der deutschen hat den Anspruch, eine weitgehend kohärente und vor allen Dingen umfassende Rahmenregelung darzustellen, die die Grundprinzipien der Staatsordnung normiert. Der Teil der britischen Verfassung, 70
Andere Beispiele für Rechtsetzungsakte mit verfassungsrechtlichem Status jüngeren Datums sind die Parliament Acts 1911 und 1949, der Crown Proceedings Act 1947, der European Communities Act 1972, der British Nationality Act 1981, Public Order Act 1986, der House of Lords Act 1999 und der Terrorism Act 2000, vgl. A. W. Bradley / K. D. Ewing, Constitutional and Administrative Law, 2003, S. 3 ff. 71 Diese Unterscheidung ist von Munro als irreführend und ungenau bezeichnet worden, C. Munro, Studies in Constitutional Law, 1999. In diese Richtung geht auch Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn. 2002, S. 9. 72 Vgl. Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn. 2002, S. 9; Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, Heidelberg 1987, S. 639. 73 Vgl. z. B. Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 6 ff., der in Abgrenzung zu einer Verfassung wie der britischen anschaulich verdeutlicht, wie sowohl der politisch-utopische Gehalt als auch der juristische Vorrang der Verfassung durch ihre Verurkundlichung begünstigt wird. 74 Zum ungeschriebenen Verfassungsrecht in Deutschland vgl. Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000.
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der nunmehr statuarisch formuliert ist, würde – selbst wenn man in der Lage wäre, ihn zu einem Werk zusammenzufassen – jedoch trotz des prozentualen Anstiegs an verschriftlichten Regelungen von verfassungsrechtlicher Relevanz keine dem deutschen Grundgesetz vergleichbare Grundordnung ergeben, sondern bliebe nur Stückwerk. 75 Zudem ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass zwei Charakteristika typischerweise, wenn auch nicht zwingend mit dem Begriff der geschriebenen Verfassung verbunden sind: fundamental law und higher law. 76 Unter fundamental law sind solche Regelungen zu verstehen, die die Verfassungsorgane konstituieren und legitimieren. Mit dem Begriff des higher law wird zum Ausdruck gebracht, dass jede in einer geschriebenen Verfassung enthaltene Gesetzesnorm nicht durch einfache Parlamentsmehrheit aufgehoben oder verändert werden kann, sondern es hierzu eines besonderen Verfassungsänderungsverfahrens bedarf. Gerade letzteres Kriterium wird von keinem der zuvor genannten statutes und anderen verschriftlichten Instrumenten der britischen Verfassung erfüllt. Dem Parlamentsgesetz gegenüber „höherrangiges Recht“ sowie damit einhergehend ein besonderes Verfassungsänderungsverfahren ist dem britischen Rechtssystem grundsätzlich fremd. Jede Gesetzesnorm, sei sie nun von verfassungsrechtlicher Relevanz oder nicht, kann (theoretisch) durch einfache Parlamentsmehrheit aufgehoben oder verändert werden. Eine Änderung der ungeschriebenen Regelungen der britischen Verfassung kann nur im Laufe der Zeit durch evolutionäre Veränderungen in der verfassungsrechtlichen Praxis oder einer Überlagerung durch andersartiges statute law bewirkt werden. Einen Vorrang der Verfassung gibt es insofern nicht. Die Gründe für eine fehlende Verfassungsurkunde sind zahlreich und überwiegend historisch erklärbar. K. C. Wheare untersuchte den Ursprung moderner geschriebener Verfassungen und fand heraus, dass sie ohne Ausnahme dem Wunsch nach einem Neuanfang entsprangen. 77 So ist es Großbritanniens verfassungsgeschichtlicher Kontinuität 78 und Stabilität zu verdanken, dass eine geschriebene Verfassung nicht für erforderlich gehalten wurde und bis heute fehlt. 79 75 Aus diesem Grund hat Ekkehart Stein sich der Aufgabe unterzogen, nicht nur in den rechtlichen sondern auch sozialen, politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen Großbritanniens die Normen und die Garantien zu finden, die die Freiheitsrechte des britischen Bürgers schützen. Ekkehart Stein, Der Mensch in der pluralistischen Demokratie. Die Freiheitsrechte in Großbritannien, 1964. 76 Philip A. Joseph, Constitutional and Administrative Law in New Zealand, 2001, S. 112. Allerdings werden diese Begriffe häufig auch als Synonyme gebraucht. 77 Kenneth C. Wheare, Modern Constitutions, 1966, S. 4. Seien es wie im Falle der USA 1787 oder Australiens 1901 das Bedürfnis der Vereinigung, oder wie in Frankreich 1789 revolutionäre Umwälzungen. In England gab es einen derartigen Schnitt in der Geschichte der Rechtsprechung nicht, siehe Thomas Fleiner, Lidija R. Basta Fleiner, Allgemeine Staatslehre: über die konstitutionelle Demokratie in einer multikulturellen globalisierten Welt, 2004, S. 143.
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Der Oxforder Verfassungsrechtler Albert Venn Dicey beschrieb die britische Verfassung einmal als „historische Verfassung“. Damit wollte er nicht nur ihr bemerkenswertes Alter zum Ausdruck bringen, sondern vielmehr ihren ursprünglichen und spontanen Charakter hervorheben, der eher das Produkt langjähriger Evolution als das deliberativen Designs darstellt und die britische Verfassung somit auch in zeitlicher Hinsicht unbestimmt sein läßt. 80 „Other constitutions have been built“, deklarierte Sidney Low Anfang des letzten Jahrhunderts, „that of England has been allowed to grow“. 81 Tradition, Evolution und Kontinuität haben daher einen ausgesprochen hohen Stellenwert im angelsächsischen Verfassungsdenken.
II. Hat Großbritannien eine Verfassung? Teilweise wird mangels kodifizierten Verfassungstextes und der Tatsache, dass es keine über dem einfachen Gesetz stehende Rechtsquelle gibt, an der sich das einfache Gesetz messen lassen müsste, bezweifelt, ob das Vereinigte Königreich überhaupt eine Verfassung besitzt. 82 Die Antwort auf diese Frage hängt naturgemäß stark von dem jeweiligen Verständnis des Begriffs „Verfassung“ ab. 78 So bemerkte Keir sehr treffend, dass „continuity has been the dominant characteristic in the development of English government“, David Lindsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain since 1485, 1969, S. 1. 79 Jetzt wird sie von Gordon Brown aufgrund ihrer potentiell konsensstiftenden Wirkung wieder ins Gespräch gebracht. Siehe das Green Paper, The Governance of Britain, CM 7170, Juli 2007, S. 62 80 So trifft auf Großbritannien die sonst übliche Vermutung, dass die Verfassung „a thing antecedent to a government, and a government [...] only the creature of a constitution“, vgl. Thomas Paine, Rights of man, common sense and other political writings, Mark Philp (ed.), 1995, S. 122, sei, so nicht zu. 81 Sidney Low, The Governance of England, 1906, S. 12. 82 So zuletzt F. F. Ridley, There is no British Constitution: A Dangerous Case of the Emperor’s Clothes, (1988) 41 Parliamentary Affairs 340. Die dort gezogene Schlussfolgerung steht in engem Zusammenhang zu der Idee der Suprematie der Verfassung (constitutional supremacy), die die Grundlage z. B. des deutschen oder US-amerikanischen Verfassungssystems bildet. Oder aber Sir Stephen Sedley, The Sound of Silence: Constitutional Law without a Constitution, (1994) 110 L.Q.R. 270, der das britische Verfassungsrecht als rein deskriptiv begreift und ihm jeglichen Anspruch einer normativen Rechtfertigung staatlicher Gewalt abspricht: „[British constitutional law] historically at least, is merely descriptive: it offers an account of how the country has come to be governed; and in doing so it confers legitimacy on the arrangements it describes. But if we ask what the governing principles are from which these arrangements and this legitimacy derive, we find ourselves listening to the sound of silence.“ So auch bereits Bernhard Raschauer, Die Gesetzeskontrolle im britischen Recht, Der Staat 13 (1974), 239. Die strikte Anwendung der doctrine of parliamentary sovereignty ist auch der Grund dafür, dass z. B. Allan dem Vereinigten Königreich den Status eines Verfassungsstaates nicht zuerkennen möchte, vgl. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 16. Im Ergebnis ebenso Lord Steyn, Democracy Through Law, (2002) 7 EHRLR 734.
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In der deutschen allgemeinen Staatslehre wird überwiegend zwischen einem formellen (engen) und einem materiellen (weiten) Verfassungsbegriff unterschieden. 83 Nach dem vor allem von Jellinek geprägten formellen Verfassungsbegriff setzt Verfassung einen in Gesetzesform gefassten Rechtsakt sowie seine (formell) erhöhte Bestandsgarantie voraus. Letzteres soll die Rechtsbindung auch des Gesetzgebers und damit der Gesamtheit der staatlichen Organe sichern. So definiert, kennt das Vereinigte Königreich keine formelle Verfassung. Selbst wenn man die schriftliche Verbriefung für eine nebensächliche Äußerlichkeit, und damit für nicht konstitutiv halten würde, mangelt es der britischen Verfassung an Regelungen, die (formell) schwerer abzuändern sind als einfaches Gesetzesrecht und folglich nicht zur Disposition der einfachen Parlamentsmehrheit stehen. Lediglich der Grundsatz der Parlamentssouveränität selbst steht nicht zur freien Verfügung des Parlaments und könnte somit als formelle Verfassung mit staatsorganisatorischem Gehalt verstanden werden. 84 Genau diese Norm verhindert aber die Schöpfung von Verfassungsrecht, an das alle staatliche Gewalt gebunden ist, und untergräbt somit das, was vielerorts als der eigentliche Sinn des Verfassungsrechts angesehen wird – die Bindung aller Staatsgewalten. 85 83
Trotz durchaus gravierender Unterschiede im Einzelnen lässt sich diese Unterscheidung sowohl in der deutschen als auch in der englischen Literatur als gemeinsamer Nenner konstatieren. Vgl. z. B. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 1987, S. 638; O. Hood Phillips / Paul Jackson / Patricia Leopold, O., Hood Phillips & Jackson: Constitutional and Administrative Law, 2001, Rn. 1 –005, sowie (für die Schweiz) Walter Haller / Alfred Kötz, Allgemeines Staatsrecht, 2004 S. 97 ff. Aussagekräftiger hingegen ist die sich immer stärker etablierende Unterscheidung zwischen herrschaftsbegrenzender und herrschaftsbegründender Verfassung. Diesem Verständnis nach ist die britische Verfassung als eine herrschaftsbegrenzende oder vielmehr herrschaftsformende Verfassung zu klassifizieren, vgl. Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 ff. Zum Verfassungsbegriff des deutschen Grundgesetzes vgl. Peter Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes: eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, 2002. 84 So auch der damalige Lord Chancellor in der Debatte des House of Lords über den Beitrittsvertrag zu den Europäischen Gemeinschaften: „Instead of a written constitution we have the sovereignty of Parliament. That is our safeguard, just as their (the other Member States) written Constitution is theirs.“ Vgl. H. L.Deb., 12. 09. 1972, vol. 335, c. 292. Hierin kommt schon zum Ausdruck, dass im Vereinigten Königreich sehr viel mehr Wert auf prozedurale als auf materielle Sicherheiten Wert gelegt wird. 85 Im Ergebnis eine formelle Verfassung Großbritanniens ablehnend: H. W. Michael Koch, Zur Einführung eines Grundrechtskatalogs im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, 1991, S. 29; Theo Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat. ‚The Sovereignty of Parliament‘, 1984, S. 134. Baum weist allerdings zu Recht darauf hin, dass zwar das Postulat legislativer Allmacht mit dem Ziel der Begrenzung staatlicher Macht schlichtweg unvereinbar ist, dass aber die Parlamentssouveränität historisch gesehen gerade der Begrenzung staatlicher Macht, die
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Die überwiegende Literatur im Vereinigten Königreich geht jedoch von einem weiten (materiellen) Verfassungsbegriff aus. 86 Dieser wird trotz mancher Abweichungen im Detail und einer für viele Einzelfragen bedeutsamen unterschiedlichen Schwerpunktsetzung im Kern wie folgt definiert: „The constitution of a state (...) is the system of laws, customs and conventions which define the composition and powers of organs of the state, and regulate the relations of the various state organs to one another and to the private citizen.“ 87
Derartigen Anforderungen genügt die englische Verfassung nach ganz überwiegender Auffassung. So hat z. B. Sir Ivor Jennings die Antwort auf die Frage nach einer Verfassung des Vereinigten Königreichs 1959 folgendermaßen zusammengefasst: „If a constitution means a written document, then obviously Great Britain has no constitution. In countries where such a document exists, the word has that meaning. But the document itself merely sets out rules determining the creation and operation of governmental institutions, and obviously Great Britain has such institutions and such rules. The phrase ‚British Constitution‘ is used to describe those rules.“ 88
Der Verfassungswandel der jüngeren Vergangenheit hat das Zusammenspiel der Institutionen jedoch nachhaltig beeinflusst, so dass in der Literatur gelegentlich erneut die Frage aufgeworfen wird: „Does the United Kingdom still have a constitution?“ 89
jedoch als im Wesentlichen von der Exekutive ausgehend begriffen wurde, diente, Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 29 ff. Bernd Wieser, der eine Klassifikation einzelner „Verfassungsrechtskreise“ vorgenommen hat, spricht von der englischen Verfassung mangels Verfassungsgerichtsbarkeit als einer „Verfassung sui generis“; Bernd Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, S. 110. 86 Vgl. u. a. O. Hood Phillips / Paul Jackson / Patricia Leopold, O. Hood Phillips & Jackson: Constitutional and Administrative Law, 2001, Rn. 1 –005; Alex Carroll, Constitutional and Administrative Law, 2002, S. 3; Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 1 st edn. 1995, S. 6. Anders jedoch F. F. Ridley, There is No British Constitution: A dangerous case of the Emperor’s New Clothes, (1988) 41 Parliamentary Affairs 340 und Sir Stephen Sedley, The Sound of Silence: Constitutional Law without a Constitution, (1994) 110 L.Q.R. 270. 87 O. Hood Phillips / Paul Jackson / Patricia Leopold, O. Hood Phillips & Jackson: Constitutional and Administrative Law, 2001, S. 5. 88 Sir Ivor Jennings, The Law of the Constitution, 1959, S. 36. 89 Anthony King, Does the United Kingdom still have a constitution? (The Hamlyn Lectures 2000), 2001.
1. Teil
Das traditionelle Verfassungsverständnis – Die Zeit der richterlichen Unterwürfigkeit Grad und Ausmaß der Veränderungen, die für die hier interessierende Frage, ob und wieweit sich das Vereinigte Königreich auf dem Weg zur Verfassungssouveränität befindet, maßgeblich sind, lassen sich nur in Kenntnis des hergebrachten Verfassungsverständnisses nachvollziehen, da sich der bereits angesprochene „Grauton“ ohne eine Vorstellung des ihm weiterhin immanenten Ausgangsfarbtons nicht fassen lässt. Trotz oder gerade wegen der evolutionären – wenn auch tiefgreifenden – Veränderungen der jüngeren Vergangenheit ist der fortwirkende Einfluss des herkömmlichen Verfassungsverständnisses nicht zu unterschätzen. Es bedarf daher einer vertiefteren Auseinandersetzung mit dem sogenannten „traditionellen“ oder „orthodoxen“ Verfassungsverständnis, so wie es bis Mitte des 20. Jahrhunderts relativ unbestritten maßgeblich war und welches noch heute das Verfassungsrechtsdenken prägt. 1 Dieses Verständnis, das hier weit verstanden werden soll und nicht nur rechtliche Elemente, sondern auch den es prägenden politikwissenschaftlichen und rechtstheoretischen Hintergrund umfasst, wurde in erheblichem Maße von Albert Venn Dicey geformt, der als Begründer der britischen Verfassungsrechtswissenschaft gelten kann. Noch heute gibt es kaum eine verfassungsrechtliche Abhandlung, 2 die sich nicht mit A. V. Dicey und seinem Werk auseinandersetzt oder dieses als Anknüpfungspunkt nützt. In einem Vorwort zur 8. Auflage seiner maßgeblichen Arbeit „Introduction to the Study of the Law of the Constitution“ wird zutreffend bemerkt: „Very few jurists ever put forward doctrines of constitutional law which become not merely classic but which remain alive as standards.“ 3
1 Vgl. z. B. Lord Bingham of Cornhill, Dicey Revisited, [2002] P.L. 39; O. Hood Phillips, Dicey’s Law of the Constitution: A personal view, [1985] P.L. 587; R. W. Blackburn, Dicey and the Teaching of Public Law, [1985] P.L. 679; Robert F. Heuston, Essays in Constitutional Law, 1964. 2 Vgl. nur die üblichen verfassungsrechtlichen Lehrbücher, z. B.: Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn. 2002; A. W. Bradley / K. D. Ewing, Constitutional and Administrative Law, 2003; O. Hood Phillips / Paul Jackson / Patricia Leopold, O. Hood Phillips & Jackson: Constitutional and Administrative Law, 2001; Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A Critical Introduction, 2003.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Dicey ist dies gelungen. Er und sein Werk sollen daher auch im Zentrum des ersten Teils dieser Arbeit stehen. Wie noch zu zeigen sein wird, sind seine Lehren aufgrund ihrer Heterogenität und Mehrdeutigkeit allerdings vielfältig interpretierbar und ermöglichen durch eine andersartige Schwerpunktsetzung eine flexible und teils überraschende Anpassung an heutige Bedürfnisse. Um die späteren Veränderungen besser akzentuieren zu können, soll – wie bereits erwähnt – im folgenden Teil daher das „klassische“ von Dicey geprägte Verständnis behandelt werden. Es versteht sich von selbst, dass hierbei aus Darstellungsgründen eine gewisse Simplifizierung der „orthodoxen“ Meinung erfolgen muss, da eine orthodoxe Lehre in dieser Reinform wohl nie einheitlich existiert hat.
§ 4 Prägende Komponenten des traditionellen Verfassungsverständnisses I. Die britische Doktrin der Parlamentssouveränität Die legislative Suprematie 4 des britischen Parlaments ist noch heute zentrales Charakteristikum der britischen Verfassung, wenn nicht ihre Grundnorm oder gar der einzige Verfassungssatz überhaupt, und ist insbesondere für das Verhältnis von Legislative zur Judikative von entscheidender Bedeutung. Zwar mehren sich in der jüngeren Vergangenheit angesichts eines veränderten politischen Umfelds, namentlich des u. a. durch die Europäische Union verstärkten Einflusses kontinentaleuropäischen Verfassungsdenkens, und des auch in England ernüchternden Blicks auf die Verfassungswirklichkeit 5 Stimmen, die eine gewisse Relativierung des durch die Doktrin der Parlamentssouveränität vor allem begründeten legislativen Omnipotenzanspruchs propagieren. Es ist jedoch unumstritten, dass sie in höchstem Maße prägend für das „orthodoxe“ Verfassungsverständnis war 6 und noch heute den rechtlichen Diskurs in Großbritannien mitbestimmt, selbst wenn 3 Roger Michener im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study to the Law of the Constitution, 1982. 4 Trotz sprachlicher und streng genommen auch inhaltlicher Unterschiede werden die Begriffe parliamentary sovereignty und parliamentary supremacy in der britischen Fachsprache praktisch synonym gebraucht. Vgl. z. B. O. Hood Phillips / Paul Jackson / Patricia Leopold, O. Hood Phillips & Jackson: Constitutional and Administrative Law, 2001, S. 39 ff. 5 Durch den Bedeutungszuwachs der Parteien kam es im Verlauf des letzten Jahrhunderts zu einer immer stärkeren Machtverschiebung zugunsten der Exekutive. Der politischparlamentarisch konzipierte Schutz der Rechte wurde mehr und mehr in Zweifel gezogen. 6 Selbst moderne Kritiker wie z. B. Allan und Detmold, die unabhängig von der Frage, ob die Doktrin der Parlamentssouveränität ein wünschenswertes Element des britischen Verfassungsgefüges ist oder nicht, räumen ein, dass „it is hard to question ... (the) doctrine
§ 4 Prägende Komponenten
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sie die Rechtswirklichkeit nicht mehr in der Weise dominieren kann, wie noch vor einem Vierteljahrhundert. Daher ist es verfrüht, wenn nicht gänzlich unberechtigt, von einem Untergang der Parlamentssouveränität 7 zu sprechen oder sie als bloße „Lehrbuchmarotte“ 8, „irrational“ und „absurd“ 9 abzutun. 1. Albert Venn Dicey – Vater der Doktrin der Parlamentssouveränität Die Lehre von der Souveränität des Parlaments fand den Höhepunkt ihrer Entwicklung 10 und ihre eingängigste Darstellung bei A. V. Dicey 11, der in seiner umfassenden Studie Introduction to the Study of the Law of the Constitution 12 das without appearing to lose touch with practical reality. Until very recently, it was almost unthinkable that the courts would ever refuse to apply an Act of Parliament; and attempts to indicate necessary exceptions to the doctrine were understandably thought to be somewhat unreal, addressing ‚improbable extremes‘.“ Vgl. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty and Justice: The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 16. Ähnlich auch Detmold: „(I)t has become a constitutional commonplace“, M. J. Detmold, The Australian Commonwealth: A Fundamental Analysis of its Constitution, 1985, S. 253. 7 Vgl. aber Alec Stone Sweet, Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe, 2000, S. 1: „Parliamentary supremacy, understood by most students of European politics to be a constitutive principle of European politics, has lost its vitality. After a polite, nostalgic nod across the Channel to Westminster, we can declare it dead.“ 8 So andeutungsweise Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1, S. 73 f., der bereits 1967 „was immer die Lehrbücher postulieren mögen, im heutigen politischen Prozess der Voll-Demokratie, das Dogma von der Parlamentssouveränität (verblassen) und von der Volkssouveränität überlagert (sieht)“. Loewenstein weist zwar zu Recht auf die politischen Beschränkungen der Parlamentssouveränität hin, zieht aber voreilig den Schluss, dass daher dem rechtlichen Konzept der Parlamentssouveränität keine eigenständige Bedeutung mehr zu komme. 9 Trevor R. S. Allan, The Common Law as Constitution: Fundamental Rights and First Principles, in: C. Sanders (ed.), Courts of Final Jurisdiction: the Mason Court in Australia, 1996, S. 156, 160; Trevor R. S. Allan, Law Liberty and Justice, 1993, S. 18, 77. 10 Vgl. Karl Loewenstein, Der britische Parlamentarismus: Entstehung und Gestalt, 1964, S. 88 ff., der die Zeit um Mitte des 19. Jahrhunderts als Hochphase der Parlamentssouveränität betrachtet. 11 Zu Dicey und seinem Werk im Allgemeinen vgl. z. B. Richard A. Cosgrove, The Rule of Law: Albert Venn Dicey, Victorian Jurist, 1980; Roger Michener im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study to the Law of the Constitution, 1982; Trowbridge Ford, Albert Venn Dicey: The Man and his Times, 1985; Robert Rait (ed.), Memorials of Albert Venn Dicey, 1925; Vernon Bogdanor, Dicey and the Reform of the Constitution, [1985] P.L. 652 ff.; R. W. Blackburn, Dicey and the Teaching of Public Law, [1985] P.L. 679 ff.; Lord Bingham of Cornhill, Dicey Revisited, [2002] P.L. 39 ff.; O. Hood Phillips, Dicey’s Law of the Constitution: A personal view, [1985] P.L. 587 ff. 12 Das Werk erschien erstmals 1885, wurde bis 1915 von Dicey textlich verändert bzw. durch eine Einleitung ergänzt und auch nach seinem Tod (1959 erschien die 10. und letzte Auflage) fortgeführt. Die Erstauflage ist ausführlich im Archiv des öffentlichen Rechts rezensiert worden: Erwin Grueber, Rezension von A. V. Dicey, Lectures Introductory to the Law of the Constitution, AöR 2 (1887), 320 ff.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Phänomen der Souveränität des Parlaments auf mehreren Ebenen untersuchte und im Allgemeinen als der high priest of orthodox constitutional theory betrachtet wird. Albert Venn Dicey wurde am 4. Februar 1835 in Leicestershire, England geboren und starb am 7. April 1922 in London. Seine Familie zählte zur sog. „Victorian intellectual aristocracy“ 13 mit verwandschaftlichen Banden zu den Wedgewoods und Darwins. Seine Eltern fassten den etwas ungewöhnlichen aber – wie sich später zeigte – höchst erfolgreichen Entschluss, Albert Venn Dicey zu Hause zu unterrichten. Dies mag damit zusammengehangen haben, dass Albert Venn Dicey aufgrund von Komplikationen bei seiner Geburt zeitlebens mit einer Muskelschwäche zu kämpfen hatte, die ihn in späteren Jahren auch immer wieder vom Schreiben abhielt. Mit siebzehn Jahren besuchte er das King’s College in London und wurde zwei Jahre später Schüler von Benjamin Jowett 14 am Balliol College in Oxford. Die Zeit in Oxford war für Dicey sehr gewinnbringend. Er begann, erste Vorlesungen zu halten und entwickelte sich unter dem Einfluss der Old Morality Society, einem literarischen Kreis, in dem neben vornehmlich akademischen, theoretischen Themen auch aktuelle politische, soziale oder religiöse Fragen erörtert wurden, zu einem ausgezeichneten Redner. 1861 verließ Albert Venn Dicey Oxford und ging nach London, wo er einen erstklassigem Abschluss erreichte. Erst zweiundzwanzig Jahre später sollte Albert Venn Dicey wieder nach Oxford zurückkehren. In der Zwischenzeit praktizierte er als Anwalt – er war Mitglied des Inner Temple in London –, wurde zum junior counsel des Commissioners of the Inland Revenue ernannt und veröffentlichte erste preisgekrönte Werke. 15 Darüber hinaus setzte er sich während vieler Reisen, u. a. nach Frankreich, Deutschland und den USA, intensiv mit den Verfassungen anderer Länder auseinander und legte hierdurch das Fundament für sein, auch in rechtsvergleichender Hinsicht bahnbrechendes Werk The Study of the Law of the Constitution. 16
13 Roger Michener im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study to the Law of the Constitution, 1982, S. xii. 14 Der britische Gelehrte und Theologe Benjamin Jowett wurde berühmt für seine Übersetzungen von Platos Dialogen und seine akademischen Reformen in Oxford. Er gilt als Begründer des Oxford idealism (English Hegelianism). 15 Albert Venn Dicey, The Privy Council, 1887. Als weitere Werke sind zu nennen: Treatise on the Rules for the Selection of the Parties to an Action, 1870, sowie The Law of Domicil as a Branch of the Law of England stated in the form of rules, 1879. 16 Sir William Holdsworth, 9. Vinerian Professor und Autor des Werks The History of English Law sagte über Diceys Werk: „In his works on the Law of the Constitution and Law and Opinion in England he has done for English public law and for the history of the nineteenth century all, and in some respects more than all, that Blackstone did for the
§ 4 Prägende Komponenten
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Die Jahre 1882 bis 1909 verbrachte Dicey als Vinerian Professor of English Law an der Oxford University. Seine Amtszeit wird häufig als „the second founding“ 17 der Vinerian Professur angesehen, deren erster Amtsinhaber Sir William Blackstone war. Unter Dicey wurde der Vinerian chair einer der wichtigsten Posten in der rechtswissenschaftlichen Lehre. Gerade der Ausbau der Rechtswissenschaft als ordentliches universitäres Studienfach war eines seiner zentralen Anliegen. 18 A. V. Diceys Introduction to the Study of the Law of the Constitution wurde erstmals 1985 in London veröffentlicht. Neue Editionen mit inhaltlichen Änderungen, um den sich in der Zwischenzeit vollziehenden Verfassungswandel zu berücksichtigen, folgten in den Jahren 1886, 1889, 1893, 1897, 1902 und 1908. Anstelle einer textlichen Überarbeitung der 7. Auflage stellte Dicey der 8. Auflage aus dem Jahr 1915 eine ausführliche einhundertseitige Einleitung voran, in der er sowohl bereits vollzogene als auch sich abzeichnende Verfassungsänderungen analysierte und kommentierte. 19 The Law of the Constitution entstand während einer Periode großen politischen und ökonomischen Wandels, einer Periode, in der sich die Reichweite und die Aufgaben des Staates immer weiter ausdehnten und die Gesetzgebung ausdrücklich dazu benutzt wurde, um die sozialen Bedingungen im Land zu verändern. 20 Dicey selbst hatte davor gewarnt, ausschließlich die Entwicklungsstufen der Verfassung zu betrachten, ohne dem Verfassungsrecht in seiner aktuellen Gestalt hinreichend Aufmerksamkeit zu schenken. 21 So sah er sich gezwungen, von ihm im Jahr 1885 vertretene Auffassungen und Aussagen, z. B. hinsichtlich des französischen droit administrative, 22 in späteren Jahren immer wieder im Lichte der sich in der Zwischenzeit vollzogenen Veränderungen zu betrachten. 23 Vor diesem Hintergrund und in Zusammenschau mit anderen Werken Diceys 24 wird zumindest andeutungsweise erkennbar, dass sich Dicey public law and the legal history of the eighteenth century.“ Zitiert nach Roger Michener im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1982, S. xvii. 17 Roger Michener im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1982, S. xvi. 18 Vgl. hierzu auch R. W. Blackburn, Dicey and the Teaching of Public Law, [1985] P.L. 679 ff. Albert Venn Dicey gründete im Übrigen auch 1884 die Zeitschrift Law Quarterly Review. 19 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1982, S. xxxv–cxxi. Zur Textgenese der verschiedenen Auflagen vgl. F. H. Lawson, Dicey Revisited (1959), in: ders., Many Laws. Selected Essays, Vol. I, 1977, S. 296. 20 Vgl. z. B. Robert F. Heuston, Essays in Constitutional Law, 1964, S. 41 f. 21 E. C. S. Wade im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. x. 22 Albert Venn Dicey, Introduction of the Law of the Constitution, 1982, S. lxi–lxvi. Siehe auch Richard A. Cosgrove, The Rule of Law: Albert Venn Dicey, Victorian Jurist, 1980, S. 99 ff.; Albert Venn Dicey, The Development of Administrative Law in England, (1915) 31 L.Q.R. 148.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
gegen Ende seines Lebens von einigen Auffassungen früherer Jahre distanzierte bzw. diese relativierte. Während er z. B. 1885 von judge-made law noch in der Vergangenheitsform sprach und eine rein formalistische Rolle der Richter propagierte, 25 erkannte er 1905 die bestehende Existenz des judge-made law und seinen Wert an. 26 Prägend für die Nachwelt war jedoch seine unrelativierte Sicht. 27 Diceys Werk wurde auch nach seinem Tod fortgeführt. 1939 gab E. C. S. Wade die neunte Auflage heraus, ersetzte hierbei aber Diceys Einleitung und Appendix aus dem Jahr 1915 durch eigene einleitende Worte und entsprechenden Anhang, um auf diesem Wege die von Dicey dargestellte Grundsätze nunmehr vor dem Hintergrund der damals aktuellen Verfassungswirklichkeit zu betrachten. 1959 erschien schließlich die 10. und letzte Auflage, 28 auf die auch in dieser Arbeit immer wieder Bezug genommen werden soll. Zwar mag man sich fragen, inwiefern dieses Werk Dicey noch zurechenbar ist. Da es jedoch diese Auflage ist, die in der britischen Literatur vorwiegend zitiert wird, ist es gerechtfertigt, zur Darstellung des sog. „traditionellen Verfassungsverständnisses“ auf diese Auflage zurückzugreifen, zumal der eigentliche Text der 10. Auflage, dem der 7. und 8. Auflage, die noch unter Dicey herausgegeben wurde, entspricht. In The Law of the Constitution betrachtet Dicey die Parlamentssouveränität aus rechtlicher Perspektive als „the dominant characteristic of our political institutions“. 29 Obwohl die Parlamentssouveränität schon lange Zeit vor der Veröffentlichung von Diceys Werk als grundlegende Doktrin des britischen Verfassungsgefüges anerkannt war, liegt die besondere Bedeutung von Diceys Analyse darin, 23 Vgl. insbesondere Diceys Einleitung zu der 8. Auflage seines Werks Law of the Constitution, in der er sich explizit mit den Veränderungen des Verfassungssystems seit 1884 auseinandersetzt: Albert Venn Dicey, Introduction of the Law of the Constitution, 1982, S. xxxv–cxxi. Vor allem die wachsende Macht und der zunehmende Einfluss der Parteien stellten für Dicey eine besorgniserregende Entwicklung dar. Näher hierzu: Martin Loughlin, Public Law and Political Theory, 1992, S. 153 – 156. 24 Vgl. insbesondere sein 1905 erschienenes Werk Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1914. 25 Siehe Robert Stevens, The English Judges. Their Role in the Changing Constitution, 2005, S. 16, Fn. 8. 26 Albert Venn Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1914, S. 361 ff. 27 Hierzu Martin Loughlin, Public Law and Political Theory, 1992, S. 159. Zur Einführung der sog. declaratory theory durch das House of Lords, die eine Rechtsschöpfungsfunktion der Richterschaft verneint, vgl. z. B. Robert Stevens, Law and Politics: The House of Lords as a Judicial Body 1800 – 1976, 1979, S. 63 ff., 84 ff. 28 Diese Auflage wurde nunmehr – fast ein halbes Jahrhundert später – erstmals von Sona Rajani und Christian Meyn ins Deutsche übersetzt und von Gerhard Robbers 2002 herausgegeben: Albert Venn Dicey, Einführung in das Studium des Verfassungsrechts, 2002. 29 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 39.
§ 4 Prägende Komponenten
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dass sie trotz eingehender und anhaltender Kritik namhafter Verfassungsrechtler, wie z. B. Sir Ivor Jennings, 30 einen beachtlichen tatsächlichen Einfluss auf das rechtliche sowie das politische Denken ausgeübt hat und noch heute ausübt. 31 Obwohl es sich um ein historisches Werk handelt, dessen Ergebnisse vielfach abgelehnt werden und widerlegt wurden, 32 wirkt es als methodisches und ideengeschichtliches Vorbild bzw. als Referenzpunkt für die aktuelle Verfassungsdebatte kraft seiner Autorität bis heute fort. Dieser Erfolg lässt sich auch nicht allein damit begründen, dass es, wie manche behaupten, ein „splendidly persuasive and wellargued work of simplification“ sei. 33 Vielmehr leistete Dicey einen wesentlichen Beitrag sowohl in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht und legte mit seinem Werk den Grundstein zur Begründung einer Verfassungsrechtswissenschaft in Großbritannien. 34 Er gilt als „codifier and purveyor of the analytical method“ 35 und beeinflusste das öffentliche Recht durch seine ihm eigenen politiktheoretischen Überzeugungen. G. W. Keeton führt hierzu aus, Dicey „inhereted an outlook upon the constitution which owed something to Burke, Blackstone and Bagehot, and which saw in the English system the climax of political achievement“. 36 Diceys Klassifizierung der Parlamentssouveränität als das grundlegende Prinzip der britischen Verfassung basiert teilweise auf den Werken früherer Autoren, 37 30 Sir Ivor Jennings, The Law of the Constitution, 1933; ders., In praise of Dicey 1885 – 1935, (1935) 13 Public Administration 123. 31 A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament: Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution 2000, S. 27; Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice, 1993, S. 3, 16. 32 Vgl. z. B. Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, 2. Kapitel. 33 So Nevil Johnson, Dicey and his influence on public law, [1985] P.L. 718, der den nachhaltigen Einfluss Diceys unter anderem mit einer Rückbesinnung auf das klassische Verfassungsrecht begründet, um die wachsende Macht der Exekutive zu bekämpfen. 34 Hierzu ausführlich Oliver Lepsius, Die Begründung der Verfassungsrechtswissenschaft in Großbritannien durch A. V. Dicey, ZNR 29 (2007), 47 ff. Für historische Betrachtungen der britischen Verfassung aus der Zeit Diceys, vgl. z. B. F. W. Maitland, The constitutional history of England, 1908; H. S. Maine, Popular Government: four essays, 1885; W. Bagehot, The English Constitution, 1867. Die englische Verfassung fand auch reges Interesse in Deutschland, vgl. z. B. Rudolf von Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Bd.1 & 2, 1857/1859; ders., Englische Verfassungsgeschichte, 1882; ders., Das englische Parlament in tausendjährigen Wandelungen: Vom 9. bis zum Ende des 19. Jahrhundert, 1886; J. Hatschek, Englisches Staatsrecht: mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, 1906; ders., Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Viktoria, 1913. 35 Sir Ivor Jennings räumte bereitwillig ein, dass Dicey als erster „the juridical method to English public law“ anwandte, Sir Ivor Jennings, The Law and the Constitution, 1959, S. X. Vgl. auch Gavin Drewry, Kommentar zu Vernon Bogdanor, Dicey and the Reform of the Constitution, [1985] P.L. 676; E. C. S. Wade im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. cxci.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
teilweise auf historischen Beispielen, welche sowohl die Tragweite der parlamentarischen Autorität als auch die Abwesenheit einer konkurrierenden andersartigen rechtssetzenden Autorität belegen sollten. Seine Methode ist daher überwiegend empirischer Natur. Ihm war nicht daran gelegen, sich mit „speculative difficulties of placing limits whatever on sovereignty“ 38 auseinanderzusetzen. Für Dicey war die Parlamentssouveränität ein legal fact, und er sah seine Aufgabe darin, dies zu belegen. 2. Inhalt der Doktrin der Parlamentssouveränität Dicey fasste die Essenz der Doktrin wie folgt zusammen: „The principle of parliamentary sovereignty means neither more nor less than this, namely that Parliament (...) has, under the English Constitution, the right to make or unmake any law whatever; and, further, that no person or body is recognised by the law as having a right to override or set aside the legislation of Parliament.“ 39
In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass der Begriff Parliament nach Dicey „in a mouth of a lawyer“ den Monarchen, das House of Lords und das House of Commons umfasste: „These three bodies acting together may be aptly described as the ‚King in Parliament‘, and constitute Parliament.“ 40
Nur in dieser „Dreifaltigkeit“ und der damit verbundenen gegenseitigen Kontrolle hat das Parlament die oben beschriebenen Befugnisse, aus denen man bei näherer Betrachtung drei grundlegende Regeln ableiten kann, die sich teilweise bedingen: • Die formelle Gesetzgebungsgewalt ist im Parlament monopolisiert 41 und umfasst die Befugnis, jedes Gesetz – und sei es auch ein Staatsgrundgesetz – be36 G. W. Keeton, The Passing of Parliament, 1952, S. 6. Zur Rezeption Bagehots durch A. V. Dicey siehe Franz Nuscheler, Walter Bagehot und die englische Verfassungstheorie. Geschichte eines klassischen Modells parlamentarischer Regierung, 1969, S. 94 ff. 37 So weist Dicey im Vorwort zur ersten Auflage seines Werks Law of the Constitution selbst darauf hin, dass er insbesondere William Edward Hearn, Government of England, 1887; Samuel R. Gardiner, History of England from the accession of James I. to the outbreak of the civil war 1603 – 1642: in ten volumes, 1883 – 1843 und Edward A. Freeman, The Growth of the English Constitution from the earliest times, 1872, sehr viel zu verdanken hat. Von maßgeblichem Einfluss war auch erkennbar John Austin, The Province of Jurisprudence Determined, 1832. 38 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 61. 39 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 39 f. 40 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 39.
§ 4 Prägende Komponenten
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liebig erlassen und ändern zu können (positiver Aspekt der Parlamentssouveränität); • kein Parlament kann durch einen Vorgänger oder Nachfolger rechtlich gebunden werden; • niemand, auch kein Gericht, hat das Recht, einen Akt des Parlaments aufzuheben oder als ungültig oder verfassungswidrig zu behandeln (negativer Aspekt der Parlamentssouveränität). Vernon Bogdanor, als Professor of Government in Oxford einer der führenden britischen Politikwissenschaftler, hat daher die Essenz der britischen Verfassung prägnant in nur acht Wörter gefasst: „What the Queen in Parliament enacts is law.“ 42
3. Positive und negative Parlamentssouveränität Inhalt und Bedeutung der Parlamentssouveränität werden häufig auch durch den Gebrauch der Unterscheidung von positiver und negativer Parlamentssouveränität charakterisiert. Unter positiver Parlamentssouveränität ist zu verstehen, dass das Parlament befugt ist, jedes ihm genehme Gesetz – gleich welchen Inhalts – erlassen zu dürfen und jedes bestehende Gesetz wieder beseitigen zu können. Dies bedeutet auch, dass die Allmacht des Parlaments rechtlich weder durch internationales Recht 43 noch durch Regeln des common law 44 beschränkt werden kann. Gängiges Beispiel für die umfassenden Befugnisse des Parlaments sind die eigenmächtige Verlängerung der laufenden Legislaturperiode, Veränderungen in der Thronnachfolge sowie retrospektiv wirkende Gesetzgebung. Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass trotz der Tragweite dieser Beispiele das Parlament bisher insgesamt nur sehr zurückhaltend von seinen umfassenden Befugnissen Gebrauch gemacht hat. 45 Dies ist eine Folge der vornehmlich auf politische Beschränkungen setzenden britischen Verfassung. Demgegenüber bedeutet negative Parlamentssouveränität, dass niemand, insbesondere kein Gericht, die Gültigkeit von Gesetzen in Zweifel ziehen kann. Eine 41 Dicey lehnt sowohl den Monarchen, Beschlüsse des House of Lords oder House of Commons, als auch die „vote“ der „parliamentary electors“ als Quelle legislativer Macht ab. Vgl Albert Venn Dicey, An Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 50 ff. 42 Vernon Bogdanor, Power and the people: a guide to constitutional reform, 1997, S. 11. 43 Cheney v Conn [1968] 1 WLR 242. 44 R v Jordan [1967] Crim LR 483, DC. 45 Für einige Beispiele der dennoch vorgekommenen parlamentarischen Machtexzesse vgl. Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 39.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Gesetzeskontrolle, ähnlich der im deutschen Grundgesetz verankerten Normenkontrolle, die ein Gericht ermächtigt, ein Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen für nichtig zu erklären, ist dem britischen Rechtssystem grundsätzlich fremd. Die Richter dürfen und müssen die Gesetze zwar interpretieren, aber nicht aufheben. In dieser Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Gerichten ist der eigentliche Kern der Doktrin zu sehen. 4. Juristische und politische Souveränität Eine weitere Unterscheidung, die Dicey hinsichtlich der Parlamentssouveränität getroffen hat, ist die Abgrenzung der juristischen von der politischen Souveränität. Während die juristische Parlamentssouveränität die oben beschriebene Fähigkeit, ohne jegliche Begrenzungen Recht zu setzen, umfasst, und ihr Träger allein das Parlament (verstanden als Trias bestehend aus House of Commons, House of Lords und Monarch) ist, bezeichnet Dicey das Volk bzw. die Wählerschaft 46 als den Träger der politischen Souveränität. 47 Diesem Verständnis nach stehen juristische Parlamentssouveränität und politische „Volks“-Souveränität in einem komplementären Verhältnis zueinander: Die Wählerschaft bedient sich zur Ausübung seiner politischen Souveränität der juristischen Parlamentssouveränität. Umgekehrt wird die Doktrin der Parlamentssouveränität erst dadurch verantwortbar, dass die rechtliche Allmacht des Parlaments über die Wählerschaft faktisch der Begrenzung durch die öffentliche Meinung 48 unterworfen ist. Auch wenn das Parlament somit nach der orthodoxen Lehre keinen rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, 49 sollte man sich stets vergegenwärtigen, dass 46 In diesem Zusammenhang ist bereits darauf hinzuweisen, dass zu Lebzeiten Diceys trotz fortschreitender Demokratisierung ein allgemeines Wahlrecht nicht bestand, so dass Volk und Wählerschaft noch nicht als deckungsgleiche Begriffe verstanden werden können. Dennoch geht Dicey aufgrund der Einführung eines „representative government“ davon aus, dass das House of Commons den „will of the nation“ ausdrücke, vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 83. Siehe unten § 4 II.1. 47 Vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 73 ff. Anders als in kontinentaleuropäischen Staaten weist Dicey der Volkssouveränität aber lediglich eine politisch-praktische Bedeutung zu und sieht in ihr nicht den Ursprung aller Staatsgewalt. Die alte Legitimationsformel der Souveränität des Parlaments ist somit nicht durch die Volkssouveränität ersetzt worden. Ward formuliert treffend: „Whereas other nations, in both Europe and North America, were to subsequently experience popular revolution, which at least nominally, vested sovereignty in its people, its citizens, when the smoke cleared across the constitutional battlefield in late seventeenth century Britain, sovereignty lay in Parliament, and not on the people, there is no Rousseau or Kant, in our constitutional tradition, and thus no concept of popular sovereignty.“ Ian Ward, Dualism and the Limits of European Integration, (1995) 17 Liverpool LRev. 30. 48 Vgl. auch Diceys zweites großes Werk, Albert Venn Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1962.
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die faktischen Beschränkungen der Parlamentssouveränität 50 eine nicht zu unterschätzende Grenze seiner Macht bedeuten. 51 Mit den Worten Karl Loewensteins: „Letzten Endes ist es also die aus vielfältigen (tausend) Quellen gespeiste öffentliche Meinung, die in der britischen Demokratie dem Parlament und seiner Gesetzgebung die Richtung weist und unmissverständliche Warnungssignale aussendet, wenn das (vermeintlich souveräne) Parlament die Grenzen des tragbaren überschreiten sollte.“ 52
Loewenstein geht sogar soweit zu behaupten, dass die metajuristischen, politisch indizierten Begrenzungen der Parlamentssouveränität in der neueren Zeit, d. h. in der Zeit der Voll-Demokratie, so entscheidend geworden sind, dass sie den juristischen Gehalt der Doktrin stark entwertet haben. 53 Dies mag zwar im Hinblick auf die Verteilung von tatsächlich gestaltender Macht zutreffend sein, vernachlässigt aber die Bedeutung, die der rechtlichen Komponente der Parlamentssouveränität hinsichtlich der Rolle der Gerichte zukommt. 54 Zudem würde Dicey wohl weniger von „Entwertung“ als vielmehr von einem gewollten Zusammenspiel der beiden Faktoren sprechen. Es ist ein klassisches Merkmal der britischen Verfassung, vermehrt auf politische Bindungen als gerichtliche Rechtskontrolle zu setzen – eine Tatsache, die auch in der Bezeichnung von Großbritanniens Verfassung als political constitution 55 ihren Ausdruck gefunden hat. In letzter Konsequenz setzt eine
49 Moral, internationales Recht, die königliche Prärogative sowie schon erlassene Gesetze werden von Dicey als rechtliche Beschränkungen der Parlamentssouveränität abgelehnt. Vgl. Albert Venn Dicey, An Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 62 ff. 50 Als faktische Begrenzungen der Parlamentssouveränität sind beispielhaft die öffentliche Meinung und die Mandatstheorie, der Einfluss von Interessenverbänden, die Konventionalregeln und auch das internationale Recht zu nennen. Für einen Überblick siehe Katrin Strotmann, Die Souveränität des britischen Parlaments unter der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts und der europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, S. 58 ff. 51 So auch Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 74 ff. 52 Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1, 1967, S. 73. 53 Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1, 1967, S. 71. Auf Seite 72 geht er sogar davon aus, dass sich die Parlamentssouveränität der Volkssouveränität beugen muss, was faktisch wohl zutreffend sein mag, rechtlich aber nicht der Fall ist. 54 So auch Hans G. Petersmann, der vorschlägt die von Karl Loewenstein getroffene Feststellung über die abnehmende Bedeutung der Parlamentssouveränität nur im politischen Sinne zu verstehen, Hans G. Petersmann, Die Souveränität des Britischen Parlaments in den Europäischen Gemeinschaften, 1972, S. 244. Siehe unten § 5. 55 Dieser Ausdruck wurde vornehmlich von Griffith in den 70er Jahren geprägt, vgl. J. A. G. Griffith, The political Constitution, (1979) 42 M.L.R. 1 ff., und beherrscht als Schlüsselbegriff immer noch die verfassungskonzeptionelle Debatte. Griffith spricht sich vehement gegen eine Verrechtlichung der Verfassung, insbesondere gegen die Einführung von die Legislative bindenden Grundrechtskatalogen, aus. Seine Meinung ist von einem
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
so verstandene Verfassung dem politischen Prozess keine normativen Grenzen, sondern ist mit ihm vielmehr gleichzusetzen. 56 5. „Parliament cannot bind its successor“ Dieser Teilaspekt der Parlamentssouveränität besagt, dass kein Parlament Gesetze beschließen kann, die von einem späteren Parlament nicht wieder aufgehoben oder verändert werden können. Diese die Allmacht des Parlaments beschränkend anmutende Maxime dient jedoch gerade deren Schutz. Das zeitlich nachfolgende Parlament soll vor machtbeschränkenden Einflüssen seines Vorgängers geschützt werden. Dies bedeutet, dass es dem jeweils amtierenden Parlament verwehrt ist, bestimmte Entscheidungen aus dem Kompetenzbereich späterer Parlamente auszugliedern. Die Gesetzesherrschaft des Parlaments ist demnach inhaltlich auf eine, das heißt die laufende Legislaturperiode beschränkt. Daraus folgt aber auch, dass das amtierende Parlament jedwedes bestehende Gesetz abändern kann. Tut es dies nicht explizit, so wird durch die rule of implied repeal 57, die im Wesentlichen der im kontinentaleuropäischen Bereich anerkannten Regelung lex posterior derogat legi priori entspricht, sichergestellt, dass der Wille des amtierenden Parlaments do-
erheblichen Misstrauen gegenüber der Richterschaft geprägt. Für ihn sollte das Recht weniger Rahmen als vielmehr Instrument der Politik sein. Er sieht die Gefahr einer zum Totalitarismus führenden Richterschaft, weil die Richterschaft nicht dem demokratischen Prozess unterliege, sondern sich unvermeidbar von ihm verselbständige, sobald sie die Kompetenz habe, politische Fragen (für Griffith sind Konflikte über individuelle Rechte letztendlich politische Fragen) zu entscheiden. Für jüngere Abhandlungen, in denen er die „political constitution“ verteidigt, siehe J. A. G. Griffith, The Brave, New World of Sir John Laws, (2000) 63 M.L.R. 159 sowie J. A. G. Griffith, The Common Law and the Political Constitution, (2001) 117 L.Q.R. 42. Vgl. auch Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreform, ZaöRV 64 (2004), S. 84 f. In Deutschland regte unlängst Martin Bullinger an, verrechtlichte Verfassungen wie die der Bundesrepublik stärker als Rahmenordnung unter entsprechend eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Kontrolle zu verstehen: Martin Bullinger, Fragen der Auslegung einer Verfassung, JZ 2004, 209 ff. 56 Griffith hat das Konzept einer politischen Verfassung in vielzitierter Weise wie folgt auf den Punkt gebracht: „The constitution of the United Kingdom lives on, changing from day to day for the constitution is no more and no less than what happens. Everything that happens is constitutional. And if nothing happened that would be constitutional also.“ J. A. G. Griffith, The political Constitution, (1979) 42 M.L.R. 19. 57 Nach Lindell ist die „rule of implied repeal“ im britischen Recht „well established“, Geoffrey Lindell, Invalidity, Disapplication and the Construction of Acts of Parliament: Their Relationship with Parliamentary Sovereignty in the Light of the European Communities Act and the Human Rights Act, [1999] Cambridge Yearbook of European Legal Studies 403. Dieser Befund wird auch durch das Diktum von Scrutton LJ unterstützt, der in Ellen Street Estates Ltd v Minister for Health [1934] 1 KB 590, 595 f. ausführte, dass das britische Parlament jedes zuvor erlassene Gesetz entweder ausdrücklich oder durch Erlass eines widersprüchlichen Gesetzes aufheben kann.
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miniert. Insofern steht die rule of implied repeal in untrennbarem Zusammenhang mit der Doktrin der Parlamentssouveränität. 58 Genau dieser Teilaspekt der Doktrin der Parlamentssouveränität stellte Großbritannien in der jüngeren Vergangenheit immer wieder vor große Probleme, denn aus ihm folgt, dass ein Schutz besonders wichtiger Rechte oder Gesetze vor dem Zugriff der Parlamentsmajorität durch prozedurale Anforderungen, wie z. B. dem Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit, nicht möglich ist. Die Frage nach einer möglichen Selbstbindung des Parlaments trat jedoch nicht erst bei der Debatte über die Sicherung grundrechtsähnlicher Rechte in Großbritannien auf. Schon die durch verschiedene Gesetze gewährte Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien und die Parlamentsakte von 1911 bzw. 1949, die die Rechte des Oberhauses stark beschnitten, sowie Großbritanniens Beitritt zur Europäischen Union haben zur Erörterung dieser Frage geführt. Erwartungsgemäß divergieren die zur Lösung dieses Problems vertretenen Meinungen. 59 Bisher lässt sich aber der Rechtsprechung kein eindeutiger Beleg dafür entnehmen, dass eine parlamentarische Selbstbindung in Hinblick auf seine Zusammensetzung (sogenannte self58 Diesen untrennbaren Zusammenhang bestreitend A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament – Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 56. 59 Die Debatte wird im Wesentlichen von zwei Lagern dominiert. Auf der einen Seite stehen die Traditionalisten, deren wohl prominentester moderner Vertreter Sir William Wade ist; auf der anderen Seite die Vertreter der so genannten „new view“ für die vornehmlich Sir Ivor Jennings, Robert F. Heuston und Geoffrey Marshall eingetreten sind. Die Essenz von Wades Argumentation wird durch folgendes Zitat besonders deutlich: „An orthodox English lawyer, brought up consciously or unconsciously on the doctrine of parliamentary sovereignty stated by Coke and Blackstone, and enlarged on by Dicey, could explain it in simple terms. He would say that it meant merely that no Act of the sovereign legislature (composed of the Queen, Lords and Commons) should be invalid in the eyes of the courts; that it was always open to the legislature, so constituted, to repeal any previous legislation whatever; that therefor no Parliament could bind its successors. (...) He would probably add that it is an invariable rule that in case of conflict between two Acts of Parliament, the later repeals the earlier. If he were then asked whether it would be possible for the Untied Kingdom to ‚entrench‘ legislation – for example, if it should wish to adopt a Bill of Rights which would be repealable only by some specially safeguarded process – he would answer that under English law this is a legal impossibility: it is easy enough to pass such legislation, but since that legislation, like all other legislation, would be repealable by any ordinary Act of Parliament the special safeguard would be futile. This is merely an illustration of the rule that one Parliament cannot bind its successors. It follows therefore that there is one, and only one, limit to Parliament’s legal power: it cannot detract from its own continuing sovereignty.“ Sir William Wade, The Basis of Legal Sovereignty, [1955] C.L.J. 174. Diese These ist von den Vertretern der „new view“, denen zufolge „manner and form provisions“ insofern bindend sind, als dass ein nachfolgendes Gesetz, welches die gleiche Materie berührt, das frühere Gesetz nur dann abändern kann, wenn es den Anforderungen des früheren Gesetzes entspricht, stark bestritten worden.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
embracing supremacy) oder das Gesetzgebungsverfahren (sogenannte manner and form restrictions) des Parlaments anerkannt worden wären. 60 6. Relativierende Merkmale der Parlamentssouveränität Zur angemessenen Würdigung der Doktrin der Parlamentssouveränität ist neben den nicht-juristischen Beschränkungen, welche sie aufgrund der Prävalenz politischer Sicherungen erfährt, auf weitere ihr zum Teil inhärenten Besonderheiten hinzuweisen, die ihre paradigmatische Bedeutung zwar nicht aufheben, aber ein wenig relativieren und so tragbarer erscheinen lassen. a) Die parlamentarische Trias von Monarch, Ober- und Unterhaus Wie schon zuvor ausgeführt, ist unter Parlament im Sinne der Parlamentssouveränität, die Trias von Monarch, Ober- und Unterhaus zu verstehen. Diese historisch gewachsene Gewaltenteilung innerhalb der Gesetzgebung, die de Lolme 61 als Variante des Montesquieu’schen Modells auffasste und als notwendiges, die Legislativmacht beschränkendes Instrument begriff, wurde von Dicey als konstruktives Hemmnis betrachtet, welches eine verbesserte Gesetzesqualität sichere: „(T)he commands of Parliament (consisting as it does of the Queen, the House of Lords, and the House of Commons) can be uttered only through the combined action of its three constituent parts, and must, therefore always take the shape of formal and deliberate legislation. (...) This is no mere matter of form; it has most important practical effects. It prevents those inroads upon the law of the land which a despotic monarch, such as Louis XIV., Napoleon I., or Napoleon III., might effect by ordinances or decrees, or which the different constituent assemblies of France, and above all the famous Convention, carried out by sudden resolutions.“ 62
Diesem Merkmal kommt aber, auch nach orthodoxem Verständnis, seit der mittlerweile nicht nur faktisch, sondern auch juristisch anerkannten Dominanz des Unterhauses, kaum noch Bedeutung zu.
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Vgl. hierzu Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 42 ff. 61 Jean Louis de Lolme, The Rise and Progress of the English Constitution (1775), vol. 2, 1978, Reprint der Originalausgabe von 1838, S. 820 ff.: „It is, without doubt, absolutely necessary, for securing the constitution of a state, to restrain the executive power; but it is still more necessary to restrain the legislative.“ 62 Albert Venn Dicey, Introduction the the Study of Law of the Constitution, 1959, S. 407.
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b) Das common law Im britischen Verfassungsgefüge sind die vom Parlament geschaffenen statutes nicht die einzige (Verfassungs-)Rechtsquelle. Nach jahrhundertealter Tradition sind auch die Gerichte zur Rechtsschöpfung bzw. -findung berufen. 63 Ihre Urteile geben nicht nur Auskunft über das Recht, sondern das, was sie feststellen, ist Recht. Durch das Präjudiziensystem und die Doktrin der stare decisis werden die unteren Gerichte an die Entscheidungen der ihnen übergeordneten Gerichte gebunden. 64 Auf diese Art und Weise ist seit dem Mittelalter ein höchst ausdifferenziertes und sich ständig fortentwickelndes Rechtssystem entstanden, das sogenannte common law 65.
63 Der seit Langem schwelende Streit, ob die Gerichte lediglich vorgegebenes Recht finden oder Recht originär schöpfen, kann an dieser Stelle dahin gestellt bleiben. Vgl. z. B. vorher § 4 I. 64 Vgl. hierzu Stefan Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, ZNR 28 (2006), 48 ff. 65 Der Begriff common law kann mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden: Erstens, als Bezeichnung des gesamten Rechts der angelsächsischen Völkerfamilie im Gegensatz zum civil law, mit dem das von römisch-rechtlichen Quellen stark beeinflusste Recht der kontinentalen Rechtsordnungen gemeint ist. Zweitens, als dasjenige Recht, welches von den Richtern kraft eigenen Rechtssetzungsauftrags entwickelt wurde, und in Abgrenzung zum Parlamentsrecht (statute law) zu verstehen ist. Drittens, in einer engen Bedeutung, die weitestgehend historisch Relevanz hat, im Unterschied zur sogenannten equity (dem Teil des materiellen Rechts, der in dem Court of Chancery entwickelt wurde), vgl. K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, Tübingen 1996, S. 185. Vorliegend wurde der Begriff im zweiten Sinne verwandt. Zum Wesen des common law vgl. auch Oliver Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law – Amerikanische Entwicklungen bis zum New Deal, 1997; Werner von Simson, Das Common Law als Verfassungsrecht. Lord Justice Scarman’s „English Law – The New Dimension“, Der Staat, (16) 1977, 75 ff. Zu seiner Entwicklungsgeschichte und methodischen Bedeutung vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-Amerikanischer Rechtskreis, 1975. Vgl. auch Mathias Reimann, Historische Schule und Common Law. Die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts im amerikanischen Rechtsdenken, 1993; Melvin Aron Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988; Theodore F. T. Plucknett, A concise History of the Common Law, 1988; Paul Brand, The Making of the Common Law, 1992; O. W. Holmes, The Common Law, 1881; Gerald J. Postema, Philosophy of the Common Law, in: Jules Coleman / Scott Shapiro (eds.), The Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2002, S. 588 ff. und der kürzlich zum Thema common law und europäische Rechtsgeschichte erschienene Band von Diethelm Klippel und Rainer Schulze in der ZNR 28 (2006): Siehe dort insbesondere Stefan Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, ZNR 28 (2006), 48 ff.; David Liebermann, Legislation in a Common Law Context, ZNR 28 (2006), 107 ff.; Mathias Reimann, Die Erosion der
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Dieser schillernde Begriff umfasst weit mehr als ein Sammelsurium einzelgerichtlicher Entscheidungen. 66 Er kennzeichnet eine ganze Denktradition, die sowohl die Vorgehensweise der Gerichte, 67 die Art und Weise der Gesetzgebung 68 als auch den Inhalt ihrer Entscheidungen prägt. 69 Zudem speist es sich nicht nur aus dem einzelnen Fallrecht, sondern schöpft Leben aus überpositiven Rechtsgrundsätzen. Gerade dieser überpositive Bezug hat immer wieder zu Spannungen im Verhältnis der beiden Rechtsquellen zueinander geführt 70 und selbst (oder gerade) klassischen Formen – Rechtskulturelle Wandlungen des Civil Law und Common Law im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, ZNR 28 (2006), 209 ff. 66 Das common law wird als die Herausbildung der Rechtserfahrungen früherer Generationen und der ihnen innewohnenden Vernunft verstanden. Letzteres ist nicht unumstritten und wird u. a. von Lord Coke vertreten. So sei das common law „an artificial perfection of reason, gotten by long study, observation, and experience ...(...); and therefore if all the reason that is dispersed into so many several heads, were united into one, yet could he not make such a law as the law of England is; because by so many successions of age it hath been fined and refined by an infinite number of grave and learned men“, vgl. Heinrich Scholler, Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom überpositiven Recht, 2002, S. 74. Aufgrund seines evolutiven Charakters kann es als „System in der Zeit“ begriffen werden, vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 68. 67 Zur klassischen Methode des Fallrechts und die Handhabung der Gesetze, vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Angloamerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 58 ff. 68 Abgesehen davon prägt das common law auch die Art und Weise der Vorgehensweise beim Verfassen von Gesetzestexten. Das britische Parlament wurde lange Zeit als High Court of Parliament bezeichnet, und schon Dicey beschrieb die „close resemblance“ zwischen „statutes“ and „judicial decisions“: Albert Venn Dicey, Introduction to the Study to the Law of the Constitution, 1959, S. 197. Dies hat zur Folge, dass sich bis heute britische Gesetze im Allgemeinen durch eine große Detailgenauigkeit auszeichnen und eher reaktiven als aktiven Charakter aufweisen. Fikentscher weist darauf hin, dass die Gesetze methodisch nach Fallrechtsregeln gehandhabt und daher schon bald nach ihrem Erlass von Fallrecht überlagert wurden, Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-Amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 58. 69 So verleitet die Common-Law-Technik zu einer Ausformung rechtlicher Prinzipien (precedents), die nicht das Abstraktionsniveau deutscher Gesetze erreichen und weitestgehend von einer induktiven Methode geprägt sind. Der fallrechtliche Bezug und der damit verbundene Pragmatismus erschweren die Formulierung übergeordneter Konzepte und klassische Systematisierung. Vgl. zu den inhaltlichen, methodologischen und rechtsquellentheoretischen Facetten des common law Oliver Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law – Amerikanische Entwicklungen bis zum New Deal, 1997, S. 31 ff., der trotz der definitorischen Unzulänglichkeit des Begriffs „common law“ folgende, das Wesentliche treffende Definition vorschlägt: „Common Law ist ein juristisches Denkmodell, in dem Substanz und Verfahren untrennbar aufeinander bezogen sind und dessen Rechtsquellen das Fallrecht und überpositive Rechtsgrundsätze sind.“ 70 So wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts im berühmten Dr. Bonham’s Case versucht, über das common law eine die Parlamentssouveränität beschränkende Normenkontrolle einzuführen. Vgl. Lord Coke CJ, Bonham’s Case (1610) 8 Co Rep 114a, 118a: „And it
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heute kann das Verhältnis der Parlamentssouveränität zur Common-Law-Tradition nicht als letztendlich geklärt betrachtet werden. 71 Auch wenn mittlerweile Einigkeit darüber herrscht, dass bei einer unmittelbaren Kollision von statute law und common law das common law durch das Parlamentsgesetz verdrängt wird, so würde man ein einseitiges und unzutreffendes Bild zeichnen, wenn man aus dieser Tatsache allein auf die völlige Überlegenheit des Parlamentsgesetzes schlösse. So gilt es zu beachten, dass – anders als heutzutage – das common law historisch gesehen die Regel und das Parlamentsgesetz die Ausnahme bildete. 72 Das common law wurde als ein weitgehend lückenloses 73 Rechtssystem (seamless web) begriffen, in dem die statutes die notwendigen Ausnahmen normierten. 74 Das englische Parlament sollte ursprünglich, wie Bagehot zutreffend formuliert hat, „eine bewahrende Körperschaft“ sein. 75 „Den Wert des Parlaments sah man nicht so sehr darin, dass es das Recht ändern, sondern darin, dass es Änderungen verhindern konnte.“ 76
Waren zunächst Richterschaft und Parlament in ihrer gemeinsamen Zielrichtung gegen die königliche Prärogative vereint, 77 so änderte sich das Bild mit dem Sieg des Parlaments über die Krone nach der Glorious Revolution in 1688/89. Nunmehr stellte sich das common law als ein potentieller Rivale zum Parlamentsgesetz dar. Dennoch wurde durch den restriktiven Gebrauch parlamentarischer Gesetzgebung lange Zeit die delikate Balance zwischen den Gerichten und dem Parlament appears in our books, that in many cases the common law will control Acts of Parliament and sometimes adjudge them to be utterly void: for when an Act of Parliament is against common rights or reason, or repugnant, or impossible to be performed, the common law will control it and adjudge such Act to be void.“ 71 Vgl. z. B. die Diskussion zum sog. common law constitutionalism. Aus der diesbezüglichen Literatur vgl. z. B. Lord Cooke of Thorndon, The Road Ahead for the Common Law, (2004) 53 I.C.L.Q. 273 und die Diskussion um die Anwendung von Common-Law-Methoden auf die Auslegung von Gesetzesrecht, John Bell / George Engle, Cross on Statutory Interpretation, 1987, S. 41. Siehe auch § 8 III.1. und VI. 72 Siehe Fikentscher, der noch 1975 die Dominanz des common law bestätigt, Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: AngloAmerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 58. 73 Zum dennoch existierenden fallrechtsfreien Raum und seiner Bedeutung vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: AngloAmerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 64 ff. 74 Vgl. z. B. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 197; Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 4. 75 Siehe Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 565. 76 Bagehot, Sir Walter, Die englische Verfassung (erste englische Ausgabe von 1867), herausgegeben von Klaus Streifthau (Hrsg.), 1971, S. 225. 77 Vgl. E. C. S Wade im Vorwort von Albert V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1985, S. c.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
bewahrt: Zwar konnte statute law das common law verdrängen und den Gerichten stand keine Normenkontrollfunktion zu, dafür aber machte das Parlament im Gegenzug von seiner Gesetzgebungsbefugnis nur eingeschränkt Gebrauch. Auf diese Weise bewahrten die Gerichte einen nicht zu unterschätzenden, autonomen Machtbereich, der allerdings nunmehr durch die fortschreitende Kodifizierung des Rechts bedroht wird. 78 Dem common law wohnt jedoch noch weiteres, die Parlamentssouveränität relativierendes Potential inne: die Macht der Interpretation. In diesem Zusammenhang kann man beim common law zweierlei Formen unterscheiden: Zum einen das sogenannte common law proper, welches die erstmalige rechtliche Ausformung eines Bereichs bewirkt, in dem es zuvor keine gesetzliche Regelung gegeben hat, und zum anderen das Richterrecht, welches sich aus der Interpretation von Parlamentsgesetzen ergibt (interpretation of statute law). Somit gelten die Gesetze in der von den Gerichten gefundenen Auslegung. 79 Dies kann je nach Auslegungstechnik zu einer mehr oder weniger starken Beschränkung des Anwendungsbereichs von statute law bzw. Durchsetzung des parlamentarischen Willens führen. Die Auslegungstechnik wiederum, das heißt die wichtigsten Regeln und Maximen der Gesetzesinterpretation, sind Bestandteil des common law. 80 In Verbindung mit seinem überpositiven Bezug liegt hierin ein nicht zu unterschätzendes (faktisches) Machtpotential des common law und damit der Richterschaft. 81 Ohne dieses Gegengewicht, das heißt die zentrale und seit jeher bedeutende Stellung der Richter, wäre das Konzept von der Allmacht der Parlaments wohl auch nicht denkbar.
78 Mit Einführung des Wohlfahrtsstaates schritt die Kodifizierung des Rechts unaufhaltsam voran, vgl. z. B. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 5. 79 Diese Bindungswirkung bezieht sich allerdings nur auf die sog. „ratio decidendi“ (tragende Entscheidungsgründe) des Urteils und nicht auf die sog. „obiter dicta“ (beiläufige Rechtsbemerkungen). Vgl. hierzu Sir Rupert Cross / J. W. Harries, Precedent in English Law, 1991, S. 39 ff. So werden auch die Gesetze nach Fallrechtsregeln gehandhabt und daher schon bald nach ihrem Erlass vom Fallrecht überlagert, vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 58. 80 Zwar enthalten die in den Jahren 1850, 1889 und 1878 erlassenen Interpretationsgesetze (Interpretation Acts) eine große Anzahl von Legaldefinitionen, jedoch nur wenige allgemeine Auslegungsregeln, so dass man sagen kann, dass die Methoden der Gesetzesauslegung in England nicht gesetzlich normiert waren, vgl. Dorothee Kutzner, Lord Denning – Englische Auslegungstradition und Europäisches Recht, 2001, S. 99 ff.; Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001, S. 667. 81 Siehe z. B. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 12. Vgl. auch § 8 III.1.
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II. Das traditionelle Demokratieverständnis Will man das orthodoxe Verfassungsverständnis angemessen erfassen, ist eine Erörterung des ihm zugrunde liegenden Demokratieverständnisses, insbesondere in seinen wechselseitigen Bezügen zu der Doktrin der Parlamentssouveränität, unerlässlich. 82 Dicey selbst hat sich hierzu überwiegend nur indirekt geäußert. 83 Eine weitere Schwierigkeit bei der Darstellung dieser Thematik liegt in der vielfach beklagten Bedeutungsvielfalt des Begriffes Demokratie. Diese hat ihre Gründe. So bildet Demokratie nicht den exklusiven Gegenstand bloß einer Wissenschaft – schon gar nicht der Jurisprudenz –, sondern beschäftigt eine Vielzahl von Disziplinen. Zudem ist Demokratie immer Idee, Norm und Realität zugleich, die mit verschiedenen Methoden untersucht und auf Verschiedenes hin befragt werden kann. Der Begriff der Demokratie ist somit äußerst vielschichtig. 84 Außerdem tritt im britischen Kontext erschwerend hinzu, dass sich aufgrund der verfassungsrechtlichen Besonderheiten des Vereinigten Königreichs im Bereich der Rechtswissenschaft einfache Übertragbarkeiten aus dem kontinentaleuropäischen, insbesondere deutschen Raum, verbieten. 1. Albert Venn Dicey und die Idee der Volksherrschaft Nach deutschem Verständnis ist in der Volkssouveränität der Geltungsgrund der Verfassung zu sehen, 85 der dann in Form des verfassungsrechtlich garantierten Demokratieprinzips bestimmte rechtlich verbindliche Anforderungen (auch an die Legislative) stellt. Da sich eine umfassende Erörterung der Frage – inwiefern sich das (klassische) britische Verständnis hiervon unterscheidet – im Rahmen dieser Arbeit verbietet, soll im Folgenden lediglich der Frage nachgegangen werden, ob die Idee der Volksherrschaft als der Geltungsgrund der Parlamentssouveräni82 Vgl. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 2. 83 Vgl. aber Albert Venn Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1914, S. 48 ff., wo er allerdings der fortschreitenden Demokratisierung geringen Veränderungswert zumisst: „Democracy in England has to a great extent inherited the traditions of the aristocratic government, of which it is the heir.“ (S. 58). 84 Zum Verhältnis von Volkssouveränität und Demokratie vgl. Oliver Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: C. Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 366 – 414. 85 Insofern stellt die Volkssouveränität zwar eine juristische Kategorie dar, kann jedoch, da sie der Verfassung denklogisch vorgelagert ist – anders als das Demokratieprinzip – keinen Rechtsbegriff im engeren Sinne darstellen. Vgl. Oliver Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: C. Gusy (Hrsg.) Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 368.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
tät und Quelle des Rechts angesehen wurde und ob hieraus gewisse rechtliche Verbindlichkeiten resultierten, an die auch das Parlament gebunden ist. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Begriff der Volksherrschaft im Vereinigten Königreich überhaupt eine rechtliche Kategorie darstellt. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht als Quelle des Gesetzes zunächst einmal die Doktrin der Parlamentssouveränität. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Begriff der Parlamentssouveränität als solcher nichts über seine Legitimationsgrundlage aussagt. Eine historische Betrachtung der englischen Verfassungsentwicklung zeigt, dass Voraussetzung für die Anerkennung der Parlamentssouveränität jedenfalls nicht die Verwirklichung des demokratischen Prinzips war. Die Rechtfertigung für die Doktrin der Parlamentssouveränität war im späten 17. Jahrhundert vielmehr in ihrer herrschaftsbegrenzenden Funktion gegenüber der Exekutive zu sehen: Die Regierung sollte durch und im Einklang mit dem Gesetz regieren, dessen besonderer Wert in dem ausdifferenzierten und konsensschaffenden Gesetzgebungsverfahren gesehen wurde. Die Souveränität des Parlaments steht daher in ihrer ursprünglichen Gestalt in keinerlei Ableitungszusammenhang zu einer übergeordneten Staatstheorie, 86 sondern steht dem Parlament gleichfalls „originär“ zu. Insofern verhält sie sich gewissermaßen neutral gegenüber einer nach den Trägern der Staatsgewalt unterscheidenden Staatsformenlehre. 87 Zweifelsohne war das englische Parlament die längste Zeit seines Bestehens keine demokratische, sondern eine ständische Einrichtung. 88 Diese Tatsache war zu Diceys Zeiten jedoch einem fundamentalen Wandel unterworfen. 89 Durch die Wahlrechtsreformen in den Jahren 1832, 1867, 1884, 1885 waren schließlich 28,5% der Bevölkerung stimmberechtigt. 90 Zudem trat 86
Vgl. Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 571. Nach de Lolme erlaubte es die trinitarische Konstruktion des Parlaments sogar die aus der aristotelischen Staatstheorie überlieferten Gegensätze von Monarchie, Aristokratie und Demokratie miteinander zu versöhnen. Jean Louis de Lolme, The Rise and Progress of the English Constitution (1775), vol. 2, 1978, Reprint der Originalausgabe von 1838, S. 820 ff. 88 Die Doktrin der Parlamentssouveränität hat ihre doktrinäre Wurzel und ihren ideengeschichtlichen Ursprung daher in der ständischen Ideologie. Weiterführend hierzu Paul Ritterbusch, Parlamentssouveränität und Volkssouveränität in der Staats- und Verfassungsrechtslehre Englands, vornehmlich in der Staatslehre Daniel Defoes, 1929, S. 9 ff. Vgl. auch Christopher Hollis, Parliament and its Sovereignty, 1973, S. 169 und Ward, der ausführt: „Whereas other nations, in both Europe and North America, were to subsequently experience popular revolution, which at least nominally, vested sovereignty in its people, its citizens, when the smoke cleared across the constitutional battlefield in late seventeenth century Britain, sovereignty lay in Parliament, and not on the people. There is no Rousseau or Kant, in our constitutional tradition, and thus no concept of popular sovereignty.“ Ian Ward, Dualism and the Limits of European Integration, (1995) 17 Liverpool LRev. 51. 89 Vgl. hierzu Albert Venn Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1914, S. 48 ff. 87
§ 4 Prägende Komponenten
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nach 1832 in der Praxis und in den Auffassungen der Zeitgenossen an die Stelle des Supremats der aus König, Oberhaus und Unterhaus zusammengesetzten parlamentarischen Trias von Repräsentanten, die nach freiem Ermessen und nur ihrem Gewissen verpflichtet handelten, das Supremat des Unterhauses, das in immer stärkerem Maße von den Wählern und der öffentlichen Meinung abhängig wurde. Der Gedanke, im Volk die Legitimationsgrundlage aller staatlichen Gewalt, auch der parlamentarischen, zu sehen, begann sich aufzudrängen. Dicey begegnet dieser Veränderung, indem er zwischen der juristischen Parlamentssouveränität und der politischen Souveränität, die beim Volk bzw. der Wählerschaft liegt, unterscheidet. Abgesehen von der viel diskutierten Frage, ob eine derartige Zweiteilung der Souveränität nicht dem Wesen der Souveränität widerspricht, stellt sich die Frage, wie Dicey das Verhältnis der beiden zueinander versteht. Wird die politische Souveränität des Volks als Fundament der juristischen Souveränität verstanden, aus dem womöglich rechtliche, das Parlament in seiner Allmacht beschneidende Anforderungen erwachsen können? Oder sind Diceys Ausführungen vielmehr als Annex, als bloße pragmatische Zusatzannahme zu verstehen, die die Theorie der Allmacht des Parlaments auf ein weiteres Fundament stellt, dessen es aber nach dem faktischen Beweis der tatsächlichen Akzeptanz der Doktrin der Parlamentssouveränität – aus positivistischer Sicht 91 – eigentlich gar nicht mehr bedurft hätte? Dicey selbst äußert sich nicht direkt zu dem Verhältnis von Parlaments- und Volkssouveränität, beschreibt aber die „politische“ Souveränität und damit die Rolle des Volkes bzw. der Wählerschaft wie folgt: „(...) the word sovereignty is sometimes employed in a political rather than in a strictly legal sense. That body is ‚politically‘ sovereign or supreme in a state the will of which is ultimately obeyed by the citizens of the state. In this sense of the word the electors of Great Britain may be said to be, together with the Crown and the Lords, or perhaps, in strict accuracy, independently of the King and the Peers, the body in which sovereign power is vested. For, as things now stand, the will of the electorate, and certainly of the electorate in combination with the Lords and the Crown, is sure ultimately to prevail on all subjects to be determined by the British government. The matter indeed may be carried a little further, and we may assert that the arrangements for the constitution are now as such as to ensure that the will of the electors shall by regular and constitutional means always in the end assert itself as the predominant influence in the country. But this is a political, not a legal fact.“ 92 90 Vgl. Anthony Babington, The Rule of Law in Britain from the Roman Occupation to the Present Day: The only Liberty, 1978, S. 217 ff. Ausführlich zu den Wahlreformen und ihren Auswirkungen Karl Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der großen Reform: Das Zeitalter der Parlamentssouveränität (1832 –1867), in: ders. (Hrsg), Beiträge zur Staatssoziologie, 1961, S. 65 ff.; siehe auch Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 1968, S. 88. 91 Siehe unten § 4 III.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Diese Ausführungen legen nahe, dass Dicey der Volksherrschaft lediglich eine politisch-praktische Bedeutung zuweist und in ihr nicht das rechtliche Fundament aller Staatsgewalt sieht, aus dem die Allmacht des Parlaments beschränkende, rechtliche Anforderungen erwachsen könnten. Loewenstein führte diesbezüglich aus: „Im Wesen der Parlamentssouveränität liegt ferner, dass sie nicht nur unteilbar und unbegrenzbar, sondern sie gleichfalls dem Parlament originär zusteht und nicht etwa durch Delegation vom Volk abgeleitet ist (...). Soweit es auf die juristische Theorie der Parlamentssouveränität ankommt, wird dem Volk als solchem oder, wenn es als Wählerschaft organisiert ist, überhaupt keine Organqualität zugeschrieben, so daß das Volk auch nicht seine Befugnisse dem Parlament delegieren könnte. Rein rechtlich betrachtet ist das Volk aus der Parlamentssouveränität völlig ausgeklammert, eine rechtliche Verbindung von Volks- und Parlamentssouveränität wird demnach überhaupt nicht anerkannt.“ 93
Dicey begründet die lediglich faktisch-politische Bedeutung des Volkes damit, dass die Richter (unmittelbar) allein die Gesetzgebung des Parlaments und nicht etwa auch den in der öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommenden Volkswillen als „Recht“ anerkennen. 94 „(...) (T)he courts will take no notice of the will of the electors. The judges know nothing about any will of the people except in so far as that will is expressed by an Act of Parliament, and would never suffer the validity of a statute to be questioned on the ground of its having been passed or being kept alive in opposition to the wishes of the electors.“ 95
An späterer Stelle beschreibt er die politische Souveränität des Volkes ausdrücklich als lediglich faktische Grenze der Parlamentssouveränität. Dies deutet zwar ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen politischer (Volks-)Souveränität und juristischer Parlamentssouveränität an; aus dem Gesamtzusammenhang ergibt 92
Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959,
S. 73. 93 Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1, 1967, S. 66. Ders., Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England vor der ersten Reformbill, in: ders. (Hrsg), Beiträge zur Staatssoziologie, 1961, S. 35: „Man muss sich davor hüten, das englische Parlament als den staatsrechtlichen Exponenten der Volkssouveränität zu betrachten (...)“. 94 Bei genauerer Betrachtung müsste dann aber Dicey eigentlich dem Volk zumindest in seiner Eigenschaft als Elektorat rechtliche Relevanz, ja sogar Souveränität zuerkennen. Schließlich wird seine in den Wahlen zum Ausdruck gebrachte Willensentscheidung bezüglich der Rechtsfrage der personellen Zusammensetzung des Unterhauses von den Gerichten als verbindlich anerkannt. So auch Geoffrey Marshall / Graeme C. Moodie, Some Problems of the Constitution, 1959, S. 17 f. Petersmann ist daher der Meinung, dass es auch in England schon seit Langem ein juristisches Element der Volkssouveränität gibt, Hans G. Petersmann, Die Souveränität des britischen Parlaments in den Europäischen Gemeinschaften, 1972, S. 244. 95 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 73, 74.
§ 4 Prägende Komponenten
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sich aber, dass Dicey – unter dem Einfluss der Vormacht des seit den Wahlrechtsreformen im 19. Jahrhundert „demokratisierten“ Unterhauses – die juristische Parlamentssouveränität mit der politischen „Volkssouveränität“ in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen sah. Diese Annahme wird durch Diceys Ausführungen zu den Vorzügen eines representative government 96 bestätigt. So ging Dicey davon aus, dass „the difference between the will of the sovereign and the will of the nation was terminated by the foundation of a system of real representative government“. 97 Unter den Voraussetzungen des representative government sei der Wille des Volkes mit dem des Parlaments somit faktisch identisch. Auf der anderen Seite impliziere dies aber keineswegs, dass das Parlament im rechtlichen Sinne ein „Treuhänder“ der Wählerschaft sei. „Nothing is more certain than that no English judge ever conceded, or, under the present constitution, can concede, that Parliament is in any legal sense a ‚trustee‘ for the electors.“ 98
Dicey hält die Trennung zwischen politischer und juristischer Souveränität trotz des ihnen innewohnenden inneren Spannungsverhältnisses strikt durch. 99 Indizien dafür, dass er – über ein aus seiner Sicht durchaus positiv zu bewertendes Zusammenwirken beider Faktoren hinaus – in der politischen Souveränität den Geltungsgrund für die juristische Souveränität gesehen und daraus rechtliche Konsequenzen gezogen hätte, sind nicht ersichtlich. 100 Nichtsdestoweniger kann konstatiert werden, dass Diceys Glaube an die legislative Allmacht des Parlaments in direktem Zusammenhang zu seiner Sicht des repräsentativen Charakters der Legislative in den 1880er Jahren stand. 101 So hatte sich das „aristokratische“, im 96 Wie aus Diceys Ausführungen in seinen Büchern Introduction to the Study of the Law of the Constitution und Lectures on the Relation between Law and Opinion in England During the Nineteenth Century hervorgeht, versteht er unter „representative government“ eine „representative democracy“. Für weitere Nachweise siehe Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 2001, S. 18. 97 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 83. 98 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 75. 99 Dies führt zu einer Dichotomie zwischen dem Prinzip der Repräsentation und dem Souveränitätsprinzip. Vgl. Klaus Streifthau, Die Souveränität des Parlaments: Ein Beitrag zur Aufnahme des Souveränitätsbegriffs in England im 19.Jahrhundert, 1963, S. 151. 100 Eine gewisse Ausnahme hierzu stellt auf den ersten Blick seine Befürwortung eines Referendums dar. Diese ist allerdings vorrangig unter dem praktischen Aspekt zu sehen, dass sich Dicey von der Einführung eines Referendums die Förderung seiner politischen Interessen versprach. Die Doktrin der Parlamentssouveränität sollte es keinesfalls in Frage stellen. Siehe unten § 4 II.2. 101 So auch A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament – Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 30. Vgl. A. V. Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1914, S. 48 ff.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Wesentlichen von Großgrundbesitzern und wohlhabenden Kaufleuten dominierte Parlament durch die Reform des aktiven und passiven Wahlrechts und veränderte Wahlkreiszuschnitte erheblich gewandelt. 102 Nach Einführung der sogenannten household suffrage wurde nunmehr von einer „democracy of householders“ gesprochen. 103 Es sei aber daran erinnert, dass das damalige Parlament aus heutiger Sicht wohl kaum die Beschreibung „repräsentativ“ verdiente, da es trotz der Wahlrechtsreformen 1832 –1885 eher ein (männliches) „Standesparlament“ darstellte. 104 Die Idee der Volksherrschaft mag gleichwohl ein guter Grund für die Akzeptanz der Parlamentssouveränität gewesen sein, rechtliches Potential vergleichbar mit dem deutschen Demokratieprinzip wurde ihr jedoch nicht beigemessen. Die Idee der Volksherrschaft als Rechtsprinzip konnte in Großbritannien somit nicht Fuß fassen. 105 102 Näher hierzu Karl Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England vor der ersten Reformbill, in: ders. (Hrsg), Beiträge zur Staatssoziologie, 1961, S. 34 ff. Ders., Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der großen Reform: Das Zeitalter der Parlamentssouveränität (1832 –1867), in: ders. (Hrsg), Beiträge zur Staatssoziologie, 1961, S. 65 ff. 103 A. V. Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1914, S. 48 f. Für einen prägnanten Überblick über die Wahlrechtsreformen vgl. Michael Maurer, Kleine Geschichte Englands, 2005, S. 389 ff. So durften nach 1884 sowohl in den counties als auch in den boroughs männliche Haushaltsvorstände – bei geringer Besitzqualifikation und ständigem Wohnsitz – wählen. 104 Seit 1884 waren insgesamt etwa 60% der Männer stimmberechtigt, mit der Folge, dass die jahrhundertelange Dominanz der agrarischen Interessen der Landbesitzer gebrochen wurde und nunmehr Handel und Gewerbe dominierten. A. V. Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century, 1914, S. 48 f.; Michael Maurer, Kleine Geschichte Englands, 2005, S. 392. 105 Vgl. z. B. F. F. Ridley, There is no British Constitution: A Dangerous Case of the Emperor’s Clothes, (1988) 41 Parliamentary Affairs 340 ff.: „Britain never developed this idea of popular sovereignty in constitutional terms, even if we sometimes talk of the sovereignty of the electorate in political terms ...(...) What we have instead, is the sovereignty of Parliament.“ Oder J. A. G. Griffith, The Political Constitution, (1979) 42 M.L.R. 3, der ausführt: „In this country we have stayed clear of one bit of nonsense which is commonly advanced in countries as diverse in their political structures as the Chinese People’s Republic, the Soviet Union and the United States of America. I mean the view that sovereignty resides in the people who delegate it to their politicians who hold it in trust for them.“ Siehe auch Christoph Graf von Bernstorff, Einführung in das englische Recht, 2006, S. 43: „Obgleich im 19. und 20. Jahrhundert das allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahlrecht durchgesetzt wurde, hat sich an der verfassungsmäßigen Stellung des Parlaments nichts geändert: Formal bleiben die Bürger ‚Untertanen der Monarchie‚ und wurden damit nie Träger der Staatsgewalt.“ Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 282 ff., hingegen plädiert für einen engen Zusammenhang zwischen der Idee der Volksherrschaft und der Doktrin der Parlamentssouveränität. Er sieht in der Durchsetzung des demokratischen Prinzips die moralische und politische Grundlage des verfassungsrechtlichen Systems und ist daher der Meinung, dass gerichtlicher Gehorsam gegenüber einem Gesetz, welches grundlegende Bestandteile einer demokratischen Staats-
§ 4 Prägende Komponenten
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Man kann somit konstatieren, dass sich nicht so sehr die Frage stellte, wie lange wohl die „aristokratische“ Doktrin der Parlamentssouveränität den „Triumph der Demokratie“ überleben würde, sondern vielmehr feststellen, dass aus der Verschmelzung beider Traditionen – abwertend auch als „Formelkompromiss“ bezeichnet – dem Topos der Parlamentssouveränität neue Lebenskraft eingehaucht wurde. Das „Demokratieargument“ wurde somit zur Stütze und zum Lebenselexier der Parlamentssouveränität. Erst im Zusammenspiel mit dem politischen Bereich wurde die Parlamentssouveränität in der heutigen Zeit überhaupt vertretbar. Eine rechtliche Kategorie im engeren Sinne stellt der Begriff der „Demokratie“ jedoch nicht dar. Doch wie verhält sich das „Demokratieargument“ zu der anderen Quelle des Rechts, dem common law? Müsste hier nicht, angesichts der Tatsache, dass Richter und nicht das Volk über das Recht entscheiden, ein unauflösbarer Konflikt bestehen (insbesondere dann, wenn man – wie ab Mitte des 20. Jahrhunderts – die rechtsschöpferische Funktion der Richter anerkennt)? Diese Frage wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der britischen Literatur nicht thematisiert. 106 Das mag daran liegen, dass das Fallrecht teilweise als der schrittweise Aufbau aus einem mehr oder weniger unbewußtem Volksgeist verstanden wird, einem Recht, das förmlich „aus der Gesellschaft wächst“ 107. Legt man sein Augenmerk darauf, dass das common law im Wege eines evolutionären Prozesses aus einer Vielzahl dialektischer Auseinandersetzungen erwächst, an denen einzelne Individuen des Volkes beteiligt sind, wird das Spannungsverhältnis zum herkömmlichen Verständnis der Volksherrschaft ein wenig abgemildert. Auch im common law findet somit eine Willensbildung von unten nach oben statt. form zerstört, nicht mit der Doktrin der Parlamentssouveränität gerechtfertigt werden könne, da dieses Gesetz genau das Prinzip verletzten würde, welches der Doktrin zugrunde läge. Er plädiert daher dafür, die Trennung zwischen politischer und juristischer Souveränität aufzugeben, da diese Unterscheidung letztendlich nicht aufrechtzuerhalten sei, und zieht rechtliche Konsequenzen aus der Idee der Volksherrschaft. Diese Auffassung impliziert zugleich, dass Dicey selbst, der ja eine Trennung von politischer und juristischer Souveränität propagierte, nicht dieser Meinung war. Nach Paul Craig, Public Law, Political Theory and Legal Theory, [2000] P.L. 211 ff., sieht Dicey in dem Gedanken der Volksherrschaft eine normative Rechtfertigung der Doktrin der Parlamentssouveränität. Goldsworthy geht davon aus, dass Dicey in der demokratischen Funktion des Parlaments nur einen Grund neben anderen für die Doktrin der Parlamentssouveränität sieht, rechtliche Konsequenzen leitet er hieraus nicht ab. Vgl. Jeffrey Goldsworthy, The Sovereignty of Parliament, 1999, S. 228 m.w. N. 106 K. D. Ewing, A Theory of Democratic Adjudication. Towards a representative, accountable and independent judiciary, (2000) 38 Alberta LRev. 708. In der amerikanischen Diskussion: Karl Nickerson Llewellyn, Jurisprudence: realism in theory and practice, 1962. 107 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 45.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Und auch dem common law ist die dialektische Methode zu eigen. Zudem wurde das Fallrecht traditionell als eher herrschaftsbegrenzend empfunden. Vielleicht erklärt dies, dass das common law trotz des Siegeszugs der Demokratie nicht in die Kritik geriet. 2. Albert Venn Dicey und die Mehrheitsdemokratie Obwohl die Demokratie eine wesentliche Komponente in Diceys Modell der Parlamentssouveränität spielt, wäre es jedoch verfehlt, in Dicey einen prominenten Wegbereiter des heutigen Demokratieverständnisses zu sehen. Weder war im 19. Jahrhundert das allgemeine und gleiche Wahlrecht vollständig entwickelt, noch war gerade Dicey ein Förderer einer broad and representative franchise oder befürwortete er die Einführung des Verhältniswahlrechts. 108 Zwar unterstütze er die Einführung des Referendums 109 in Großbritannien, sah hierin aber in erster Linie ein konservatives Mittel zur Förderung seiner politischen Interessen, z. B. um die Einführung der Irish Home Rule und des Frauenwahlrechts 110 zu verhindern. 111 Dementsprechend führt Professor Vernon Bogdanor aus: „Dicey appreciated what many later commentators have misunderstood, that the referendum on legislation passed by parliament was, as a matter of logic, a conservative 108
Diceys Ablehnung des Verhältniswahlrechts ist insofern verwunderlich, als er ein starker Gegner des sich immer mehr verfestigenden rigiden Parteiensystems in Großbritannien war. Sein Misstrauen in kleine, fluktuierende Mehrheiten, die sich durch die Einführung eines Verhältniswahlrechts ergeben würden, waren aber zu groß, um sein Misstrauen in eine ungehemmte Mehrheitsregierung zu überwiegen. Vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1982, S. lxxxiv. Lord Bingham of Cornhill, Dicey Revisited, [2002] P.L. 49. Vernon Bogdanor, Dicey and the Reform of the Constitution, [1985] P.L. 667 ff. 109 Die von Dicey bevorzugte Version der Einführung eines Referendums sah ein zweiteiliges Gesetz, einen Referendum Act, vor. Der erste Teil sollte bestimmen, dass jede Gesetzesinitiative, die bestimmte in einer Liste enumerativ aufgeführte Gesetze berührt, nur nach Durchführung eines Referendums Gesetz werden könne. Der zweite Teil sollte die Liste mit denjenigen Gesetzen enthalten, bei deren Berührung die Notwendigkeit der Durchführung eines Referendums ausgelöst werden sollte. In dieser Vorgehensweise sah Dicey auch keinen Widerspruch zur parliamentary sovereignty, schließlich bliebe es dem Parlament unbelassen, bei jeder bill einen Passus hinzuzufügen, nachdem der Referendum Act auf diese bill keine Anwendung finden solle, auch wenn dies aufgrund des politischen Drucks in der Praxis wohl kaum geschehen werde. Die Funktion eines derartigen Referendums stellte für Dicey weniger die Beschneidung der Macht des Parlaments als vielmehr eine zusätzliche Kontrolle der Regierung dar. Vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1982, S. cviii ff. 110 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1982, S. lxxx ff. 111 Dicey glaubte, vielleicht mit gutem Grund, dass die beiden angesprochenen Themen nicht die Unterstützung der Mehrheit der Abstimmungsberechtigten fänden. Vernon Bogdanor, Dicey and and the Reform of the Constitution, [1985] P.L. 658.
§ 4 Prägende Komponenten
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weapon. It cannot enforce a law to which Parliament has not consented, but offers to the electorate the possibility of placing a check upon Government. If the referendum endorses legislation, then ex hyothesi, it has altered nothing. If, on the other hand, the referendum rejects legislation, the electorate has exercised the power of veto.“ 112
Elemente des Minderheitenschutzes, 113 die heutigen Demokratiekonzeptionen überwiegend innewohnen und auch ihre rechtliche Umsetzung finden, waren Diceys Demokratieverständnis hingegen fremd. Soweit er diesen Aspekt überhaupt in Betracht zog, hielt er ihn aufgrund seines Konzepts der self-correcting democracy 114 für obsolet. Diesem Konzept lag der Gedanke zugrunde, dass sich aufgrund des repräsentativen Charakters des Unterhauses dessen Vorstellungen nicht langfristig von denen des englischen Volkes unterscheiden könnten. 115 Der Fokus seiner Betrachtung galt dem Willen des Parlaments als Ausdruck des Volkswillens und Grundlage des Rechts. Der uneingeschränkte Einfluss des Mehrheitswillens auf die Gesetzgebung galt als notwendiges Attribut der „Demokratie“. 116 Auf dieser liberalen Tradition wurzelnd beschränkte sich das klassische Demokratieverständnis somit auf ein Modell der rechtlich ungehemmten Mehrheitsdemokratie. Anders als in Deutschland, wo die Grundrechte als wesentliche Konstitutionsbedingung der Demokratie und als ein ihr inhärentes Merkmal gelten, 117 wurden sie in Großbritannien bestenfalls als ein von außen an sie herangetragenes Korrektiv gewertet, welches keinesfalls eine Befugnis der Gerichte, Gesetze invalidieren zu dürfen, erforderlich machte. 118 Konsequenz einer derartigen Demokratiekonzeption ist, dass das Individuum als Fluchtpunkt der Demokratie weitestgehend hinter der Mehrheit des Volkes zurücktritt. 119
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Vernon Bogdanor, Dicey and the Reform of the Constitution, [1985] P.L. 661. Nur zur Klarstellung sei angemerkt, dass strenggenommen Grundrechte nicht auf den Schutz von Minderheiten, sondern auf den von Individualrechten abzielen. 114 Dieser Begriff wurde von Craig geprägt, vgl. Paul Craig, Public Law and Democracy in the Untied Kingdom and the United States of America, 2001. 115 Zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Konzept: siehe unten § 4 V. 116 Aus dieser Sicht heraus müsste eigentlich die Befugnis der Richterschaft, das common law weiterzuentwickeln und zu verändern, ebenfalls als undemokratisch verworfen werden. So geschehen allerdings erst im Jahre 2000 durch K. D. Ewing, A Theory of Democratic Adjudication. Towards a representative, accountable and independent judiciary, (2000) 38 Alberta LRev. 708, der aus diesem Grund fordert, das common law durch ein kodifiziertes Rechtssystem zu ersetzen. 117 Roman Herzog (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Band I, 1987, S. 487. 118 Vgl. Ariel L. Bendor / Zeev Segal, Constitutionalism and Trust in Britain: An Ancient Constitutional Culture, An New Judicial Review Model, (2002) 17 American University International LRev. 710. 119 Betrachtet man das klassische Demokratieverständnis in Großbritannien, fallen einem überraschende Parallelen zu der von dem Schweizer Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese), in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 107 ff., beschriebenen „dezisio113
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
III. Das rechtstheoretische Verständnis Das zuvor geschilderte Demokratieverständnis sowie die verfassungsrechtlichen Grundlagen des britischen Rechtssystems standen in engem Zusammenhang mit dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden Rechtspositivismus (legal positivism) 120. Seit Bentham und Austin haben sich britische Juristen zunehmend, sei es explizit oder implizit, auf die wesentlichen Bestandteile ihrer Lehren berufen. Was genau diese Grundzüge waren bzw. für was sie gehalten wurden, mag divergiert und sich über die Jahre verändert haben. 121 Gleichwohl kann man konstatieren, dass die englische Rechtslehre von einem Rechtspositivismus, der in der Tradition von Bentham und Austin stand, geprägt war. 122 So waren auch Diceys Lehren u. a. 123 stark von Bentham und Austin beeinflusst. Der Utilitarist Bentham nahm die von dem schottischen Rechtsphilosophen David Hume geprägte Vorstellung auf, dass von einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann, und übertrug sie auf die Rechtslehre. Er propagierte die klare Trennung von Recht und Moral, was als deutliche Absage an die Naturrechtslehre zu verstehen war. nistisch-totalitären“ Auffassung der Demokratie auf. Für Kägi stellt dieser Vorstellungskomplex einen „gefährlichen Mythos“ dar, der einem harmonischen Zusammenwirken bzw. einer Synthese von Demokratie und Rechtsstaat entgegenwirkt. Dieser Auffassung liegen acht Tendenzen zugrunde (1. Die demokratische Mehrheit ist die oberste „souveräne“ Instanz des Staates.2. Die demokratische Mehrheit entscheidet absolut und steht als solche über dem Recht.3. Die demokratische Mehrheit ist allzuständig.4. Die demokratische Mehrheit ist an keine Form gebunden.5. Die demokratische Mehrheit lässt sich nicht repräsentieren.6. Die Gewalt der demokratischen Mehrheit ist unteilbar, d. h. z. B. kein Föderalismus.7. Die demokratische Mehrheit entscheidet gerecht.8. Vergötzung der Demokratie – „vox populi – vox dei“), von denen mehr als die Hälfte – setzt man die demokratische Mehrheit mit dem Parlament gleich – auf das klassische britische Demokratieverständnis zutreffen. 120 Vgl. z. B. Martin Loughlin, Public Law and Political Theory, 1992, S. 17 ff. Für Einflüsse zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 50 ff. 121 Vgl. Robert S. Summers, The New Analytical Jurists, (1966) 41 NYULR 861. 122 Vgl. Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 240; Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 16. Zu Bentham vgl. Gerald J. Postema, Bentham and the Common Law tradition, 1986; Roger Cotterrell, The Politics of Jurisprudence: a critical introduction to legal philosophy, 2003. 123 Zum Einfluss von Sir William Blackstone, dessen Lehre über die Natur des Souveräns, der die Quelle allen in den Gerichten durchsetzbaren Rechts sei, und der ebenfalls prägend für Dicey war vgl. z. B. Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 244 f.
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Benthams Schüler Austin griff seine Lehren auf, entwickelte sie weiter und führte sie durch die Veröffentlichung seines Buchs The Province of Jurisprudence Determined im Jahre 1832 einer weiten Verbreitung zu. Austin war wohl der Erste, der das Recht von einem analytischen Ansatz her betrachtete. Er ging somit als Vater der sogenannten analytical jurisprudence in die Geschichte ein und beeinflusste durch seine Methode die britische Rechtswissenschaft nachhaltig. 124 Der Schwerpunkt der analytischen Jurisprudenz ist darauf gerichtet, Schlüsselbegriffe des Rechts – wie z. B. law, (legal) right etc. – zu analysieren, definieren und kategorisieren. Dabei werden Rechtsnorm und Rechtsordnung primär als empirische Gegebenheit der sozialen Wirklichkeit begriffen. Es war Austin daran gelegen, die Jurisprudenz auf die gleiche systematische und wissenschaftliche Basis zu stellen wie andere Wissenschaften auch. Recht konnte nunmehr nach formalen Kriterien bestimmt und abgegrenzt werden und erforderte keinerlei Bezüge zu seinem Inhalt, Vernunft oder Gottesrecht. Dieser Ansatz bot für Austin und Bentham den Vorteil, dass Recht leichter rational bewertet, kritisiert und vor allem aber auch reformiert werden konnte. 125 Gerade dieser Gedanke ging jedoch später verloren, so dass die britische Variante des Rechtspositivismus immer mehr zu einem konservativen Instrument verkam. 126 Zentraler Begriff in Austins rechtstheoretischem Denken war der Begriff des Befehls. Für ihn sind alle Rechtsnormen Befehle eines Souveräns. Dieses Topdown-Verständnis des Rechts war insofern bemerkenswert, als er in einer Zeit 124 Zur analytischen Jurisprudenz Austins, vgl. z. B. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 42 ff. m. w. N. Seine entscheidenden Einflüsse zur Niederlegung der sogenannten analytischen Jurisprudenz soll Austin 1826 durch des Studium des römischen Rechts in Deutschland empfangen haben: F. H. Lawson, Roman Law as an Organizing Instrument, (1966) 46 Boston University LRev. 198. Zur analytischen Rechtstheorie allgemein: H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973; ders., Recht und Moral: Drei Aufsätze, 1971; Enrique Barros, Rechtsgeltung und Rechtsordnung: eine Kritik des analytischen Rechtsbegriffs, 1984; Gregorio Robles, Rechtsregeln und Spielregeln: Eine Abhandlung zur analytischen Rechtstheorie, 1987; Hans-Joachim Koch, Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976; Karl-Ludwig Kunz, Die analytische Rechtstheorie: eine „Rechts“-theorie ohne Recht? Systematische Darstellung und Kritik, 1977; V. Steiner, Analytische Auffassung des Rechts und der Rechtsinterpretation, ARSP 69 (1983), 299 ff. 125 Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 242, die darauf hinweisen, dass die klare Trennung zwischen Recht und Moral den für die Utilitaristen Bentham und Austin positiv zu bewertenden Effekt hatte, dass inhaltliche moralische Vorstellungen, wie z. B. die dem Utilitarismus entgegenstehende „idea of rightness“, aus dem Recht eliminiert werden konnten. 126 Vgl. Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 244.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
lebte, die bis dato vornehmlich vom sogenannten common law reasoning geprägt war, wonach Recht im Allgemeinen als Spiegel der Sitten und Gebräuche der Gesellschaft verstanden wurde, denen eine „unvordenkliche“ Weisheit innewohne, und Recht somit als sich „von unten heraus“ entwickelnd gesehen wurde. 127 Übrig blieb, wie es dann auch bei Dicey zum Ausdruck kommt, 128 die Vorstellung, dass Recht und Politik klar zu trennende Bereiche sind, 129 so dass eine Normenkontrollkompetenz der Richterschaft unvorstellbar anmutete 130 und es eine Selbstverständlichkeit darstellte, ihre Interpretationsfreiheiten auf das Notwendigste zu beschränken. Darüber hinaus setzte sich später die Vorstellung durch, die Parlamentssouveränität als rule of recognition im Sinne Harts oder als „Grundnorm“ im Sinne Kelsens 131 zu begreifen, auf deren Akzeptanz 132 als soziologisch observierbare Tatsache es allein ankomme. 133 Einer weiter reichenden Legitimation – auch ei127
Siehe oben § 4 I.6.b). Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S 37 ff. 129 Vgl. auch seine zum Teil künstlich anmutende Trennung von Recht und den Konventionen. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 415 ff. 130 „A modern judge would never listen to a barrister who argued that an Act of Parliament was invalid because it was immoral, or because it went beyond the limits of Parliamentary authority. The plain truth is that our tribunals uniformly act on the principle that a law alleged to be a bad law is ex hypothesi a law, and therefore entitled to obedience by the courts.“ Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 63. 131 Dieser Glaube hält sich hartnäckig, obwohl mehrfach auf gewisse Ungereimtheiten, wie z. B., dass die Grundnorm nach Kelsen im Gegensatz zur Doktrin der Parlamentssouveränität fiktiven Charakters ist, hingewiesen wurde. Vgl. z. B. Michael H. W. Koch, Zur Einführung eines Grundrechtskatalogs im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, 1991. Zudem ist gerade die Idee des Souveräns von Kelsen und Hart fallengelassen worden, vgl. Jeremy Waldron, Legal and Political Philosophy, in: Jules Coleman / Scott Shapiro, The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy and Law, 2002, S. 364. 132 Ob die gültigkeitsspendende Kraft in der Anerkennung durch die Richter zu finden ist oder durch die Akzeptanz der „senior officials in all three branches of government“ (so Jeffrey Goldsworthy, The Sovereignty of Parliament. History and Philosophy, 1999, S. 6) mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist die Anerkennung der Richterschaft insofern unerlässlich, als sie durch den Entzug ihrer Anerkennung zwar der Doktrin der Parlamentssouveränität das rechtliche Fundament nehmen kann, aber nicht in der Lage ist, allein Ersatz dafür zu schaffen. 133 Vgl. George Winterton, The British Grundnorm: Parliamentary Supremacy Reexamined, (1976) 92 L.Q.R. 591; Sir William R. Wade, The Basis of Legal Sovereignty, [1955] C.L.J. 188. Hinsichtlich der Diskussion über die philosophischen Grundlagen der Doktrin der Parlamentssouveränität, vgl. Jeffrey Goldsworthy, The philosophical foundations of Par128
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ner demokratischen – bedurfte es nach diesem rechtspositivistischen Verständnis streng genommen nicht. Politisch erträglich wurde dieser Positivismus allerdings erst durch die funktionierende Demokratie, da eine Kontrolle des Parlaments und seiner Gesetzgebung nicht durch rechtliche Mittel, sondern im politischen Bereich verwirklicht wurde. So war und ist Großbritannien im besonderen Maße von einer regen demokratischen Kultur und ihren Institutionen abhängig.
IV. Rule of law Neben der Doktrin der Parlamentssouveränität bildet die rule of law die zweite Säule der britischen Verfassung. Das Verhältnis beider Prinzipien zueinander ist von wechselseitigen Bezügen geprägt, die je nach Auffassung und Gewichtung zu einem unterschiedlichen Verfassungsverständnis führen. Vorliegend soll untersucht werden, welches Verständnis der orthodoxen Lehre zugrunde lag. In diesem Zusammenhang ist aber zunächst auf einige Besonderheiten der rule of law im Vergleich zum „Rechtsstaat“ hinzuweisen. Die rule of law weist zwar auf den ersten Blick wesentliche Parallelen zum deutschen Rechtsstaatsprinzip auf, kann aber keinesfalls als deckungsgleich bezeichnet werden. 134 Mit ihr war lediglich das Regieren durch 135 – nicht aber die Unterwerfung des Gesetzgebers unter – Recht und Gesetz gemeint. Während im „Rechtsstaat“ der Beliamentary Sovereignty, in: Tom Campbell / Jeffrey Goldsworthy (eds.), Judicial power, democracy and legal positivism, 2000, S. 229 – 250. 134 Franz Neumann, The Rule of Law: Political Theory and the Legal System in Modern Society, 1986, Kapitel 12; ders., Zum Begriff der politischen Freiheit, in: ders. (Hrsg.), Demokratischer und autoritärer Staat, 1971, 84; Hasso Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaates, Der Staat 34 (1995), 1 ff.; Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1, 1967, S. 75 f.; Heinrich Scholler, Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom überpositiven Recht, 2002, S. 66 ff.; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 2003, S. 287 ff.; Oliver Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law – Amerikanische Entwicklungen bis zu dem New Deal, 1997, S. 207 ff. Zur rule of law vgl. auch Luc Heuschling, État des droit, Rechtsstaat, Rule of Law, 2002, S. 213 ff.; Julian Rivers, Rechtsstaatsprinzip and Rule of Law revisited, in: Rainer Grote (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, 2007, S. 892 ff. Bezüglich der Übereinstimmungen vgl. Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, JZ 1984, 65 ff. 135 Insofern wird der rule of law herrschaftsbeschränkender Charakter gegenüber der Exekutive zuteil. Gegenüber gar keiner Bindung der Exekutive stellt das Erfordernis der Rechtmäßigkeit ihres Handelns selbstverständlich eine Einschränkung und einen Rationalitätsgewinn dar. Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.),
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
griff des Gesetzes die zentrale Kategorie darstellt, nahm das Gesetz im britischen Recht traditionell eher eine Randposition ein. Nicht das vom Parlament erlassene abstrakte Gesetz, sondern das common law, in dessen Zentrum das gerichtliche am Einzelfall orientierte Verfahren sowie der Richter 136 stehen, war der bedeutende Bezugspunkt der rule of law. Während das Recht für den Rechtsstaat hoheitlich gesetzt wird, entwickelt es sich für die rule of law überwiegend im prozessualen Verfahren. Während dem Rechtsstaat (naturrechtlich verstanden) das wirklichkeitsferne Ideal der positiven Gerechtigkeit zugrunde liegt, lebt und schöpft die rule of law von Erfahrungen mit den Unzulänglichkeiten des bereits bestehenden Rechts, also Erfahrungen mit Ungerechtigkeit. Durch diesen prozessualen Anknüpfungspunkt wird die rule of law mit Konkretheit und Wirklichkeitsnähe erfüllt. 137 Zudem ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der rule of law aufgrund des Dualismus zwischen Gesetzesrecht (statute law) und common law 138 eine Doppelfunktion zukommt. Über das common law übernimmt die rule of law gegenüber der Legislative zunehmend freiheitssichernde Funktionen und stärkt die richterliche Position. 139 Über das statute law hingegen stützt sie das Parlament und wirkt – insbesondere seit dem immer weiter fortschreitenden Zusammenwachsen von Legislative und Exekutive und der mit Beginn des 20. Jahrhunderts steigenden Zahl interventionistischer Gesetze 140 – zunehmend freiheitsbeschränkend. 141 Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 9 ff. benutzt in diesem Zusammenhang das treffende Adjektiv „herrschaftsformend“. Hierdurch wird zum einen der eben geschilderten Verrechtlichung des Herrschaftsapparates Ausdruck verliehen, zum anderen wird aber auch verdeutlicht, dass die Verrechtlichung im modernen Staat nicht gleichbedeutend mit einem Weniger an politischer Herrschaft sein muss. Für einen kurzen Überblick zur historischen Entwicklung, bei der die Unterwerfung des Monarchen unter das Recht und somit der herrschaftsbegrenzende Aspekt im Vordergrund standen, vgl. Robert F. Heutson, Essays in Constitutional Law, 1964, S. 32 ff. 136 Zur herausgehobenen Stellung des Richters im englischen Rechtsdenken vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Angloamerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 4 m.w. N. 137 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 2003, S. 288. 138 Zum wechselseitigen Verhältnis von Gesetzesrecht und Fallrecht in Großbritannien und der „eigentümlichen Ambivalenz“, die der Stellung von Gesetzen im englischen Recht zukommt vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 111 ff. Siehe auch Patrick S. Atiyah, Common Law and Statute Law, (1985) 48 M.L.R. 1. 139 Siehe unten § 4 IV.3.c) und § 4 V.2.c). 140 Die Bedeutung dieser Wandlung, d. h. der zunehmenden Bedeutung des statute law, hat Dicey nicht adäquat erkannt. Vgl. Robert F. Heuston, Essays in Constitutional Law, 1964, S. 41 f. 141 So hat sich im letzten Jahrhundert das anteilsmäßige Verhältnis zwischen common law und statute law sowie die Natur des Gesetzesrechts durch den Funktionswandel des
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In diesem Zusammenhang sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass das Recht generell als ein Eingriff in den (fall)rechtsfreien Raum der allgemeinen Handlungsfreiheit verstanden wurde, 142 und somit dem allgemeinen Aspekt der Rechtssicherheit als Kriterium der Freiheitssicherung erhöhte Bedeutung zukam. Völlig zu Recht wird daher die rule of law als eine spezifisch der common law-Welt zugehörige Kategorie angesehen und von kontinentaleuropäischen Übertragbarkeiten ausgenommen. 143 Die genaue juristische Erfassung der rule of law im britischen Verfassungsgefüge bereitet wegen ihrer inhaltlichen Vieldeutigkeit, die fast an die Grenzen der Inhaltsleere führt, 144 und der unklaren Demarkationslinie zwischen rechtlichen und politischen Elementen erhebliche Schwierigkeiten. 145 Staates (weg vom Laissez-faire-Prinzip hin zu der Idee des Wohlfahrtsstaates) radikal verändert. Diese Veränderungen haben die Bedeutung der rule of law nicht unberührt gelassen. Bereits zu Lebzeiten Diceys begann das Parlament immer häufigeren Gebrauch von Gesetzen zu machen, die der Exekutive weitreichende Ermessensbefugnisse einräumten und der Exekutive ermöglichten, regulierend auf soziale und ökonomische Bereiche einzuwirken (sozialer Interventionsstaat). Dieser Trend beschleunigte sich merklich zwischen 1900 und 1940 und hielt auch noch nach dem 2. Weltkrieg an. Daher untergliedert Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A Critical Introduction, 2003 zwischen „The Diceyan Perspective: the Rule of Law in the Pre-Welfare State“ (S. 52 ff.) und „The Rule of Law in the Welfare State“ (S. 59 ff.); in diesem Sinne auch Jeffrey Jowell, The rule of law today, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 58 ff. Zum gesteigerten Zugriff des Staates auf seine Bürger siehe Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 11 m.w. N. Zur Wahrnehmung der möglichen Freiheitsbedrohung durch das Parlament in Großbritannien siehe Lord Hailsham, The Dilemma of Democracy. Diagnosis and Prescription, 1978, S. 13. 142 So weist Fikentscher darauf hin, dass man in Großbritannien neuem Recht im Allgemeinen eher misstrauisch gegenüberstand, da es grundsätzlich sowohl in der Form des Fallrechts als auch in der Form des Gesetzesrechts als Eindringen in den „fallrechtsfreien Raum“, d. h. den Raum der allgemeinen Handlungsfreiheit, verstanden wurde. Vgl. hierzu Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Angloamerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 4 ff. und 64 ff. Einen etwas anderen Akzent setzend J. Harvey / L. Bather, Über den englischen Rechtsstaat. Die „rule of law“, in: Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 1978, S. 367. 143 Vgl. mit weiteren Nachweisen, Oliver Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law – Amerikanische Entwicklungen bis zum New Deal, 1997, 210. 144 So wird beklagt, dass die rule of law als ein „mere rhetorical device, a vague ideal by contrast with which legislation, official action, or the assertion of privat power is mysteriously measured and found wanting“ missbraucht werde oder „often hazy and unclear, liable to take on any features of law which the writer finds attractive“ sei. Siehe H. W. Arthurs, Rethinking Administrative Law: A Slightly Dicey Business, (1979) 17 Osgoode Hall Law Journal 3. Vgl. auch A. Palmer / C. Sampford, Retrospective Legislation in Australia: Looking Back at the 1980’s, (1994) 22 Federal LRev. 227.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
So ist die rule of law in erster Linie ein politisches Ideal, welches rechtlich garantiert werden kann, aber nicht garantiert werden muss. Ordnet eine Verfassungskonvention 146 seine Befolgung an, so kann die rule of law als verfassungsmäßiges, wenn auch nicht-rechtliches Prinzip angesehen werden. Nur falls und soweit sie gerichtlich durchsetzbar ist, kann sie auch als rechtliches Prinzip eingestuft werden. In fast allen Common-Law-Jurisdiktionen wird die rule of law als ein common law Prinzip angesehen, welches ohne Frage die Exekutive und die Judikative rechtlich bindet. Eine rechtliche Bindung der Legislative, so wie sie in Deutschland geläufig ist, wird hingegen von der orthodoxen Lehre unter Verweis auf die Doktrin der Parlamentssouveränität abgelehnt. 147 Aus diesem Grund bietet die rule of law unmittelbar keine Abhilfe, falls das Parlament legislatives Unrecht begehen sollte. Nach dem bereits Gesagten ist klar, dass die Doktrin der Parlamentssouveränität und die rule of law zwei Konzepte sind, die in einem gewissen Widerspruch bzw. Spannungsverhältnis zueinander stehen. 148 Nach der orthodoxen Lehre der Parlamentssouveränität können sie in rechtlicher Hinsicht nicht ebenbürtig nebeneinander stehen, da immer eines dem anderen weichen müsste. So kann kein Gesetz als rechts- bzw. verfassungswidrig verworfen werden, weil es der rule of law zuwider liefe. Gleichwohl steht die Doktrin der Parlamentssouveränität jedoch nicht einer Bindung der Legislative an die rule of law als politischem Ideal entgegen, da sie lediglich die rechtliche Bindung ausschließt. So ist es unbestreitbar, dass sich das Parlament aus politischen oder auch moralischen Gründen davor hütet, die rule of law offen zu verletzten. All dies ändert jedoch nichts daran, dass es sich rechtlich sehr wohl über sie hinwegsetzten könnte. Aus diesem Grund wird die Bedeutung der rule of law im Vereinigten Königreich klassischerweise weniger in einem positivrechtlichen Gebot als vielmehr in ihrem „metajuristischen Charakter“ gesehen 149. 145 Jeffrey Goldsworthy, Legislative Sovereignty and the Rule of law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 61; Trevor R. S. Allan, The Rule of Law as the Rule of Reason: Consent and Constitutionalism, (1999) 115 L.Q.R. 221; Paul Craig, Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law, [1995] Diritto Publico 35. 146 Als Verfassungskonvention werden Regeln und Prinzipien verstanden, die die Ausübung öffentlicher Macht regeln und als verbindlich akzeptiert werden, auch wenn sie nicht gerichtlich durchsetzbar sind. 147 Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 13. 148 Gustav Radbruch, Der Geist des Englischen Rechts, 1956, S. 27. 149 Für Loewenstein liegt die Bedeutung der rule of law vornehmlich in ihrer Natur als eine Art ethischer Kanon für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens, vgl. Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1, 1967, S. 81. Ritterbusch sieht in dem Dogma der Parlamentssouveränität die „alleinige Bedingung für die rein verfassungsrechtliche Untersuchung“ des britischen Rechts, vgl. Paul Ritterbusch,
§ 4 Prägende Komponenten
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Ausgangspunkt dieser Betrachtungsweise ist eindeutig die unantastbare Position der Doktrin der Parlamentssouveränität. Nimmt man jedoch die rule of law als selbständigen Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Betrachtung, kann sie Grundlage für Reformen, insbesondere für die Forderung nach der rechtlichen Bindung auch des Parlaments an die rule of law sein. Je nach Verständnis bzw. Interpretation birgt sie unterschiedlich großes Potential, um zu einer Veränderung des klassischen Verfassungsverständnisses zu führen. Insofern ist eine eigenständige nähere Betrachtung der rule of law und ihres Gehalts angebracht. 1. Die rule of law als formales Prinzip Grundsätzlich wird im britischen Verfassungsrecht, ähnlich wie in Deutschland hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzips, zwischen einer formellen und einer materiellen Konzeption der rule of law unterschieden. 150 Unter einer formellen (formal oder thin) Konzeption der rule of law ist die (rechtliche) Bindung an bestimmte prozedurale bzw. institutionelle Normen zu verstehen. So sollte ein Gesetz z. B. bestimmt und allgemein sein und von einer unabhängigen Richterschaft angewendet werden. 151 Die formelle Konzeption der rule of law will aber gerade kein Urteil über den inhaltlichen Gehalt einer Norm fällen. Solange die formellen Anforderungen der rule of law erfüllt sind, ist die Frage, ob es sich um „gutes“ oder „schlechtes“ Recht handelt, irrelevant. Joseph Raz hat die wohl pointierteste Erklärung der Vorzüge dieses Verständnisses der rule of law geliefert: „If the rule of law is the rule of good law then to explain its nature is to propound a complete social philosophy. But if so the term lacks any useful function. We have no need to be converted to the rule of law just in order to discover that to believe in it is to believe that good should triumph. The rule of law is a political ideal which a legal system may lack or possess to a greater or lesser degree. That much is common ground. It is also insisted that the rule of law is just one of the virtues by which a legal system may be judged and by which it is to be judged. It is not to be confused with democracy, justice, equality (before the law or otherwise), human rights of any kind or respect for persons or for the dignity of man.“ 152
Für ihn bringt die materielle Aufladung der rule of law eine inhaltliche Überforderung mit sich, die letztendlich zu dem Verlust eines eigenständigen Inhalts des Parlamentssouveränität und Volkssouveränität in der Staats- und Verfassungsrechtslehre Englands, vornehmlich in der Staatslehre Daniel Defoes, 1929, S. 6. 150 Kritisch dieser Unterscheidung gegenüber, Margaret Allars, Of Cocoons and Small ‚c‘ Constitutionalism: the Principle of Legality and an Australian Perspective on Baker, in: David Dyzenhaus (ed.), The Unity of Public Law, 2004, S. 307 ff. 151 Vgl. Jeffrey Goldsworthy, Legislative Sovereignty and the Rule of Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 64 ff.; Paul Craig, Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law: An Analytical Framework, [1997] P.L. 467. 152 Joseph Raz, The Rule of Law and its Virtue, (1977) 93 L.Q.R. 196.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
rechtlichen Konzepts der rule of law gegenüber dem politikwissenschaftlichen Verständnis führt und darüber hinaus aufgrund der ihr innewohnenden Ambiguität zu einem Verlust von Rechtssicherheit führt. Wenn also die rule of law die rule of good law wäre, dass heißt jede politische Tugend in einem ausgewogenen Verhältnis enthielte, dann wäre sie praktisch unbrauchbar. 153 Für Raz ist es vielmehr eine notwendige, wenn auch nicht ausreichende Aufgabe des formellen Konzepts der rule of law, sicherzustellen, dass Gesetze einem bestimmten Verfahren entsprechend erlassen werden. Daneben soll eine formelle Konzeption der rule of law gewährleisten, dass Gesetze eine gewisse Richtlinienfunktion erfüllen, so dass der Einzelne sein Leben an ihnen ausrichten kann. 154 Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Raz als ein hervorstechender Verfechter der formalen Konzeption der rule of law zugleich einer der führenden Vertreter des Rechtspositivismus ist. 155 Die formale Konzeption der rule of law und der Wunsch bei der Herleitung dessen, was Recht eigentlich ist, zwischen Rechtsfragen und Fragen anderer wissenschaftlicher Provenienz sauber trennen zu können, passen naturgemäß gut zusammen. Eine derartige Konzeption der rule of law bietet jedoch ein relativ beschränktes Argumentationspotential für die Notwendigkeit der Einführung einer gerichtlichen Normenkontrolle und damit einhergehend für einen Angriff auf die Doktrin der Parlamentssouveränität. 2. Die rule of law als materielles Prinzip Vertreter der materiellen rule of law hingegen lehnen nicht nur die klare Trennung zwischen Form und Inhalt ab, sondern auch die zwischen Recht und Moral. Die Gerichte sollen nach dieser Ansicht rechtliche Fragen, insbesondere welche Rechte dem Individuum zustehen, grundsätzlich unter Zuhilfenahme breiterer politiktheoretischer Konzepte und Fragen der Moral entscheiden. 156 Aus dieser Ausgangslage folgt, dass die rule of law sich nicht auf einen rein formalen Ge153 So auch Jeffrey Goldsworthy, Legislative Sovereignty and the Rule of Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 65. 154 Für Raz ist die rule of law nur ein Rechtsprinzip des Rechtssystems unter vielen, welches unter bestimmten Umständen anderen Prinzipien zu weichen hat. Zur Kritik an dieser Konzeption von Roberto Mangabeira Unger, Law in a Modern Society, 1976, S. 176 – 181, 192 –223 und der Auseinandersetzung mit dieser Kritik siehe Paul Craig, Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law: An Analytical Framework, [1997] P.L. 474 ff. 155 Joseph Raz, The Authority of Law. Essays on Law and Morality, 1979, S. 49 –50; Joseph Raz, Ethics in the Public Domain. Essays on the Morality of Law and Politics, 1994, Kapitel 10 und 13. 156 Vgl. hierzu Ronald Dworkin, Law’s Empire, 1986.
§ 4 Prägende Komponenten
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halt beschränken kann, sondern zudem eine inhaltliche Komponente aufweisen muss. 157 Dworkin – als einer der einflussreichsten Vertreter der rule of law im materiellen Sinne – führt hierzu aus: 158 „It assumes that citizens have moral rights and duties with respect to one another, and political rights against the state as a whole. It insists that these moral and political rights be recognized in positive law, so that they may be enforced upon the demand of individual citizens through courts or other judicial institutions of the familiar type, so far as this is practicable. The rule of law on this conception is the ideal of rule by an accurate public conception of individual rights. It does not distinguish, as the rule book conception 159 does, between the rule of law and substantive justice; on the contrary it requires, as part of the ideal of law, that the rules in the book capture and enforce moral rights.“
Dieses Verständnis der rule of law kann auch als eine Rights-based-Konzeption der rule of law bezeichnet werden. 160 Dieser Bezeichnung liegt der Gedanke zugrunde, dass das Recht, ausgehend von den naturgegebenen Rechten des Menschen, nicht so sehr das Resultat eines politischen Prozesses darstellt, als vielmehr den Rahmen bildet, innerhalb dessen der politische Prozess stattfindet. Hieraus kann nunmehr die Notwendigkeit der judicial review of legislation gefolgert werden, die allerdings (prima facie) in offenem Widerspruch zu der klassischen Doktrin der Parlamentssouveränität steht. 3. Diceys Konzeption der rule of law Wie lässt sich vor diesem Hintergrund Diceys Verständnis der rule of law charakterisieren? Da einer materiellen Konzeption der rule of law – wie gezeigt – größeres Reformpotential innewohnt als einer formellen Konzeption, ist die Beantwortung dieser Frage für potentielle Veränderungen der Stellung der Judikative von Bedeutung. Diceys Interpretation der rule of law ist die wohl bekannteste im Vereinigten Königreich und hat, obwohl sie nicht frei von Missverständnissen ist und daher zum Teil revidiert werden musste, nachhaltigen Einfluss auf das gängige (orthodoxe) Verfassungsverständnis ausgeübt. 161 157
Ronald Dworkin, A Matter of Principle, 1985, S. 11 f. Ronald Dworkin, A Matter of Principle, 1985, S. 11 f. 159 Hierunter versteht Dworkin im Wesentlichen eine formale Konzeption der rule of law, siehe oben § 4 IV.1. 160 Paul Craig, Fundamental Principles of Administrative Law, in: David Feldman / Peter Birks (eds.), English Public Law, 2004, S. 702. 161 Für Abhandlungen jüngeren Datums über Diceys Beiträge zur rule of law siehe Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, Kapitel 2; ders., Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law: 158
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Zu einer Zeit, in der Recht allzu oft als ein Mittel der Unterdrückung aufgefasst wurde, war es (noch) nicht selbstverständlich, eine rule of law mit Werten wie z. B. Freiheit, Gleichheit oder Demokratie zu verbinden. Dennoch bezeichnet Albert Venn Dicey 1885 die rule of law als die zweite der beiden Säulen auf der die britische Verfassung ruht. 162 Für Dicey war die rule of law eine lobenswerte Besonderheit des britischen Verfassungsgefüges, die seiner Meinung nach von ausländischen Beobachtern des britischen Systems, wie z. B. Voltaire und de Tocqueville, als bemerkenswert hervorgehoben wurde: „(W)hen Voltaire came to England – and Voltaire represented the feeling of his age – his predominant sentiment clearly was that he had passed out of the realm of despotism to a land where the laws might be harsh, but where men were ruled by law and not by caprice.“ 163
Die Dicey’sche rule of law hat sowohl einen deskriptiven als auch einen normativen Gehalt. 164 In deskriptiver Hinsicht ging Dicey von dem weitgehenden Fehlen größerer Ermessensspielräume der Exekutive und der gleichen Anwendung des allgemeinen Rechts auf alle Individuen – unabhängig von der Frage, ob sie dem Staat oder der Gesellschaft zuzuordnen waren 165 – aus. Der normative Gehalt seiner rule of law lag in der Annahme, dass dieses System einem System wie dem französischen, welches zwischen öffentlichem und privatem Recht unterschied, überlegen sei. 166 Inhaltlich betrachtet umfasste Diceys rule of law zuvörderst drei Prinzipien: Die Rechtmäßigkeit der Verwaltung, Gleichheit vor dem Gesetz (sei es geschriebener oder ungeschriebener Natur) und die Freiheit des Individuums.
An Analytical Framework, [1997] P.L. 467; Martin Loughlin, Public Law and Political Theory, 1992; Trevor R. S. Allan, Law Liberty and Justice, 1993; ders., The Rule of Law as the Rule of Reason: Consent and Constitutionalism, (1999) 115 L.Q.R. 221 ff.; Luc Heuschling, État de droit, Rechtsstaat, Rule of Law, 2002, 213 ff.; J. Harvey / L. Bather, Über den englischen Rechtsstaat. Die „rule of law“, in: Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 1978, S. 359 ff. 162 Ein weiterer Beleg für den starken Common-Law-Bezug der rule of law. 163 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 189. 164 Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 21. 165 Siehe unten § 4 IV.3.b). 166 In diesem Zusammenhang ist Dicey mehrfach vorgeworfen worden, das französische droit administratif missverstanden zu haben: vgl. z. B. J. W. F. Allison, A Continental Distinction in the Common Law: a historical and comparative perspective on English public law, 1996, 18 ff., 157 ff.; Roger Errera, Dicey and French Administrative Law: A Missed Encounter?, [1985] P.L. 695 ff.; Otto Koellreuther, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsprechung im modernen England: Eine rechtsvergleichende Studie, 1912, S. 187 ff, 207 ff.
§ 4 Prägende Komponenten
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a) Rechtmäßigkeit der Verwaltung Zunächst bedeutet die rule of law nach Diceys Vorstellung grundsätzlich den Ausschluss jeder Willkür (arbitrariness) seitens der Exekutive und ihrer Organe: „(...) no man is punishable or can be lawfully made to suffer in body or goods except for a distinct breach of law established in the ordinary legal manner before the ordinary courts of the land. In this sense the rule of law is contrasted with every system of government based on the executive by persons in authority of wide, arbitrary, or discretionary powers of constraint.“ 167
Hieraus folgt zunächst einmal der aus dem Strafrecht bekannte Grundsatz nulla poena sine lege, 168 der besagt, dass eine Bestrafung nur in Reaktion auf einen Rechtsbruch erfolgen darf, der in einem ordnungsgemäßen Verfahren nachgewiesen und von einem anerkannten Gericht festgestellt wurde. In Zusammenschau mit der Idee der Privatrechtsgesellschaft 169, das heißt der fehlenden rechtlichen Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Sektor, ergibt sich zudem, dass ein Eingriff in Freiheit oder Eigentum einer Person auch von Seiten der öffentlichen Hand nur auf der Basis einer Rechtsgrundlage, sei es in Form von Gesetzesrecht oder aber common law, erfolgen darf. 170 Dem Ergebnis, wenn auch nicht seiner Genese nach, ist das deutsche Erfordernis des Vorbehalts des Gesetzes 171 (bei Eingriffsakten) dem britischen Recht somit nicht völlig fremd, soweit mit Gesetz sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht gemeint ist. 172 Grundsätzlich darf die Exekutive zwar, so wie jede Privatperson, alles tun und lassen, was sie will, solange es nicht verboten ist. 167 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 188. 168 Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn. 2002, S. 91. 169 Siehe unten § 4 IV.3.b). 170 Vgl. Entick v Carrington (1765) 19 St Tr 1029. Siehe auch Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A Critical Introduction, 2003, S. 52 ff. 171 Naturgemäß kennt das britische Recht jedoch die Figur des sogenannten Parlamentsvorbehalts nicht. 172 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es im common law anerkannte, sogenannte prerogative powers der Krone gab und gibt, die es ihr ermöglichen, ohne parlamentarisch gesetzliche Grundlage in Rechte Privater einzugreifen. Ein nicht unbedeutender Teil der Kompetenzen der Exekutive, z. B. der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die Auflösung des Parlaments, die Ernennung des Prime Minister, das Beamtenrecht, beruht noch heute auf diesen – von den common law Gerichten anerkannten – Prärogativrechten, die bis Mitte des letzten Jahrhunderts nicht einmal justiziabel waren. Vgl. z. B. Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A Critical Introduction, 2004, S. 83 ff.; Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn. 2002, S. 135 ff. In Council of Civil Service Union v Minister for the Civil Service, [1985] A.C: 374 („GCHQ case“) wurde die Ausübung von Prärogativrechten grundsätzlich für justiziabel erklärt.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Durch das ausdifferenzierte System des common law aber sind die Freiheitsrechte des Individuums vorwiegend von seinen Grenzen her – d. h. ausgehend davon, was verboten ist – näher bestimmt worden und bilden nunmehr ein – wenn auch nicht flächendeckendes, so doch recht engmaschiges – Netz zum Schutz individueller Freiheiten. Möchte die Exekutive in derart negativ bestimmte Freiheiten dennoch eingreifen, bedarf es einer rechtlichen Grundlage, die ihr in aller Regel, wenn auch nicht zwingend, durch ein Parlamentsgesetz 173 eingeräumt wird. 174 Dicey ging es jedoch als Anhänger des Laissez-faire-Liberalismus bei seinen Ausführungen in erster Linie darum, das Fehlen weiter Ermessensbefugnisse der Exekutive in Großbritannien darzulegen und als eine Stärke des britischen Systems darzustellen. 175 Dies ist mannigfach kritisiert worden. Insbesondere wurde Dicey vorgeworfen, nicht nur das tatsächliche Ausmaß exekutiven Ermessens seiner Zeit unzutreffend beschrieben zu haben, sondern auch, dass er die Notwendigkeit verkannt habe, der Exekutive innerhalb einer modernen Gesellschaft einen gewissen Gestaltungsspielraum einzuräumen. 176 b) Gleichheit vor dem Recht (sei es geschriebener oder ungeschriebener Natur) Diceys zweites Merkmal der rule of law betrifft die Gleichheit vor dem Recht. Hierzu führt er aus: „We mean (...) when we speak of the ‚rule of law‘ as a characteristic of our country, not only that with us no man is above the law, but (what is a different thing) that here every man, whatever be his rank or constitution, is subject to ordinary law of the realm and amenable to the jurisdiction of the ordinary tribunals.“ 177 173
Es kommt auch eine Rechtfertigung durch Common-Law-Regeln in Betracht, vgl. Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A Critical Introduction, 2003, S. 53. Vgl. Elias v Pasmore [1934] 2 KB 164, wo feststellt wurde, dass „the interests of the State must excuse the seizure of documents which seizure would otherwise be unlawful“. Die alleinige Rechtfertigung durch Gesetz befürwortend: Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 60. 174 Sir William R. Wade / Christopher Forsyth, Administrative Law, 2004, S. 20. Dicey schrieb in diesem Zusammenhang etwas übersimplifizierend: „Every act which the executive government can lawfully do without the authority of an Act of Parliament is done in virtue of this prerogative [the royal prerogative].“ A. V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 424. 175 Andrew Le Sueur / Javan Herberg / Rosalind English, Principles of Public Law, 1999, S. 107. 176 Heuston kritisiert insbesondere Diceys Annahme, dass Ermessensspielräume der Exekutive weder wünschenswert noch notwendig seien, vgl. Robert F. Heuston, Essays in Constitutional Law, 1964, S. 42. Siehe auch Sir Ivor Jennings, The Law of the Constitution, 1959.
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Demnach sollte niemand, weder eine Privatperson noch ein Träger der öffentlichen Gewalt, über dem Recht, d. h. statute law und common law, stehen. 178 Das Recht macht somit keinen Unterschied zwischen verschiedenen Klassen von Personen und gilt insbesondere für Beamte genauso wie für alle anderen Bürger. Jeder ist an das Recht gebunden und in gleichem Maße für Handlungen jenseits des Rechts verantwortlich. 179 Die britische Rechtsordnung kennt demnach eine dem deutschen Vorrang des Gesetzes vergleichbare Idee nur dann, wenn man darunter die Bindung der Verwaltung nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das common law versteht. Zugleich kommt in dieser Passage die Zurückweisung einer Unterscheidung zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Ausdruck. Was aus deutscher Sicht von seinem Gegenstand her als „öffentliches Recht“ bezeichnet werden kann, ist bei Dicey ein weiterer Anwendungsbereich derjenigen Rechtsbehelfe, die sich schon im Privatrecht bewährt haben. Hierin liegt das sogenannte „privatrechtliche Modell des öffentlichen Rechts“ begründet, 180 das nachhaltig die Entwicklung eines eigenständigen, ausgereiften Verwaltungsrechts in Großbritannien beeinflusst, besser gesagt behindert 181 hat. 182 177
Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 193. 178 „The ‚rule of law‘ in this sense excludes the idea of any exemption of officials or others from the duty of obedience to the law which governs other citizens or from the jurisdiction of the ordinary tribunals.“ Vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 202 f. Zu den prerogative powers der Regierung und ihrer gerichtlichen Kontrolle siehe oben § 4 IV.3.a). 179 Dicey zeigte jedoch kein Interesse an der Frage, ob Gesetze inhaltlich den Anforderungen des Gleichheitsgrundsatzes genügen müssen. 180 Carol Harlow / Richard Rawlings, Law and Administration, 1996, S. 42 f.; Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Right Act 1998, 2004, S. 94 f. 181 Vgl. Martin Loughlin, Public Law and Political Theory, 1992. 182 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die britische Tradition politischer Begriffsbildung den Gegensatz zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft, der für das deutsche öffentliche Recht und die politische Theorie seit den Zeiten Hegels bestimmend ist, nicht kennt. Zwar ist der Ausdruck „bürgerliche Gesellschaft“ auch im Vereinigten Königreich geläufig (vgl. Adam Ferguson, Essay on the History of Civil Society, 1767), er wird aber nicht zur Bezeichnung des begrifflichen Widerparts des Staates gebraucht. Überhaupt ist der Begriff des „Staates“ kein Begriff des britischen Verfassungsrechts und taucht äußerst selten in britischen Gesetzen oder Gerichtsentscheidungen auf. Vgl. Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, JZ 1984, 67; Peter Leyland / Terry Woods, Administrative Law, 1999, S. 117. Chandler v DDP [1964] AC 763 ist einer der wenigen Fälle, in denen sich Äußerungen zum Begriff und Wesen des Staates finden. So äußerte sich Lord Reid wie folgt: „Perhaps the country or the realm are as good synonyms as one can find and I would be prepared to accept the organised community as coming as near to definition as one can get.“ Lord Devlin wiederum war der Auffassung, dass der
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Auch für diese Analyse ist Dicey in großem Maße kritisiert worden. Er habe das französische Verwaltungsrecht, welches er als Negativbeispiel auffasste, missverstanden, und die Tatsache verkannt, dass es in England Ende des 19. Jahrhunderts durchaus „Verwaltungsrechtsprechung“, wenn auch nicht in gesonderten Gerichten, so doch in sogenannten tribunals 183 , gegeben hat. 184 c) Freiheit des Individuums Besonders interessant, insbesondere im Hinblick auf den Schutz individueller Freiheiten im britischen Recht, ist die dritte Säule von Diceys rule of law. „We may say that the constitution is prevaded by the rule of law on the ground that the general principles of the constitution (as for example the right to personal liberty, or the right of public meeting) are with us the result of judicial decisions determining the rights of private persons in particular cases brought before the courts, whereas under many foreign constitutions the security (such as it is) given to the rights of the individuals appears to result, from the general principles of the constitution.“ 185
Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, dass der Schutz individueller Freiheit nicht durch verfassungsrechtliche Garantien, wie z. B. einem dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtskatalog erfolgen soll, sondern vielmehr durch das common law, welches in den einfachen Gerichten entwickelt und durchgesetzt wird. 186 Die Verfassung ist somit das Resultat des gewöhnlichen Landesrechts. 187
Begriff des Staates „is to denote the organs of the government of a national community. In the United Kingdom (...), that organ is the Crown.“ Zur Entwicklung des Verwaltungsrechts in Großbritannien, vgl. Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Right Act 1998, 2004. Vgl. auch J. D. B. Mitchell, The Causes and Effects of the Absence of a System of Public Law in the United Kingdom, [1965] P.L. 95 ff. 183 Zum Rechtsschutz durch Tribunale vgl. Wolfgang Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien – Entwicklung und Reform, VerwArch 82 (1991), 32 ff. Siehe auch Paul Craig, Administrative Law, 1999, S. 62 ff. 184 H. W. Arthurs, Without the Law. Administrative Justice and Legal Pluralism in Nineteenth Century England, 1985. Siehe auch Sir Ivor Jennings, The Law of the Constitution, 1959. 185 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 195, 196. 186 An dieser Stelle wird noch einmal der enge Common-Law-Bezug der rule of law deutlich. Siehe oben § 4 IV. Bezüglich der verschiedenen Möglichkeiten des Freiheitsschutzes durch common law siehe unten § 4 V.2.c). Gerade das Element der gerichtlichen Durchsetzbarkeit galt als Errungenschaft des englischen Freiheitsschutzes, siehe A. V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1982, S. 117. 187 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 203.
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Ihre allgemeinen Prinzipien ergeben sich aus den Rechten der Einzelnen, so wie sie in Einzelfällen vor den Gerichten verteidigt und entschieden wurden. 188 d) Formelle oder materielle Konzeption? Auch nach der Betrachtung der Kernpunkte der Dicey’schen rule of law bietet sich im Hinblick auf die Frage, ob Dicey eine eher formelle als materielle Konzeption der rule of law vertreten hat, ein Bild gewisser Ambiguität. 189 Jede seiner drei Säulen kann man sowohl auf die eine wie auch auf die andere Weise interpretieren. 190 Und mangels expliziter Äußerungen Diceys zu diesem Thema ist es schwer, sich ein abschließendes Bild zu machen. So kann z. B. das Wort arbitrary der ersten Säule der rule of law auf der einen Seite „willkürlich“ in einem formellen Sinn bedeuten, so z. B. wenn es für das behauptete Recht in Wirklichkeit überhaupt keine Rechtsgrundlage gibt, oder diese zwar existiert, aber zu unbestimmt (etc.) ist. Auf der anderen Seite kann es aber auch materiell in dem Sinne verstanden werden, dass die in Frage stehende Rechtsgrundlage dann als „willkürlich“ zu klassifizieren ist, wenn sie in unverhältnismäßiger Art und Weise fundamentale Rechte des Individuums tangiert. Selbst die dritte Säule, die eine materielle Interpretation durchaus nahelegt, kann formell in dem folgenden Sinne verstanden werden: Wenn ein Schutz bestimmter fundamentaler Rechte gewünscht ist, dann sollte er jedenfalls durch das common law und nicht durch die Legislative bindende Grundrechtskataloge erfolgen. Unabhängig von der Frage, für welches Verständnis die überzeugenderen Argumente sprechen, 191 ist allein schon die Tatsache bemerkenswert, dass diese – Diceys Schriften innewohnende – Mehrdeutigkeit zum Gegenstand heutiger Debatten in der britischen Verfassungsliteratur wird. Dies illustriert einen gewissen Geisteswandel, auf den an späterer Stelle noch eingegangen werden soll. 192
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Vgl. auch hierzu kritisch, Sir Ivor Jennings, The Law of the Constitution, 1959. Vgl. auch Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A Critical Introduction, 2003, S. 56 f. 190 Für eine formale Interpretation vgl. Paul Craig, Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law, [1997] P.L. 467 ff. Für eine materielle Interpretation, Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 18 ff.; ders., Law, Liberty and Justice, The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, Kapitel 2; ders., The Rule of Law as the Rule of Reason: Consent and Constitutionalism, (1999) 115 L.Q.R. 221; Letzterem zustimmend, David Dyzenhaus, The Unity of Public Law, 2004, S. 2. 191 Vgl. bezüglich der gegensätzlichen Positionen: Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 17 ff. sowie Paul Craig, Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law, [1997] P.L. 467. 192 Siehe unten § 8 II. 189
86
1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Die orthodoxe Lehre hat jedoch ein derartiges Problembewusstsein eigentlich nicht erkennen lassen. Soweit deren Vertreter sich überhaupt mit dieser Frage befassten, verstanden sie Diceys rule of law in rechtlicher Hinsicht eher als formelles Konzept. 193 Insbesondere die Gerichte haben die rule of law traditionell als ein negative virtue verstanden, welches lediglich die „Rechtsbefolgung“ im wörtlichen Sinne vorschreibt, ohne eine Untersuchung des Rechts in inhaltlicher Hinsicht zu erfordern. Zwar benutzten die Gerichte im 19. Jahrhundert – in einem Anflug von judicial activism – die rule of law ausdrücklich dazu, die Macht der Exekutive durch die Notion der natural justice, dass heißt elementarer Verfahrensgrundsätze, über den Wortlaut des ermächtigenden Gesetzes hinaus zu beschränken. Die Idee, die Legislative inhaltlichen Einschränkungen zu unterwerfen, kam bei den Gerichten jedoch nicht auf. 194 In einem System, das von der Doktrin der Parlamentssouveränität dominiert wurde, war für ein Marbury v Madison 195 kein Platz. Zumindest war die Orthodoxie sich der revolutionären Kraft – insbesondere eines materiellen Verständnisses – der rule of law nicht bewusst oder wollte es geflissentlich übersehen. Die orthodoxe Theorie begnügte sich daher damit, eine direkte Bindung der Legislative, die eine Normenkontrolle ermöglichen würde, abzulehnen und den Schutz individueller Rechte lediglich mittelbar 196 über das von den Gerichten erarbeitete common law zu garantieren.
193 Dieses Verständnis harmonierte auch mit dem in Großbritannien seit jeher bedeutsamen Prinzip der Rechtssicherheit. Schon Radbruch betonte, dass die Rechtssicherheit in England das prädominante Prinzip sei, das in allen Phasen der englischen Rechtsgeschichte immer wieder belegt werde, Gustav Radbruch, Der Geist des Englischen Rechts, 1956, S. 89. Vgl. zu Radbruch und zur Bedeutung der Rechtssicherheit im englischen Recht und in der englischen Rechtsphilosophie Heinrich Scholler, Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom überpositiven Recht, 2002, S. 66 ff. und Carola Vulpius, Gustav Radbruch in Oxford: Zur Aufarbeitung eines Kapitel länderübergreifender Rechtsphilosophie, 1995. Kritisch zu diesem Verständnis z. B. Sir Ivor Jennings, The Law of the Constitution, 1959, S. 47: „It is not enough to say with Dicey that ‚Englishmen are ruled by the law, and by the law alone‘ or, in other words, that the powers of the Crown and its servants are derived from the law; for that is true even of the most despotic state.“ Vgl. zudem Philip A. Joseph, Constitutional and Administrative Law in New Zealand, 2001, S. 198. 194 Siehe unten § 9 II 2.a). 195 1 Cranch 137 (1803). Dieser Fall legte in den Vereinigten Staaten den Grundstein für eine kassatorische Normenkontrollbefugnis der Gerichte am Maßstab der Verfassung, vgl. hierzu z. B. Werner Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre „Marbury v Madison“, Der Staat 42 (2003), 267 ff.; Winfried Brugger, Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre Marbury v Madison, 24. Februar 1803, Atlantische Texte 19 (2003), 9 ff.; Paul W. Kahn, The Reign of Law: Marbury v Madison and the construction of America, 1997. Siehe auch Fletcher v Peck 6 Cranch 87 (1810). 196 Siehe unten § 4 V.2.c)bb).
§ 4 Prägende Komponenten
87
4. Das Verhältnis der rule of law zur Parlamentssouveränität Das Verhältnis der rule of law zur Parlamentssouveränität ist dem traditionellen Verständnis nach durch ein kompliziertes System wechselseitiger Bezüge (komplementäres Verhältnis) gekennzeichnet. 197 a) Auswirkungen der Doktrin der Parlamentssouveränität auf die rule of law Zunächst einmal scheint sich die Parlamentssouveränität aus kontinentaleuropäischer Sicht relativierend, wenn nicht gar beschränkend, auf die rule of law auszuwirken. Die rule of law scheint der Parlamentssouveränität sogar untergeordnet zu sein, da diese eine Bindung der Legislative durch die rule of law und damit eine „most effective rule of law“ 198 untersagt. 197
Loughlin spricht von „interlocking nature of the concept of sovereignty with the principles of the rule of law“, vgl. Martin Loughlin, Public Law and Political Theory, 1992, S. 144. Eine instruktive Analyse bietet Trevor R. S. Allan, Legislative Supremacy and the Rule of Law: Democracy and Constitutionalism, (1985) 44 C.L.J. 111 ff. 198 Sir Ivor Jennings, The Law and the Constitution, 1959, S. 57. Erst durch die legislative Bindung erfolge „the elevation of the rule of law concept to its highest level“, vgl. P. G. Kauper, The Supreme Court and the Rule of Law, (1961) 59 Michigan LRev. 532. Die neuere Literatur nimmt in diesem Kontext das Spannungsverhältnis zwischen rule of law und Parlamentssouveränität sehr viel schärfer wahr, indem sie davon ausgeht, dass die rule of law eine rechtliche Bindung der Legislative fordere, welches zu einer Unvereinbarkeit mit dem klassischen Verständnis der Parlamentssouveränität führe. Angesichts dieser Unvereinbarkeit wandert ihr Fokus der Betrachtung von der parliamentary sovereignty zur rule of law. Dem liegt grob vereinfacht folgende Argumentationskette zugrunde: Falls man überhaupt die rule of law auf ein Kernkriterium reduzieren kann, dann darauf, dass das Recht mittels der rule of law Willkür verhindern soll. Es ist unbestritten, dass die Exekutive keine uneingeschränkte Macht ausüben soll. Aus den gleichen Gründen müsse dies aber auch für die Legislative gelten. Bezüglich einer Unvereinbarkeit der rule of law mit der Doktrin der Parlamentssouveränität, vgl. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 16: „It is ultimately impossible to reconcile (...) the rule of law with the unlimited sovereignty of Parliament (...). An insistence on there being a source of ultimate political authority, which is free of all legal restraint (...) is incompatible with constitutionalism.“ Geoffrey de Q. Walker, The Rule of Law. Foundation of Constitutional Democracy, 1988, S. 359: „Our present downward spiral could be reversed by facing reality; by recognizing the simple truth that parliamentary omnipotence is an absurdity and that legislative power must be balanced by the rule of law, not just as a set of procedural safeguards, but as a minimum standard of for the substantive content of enacted law.“ Allerdings hat Walker ebenfalls geäußert, dass „in principle it does not matter whether these restrictions are imposed by way of written constitutional provisions and enforceable by courts, or by the dictates of custom that are enforceable by other means“, vgl. Geoffrey de Q. Walker, The Rule of Law. Foundation of Constitutional Democracy, 1988, S. 26, 159; Vgl. auch Martin Loughlin, Public Law and Political Theory, 1992, S. 151: „How can an absolutist doctrine of sovereignty rest in harmony with the idea of the rule of law? From the standpoint of mainstream contemporary jurisprudence the issue seems irreconcilable.“
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Dieses „Manko“ wurde allerdings nicht als solches empfunden, da aufgrund positiver historischer Erfahrungen – vor allen Dingen durch die Selbstbeschränkung des Parlaments 199 – die Legislative im Gegensatz zur Exekutive weniger bzw. nicht als möglicher Bedrohungsfaktor individueller Freiheiten wahrgenommen wurde. Das britische Verfassungsverständnis ist in hohem Maße von Vertrauen (trust) gegenüber dem Parlament 200 und nicht-rechtlichen Kontrollmechanismen geprägt 201, so dass die Tatsache, dass die Beachtung der rule of law durch das Parlament stillschweigend vorausgesetzt wird, ohne gerichtlich erzwingbar zu sein, dem britischen Verfassungsrechtler weniger abwegig oder verwunderlich erscheint als dem kontinentaleuropäischen. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass sich die britische Literatur weniger schwer mit der (wenn auch juristisch irrelevanten) Empfehlung tut, unethischen Gesetzen keine Folge zu leisten, und hierdurch die Folgen blinden Gesetzesgehorsams abzumildern sucht. So kann man konstatieren, dass zwar das Spannungsverhältnis zwischen der Doktrin der Parlamentssouveränität und der rule of law durch das juristisch beschränkte und eher formelle Verständnis der rule of law aufgelöst wird, diese Auflösung aber mit einer weitreichenden Diskrepanz zwischen dem politischen Ideal der rule of law und ihrer juristischen Bedeutung erkauft wird. Dicey hingegen beurteilte das Verhältnis von Parlamentssouveränität und rule of law von einem ganz anderen Blickwinkel aus und stellte fest, dass Erstere die rule of law im Lande fördere, da die Gesetzesqualität aufgrund der parlamentarischen Trias derjenigen despotischer Monarchen bzw. einhäusiger Parlamente überlegen sei. 202
199
Vgl. Franz Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, in: ders. (Hrsg.), Demokratischer und autoritärer Staat, 1971, S. 85. 200 Bezüglich des großen Vertrauens in die Verfassungstreue des britischen Parlaments vgl. Charles H. McIlwain, Constitutionalism and the Changing World, 1939, S. 279 f.: „In internal matters, in England itself, there are many fundamental rights of the subject that parliament in modern times has never dreamt of infringing and could only infringe at the cost of revolution.“ John W. Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, 1961, S. 211: „Englishmen may well feel that, in spite of the American Constitution, there is less liberty in the United States than in England.“ Ausführlich zu den Auswirkungen dieses Vertrauens auf die Verfassungsstrukturen, insbesondere das Fehlen eines der Normenkontrolle vergleichbaren Instituts: Ariel L. Bendor / Zeev Segal, Constitutionalism and Trust in Britain: An Ancient Constitutional Culture, A New Judicial Review Model, (2002) 17 American University International LRev. 683. 201 So z. B. der Druck der öffentlichen Meinung oder die historische Allianz zwischen Parlament und Gerichten auf der Grundlage der balanced constitution. 202 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 407.
§ 4 Prägende Komponenten
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b) Auswirkungen der rule of law auf die Parlamentssouveränität Betrachtet man umgekehrt die Auswirkungen der rule of law auf die Parlamentssouveränität, bietet sich ein ähnlich zwiespältiges Bild: Auf der einen Seite kann man sagen, dass die rule of law durch die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz die Doktrin der Parlamentssouveränität fördert, indem sie die Notwendigkeit ihrer Ausübung erhöht und dadurch den Machtbereich und die Bedeutung des Parlaments konsolidiert und erweitert. 203 Die Rigidität des Rechts hemmt die Macht der Exekutive. Sie kann sich nur durch weite Ermessensbefugnisse, die ihr das common law versagt, die ihr aber durch das Parlament verliehen werden können, von diesen Hemmnissen befreien. Dadurch wird die supremacy of law immer mehr zu einer supremacy of statutory law. 204 Insofern begünstigt die rule of law die Allmacht des Parlaments. Auf der anderen Seite wirkt die rule of law jedoch auch über das common law 205, welches klassischerweise – sowohl tatsächlich als auch ideengeschichtlich – als Gegengewicht zur absoluten Souveränität des Parlaments verstanden wird und in den „Herrschaftsbereich“ der Gerichte fällt. 206 So führt Albert Venn Dicey in seinem Werk „Introduction to the Study of the Constitution“ unter dem Kapitel „The Rule of Law“ z. B. aus: „The fact that the most arbitrary powers of the English Executive must always be exercised under Act of Parliament places government, even when armed with the widest authority, under the supervision, so to speak, of the courts. Powers, however extraordinary, which are conferred or sanctioned by statute, are never really unlimited, for they are confined by the words of the Act itself, and, what is more, by the interpretation put upon the statute by the judges.“ 207
Das britische Recht hat über die rule of law somit eine institutionelle Lösung zur Kontrolle des Parlaments gewählt: Nicht höherrangige Gesetze, sondern die Gerichte und ihr Fallrecht weisen die Allmacht des Parlaments in ihre Schranken.
203 „The predominance of rigid legality throughout the institutions evokes the exercise, and thus increases the authority of Parliamentary Sovereignty“, vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 402 und auch S. 411 ff. 204 Vgl. auch Franz Neumann, The Rule of Law: Political Theory and the Legal System in Modern Society, 1986, S. 184. 205 Siehe § 4 IV.3.c) und § 4 V.2.c). 206 Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, JZ 1984, 69. Siehe oben § 4 I.6.b). 207 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 413.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
c) Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass trotz der wechselseitigen Beziehungen zwischen der rule of law und der Doktrin der Parlamentssouveränität und des der rule of law als allgemeinem politischen Prinzip innewohnenden Potentials, Letztere in Frage zu stellen, das traditionelle britische Verfassungsverständnis, insbesondere in Bezug auf das hier interessierende Verhältnis der Legislative zur Judikative, vorrangig von der Doktrin der Parlamentssouveränität dominiert wird. 208 Diese Tatsache spiegelt sich auch eindrucksvoll in den einschlägigen Lehrbüchern wider, in deren Darstellung die rule of law im Verhältnis zur Parlamentssouveränität selbst heute noch eine eher untergeordnete Rolle spielt. 209
V. Freiheitsschutz unter Dicey: Das Konzept der self-correcting democracy Die dominante Rolle der Doktrin der Parlamentssouveränität wird auch in der Art des Freiheitsschutzes im traditionellen britischen Verfassungssystem deutlich. Auch der Schutz freiheitlicher Rechte in Großbritannien ist stark von den Lehren Diceys beeinflusst. Dicey lehnte den Schutz fundamentaler Freiheitsrechte durch eine sogenannte constitutional review der Gerichte ab, da aus den schon dargelegten Gründen, so z. B. dem historisch bedingten Vertrauen in das Parlament 210, der Fokus seiner Betrachtung nicht so sehr auf dem Schutz des Individuums gegen den Gesetzgeber als vielmehr durch ihn lag. Nach dem Dicey’schen Modell der unitary, self-correcting democracy 211 bedurfte es eines derartigen Schutzes auch nicht, da Dicey annahm, dass die Kombination von der Doktrin der Parlamentssouveränität und einem repräsentativen Unterhaus 208 Vgl. R. W. Blackburn, Dicey and the Teaching of Public Law, [1985] P.L. 692 ff. Zur zögerlichen Beachtung der rule of law siehe Robert F. Heuston, Essays in Constitutional Law, 1964, S. 55: „The doctrine of the Rule of Law can thus be seen to have achieved a great deal in the constitutional history of England: nevertheless, the Englishman has always been somewhat hesitant about speaking of it.“ 209 So auch Trevor R. S. Allan, Law, Liberty and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 2. Vgl. auch O. Hood Phillips / Paul Jackson / Patricia Leopold, O. Hood Phillips & Jackson: Constitutional and Administrative Law, 2001; Alex Carroll, Constitutional and Administrative Law, 2002; Andrew Le Sueur / Javan Herberg / Rosalind English, Principles of Public Law, 1999. Einige Autoren verzichten gänzlich auf ihre Darstellung: Eric Barendt, An Introduction to Constitutional Law, 1998; C. Munro, Studies in Constitutional Law, 1999. 210 Siehe oben § 4 IV.4.a). 211 Dieser Begriff wurde von Paul Craig in seinem Werk Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 12 ff. geprägt.
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die Identität des Willens des Volkes mit dem des Parlaments sichere und die Regierung ausreichend kontrolliere. Die Vorzüge der repräsentativen Regierungsform, welche zu einer Übereinstimmung der internal 212 mit den external limits 213 der Parlamentssouveränität führen und somit ein Garant der Freiheit des Individuums darstellen sollte, beschreibt Dicey mit folgenden Worten: „Where a Parliament truly represents the people, the divergence between the external and the internal limit to the exercise of sovereign power can hardly arise, or if it arises, must soon disappear. Speaking roughly, the permanent wishes of the representative portion of Parliament can hardly in the long run differ from the wishes of the English people, or at any rate of the electors; that which the majority of the House of Commons command, the majority of the English people usually desire.“ 214
Zum besseren Verständnis des traditionellen, auf Diceys Theorie fußenden Systems des Freiheitsschutzes müssen zwei verschiedene Ebenen in Diceys Analyse unterschieden und ihre prägende Kraft für die orthodoxe Lehre herausgearbeitet werden. Die erste Ebene betrifft den deskriptiven Gehalt von Diceys Modell der selfcorrecting democracy. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die der Dicey’schen Theorie zugrunde liegenden Prämissen der Verfassungsrealität Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts überhaupt entsprachen. Daran anschließend sind die von Dicey gezogenen Schlussfolgerungen zu betrachten und ihre Plausibilität zu bewerten. 1. Tatsächliche Prämissen des Dicey’schen Konzepts Paul Craig hat anschaulich dargelegt, dass schon zu Diceys Zeiten die britische repräsentative Demokratie nicht in der von Dicey beschriebenen, simplifizierten Form funktionierte. 215 Ursächlich für die Diskrepanz zwischen Diceys Ideal und 212 Den internal limits als nicht rechtliche Beschränkung der Parlamentssouveränität liegt der Gedanke zugrunde, dass das Parlament selbst Produkt spezieller sozialer und moralischer Bedingungen ist und durch diese bestimmt wird, vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 80 ff. 213 Das external limit der Parlamentssouveränität besteht in der Einsicht, dass die Allmacht des Parlaments von der Akzeptanz der ihm Unterworfenen abhängt, was im Falle ihrer Versagung in einer Revolution enden kann. Insofern ist die öffentliche Meinung als external limit zu verstehen, vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 76 ff. 214 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 83. Man beachte die undifferenzierte Benutzung der Begriffe „English people“, „electors“ und „majority of the House of Commons“. Hierdurch wird das Problem des Minderheitenschutzes rhetorisch kaschiert. 215 Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 30 ff.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
der Verfassungsrealität war im Wesentlichen die faktische Machtverlagerung von der Legislative zur Exekutive, die Zweifel an der selbstkorrigierenden Natur des britischen parlamentarischen Systems aufkommen ließ. Vereinfacht ausgedrückt basiert Diceys Modell auf einer Willensbildung von unten nach oben. Genau diese Prämisse konnte aber bereits zu Lebzeiten Diceys kaum (noch) als erfüllt betrachtet werden. Die allmähliche Abwendung Anfang des 20. Jahrhunderts vom sog. Laissezfaire-Prinzip hin zu sozialer Gesetzgebung und die damit einhergehende veränderte Wahrnehmung der Rolle der Exekutive weckten das Bedürfnis nach einer Vereinfachung des Gesetzgebungsprozesses für die Exekutive. Dem wurde u. a. durch die Einrichtung von sog. cabinet committees und anderen Ausschüssen (standing committees) sowie einer steigenden Zahl von Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen (delegated legislation) Rechnung getragen, mit der Folge, dass faktische Macht von den Commons zur Exekutive verlagert wurde. Auch innerhalb der parlamentarischen Strukturen dominierte zunehmend ein Top-down-Prinzip. Die erweiterte Stimmberechtigung erforderte eine Optimierung der Parteiorganisation, um die Massen erreichen und mobilisieren zu können. Mit dem besser entwickelten Parteiensystem ging aber auch die Parteidisziplin einher, die die faktische Unabhängigkeit des einzelnen Abgeordneten unterminierte, den Einfluss der Partei erhöhte und zu einer Zentralisierung der Macht beitrug. 216 Formal konnte die Legitimation des Parlaments zwar immer noch von der Wählerschaft abgeleitet werden, inhaltlich wurde das Verfassungssystem jedoch zunehmend von oben, d. h. der Exekutive und der Parteienhierarchie bestimmt. Die aus diesem Top-down-System entstehende Gesetzgebung konnte nicht mehr für sich beanspruchen, den Willen des Wählers, so wie Dicey es sich vorgestellt hatte, zu reflektieren. 217 Zudem begann die Erkenntnis Fuß zu fassen, dass es jenseits des Parlaments Machtfaktoren gab, deren faktischer Einfluss auf das Regierungsprogramm nicht zu unterschätzen war. Das Aufkommen pluralistischer Gedankenansätze stellte Diceys monistisches Konzept der Allmacht des Parlaments und ihrer selbstkorrigierenden Natur weiter in Frage. 218
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Vgl. Walter Haller / Alfred Kötz, Allgemeines Staatsrecht, 2004, S. 198. Auch Dicey selbst müssen wohl Bedenken gekommen sein, da sich ansonsten sein Engagement für die Einführung eines Referendums kaum erklären ließe. 218 Zum Pluralismus im Vereinigten Königreich vgl. Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 137 ff. 217
§ 4 Prägende Komponenten
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2. Plausibilität seiner Schlussfolgerungen Da sich die orthodoxe Meinung mehr aus den in seinem Werk Introduction to the Study of the Law of the Constitution niedergelegten Schlussfolgerungen speist, als dass sie deren Prämissen bewertet, 219 soll nunmehr die Plausibilität dieser Schlussfolgerungen untersucht werden, insbesondere in welcher Form Freiheitsschutz unter dem Dicey’schen Modell geleistet werden konnte, unterstellt, die ihm zugrunde liegenden Prämissen wären korrekt. Hierbei soll das Hauptaugenmerk auf dem Individualrechtsschutz liegen, da es dieser Aspekt des Freiheitsschutzes ist, der im Brennpunkt des Verhältnisses der Judikative zur Legislative steht. a) Freiheitsschutz durch Gesetzesrecht Zunächst einmal blieb und bleibt es dem Parlament unbelassen, den Schutz freiheitlicher Rechte durch Gesetzesrecht zu bewirken. Eine derartige Regelung, die neben der öffentlichen Hand auch Private binden kann, bedarf für ihren Erlass keiner besonderen prozeduralen Anforderungen und kann genauso leicht, wie sie ins Leben gerufen werden kann, auch wieder abgeschafft werden. Freiheitsschützende Gesetze wurden zumeist „ad hoc“ anlässlich einer bestimmten Problemsituation erlassen, so dass die Gelegenheit, einen Gesamtkatalog der Rechte des Individuums zu entwickeln, nicht ergriffen wurde und nur vereinzelte Regelungen zu verzeichnen sind. 220 Selbstverständlich bietet eine derartige Vorgehensweise lediglich Schutz durch, nicht aber gegen den Gesetzgeber. 221 Während die Interessen der parlamentarischen Mehrheit unter den o. g. Voraussetzungen gewahrt werden können, bleiben die Interessen, die keine parlamentarische Mehrheit finden, bei dieser Konzeption außen vor. 222
219 Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 54. 220 Vgl. z. B. die Habeas Corpus Acts 1679, 1816, 1862, den Race Relations Act 1976 oder den Sex Discrimination Act 1975. 221 Zu den hiermit verbundenen Schwierigkeiten siehe z. B. Burmah Oil v Lord Advocate [1964] 2 All ER 348: Während des zweiten Weltkriegs wurde auf Befehl des britischen Oberkommandierenden in Burma eine Ölinstallation einer schottischen Firma zerstört, damit diese nicht in japanische Hände falle. Das House of Lords gewährte der klagenden Firma eine Entschädigung. Daraufhin erließ das Parlament ein retrospektiv wirkendes Gesetz (War Damage Act 1965), um den Effekt dieser Rechtsprechung aufzuheben. Vgl. hierzu Jochen Frowein, Die Prärogative der Krone, die Autorität der Naturrechtsklassiker und die Souveränität des britischen Parlaments, ZaöRV 25 (1965), 745 ff. 222 Dicey selbst lässt in seinen späteren Werken Zweifel an der ausreichenden Schutzwirkung der self-correcting democracy erkennen. Vgl. Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 52 ff.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
In diesem Zusammenhang ist zudem darauf hinzuweisen, dass es dem britischen Verständnis nach befremdlich ist, das Gesetz als Hüter der Freiheit zu verstehen, da Gesetze grundsätzlich als Zwangsordnung verstanden wurden und dem Parlamentsgesetz zunehmend freiheitsbegrenzende Funktionen zukamen, auch wenn das Parlament traditionell nicht als Bedrohung wahrgenommen wurde. 223 Aus diesen Gründen ist dem Freiheitsschutz durch Gesetz keine hervorgehobene Bedeutung beizumessen. b) Freiheitsschutz durch extrajuristische Grenzen der Parlamentssouveränität Dem Vorwurf der fehlenden Bindung der Legislative durch höherrangige Gesetze kann mit dem Argument begegnet werden, dass die extrajuristischen Grenzen der Parlamentssouveränität, wie z. B. die öffentliche Meinung oder die sogenannten internal limits, einer „Despotie der Mehrheit“ entgegenwirken. Trotz einer gewissen theoretischen Plausibilität dieser Argumentation fällt es schwer, sich eine praktische Umsetzung vorzustellen und an ihre Effektivität zu glauben. So müssen die internal limits der Parlamentarier nicht notwendigerweise deckungsgleich mit den Kernbedürfnissen der jeweils betroffenen Minderheit sein, und selbst wenn sich die öffentliche Meinung in der Praxis gelegentlich Minderheiteninteressen annimmt, so ist dies nicht zwangsweise so. Jedenfalls wirken die genannten Mechanismen – wenn überhaupt – nur rein präventiv und bieten keinerlei Ansatzpunkt für eine unmittelbare Ergebniskontrolle der parlamentarischen Arbeit. c) Freiheitsschutz durch common law Eine weitere Möglichkeit des Individualrechtsschutzes könnte sich aus dem common law ergeben. 224 Das common law wird traditionellerweise als der Hüter der Freiheit des Einzelnen begriffen. 225 Dicey präferierte ausdrücklich ein Common-Law-System des Freiheitsschutzes gegenüber geschriebenen Grundrechts223
Siehe oben § 4 IV. Für die Begründung des verfassungsrechtlichen Stellenwerts individueller Freiheit ist ein Rückgriff auf die rule of law nicht zwingend erforderlich. Vielmehr kann diese auch als ein eigenständiger Wert des common law aufgefasst werden. So erfolgt die Darstellung der sogenannten civil liberties in modernen Lehrbüchern zum englischen Verfassungsrecht weitgehend eigenständig und losgelöst von der rule of law. 225 Vgl. Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 75 ff. Neumann betont zutreffend, dass die Grundrechte in Großbritannien wahrscheinlich dem thomistischen oder dem Lock’schen System weniger zu verdanken haben als der Common-law-Theorie der historischen Rechte des Engländers und der Technik und dem Geschick seiner Juristen. Vgl. Franz Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, in: ders. (Hrsg.), Demokratischer und autoritärer Staat, 1971, S. 111. 224
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katalogen im kontinentaleuropäischen Sinn und zeigte damit außerordentliches Vertrauen in die Fähigkeiten und den guten Willen der Richterschaft. Doch eine nähere Betrachtung zeigt, dass auch das common law keinen zufriedenstellenden Schutz des Individuums gegen Eingriffe der Exekutive und schon gar nicht der Legislative bietet. aa) Unmittelbar-negativer Schutz Nach britischem Recht kann – ganz im Sinne eines liberalen Rechtssystems – jeder Mensch tun und lassen was er will, solange es nicht durch statute law oder explizite Common-Law-Regeln untersagt ist. Die vom britischen Bürger genossene Freiheit ist zunächst einmal derjenige Bereich, der nach Abzug aller Verbote und Beschränkungen etc. von der allgemeinen Handlungsfreiheit verbleibt. Freiheit wird daher in erster Linie in Austin’scher Tradition als „Abwesenheit von Zwang“ 226 verstanden. Auf der anderen Seite bedeutet dies aufgrund des privatrechtlichen Modells des öffentlichen Rechts, 227 dass auch der Staat tun und lassen kann was er will, solange es ihm nicht – so wie jedem anderen auch – verboten ist. Des einen Beschränkung ist somit des anderen Freiheit. Dieser an sich selbstverständliche Satz, der natürlich bzw. gerade auch im Bürger-Bürger-Verhältnis gilt, bekommt im Staat-Bürger-Verhältnis eine besondere Qualität, da Freiheitsbeschränkungen des Staates zu Freiheitssicherungen des Bürgers werden. Soll dennoch in die vom Einzelnen gewonnene Freiheit, die durch den Staat betreffende Beschränkungen 228 bewirkt wurde, eingegriffen werden, bedarf es einer Rechtsgrundlage. Dieser Ansatz wird durch die berühmte Entscheidung Entick v Carrington 229 bereits 1765 niedergelegt. John Entick, dessen Wohnung aufgrund eines Durchsuchungsbefehls durchsucht wurde, fand vor Gericht Gehör mit dem Einwand, dass weder das common law noch das statute law eine Ermächtigungsgrundlage für die Durchsuchung bieten würden und daher the tort of trespass (Hausfriedensbruch) vorliege. So war nicht das Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung der Ausgangspunkt der richterlichen Erörterungen, sondern das Common-law-Verbot des Hausfriedensbruchs. Während der deutsche Jurist vom positiven Recht ausgehend denkt 226 Franz Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, in: ders. (Hrsg.), Demokratischer und autoritärer Staat, 1971, 79. 227 Siehe oben § 4 IV.3.b). 228 Derartige Beschränkungen erfolgen zumeist durch common law. 229 (1765) 19 St Tr 1039. Für eine ausführliche Diskussion des Falls vgl. z. B. Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A Critical Introduction, 2003, S. 53 ff. Ein weiteres Beispiel bietet Beatty v Gillbanks (1882) 9 QBD 308.
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und sich fragt, ob eine Verletzung dieses Rechts womöglich gerechtfertigt ist, fragt sich der britische Jurist, ob der Verbotsverstoß gerechtfertigt werden kann. Anders gesagt: Während der deutsche Kläger auf sein Recht gegenüber dem Staat verweist, verweist der britische darauf, was dem Staat verboten ist. Das common law ist somit traditionell nicht derart konzipiert, um der direkten gerichtlichen Berufung auf positive fundamentale Rechte zu dienen. Rechte wie z. B. die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit als solche wurden nicht als cause of action anerkannt. So musste eine Person, um ihr „Recht“ auf persönliche Freiheit geltend zu machen, den Umweg über eine action in the tort of false imprisonment 230 gehen. Diese Herangehensweise wird auch als negative approach bezeichnet, da sich die Freiheiten des Individuums von ihren Grenzen – bzw. den Grenzen anderer, z. B. des Staates – her bestimmen und in diesem Sinne eher als residual denn als fundamental und „positiv“ verstanden werden. 231 Im Folgenden soll der Begriff „negativ-unmittelbarer Schutz“ benutzt werden, um zu verdeutlichen, dass der negative Ansatz vorwiegend für die unmittelbare gerichtliche Geltendmachung eines Anspruchs vor Gericht Bedeutung hatte, während bei der Auslegung von Gesetzen ein anderes Verständnis eine Rolle spielte. 232 Für Dicey war dieser negative-approach, der von Jennings als „liberty according to the law“ 233 bezeichnet wurde – wie bereits erwähnt – ein deutlicher Vorteil gegenüber anderen Verfassungen. 234 Während sich der Schutz der Freiheit des Individuums in anderen Ländern aus den Verfassungsprinzipien ableite, seien in Großbritannien die Verfassungsprinzipien das Resultat der Freiheit des Individuums, so wie sie in den Gerichtsentscheidungen ihren Ausdruck findet. Aufgrund ihrer organisch-gewachsenen Natur hielt Dicey sie daher für besonders schwer abrogierbar. Lord Goff sah in diesem Rechtsverständnis noch 1990 zumindest keinen Nachteil und verdeutlichte den Unterschied zu dem in der Europäischen Konvention für Menschenrechte zum Ausdruck kommenden kontinentaleuropäischen Ansatz „positiver Rechte“ wie folgt:
230
Vgl. z. B. Sir William Holdsworth, A History of English Law, 1937, vol. VIII, S. 446. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 27. 232 Siehe unten § 4 V.2.c)bb). 233 Sir Ivor Jennings, The Approach to Self Governance, 1958, S. 20. Auch Jennings wertet das Fehlen einer Bill of Rights als Vorteil: „(...) I believe that we do the job better than any country which has a Bill of Rights or Declaration of the Rights of Man.“ 234 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 195 f. 231
§ 4 Prägende Komponenten
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„I can see no inconsistency between English law on this subject and Article 10 of the [European Convention] (...). The only difference is that whereas Article 10 (...) proceeds to state a fundamental right and then to qualify it, we in this country (where everybody is free to do anything, subject only to the provisions of the law) proceed rather upon the assumption of free speech, and turn to the law to discover the exceptions to it.“ 235
Die Freiheiten des Individuums werden demnach bei genauer Betrachtung als eine Art „vorrechtliche“ Ausgangslage begriffen. 236 Freiheit wird als tatsächliche Gegebenheit gesehen und bedarf daher grundsätzlich keiner Normierung. Dem eigentlichen Recht kommt somit vorwiegend die Funktion ihrer Beschränkung zu. Der dem negative approach innewohnende andersartige Blickwinkel birgt jedoch durchaus Probleme in sich, die nicht folgenlos für die Effektivität des Rechtsschutzes bleiben. So gestaltet es sich grundsätzlich schwierig, die Grenzen von etwas zu bestimmen, mit dessen Inhalt man sich nicht näher auseinandersetzt. Zudem hat dieser Ansatz zur Folge, dass jeder qualitative Unterschied zwischen den banalsten und den erhabensten menschlichen Tätigkeiten völlig nivelliert wird. Sir Ivor Jennings macht dies in folgendem Zitat deutlich: „There is no more a ‚right to free speech‘ than there is a ‚right to tie up my shoe-lace‘; or if there is a right of free speech, there is also a right to tie up my shoe lace.“ 237
In letzter Konsequenz macht diese Herangehensweise die Ausdifferenzierung von verschiedenen Freiheiten, so wie man sie aus den Civil-Liberties-Lehrbüchern kennt und so wie sie seit Locke im Hinblick auf das Eigentum, die persönliche Freiheit etc. eine lange Tradition aufweisen, überflüssig. Dass es sie dennoch gibt, ist ein Indiz dafür, dass ein rein residuales Verständnis grundlegender Freiheiten des Individuums der britischen Verfassungsrealität nicht gerecht wird. 238
235
A-G v Guardian Newspapers Ltd (No 2) [1990] 1 AC 109, 283. Paul Rishworth / Grant Huscroft / Scott Optican / Richard Mahoney, The New Zealand Bill of Rights, 2003, S. 40. 237 Sir Ivor Jennings, The Law and the Constitution, 1959, S. 262. 238 In dieser Richtung auch Glen Patmore / Anna Thwaites, Fundamental Doctrines for the Protection of Civil Liberties in the United Kingdom: AV Dicey and the Human Rights Act 1998, (2002) 13 Public LRev. 56, die zu Recht zu bedenken geben, dass ein rein residuales Verständnis grundlegender Freiheiten des Individuums, der Tatsache zu wenig Berücksichtigung schenkt, dass diese Freiheiten bei der Auslegung von Gesetzen und der Entwicklung von common law doctrines eine bedeutende Rolle spielen, so dass wohl auch nach Diceys Verständnis fundamental freedoms als ein integraler Bestandteil des englischen Verfassungsrechts anzusehen sind und ihnen demnach auch ein positiver Aspekt innewohnt. 236
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Bezüglich der Effektivität des Rechtsschutzes bleibt Folgendes anzumerken: Das Konzept der Residualrechte, in Zusammenschau mit dem privatrechtlichen Modell des öffentlichen Rechts, stößt gerade beim Bürger-Staat-Verhältnis durch seine privatrechtliche Fokussierung immer wieder an seine Grenzen. Mag es bei Rechtsverhältnissen zwischen Privaten noch als freiheitsfördernd angesehen werden, dass Gerichte freiheitliche Beschränkungen eher restriktiv behandelten bzw. den fallrechtsfreien Raum nur zögerlich beschnitten, so kehrt sich diese Herangehensweise im Bürger-Staat-Verhältnis in sein Gegenteil. So wurde in Malone v Metropolitan Police Commissioner 239 befunden, dass das Abhören von Telefonaten ohne Ermächtigungsgrundlage erlaubt ist, da es dem Kläger nicht gelang, ein Recht für sich geltend zu machen, nach dem es der Regierung verboten gewesen wäre, sein Telefon abzuhören. Trespass schied aus, da die Abhörmaßnahme außerhalb von Malones Wohnung stattgefunden hatte. Auf einen breach of confidence konnte er sich nicht berufen, da es einen derartigen Vertraulichkeitsschutz bei Unterhaltungen nicht gab. Ein Recht auf Privatsphäre existierte nach englischem Recht nicht und der Richter war nicht gewillt, eine cause of action für ein derartiges Recht zu schaffen. Sir Robert Megarry wies den Vorwurf, dass das Abhören des Telefons das Recht auf Privatsphäre des Klägers verletzte, mit folgenden Worten zurück: „(I)t is no function of the courts to legislate in a new field. The extension of the existing laws and principles is one thing, the creation of an altogether new right is another. At times judges must, and do, legislate; but as Holmes J once said, they do so only interstitially, and with molecular rather than molar motion (...). Anything beyond that must be left for legislation. No new right in law, fully-fledged with all the appropriate safeguards, can spring from the head of a judge deciding a particular case; only Parliament can create such a right.“ 240
Dieser Passus verdeutlicht, wie sehr die Effektivität des Individualrechtsschutzes durch sogenannte residual rights vom richterlichen Selbstverständnis abhängt. Vom Parlament selbst war zumindest zu Diceys Zeiten wenig Schutz zu erwarten. Vielmehr wurde das Parlamentsgesetz in erster Linie als Mittel zur Beschränkung der Freiheit des Individuums durch Einräumung immer weiter reichender exekutiver Eingriffsbefugnisse benutzt. Doch auch das common law, welches typischerweise als Garant der Freiheit des Individuums verstanden wurde, musste diesem Anspruch nicht zwangsläufig immer gerecht werden. 241 So war nicht ausgeschlossen, dass sich die Richterschaft 239
[1979] Ch 344. Malone v Metropolitan Police Commissioner [1979] Ch 344, 372. 241 Siehe Malone v Metropolitan Police Commissioner [1979] Ch 344. Der EGMR entschied letztlich zugunsten Malones, vgl. Malone v United Kingdom (1984) 7 EHRR 14, 240
§ 4 Prägende Komponenten
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selbst, wie im Fall Elias v Pasmore 242, über allgemein anerkannte bürgerliche Rechte hinwegsetzte: „(T)he interests of the State must excuse the seizure of documents which seizure would otherwise be unlawful.“
Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass der negativ-unmittelbare Schutz von Freiheiten des Individuums durch das common law gegenüber der Exekutive defizitär und stark vom goodwill der Richterschaft abhängig ist. Gegenüber der Legislative bietet dieser Ansatz naturgemäß gar keinen Schutz. Akte des Parlaments, die bürgerliche Freiheiten von Minderheiten verletzen, sind außerhalb der Reichweite des common law. Craig formuliert dies treffend wie folgt: „If the majority within Parliament did enact legislation which is detrimental to minority interests, no sanctuary can be expected from the common law. When representative democracy proves incapable of aligning the interests of the elected representatives with the nation as a whole, so that some are constitutionally disadvantaged, the oppressed can but hope for a shift in their political fortune.“ 243
bb) Mittelbar-positiver Schutz Trotz des soeben festgestellten Befunds gibt es allerdings – auch nach klassischem Verfassungsverständnis – eine Möglichkeit, nach der das common law freiheitsschützende Wirkung – sogar gegenüber dem Gesetzgeber – entfalten kann. 244 Im Bereich der gesetzesakzessorischen Verwaltung können die Common-LawGrundsätze zur Gesetzesinterpretation als Transmissionsriemen für die Durchsetzung individueller Freiheiten dienen. Zwar dürfen die Gerichte nach traditionellem Verständnis die Parlamentssouveränität nicht durch eine kassatorische Normenkontrolle in Frage stellen; dafür können sie aber die Gesetze entsprechend der positiven freiheitsschützenden Prinzipien des common law 245 auslegen und diesen Prinzipien somit eine nicht zu unterschätzende Wirkung verleihen. Bei nicht da keine Rechtsgrundlage für das Handeln der Exekutive ersichtlich sei. Daraufhin wurde der nicht unumstrittene Interception of Communication Act 1985 erlassen. 242 Elias v Pasmore [1934] 2 KB 164, 173. 243 Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 38. 244 Vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 413: „Powers, however extraordinary, which are conferred or sanctioned by statute, are never really unlimited, for they are confined by the words of the Act itself, and, what is more, by the interpretation put upon the statute by the judges.“ 245 Wie dieser positive Gehalt genau zu bestimmen ist, bleibt allerdings unklar. Zumeist finden sich lediglich Hinweise auf „allgemein anerkannte fundamentale Rechte“ oder ähnlich diffuse Verweise. Anerkannt ist jedoch, dass sich ihr Gehalt nicht allein durch einen Rückschluss von den gerichtlich festgestellten (negativen) Common-Law-Rechten,
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
eindeutiger Regelung wird gemäß der sogenannten presumptions of interpretation vermutet, dass es nicht Wille des Gesetzgebers war, anerkannte Freiheiten des Individuums durch das betreffende Gesetz zu verletzen. 246 Dem common law wohnt demnach mittels der Gesetzesauslegung ein individualrechtsschützendes Potential inne, das je nach richterlichem Verfassungsverständnis unterschiedlich genutzt werden kann. 247 Diese Möglichkeit wird von Dicey zwar angedeutet, ihr volles Potential konnte jedoch zu den Hochzeiten der Doktrin der Parlamentssouveränität nicht zur vollen Entfaltung gelangen. d) Fazit Abgesehen von dieser – nicht zu unterschätzenden – Möglichkeit, das Individuum im Wege richterlicher Gesetzesauslegung vor legislativem Unrecht zu schützen, ist das traditionelle britische Konzept des Schutzes fundamentaler Freiheiten von einer geradezu erschreckenden Ignoranz im Hinblick auf die Gefahren einer Diktatur der Mehrheit oder des elective dictatorship geprägt. Dies ist umso bemerkenswerter, als bereits Zeitgenossen Diceys sich dieses Gefährdungspotentials durchaus bewusst waren und Abhilfe forderten. So schrieb W. S. McKechnie schon 1912: „There is no justification, either in reason, equity, custom or common sense for a political system which places the liberty and property, lives and honour of one half of the community absolutely and legally at the mercy of the other half.“ 248
Dem Individuum kommen demnach nur die von der Mehrheit gewünschten freiheitsschützenden Wirkungen des Systems zugute. Theoretisch haben alle Bürger die gleichen Rechte, praktisch gesehen aber hat die Minderheit keine effektiven Rechte. Aufgrund der überwiegend zurückhaltenden Haltung des Staates und des eher pragmatischen britischen Rechtsverständnisses, das nicht so sehr vom Extremfall als vielmehr vom Normalfall her denkt und aus kontinentaleuropäischer Sicht geradezu naiv, ja fahrlässig erscheint, wurde dieser Umstand von der traditionellen Lehre jedoch für wenig besorgniserregend gehalten: dass heißt den Grenzen der Freiheiten des Individuums, erschließen lässt, sondern sich aus irgendwie gearteten normativen Idealen speist. 246 Vgl. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 13; siehe auch Ekkehart Stein, Der Mensch in der pluralistischen Demokratie. Die Freiheitsrechte in Großbritannien, 1964, S. 236 ff. 247 Siehe unten § 8 II.2. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Grenze zwischen restriktiver Interpretation und Nichtanwendung eines Gesetzes fließend ist. Diese Tatsache wird durch die nach rechtspositivistischem Verständnis klare Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Rechtssetzung und -auslegung eher verschleiert. Vgl. auch Trevor R. S. Allan, Law, Liberty and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 267. 248 W. S. McKenchie, The New Democracy and the Constitution, 1912 (Reprint 1971), S. 164.
§ 5 Das Verhältnis der Judikative zur Legislative
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„The genius of our constitution is that it is geared to the real world. We all know that Parliament will not pass statutes condemning blue-eyed babies to death so why worry because it could do so? If we try to alter our constitution to combat improbable eventualities, we may prevent too much.“ 249
§ 5 Das traditionelle Verfassungsverständnis und das Verhältnis der Judikative zur Legislative Das traditionelle Verfassungsverständnis, das heißt die zuvor geschilderten verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen sowie die ihnen zugrunde liegenden oder mit ihnen in Verbindung stehenden politikwissenschaftlichen bzw. rechtstheoretischen Überzeugungen, beeinflussen das interinstitutionelle Verhältnis der Gewalten. So besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem orthodoxen Verfassungsverständnis und der Rolle der Richterschaft im Verfassungsgefüge, der näher betrachtet werden soll. Welche Auswirkungen hat das traditionelle Verständnis in institutioneller, verfahrenstechnischer und methodischer Hinsicht? Welche machtpolitische Stellung kam der Richterschaft im Verfassungsgefüge tatsächlich zu? Nach der Dicey’schen Orthodoxie ist die Demarkationslinie zwischen richterlichen und legislativen Aufgaben auf den ersten Blick glasklar: Die Legislative setzt Recht, die Richterschaft interpretiert es und wendet es an. 250 Lord Bridge erklärte: „In our society the rule of law rests upon twin foundations: the sovereignty of the Queen in Parliament in making the law and the sovereignty of the Queen’s court in interpreting and applying the law.“ 251
Im Folgenden soll dieser theoretische Ansatz im Hinblick auf seine tatsächlichen institutionellen, verfahrensmäßigen und methodischen Auswirkungen hin untersucht werden, um die – wie noch deutlich werden wird – weitreichende Unterordnung der Richterschaft in dieser Zeit näher zu beleuchten.
249 Simon Lee, Comment on „The Limits of Parliamentary Sovereignty“ by Trevor R. S. Allan, [1985] P.L. 633. 250 In Deutschland wird es überwiegend für undurchführbar gehalten, mit dieser Dichotomie die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bestimmen, vgl. Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit – Funktion und Funktionsgrenzen im demokratischen Staat, in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1977, S. 99; Josef Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1091 f. 251 X v Morgan-Grampian (Publishers) Ltd [1991] AC 1, 48.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
I. Die institutionellen Auswirkungen – keine Verfassungsgerichtsbarkeit Zunächst einmal ist es nicht weiter verwunderlich, dass angesichts des positiven und negativen Bedeutungsinhalts der Doktrin der Parlamentssouveränität das britische Verfassungssystem eine Verfassungsgerichtsbarkeit, das heißt ein Gericht, das sich ausschließlich mit Fragen der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns befasst und zudem ein Kassationsrecht besitzt, bis heute nicht kennt. 252 Bereits die verfassungsmäßige Ausgangslage bietet in Großbritannien grundsätzlich keinen Nährboden für ein Verfassungsgericht. Die Verfassung eines Staates wird aus kontinentaleuropäischer Sicht vielfach als Vermächtnis des demokratischen pouvoir constituant begriffen. So gesehen schützt ein Verfassungsgericht die Volkssouveränität im Sinne des pouvoir constituant gegenüber Abweichungen der pouvoirs constitués. 253 Ein derartiger Ansatz ist dem britischen Verfassungsverständnis, wie bereits geschildert, hingegen völlig fremd.
II. Die verfahrensmäßigen Auswirkungen – keine Normenkontrolle Aus den gleichen Gründen sind dem britischen Recht Normenkontrollverfahren jeglicher Art grundsätzlich fremd. Mangels Kontrollmaßstabs (und entsprechender Gerichtsbarkeit) sind dem deutschen Recht vergleichbare Verfahren, wie z. B. die abstrakte oder konkrete Normenkontrolle (Artikel 93 I Nr. 2 GG, Artikel 100 GG), undenkbar. Abgesehen davon, dass eine Normenkontrolle dem Grundsatz der Parlamentssouveränität widerspräche, wurde bereits von Bentham hervorgehoben, dass sie zudem auch die rule of law gefährde, da ihr ein retrospektives Element innewohne, welches im Widerspruch zu selbiger stünde. Inwieweit dieses Argument jedoch bei der orthodoxen Lehre verfing, kann nicht beurteilt werden. Fest steht aber, dass die
252 Bereits Dicey äußerte sich zu den unterschiedlichen Funktionen der Gerichte in Großbritannien und den USA – inbesondere in Bezug auf ihre verfassungsrechtliche Rolle bzw. „Nichtrolle“ – wie folgt: „The judiciary [UK], appointed by the executive under Parliamentary authority, is to resolve contests between subjects, or between subjects and the executive, according to the law, unwritten or statutory. (...) As a result of American history, the judiciary [USA] came to occupy the position of an arbiter between government, and the people, ensuring that rights, natural or human rights, (...) were not infringed by legislative or executive action.“ Vgl. Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 39 f. 253 Horst Dreier in: Horst Dreier (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2 (Art. 20 –82), 1998, Art. 20, Rn. 76; Karl-Peter Sommermann, Erläuterungen zu Artikel 20 GG, in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 2000, Art. 20, Rn. 143.
§ 5 Das Verhältnis der Judikative zur Legislative
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Idee einer Normenkontrolle, sei sie auch nur inzidenter Natur, dem traditionellen Verfassungsdenken fremd ist. Grundsätzlich kann ein Gesetz daher weder in formeller noch in materieller Hinsicht auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. 1. Keine Möglichkeit der Überprüfung formeller Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes Was die formelle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes betrifft, so scheitert eine Kompetenzkontrolle des Parlamentshandelns schon an der Allzuständigkeit des Parlaments. Bis zur Devolution-Gesetzgebung von 1998 waren aufgrund des unitaristischen Charakters Großbritanniens föderative Kompetenzstreitigkeiten überhaupt nicht vorstellbar. Somit entfiel ein gewichtiger Grund zur Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Ebensowenig kann das Gesetzgebungsverfahren überprüft werden 254, da dieses lediglich durch nichtjustiziable Konventionalregeln geregelt ist und die Lehre der manner and form restrictions 255 bzw. der self-embracing supremacy 256 von der Richterschaft oder herrschenden Lehre nicht aufgenommen wurde. Das Fehlen eines formellen Prüfungsmaßstabs wird zudem noch durch das Prinzip der noninterference 257 und die enrolled Bill rule 258 untermauert, welche in gewisser Weise den formellen Gegenpart zu der Absage an eine inhaltliche Prüfung von Gesetzen durch die Gerichte darstellen. 254 Anderslautende Gerichtsentscheidungen des Privy Council beziehen sich auf die Befugnis der Commonwealth Gerichte, vgl. z. B. A-G (NSW) v Trethowan [1932] AC 526; Bribery Commissioner v Ranasinghe [1965] AC 172. Eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf britische Gerichte wird von der orthodoxen Lehre mit der Begründung abgelehnt, dass – obwohl der Privy Council als britisches Gericht entschieden habe – es der Sache nach um die Kompetenzen eines Parlaments einer ehemaligen Kolonie ginge, welches seine Befugnisse aus Delegation des britischen Parlaments ableite und daher aus britischer Sicht ein nicht-souveräner Gesetzgeber sei. Aus diesem Grund könnten die für diese Parlamente geltenden Grundsätze nicht auf das britische Parlament übertragen werden. Vgl hierzu Sir William R. Wade, The Basis of Legal Sovereignty, [1955] C.L.J. 172; ders., Constitutional Fundamentals, 1980, S. 28 f.; O. Hood Phillips, Constitutional and Administrative Law, 1973, S. 70 ff.; ders., Reform of the Constitution, 1970, S. 153 ff. Kritisch hierzu Stanley A. De Smith / Rodney Brazier, Constitutional and Administrative Law, 1998, S. 94: „There is a common but wholly unfounded misconception that because New South Wales had a non-sovereign legislature and was held to be competent to ‚bind its own future action‘, it therefore follows that a sovereign legislature like the Untied Kingdom Parliament is incompetent to do so.“ 255 Siehe oben § 4 I.5. 256 Siehe unten § 4 I.5. 257 Vgl. Bilston Corp v Wolverhampton Corp [1942] 1 Ch 391. Siehe auch Philip A. Joseph, Constitutional and Administrative Law in New Zealand, 2001, S. 474 f. 258 Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn. 2002, S. 214.
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Durch das Prinzip der non-interference soll in erster Linie ein Missbrauch der Gerichte durch die Exekutive zum Nachteil des freien parlamentarischen Prozesses verhindert werde. Gemäß dieser Regel lehnen die Gerichte jegliche Einmischung in ein laufendes Gesetzgebungsverfahren ab. Es stellt sich allerdings die Frage, ob den Gerichten nicht eine Prüfungskompetenz in der Hinsicht verbleiben müsste, einen parlamentarischen Akt daraufhin untersuchen zu dürfen, ob er überhaupt ein „Gesetz“ darstellt. Denn nur ein Gesetz ist geeignet, Gehorsamsanspruch zu erheben. Durch die sogenannte enrolled Bill rule, die durch das common law gestützt wird, sind derartige Prüfungskompetenzen jedoch auf ein Minimum an formalen Kriterien reduziert. Richter Lord Campbell führt in Edingbourgh and Dalkeih Ry Co v Wanchope diesbezüglich aus: „All that a Court of Justice can do is to look to the Parliament roll, if from that it should appear that a bill has passed both Houses and received the Royal Assent, no Court of Justice can inquire into the mode in which it was introduced into Parliament, nor into what was done previous to its introduction, or what passed in Parliament during its progress in its various stages through both Houses.“ 259
Trägt ein Gesetz die sogenannte enacting clause, in der die Zustimmung des House of Lords, des House of Commons und der Queen verzeichnet ist, so kann kein Gericht die formelle Gültigkeit in Zweifel ziehen. 2. Keine Möglichkeit der Überprüfung materieller Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes Eine materielle Gesetzeskontrolle scheitert bereits am Fehlen eines höherrangigen Prüfungsmaßstabs, der sich nach der orthodoxen Lehre auch nicht aus im common law enthaltenen Elementen der rule of law ergibt. Zumindest dann nicht, wenn damit eine Nichtigkeitsfolge verbunden sein soll. 260 Zwar kam im frühen 17. Jahrhundert die Idee des „höherrangigen Rechts“ kurzfristig auf – anschaulich hierzu das berühmte Diktum von Lord Coke in Dr. Bonham’s Case 261 – ging aber, wie Lord Reid in British Railways Board v Pickin deutlich macht, Ende des 17. Jahrhunderts wieder unter: 259 (1842) 8 Cl. & F. 710. Kritisch hierzu: Richard Thomas Edwin Latham, The Law and the Commonwealth, in: William Keith Hancock (ed.), Survey of British Commonwealth Affairs, vol. 1, 1937, S. 523 f.; Rudolf Vollmer, Die Idee der materiellen Gesetzeskontrolle in der englischen Rechtsprechung, 1967, S. 10. 260 Vgl. unten § 4 IV.3.d). 261 Bonham’s Case (1610) 8 Co Rep 114a. Weitere in der Coke’schen Tradition stehende Gerichtsurteile sind z. B. Sir Henry Hobart in Lord Sheffield v Ratcliffe (1615) ER 80, 475 ff. und Day v Savage (1614) ER 80, 235 ff. sowie Chief Justice Holt in City of London v Wood (1701) ER 88, 1592 ff. Für eine ausführliche Darstellung des Falls vgl. Theo Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat. „The Sovereignty of Parliament“,
§ 5 Das Verhältnis der Judikative zur Legislative
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„In earlier times many learned lawyers seem to have believed that an Act of Parliament could be disregarded in so far as it was contrary to the law of God or the law of nature or natural justice, but since the supremacy of Parliament was finally demonstrated by the Revolution of 1688 any such idea has become obsolete.“ 262
III. Die methodischen Auswirkungen – die literal rule Es liegt nahe, dass das strenge Verständnis der orthodoxen Lehre auch Auswirkungen auf die Gesetzesauslegung, die sogenannte statutory interpretation, hat. Eine Konzeption, die das Parlament in das Zentrum des Rechtssystems stellt, sich als mehrheitsdemokratisch im strengen Sinne begreift, überwiegend rechtspositivistischer Natur ist und daher die Richterschaft klar auf die Rolle des Rechtsanwenders beschränkt, wird erwartungsgemäß einen großen Wert auf eine möglichst wortgetreue Auslegung legen. Es überrascht daher wenig, dass die Gesetzesauslegung im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch als „das Zeitalter der strengen Buchstabentreue“ (the age of strict literalism) bezeichnet wird, in dem „die Begriffsjurisprudenz im englischen Recht wahre Orgien feierte“. 263 Da – wie zuvor angedeutet – gerade aber der Interpretationstechnik großes Reformpotential innewohnt und Verfassungsverständnis und Interpretationstechnik somit in einem wechselseitigen Verhältnis stehen 264, sollen im Folgenden die Grundlagen der statutory interpretation und die klassische Anwendungspra1984, S. 203 f.; siehe auch Rudolf Vollmer, Die Idee der materiellen Gesetzeskontrolle in der englischen Rechtsprechung, 1969, 83 ff. 262 [1974] AC 768. Ebenso Chief Justice Willes in Lee v Bude and Torrington Junction Railway Company (1871) LR 6 CP 576: „(...) I would observe, as to these acts of Parliament, that they are the law of this land and we do not sit here as the Court of Appeal from Parliament. It once was said – I think in Hobart – that, if an act of Parliament were to create a man judge in his own case, the court might disregard it. That victim, however, stands as a warning rather than an authority to be followed. We sit here as servants of the queen and the legislator. Are we to act as regent over what is done by Parliament with the consent of the queen, lords and commons? I deny that any such authority exists. If an act of Parliament had been obtained improperly, it is for the legislator to correct it by repealing it, the courts are bound to obey it.“ 263 Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001, S. 780. 264 Schon Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers verweisen in Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, auf den signifikanten Einfluss der Interpretationstechnik auf das Rechtssystem, ohne die Wechselseitigkeit der Bezüge zu verkennen: „Few matters affect the style of a legal system in a modern state more than the methods used to interpret statutes.“ (S. 100) „Some legal systems evolve one method of statutory construction and some another; prima facie it seems likely that each system evolves a method which fits the
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
xis skizziert werden. Da bezüglich der Gesetzesauslegungspraxis im Vereinigten Königreich weitgehende Einigkeit besteht und eine Auswertung der nahezu unüberschaubaren Kasuistik den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird in diesem Zusammenhang auf bereits vorhandene Literatur 265 Bezug genommen und nur exemplarisch auf einige ausgesuchte Fallbeispiele eingegangen. Abschließend werden die Gründe dieser Entwicklung erörtert. 1. Grundlagen der statutory interpretation und ihre Anwendungspraxis Karl Larenz schrieb in dem Vorwort zu seiner ersten Auflage der „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“, dass die Methodenlehre einer Wissenschaft deren Reflexion auf ihr eigenes Tun sei. 266 Betrachtet man die akademische Literatur in Großbritannien über die Methodik der Gesetzesauslegung, so scheint die Bereitschaft zur Eigenreflektion lange Zeit eher gering gewesen zu sein. 267 Wolfgang Fikentscher spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „Dürre der englischen Methodenlehre“ 268. Damit möchte er nicht in Abrede stellen, dass die englische Jurisprudenz methodisch arbeitet – im Gegenteil. Vielmehr problematisiere man diese Methodik nur ungern. „Es wird wohl ewig das Geheimnis der Engländer bleiben, mit einem derartigen Minimum von methodischer Wissenschaft im Recht ein derartiges Optimum von sachlich überzeugender Entscheidungspraxis zu erzielen.“ 269 other features of that system, and we believe this is the case with regard to England and America.“ (S. 103). 265 Für eine umfassende Übersicht zu diesem Thema, vgl. Francis Bennion, Statutory Interpretation, 1997; John Bell / George Engle, Cross on Statutory Interpretation, 1995; C. Manchester / D. Salter / P. Moodie / B. Lynch, Exploring the Law: The Dynamics of Precedent and Statutory Interpretation, 2000; Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975; Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001. 266 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1979. 267 Franz Neumann erklärt das Fehlen einer science of law in Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland mit den fundamentalen Unterschieden zwischen „Rechtsstaat“ und rule of law. Während bei der rule of law der Fokus des Interesses auf der Bestimmung des Gesetzesinhalts durch das Parlament liege, interessiere sich die deutsche Rechtsstaatstheorie nicht sonderlich dafür, von wem das Recht stamme. Ihr Schwerpunkt des Interesses liege darauf, das irgendwie vorhandene Recht (möglichst freiheitsfördernd) zu interpretieren. Vgl. Franz Neumann, The Rule of Law: Political Theory and the Legal System in Modern Society, 1986, S. 185. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts kann man Ansätze zur Herausbildung einer eigenständigen Methodenlehre verzeichnen, die sich nicht in einem reflexartigen Aufgreifen der Rechtsprechung erschöpfte. Vgl. z. B. das seit 1976 in drei Auflagen erschienene Werk von Sir Rupert Cross, Statutory Interpretation. 268 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 149 f.
§ 5 Das Verhältnis der Judikative zur Legislative
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Seit Erscheinen des höchst einflussreichen, wenn auch grob vereinfachenden Artikels Statutory Interpretation in a Nutshell von Professor J. Willis in der Canadian Bar Review 1938 270 wurde das britische Denken von der Vorstellung dominiert, es gäbe drei sogenannte Auslegungsregeln (rules of statutory interpretation), die der Richter nach eigenem Ermessen anwenden würde: die literal rule (das Wortlautkriterium), die golden rule 271 und die mischief rule 272. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass schon zu Diceys Zeiten vier verschiedene Kriterien der Auslegung bekannt waren, die aber in höchst unterschiedlicher Gewichtung zur Geltung kamen. Es handelt sich hierbei im Wesentlichen um die vier auch in Deutschland 273 seit Savigny anerkannten Auslegungskanones: Wortsinn, Systematik, Geschichte und Zweck.
269 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 150. 270 J. Willis, Statutory Interpretation in a Nutshell, (1938) 16 Canadian Bar Review 1. 271 Die golden rule ist ein Zwitterwesen, dem sowohl zweckbezogene als auch systematische Ansätze innewohnen und deren Ausgangspunkt immer noch die Wortlautinterpretation ist. Vereinfacht ausgedrückt besagt sie, dass von einer wortgetreuen Auslegung in denjenigen Fällen abgewichen werden darf, in denen eine strikt am Wortlaut orientierte Auslegung zu absurden oder dem offensichtlichen Willen des Gesetzgebers widersprechenden Ergebnissen führen würde. B. Parke führte in Becke v Smith (1836) 2 M & W 191 aus: „It is a very useful rule, in the construction of statute, to adhere to the ordinary meaning of the words used, and to the grammatical construction, unless that is at variance with the intention of the legislature, to be collected from the statute itself, or leads to manifest absurdity or repugnance, in which case the language may be varied or modified, so as to avoid such inconvenience, but no further.“ Vgl. auch Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 122 m.w. N. 272 Die mischief rule oder sogenannte „Abhilfe-Regel“ wurde erstmals 1584 von Lord Edward Coke im Heydon’s Case formuliert. Sie steht in unauflöslichem Zusammenhang mit dem common law und lässt teleologische Züge erkennen. Ihre vier Grundregeln zur Vorgehensweise bei der Gesetzesinterpretation lauten vereinfacht ausgedrückt wie folgt: 1. Wie war die Rechtslage nach common law, bevor das Gesetz erlassen wurde? 2. Was war das Defizit bzw. der Missstand an der ursprünglichen Rechtslage? 3. Wie beabsichtigte das Parlament, diesen Missstand zu beheben? 4. Die Gerichte sollten ein Gesetz in der Weise auslegen, dass dem vom Parlament gewählten Abhilfemechanismus größtmöglichste Effektivität zukommt und der Missstand bestmöglichst beseitigt wird. Vgl. auch Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 120 f. m. w. N. Während vor dem 19. Jahrhundert die Anwendung der mischief rule nicht nur auf Fälle mit unklarem Wortlaut beschränkt war, wird sie seit dem 19. Jahrhundert selbst in derartigen Konstellationen kaum noch berücksichtigt. 273 Vgl. z. B. Winfried Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), 20 ff.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
a) Die Wortlautauslegung oder literal rule Erklärtes Ziel der Auslegung war es, den „Willen des Gesetzgebers“ zu ermitteln. 274 Hierfür kommen grundsätzlich zwei Wege in Betracht: Gemäß der „subjektiven Theorie“ die Erforschung des historisch-psychologischen Willens des Gesetzgebers oder aber gemäß der „objektiven Theorie“ die Erschließung des dem Gesetz selbst innewohnenden Sinns. 275 Während also die objektive Theorie zur Bestimmung des gesetzgeberischen Willens davon ausgeht, was der Gesetzgeber tatsächlich gesagt hat, fragen sich die Anhänger der subjektiven Theorie, was der Gesetzgeber hat sagen wollen. Schon Karl Larenz wies zu Recht darauf hin, dass beiden Theorien nur eine Teilwahrheit zugrunde liege und keine ohne Einschränkungen akzeptiert werden könne. 276 In Großbritannien wurde jedoch überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, der Schwerpunkt auf eine objektive Herangehensweise gelegt. In Black-Clawson International Ltd. v Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg AG 277 erläuterte Lord Reid: „We often say that we are looking for the intention of Parliament, but that is not quite accurate. We are seeking the meaning of the words which Parliament used. We are seeking not what Parliament meant but the true meaning of what they said.“
Um dieses Ziel zu erreichen, wandten sich die Gerichte an den Wortlaut einer Norm. Berücksichtigt wurde hierbei sowohl der allgemeine als auch der besondere Sprachgebrauch unter strenger Berücksichtigung der grammatikalischen Regeln. Zudem durften sogenannte rules of language, wie z. B. ejusdem generis 278, noscitur
274
Zweifel an der Existenz eines derartigen Willens des Gesetzgeber wurden von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts gehäuft geäußert. Vgl. R. W. M. Dias, Jurisprudence, 1976, S. 219; J. A. Corrie, The Interpretation of Statutes, 1935, reprinted in E. Driedger, The Construction of Statutes, 1976, S. 203; N. J. Jamieson, Towards a Systematic Statute Law, [1976] Otago Law Review 568. So wurde die Vorstellung der legislative intention u. a. als Mythos bzw. Fiktion bezeichnet. Bennion hingegen äußerte sich hierzu ohne nähere Erläuterung wie folgt: „The law maker may be difficult to identify. It is absurd that he does not exist.“ und „Clearly the idea there is no true intention behind an Act of Parliament is anti-democratic.“ Francis Bennion, Statutory Interpretation. A Code, 1984, 227. J. W. Hurst, Dealing with Statutes, 1982, S. 33, sieht den Willen des Gesetzgebers zwar als Fiktion an. Diese sei aber dadurch berechtigt, dass sie der ständigen Erinnerung daran diene, dass all diejenigen, die sich mit der Interpretation eines Gesetzes befassen, sich auf einem Rechtsgebiet bewegen, in dem sie nicht frei sind, public policy nach ihren eigenen Überzeugungen zu definieren. 275 Vgl. z. B. auch Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in AngloAmerican Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 100 ff. 276 Er schlägt daher vermittelnd die Ermittlung des sogenannten „normativen Sinnes des Gesetzes“ vor, vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1979, S. 302 ff. 277 [1975] AC 591.
§ 5 Das Verhältnis der Judikative zur Legislative
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a sociis 279 und expressio unius 280 zur Hilfe genommen werden. Dies veranlasste Pollock im Jahre 1857 das richterliche Selbstverständnis wie folgt zu beschreiben: „Judges are philologists of the highest order.“ 281
Die Worte einer gesetzlichen Norm sind hier also gleichsam Ausgangspunkt und Grenze ihrer Auslegung. Während bis ungefähr 1830 die Gerichte nur vereinzelt einen absoluten Vorrang der Wortlautauslegung anerkannt hatten, scheint dieser Grundsatz ab 1844 durch die Entscheidung von Chief Justice Lord Tindal im Sussex Peerage Case endgültig etabliert: „If the words of the statute are in themselves precise and unambiguous, then no more, can be necessary than to expound those, words in their natural and ordinary sense. The words themselves alone do in such case, best declare the intention of the lawgiver. But if any doubt arises from the terms employed by the Legislature, it has always been held a safe mean of collecting the intention, to call in aid the ground and cause of making the statute and to have recourse to the preamble ... “ 282
Demnach ist nur bei mehrdeutigen oder unklaren Worten 283 ein Rückgriff auf andere Auslegungskriterien zulässig. Durch die Anwendung der literal rule und der Akzeptanz ihres Vorrangs gegenüber anderen Auslegungstechniken verweist sich die Richterschaft selbst in enge Grenzen.
278 Diese Regel besagt, dass, wenn eine Aufzählung von Wörtern mit einem allgemeinen Begriff endet, davon auszugehen ist, dass der allgemeine Begriff nur solche Dinge beinhaltet, die der gleichen Klasse der zuvor genannten Wörter entsprechen. Vgl. Morag McDowell / Duncan Webb, The New Zealand Legal System. Structures, processes and legal theory, 1998, S. 329. 279 Diese Auslegungsregel besagt, dass die Bedeutung eines Wortes durch die ihm benachbarten Worte gefärbt wird, insbesondere dann, wenn es sich um eine Aufzählung von Wörtern handelt. Vgl. Morag McDowell / Duncan Webb, The New Zealand Legal System. Structures, processes and legal theory, 1998, S. 328. 280 Diese Regel besagt, dass es sich dann um eine abschließende Aufzählung handelt, wenn sich eine Regelung auf eine spezifische Sache bezieht bzw. eine Aufzählung von spezifischen Dingen beinhaltet. Vgl. Morag McDowell / Duncan Webb, The New Zealand Legal System. Structures, processes and legal theory, 1998, S. 329. 281 Ex parte Davis (1857) 5 W.R. 522, 523. 282 Sussex Peerage Case (1844) 11 Cl. & Fin. 85, 1034 (1057). 283 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die britischen Richter tendenziell die Mehrdeutigkeit oder Unklarheit eines Wortes nur unter sehr engen Voraussetzungen annahmen. Diesem Ansatz ist der Vorwurf gemacht worden, dass eine gewisse Bedeutungsungewissheit der Sprache immanent sei und die Annahme des plain meaning eines Gesetzeswortlauts daher eine Unterstellung sei, die letzten Endes dazu diene, den versteckten Einfluss von Werturteilen durch die Richterschaft zu kaschieren. Vgl. Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 107.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
b) Die historische Auslegung Für eine Berücksichtigung der Entstehungs- und Vorgeschichte des Gesetzes blieb dementsprechend nur noch sehr wenig Raum. Unter der Vorgeschichte einer Norm ist der allgemeine historische Hintergrund zu verstehen, der zum Erlass der Regelung geführt hat. Hierunter fallen unter anderem schon vor dem Inkrafttreten des Gesetzes bestehende Common-LawRegelungen. Derartige Regelungen konnten zumindest bei sogenannten Konsolidierungsgesetzen, das heißt Gesetzen, die ohne Veränderung der materiellen Rechtslage schon bestehendes Recht in einem neuen Gesetz zusammenfassen, berücksichtigt werden. 284 Der Heranziehung der Entstehungsgeschichte stand weitestgehend die exclusionary rule entgegen, nach der vor allem die Berücksichtigung der Protokolle zu den Parlamentsdebatten, den Hansards, untersagt war. 285 c) Die systematische Auslegung Bei der systematischen Auslegung findet der Normzusammenhang Berücksichtigung. Hierunter ist in Großbritannien zum einen der engere Regelungszusammenhang der Norm, wie z. B. die anderen Vorschriften des Gesetzes, die Präambel oder der am Ende des Gesetzes aufgeführte Kurztitel (short title), zu verstehen. 286 Des Weiteren wird über die Systematik des einzelnen Gesetzes hinaus der Zusammenhang der Vorschrift in dem betreffenden Teilrechts- oder Rechtsgebiet unter Einbeziehung des common law berücksichtigt (weiterer gesetzlicher Zusammenhang). 287 Auch dem Normzusammenhang verbleibt naturgemäß aufgrund der Dominanz der literal rule nur ein geringer Anwendungsbereich. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Berücksichtigung von Common-Law-Prinzipien, völkerrechtlichen Verträgen und allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts von Relevanz.
284
Francis Bennion, Statutory Interpretation. A Code, 1984, S. 517 f. Vgl. z. B. Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 4 th edn. 2002, 125 f. Dies hat sich in der jüngeren Vergangenheit durch Pepper v Hart [1992] 2 WLR 1032 geändert. 286 Sogenannter „internal context and intrinsic aids“, vgl. z. B. Morag McDonald / Duncan Webb, The New Zealand Legal System. Structures, processes & legal theory, 1998, S. 308 ff.; Sir Rupert Cross, Statutory Interpretation, 1987, S. 112 ff. 287 Sogenannter „external context and extrinsic aids“, vgl. z. B. Morag McDonald / Duncan Webb, The New Zealand Legal System. Structures, processes & legal theory, 1998, S. 318 ff. Die common-law-konforme Interpretation weist eine große Nähe zur teleologischen Auslegung auf, so dass eine eindeutige Zuordnung schwer fällt. 285
§ 5 Das Verhältnis der Judikative zur Legislative
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Das common law gewährte zahlreiche Rechte bzw. Freiheitspositionen 288 und rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze. 289 Legten die Gerichte ein Gesetz aus, so vermieden sie es, soweit möglich, diese Rechte aufzuheben oder auch nur zu beeinträchtigen. Die Gerichte betrachteten es als „(...) sound rule to construe a statute in conformity with the common law rather than against it.“ 290 In diesem Zusammenhang wird häufig von den sogenannten presumptions of interpretation gesprochen. Diese Vermutungen bewirken eine Art Beweislastumkehr und sollen die Bestimmung des Willens des Gesetzgebers bei unklarem Wortlaut erleichtern. So gibt es zum Beispiel die Vermutung, dass der Gesetzgeber in Übereinstimmung mit dem common law 291 und mit internationalen Verpflichtungen 292 handeln möchte, und dass er eine Rückwirkung 293 des erlassenen Gesetzes nicht wünscht. Allerdings musste der Wortlaut für eine derartige Auslegung „offen“ 294 oder „geeignet“ 295 sein. Denn im Falle eines explizit und unmissverständlich kundgetanen Willens des Parlaments, gegen derartige Werte verstoßen zu wollen, konnte nur schwerlich mit der Annahme operiert werden, dass genau dies nicht der Wille des Gesetzgebers gewesen sei. Was das bedeutet, wird durch das Diktum von Justice Wright zu dem im common law verbürgten Rückwirkungsverbot deutlich: „(...) a retrospective operation is not to be given to a statute ... unless that effect cannot be avoided without doing violence to the language of the enactment. If the enactment is expressed in language which is fairly capable of either interpretation, it ought to be construed as prospective only.“ 296
Somit kommt der richterrechtskonformen Auslegung bei offenem Widerspruch ein geringeres Gewicht als dem grammatikalischen Element zu. Trotzdem bieten die Auslegungsvermutungen, insbesondere im öffentlichen Recht, einen gewissen Spielraum für richterliche Intervention und Kreativität. Dieser Spielraum wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings eher zurückhaltend genutzt. Nach einer kurzen Phase relativen judicial activisms, der im 19. Jahrhundert dazu führte, dem Wortlaut nach unbegrenzte Ermessensbefugnis288 Besonders bedeutend waren das Eigentum (vgl. Cooper v Wandsworth Board of Works (1863) 14 CB (NS) 180, 187) und die Freiheit der Person (R v Halliday, ex p. Zadig [1917] AC 260, 274; R v Cannon Row Police Station Inspector, ex parte Brady (1921) 126 LT 9, 13). 289 Darunter befand sich z. B. das Rückwirkungsverbot, vgl. Re Athlumney [1898] 2 QB 547, 552 per Wright J. 290 R v Morris (1867) LR 1 CCR 90, 95; bestätigt in Lord Eldon v Hedley Brothers [1935] 2 KB 1, 24. 291 R v Morris [1867] LR 1 CCR 90, 95. 292 Bloxham v Favre (1883) 8 PD 101, 104. 293 Phillips v Eyre (1879) LR 6 QB 23. 294 R v Bishop of Salisbury [1901] 1 QB 573, 577 per Wills J. 295 Collman v Mills [1897] 1 QB 396, 399 per Wills J. 296 Re Athlumney [1898] 2 QB 547, 552 per Wright J.
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
se der Exekutive an die aus der rule of law fließende Notion der natural justice zu binden und dementsprechend eng auszulegen, wurden die Gerichte nach 1914 wieder sehr viel unterwürfiger und legten die Gesetze weitgehend wortgetreu aus. Wenn das Parlament einem Minister Ermessensspielräume 297 gewährte, so z. B. „the minister may ...“, „has reasonable cause to believe ...“, 298 waren die Gerichte sehr zurückhaltend in der Beschränkung derartiger Befugnisse. Sie waren ängstlich darauf bedacht, die Macht der Exekutive während zweier Weltkriege und später bei der Entwicklung eines zentralisierten Wohlfahrtsstaates nicht (über Gebühr) zu behindern. Einige Stimmen behaupten, dass die Gerichte dieser Zeit „more executive-minded than the executive“ waren. d) Die teleologische Auslegung Für die Heranziehung des Gesetzeszwecks oder -ziels galt Ähnliches wie für den Gesetzeszusammenhang. Zwar fand z. B. der Schutzzweck der Norm gelegentlich Berücksichtigung, 299 oder es wurden zum Teil ausführliche Erörterungen über die dem Gesetz zugrunde liegenden komplexen Interessenabwägungen angestellt. 300 Allerdings gebot auch hier der Vorrang der literal rule, den Zweck des Gesetzes bei einem eindeutigen Wortlaut letztlich unberücksichtigt zu lassen. Und obwohl eine Reihe von Entscheidungen ergingen, in denen die Gerichte den 297
Zu den Besonderheiten des britischen Ermessensbegriffs, der, anders als der deutsche Begriff, dem prinzipiell eine Gesetzesbindung zugrunde liegt, grundsätzlich eher im Sinne eines ungebundenen oder freien Entscheidungsspielraums zu verstehen ist vgl. Ralf Brinktrine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England – Eine rechtsvergleichende Untersuchung von Entscheidungsspielräumen der Verwaltung im deutschen und englischem Verwaltungsrecht, 1998. Siehe auch Paul Craig, Discretionary power in modern administration – Landesbericht Großbritannien, in: Martin Bullinger (Hrsg.), Verwaltungsermessen im modernen Staat. Landesbericht und Generalbericht der Tagung für Rechtsvergleichung 1985 in Göttingen, 1986, S. 79 ff.; Christoph Knill/ Daniela Winkler, Konvergenz oder Divergenz nationaler Verwaltungsstrukturen? Der Effekt der Europäisierung am Beispiel der Umweltverträglichkeitsprüfung in Deutschland und England, VerwArch 98 (2007), 13 f. Vgl. zur „finalen Normstruktur“ britischer Gesetze, die in untrennbarem Zusammenhang mit den discretionary powers steht Rüdiger Breuer, Zur Lage der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 36 (2003), 280 ff: „Gesetzliche, an die Verwaltung gerichtete Aufträge und Zielsetzungen, Gestaltungsdirektiven, Einschätzungsprärogativen, Abwägungsgebote und Ermessensspielräume stehen in einem untrennbaren Zusammenhang, der das englische Verwaltungsrecht durchzieht.“ (S. 281) Im Gegensatz hierzu steht die vorwiegend „konditionale Normstruktur“ deutscher Gesetze. 298 Zur Verwendung einer subjective language vieler Ermächtigungsnormen, die nicht auf eine bestimmte Tatsache, sondern auf behördliche Einschätzungen von Tatsachen und Überzeugungen abstellt vgl. Rüdiger Breuer, Zur Lage der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 36 (2003), 281 m.w. N. 299 Vgl. Taylor v Corporation of Oldham (1876) 4 Ch D 395, 408 f. per Jessel MR. 300 Vgl. Churm v Dalton Main Collieries Ltd. [1916] 1 AC 612, 631 per Lord Shaw.
§ 5 Das Verhältnis der Judikative zur Legislative
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Anwendungsbereich einer scheinbar eindeutigen Vorschrift unter Berufung auf den Zweck ausdehnten oder einschränkten, 301 wurde auch hier der Vorrang der literal rule überwiegend akzeptiert. 2. Fazit a) Das Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander Trotz der soeben geschilderten Grundsätze wäre es verfehlt, den Vorrang der literal rule bei eindeutigem Wortlaut als absolute Regel zu begreifen. Sie stellt vielmehr eine Prima-facie-Regel dar, von der im Einzelfall aus gegebenem Anlass abgewichen werden konnte. 302 So äußerte sich Chief Baron Pollock diesbezüglich: „... (W)here the grammatical construction is quite clear and manifest and without doubt, that construction ought to prevail, unless there be some strong and obvious reason to the contrary. (...) (H)owever plain the apparent grammatical construction of a sentence may be, if it be perfectly clear from the content of the same (...) Act of Parliament (...) that the apparent grammatical construction cannot be the true one, then that which upon the whole is the true meaning, shall prevail in spite of the grammatical construction of a particular part of it.“ 303
Auch die einschlägigen Lehrbücher dieser Zeit verweisen ausdrücklich auf den Prima-facie-Charakter dieser Regel. Das Fehlen einer klaren Wertigkeit bzw. Hierarchie der übrigen Auslegungskriterien untereinander sowie ihr zum Teil widersprüchlicher Charakter nährte jedoch den Verdacht, dass sich die Gerichte jeweils derjenigen Maxime bedienten, die sie zu dem von ihnen gewünschten Ergebnis führen würde. 304 Weder maßen alle Gerichte den Auslegungskriterien das gleiche Gewicht bei, noch ließ die Rechtsprechung der einzelnen Gerichte eine klare Linie erkennen. Verschiedene Richter ein und desselben Spruchkörpers vertraten unterschiedliche Meinungen, und in einigen Fällen variierten selbst einzelne Richter in ihren Aussagen zur Gesetzesinterpretation von Fall zu Fall. 305 Trotz dieses sehr ambivalenten Bildes, welches verdeutlicht, dass selbst nach orthodoxem Verständnis die Wörter eines Parlamentsakts nicht immer sakrosankt
301 Vgl. mit einigen Beispielen Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001, S. 861. 302 Francis Bennion, Statutory Interpretation. A Code, 1997, S. 325. 303 Waugh v Meddleton (1853) 8 Exch 352, 357. 304 Vgl. J. A. G. Griffith, Judicial Politics since 1920: A Chronicle, 1993, S. 10 sowie das Vorwort von Sir Rupert Cross, Statutory Interpretation, 1976. 305 Vgl. mit weiteren Nachweisen Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001, S. 879 ff.
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waren, blieb die außerordentlich starke Gewichtung der literal rule in der Rechtspraxis bis weit ins 20. Jahrhundert ein Faktum. 306 b) Gründe für die Auslegungspraxis Die Gründe für diesen Befund sind vornehmlich in den verfassungsrechtlichen, rechtstheoretischen und verfassungspolitischen Rahmenbedingungen dieser Zeit zu sehen. Auch hier ist auf die Dominanz der Doktrin der Parlamentssouveränität im verfassungsrechtlichen System hinzuweisen. Die zentrale Stellung des Parlaments und die hiermit verbundene Autorität forderten eine klare Funktionstrennung zwischen Legislative und Judikative und förderten somit ein institutionsbezogenes Denken. Dies wurde von Dicey in noch nicht dagewesener Klarheit zum Ausdruck gebracht und prägte das Rollenverständnis (nicht nur) der Judikative. Es verwundert daher nicht, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die sogenannte Erklärungstheorie des Rechts (declaratory theory) Fuß fasste. Diese ursprünglich für das common law entwickelte Lehre besagt, dass die Richter lediglich bereits bestehendes Recht deklarieren und leugnet ihre rechtsschöpferische Funktion. Dieses Verständnis wurde nun auf die Auslegung von Gesetzen übertragen. Die Judikative hatte sich auf die Rechtsanwendung zu beschränken, begriff sich förmlich als pures Exekutivorgan des Willens der Legislative, der als Befehl verstanden wurde. Diesem Anspruch konnte sie am besten durch eine möglichst wortgetreue Umsetzung des geschriebenen Gesetzeswortlauts nachkommen. Zweifel bezüglich der Existenz eines einheitlichen Parlamentswillens und der Fähigkeit, diesen in einer Norm (zweifelsfrei) zum Ausdruck zu bringen, 307 wurden, soweit überhaupt existent, zur Wahrung der Rechtssicherheit, der sozialen Stabilität und des öffentlichen Respekts für das Gesetz zurückgewiesen und durch die Bevorzugung eines objektiven Ansatzes zur Findung des parlamentarischen Willens aufgelöst. 308 Lord Halsbury bemerkte diesbezüglich: „Whatever the real facts may be I think that a court of law is bound to proceed on the assumption that the legislature is an ideal person that does not make mistakes.“ 309
306 So auch Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 101. 307 Zur Bedeutung sprachphilosophischer Gesichtspunkte vgl. Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001, S. 908 ff. 308 Vgl. auch Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 407. Dicey sieht in der Bindung an den objektiven Wortlaut einen Schutzmechanismus gegen Despotismus. Durch den Wortlaut binde sich die Legislative selbst, und durch die Gerichte werde sie an dem objektiv Gesagten festgehalten.
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In diesem Diktum spiegelt sich zum einen die Erkenntnis in die Dichotomie zwischen der Annahme einer unfehlbaren Legislative und dem Wissen um die menschliche Fehlbarkeit derjenigen, die die Gesetze entwerfen und verfassen, wider. 310 Andererseits fällt Lord Halsbury trotz dieser Erkenntnis ein eindeutiges Urteil darüber, wie dieses Problem zu lösen ist. In der grammatikalischen Auslegung findet diese Auffassung nunmehr folgerichtig ihre Umsetzung. 311 Diese Vorgehensweise wird zudem durch den zumindest mittelbar mit der Doktrin der Parlamentssouveränität zusammenhängenden Glauben gestützt, dass – sollte der Wortlaut eines Gesetzes unbeabsichtigt zu untragbaren Rechtsfolgen führen – das Parlament entsprechend seiner Aufgabe Willens und in der Lage sei, diesen Missstand prompt zu beseitigen. 312 Im Einklang mit der Bevorzugung der literal rule unter den Auslegungskriterien steht auch die Auffassung, die rule of law sei ein vornehmlich die Parlamentssouveränität unterstützendes Legalitätskriterium. Diese Sicht forderte die möglichst ungestörte Durchsetzung des parlamentarischen Willens, welche bestmöglich durch eine Selbstbeschränkung der Judikative in Form der Anwendung der literal rule erzielt werden konnte. Des Weiteren ließ sich auch das Kriterium der Rechtssicherheit aus britischer Sicht am besten durch eine wörtliche Auslegung gewährleisten. 313 So wurde davon ausgegangen, dass – aufgrund der soliden Rechtssetzungstechnik des britischen Parlaments und dem vergleichsweise detaillierten Charakter britischer Gesetze – in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Eindeutigkeit des Wortlautes klar auf 309
Income Tax Special Purposes Commissioner v Pemsel [1891] AC 531, 549. Vgl. Francis Bennion, Statutory Interpretation. A Code, 1984, S. 230 ff. 311 Noch klarere Beispiele für die Absicht der Gerichte, die Intention des Gesetzgebers allein im Wortlaut zu finden, bieten Sussex Peerage Case (1844) 11 Cl & Fin 85, 143 per Lord Tindal CJ: „The words themselves alone do, in such a case, best declare the intention of the lawgiver.“ Oder Salomon v Salomon & Co. Ltd. [1987] AC 22, 38 per Lord Watson: „‚Intention of the Legislature‘ is a common but slippery phrase, which popularly understood, may signify anything from intention embodied in positive enactment to speculative opinion as to what the legislature probably would have meant, although there has been an omission to enact it. In a Court of Law or Equity, what the Legislature intended to be done or not to be done can only be legitimately ascertained from what it has chosen to enact, either in express words, or by reasonable and necessary implication.“ 312 Vgl. Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 104 ff. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass dieser Glaube gelegentlich zu einer Zeitverschwendung des Gesetzgebers führte. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Fall Fisher v Bell [1961] 1 QB 394: Die Ausstellung eines flick-knife im Schaufenster eines Ladens wurde nicht als Angebot, sondern als invitatio ad offerendum klassifiziert und fiel somit nicht unter das gesetzliche Verbot des Verkaufs gefährlicher Waffen, welches daraufhin durch den Restriction of Offensive Weapons Act 1961 geändert wurde. 313 So bereits schon Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 407 f. 310
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
der Hand liege und daher der Wortlaut des Gesetzes den Willen des Parlaments korrekt wiedergäbe. Eine über den Wortlaut hinausgehende Erforschung des „parlamentarischen Willens“ auf der Basis unverlässlichen, wohl möglich mehrdeutigen Materials würde eher Nährboden für Kontroversen als Rechtssicherheit bieten. 314 Diese Ausführungen machen deutlich, wie sehr die Auslegungspraxis in Großbritannien Ausfluss des institutionellen Arrangements ist. Auch das damalige Demokratieverständnis begünstigte die Dominanz der literal rule in der Auslegungspraxis der Gerichte. Der untrennbare Zusammenhang zwischen der Allmacht des Parlamentes und der damaligen Vorstellung von einer repräsentativen Demokratie ermöglichte es, die Anwendung der literal rule nun auch noch mehrheitsdemokratisch zu begründen und zu legitimieren. Denn der Wille der Legislative steht nach diesem Verständnis für den Willen des Volkes. Rechtsschöpfung oder gar die Entscheidung politischer Fragen durch den Richter, dem jegliche demokratische Legitimation fehlte, musste als undemokratisch und daher als unangebracht betrachtet werden. Durch die Anwendung der literal rule konnten die Gerichte den Eindruck vermeiden, sie würden Recht schaffen. Ein weiterer Grund für die bereitwillige Fügung der Judikative in die Akzeptanz der literal rule mag auch die Natur der Gesetze gewesen sein, die in den vor den Gerichten verhandelten Rechtsstreitigkeiten Gegenstand der Auslegung waren. In der überwiegenden Zahl der Fälle – abgesehen von privatrechtlichen Streitigkeiten – handelte es sich um strafrechtliche Normen. 315 In derartigen Fällen liegt eine restriktive, respektive wörtliche, Auslegung nahe, allein schon aus dem Aspekt der grundsätzlichen Freiheit des Individuums, welchem im englischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts besonderes Gewicht beigemessen wurde. Insofern kann in der grammatikalischen Auslegung belastender Gesetze auch die methodologische Umsetzung des damaligen Staatsverständnisses gesehen werden. Letztlich fügt sich auch die rechtspositivistische Einbettung der Doktrin der Parlamentssouveränität in das Gesamtbild. Wenn Letztere als rule of recognition begriffen wird und damit die Gesetze als höchste Autorität anerkannt sind, liegt es nahe, ihre Umsetzung so wortgetreu und unverfälscht wie möglich zu fordern. 314
Für eine Diskussion der Validität dieser Argumente siehe Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 105 ff. Lord Simon of Glaisdale erklärt in Stock v Frank Jones (Tipton) Ltd [1978] ICR 347, 354: „(I)n a society living under the rule of law citizens are entitled to regulate their conduct according to what a statute has said, rather than by what it was meant to say or by what it would otherwise have said if a newly considered situation had been envisaged.“ 315 Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 225.
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Die beiden Urväter der englischen positivistischen Methodologie Bentham und Austin begrüßten beide ausdrücklich die wörtliche Auslegung. 316 Dennoch mag man sich weiterhin fragen, aus welchem Grund sich die Judikative so willig in diese untergeordnete Rolle gefügt hat, welche ihr durch die Akzeptanz der Dominanz der literal rule zuteil wurde. Der originäre Glaube an die Allmacht des Parlamentes und die damit verbundenen rechtsphilosophischen und politiktheoretischen Implikationen, verstärkt durch die kraftvollen Formulierungen Diceys 317, mögen eine und wohl auch die überzeugendste Antwort sein. Möglicherweise kommt auch anderen, z. B. machtpolitischen Faktoren eine nicht unwesentliche Bedeutung zu. So mag es eine Rolle gespielt haben, dass den Gerichten über das common law ein eigener Machtbereich (der der faktischen Rechtsschöpfung) verblieb, in den nach dem stillschweigenden Abkommen der balanced constitution (ursprünglich) nur ausnahmsweise – und zahlenmäßig selten – durch das Parlament eingegriffen wurde. Durch eine wörtliche Auslegung konnten diese Eingriffe noch weiter in Grenzen gehalten werden. Zwar bedeutet eine wortgetreue Auslegung nicht notwendigerweise eine Beschränkung des Anwendungsbereichs einer Norm, 318 aufgrund des überwiegend detaillierten Charakters der britischen Gesetzgebung 319 war dies jedoch zumeist der Fall. 320 316
Patrick S. Atiyah / Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987, S. 241 m.w. N. 317 Zum Einfluss Diceys auf die Rechtspraxis siehe Peter Birks, Adjudication and Interpretation in the Common Law: A Century of Change, in: Basil S. Markesinis (ed.): Bridging the Channel. The Clifford Chance Lectures, 1996, S. 135 ff. 318 Die grammatikalische Auslegung ist als solche erst einmal neutral und verhindert sowohl eine den Geltungsbereich einer Norm über den Wortlaut hinaus ausdehnende wie beschränkende Interpretation. Bei sehr detaillierten Regelungen ist die Gefahr einer ausdehnenden Auslegung jedoch sehr gering, so dass der buchstabengetreue Auslegung faktisch zumeist restriktive Bedeutung zukam. 319 Sir Rupert Cross spricht von Gesetzen, die „nothing less than horrific in its detail“ sind und zitiert als Extrembeispiel section 1 des Wills Act Amendment Act 1852: „Where by an Act passed in the First Year of the Reign of Her Majesty Queen Victoria, intitled an Act for the Amendment of the Laws with respect to Wills, it is enacted, that no Will shall be valid unless it shall be signed at the Foot or End thereof by the Testator, or by some other Person in his Presence, and by his Direction: Every Will shall, so far only as regards the Position of the Signature or the Testator, or of the Person signing for him as aforesaid, be deemed to be valid within the said Enactment, as explained by this Act, if the Signature shall be so placed at or after, or following, or under, or beside, or opposite to the End of the Will, that it shall be apparent on the Face of the Will that the Testator intended to give Effect by such his Signature to the Writing signed as his Will, and that no such Will shall be affected by the Circumstance that the Signature shall not follow or be immediately after the Foot of End of the Will, or by the Circumstance that a blank Space shall intervene between the concluding Word of the Will and the Signature, or by the Circumstance that the Signature shall be placed among the Words of the Testimonium Clause or of the Claus of Attestation,
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Diese historisch gewachsene, sich selbst regulierende Balance zwischen den Gewalten, die die Richterschaft seit jeher nur äußerst selten durch substantiell politische Entscheidungen störte, wird auch als comity zwischen den Gewalten bezeichnet; ein Begriff, der sich nur unzureichend mit „Einvernehmen“ übersetzen lässt und das britische Rechtsdenken stark geprägt hat. Zusammenfassend kann man konstatieren, dass die verfassungsrechtlichen, rechtsphilosophischen und demokratie- bzw. politiktheoretischen Überzeugungen der Richterschaft zusammen mit machtpolitischen Erwägungen eine Hinwendung zur literal rule begünstigten. Sie ist Spiegel dieser Rahmenbedingungen und Ausdruck des richterlichen Selbstverständnisses zugleich. or shall follow or be after or under the Clause of Attestation, either with or without a blank Space intervening, of shall follow or be after, or under, or beside the Names or One of the Names of the subscribing Witnesses, or ba the Circumstance that the Signature shall be on a Side of Page or other Portion of the Paper of Papers containing the Will whereon no Clause or Paragraph or disposing Part of the Will shall be written above the Signature, or by the Circumstance that there shall appear to be sufficient Space on or at the Bottom of the preceding Side or Page or other Portion of the same Paper on which the Will is written to contain the Signature; and the Enumeration of the above Circumstance shall not restrict the Generality of the above Enactment; but no Signature under the said Act or this Act shall be operative to give Effect to any Disposition or Direction which is underneath of which follows it, nor shall it give Effect to any Disposition or Direction inserted after the Signature shall be made.“ Zitiert nach Sir Rupert Cross, Statutory Interpretation, 1987, S. 12. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass dies nicht ganz uneingeschränkt für das sich immer stärker entwickelnde Verwaltungsrecht galt. Zur Gesetzgebungstechnik in Großbritannien siehe: Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001, S. 894 ff. 320 Gegen die machtpolitische These könnte eingewandt werden, dass dies dann aber nicht erklären würde, warum die englischen Gerichte bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus bereit waren, Gesetzesbestimmungen auf eindeutig nicht dem Wortlaut unterfallende Sachverhalte auszudehnen und somit den Common-Law-Bereich zu beschränken. Dass die oben erwähnte machtpolitische These dennoch Bestand hat, lässt sich möglicherweise wie folgt begründen: Einer extensiven, kreativen Auslegung wohnt schon als solcher ein gewisses Machtpotential inne. Schließlich obliegt es den Gerichten zu entscheiden, wann sie über den Wortlaut hinaus auslegen und wann nicht. Insofern mag den Gerichten bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Doktrin der Parlamentssouveränität noch nicht den Höhepunkt ihrer Wirkungskraft entfaltet hatte, diese Art der Machtentfaltung neben den Entfaltungsmöglichkeiten im common law ausgereicht haben. Diese delikate Balance wurde aber durch den Siegeszug der Parlamentssouveränität ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen Konsequenzen gestört. Da sich auch die Richterschaft diesen Einflüssen – insbesondere der immer stärkeren demokratischen Untermauerung der Doktrin der Parlamentssouveränität – nicht entziehen konnte, verblieb ihr lediglich die Flucht nach vorn. Weil sich eine weiterhin kreative Auslegungspraxis schlecht mit der strikten Befolgung der Parlamentssouveränität vertrug und diese Machtquelle entfiel, wurde nunmehr versucht, den Einflussbereich im common law durch restriktive Auslegung der Gesetze weitestgehend zu erhalten, was aufgrund des noch vergleichsweise geringen Anteils an statute law eine gangbare Alternative darzustellen schien.
§ 6 Zusammenfassende Betrachtung
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c) Vorboten einer Veränderung der Auslegungspraxis Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine allmähliche Abkehr von der literal rule in dem sich langsam aber stetig entwickelnden Verwaltungsrecht angelegt war. Bereits zu Lebzeiten Diceys hat es eine Reihe von Gesetzen gegeben, die der Exekutive wide-discretionary powers einräumten. Deren wortgetreue Auslegung bedeutete allerdings nicht die ursprünglich mit der Anwendung der literal rule bezweckte restriktive Auslegung, sondern vereinfachte vielmehr den ungehinderten Zugriff des Staates auf den Bürger. Viele Eingriffsermächtigungen zeichneten sich durch eine geringe materielle Programmierungsdichte aus. So war es keine Seltenheit, dass das Parlament der Exekutive unbestimmte und damit offene Eingriffsnormen an die Hand gab. 321 Vor diesem Hintergrund erleichterte eine wörtliche Auslegung nunmehr den staatlichen Zugriff. Durch die Anforderungen zweier Weltkriege und die immer weitreichendere staatliche Intervention im Zuge der Entwicklung eines zentralisierten Wohlfahrtsstaates nahm die Zahl derartiger weitreichender gesetzlicher Ermessensbefugnisse zu. Die subtile institutionelle Balance im 20. Jahrhundert geriet dadurch fortschreitend aus dem Gleichgewicht. Obwohl die Gerichte diese einseitige Entwicklung im institutionellen Machtgefüge vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage und dem veränderten Staatsverständnis zunächst noch mittrugen, war in ihr der Keim der sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts realisierenden Abkehr von der literal rule 322 bereits angelegt.
§ 6 Zusammenfassende Betrachtung zum „traditionellen Verfassungsverständnis“ Wie zu erwarten war, sind alle Merkmale des anfangs skizzierten abstrakten Modells der Parlamentssouveränität im Vereinigten Königreich des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts erfüllt: Der Gesetzgeber war keinerlei rechtlicher Bindung unterworfen und hatte somit das Letztentscheidungsrecht über Recht und Unrecht. Aus diesem Grund gab es weder eine zur kassatorischen Normenkontrolle befugte „Verfassungsgerichtsbarkeit“ noch eine Normenhierarchie. 321 Z. B. section 68 Education Act 1944: „(If the Minister) is satisfied that any local authority have acted or are proposing to act unreasonably (....).“ Section 1 (1) Sunday Entertainments Act 1932: „(...) subject to such conditions as the authority think fit to impose.“ 322 Siehe unten § 9 III.2.a).
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1. Teil: Das traditionelle Verfassungsverständnis
Zugleich ist aber auch deutlich geworden, dass sich das Verfassungsmodell der Parlamentssouveränität in seiner ganzen Komplexität nur im Kontext der damals herrschenden rechtstheoretischen und politikwissenschaftlichen Überzeugungen sowie der tatsächlichen Verhältnisse erschließt. All diese einzelnen Komponenten stehen in einem komplexen Wechselwirkungszusammenhang, der wiederum in einem untrennbaren Zusammenhang zum Selbstverständnis der Richterschaft der damaligen Zeit steht. Die Grenze zwischen Ursache und Wirkung verschwimmt an dieser Stelle und löst sich in einer Art Synergieeffekt auf. Festzuhalten bleibt jedoch, dass das Verfassungssystem der Parlamentssouveränität das Selbstverständnis der Richterschaft nachhaltig beeinflusst hat, während dieses wiederum eine Manifestierung und Konkretisierung der Parlamentssouveränität überhaupt erst zugelassen hat. Will man dieses richterliche Selbstverständnis näher bestimmen, so kann man aus dem zuvor Geschilderten eine Reihe von Attributen zusammenstellen, die das richterliche Denken prägten: So war das richterliche Verständnis stark durch eine positivistische, am parlamentarischen Willen 323 ausgerichtete Denktradition beeinflusst, nach der das Gesetz als Werkzeug der Politik begriffen wurde und freiheitsschützende Maßnahmen in erster Linie über politische statt rechtliche Sicherungen gesucht wurden. Institutionelles Denken dominierte das Verfassungsverständnis. Hinzu traten liberal-demokratische und utilitaristische Tendenzen. Das Ganze wurde zudem durch eine aus dem common law geborene Tradition der Verfahrensgerechtigkeit abgerundet. So war die angelsächsische Tradition nicht so sehr durch eine an Ergebnisrichtigkeit ausgerichtete Verfahrenskonzeption, als vielmehr durch ein auf die Verfahrensrichtigkeit ausgerichtetes Konzept geprägt: function follows form. Der formale, verfahrensorientierte Aspekt dominierte gegenüber Fragen der Substanz. Anders als das wertzentrierte kontinentaleuropäische Recht war das britische Recht methodenzentrierter. Weitere Begriffe, die das (richterliche) Rechtsdenken geprägt und einen wesentlichen Beitrag zur geschmeidigen Anpassungsfähigkeit, Zeitlosigkeit und Praxisnähe der britischen Verfassung geleistet haben, sind schließlich noch comity 324 , continuity 325 und trust 326. So haben der Erhalt des institutionellen Gleichgewichts, 323
Der parlamentarische Wille wurde auch in der Tat als purer Ausdruck dessen, was die Mehrheit will, verstanden. Das dem parlamentarischen Willensbildungsprozess auch ein Rationalität förderndes Element innewohnt, spielte – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. 324 Siehe oben § 5 III.2.b). 325 Siehe oben § 3 I. Zur Bedeutung der Kontinuität und Tradition im englischen Staatsdenken vgl. Friedrich Darmstaedter, Der englische Staatsrechtsgedanke und die deutsche Theorie, in: D. S. Constantopoulos / Hans Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 557 f.
§ 6 Zusammenfassende Betrachtung
121
Tradition und Kontinuität eine Art Selbstwert im angelsächsischen Verfassungsverständnis erhalten. Hinsichtlich des Vertrauenselements ist jedoch anzumerken, dass trotz der dominanten Rolle des Parlamentes, die eine gewisses – u. a. historisch bedingtes – Vertrauen in diese Institution zu Recht impliziert, von einem „blinden Vertrauen“ in das Parlament keine Rede sein kann. Der eher schwach ausgeprägte rechtliche Schutz gegenüber parlamentarisch legitimierten Freiheitsübergriffen erforderte eine sogenannte eternal vigilance der Bürger, welche als ein die politische Kultur förderndes Element begriffen und begrüßt wurde. Folgerichtig äußerte sich dieses Konglomerat verschiedener Denktraditionen in einer dem Parlament gegenüber als unterwürfig zu bezeichnenden Haltung der Richterschaft. Dieses Selbstverständnis wiederum fand seine methodische Umsetzung in der Dominanz der literal rule, und führte zu dem, was landläufig als Zeit des judicial restraint bezeichnet wird. Erst vor diesem Hintergrund kann angesichts des traditionsgebundenen und evolutionären Charakters des britischen Verfassungsdenkens, mit dem eine gewisse Zeitlosigkeit einhergeht, der aktuelle Verfassungswandlungsprozess unter besonderer Berücksichtigung des Human Rights Act näher betrachtet und begriffen werden. Zwar erlaubt das britische Verfassungsdenken eine Art Phasenbildung, eine isolierte Betrachtung gegenwärtiger Zustände wäre jedoch angesichts der Geschmeidigkeit britischen Verfassungsdenkens wenig ergiebig. So bleibt das traditionelle britische Verfassungsverständnis weiterhin Ausgangspunkt und prägendes Element für die aktuelle Verfassungsdiskussion, die nunmehr vor dem Hintergrund der historischen Betrachtung adäquat erfasst werden kann.
326
Siehe oben § 4 IV.4.a).
2. Teil
Die Einführung des Human Rights Act 1998 – Großbritannien auf dem Weg zur Verfassungssouveränität? § 7 Der Human Rights Act 1998 Am 2. Oktober 2000 trat der 1998 verabschiedete Human Rights Act 1998 1 in England in Kraft 2 und inkorporierte in wesentlichen Teilen die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 3 in das britische Recht, 4 so dass sich britische Bürger nunmehr erstmals direkt vor nationalen Gerichten auf Konventionsrechte berufen können. 5 Zuvor, das heißt seit 1966 6, konnten die Bürger des Vereinigten Königreichs eine Verletzung ihrer in der EMRK gewährleisteten Rechte lediglich vor dem 1
1998 Chapter 42. S.I. 2000/ Nr. 1851, The HRA 1998 (Commencement No. 2) Order 2000. In Schottland und Wales ist der Human Rights Act 1998 teilweise bereits am 1. Juli 1999 in Kraft getreten. 3 Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der EMRK siehe Rainer Grote / Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, S. 9 ff. 4 In Großbritannien herrscht ein strikt dualistisches Verständnis bezüglich des Verhältnisses von nationalem zu internationalem Recht. So entfalten völkerrechtliche Verträge grundsätzlich erst nach ihrer ausdrücklichen Transformation, d. h. Inkorporierung, die entweder durch Parlamentsgesetz oder durch eine vom Monarchen aufgrund gesetzlicher Ermächtigung erlassene Rechtsverordnung erfolgt, im innerstaatlichen Recht Wirkung. Vgl. z. B. Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz. Eine Studie zur Wandlung des Staatsbegriffs der deutschsprachigen Staatslehre im Kontext internationaler institutionalisierter Kooperation,1998, S. 167 f. m.w. N. 5 Die EMRK wurde nicht vollständig in das britische Recht inkorporiert. So stellt section 1 Human Rights Act 1998 klar, dass Konventionsrechte (convention rights) im Sinne des Human Rights Act lediglich Art. 2 bis 12 und 14 der Konvention, Art. 1 bis 3 des ersten Protokolls und Art. 1 und 2 des sechsten Protokolls unter Berücksichtigung von Art. 16 bis 18 der Konvention sind. Bemerkenswerte Ausnahmen sind somit hinsichtlich Art. 1 (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) und 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde) der Konvention gemacht worden. Die britische Regierung begründet dies damit, dass Art. 1 und 13 bereits durch die Einführung des Human Rights Act Genüge getan wurde. Dies wird allerdings hinsichtlich Art. 13 bezweifelt. Vgl. A. W. Bradley / K. D. Ewing, Constitutional and Administrative Law, 2003, S. 417 m.w. N. 2
§ 7 Der Human Rights Act 1998
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Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geltend machen. Die Normen der EMRK hatten bislang nicht die Qualität innerstaatlichen Rechts, da eine Transformation in nationales Recht bis zur Einführung des Human Rights Act 1998 nicht erfolgt war. Vor den nationalen Gerichten erlangten die in der EMRK gewährleisteten Rechte bis dato im Wesentlichen nur insoweit Bedeutung, 7 als sie von den Gerichten als Interpretationsmaßstab herangezogen wurden, wenn ein nationales Gesetz nicht eindeutig war. 8 Diese Vorgehensweise wurde mit der Annahme begründet, dass das britische Parlament im Zweifel die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs einhalten wolle. Insofern müsse bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige Auslegung gewählt werden, die mit der Konvention in Einklang stehe. 9 Für den Bereich des common law wurde die EMRK bis zur Einführung des Human Rights Act nur dann herangezogen, wenn der genaue Inhalt bereits anerkannter grundrechtsrelevanter Prinzipien des common law nicht eindeutig war; eine lückenfüllende Funktion der EMRK – etwa mittels der Übernahme von EMRK-Rechten, die bisher nicht vom common law anerkannt waren – wurde hingegen abgelehnt. 10
6
Die EMRK wurde bereits 1951 von Großbritannien ratifiziert und trat zwei Jahre später in Kraft. Das Recht der einzelnen Bürger, sich direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden, existiert jedoch erst seit 1966. Siehe Stefan Schieren, Der Human Rights Act 1998 und seine Bedeutung für Großbritanniens Verfassung, Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), 1005 ff. 7 Status und Bedeutung der Konventionsrechte wurden bis zur Einführung des Human Rights Act 1998 nie vollends geklärt. Obwohl eine direkte Berufung auf Konventionsrechte vor den nationalen Gerichten ausgeschlossen war, entfalteten sie in den verschiedensten Bereichen Bedeutung. So z. B. bei der Auslegung mehrdeutiger Gesetze, oder von Gesetzen, die gerade der Umsetzung von Konventionsanforderungen dienen sollten, bei Unklarheiten im common law, bei Ermessensspielräumen der Gerichte oder aber bei Fragen der public policy. Sie fanden mittelbare Berücksichtigung über das Gemeinschaftsrecht und spielten eine (wenn auch nur eingeschränkte) Rolle bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Ermessensentscheidungen der Exekutive. Hunt hat drei verschiedene Phasen der richterlichen Reaktion auf die Konvention herausgearbeitet: Phase 1 – Mitte der 70er Jahre, judicial activism; Phase 2 – späte 70er Jahre bis zu den späten 80er Jahren, judicial conservatism; Phase 3 – späte 80er bis dato, gesteigerter Gebrauch der Konvention, vgl. Murray Hunt, Using Human Rights Law in English Courts, 1997, 129 f. und Kapitel 4 und 5. Dennoch war der unmittelbare und offenkundige praktische Einfluss der Konvention auf das nationale Fallrecht bis zur Einführung des Human Rights Act 1998 nicht besonders groß, vgl. Murray Hunt, Using Human Rights in English Courts, 1997, Appendix I. 8 Vgl. z. B. R v Secretary of State for the Home Department, ex parte Brind (1991) 2 WLR 588, 592. Hierbei handelte es sich um eine allein von der Richterschaft autorisierte Schwerpunktverlagerung bei der Gesetzesauslegung, weg von der literal rule hin zu einer zweckorientierten Auslegung. 9 R v Secretary of State for the Home Department, ex parte Bhajan Singh (1976) QB 198, 207.
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
Der Human Rights Act 1998 beendete vorerst die langjährige Debatte um die Einführung eines geschriebenen Grundrechtskatalogs in Großbritannien. 11 In rechtsvergleichender Perspektive stellt die gewählte Lösung einen Kompromiss zwischen dem stärkeren kanadischen System 12 und dem schwächeren neuseeländischen System 13 dar.
I. Die Inkorporierungskampagne Bereits Ende der 1960er Jahre begann die Diskussion über die Vor- und Nachteile einer möglichen Inkorporierung der EMRK. 14 Anthony Lester, nunmehr Lord Lester of Herne Hill, richtete 1968 mit der Schrift „Democracy and Individual 10 Malone v Metropolitan Police Commissioner [1979] Ch 344, 379. In dieser Entscheidung wurde eine Übernahme von Artikel 8 EMRK (Schutz der Privatsphäre) in das common law abgelehnt. Siehe oben § 4 V.2.c)aa). 11 Zu den inhaltlichen Schwerpunkten dieser Diskussion vgl. Michael Zander, A Bill of Rights?, 1997 sowie die Zusammenfassungen bei Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 45 ff.; Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 331 ff. und Katrin Strotmann, Die Souveränität des britischen Parlaments unter der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts und der europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, S. 124 ff. 12 Das kanadische System erlaubt eine eingeschränkte Form der kassatorischen Normenkontrolle. Vgl. Peter William Hogg, Constitutional Law of Canada, 1997. Siehe unten § 15 I.1.a). 13 Das neuseeländische System hat pro forma eine rein interpretatorische Lösung der Umsetzung einer Bill of Rights gewählt, der formal betrachtet sogar eine Inkompatibilitätserklärung fremd ist, vgl. Paul Rishworth / Grant Huscroft / Scott Optican / Richard Mahoney, The New Zealand Bill of Rights, 2003. Siehe unten § 15 I.1.b). 14 Umfassend zur Inkorporierungsdebatte, Michael Zander, A Bill of Rights?, 1997; A. W. B. Simpson, Human Rights and the End of Empire: Britain and the Genesis of the European Convention, 2001, Kapitel 11 –15; Robert W. Blackburn, Towards a Constitutional Bill of Rights for the United Kingdom, 1999. Für einen Überblick mit weiteren Nachweisen siehe insbesondere auch Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 41 ff.; Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 117 ff.; Lord Lester of Herne Hill / Lydia Clapinska, Human Rights and the British Constitution, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2004, S. 71. Aus der deutschen Literatur bereits: Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 327 ff. Siehe auch Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 331 und Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 52 ff. Zu den Anfängen der Debatte schon: Michael H. W. Koch, Die Einführung eines Grundrechtskatalogs im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, 1991; Andrea Geisseler, Reformbestrebungen im englischen Verfassungsrecht, 1985, S. 56 ff.
§ 7 Der Human Rights Act 1998
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Rights“ als wohl renommiertester Civil-Liberties-Anwalt der damaligen Zeit das Augenmerk darauf, dass Freiheitsbedrohungen durchaus auch vom Parlament zu befürchten seien, und forderte – zunächst noch vorsichtig – die Einführung einer gerichtlich nicht durchsetzbaren Bill of Rights. 15 In den nächsten Jahren wurde das Thema sporadisch im Parlament diskutiert. Größeres Aufsehen erregte erst Sir Leslie Scarman 1974 mit der Veröffentlichung seiner Hamlyn Lecture, English Law – The New Dimension 16, die es sogar als Leitartikel auf die erste Seite des The Guardian schaffte. 17 Mit diesem Artikel drückte erstmals ein namhafter Richter seine Unterstützung für die Inkorporierung der EMRK durch eine bill of rights aus und förderte so die öffentliche Debatte, ob und in welcher Form ein Grundrechtskatalog im Vereinigten Königreich verabschiedet werden sollte. 1976 fachte Lord Wade durch einen von ihm eingebrachten Gesetzentwurf die Diskussion weiter an. 18 Aus diesem Anlass befasste sich ein Select Committee des Oberhauses eingehender mit der Thematik und befürwortete 1978, wenn auch nur mit einer knappen Mehrheit von sechs zu fünf Stimmen, eine Inkorporierung der EMRK. 19 Mit dem Regierungswechsel im Jahre 1979, als die konservative Partei die Regierung übernahm, ließ der Reformeifer jedoch nach, um erst Anfang der 1990er Jahre wieder aufzuleben. 20 Maßgeblichen Anteil an der Wiederbelebung der Debatte hatten verschiedene unabhängige Interessengruppen und think tanks wie z. B. „Charter 88“, „Liberty“ 21 und das „Institute for Public Policy Research“, die sich intensiv bemühten, ein breite Öffentlichkeit für die Einführung einer Bill of Rights zu gewinnen. 22 Die entscheidende Wende brachte indes Labours veränderte Haltung zur Frage der Inkorporierung nach ihrer (erneuten) Wahlniederlage von 1992. Bisher hatten 15
Michael Zander, A Bill of Rights?, 1997, S. 1 ff. Später hat sich Lord Lester of Herne Hill unablässig für die Einführung einer weniger „zahmen“ Bill of Rights eingesetzt. 16 Leslie Scarman, English Law – The New Dimension, London 1974, S. 19 f. 17 5. Dezember 1974, siehe Michael Zander, The State of Justice, 2000, S. 77. 18 Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 43 m.w. N. 19 Report of the Select Committee on a Bill of Rights, House of Lords Paper No 176, 1978. Diese Empfehlung wurde in einer Debatte des House of Lords im November 1978 bestätigt. Siehe auch Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 328. 20 Dabei war ein Bestandteil des Wahlmanifests der Konservativen (Conservative Party General Election Manifesto, 1979), eine alle Parteien umfassende Diskussion über die Einführung einer Bill of Rights anzustrengen. 21 So entwarf Liberty 1991 z. B. einen eigenen Entwurf einer Bill of Rights (A People’s Charter) und stelle ihn zur Diskussion. 22 Vgl. Lord Lester of Herne Hill, Human Rights and the British Constitution, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver, The Changing Constitution, 2000, S. 98; Michael Zander, A Bill of Rights?, 1997, S. 30 f.; Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 329.
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
es beide großen Parteien – die Konservativen und Labour – vermieden, sich offiziell für eine Unterstützung der Inkorporierung auszusprechen. Die Einführung einer Bill of Rights war vornehmlich das Anliegen der Liberalen gewesen. 23 Für die ablehnende Haltung der Konservativen sprachen überwiegend pragmatische Gründe. So paarte sich der feste Glaube an die Vorzüge des traditionellen britischen Regierungssystems mit der Furcht vor einer Störung der „öffentlichen Ordnung“ 24 und möglichen Handlungsbeschränkungen der (konservativen) Regierung durch die Inkorporierung. 25 Labour hingegen hatte vornehmlich ideologische Einwände gegen die Einführung einer Bill of Rights, die daher rührten, dass die Konvention mit ihrer Fokussierung auf „klassische“ bürgerliche Rechte eine für Labour erstrebenswerte soziale Umverteilung erschweren könnte. 26 Die Skepsis beider Parteien hinsichtlich der Einführung einer Bill of Rights stand zudem in engem Zusammenhang mit der Rolle der Richterschaft. Während die Konservativen wegen einer befürchteten Politisierung der Richter um deren Position und Reputation bangten, 27 lehnte Labour die Inkorporierung der EMRK u. a. mit der 23
Michael Zander, A Bill of Rights?, 1997, S. 38. Derartige Befürchtungen äußerte im März 1976 sogar Lord Denning, auch wenn er später die Inkorporierung der EMRK befürwortete: Eine Bill of Rights könnte von Individuen instrumentalisiert werden, die „tend to disrupt and embarrass our society“ (Hansard, HL Vol 369, col 798). Sie könnte ausgenutzt werden von „disgruntled people who will bring proceedings before the courts challenging the orderly system of our country“ (Hansard, HL Vol 369, col 800). Es würde eine Flut von wenn auch nicht immer erfolgreichen Verfahren geben: „people praying in aid of these fundamental rights, as they say, and given much embarrassment and disturbance to society“ (Hansard, HL Vol 369, col 800). 25 Vgl. Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 120; Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 329. 26 Vgl. Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 121; Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 329 f.; Andrea Geisseler, Reformbestrebungen im Englischen Verfassungsrecht, 1985, S. 61 ff. 27 Folgende Zitate von Lord McCluskey aus dem Jahr 1987 bzw. Lord Mackay aus dem Jahr 1996 verdeutlichen diese Haltung: „Lawmaking should be left to lawmakers, policy making to responsible policy-makers. And that’s just the problem with a Constitutional Bill of Rights. It is inevitably a charter of enduring super-rights, rights written in delphic words but in indelible ink on an opaque surface. It turns judges into legislators (...). It makes the mistake of dressing up policy choices as if they were legal choices. It asks those whose job it is to know and apply the law to create and reform the law (...). If legislators don’t tell us precisely what the words mean, then the words will mean what the judges say they mean.“ Lord McClusky, Law, Justice and Democracy (BBC, 1987) zitiert nach Michael Zander, The State of Justice, 2000, S. 79. „The question which would then be asked, and to which an answer could not be postponed indefinitely, is whether introduction of such a political element into the judicial function would require a change in the criteria for appointment of judges, making the political stance of each candidate a matter of importance as much as his or her ability to decide cases on their individual facts and the law applicable to those facts.“ Lord 24
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Begründung ab, dass der undemokratischen und vorwiegend aus Mitgliedern des Establishments zusammengesetzten Richterschaft ein derart mächtiges Instrument wie eine Bill of Rights nicht anvertraut werden dürfe. 28 Erst die Erfahrung der politischen Machtlosigkeit angesichts tiefgreifender Reformen in der Thatcher-Zeit schärfte das Bewusstsein Labours für die Fragilität des Individualrechtsschutzes im britischen Regierungssystem und die Notwendigkeit rechtlicher Kontrollmechanismen. 29 Thatchers radikaler Gebrauch der Möglichkeiten der offenen Verfassung und die rückhaltlose Instrumentalisierung des Souveränitätsprinzips zur Entfaltung ihrer Macht bzw. Wiederherstellung staatlicher Autorität führten zur praktischen Ausschaltung nicht institutionalisierter Gegengewalten und unterminierten die Balance zwischen den Gewalten. Ihre Missachtung konventioneller Verfassungsregeln förderte den Wunsch nach Verrechtlichung der politischen Verfassung. Zudem entfiel nach Labours Übernahme einer weniger radikalen Sozial- und Wirtschaftspolitik der ideologische Hintergrund. 30 Labour sah nun in der Stärkung des Schutzes individueller Rechte ein parteipolitisches Anliegen. 31 Der Schutz der Rechte durch das common law sei unzulänglich, wie einige Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) anschaulich darlegten 32, zudem könne der Bürger zur Durchsetzung seiMackay, Parliament and the Judges – A Constitutional Challenge (Rede vor der Citizenship Foundation, 8. Juli 1996) zitiert nach Michael Zander, The State of Justice, 2000, S. 79. 28 Vgl. Michael Zander, The State of Justice, 2000, S. 79 f. 29 Zu den Folgen der Thatcher Ära, die zur Zerschlagung des local government, Überzentralisierung und Legitimationsdefitziten führte, vgl. Stefan Schieren, Die Stille Revolution – Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001, S. 102 ff. Vgl. auch Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, PVS 1 (1995), 56 –59 und Veith Mehde, Zwischen New Public Management und Democratic Renewal. Neuere Entwicklungen im britischen Kommunalrecht, VerwArch 95 (2004), 257 ff. 30 Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 330. 31 Kevin Theakston weist in Prime Ministers and the Constitution: Attlee to Blair, (2005) 58 Parliamentary Affairs 36 aber zu Recht darauf hin, dass sich mit der Machtübernahme Tony Blairs und seinem präsidialen Regierungsstil Labours Blickwinkel wandelte: „The example of Blair shows how constitutional reform pledges may serve to rally support in opposition, providing a stick with which to beat the government of the day, but that the issues look very different once in power yourself.“ 32 Seit der Anerkennung des Individualbeschwerderechts nach Artikel 25 EMRK im Jahre 1966 ist Großbritannien neben Italien das am häufigsten vor den Europäischen Gerichtshof zitierte und verurteilte Land; siehe die detaillierte Statistik bei Francesca Klug / Keir Starmer / Stewart Weir, The Three Pillars of Liberty, 1966, S. 55. Bis 1997 hat der EGMR laut Lord Irvine of Lairg in 50 Fällen eine Grundrechtsverletzung durch das Vereinigte Königreich festgestellt, mehr als die Hälfte davon seit 1990, vgl. Lord Irvine of Lairg, H. L Deb. vol. 582 c. 1228, 3. 11. 1997. Für weitere Informationen zu Art und Umfang der durch die Straßburger Organe festgestellten Konventionsverletzungen
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ner Konventionsrechte nicht länger auf den „intolerabel langwierigen“ Umweg nach Straßburg verwiesen werden. 33 Im Dezember 1996 verfassten die beiden Labour-Parlamentsabgeordneten Jack Straw und Paul Boateng das Konsultationspapier „Bringing Rights Home“ 34, welches eine Zusammenfassung von Labours Vorschlägen zur Inkorporierung enthielt. Mittlerweile sprachen sich zudem eine Reihe prominenter Law Lords für die Einführung einer Bill of Rights aus. Unter ihnen befanden sich so namhafte Vertreter wie z. B. der damalige Lord Chief Justice, Lord Taylor of Gosforth, Lord Browne-Wilkinson und Lord Woolf of Barnes. 35 Nach dem erdrutschartigen Sieg der Labour Party bei den Unterhauswahlen am 1. Mai 1997 brachte die Regierung knapp sechs Monate später den Human Rights Bill 1997 – begleitet durch das Weißbuch „Rights Brought Home: the Human Rights Bill“ – in das Gesetzgebungsverfahren ein. Dieser Entwurf stellte eine vom damaligen Lord Chancellor, Lord Irvine of Lairg, bevorzugte Version der Inkorporierung dar, 36 die starke Parallelen zum neuseeländischen Bill of Rights Act enthielt, 37 aber insbesondere durch die in der britischen Version explizit vorgesehene Möglichkeit einer Inkompatibilitätserklärung durch die Gerichte eine „gestärkte“ Variante seines Vorbilds darstellte. Dieser Entwurf fand schließlich Zustimmung sowohl bei Labour als auch im konservativen Lager und erhielt am 9. November 1998 den Royal Assent, woraufhin er als Human Rights Act 1998 in das statute book aufgenommen wurde
vgl. Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998), 322 ff. 33 Vgl. die Rede des damaligen Labour Vorsitzenden John Smith anlässlich einer Einladung der Reformgruppe „Charter 88“ am 1. März 1993 mit dem Titel „A Citizen’s Democracy“: „The quickest and simplest way of achieving democratic and legal recognition of a substantial package of human rights would be by incorporation into British law the European Convention on Human Rights.“ Als Zusammenfassung bei Michael Zander, A Bill of Rights?, 1997, S. 32 ff. 34 Jack Straw / Paul Boateng, Bringing Rights Home: Labour’s Plan to Incorporate the European Convention on Human Rights in to UK Law, (1997) 2 EHRLR 71 ff. 35 Lord Lester of Herne Hill, Human Rights and the British Constitution, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 98. 36 Vgl. Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 333. 37 Der enge Bezug zum neuseeländischen Vorbild wurde schon bei einer Gesetzesinitiative von Lord Lester of Herne Hill im Jahre 1996 deutlich. Diese Gesetzesinitiative wurde mit der Unterstützung von Sir Kenneth Keith, dem ehemaligen Vorsitzenden der New Zealand Reform Commission und Mitglied des neuseeländischen Court of Appeal, ausgearbeitet. Zudem war Sir Kenneth Keith ehemaliger Berater der Sir Geoffrey Palmer Regierung, die eine verschärfte Version des schließlich erlassenen Bill of Rights Act in Neuseeland gefordert hatte. Vgl. Sir Geoffrey Palmer / Matthew Palmer, Bridled Power: New Zealand government under MMP, 1997, Kapitel 15.
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und im Oktober 2000 – begleitet von einer noch nie dagewesenen Schulungs- und Aufklärungskampagne 38 – in Kraft trat.
II. Regelungsinhalt des Human Rights Act 1998 Bevor im Folgenden die Vorgehensweise des Human Rights Act 1998 zur Sicherung der Konventionsrechte grob umrissen wird, 39 soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass der Fokus meiner Betrachtung auf dem Verhältnis der Judikative zur Legislative liegt. Aus diesem Grund wird auf die Erörterung derjenigen Faktoren, die für das Verhältnis der Judikative zur Exekutive relevant sind, weitgehend verzichtet. 1. Adressaten der Konventionsrechte Die Schlüsselvorschrift des Human Rights Act 1998 im Hinblick auf die Bestimmung der Bindungswirkung der Konventionsrechte 40 im innerstaatlichen Recht ist section 6. Hiernach ist jedes Verhalten öffentlicher Stellen, das nicht im Einklang mit den Konventionsrechten steht, rechtswidrig: „6 (1) It is unlawful for a public authority to act in a way which is incompatible with a Convention right.“
Allein schon der Begriff public authority ist bemerkenswert, da dem britischen Rechtsdenken die Staatsidee und damit die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Bereich traditionell fremd ist, und sich die Idee der öffentlichen Gewalt erst in den letzten Jahrzehnten allmählich herausgebildet hat. 41 Er umfasst alle Ministerien und Verwaltungsbehörden, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen. 42
38 Lord Lester of Herne Hill, The Art of the Possible – Interpreting Statutes under the Human Rights Act, (1998) 6 EHRLR 668. 39 Ausführlich hierzu z. B. bereits Rainer Grote, Die Inkorporierung der der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 336 ff. 40 Rechte in diesem Sinne bestimmen sich nach section 1 Human Rights Act 1998 und umfassen daher nicht alle in der EMRK enthaltenen Rechte. Bzgl. der Gründe für die Abweichungen, vgl. Rainer Grote, Die Inkorporierung der der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 337 f. 41 Siehe oben § 4 IV.3. und § 4 IV.3.b) und auch Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 183 ff. 42 Rainer Grote, Die Inkorporierung der der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 338.
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Ausschlaggebend für die Bindung an die Konventionsrechte ist jedoch nicht die Organisationsform, sondern der materielle Charakter der jeweiligen Aufgabe. 43 Des Weiteren unterliegen nach section 6 (3) die Gerichte der Bindung an die Konventionsrechte. 44 Da diese Bindung dem Wortlaut nach nicht auf eine Tätigkeit der Gerichte in Verwaltungs- und Strafsachen beschränkt ist, kann sie sich grundsätzlich auch auf die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten beziehen 45 und ist möglicherweise auch bei der Anwendung von CommonLaw-Prinzipien 46 zu beachten. Dies ist insbesondere in Bezug auf die noch nicht abschließend geklärte Frage 47 nach einem möglichen horizontalen Effekt der Konventionsrechte relevant. 48
43 Section 6 (3) (b) Human Rights Act. Zur schwierigen Frage, was unter public function zu verstehen ist vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 192 ff. Ein neuer Fall hierzu ist z. B. Poplar Housing and Regeneration Community Association Ltd v Donoghue [2001] 3 WLR 183, 199 (per Lord Woolf CJ); allgemein zu dieser Frage, Dawn Oliver, The Frontiers of the State: Public Authorities and Public Functions under the Human Rights Act, [2001] P.L. 476. 44 Vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 204 ff., Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 339. 45 Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 136, 205 f. 46 Zu dieser strittigen Frage vgl. z. B. Glenn Patmore / Anna Thwaites, Fundamental Doctrines for the Protection of Civil Liberties in the United Kingdom: A V Dicey and the Human Rights Act 1998 (UK), (2002) 13 Public LRev. 72 f.; Julian Rivers, Menschenrechtsschutz im Vereinigten Königreich, JZ 2001, 131. 47 Richard Clayton und Hugh Tomlinson gehen davon aus, dass der Human Rights Act 1998 in einigen näher spezifizierten Bereichen einen horizontalen Effekt entfalten wird, schließen aber eine direct oder full horizontale Wirkung, wie sie in Irland oder Südafrika existiert, weitestgehend aus, vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 237 f. Vgl. auch Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 161 ff. 48 Die Auswirkungen von section 6 (3) sind Gegenstand einer lebhaften Debatte, für die auch immer wieder deutsche Literatur rezipiert wird, vgl. z. B. Andrew Clapham, Human Rights in the Private Sphere, 1993; ders., The Privatisation of Human Rights (1996) 1 EHRLR 20; Sir Stephen Sedley, Freedom, Law and Justice, 1999; Gavin Phillipson, The Human Rights Act, ‚Horizontal effect‘ and the Common Law. A Bang or a Whimper?, (1999) 62 M.L.R. 824; Anthony Lester / David Pannick, The Impact of the Human Rights Act on Private Law: The Knight’s Move, (2000) 116 L.Q.R. 380; Jack Beatson / Stephen Grosz, Horizontality: A Footnote, (2000) 116 L.Q.R. 385; Nicholas Bamforth, The True „Horizontal Effect“ of the Human Rights Act 1998, (2001) 117 L.Q.R. 34, Dawn Oliver, The Human Rights Act and the Public Law / Private Law Divides, (2000) 5 EHRLR 343; Thomas Raphael, The Problem of the Horizontal Effects, (2000) 5 EHRLR 493; T. De La Mare / K. Gallifant, The Horizontal Effect of the Human Rights Act 1998, [2001] Judicial Review 29; Murray Hunt, The „Horizontal Effect“ of the Human Rights Act: Moving Beyond the Public-Private Distinction, in: Jeffrey Jowell / J. Coopers (eds.), Understanding Human Rights Principles 2001, S. 161 ff.; ders., The „Horizontal Effect“ of the Human Rights Act, [1998] P.L. 423.
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In dem hier interessierenden Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass unter public authority jedenfalls nicht die Legislative zu verstehen ist. 49 Ganz dem traditionellen Verfassungsverständnis entsprechend sind die britischen Gerichte weiterhin nicht befugt, Gesetze, die im Widerspruch zu den Konventionsrechten stehen, für nichtig zu erklären. 2. Antragsbefugnis Gemäß section 7 kann jeder, der sich als victim im Sinne dieser Vorschrift qualifiziert, die Konventionswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens der öffentlichen Gewalt entweder innerhalb eines bereits anhängigen gerichtlichen Verfahrens geltend machen oder ein gerichtliches Verfahren diesbezüglich einleiten. 50 Der Begriff victim ist in diesem Zusammenhang im Sinne von Art. 25 EMRK zu verstehen. 51 Anders als bei normalen Verfahren der judicial review 52, bei dem ein sufficient interest des Beschwerdeführers für die Beschwerdebefugnis ausreichend ist, sind die Grenzen bei der Geltendmachung von Konventionsrechten enger gezogen 53. Diese Unterscheidung ist damit zu erklären, dass bei dem Verfahren der judicial review seinem Ursprung nach die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle im Vordergrund steht, während bei der Berufung auf die Konventionsrechte der Schutz subjektiver Rechte den Schwerpunkt bildet. 54 3. Die Durchsetzung der Konventionsrechte vor nationalen Gerichten Da den Gerichten, wie zuvor erwähnt, die Möglichkeit einer Nichtigkeitserklärung von Parlamentsgesetzen weiterhin versagt bleibt, 55 sieht der Human Rights 49
Section 6 (3) Human Rights Act 1998. Vgl. auch Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 389 ff. 51 Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 1484. 52 Zum Verfahren der judicial review siehe unten § 9 II.2. 53 So sind anders als beim Verfahren der judicial review z. B. Interessenverbände, die sich auf kein eigenes Recht berufen können, von der Berufung auf die Konventionsrechte ausgeschlossen, vgl. Secretary of State for Foreign Affairs, ex parte the World Development Movement [1995] 1 All ER 611, 618 –620. Dies führt dazu, dass im Rahmen des einheitlichen Verfahrens der judicial review unterschiedliche Anforderungen an die Antragsbefugnis gestellt werden, je nachdem, ob es um den Schutz der Konventionsrechte oder um die Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit nicht unmittelbar grundrechtsrelevanter Maßnahmen der öffentlichen Gewalt geht. Ausführlich zu der Frage, was unter victim zu verstehen ist, mit weiteren Nachweisen, Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 1484 ff. 54 Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998), 344. 55 Section 4 (6) HRA stellt dies ausdrücklich klar. 50
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Act 1998 stattdessen die folgende Vorgehensweise zur Sicherung der Konventionsrechte auch „gegen“ den Gesetzgeber vor: a) Die Auslegungsregel (rule of construction) – section 3 Dreh- und Angelpunkt des Schutzes der Konventionsrechte vor den nationalen Gerichten ist section 3. Hiernach sind die Gerichte verpflichtet, Gesetze „soweit möglich“ den Konventionsrechten entsprechend 56 auszulegen: „3 (1) So far as it is possible to do so, primary legislation and subordinate legislation must be read and given effect in a way which is compatible with the Convention rights.“
Das heißt, lässt eine gesetzliche Regelung mehrere Auslegungen zu, von denen eine oder mehrere nicht im Einklang mit den Konventionsrechten stehen, so ist der konventionsrechtskonformen Auslegung der Vorzug zu geben. Section 3 (2) stellt in diesem Zusammenhang noch einmal klar, dass diese Interpretationsregel die Wirksamkeit von Gesetzen unberührt lässt. Zwar wird den Konventionsrechten durch die sogenannte „Auslegungslösung“ des Human Rights Act 1998 auf den ersten Blick eine schwächere Stellung als dem Gemeinschaftsrecht, welches nach section 2 European Communities Act (ECA) direkte Wirkung entfaltet, eingeräumt. Bei näherer Betrachtung bewirkt sie aber auf subtile und effektive Weise, dass die Konventionsrechte mit dem nationalen Recht förmlich „verwoben“ werden. b) Die Inkompatibilitätserklärung – section 4 Sind die Grenzen des Möglichen jedoch überschritten und lässt das Gesetz folglich keine konventionskonforme Auslegung zu, haben die höheren Gerichte 57 nach section 4 (2) die Befugnis – nicht jedoch die Pflicht 58 –, eine sogenannte „Inkompatibilitätserklärung“ zu erlassen. Eine derartige Erklärung berührt weder die Wirksamkeit oder Durchsetzbarkeit des in Frage stehenden Parlamentsgesetzes, noch ist sie bindend für die an dem Rechtsstreit beteiligten Parteien. 59 Die 56 Hierbei müssen die Gerichte gemäß section 2 Human Rights Act die Rechtsprechung des EGMR zwar berücksichtigen, sind aber nicht gezwungen, ihr zu folgen. Nach Philip Havers / Neil Garnham, The Convention and the Human Rights Act: A New Way of Thinking, in: Rosalind English / Philip Havers (eds.), An Introduction to Human Rights and the Common Law, 2001, S. 7, würde eine doctrine of binding precedent der Idee der Konvention als living instrument zuwiderlaufen. 57 Vgl. section 4 (5) HRA. 58 Hiezu ausführlicher, David Bonner / Helen Fenwick / Sonia Harris-Short, Judicial Approaches to the Human Rights Act, (2003) 52 I.C.L.Q. 561. 59 Section 4 (6) HRA. Zu den Folgen für die verletzte Partei, die trotz Inkompatibilitätserklärung den Rechtsstreit dennoch verliert, vgl. Geoffrey Marshall, The United Kingdom Human Rights Act 1998, in: Vicki C. Jackson / Mark Tushnet (eds.), Defining the Field of Comparative Constitutional Law, 2002, S. 110 f.
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Bedeutung dieser förmlichen Feststellung der Unvereinbarkeit der betreffenden Vorschrift mit den Konventionsrechten ist darin zu sehen, dass der Legislative der Konventionsverstoß in besonders nachdrücklicher Form zur Kenntnis gebracht wird und die sogenannte fast track procedure (remedial order) nach section 10 zur Abänderung des für inkompatibel erklärten Gesetzes in Gang gesetzt werden kann. 60 c) Die „fast track procedure“ – section 10 Nach diesem Verfahren kann der zuständige Minister 61 durch eine remedial order, die – außer im Falle besonderer Dringlichkeit 62 – der Zustimmung beider Häuser des Parlaments bedarf, die Konventionskompatibilität eines Gesetzes herstellen. 63 Zwar ist der Minister nicht gezwungen, die vom Gericht festgestellten Mängel durch eine remedial order zu beheben. 64 Allerdings ist die Regierung in ihrem White Paper davon ausgegangen, dass eine Inkompatibilitätserklärung – zwar nicht immer, aber almost certainly – das Parlament bzw. die Regierung dazu veranlassen werde, die in Frage stehende Bestimmung zu ändern. 65 Ein Anreiz, dieser „Quasi-Verpflichtung“ nachzukommen, liegt wohl in der Gefahr eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
60 Das Gleiche gilt auch für einen vom EGMR festgestellten Konventionsverstoß. Das weitere Verfahren der fast track procedure ist in schedule 2 des Human Rights Act geregelt. Für weitere Hinweise über die Ausgestaltung des Fast-track-Procedure-Verfahrens siehe Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 2000, S. 935 ff.; Rainer Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998) 342 ff.; Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 366 ff. 61 Vgl. section 8 Ministers of the Crown Act 1975. 62 In diesem Fall tritt die order sofort in Kraft, verliert allerdings nach kurzer Zeit ihre Wirksamkeit, wenn sie nicht vom Parlament nachträglich genehmigt wird. Vgl. schedule 2 (2) (4) des Human Rights Act. 63 Damit kann erstmals die Exekutive ein Parlamentsgesetz abändern. Dies steht ebenfalls im Widerspruch zum klassischen Verständnis der Parlamentssouveränität. Zum Substanzverlust der Doktrin der Parlamentssouveränität siehe unten § 8 I. 64 Nach section 6 (6) (b) stellt die Tatsache, dass der zuständige Minister keine remedial order nach einer Inkompatibilitätserklärung erlässt, keinen public act im Sinne von section 6 HRA dar und kann insofern nur mit den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Rechtsmitteln verfolgt werden. Dies wird in der Regel allerdings wenig erfolgsversprechend sein. 65 White Paper 1997, Rights Brought Home, Cmnd. 3782, 2.10.
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d) Die Kompatibilitätserklärung (statement of compatibility) – section 19 Neben diesem retrospektiv wirkenden Schutz vor legislativer Intervention wird der innerstaatliche Schutz der Konventionsrechte durch eine präventive Komponente ergänzt. Diese präventive Komponente spielt eine bedeutsame Rolle und wird durch die Einrichtung des Joint Committee on Human Rights 66 und des House of Lords Constitution Committee zusätzlich gestärkt. Um schon die Verabschiedung konventionswidriger Gesetze zu vermeiden, verlangt section 19, dass der für den Gesetzesentwurf zuständige Minister vor der zweiten Lesung der Gesetzesvorlage eine Erklärung abgibt, dass die Gesetzesvorlage mit den Konventionsrechten im Einklang steht. Bestehen Zweifel an der Konventionsvereinbarkeit, so muss er gemäß section 19 (2) ausdrücklich erklären, dass die Regierung dennoch wünscht, mit dem Gesetzgebungsverfahren fortzufahren. Sinn und Zweck von section 19 ist demnach seine Warnfunktion. Die dort niedergelegte Verpflichtung ist allerdings wohl nicht justiziabel, da Artikel 9 der Bill of Rights 1688 allen proceedings in Parliament Immunität verleiht. 67 Eine unabhängige Überprüfung des Gesetzgebungsverfahrens sieht der Human Rights Act 1998 somit nicht vor. 68 Welche Bedeutung die Gerichte der Kompatibilitätserklärung bei der Interpretation von Gesetzen nach section 3 (1) Human Rights Act 1998 beimessen werden, ist noch unklar. Zwar darf nach Pepper v Hart 69 die Normentstehungsgeschichte nur bei unklarer oder mehrdeutiger Gesetzgebung herangezogen werden. Es ist allerdings anzunehmen, dass eine derartige Kompatibilitätserklärung einen
66 Dem Joint Committee on Human Rights gehören zwölf Mitglieder aus beiden Häusern an. Eine seiner Aufgaben ist es, Government Bills auf ihre Konventionskompatibilität hin zu überprüfen. Zu seinen übrigen Aufgaben siehe: http://www.parliament.uk/parliamentary_committees/joint_committee_on_human_rights. 67 Für dieses Ergebnis spricht zum einen section 6 (3), der von der grundsätzlichen Verpflichtung öffentlicher Stellen konventionskonform zu handeln, diejenigen ausnimmt, die Aufgaben im Zusammenhang mit parlamentarischen Verfahren ausüben, und zum anderen der alte aus dem Urteil British Railway Board v Pickin [1974] AC 765 hergeleitete Grundsatz, dass die Aufgabe der Gerichte darin bestehe, Gesetze zu interpretieren, während das Parlament darüber zu entscheiden habe, ob seine internen Verfahrensregeln eingehalten worden seien. Die gleiche Ansicht wurde auch hinsichtlich ähnlicher Regelungen im New Zealand Bill of Rights Act 1990 vertreten, vgl. Mangawaro Enterprises Ltd v A-G [1994] 2 NZLR 451. Im Ergebnis ebenso, Glen Patmore / Anna Thwaites, Fundamental Doctrines for the Protection of Civil Liberties in the Untied Kingdom: A V Dicey and the Human Rights Act 1998 (UK), (2002) 13 Public LRev. 69. 68 Anders section 7 des New Zealand Bill of Rights Act 1990, der eine Überprüfung durch den Attorney-General vorsieht. 69 [1993] AC 593.
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großen Anreiz für die Gerichte darstellen wird, eine Inkompatibilitätserklärung zu vermeiden und das Gesetz (irgendwie) konventionskonform auszulegen. 70
III. Zum Wesen des Human Rights Act 1998 als Fremdkörper im britischen Verfassungssystem und Katalysator des Verfassungswandels Durch den Human Rights Act 1998 wurden die Konventionsrechte somit in nationales Recht transformiert. Die besondere Bedeutung des Human Rights Act 1998 im Rahmen des Verfassungsreformprozesses erschließt sich durch seinen Regelungsgehalt allein jedoch nicht. Aus diesem Grund ist sowohl eine Erläuterung seiner spezifischen Natur als auch eine Einbettung in den Gesamtkontext des britischen Verfassungswandels von Nöten. So stellt sich der Human Rights Act 1998 von seinen Wurzeln her betrachtet als ein Fremdkörper im britischen Verfassungs- und Rechtssystem dar, der als solcher aber sowohl prägend auf das bestehende System wirkt, als auch selbst durch das bestehende System geprägt wird. 1. Der Human Rights Act 1998 als legal irritant Verschriftlichte Grundrechtskataloge haben ihre Wurzeln vornehmlich in der kontinentalen Civil-Law-Tradition. 71 Rechte werden abstrakt formuliert und in zumeist weit gefassten Gesetzen positiviert. Das Denken des kontinentaleuropäischen Juristen ist durch Begriffslogik und Systemdenken geprägt, wertzentriert und auf Einheitsbildung gerichtet. Er geht überwiegend deduktiv vor. Die von der Rechtswissenschaft entwickelte Dogmatik ist von großer Bedeutung. Die britische Common-Law-Tradition hingegen basiert auf dem von Fall zu Fall mit Präjudizienbindung geschaffenen Richterrecht und ist überwiegend verfahrensorientiert. Gerichtliche Entscheidungen haben rechtsverbindlichen Charakter; Gesetze sind tendenziell detaillierte Ausnahmeregelungen; abstrakte Niederlegungen von Rechten sind unerwünscht, da unnötig. Aus diesem Grund ist die Arbeitstechnik des britischen Juristen vornehmlich von Pragmatismus 72 und Re70 So auch Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated Convention on Human Rights, [1998] P.L. 221; Lord Lester of Herne Hill, Human Rights and the British Constitution, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 102. Allerdings hat Lord Hope in R v A (No 2) [2001] 2 WLR 1546, 1570, para. 69 die Ansicht vertreten, dass die Kompatibilitätserklärung nicht mehr als eine bloße Meinungsäußerung des Ministers sei, die das Gericht weder binde noch irgendeine persuasive authority beinhalte. 71 Beverly McLachlin, Bills of Rights in Common Law Countries, (2002) 51 I.C.L.Q.198.
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lativismus gekennzeichnet. Zwar enthält auch seine Vorgehensweise deduktive Elemente, doch bleibt sie in hohem Maße induktiv. 73 Vor dem Hintergrund dieser zugegebenermaßen schematisierenden Betrachtung liefert der Human Rights Act 1998 einen Anschauungsgegenstand dafür, was passiert, wenn man Elemente der einen Tradition mit der der anderen vermengt. Dieses Phänomen wird auch mit der Metapher „legal transplant“ 74 oder vielleicht noch treffender mit dem von Gunther Teubner geprägten Begriff „legal irritant“ 75 bezeichnet. Gunther Teubner hält die durch den Begriff „legal transplant“ suggerierte Dichotomie zwischen Abstoßung des „Fremdkörpers“ auf der einen Seite oder produktiver Interaktion mit den anderen Elementen des rechtlichen Organismus auf der anderen Seite für irreführend. Für ihn bewirkt ein derartiger „Fremdkörper“ vor allem eine fundamentale Irritation des bestehenden Systems. Jedoch werde auch der „Fremdkörper“ selbst durch den neuen Organismus, in dem er lebt, „irritiert“. Aus dieser Wechselwirkung folgt, dass die Übernahme fremdartiger Elemente nicht zwangsläufig zu einer Annäherung der vermengten Systeme führen muss, sondern vielmehr neue Divergenzen heraufbeschwören kann. Einige Autoren, wie zum Beispiel der Kanadier Pierre Legrand 76, gehen sogar davon 72
Der Gedanke des Pragmatismus findet auch in der größeren Rechtsmittelbezogenheit des britischen Rechts seinen Ausdruck. So ist das britische Rechtsdenken verstärkt auf remedies und weniger an objektiven Rechten ausgerichtet. 73 Vgl. Herbert J. Spiro, Government by Constitution, 1959, S. 222 ff. 74 Vgl. Alan Watson, Legal Transplants and European Private Law, Ius commune Lectures on European Private Law 1, verfügbar unter http://www.ejcl.org/ejcl/44/44 – 2.html; ders., Legal transplants: An Approach to Comparative Law, 1993. 75 Gunther Teubner, Legal Irritants: Good Faith in British Law or How Unifying Law Ends Up in New Divergences, (1998) 61 M.L.R. 11 ff. 76 Pierre Legrand hat entgegen der vorherrschenden Meinung innerhalb der europäischen Rechtsvergleichung, nach der eine Konvergenz zwischen dem civil law und dem common law System zu verzeichnen ist, (vgl. hierzu statt vieler, Hein Kötz, Alte und Neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, JZ 2002, 257 ff., Begründer der Konvergenztheorie und der Rechtskreistheorie, die, wie er selbst zugibt, nicht überbewertet werden darf) die provokante These aufgestellt, dass die europäischen Rechtssysteme nicht konvergieren. Vgl. Pierre Legrand, European Legal Systems are not converging, (1996) 45 I.C.L.Q. 52 ff.; ders., Against a European Civil Code, (1997) 60 M.L.R. 44 ff.; ders., Uniformity, Legal Traditions, and Law’s Limits, [1996 –97] Särtryck ur Juridisk Tidskrift, 306 ff. Zwar gesteht auch er ein, dass eine gewisse Annäherung auf der Ebene einfacher rechtlicher Regelungen und auch Institutionen zu verzeichnen sei, dennoch hält er die tieferliegenden Strukturen des Rechts der einzelnen Rechtskreise, ihre Mentalitäten (mentalities), Traditionen und Vorverständnisse für so grundverschieden, dass diese Kluft nicht überwunden werden könne. In direktem Widerspruch zu dieser stark durch den sozialen Kontext geprägten Auffassung (Kontextualismus) vgl. die von Watson propagierte und auf der Autonomie des Rechts aufbauenden Theorie, Alan Watson, The Evolution of Law, 1985; ders., Evolution of Law: Continued, (1987) 5 Law and History Review 537 ff.; ders., Legal Transplants: An Approach to Comparative Law, 1993; ders., Aspects of Reception of Law, (1996) 44
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aus, dass die verschiedenen Rechtstraditionen, insbesondere der Common-Lawund Civil-Law-Systeme, sich unüberbrückbar gegenüberstünden und daher „legal transplants“ den Transplantationsprozess nie, zumindest nicht unverändert, überleben könnten: „Accordingly, legal transplants are impossible.“ 77 Trotz einiger, zum Teil auch erheblicher Unterschiede im Einzelnen ist den verschiedenen Ansichten gemein, dass sie das Potential der „legal irritants“ für rechtliche Veränderung – sowohl in der einen als auch der anderen Richtung – unterstreichen, und verdeutlichen, dass diese Veränderungen nicht zwangsläufig zu einer Kongruenz führen müssen. 2. Der Human Rights Act 1998 als Teil eines fundamentalen Verfassungswandels In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es verfehlt wäre, die Einführung des Human Rights Act 1998 isoliert zu betrachten und hierin den alleinigen Grund für elementare Veränderungen in der britischen Verfassungsstruktur zu sehen. Vielmehr muss der Human Rights Act 1998 als Teil eines fundamentalen Verfassungswandels begriffen werden, der in den 1970er Jahren und insbesondere seit 1997/98 unter der New-Labour-Regierung eine große Dynamik entwickelte und eine graduelle Veränderung, wenn nicht gar Erosion, des bestehenden Verfassungssystems bewirkt hat. 78 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diesem Wandlungs- und Reformprozess keine kohärente „Vision“ zugrunde lag. 79 Die Reformen stellten vielmehr Ad-hocRegelungen, d. h. pragmatische Reaktionen auf bestimmte politische DrucksituaAm.J.Comp.L. 335 und ihre Kritik durch Gunther Teubner, Legal Irritants: Good Faith in British Law of How Unifying Law Ends Up in New Divergences, (1998) 61 M.L.R. 11 ff., der eine differenziertere Lösung vertritt, und William Ewald, Comparative Jurisprudence II: the Logic of Legal Transplants, (1995) 43 Am.J.Comp.L. 489 ff. 77 Pierre Legrand, The Impossibility of „Legal Transplants“, (1997) 4 Maastricht Journal of European and Comparative Law 111 ff. 78 Hierzu umfassend Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003. Siehe auch Nevil Johnson, Reshaping the British Constitution. Essays in Political Interpretation, 2004; F. Nigel Forman, Constitutional Change in the United Kingdom, 2002; Michael Foley, The politics of the British constitution, 1999, S. 110 ff; Robert Hazell, The Continuing Dynamism of Constitutional Reform, (2007) 60 Parliamentary Affairs 3 ff.; Richard Kelly / Oonagh Gay / Isobel White, The Constitution: Into the Sidings, (2005) 58 Parliamentary Affairs 215 ff. 79 Vgl. Kevin Theakston, Prime Ministers and the Constitution: Attlee to Blair, (2005) 58 Parliamentary Affairs 35: „There is no coherent overall Blairite strategy for the constitution.“ Siehe auch Donald Shell, Labour and the House of Lords: A case study in constitutional reform, (2000) 52 Parliamentary Affairs 309: „(...) the way in which the constitution is reformed has far more to do with short-term tactical goals set by politicians than with long-term rights of citizens.“
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tionen dar. Aus diesem Grunde darf an sie nicht der Anspruch eines lückenlosen und widerspruchsfreien Systems gestellt werden. Zudem ist der Entwicklungsprozess noch nicht abgeschlossen. Von einem sogenannten constitutional settlement kann insofern noch nicht gesprochen werden. Gerade in der jüngeren Vergangenheit hat es eine Vielzahl von Reformen bzw. Reformprojekten von allgemeiner verfassungsmäßiger Bedeutung gegeben (wie z. B. die Errichtung eines Supreme Court und eines Ministry of Justice, die beabsichtigte Reform des House of Lords und die Umgestaltung des Amtes des Lord Chancellor). 80 Im Hinblick auf das Verhältnis von Judikative und Legislative 80 Folgende bedeutende, das Verhältnis aller drei Gewalten prägende Eckpunkte des Verfassungsreformprozesses sind insbesondere erwähnenswert: der Constitutional Reform Act 2005 (CRA), der im Wesentlichen die Abschaffung des herkömmlichen Amtes des Lord Chancellor (vgl. § 9 I.2.), die Einführung eines Supreme Court (siehe § 9 I.) und das Verfahren der Richterernennung regelt, „the concordat“ zwischen dem Lord Chief Justice of England and Wales (Lord Woolf ) und dem damaligen Lord Chancellor (Lord Falconer of Thornton) sowie die Errichtung des Ministry of Justice (MoJ), das am 9. Mai 2007 seine Arbeit aufnahm. Die Reformen waren dazu gedacht, der hervorgehobenen Stellung der Judikative Rechnung zu tragen und ihre Unabhängigkeit zu sichern. Die unsensible Ankündigung des Constitutional Reform Act 2005, die ohne vorherige Anhörung der Judikative und inmitten einer Kabinettumstrukturierung erfolgte, hat jedoch zu nicht unerheblichen Verstimmungen zwischen der Judikative und der Exekutive geführt. Das daraufhin zwischen Lord Woolf und Lord Falconer geschlossene „Concordat“, dessen formelle Bezeichnung „The Lord Chancellor’s judiciary-related function: Proposals“ lautet, ist in vielerlei Hinsicht in den Constitutional Reform Act 2005 eingeflossen, wird aber darüberhinaus als constitutional convention von verfassungsmäßigem Einfluss bleiben. Die Einrichtung des Ministry of Justice fand in ähnlich unsensibler Weise statt. So mussten der Lord Chancellor und der Lord Chief Justice am 21. Januar 2007 von The Sunday Telegraph von den gegenwärtigen Plänen der Regierung erfahren. Erneut war daraufhin von einer „constitutional crisis“ die Rede. Das neue Ministry of Justice übernimmt die bisherigen Aufgaben des Department of Constitutional Affairs (DCA) und folgende Aufgaben, die bisher dem Home Office oblagen: Strafrecht und Strafbemessung, Strafanstalten, Bewährung und die Reduzierung der Rückfallquote. Insbesondere die Verantwortung für den Strafvollzug lässt bei der Richterschaft Befürchtungen hinsichtlich des ihnen zur Verfügung stehenden Budgets und – damit zusammenhängend – einer möglichen Einflussnahme der Regierung laut werden. Näher hierzu: House of Lords Select Committee on the Constitution, 6 th Report of the Session 2006 –07, Relations between the executive, the judiciary and Parliament, Report with Evidence, HL Paper 151, London Juli 2007. Die Reform des House of Lords ist ein langfristiges Vorhaben, das immer wieder aufgehalten wurde (1909, 1949, 1968, 2003). Mit dem House of Lords Act 1999 wurde nunmehr dem Großteil des Erbadels (hereditary peers) das Recht genommen, im House of Lords zu sitzen und abzustimmen. Nunmehr glaubt sich das Parlament einer breiten Unterstützung für weitere Reformen sicher und hat im Februar 2007 das White Paper, The House of Lords: Reform (cm 7027) präsentiert. Dort wird u. a. ein sog. hybrid House vorgeschlagen, dessen 540 Mitglieder teilweise gewählt, teilweise durch eine Statutory Appointments Commission ernannt werden. Die Verbindung zwischen peerage und einem Sitz im Parlament wird damit aufgebrochen. Eine höhere demokratische Legitimation wird
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sind neben dem Human Rights Act 1998 insbesondere der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft 81 und die Devolution-Gesetzgebung 82 von besonderer Relevanz und haben in nicht unerheblichem Maße zur schrittweisen Aushöhlung der Parlamentssouveränität beigetragen. 83 Aus dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, der auch gegenüber nationalem Recht durch die Factortame-Entscheidung 84 aus dem Jahre 1991 durch das House of Lords anerkannt wurde, erfolgt eine materielle Bindung des Parlaments und damit einhergehend eine Art judicial review of legislation. Die britischen Gerichte haben somit die Kompetenz und die Pflicht, Parlamentsgeerreicht. Die neue Kammer soll längerfristiges und von parteipolitischen Erwägungen weitestgehend freies Denken ermöglichen und eine Ergänzung – keine Konkurrenz – zum House of Commons darstellen. 81 Diesen Aspekt besonders betonend, Stefan Schieren, Die Stille Revolution – Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001. 82 Die gesetzlichen Grundlagen der devolution bilden der Scotland Act 1998, Northern Ireland Act 1998 und der Government of Wales Act 1998 bzw. der (teilweise) am 25. Juli 2006 in Kraft getretene Government of Wales Act 2006, der den Walisern u. a. neue legislative Kompetenzen einräumt. Vgl. zur devolution allgemein und zu den länderspezifischen Besonderheiten aus der umfangreichen Literatur z. B. Vernon Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, 1999; Barry Winetrobe, Scottish Devolution: Aspirations and Reality in Multi-Layer Governance, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2004, S. 173; Christopher McCrudden, Northern Irland, the Belfast Agreement, and the British Constitution, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2004, S. 195; Richard Rawlings, Delineating Wales: Constitutional, Legal and Administrative Aspects of National Devolution, 2003; Brigid Hadfield, Devolution in the United Kingdom and the English and Welsh Questions, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2004, S. 237; dies., Devolution, Westminster and the English Question, [2005] P.L. 286 ff.; Jonathan Bradbury / James Mitchell, Devolution: Between Governance and Territorial Politics, (2005) 58 Parliamentary Affairs 287 ff.; Robert Hazel (ed.), The English Question, 2006; Noreen Burrows, Devolution, 2000; Anthony King, Does the United Kingdom still have a constitution, 2001, S. 63 – 68. Aus der deutschsprachigen Literatur vgl. Andreas Schwab, Devolution – Die asymmetrische Staatsordnung des Vereinigten Königreichs, 2002; Marcus Mey, Regionalismus in Großbritannien – kulturwissenschaftlich betrachtet, 2003; Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 59 ff.; Rosanne Palmer / Charlie Jeffrey, Das Vereinigte Königreich – Die „Devolution-Revolution“ setzt sich fort, in: Jahrbuch des Föderalismus (Bd. 3): Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, 2002, S. 343 ff.; Rainer Grote, Regionalautonomie für Schottland und Wales – das Vereinigte Königreich auf dem Weg zu einem föderalen Staat, ZaöRV 58 (1998), 109 ff.; Gisbert Brinkmann, Verfassungsund Verwaltungsreform in Großbritannien, VerwArch 70 (1979), 309 ff. und bereits Karl Loewenstein, Das Problem des Föderalismus in Großbritannien, Annalen des deutschen Reiches 1921, 1ff. Der Government of Wales Act 2006 und weitere Anmerkungen sind verfügbar unter: http: //www.opsi.gov.uk/ACTS/acts2006/20060032.htm. 83 Siehe unten § 8 I. 84 R v Secretary of State for Transport, ex parte Factortame (No 2) [1991] 1 AC 603.
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setze am Maßstab des unmittelbar anwendbaren Europarechts zu überprüfen und im Konfliktfall außer Anwendung zu lassen. Solange das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleibt, hat dies eine Teileinschränkung der Suprematiedoktrin zur Folge, über die inzwischen auch weitgehend Einigkeit besteht. 85 Zwar wurde dieses Phänomen bisher als auf europarechtliche Zusammenhänge beschränkt angesehen, angesichts der weitreichenden Folgen der Europäisierung stellt es aber eine nicht unerhebliche Modifikation der verfassungsrechtlichen Strukturen dar. Die prinzipiell uneingeschränkte Fortgeltung der Doktrin der Parlamentssouveränität kann nur noch durch Verweis auf theoretische Möglichkeiten verteidigt werden, die dem pragmatischen Charakter britischen Rechtsdenkens zuwiderlaufen. So begründete Lord Bridge die Factortame Entscheidung mit einer contractarian justification: „If the supremacy (...) of Community law over national law of member states was not always inherent in the EEC Treaty it was certainly well established in the jurisprudence of the Court of Justice long before the United Kingdom joined the Community. Thus, whatever limitation of its sovereignty Parliament accepted when it enacted the European Communities Act was entirely voluntary (...) [T]here is nothing in any way novel in according supremacy to rules of Community law in those areas to which they apply and to insist that, in the protection of rights under Community law, national courts must not be inhibited by rules of national law from granting interim relief in appropriate cases is no more than a logical recognition of that supremacy.“ 86
Danny Nicol jedoch konnte anschaulich darlegen, dass es einen derartigen informierten Konsensus bezüglich des EG-Beitritts im Parlament nie gegeben hat und die von Lord Bridge benutzte Argumentation daher auf einer Fiktion beruht. 87 Zudem ist der theoretische Verweis auf die Möglichkeit eines Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU mit der Folge, dass „volle“ Parlamentssouveränität wieder hergestellt würde, praktisch nicht realisierbar. Durch die Devolution-Gesetzgebung hat das Parlament weitere (faktische) Kompetenzverluste erlitten, und Großbritannien hat sich von einem unitaristischen zu einem quasi-föderalen Staat gewandelt. So haben Schottland und Nordirland 85
Vgl. Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 84. Zur Diskussion, ob und inwieweit das britische Parlament seine rechtliche Allmacht bewahren kann und der Frage, ob Großbritannien rechtmäßig die Europäische Gemeinschaft verlassen könnte und ein derartiger Schritt zu einem Wiederaufleben der unbeschränkten Allmacht des Parlaments führen würde vgl. Neil MacCormick, Questioning Sovereignty: Law, State and Practical Reason, 1999; A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament – Form or Substance, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 23 ff.; Paul Craig, Britain in the European Union, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 61 ff.; Danny Nicol, EC Membership and the Judicialisation of British Politics, 2001. 86 R v Secretary of State for Transport, ex parte Factortame (No 2) [1991] 1 AC 603, 643. 87 Danny Nicol, EC Membership and the Judicialisation of British Politics, 2001.
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für bestimmte Sachgebiete, den sogenannten devolved matters, eigene Legislativkompetenzen erhalten. In Nordirland wurden die devolution arrangements angesichts der politisch angespannten Lage jedoch wiederholt ausgesetzt und sind erst seit dem 5. Mai 2007 wieder in Kraft. Wales hingegen wurde überhaupt erst kürzlich – auf der Basis des Government of Wales Act 2006 – die Möglichkeit eingeräumt, in bestimmten Sachgebieten eigene Gesetze zu erlassen. 88 Im Bereich der devolved matters haben die Regionalparlamente die Befugnis – trotz weiterhin fortgeltender Gesetzgebungskompetenz des Westminster Parliament 89 –, Gesetze aus London zu ändern oder aufzuheben. Damit es nicht zu Konflikten zwischen Westminster und den Regionalparlamenten kommt, die aufgrund der „Doppelkompetenz“ zu einem „legislative ping-pong“ 90 führen könnten und im Extremfall nur durch eine praktisch undenkbare Aufhebung der entsprechenden Devolution-Gesetzgebung beendet werden könnten, hat sich die sogenannte Sewel Convention in der Verfassungspraxis etabliert. 91 Nach dieser Konventionsregel übt Westminster Parliament seine Gesetzgebungskompetenz über devolved matters nur mit Zustimmung des entsprechenden Regionalparla-
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Eine neue Kategorie walisischer Legislativmaßnahmen wird Assembly Measures genannt (siehe section 93 –96 Government of Wales Act 2006). Zu ihrem Erlass benötigt die National Assembly for Wales jedoch eine „legislative competence“ (vgl. schedule 5 Assembly Measures), die auf einer Fall-zu-Fall-Basis vom UK Parliament erweitert oder eingeschränkt werden kann. Darüber hinaus ist in part 4 des Government of Wales Act 2006 die Möglichkeit geregelt, dass die Assembly – nach entsprechender Zustimmung in einem Referendum – die in schedule 7 genannten „Primary“-Legislativkompetenzen ausüben kann. Wird von diesem Recht Gebrauch gemacht, erlischt die Befugnis zum Erlass von „Assembly Measures“; vielmehr kann die Assembly an ihrer Stelle nunmehr „Acts of the Assembly“ erlassen. Vor Einführung des Government of Wales Act 2006 hatte Wales keine eigenen, sondern lediglich sog. „delegierte“ bzw. „subordinate“ Legislativkompetenzen. Im Wesentlichen konnte die Assembly Rechtssetzungsakte des Westminster Parliament ausfüllen. Der National Assembly for Wales stand für den Fall, dass Westminster ein Gesetz mit Wirkung für Wales erlassen wollte, zudem ein Anhörungsrecht zu. Aus diesem Grund wurde die im Government of Wales Act 1998 vorgesehene Form der devolution als executive devolution bezeichnet, während man bezüglich Nordirland und Schottland von legislative devolution sprach. Vgl. auch Brigid Hadfield, Devolution in the United Kingdom and the English and Welsh Questions, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2004, S. 237; Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights, 2003, S. 658 ff.; Richard Rawlings, Delineating Wales: Constitutional, Legal and Administrative Aspects of National Devolution, 2003. Government of Wales Act 2006 – Explanatory Notes sind verfügbar unter http://www.opsi.gov.uk.ACTS/en2006/2006en32.htm. 89 Noreen Burrows, Devolution, 2000. Vgl. section 107 (5) Government of Wales Act 2006 und section 28 (7) Scotland Act 1998. 90 Noreen Burrows, Devolution, 2000, S. 61. 91 Vgl. Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 64 m.w. N.
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ments aus. Somit wird zwar die Gesetzgebungskompetenz des Westminster Parliament formal nicht angetastet, sie wurde aber faktisch beschränkt, da Westminster in devolved matters nur noch mit Zustimmung des Regionalparlaments Gesetze erlassen kann. 92 Darüber hinaus wird die Stellung der Gerichte durch die erhöhte Normierungsdichte im Bereich der devolution gestärkt. So dürfen die Gerichte Gesetzgebungsakte der Regionalparlamente daraufhin überprüfen, ob sie sich im Rahmen der devolved matters bewegen, und entscheiden somit mittelbar auch darüber, in welchen Bereichen Westminster Parliament ohne Zustimmung der Regionalparlamente seine Legislativkompetenzen ausüben kann. Die diesem Verfassungswandel zugrunde liegende allgemeine Hinwendung von einer political zu einer law-based constitution 93 erhält durch die Einführung des Human Rights Act 1998 ein besonderes Beschleunigungsmoment. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die Veränderungen im traditionellen Verfassungsverständnis betrachtet werden, um sodann (3. Teil) aber auch einen Blick auf den weiterhin bestehenden Einfluss des traditionellen Verständnisses auf die Anwendung und Durchsetzung des Human Rights Act 1998 zu werfen.
§ 8 Die Wandlung des traditionellen Verfassungsverständnisses durch den Human Rights Act 1998 Am Beispiel des Human Rights Act kann nunmehr der Wandel in den Grundlagen der britischen Verfassung verdeutlicht werden. Zu diesem Zweck werden spiegelbildlich zum ersten Teil der Arbeit folgende Kernaspekte des britischen Verfassungssystems und -denkens vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Human Rights Act näher erörtert: die Doktrin der Parlamentssouveränität, die Rule of Law, der Freiheitsschutz sowie das Demokratie- und rechtstheoretische Verständnis in Großbritannien. 92
Im Übrigen geht mit der devolution, die in Wales und Schottland z. B. zur Einführung eines Verhältniswahlrechts (proportional representation) und damit zur Koalitionsbildung sowie zu einem mehr konsensorientierten Regierungsstil geführt hat, eine allgemeine Veränderung des politischen Klimas einher, die auch Westminster nicht unberührt lässt. Vgl. Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2004, preface xii. Eine Abkehr vom derzeitigen First-past-the-Post-Mehrheitswahlrecht (FPP) zugunsten eines Verhältniswahlrechts, wie es z. B. in Neuseeland in Form des MMP-Systems (mixedmember-proportional) existiert, nimmt derzeit dennoch keinen vorrangigen Platz auf der politischen Agenda in Großbritannien ein. 93 Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, preface.
§ 8 Die Wandlung des traditionellen Verfassungsverständnisses
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I. Substanzverlust der Doktrin der Parlamentssouveränität Will man die Auswirkungen des Human Rights Act 1998 auf die Doktrin der Parlamentssouveränität betrachten, so scheint die Antwort auf den ersten Blick klar und eindeutig. Formal oder normativ betrachtet bleibt das Dogma der Parlamentssouveränität unberührt. 94 Section 4 (6) (a) stellt ausdrücklich klar, dass den Gerichten keine Verwerfungskompetenz im Hinblick auf konventionswidrige Gesetze zuerkannt wird, obwohl sie befugt sind, Unvereinbarkeiten zwischen nationalen Gesetzen und Konventionsrechten durch eine declaration of incompatibility aufzudecken. Der Human Rights Act 1998 versucht vielmehr durch präventive Maßnahmen, wie dem statement of compatibility und weiten interpretatorischen Befugnissen, 95 den Konventionsrechten zur Durchsetzung zu verhelfen. Aus diesen Gründen stellte Lord Irvine of Lairg auch fest: „It (the Human Rights Bill) maximises the protection of human rights without trespassing on parliamentary sovereignty.“ 96 94 Dies war, wie aus dem White Paper, Rights Brought Home: the Human Rights Bill hervorgeht, auch so intendiert: „The Government had reached the conclusion that courts should not have the power to set aside primary legislation, past or future, on the ground of incompatibility with the Convention. This conclusion arises from the importance which the government attaches to parliamentary sovereignty (...). In enacting legislation, Parliament is making decisions about important matters of public policy. The authority to make those decisions derives from a democratic mandate (...). To make provision in the Bill for the courts to set aside Acts of Parliament would confer on the judiciary a general power over the decisions of Parliament which under our present constitutional arrangements they do not possess, and would be likely on occasion to draw the judiciary into serious conflict with Parliament. There is no evidence to suggest that they desire this power, nor that the public wish them to have it.“ Cm 3782 (1997), para. 2.14. 95 Bei genauerer Betrachtung liegt allein hierin schon ein erhebliches Potential, die Parlamentssouveränität zwar indirekt, aber nicht minder effektiv auszuhöhlen. Siehe auch unten § 12 II.1. 96 H.L. Deb., 3. 11. 1997, vol. 582, col. 1229. Ähnlich auch Lord Steyn in R v DPP, ex parte Kebilene [1999] 3 WLR 972, 981, der sagte: „It is crystal clear that the carefully and subtly drafted Human Rights Act preserves the principle of parliamentary sovereignty.“ Oder auch Lord Lester, der den Human Rights Act als eine „ingenious and successful reconciliation of the principles of parliamentary sovereignty and the need for effective remedies“, vgl. Hansard, HL col 521 (18 Nov 1997), beschreibt. In diesen Aussagen wird ein Phänomen deutlich, das immer wieder beobachtet werden kann: die ausdrückliche Anerkennung und Aufrechterhaltung der Doktrin der Parlamentssouveränität trotz ihrer inhaltlichen Aushöhlung, die den Richtern durchaus bewusst ist. So führt Lord Steyn in Kebilene weiter aus „a new legal order will come into existence when the Human Rights Act comes into effect“, vgl. R v DPP, ex parte Kebilene [1999] 3 WLR 972, 981. Conor Gearty beschreibt den Human Rights Act als ein „piece of positive law with very strong natural law edges“, vgl. Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 25.
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Dieses Bild erscheint bei genauerer Betrachtung aber geschönt oder ist zumindest irreführend. Zwar ist seit jeher anerkannt, dass die Doktrin der Parlamentssouveränität lediglich rechtliche, nicht aber politische Beschränkungen ausschließt. Insofern scheint die Tatsache weitreichender politischer Beschränkungen durch den Human Rights Act 1998 unerheblich für die Beurteilung der Frage nach dem Einfluss des Human Rights Act 1998 auf die (rechtliche) Doktrin des omnipotenten Parlaments zu sein. Diesem Grundsatz liegt aber stillschweigend die Annahme zugrunde, dass die politischen Beschränkungen lediglich als Korrektiv der rechtlichen Allmacht dienen und sie nicht völlig von Sinn entleeren. Ein zu weites Auseinanderklaffen zwischen rechtlichem und politischem Können höhlt die Doktrin der Parlamentssouveränität aus, da sie nicht mehr als Beschreibung der Verfassungswirklichkeit dienen kann. Der fehlende Wirklichkeitsbezug wiederum – gepaart mit einem Wandel der grundlegenden Rahmenbedingungen der Doktrin der Parlamentssouveränität – kann ihre Akzeptanz und damit letzten Endes auch ihren rechtlichen Bestand gefährden. Somit ist der tatsächliche Einfluss des Human Rights Act 1998 auf die inhaltlichen Wertungen der Parlamentssouveränität durchaus von Interesse und soll im Folgenden genauer betrachtet werden. 1. Faktische Modifikation des positiven Bedeutungsgehalts der Parlamentssouveränität Faktisch gesehen wird der positive Bedeutungsgehalt der Parlamentssouveränität, Gesetze jeden Inhalts erlassen zu können, inhaltlich modifiziert, um nicht zu sagen beschränkt. Den in den Konventionsrechten niedergelegten grundlegenden Menschenrechten wohnte seit jeher eine starke moralische Kraft inne, die als externes Limit auf die Parlamentssouveränität wirkte. So wird immer wieder gerne darauf verwiesen, dass Großbritannien einer der maßgeblichen Architekten der Europäischen Menschenrechtskonvention war 97 und viele der Konventionsrechte Common-Law-Prinzipien entsprächen 98. Die diesen Prinzipien innewohnende Kraft wurde durch die Positivierung dieser Rechte im innerstaatlichen Recht und durch ihre transparentere, besser operationalisierbare Form sowie dem hinter Kritiker des Human Rights Act wie z. B. Geoffrey Marshall sprechen hingegen von „(...) combining a confused attachment to parliamentary sovereignty with a dangerous lack of concern for the integrity of the judicial function“, vgl. Geoffrey Marshall, The United Kingdom Human Rights Act 1998, in: Vicki C. Jackson / Mark Tushnet (eds.), Defining the Field of Comparative Constitutional Law, 2002, S. 114. 97 Z. B. Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 5. 98 Vgl. z. B. Lord Donald in R v Secretary of State for the Home Department, ex Parte Brind [1991] 1 AC 696 at 717, „You have to look long and hard before you can detect any difference between the English common law and the principles set out in the Convention, at least if the Convention is viewed through English judicial eyes.“
§ 8 Die Wandlung des traditionellen Verfassungsverständnisses
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diesen Rechten und ihrer Inkorporierung stehenden Anspruch auf bestmögliche innerstaatliche Durchsetzung noch weiter erhöht. Die Möglichkeit einer Inkompatibilitätserklärung bereichert dieses Druckpotential noch um eine retrospektive Komponente von besonderer Schlagkraft. Nach verbreiteter – wenn auch nicht unbestrittener – Auffassung unter Politikwissenschaftlern sind die politischen Bindungen, die nunmehr entstanden sind, nicht nur hoch, sondern unüberwindbar. 99 Es muss jedoch unterschieden werden: Zum einen entsteht eine politische Verpflichtung des Parlaments, keine konventionswidrigen Gesetze zu erlassen. Der hierin liegende präventiv wirkende Druck auf die Legislative scheint angesichts des Erfordernisses einer Kompatibilitätserklärung vor Erlass eines Gesetzes und der weiterhin bestehenden Möglichkeit, den EGMR in Straßburg anzurufen, in der Tat recht hoch, wenn auch nicht unbedingt unüberwindbar zu sein. Der Home Secretary bemerkte daher zutreffend: „One of the questions that will always be before Government, in practice, will be, ‚Is it sensible to wait for a further challenge to Strasbourg, when the British courts have declared the provision to be outwith the Convention?‘“ 100
Das Gleiche gilt für den Fall, dass eine Inkompatibilitätserklärung erlassen wird und somit offenkundig gemacht wird, dass das Parlament nicht das nötige Maß von self-restraint hat walten lassen, um civil liberties und Minderheitenrechte ausreichend zu schützen. Auch in solchen Fällen ist in besonders hohem Maß mit der Anrufung des EGMR in Straßburg zu rechnen. Abgesehen hiervon liegt in einer Inkompatibilitätserklärung auch immer die Gefahr, dass die Autorität und das Vertrauen in das Parlament untergraben und damit auch die Annahme einer parlamentarischen Omnipotenz, die häufig mit der stillschweigenden Annahme der Unfehlbarkeit des Parlaments gepaart ist, unterminiert wird. Trotz des durch (In-) Kompatibilitätserklärung und der Möglichkeit der Anrufung des EGMR auf das Parlament ausgeübten Drucks ist der bewusste Erlass konventionswidriger Gesetze jedoch nicht völlig undenkbar. Etwas anders stellt sich hingegen die Situation hinsichtlich einer möglichen Aufhebung des Human Rights Act 1998 dar. Es ist kaum vorstellbar, dass Großbritannien den einmal eingeschlagenen Trend angesichts der fortschreitenden globalen und insbesondere auch europäischen Menschenrechtsbewegung wieder revidieren könnte. Zwar wird in Großbritannien gerade die Aufhebung bzw. Abänderung des Human Rights Act diskutiert, dies aber vor dem Hintergrund der möglichen Einführung einer „home grown“, d. h. originär britischen Bill of Rights. 101 Ziel der zum Teil wenig durchdachten Reformvorschläge soll die Erweiterung und Verfestigung des Grundrechtsregimes unter Berücksichtigung der spezifischen Belange 99
Anthony King, Does the United Kingdom still have a Constitution? (The Hamlyn Lectures 2000), 2001, S. 63 ff. 100 HC Debs, Vol. 306, 1998: 773.
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Großbritanniens sein. 102 Insofern mag zwar der Human Rights Act 1998 überwindbar sein, das verfassungsrechtliche Bekenntnis zu positivierten Grundrechten und die damit einhergehenden politischen Bindungen sind es wohl nicht. Die Beschränkung der Parlamentssouveränität durch politische Bindungen, die sich im Einzelfall sogar als irreversibel darstellen, ist zwar kein gänzlich neues Phänomen und widerspricht auch nicht der Orthodoxie, es ist aber in seiner Tragweite durch die im Human Rights Act 1998 niedergelegten Konventionsrechte, deren Einfluss das gesamte Rechtssystem durchdringt, in besonderem Maße bemerkenswert. So ist zu befürchten, dass der Human Rights Act 1998 einer fortschreitenden
101 So hat der konservative Oppositionsführer David Cameron 2006 eine britische bill of rights and responsibilites unter Aufhebung des Human Rights Act vorgeschlagen, David Cameron, Balancing freedom and security: A modern British Bill of Rights, Rede vor dem Centre for Policy Studies, 26. Juni 2006, zitiert nach The report of the JUSTICE constitution committee, A Britisch Bill of Rights – Informing the Debate, 2007, S. 10 verfügbar unter: www.justice.org.uk. Die Liberal Democrats verfolgen weiterhin ihre Kampagne zur Einführung einer geschriebenen Verfassung, die eine „entrenched“ new British bill of rights umfassen sollte, siehe For the People, By the People, Liberal Democrat Policy Paper 83, 6. September 2007, S. 16, para 4.2.4., verfügbar unter www.libdems.org.uk/party/policy/ paperlist.html. Die Labour-Regierung unter Gordon Brown hat gerade ein Green Paper veröffentlicht, in dem die Weiterentwicklung des Human Rights Act zu einer den britischen Bedürfnissen entsprechenden Bill of Rights and Duties angeregt wird, vgl. The Governance of Britain, CM 7170, Juli 2007. Zu Recht sehr kritisch hinsichtlich der Einführung einer „home grown“ Britisch Bill of Rights – zumal Großbritanniens internationale Verpflichtungen aufgrund der EMRK weiterhin bestehen bleiben: Francis G. Jacobs, The Sovereignty of Law. The European Way, 2006, S. 32 ff. 102 Hintergrund der Debatte ist allerdings neben dem wohlbegründeten Bedürfnis nach weiteren verfassungsmäßigen Reformen der bedenklich stimmende Umstand, dass der Human Rights Act aufgrund einseitiger und zum Teil falscher Medienberichterstattung und gelegentlicher Fehlinterpretationen durch übereifrige Beamte als „rogues‘ charter“ in die Defensive geraten ist, und die Befürchtung besteht, dass er den Kampf gegen den Terrorismus hemmen könnte. Da die politische Debatte von vielen Missverständnissen, Unwissenheit und Fehlinformationen geprägt ist, hat das JUSTICE constitution committee einen um Neutralität bemühten Bericht verfasst, der als Grundlage für die Debatte dienen soll und auch auf die Gefahr einer unangemessenen Berücksichtigung von „short-term concerns for security“ hinweist. Es fällt auf, dass zwar ein Bruch mit der Doktrin der Parlamentssouveränität durchaus als Möglichkeit offen diskutiert wird, Grundrechtsschutz nach Art und Weise des Human Rights Act bzw. des commonwealth constitutionalism (siehe § 15 I.1.) aber favorisiert wird, siehe The report of the JUSTICE constitution committee, A Britisch Bill of Rights – Informing the Debate, 2007, S. 15, 89, 113, 116 verfügbar unter: http://www.justice.org.uk. Im Übrigen ist die Bestandsaufnahme in der Literatur und Teilen der Öffentlichkeit über Erfolg bzw. Misserfolg des Human Rights Act um einiges positiver, als es die Medienberichterstattung vermuten lässt, siehe z. B. Bericht des British Institute of Human Rights, The Human Rights Act – Changing Lives, Juni 2007, verfügbar unter: http: //www.bihr.org/downloads/bihr_hra_changing_lives.pdf; Robert Hazell, The Continuing Dynamism of Constitutional Reform, 2007 (60) Parliamentary Affairs 15 ff.
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Konstitutionalisierung des Rechtssystems – ähnlich wie in Deutschland – den Weg ebnet. 103 2. Aushöhlung des negativen Bedeutungsgehalts der Parlamentssouveränität Betrachtet man den negativen Aspekt der Doktrin der Parlamentssouveränität, kann ein ähnlicher Aushöhlungsprozess konstatiert werden. Wie zuvor erwähnt, erhalten die Gerichte zwar keine Verwerfungsbefugnis, der Human Rights Act 1998 vermittelt ihnen aber durch die declaration of incompatibility de facto – wenn auch nicht dem Namen nach – eine materielle Prüfungskompetenz hinsichtlich Parlamentsgesetzen (judicial review of legislation). Zudem geben die Gerichte durch ihre in der declaration of incompatibility geäußerten Ansicht im Ergebnis in weitem Maße vor, wie das Gesetz zu gestalten ist, um konventionskonform zu sein, und beeinflussen dadurch nachhaltig den Gesetzgebungsprozess. Damit hat der alte Grundsatz „(a)ll that a court of law may do with an Act of Parliament is to apply it“ 104 seine Berechtigung verloren. K. D. Ewing konstatiert diesbezüglich: „As a matter of constitutional legality, Parliament may well be sovereign, but as a matter of constitutional practice it has transferred significant power to the judiciary.“ 105
In dieser neuen rechtlichen Ordnung bleibt die Doktrin der Parlamentssouveränität somit weitgehend nur noch als eine matter of form bestehen. 106
103 Zudem wird durch die in section 10 Human Rights Act normierte fast-track procedure ein Machtverlust des Parlaments zugunsten der Exekutive bewirkt. Der Exekutive – nicht dem Parlament – obliegt das Initiativrecht, eine derartige Prozedur einzuleiten, um die unerwünschten Folgen eines Gesetzes zu beseitigen. Das Parlament behält allerdings eine Überwachungsfunktion. 104 David Lindsay Keir / F. H. Lawson, Cases in Constitutional Law, 1967, S. 1. 105 K. D. Ewing, The Human Rights Act and Parliamentary Democracy, (1999) 62 M.L.R. 92. So auch Lord Borrie während der zweiten Lesung der Human Rights Bill: „(W)hile historically the courts have sought to carry out the will of Parliament, in the field of human rights Parliament will carry out the will of the courts.“ Vgl. HL Deb vol 582 cols 1275 – 1276, 3 November 1997. 106 So auch A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament, Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 23 ff.
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3. Einschränkungen des Grundsatzes „Parliament cannot bind its successors“ Auch die dritte Säule der Parlamentssouveränität, „Parliament cannot bind its successors“, wird durch den Human Rights Act 1998 in mehrfacher Art und Weise tangiert. Erstens muss der Human Rights Act 1998, wie schon zuvor anklang, wenn auch nicht rechtlich so doch faktisch als irreversibel gelten. Zweitens wird gelegentlich bemerkt, dass die in section 3 (2) (a) normierte Auslegungsregel, welche auch nach dem Human Rights Act 1998 erlassene Gesetze umfasst (whenever enacted), dazu führe, dass in diesen Fällen nicht dem Willen des späteren Gesetzgebers Folge geleistet wird, sondern dass das frühere Gesetz, der Human Rights Act 1998, zur Anwendung gelangt. Dies sei mit dem traditionellen Verständnis der Parlamentssouveränität, wonach eine Bindung zukünftiger Parlamente nicht möglich ist, nicht zu vereinbaren. 107 Diesem Einwand kann formalistisch gesehen damit begegnet werden, dass der zukünftige Gesetzgeber, dadurch, dass er den Human Rights Act 1998 nicht aufhebt oder abändert, konkludent zum Ausdruck bringt, dass er eine derartige Interpretation wünscht. 108 Allerdings schließt sich hier wiederum der Kreis zu dem zuvor Gesagten, da dem zukünftigen Gesetzgeber nicht wirklich die Option der Gesetzesänderung oder gar Aufhebung offensteht. Dem Human Rights Act 1998 wohnt demnach eine continuing oder standing intention 109 inne, die auf zukünftige Parlamentsakte anwendbar ist und nur mit größter Schwierigkeit mit der Doktrin der Parlamentssouveränität in Einklang zu bringen ist. 110 107
Vgl. Katrin Strotmann, Die Souveränität des britischen Parlaments unter der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, S. 136. 108 Andere, wenn auch sehr komplexe Erklärungsansätze bieten Lindell mit seinem Modell der condition precedent und Elliott, dessen Analyse auf dem Modell der judicial review basiert. Geoffrey Lindell, Invalidity, Disapplication and the Construction of Acts of Parliament: Their Relationship with Parliamentary Sovereignty in the Light of the European Communities Act and the Human Rights Act, [1999] Cambridge Yearbook of European Legal Studies 405 ff.; Mark Elliott, The Constitutional Foundations of Judicial Review, 2001, S. 236 ff. 109 Glen Patmore / Anna Thwaites, Fundamental Doctrines for the Protection of Civil Liberties in the United Kingdom: A V Dicey and the Human Rights Act 1998, (2002) 13 Public LRev. 64. 110 Im Unterschied zu der Common-Law-Auslegungsregel, wonach vermutet wird, dass der Gesetzgeber im Einklang mit den Konventionsrechten handeln will, ist diese continuing intention gesetzlich normiert und daher im Hinblick auf die Doktrin der Parlamentssouveränität in noch höherem Maße bedenklich, als es die common law presumption ist. Das
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Drittens stellt sich die Frage, ob das statement of compatibility nach section 19 nicht eine manner and form restriction darstellt. Derartige Klauseln verlangen entweder, dass sich das Parlament in einer bestimmten Weise zusammensetzen, oder ein besonderes Verfahren beachten muss, und stellen eine nach klassischem Verfassungsverständnis unzulässige Selbstbindung des Parlaments dar. 111 Prima facie scheint hier eine derartige manner and form provision vorzuliegen, da section 19 das Erfordernis statuiert, vor jedem Gesetzeserlass ein statement of compatibility einzuholen. Wie zuvor geschildert, ist section 19 aber nicht justiziabel und kann daher nicht als Basis für eine externe Überprüfung des Gesetzgebungsprozesses durch die Gerichte fungieren. 112 Insofern ist der parlamentssouveränitätseinschränkende Charakter der section 19 auf sein politisches Druckpotential beschränkt. 4. Einschränkungen der „rule of implied repeal“ Von größerem Einfluss ist der Human Rights Act 1998 hingegen auf die Doktrin des implied repeal, die in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Doktrin der Parlamentssouveränität im allgemeinen und der Regel, dass das Parlament seinen Nachfolger nicht binden kann, im besonderen steht. Schon während des Gesetzgebungsverfahrens wies Lord Simon darauf hin, dass der Human Rights Act 1998 die Doktrin des implied repeal verletze, da section 4 (6) (in der Zeit zwischen einer Inkompatibilitätserklärung und einer remedial action nach section 10) die Koexistenz von den im Human Rights Act 1998 niedergelegten Konventionsrechten und konventionswidrigen Gesetzen ermögliche. 113 Bei genauerer Betrachtung ergibt sich, dass die Regelungen des Human Rights Act 1998 in zweierlei Hinsicht mit der rule of implied repeal in Konflikt geraten können.
Phänomen von Gesetzen mit continuing effect ist aber nicht neu. Die Interpretation Acts und der European Communities Act 1972 fallen in die gleiche Kategorie und lassen vergleichbare Fragen im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit der Doktrin der Parlamentssouveränität aufkommen. 111 Siehe oben § 4 I.5. 112 Sir William Wade hat in The Basis of Legal Sovereignty, [1955] C.L.J. 182 zu Recht darauf hingewiesen, dass der Fokus der Betrachtung in erster Linie darauf liegen muss, wie die Gerichte auf Regelungen des Parlaments das Gesetzgebungsverfahren betreffend reagieren. Weitere Belege dafür, dass die Gerichte eine Überprüfung der parliamentary procedure weiterhin ablehnen: Die Entscheidung des Privy Council in Prebble v Television New Zealand [1995] 1 AC 321, in der Lord Browne-Wilkinson erläutert, dass die „courts will not allow any challenge“ des Gesetzgebungsprozesses. Dieses Urteil wurde auch für das englische Recht durch den Court of Appeal in R v Parliamentary Commissioner for Standards, ex parte Fayed [1997] COD 376 bestätigt. Ebenso Lord Woolf in R v Parliamentary Commissioner for Standards, ex parte Fayed [1998] 1 All ER 93, 94, der die „self-denying ordinance in relation to interfering with the proceedings of Parliament“ der Gerichte weiterhin aufrecht erhält. 113 Hansard, HL col 510 (18. November 1998).
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Erst einmal sind die Auswirkungen des Human Rights Act 1998 auf Gesetze, die bereits vor seinem Erlass existierten, zu untersuchen. Bei konventionswidrigen Gesetzen, sollte man annehmen, würde die rule of implied repeal deren (partielle) Aufhebung bewirken. Genau dieses Ergebnis wird durch das gesetzliche Gebot der verfassungskonformen Interpretation 114 gepaart mit der Möglichkeit der Inkompatibilitätserklärung, die die Wirksamkeit bzw. Anwendbarkeit der Norm nicht berührt, jedoch verhindert. 115 Insofern kann man von einer Modifikation der rule of implied repeal sprechen, 116 mit der Folge, dass Gesetze, die vor Einführung des Human Rights Act 1998 in einer bestimmten Weise interpretiert wurden, nicht zwangsläufig auch weiterhin in dieser Form interpretiert werden. 117 Betrachtet man das Zusammenspiel des Human Rights Act 1998 mit ihm nachfolgenden Gesetzen, so ist zu bemerken, dass ein implied repeal der im Human Rights Act 1998 enthaltenen Rechte durch ein derartiges Gesetz auszuscheiden scheint. 118 Der Human Rights Act 1998 muss vielmehr auf die ihm nachfolgenden Gesetze angewendet werden, sei es, dass sie konventionskonform ausgelegt werden, oder eine Inkompatibilitätserklärung erlassen wird. Damit einhergehend wird für das dem Human Rights Act 1998 nachfolgende Gesetz die normalerweise übliche Vermutung ausgeschlossen, dass bei widersprüchlichem Wortlaut dem Wortlaut des nachfolgenden Gesetz zu folgen ist. 119 Demnach ist das Parlament, sollte es eine Modifikation des Human Rights Act 1998 wünschen bzw. eine konventionskonforme Auslegung verhindern wollen, wohl auf den Weg des express repeal beschränkt. 120 Der Human Rights Act 1998 hat somit den Anwendungsbe114 Zwar gab es schon vor Einführung des Human Rights Act die Auslegungsregel, dass Gesetze konventionskonform auszulegen sind. Im Unterschied zur jetzigen Regelung stellt diese Anforderung lediglich eine im common law verankerte presumption dar, bei der sich das Problem des implied repeal formell betrachtet, mangels Gesetzesform, nicht ergibt. Streng genommen stellt natürlich auch diese Auslegungsvermutung in gewissem Sinne eine Unterminierung der Parlamentssouveränität dar. 115 Stephen Gardbaum, The New Commonwealth Model of Constitutionalism, (2001) 49 Am.J.Comp.L. 735. 116 So auch A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament, Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 56. 117 Vgl. Philip Havers / Neil Garnham, The Convention and the Human Rights Act: A New Way of thinking, in: Rosalind English / Philip Havers (eds.), An Introduction to Human Rights and the Common Law, 2001, S. 6. 118 Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 227; A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament, Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 56. 119 Dies kann daraus geschlossen werden, dass beim Human Rights Act bewusst davon abgesehen wurde, eine der section 4 New Zealand Bill of Rights Act 1990 vergleichbare Regelung einzuführen. Nach dieser Regelung findet die Doktrin des implied repeal auf die New Zealand Bill of Rights Act 1990 Anwendung, mit der Folge, dass bei eindeutig widersprüchlichen Gesetzen vermutet wird, dass der Gesetzgeber insoweit von den Konventionsrechten abweichen wollte.
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reich der Doktrin des implied repeal auf ein Minimum beschränkt und mittels des Auslegungserfordernisses substantiell ein entrenchment der dort enthaltenen Konventionsrechte bewirkt. Allerdings handelt es sich hierbei, verglichen mit den strengeren Anforderungen der Manner-and-Form-Theorie, nur um eine schwache Form des entrenchment, welche kaum an die Anforderungen heranreicht, die Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG (Zitiergebot) an grundrechtseinschränkende deutsche Gesetze stellt. Nichtsdestoweniger wird das Maß an gesetzgeberischer Klarheit, welches für die Legislative vonnöten ist, um ein konventionswidriges Gesetz zu erlassen, durch die Gerichte und nicht durch die Legislative bestimmt. Es ist aber dennoch möglich, den Human Rights Act 1998 mit der orthodoxen Lehre in Einklang zu bringen. Bamforth 121 erreicht dies mit einer zwar sehr gekünstelt wirkenden, aber logisch durchaus stringenten Unterscheidung zwischen Human Rights Act 1998 und den sog. Konventionsrechten, d. h. den Rechten der EMRK. Seiner Meinung nach schütze der Human Rights Act 1998 die Konventionsrechte nur in dem Umfang, in dem eine konventionskonforme Interpretation des in Frage stehenden Gesetzes möglich ist. Sobald ein Gericht eine Inkompatibilitätserklärung erlässt, stehe fest, dass eine derartige Interpretation nicht mehr möglich sei und das Gesetz damit außerhalb des Schutzbereichs des Human Rights Act 1998 liege. Folglich scheide ein für die Anwendung der rule of implied repeal notwendiger Konflikt des Gesetzes mit dem Human Rights Act 1998 aus, obwohl es Konventionsrechten eindeutig widerspricht. Diese Unterscheidung, der implizit der Gedanke zugrunde liegt, dass der Human Rights Act 1998 den Konventionsrechten keinen full legal status 122 gewährt, hat zwar formal betrachtet eine gewisse Berechtigung, wird allerdings dem schon mehrfach erläutertem Anspruch des Human Rights Act 1998, die Konventionsrechte in vollem Umfang ins nationale Recht zu inkorporieren, nicht gerecht. Man muss Bamforth allerdings zugutehalten, dass bei genauerer Betrachtung genau diese Divergenz zwischen Anspruch und (formeller) Wirklichkeit der Preis für die als genialen Kompromiss gefeierte „Auslegungslösung“ des Human Rights Act 1998 ist.
120 Vgl. mit weiteren Nachweisen, Lord Lester of Herne Hill, Human Rights and the British Constitution, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 103. 121 Nicholas Bamforth, Parliamentary Sovereignty and the Human Rights Act, [1998] P.L. 575. 122 In dieser Richtung auch Gardbaum, der ebenfalls eine volle Inkorporierung der Konventionsrechte ablehnt : „(...) Convention Rights have not been ‚incorporated‘ as part of ordinary domestic law at all but are to have effect in some other way.“ Vgl. Stephen Gardbaum, The New Commonwealth Model of Constitutionalism, (2001) 49 Am.J.Comp.L. 735.
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5. Herausbildung einer Normenhierarchie Ein wesentliches Charakteristikum des Verfassungssystems der Parlamentssouveränität ist das Fehlen einer Normenhierarchie. In der jüngeren Rechtsprechung zeichnet sich jedoch die Begründung einer neuen Kategorie von Parlamentsgesetzen, sogenannter constitutional statutes, ab. 123 Unter constitutional statutes werden solche Gesetze verstanden, die das rechtliche Verhältnis zwischen Bürger und Staat in einer allgemeinen und grundlegenden Weise regeln oder die Gewährleistung von Grundrechten erweitern oder einschränken, so z. B. die Magna Charta, die Bill of Rights, von den jüngeren Reformgesetzen die Gesetzgebung zur devolution oder der European Communities Act von 1972. Derartige Gesetze sind zwar nicht generell gegen ihre Aufhebung oder Abänderung geschützt, sie werden aber in besonderer, ihre Aufhebung und Abänderung erschwerender Weise bei der Gesetzesauslegung berücksichtigt. 124 Dies bewirkt eine gewisse Hierarchisierung der Parlamentsgesetze, die erst kürzlich explizit gerichtlich anerkannt wurde. 125 Der Human Rights Act kann als Paradebeispiel eines solchen constitutional statute bezeichnet werden und stellt den vorläufigen Endpunkt einer langen Entwicklung und von vielfältigen Einflüssen gespeisten Anerkennung von constitutional oder fundamental rights im common law dar. 126 Er leistet der Normenhierarchisierung in Großbritannien weiter Vorschub bzw. manifestiert diese Entwicklung. 127 Vor diesem Hintergrund soll das Konzept des constitutional statute etwas näher betrachtet werden.
123
Vgl. hierzu Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 100 f. Siehe auch Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreformen, ZaöRV 64 (2004) 79f. Eine richterliche Anerkennung des Human Rights Act als statute mit Verfassungsrang ist bereits folgenden Urteilen zu entnehmen: Lord Bingham in Brown v Scott [2001] 2 WLR 817, 845; Lord Steyn at 839; Lord Woolf in R v Offen [2001] 1 WLR 254, 275; Laws LJ in Roth and others v Secretary of State for the Home Department [2002] EWCA Civ 158 at para. 69 –75. 124 Das in diesem Zusammenhang grundlegende Auslegungsprinzip wurde von Lord Brown Wilkinson in R v Secretary of State for the Home Department, ex p Pierson [1998] AC 539, 575 niedergelegt: „(...) a power conferred by Parliament in general terms is not to be taken to authorise the doing of acts by the donee of the power which adversely affects the legal rights of the citizen or the basic principles on which the law of the United Kingdom is based unless the statute conferring the power makes it clear that such was the intention of Parliament.“ 125 Thoburn v Sunderland City Council, [2003] QB 151. 126 Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 109. 127 Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 66, 109, 110; Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreformen, ZaöRV 64 (2004) 79.
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Grundlage für diese neue Kategorie ist das Urteil Thoburn v Sunderland City Council 128 – auch „Metric Martyrs case“ genannt – aus dem Jahre 2002, welches sogleich als „landmark case“ 129 der Verfassungsrechtsprechung bezeichnet worden ist. Dem Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Thoburn und einige andere Gemüsehändler haben bewusst gegen eine europäische Verordnung verstoßen, die es ihnen untersagte, weiterhin die englischen Maße und Gewichte zu nutzen. Nach diversen Änderungen in der britischen und der europäischen Gesetzgebung war letztlich die Frage entscheidend, ob der britische European Communities Act von 1972 implizit durch ein nachfolgendes Parlamentsgesetz geändert werden konnte, das die Verwendung der herkömmlichen Einheiten erlaubte. Sir John Laws verneinte diese Frage schließlich allein auf der Basis normhierarchischer Überlegungen ohne Berücksichtigung demokratischer Erwägungen, die bisher üblicherweise zur Begründung von sogenannten „Verfassungsprinzipien“ (constitutional principles) herangezogen worden sind. 130 Sein Konzept ist zudem ausdrücklich nicht europarechtlich begründet, sondern soll generell eine – im common law zu verankernde – Hierarchisierung der britischen Parlamentsgesetze ermöglichen. Sir John Laws führt hierzu aus: „We should recognise a hierarchy of Acts of Parliament: as it were ‚ordinary‘ statutes and ‚constitutional‘ statutes. (...) Ordinary statutes may be impliedly repealed. Constitutional statutes may not. (...) A constitutional statute can only be repealed, or amended in a way which significantly affects its provisions touching fundamental rights or otherwise the relation between citizen and state, by unambiguous words on the face of the later statute.“ 131
Wichtige rechtliche Folge einer Klassifizierung als constitutional statute ist demnach der Ausschluss der rule of implied repeal. 132 In letzter Konsequenz 128
Thoburn v Sunderland City Council [2003] QB 151. Siehe auch Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, 87 f. 129 So in ihrer Urteilsbesprechung D. Campbell / M. Young, The metric martyres and the entrenchment jurisprudence of Lord Justice Laws, [2002] P.L. 399 ff., die sich zwar kritisch zum gefundenen Ergebnis, nicht aber zum Konzept der constitutional statutes äußern. 130 Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 101. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist ohne Frage ein fundamentales (da Bedingung für die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs), aber kein demokratisches oder liberales Prinzip. Demgegenüber geht das in Thoburn mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts konkurrierende Prinzip, dass die Kriminalisierung einer Aktivität ohne ausdrückliches Parlamentsgesetz unzulässig ist, auf ein liberales Common-law-Prinzip zurück. Somit hat Laws LJ in Thoburn aus Non-democratic-Gründen einem constitutional statute den Vorrang gegenüber einem (Liberal-democratic-) Common-law-Prinzip eingeräumt. Vgl. D. Campbell / M. Young, The metric martyres and the entrenchment jurisprudence of Lord Justice Laws, [2002] P.L. 399 ff. 131 Thoburn v Sunderland City Council [2003] QB 151, 186 –187. 132 Durch das Konzept der constitutional statutes wird der Ausschluss der rule of implied repeal demnach bereits ausdrücklich im common law verankert.
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bedeutet die Möglichkeit einer generellen Hierarchisierung der britischen Parlamentsgesetze die Entstehung eines höherrangigen Maßstabs, an dem einfache Parlamentsgesetze gerichtlich überprüft werden können, solange sie nicht ausdrücklich eine Änderung von constitutional statutes aussprechen. Es wäre sogar denkbar, wenn auch unwahrscheinlich, dass die Gerichte bei Widersprüchen eigenständig die Nichtigkeit eines Gesetzes erklärten. „Dicey, whose views of supremacy had nourished generations of lawyers and lawmakers, would not be amused.“ 133
Interessanterweise scheint jedoch nach Sir John Laws Verständnis das Fehlen einer Normenhierarchie kein wesentlicher Aspekt der Parlamentssouveränität zu sein, und es ist ihm wichtig, dies zu betonen: „This development of the common law regarding constitutional rights, and as I would say constitutional statutes, is highly beneficial. It gives us most of the benefits of a written constitution, in which fundamental rights are accorded special respect. But it preserves the sovereignty of the legislature and the flexibility of our uncodified constitution.“ 134
Der Mittelweg einer light Version des entrenchment wird hiernach zum Königsweg deklariert. Nichtsdestoweniger stellt aber auch er – durch die Etablierung verschiedener Kategorien von Gesetzen, die unterschiedlich schwer abänderbar sind – eine Unterminierung des klassischen Verständnisses der Parlamentssouveränität dar. Das Konzept der constitutional statutes erinnert stark an das von Eskridge und Ferejohn entwickelte Konzept der super-statutes im US-amerikanischen Recht. 135 Nach diesem Verständnis ist ein super-statute, ohne die formellen Charakteristika eines klassischen Verfassungsgesetzes aufzuweisen, in erster Linie durch folgende Merkmale gekennzeichnet: „(It) (1) seeks to establish a new normative or institutional framework for state policy and (2) over time does „stick“ in the public culture such that (3) the super-statute and its institutional or normative principles have broad effect on the law – including an effect beyond the four corners of the statute.“ 136
133
Patricia Maxwell, The House of Lords as a Constitutional Court: The Implications of ex p. EOC, in: Paul Carmichael / Brice Dickson (eds.), The House of Lords, 1999, S. 197 f. 134 Thoburn v Sunderland City Council [2003] QB 151, 187. 135 William Eskridge / John Ferejohn, Super-Statutes, (2001) 50 Duke Law Journal 1215 ff. 136 William Eskridge / John Ferejohn, Super-Statutes, (2001) 50 Duke Law Journal 1216.
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Super statutes sind von großem Einfluss, da ihnen eine normative gravity innewohnt, durch die sie ihre Umgebung prägen. „They aspire toward changing the common law baseline, and they actually have that effect over time (...).“ 137
Daher soll auf sie eine pragmatic methodology angewendet werden, die ein Hybrid aus statutory, common law, and constitutional interpretation darstellt. 138 Super-statutes sind somit als eine intermediäre Kategorie von fundamentalem oder Quasi-constitutional-Recht zu begreifen. Sie nehmen eine vermittelnde Rolle im Spannungsverhältnis von Demokratie und der Entwicklung „höheren Rechts“ durch ungewählte Richter ein. Dieser Rolle werden sie nach Eskridge und Ferejohn aufgrund ihrer größeren Flexibilität besser gerecht als die üblichen formellen Mechanismen einer Verfassung. 139 Zusammenfassend kann man sagen, dass in Großbritannien die Vorstellung einer Normenhierarchie Fuß fasst, die zwar nicht dem Stufenbau der deutschen Rechtsordnung entspricht, aber eine Aufgabe der traditionellen Einheitsvorstellung von Parlamentsgesetzen einleitet und damit eine der Säulen der Doktrin der Parlamentssouveränität erschüttert. 6. Fazit Die obigen Ausführungen verdeutlichen zwei verschiedene – geradezu widersprüchlich anmutende – Tendenzen: Zum einen wurde die schrittweise Aushöhlung wichtiger inhaltlicher Bestandteile der Parlamentssouveränität illustriert, die dazu führt, dass in der neuen Verfassungs(-rechtlichen)-Ordnung die Doktrin der Parlamentssouveränität nur noch als eine matter of form bestehen bleibt. 140 Auf der anderen Seite ist man insbesondere in der Rechtsprechung sehr bemüht, an ihr – und sei es auch nur an ihrer formalen Hülle – festzuhalten. In der akademischen Literatur reichen die Meinungen von genereller Zustimmung und Untermauerung der klassischen Doktrin der Parlamentssouveränität bis hin zu offener Kritik. 141 Doch selbst vehemente Kritiker der Parlamentssouveränität 137
William Eskridge / John Ferejohn, Super-Statutes, (2001) 50 Duke Law Journal
1219. 138
William Eskridge / John Ferejohn, Super-Statutes, (2001) 50 Duke Law Journal
1216. 139
William Eskridge / John Ferejohn, Super-Statutes, (2001) 50 Duke Law Journal
1275. 140
So auch A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament – Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 23 ff.
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vermeiden einen offenen Bruch mit der (Verfassungs-)Tradition. Sie bleibt somit trotz aller Kritik Leitfaden und Anknüpfungspunkt des verfassungsrechtlichen Denkens und Diskurses. Dies ist zwar insofern bedenklich, als sich die Kluft zwischen rechtlichem Konzept und faktischer Verfassungslage 142 immer weiter verbreitert und damit die theoretische Nützlichkeit der Doktrin der Parlamentssouveränität, nämlich der Beschreibung der Verfassungsrealität zu dienen, immer weiter in Frage gestellt wird. Auf der anderen Seite ist die ungebrochene Macht der Doktrin der Parlamentssouveränität als „Argument“ ebenfalls Teil der Verfassungswirklichkeit, die berücksichtigt werden muss. Somit ist die befürchtete Kluft bei genauerer Betrachtung nicht so groß, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Der schleichende Prozess der inhaltlichen Aushöhlung, an dessen Endpunkt vielleicht – aber nicht notwendigerweise – das gänzliche Verschwinden der Doktrin steht, ist möglicherweise nur Ausdruck ihres vielfach gepriesenen „evolutionären Charakters“. 143 Wie wandelbar die Doktrin der Parlamentssouveränität sein wird, ohne gänzlich zu verschwinden, bleibt abzuwarten. Sie jetzt schon für tot zu erklären, wäre jedenfalls verfrüht. 141 Generelle Bestätigung von Diceys Theorien findet sich z. B. bei: John W. Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, 1955, S. 221; Kenneth C. Wheare, Modern Constitutions, 1966, S. 71 f.; Jeffrey Goldsworthy, Interpreting the Constitution in its Second Century, (2000) 24 Melbourne University LRev. 27. Die Doktrin der Parlamentssouveränität verteidigend z. B. Jeffrey Goldsworthy, The Sovereignty of Parliament. History and Philosophy, 1999; Richard Ekins, Judicial Supremacy and the Rule of Law, (2003) 119 L.Q.R. 127. Probleme in ihrer Anwendung sehen z. B. E. C. S. Wade, im Vorwort zu Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1959, S. 25 f.; Harold J. Laski, A Grammar of Politics, 1967, S. 365. Einen direkten Angriff wagen z. B. Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and in the United States of America, 1990, S. 30 ff., der sowohl die tatsächlichen Voraussetzungen als auch die inneren Wirkzusammenhänge von Diceys Vorstellung der self-correcting democracy anschaulich demontiert hat; Eric Barendt, An Introduction to Constitutional Law, 1998, S. 46 ff.; Leslie Scarmann, English Law – The New Dimension, 1974, S. 14 ff. Folgende Autoren stellen u. a. aufgrund demokratietheoretischer Überlegungen die orthodoxe Theorie der Parlamentssouveränität in Frage: Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993; Sir John Laws, Law and Democracy, [1995] P.L. 72; Sir Stephen Sedley, Human Rights: A Twenty-First Century Agenda, [1995] P.L. 386. 142 Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Doktrin der Parlamentssouveränität noch nie ausgereicht hat, die Verfassungsrealität erschöpfend zu beschreiben. Hierzu waren immer noch die als außerrechtlich begriffenen Konventionen notwendig. Vgl. schon Paul Ritterbusch, Parlamentssouveränität und Volkssouveränität in der Staats- und Verfassungslehre Englands, vornehmlich in der Staatslehre Daniel Defoes, 1929, S. 6. 143 Lord Ivine of Lairg, Sovereignty in Comparative Perspective: Constitutionalism in Britain and America, (2001) 76 NYULR 6; Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 281; ders., Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 225 ff.
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Wie zuvor angedeutet wurde und später noch deutlich wird, bestimmt sie immer noch in erheblichem Maß den verfassungsrechtlichen Diskurs, obwohl sie sich hierbei häufig hemmend auf reformerische Tendenzen auswirkt. 144 Grund hierfür mag die althergebrachte Scheu der Briten sein, mit der Tradition zu brechen. So kommt der Kontinuität des Rechts in Großbritannien seit jeher eine besondere Bedeutung zu. Ein interessantes Beispiel dafür, dass selbst radikale Ideen einen traditionellen Anknüpfungspunkt finden können – und diesen auch suchen, bietet Paul Craig. In seinem Aufsatz Public Law, Political Theory and Legal Theory 145 entwickelt er die theoretische Basis für die Möglichkeit eines offenen Verfassungsdiskurses unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Tradition. Er legt plausibel dar, dass die verfassungsrechtliche Tradition des Vereinigten Königreichs seit dem 16. Jahrhundert nicht so sehr (inhaltlich) in der Allmacht des Parlamentes, sondern vielmehr (methodisch) in der Suche nach einer normativen Rechtfertigung für diesen Zustand zu finden sei. Auch Dicey habe diese Vorgehensweise beherzigt, indem er die Doktrin der Parlamentssouveränität mit der Idee der repräsentativen Demokratie verknüpfte und das – wenn auch fehlerhafte – Modell der self-correcting democracy entwickelte. Erst mit der modern orthodoxy, als deren wesentlicher Vertreter Sir William Wade 146 gilt, sei diese Herangehensweise verlorengegangen, da es unangebracht erschien, bei der rule of recognition nach ihrer prinzipiellen Rechtfertigung zu fragen. Craig zeigt die Reflexionsdefizite der „modernen“ Herangehensweise auf und befürwortet auf der Basis der verfassungsrechtlichen Tradition, die er gerade nicht in der vorbehaltlosen Bejahung der Parlamentssouveränität, sondern vielmehr in der Suche nach ihrer normativen Rechtfertigung sieht, einen offenen Diskurs über die uneingeschränkte Macht des Parlaments. 147 Diese Theorie ermöglicht es somit, auch von der Allmacht des Parlamentes abweichende Meinungen zu diskutieren, ohne sich dem (gefürchteten) Einwand des Bruchs der Verfassungstradition auszusetzen. Inwieweit und mit welchem Ergebnis diese Möglichkeit – insbesondere von der Richterschaft – genutzt wird, bleibt abzuwarten. 148 Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die moderne Diskussion über die Parlamentssouveränität ein Bewusstsein für die Notwendigkeit ihrer Legitimati144
Vgl. unten 3. Teil. Paul Craig, Public Law, Political Theory and Legal Theory, [2000] P.L. 211 ff. 146 H. W. R. Wade, The Basis of Legal Sovereignty, [1955] C.L.J. 172 ff. 147 Für einen offenen Diskurs spricht sich auch A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament – Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver, The Changing Constitution, 2000, S. 58 aus; ähnlich auch Trevor R. S. Allan, Parliamentary Sovereignty: Law, Politics, and Revolution, (1997) 113 L.Q.R. 449, der für einen auf constitutional principles basierenden offenen Diskurs plädiert. 148 Geoffrey de Q. Walker äußerte sich bezüglich der Wirkungen von Diceys Doktrin der Parlamentssouveränität wie folgt: „It seems that Dicey’s theory is like some huge, ugly Victorian monument that dominates the legal and constitutional landscape and exerts a hypnotic effect on legal perception.“ Vgl. Geoffrey de Q. Walker, Dicey’s Dubious 145
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onsbegründung (principled justification) erkennen lässt, das zuvor weitestgehend in Vergessenheit geraten war.
II. Materielle Aufladung der rule of law Bei der Betrachtung der Auswirkungen des Human Rights Act 1998 auf das klassische Verständnis der rule of law sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Zum einen sind die unmittelbaren Folgen der rechtlichen Regelungen des Human Rights Act 1998 auf das Dicey’sche Verständnis der rule of law zu untersuchen. Zum anderen ist der Human Rights Act 1998 selbst als positivierter Ausdruck eines noch zu erläuternden Bedeutungswandels der rule of law zu verstehen und diesbezüglich einzuordnen. Beide Aspekte prägen den aktuellen Verfassungswandlungsprozess. 1. Unmittelbare Folgen des Human Rights Act 1998 Es liegt auf der Hand, dass Diceys dritte Säule der rule of law durch den Human Rights Act 1998 beeinflusst wird und dadurch die Art und Weise des Schutzes fundamentaler Freiheiten eine Veränderung erfährt. Nach Dicey war das common law, unter anderem mittels der presumptions of interpretation (positiv-mittelbarer Schutz) 149, der beste Schutzmechanismus für individuelle Rechte. Der Human Rights Act 1998 übernimmt zwar die Technik, Freiheitsschutz überwiegend mittelbar im Wege der Auslegung zu gewährleisten, entzieht diese aber der ausschließlichen Domäne des common law. Die ehemals dem common law zuzurechnenden Auslegungsprinzipien werden erstmals normiert und an einen „Text“, die EMRK, gebunden. Hierdurch erhalten die Gerichte einen „textual anchor for their decisions“ und müssen sich nicht mehr auf einen „appeal to normative ideals“ verlassen, „that lack any mooring in the common law“ 150. Die an sich – aufgrund des aus der Doktrin der Parlamentssouveränität Dogma of Parliamentary Sovereignty: A Recent Fray with Freedom and Religion, (1985) 59 Australian Law Journal 283 f. Vgl. aber auch die stimulierenden Beiträge sowohl für als auch gegen die uneingeschränkte Macht des Parlaments von Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993; Sir John Laws, Law and Democracy, [1995] P.L. 72; Sir Stephen Sedley, Human Rights: A TwentyFirst Century Agenda, [1995] P.L. 386; Neil MacCormick, Questioning Sovereignty: Law, State and Practical Reason, 1999, S. 127 ff.; Jeremy Waldron, A rights-based critique of constitutional rights, (1993) 13 OJLS 18; Richard Bellamy, The Constitution of Europe: Rights or Democracy?, in: Richard Bellamy / Vittorio Bufacchi / Dario Castiglione (eds.), Democracy and Constitutional Culture in the Union of Europe, 1995, S. 153; Jeffrey Goldsworthy, The Sovereignty of Parliament. History and Philosophy, 1999, S. 236 ff. 149 Obwohl von Dicey bereits kontempliert, wird das Machtpotential dieses Ansatzes erst in der jüngeren Vergangenheit voll erkannt. Vgl. z. B. Trevor R. S. Allan, Legislative Sovereignty and the Rule of Law: Democracy and Constitutionalism, (1985) 44 C.L.J. 111 ff.
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fließenden dualist approach – gebotene Zurückhaltung 151 gegenüber den bisher nicht ins nationale Recht inkorporierten Konventionsrechten kann nun aufgegeben werden. 152 Durch diese vom Parlament autorisierte new rule of interpretation 153 wird der Bedeutungsgehalt der Konventionsrechte in nicht unerheblichem Maße erhöht und der positiv-mittelbare Freiheitsschutz aufgewertet. Dies hat, wie an späterer Stelle weiter ausgeführt wird, 154 nicht zu unterschätzende Konsequenzen für die Art und Weise des durch die Gerichte gewährten Freiheitsschutzes. Einem genuin Common-Law-Freiheitsschutz verbleibt somit neben dem Human Rights Act 1998 nur noch ein sehr eingeschränkter eigener Anwendungsbereich. Insgesamt lässt sich bereits an dieser Stelle festhalten, dass der EMRK über den Human Rights Act 1998 (im Zusammenspiel mit dem common law) eine wichtige Rolle als definer und protector fundamentaler Rechte zukommt. 155 Die Gerichte haben nunmehr die Gelegenheit auf „free standing and autonomous“ 156 Konventionsrechte zurückzugreifen, die sowohl die Art und Weise der Auslegung von Gesetzen als auch die Entwicklung des common law informieren werden. 157 Der Human Rights Act 1998 wird daher den britischen Freiheitsschutz einschließlich der Weiterentwicklung des Common-Law-Grundrechtsschutzes tiefgreifend be150 William J. Brennan, Why Have a Bill of Rights? (H. L. A. Hart Lectures on Jurisprudence and Moral Philosophy), (1989) 9 OJLS 437. 151 Der dualist approach besagt, dass der Abschluss internationaler Verträge, wie z. B. die Menschenrechtskonvention, Sache der Exekutive ist und diese Rechte daher bis zu ihrer Inkorporierung keinen Teil des innerstaatlichen Rechts darstellen und deswegen grundsätzlich auch keine Anwendung vor Gericht finden sollen. Dieser Ansatz wird aber mittels der Vermutung umgangen, dass das Parlament beim Erlass seiner Gesetze nicht die Intention hat, gegen internationale Verpflichtungen zu verstoßen, daher eine konventionskonforme Auslegung dem Willen des Gesetzgebers Ausdruck verleiht und insofern bei Zweideutigkeit der Rechtslage zur Auslegung genutzt werden darf. Als external force war der Einfluss der Konvention allerdings limitiert. Es gelang den Gerichten allerdings nicht, eine einheitlichen Handhabung hinsichtlich der Reichweite dieser Limitierung zu erreichen. 152 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Gerichte schon vor Einführung des Human Rights Act 1998 die Konventionsrechte in großem Maße als Auslegungsrichtlinie, d. h. als eine das common law informierende Quelle von Werten angesehen haben und damit die Konventionsrechte durch „die Hintertür“ quasi inkorporiert haben. Diese Entwicklung hat nunmehr parlamentarische Bestätigung gefunden. Durch den Human Rights Act 1998 wird die diesen Rechten aufgrund der Doktrin der Parlamentssouveränität theoretisch entgegenzubringende Zurückhaltung weitgehend obsolet. 153 A. W. Bradley, The Sovereignty of Parliament – Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 36. 154 Siehe unten § 8 III. 155 Glenn Patmore / Anna Thwaites, Fundamental Doctrines for the Protection of Civil Liberties in the United Kingdom: A V Dicey and the Human Rights Act 1998 (UK), (2002) 13 Public LRev. 73. 156 K. D. Ewing, The Human Rights Act and Parliamentary Democracy, (1999) 62 M.L.R. 79.
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einflussen, und zwar im Sinne eines Schutzes weg von negativen hin zu positiven individuellen Rechten. Dies alles stellt eine nicht unerhebliche Modifikation der Dicey’schen Konzeption der rule of law dar, welche nicht folgenlos für das Verhältnis der Richterschaft zur Legislative bleibt. Die (interpretatorische) Macht der Judikative wird hierdurch auf mehreren Ebenen potentiell gestärkt. Wie weit sie genutzt wird, hängt entscheidend vom Verfassungsverständnis der Richterschaft und dem Verständnis von ihrer eigenen Rolle im Verfassungsgefüge ab. 2. Am weiteren Kontext des fundamentalen Verfassungswandels orientierte Betrachtungsweise Neben den soeben dargestellten „unmittelbaren“ Auswirkungen des Human Rights Act 1998 auf Diceys Verständnis der rule of law ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass in der jüngeren Vergangenheit ein gewisser Bedeutungswandel der rule of law zu verzeichnen war, als dessen Ausdruck der Human Rights Act 1998 begriffen werden kann. Im Zuge der immer stärkeren Ausdifferenzierung des Verwaltungsrechts und der allmählichen Rezeption des Grundrechtsgedankens im britischen Recht ist seit Mitte des letzten Jahrhunderts insbesondere in der akademischen Diskussion eine materielle Konzeption der rule of law immer weiter am Vordringen. 158 Im Zuge dieser Entwicklung wird das dem Rechtsstaatsprinzip innewohnende Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und dem Legitimitäts-, d. h. Richtigkeitsanspruch der Rechtsordnung zugunsten des Letzteren verschoben. Zur Veranschaulichung dieser Entwicklung sollen zwei Beispiele genügen: 159 Der britische Rechts- und Verfassungstheoretiker Trevor R. S. Allan distanzierte sich (schon) Mitte der 80er Jahre von einem Verständnis der rule of law als reinem Legalitätsprinzip und verankerte inhaltliche Werte des common law in der rule of
157 Vgl. zum Einfluss des Human Rights Act 1998 auf das common law Francesca Klug / Keir Starmer, Incorporation though the „front door“: the first year of the Human Rights Act, [2001] P.L. 659. 158 Vgl. zum Beispiel die Werke von Trevor R. S. Allan, Sir John Laws und Lord Woolf, denen nach Ekins eine „substantive rights-based conception“ der rule of law zu Grunde liegt, vgl. Richard Ekins, Judicial Supremacy and the Rule of Law, (2003) 119 L.Q.R. 127. Auch für Sir Stephen Sedley sind human rights ein integraler Bestandteil der rule of law, vgl. Sir Stephen Sedley, Human Rights: A Twenty-First Century Agenda, [1995] P.L. 386 ff. Vorsichtiger Jeffrey Jowell, The rule of law today, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 3 ff. 159 Als weitere Beispiele können u. a. noch Lord Bingham, The Rule of Law, The 6 th Sir David Williams Lecture (2006), verfügbar unter http://cpl.law.cam.ac.uk/Media/ THE%20RULE%20OF%20Law%202006.pdf und Jeffrey Jowell, The Rule of Law Today, in: Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. 5 ff. dienen.
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law, die sich im Wege der Gesetzesinterpretation rechtlich auswirken sollten. 160 Bei der Ausarbeitung seines Konzepts knüpft Allan zwar an Diceys Lehren an, richtet sein Augenmerk aber nicht – wie sonst üblich – in erster Linie auf die Doktrin der Parlamentssouveränität, sondern konzentriert sein Interesse auf eine Neubewertung der zweiten Säule des Dicey’schen Verfassungssystems, der rule of law. Allans Auffassung nach hat gerade die Vernachlässigung dieser zweiten Säule zu einer verzerrten Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Vereinigten Königreichs geführt. Schon bei Dicey habe ein materielles Verständnis der rule of law angeklungen, welches allerdings mangelhaft ausgearbeitet worden sei. 161 Bei richtiger Betrachtung der rule of law ermögliche sie die Koexistenz des Schutzes individueller Freiheiten und der Beachtung der Doktrin der Parlamentssouveränität. Allan schlägt somit einen Mittelweg vor, der es ermöglichen soll, die Enge des formalen Verständnisses zu meiden und eine eigene Identität gegenüber dem politischen Ideal der rule of law zu bewahren. Die rule of law, die Allan mit der (zugegebenermaßen vagen) Notion von equality und rationality, proportionality und fairness gleichsetzt und die gewisse fundamentale Rechte des Einzelnen 162 mit umfasst, soll im Wege der Gesetzesauslegung unter Wahrung der Parlamentssouveränität zum Tragen kommen. 163 In diesem Sinne könne die rule of law als „standard by which a legal order can be measured and assessed“ dienen, der 160
Vgl. hierzu Trevor R. S. Allan, Legislative Supremacy and the Rule of Law: Democracy and Constitutionalism, [1985] C.L.J. 111 ff. 161 Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 46 f.; Trevor R. S. Allan, Legislative Supremacy and the Rule of Law: Democracy and Constitutionalism, (1985) 44 C.L.J. 115. 162 Trevor R. S. Allan, The Rule of Law as the Rule of Reason: Consent and Constitutionalism, (1999) 115 L.Q.R. 221 ff. Allan geht davon aus, dass es möglich ist, dem common law positive substantielle anstatt lediglich residualer Rechte zu entnehmen. Vgl. z. B. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 135 ff. Jowell hingegen hält dies für eine Überforderung der rule of law und lässt fundamentalen Rechten eigenständigen Verfassungsrang zukommen, indem er die Individualrechte nicht um ihrer selbst Willen, sondern von ihrer die Demokratie schützenden Wirkung her betrachtet: „Although there is a tendency to stretch the rule of law (or the ‚principle of legality‘) to cover cases even such as Simms (which has nothing to do with the rule of law and everything to do with freedom of expression), the rule of law simply cannot contain within its ambit constitutional entitlements such as the right to life, to association, to family life, to marry, or indeed to expression and substantive (as opposed to formal) equality.“ Vgl. Jeffrey Jowell, Beyond the Rule of Law: Towards Constitutional Review, [2000] P.L. 676. 163 In späteren Werken wird Trevor R. S. Allan, den fließenden Übergang zwischen Auslegung und Nichtanwendung eines Gesetzes erkennend, im Hinblick auf die Doktrin der Parlamentssouveränität immer angriffslustiger, vgl. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993; ders., Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001.
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nicht als formalistische Messlatte begriffen werden dürfe, sondern den Kern eines verfassungsmäßigen code of communication zwischen dem Parlament und den Gerichten darstelle. 164 Als zweites Beispiel kann Sir John Laws Auffassung der rule of law dienen. 165 Für ihn ist die rule of law der guardian of individual autonomy und muss daher in erster Linie den Schutz des Individuums gegenüber dem Staat als Garant negativer Rechte, d. h. Abwehrrechte, leisten. Dieser Schutz sei eine Aufgabe der Gerichte, da der Schutz individueller Rechte jenseits der politischen Debatte stehe. 166 Entscheidungen bezüglich positiver Rechte im Sinne von Leistungsrechten seien hingegen vornehmlich politischer Natur und oblägen demnach weiterhin dem Parlament. 167 Die rule of law umfasse Aspekte wie Freiheit, Rechtssicherheit und Fairness und beinhalte damit sowohl formale als auch inhaltliche Elemente. Beiden Ansätzen liegt der Gedanke zugrunde, dass die rule of law einen substantiellen Gehalt habe und diesem aufgrund seines moralischen Wertes rechtliche Wirkung zugestanden werden müsse. 168 Die anvisierte Form, die die rechtliche Wirkung nehmen soll, variiert jedoch teilweise erheblich. Neben der eher moderaten „Auslegungslösung“ lassen einige Kommentare durchaus radikalere Tendenzen erkennen, die in offenerem Widerspruch zur Doktrin der Parlamentssouveränität stehen. 169 164 Trevor R. S. Allan, Legislative Supremacy and the Rule of Law: Democracy and Constitutionalism, (1985) 44 C.L.J. 114. 165 Vgl. hierzu Sir John Laws, Is the High Court the Guardian of Fundamental Constitutional Rights?, [1993] P.L. 59 ff; ders., Law and Democracy, [1995] P.L. 72 ff.; ders., The Constitution: Moral and Rights, [1996] P.L. 622 ff. 166 Sir John Laws, Law and Democracy, [1995] P.L. 92 f. 167 Die Schlüssigkeit der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Rechten wird durch J. A. G. Griffith, The Brave New World of Sir John Laws, (2000) 63 M.L.R. 166 f. in Frage gestellt. Vgl. auch Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 280 f. 168 Hierin liegt zugleich auch der Ausdruck eines veränderten Rechtsverständnisses, auf das später noch genauer eingegangen werden soll und welches sich in dem Bedeutungswandel der rule of law niederschlägt. Siehe unten § 8 III. 169 Zur radikalen Kritik an derartigen Ansätzen vgl. Jeffrey Goldsworthy, Legislative Sovereignty and the Rule of Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 61 ff., der die These vertritt, dass weder eine formale noch eine materielle Konzeption der rule of law ein Argument für eine rechtliche Bindung der Legislative biete, sondern durch die damit einhergehende Rechtsunsicherheit gerade eine Schwächung der rule of law liege. Diese Annahme kann nur überzeugen, wenn die Förderung inhaltlicher Gerechtigkeit nicht als Bestandteil der rule of law gesehen wird, die ein möglicherweise gesteigertes Maß Rechtsunsicherheit potentiell aufwiegt. Zudem darf nicht vergessen werden, dass neben der materiellen Aufladung der rule of law durch den Human Rights Act 1998 auch eine Stärkung des ihr innewohnenden Aspekts der Legalität bewirkt wird. Vgl. Glen Patmore / Anna Thwaites, Fundamental Doctrines for the Protection of Civil Liberties in the United Kingdom: A V Dicey and the Human Rights
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So z. B. T. R. S. Allan: „It is ultimately for the courts to determine the validity of statues in accordance with the principle of equality and with due regard for the other essential constituents of the rule of law.“ 170
Die der rule of law innewohnende reformerische Kraft und ihr freiheitssicherndes Potential, durch welches das Individuum stärker in das Zentrum des Interesses gerückt werden kann, wurde somit entdeckt. Der Human Rights Act 1998 lebt dieses Potential aber nicht in seiner radikalsten Form aus. Er ist vielmehr als Ausdruck einer materiell erstarkten, rechtlichen Position der rule of law zu verstehen, die in der von Allan 1985 vorgeschlagenen Version einer interpretatorischen Lösung ihren Ausdruck gefunden hat und ihre substantielle Konkretisierung über die Konventionsrechte erhält. 3. Fazit Der Human Rights Act 1998 modifiziert in nicht unerheblichem Maße einige klassische Aspekte der rule of law und ist Ausdruck und Katalysator ihrer materiellen Aufladung. 171 Diese Entwicklung kann und wird aber immer noch an Diceys Theorien festgemacht und garantiert somit eine gewisse verfassungsmäßige Kontinuität. Dadurch, dass die materielle Aufladung der rule of law u. a. in Form der „Auslegungslösung“ des Human Rights Act 1998 ihre Umsetzung findet, wird der Grad ihrer Folgewirkungen weiterhin zu einem wesentlichen Teil in die Hand der Richterschaft gelegt. Somit besteht das institutionelle Denken zwar noch fort, wird aber durch materielle Kriterien angereichert.
III. „Konstitutionalisierung“ des Individualrechtsschutzes – Von residual freedoms zu positive rights Zudem führt der Human Rights Act 1998 zu einer „Konstitutionalisierung“ 172 des Individualrechtsschutzes, wobei darauf hinzuweisen ist, dass in GroßbritanniAct 1998 (UK), (2002) 13 Public LRev. 76. Im Ergebnis ebenso, Richard Ekins, Judicial Supremacy and the Rule of Law, (2003) 119 L.Q.R. 127 ff. 170 Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 3. 171 Ihr genauer Gehalt ist umstritten und reicht von der Garantie wesentlicher zur Aufrechterhaltung einer Demokratie unentbehrlicher Elemente bis hin zu fundamentalen Freiheiten des Individuums im Allgemeinen. Jedenfalls offenbart sich hierin ein verändertes Rechtsverständnis im Vereinigten Königreich. 172 Sehr instruktiv zu diesem mittlerweile „ubiquitär“ verwendeten Begriff: Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht: theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 47 ff. Zum deutschen Begriff der Kon-
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en der Begriff des constitutionalism allgemein als Bezeichnung für die Verrechtlichung der politischen Verfassung des Vereinigten Königreichs (juridification) sowie die damit einhergehende erhöhte richterliche Kontrolle (judicialization) benutzt wird. 173 Ursprünglich war der Freiheitsschutz des Individuums die vornehmliche und klassische Domäne des common law. In den letzten Jahren vor der Einführung des Human Rights Act 1998 ist die Effizienz dieses Schutzes – abgesehen von den schon dargestellten (prinzipiellen) Defiziten – insbesondere vor dem Hintergrund mehrfacher aktueller Verurteilungen Großbritanniens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – immer mehr in die Kritik geraten. 174 Der Human Rights Act 1998 stellt nunmehr erstmals ein umfassendes positivrechtliches Instrumentarium zum Schutze fundamentaler Rechte des Einzelnen dar. 175 Eins seiner erklärten Ziele ist es, dem Minderheitenschutz zu dienen. 176 Er wirkt zwar nicht direkt gegen den Gesetzgeber, erhöht aber den auf ihm lastenden politischen Druck erheblich und unterstellt ihn einem sehr viel engmaschigeren Netz richterlicher Kontrolle. Zum besseren Verständnis ist in diesem Zusammenhang kurz auf die Begriffe right (Recht) und freedom (Freiheit) einzugehen. In der angelsächsischen Rechtswissenschaft wird zwischen diesen beiden Begriffen üblicherweise wie folgt unterschieden: 177 Rechte implizieren die entsprechende Pflicht eines anderen, diese Rechte auch zu gewähren. Die Pflicht macht gerade das Wesen des Rechts aus. Freiheiten sind hingegen durch die Abwesenheit von Zwang gekennzeichnet.
stitutionalisierung vgl. auch Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: Carl-Eugen Eberle / Martin Ibler / Dieter Lorenz (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für Brohm, 2002, S. 191 ff. 173 Der Begriff des constitutionalism betrifft demnach grundlegende Veränderungen des institutionellen Arrangements. Vgl. Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 25 ff., 89 ff., 383 ff. Demgegenüber zum deutschen Begriff des Konstitutionalismus vgl. z. B. Werner Heun, Die Struktur des deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts im verfassungsgeschichtlichen Vergleich, Der Staat 45 (2006), 365 ff. 174 Vgl. z. B. Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated Convention on Human Rights, [1998] P.L. 225. 175 Vgl. auch Julian Rivers, Menschenrechtsschutz im Vereinigten Königreich, JZ 2001, 127 ff. 176 Francesca Klug, Values for a Godless Age: The Story of the United Kingdom’s New Bill of Rights, 2000. 177 Grundlegend Wesley Hohfield, Fundamental Legal Conceptions, 1923. Anders Martin Loughlin, Rights, Democracy, and Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 54. Zu beiden Ansätzen siehe John Finnis, Natural Law: The Classical Tradition, in: Jules Coleman / Scott Shapiro (eds.), The Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2002, S. 24 f.
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Der Human Rights Act 1998 benutzt beide Begriffe. Allerdings ist es die grundlegende Idee einer Bill of Rights wie dem Human Rights Act 1998, dass Freiheiten mit staatlichen Pflichten verknüpft werden, so dass die Betonung nunmehr auf dem „Rechts“-charakter liegt. 1. Die Pre-Human-Rights-Act-Phase Nach traditionellem Verfassungsverständnis wurden die Freiheiten lediglich als residual begriffen und von ihren Grenzen her definiert (negative approach), ein „Pflichtgehalt“ wurde ihnen grundsätzlich nicht beigemessen. Allerdings kam schon vor der Einführung des Human Rights Act 1998 der Gedanke auf, dem common law positive, mit (gewissen) Pflichten verbundene Rechte zu entnehmen. 178 So leitete z. B. 179 Sir John Laws aus dem common law Prinzipien verschiedener Rangordnung ab, die den Rahmen der Common-Law-„Grundrechtsrechtsprechung“ bilden. 180 Zur schwierigen Frage, wie genau der Inhalt der common law Rechte zu bestimmen sei, behauptete Sir John Laws in Is the High Court 178 Diese positiven common law rights, die insbesondere in Australien Fuß gefasst haben und auch eine Blütephase in Neuseeland hatten, werden üblicherweise, wenn auch nicht immer, mit der Forderung verbunden, dass ihnen Vorrang vor der Doktrin der Parlamentssouveränität einzuräumen ist. Vgl. zu Australien H. Lee, The Australian High Court and Implied Fundamental Guarantees, [1993] P.L. 606; John Doyle / Belinda Wells, How Far Can the Common Law Go Towards Protecting Human Rights, in: Philip Alston (ed.), Promoting Human Rights Through Bill of Rights, 1999, S. 17 ff.; George Williams, Human Rights under the Australian Constitution, 1999, Kapitel 7 und 8; George Winterton, Extra-Constitutional Notions in Australian Constitutional Law, (1986) 16 Federal LRev. 223; D. Smallbone, Recent Suggestions of an Implied „Bill of Rights“ in the Constitution Considered as Part of a General Trend of Constitutional Interpretation, (1993) 21 Federal LRev. 254; L. Zines, A Judicially Created Bill of Rights, (1994) 16 Sydney LRev. 166 und zu Neuseeland Lord Cooke of Thorndon, Fundamentals, [1988] New Zealand Law Journal 158; Paul Rishworth, Lord Cooke and the Bill of Rights, in: Paul Rishworth (ed.), The Struggle for Simplicity in the Law: Essays for Lord Cooke of Thorndon, 1997.; Michael Kirby, Lord Cooke and Fundamental Rights, in: Paul Rishworth (ed.), The Struggle for Simplicity in Law: Essays for Lord Cooke of Thorndon, 1997, S. 331 ff. Sie sind daher auf vehemente Kritik gestoßen, vgl. insbesondere Lord Irvine of Lairg, Judges and Decision-Makers: The Theory and Practice of Wednesbury Review, [1996] P.L. 59. Andere wiederum lehnen die pragmatische Entwicklung der Common-Law-Rechte als einen reaktiven und potentiell zutiefst konservativen Rechtsschaffungsprozess ab, vgl. Fiona Donson, Civil Liberties and Judicial Review: Can the Common Law Really Protect Rights?, in: Peter Leyland / Terry Woods (eds.), Administrative Law Facing the Future: Old Constraints and New Horizons, 1997, S. 347. Befürworter sogenannter Common-Law-„Grundrechtsrechtsprechung“ in der Richterschaft sind u. a. Lord Woolf, Sir John Laws und Sir Stephen Sedley sowie Lord Cooke of Thorndon, vgl. Lord Cooke of Thorndon, The Road ahead for the common law, (2004) 53 I.C.L.Q. 276 ff. m.w. N. 179 Vgl. auch Trevor R. S. Allan, Law Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 135 ff., der der Meinung ist, dass dem common law
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the Guardian of Fundamental Constitutional Rights?, 181 dass die Konvention das common law informieren könne. Diese Idee wurde in mehreren Gerichtsentscheidungen aufgegriffen 182 und rief eine Vielzahl akademischer Kommentare hervor. Belhoff und Mountfield gaben zu bedenken, dass hierdurch eine Inkorporierung der Konventionsrechte durch die „Hintertür“ erfolge. 183 Hunt war der Meinung, dass diese Entwicklung kurz vor einer voll ausgereiften Common-Law-Grundrechtsrechtsprechung stehe, 184 die die Bereitschaft der Gerichte, fundamentalen Rechten in Großbritannien größeres Gewicht und Schutz zukommen zu lassen, demonstriere. 185 Auch Klug und Starmer sahen in der erhöhten Wertigkeit der Konvention ein Zeichen dafür, dass die Richterschaft zunehmend bereit sei, den Schutz fundamentaler Rechte auf eine substantiellere Grundlage als bisher im common law zu stellen. 186
Rechte des Individuums entnommen werden können. So existiert das Recht auf Meinungsfreiheit sowohl als residual liberty als auch als Manifestation des Wertes, den die Gerichte der Meinungsfreiheit als eigenständiges Prinzip zuweisen. 180 Die zwei grundlegendsten Prinzipien sind, dass eine Privatperson alles tun kann, was nicht verboten ist, während die öffentliche Hand nichts tun darf, was ihr nicht erlaubt ist. Sir John Laws, Meiklejohn, the First Amendment and Free Speech in English Law, in: Ian Loveland (ed.), Importing the First Amendment: freedom of expression in American, English and European Law, 1998. Für eine kritische Diskussion dieser Ansichten siehe J. A. G. Griffith, The Brave New World of Sir John Laws, (2000) 63 M.L.R. 159. 181 Sir John Laws, Is the High Court the Guardian of Fundamental Constitutional Rights?, [1993] P.L. 59 ff. Zur Weiterentwicklung seiner Gedanken, vgl. ders., Law and Democracy [1995] P.L. 72 ff. 182 Bezüglich des „right of access to the courts“: Raymond v Honey [1983] AC 1; R v Lord Chancellor, ex p Witham [1998] QB 575; des „right to legal advice“: R v Secretary of State for the Home Department, ex p Anderson [1984] 778; R v Chief Constable of South Wales, ex p Merrick [1994] 1 WLR 663; des „right to freedom of religion“: R v Secretary of State for the Home Department, ex p Moon [1996] 8 Admin LR 477, 480; R v Salisbury District Council, ex p Pendragon, unreported, 9 Jun 1995 (Laws J); des „right to freedom of expression“: A-G v Guardian Newspaper Ltd (No2) [1990] 1 AC 109, 283; Derbyshire County Council v Times Newspapers Ltd [1993] AC 534; Rantzen v Mirror Group Newspapers (1986) Ltd [1994] QB 670; des „right of assembly“: R v Salisbury District Council, ex p Pendragon, unreported, 9 Jun 1995. 183 M. Belhoff / H. Mountfield, Unconventional Behaviour? Judicial uses of the European Convention in England and Wales, (1996) 1 EHRLR 467. 184 Dies kritisch bestätigend Francesca Klug / Keir Starmer, Incorporation through the „front door“: the first Year of the Human Rights Act, [2001] P.L. 654 ff.: „(...) the reality of what has been taking place (...) is nothing short of the emergence of a common law human rights jurisdiction.“ 185 Murray Hunt, Using Human Rights in the English Courts, 1997, S. 205. 186 Francesca Klug / Keir Starmer, Incorporation Through the Backdoor, [1997] P.L. 223.
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Parallel zur Konvention begannen die Gerichte somit, eigene constitutional rights zu entwickeln, deren Betroffenheit nicht nur im Verfahren der judicial review eine „more rigorous examination“ 187 bewirkte, sondern die zudem nur durch die ausdrücklichen Worte eines statutes aufgehoben werden konnten (Ausschluss der rule of implied repeal). 188 Besonders aktiv bei der Entwicklung und Etablierung dieser constitutional rights, auch im Wege außergerichtlicher Veröffentlichungen, waren die Richter Lord Steyn 189, Sir John Laws 190 und Sir Stephen Sedley 191. Eine Reihe von Entscheidungen von grundlegender Bedeutung trugen zur Entwicklung und Etablierung derartiger Rechte bei. So wurde z. B. zunächst in einer Asylrechtsstreitigkeit das right to life als ein Recht anerkannt, dass die „most anxious scrutiny“ einer Verwaltungsentscheidung erfordere. 192 Im dem Fall Leech 193 hob der Court of Appeal eine sog. prison rule auf, die vom Home Secretary in Anwendung weitreichender Ermessensbefugnisse erlassen worden war und es dem Gouverner ermöglichte, die Korrespondenz zwischen Inhaftierten und ihren Verteidigern zu zensieren. Lord Steyn entschied, dass das Recht, vertraulich mit seinem Verteidiger kommunizieren zu dürfen, ein constitutional right (access to justice) sei, in welches nur im Rahmen des Erforderlichen aufgrund eines pressing need eingegriffen werden dürfe. Diesen Ansprüchen habe der Home Secretary nicht genügt. 187
Lord Bridge in Bugdaycay v Home Secretary [1987] AC 514, einem Deportationsfall, bei dem das Recht auf Leben des zu Deportierenden möglicherweise gefährdet war. Ähnlich Lord Bingham in R v Ministry of Defence, ex p Smith [1996] QB 517. In diesem Fall waren Homosexuelle aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus der Armee entlassen worden. Lord Bingham führte aus „the more substantial the interference with human rights, the more the court will require by justification before it is satisfied that the decision is reasonable“. 188 Z. B. in R v Secretary of State for the Home Department, ex p Daly [2001] 3 All ER 433 stellte Lord Cooke fest, dass das common law für sich genommen eine ausreichende Quelle für ein „fundamental right to confidential communication with a legal adviser“ biete, und dass „some rights are inherent and fundamental to democratic civilized society“. Letzteres ist insofern bedeutsam, als er den legislative intent als Rechtfertigung für judicial review zurückweist und die Befugnisse der Judikative ausdrücklich im common law verankert. 189 Lord Steyn, The Constitutionalisation of Public Law, 1999. R v Secretary of State for the Home Department, ex p Leech (No. 2) [1994] Q.B. 198; R v Secretary of State for the Home Department, ex p Pierson [1998] A.C. 539; R v Secretary of State for the Home Department, ex p Simms [1999] 3 All E.R. 400. 190 Sir John Laws, Is the High Court the Guardian of Fundamental Constitutional Rights?, [1993] P.L. 59; ders., Judicial Remedies and the Constitution, (1994) 57 M.L.R. 213; ders., Law and Democracy, [1995] P.L. 72 ff. R v Lord Chancellor, ex p Witham [1997] 1 W.L.R. 104. 191 Sir Stephen Sedley, The Sound of Silence: Constitutional Law without a Constitution, (1994) 110 L.Q.R. 270. 192 Vgl. Bugdaycay v Secretary of State for the Home Department [1987] AC 514. 193 R v Secretary of the Home Department, ex p Leech (No 2) [1994] QB 198.
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
Ein ähnlicher Ansatz wurde in dem Fall Witham 194 gewählt. In dieser Entscheidung hob das Gericht eine order des Lord Chancellors auf, der in Anwendung weitreichender Ermessensbefugnisse erhebliche court fees – auch von den Parteien – erhoben hatte. Sir John Laws war der Auffassung, diese Vorgehensweise kollidiere mit dem constitutional right des access to a court (rechtliches Gehör). In Simms 195 entschied das House of Lords einstimmig, dass das allgemeine Verbot des Home Secretary, dass Inhaftierte gegenüber Journalisten keine mündlichen Interviews geben dürften, um ihre Unschuld zu behaupten, sowohl ein Verstoß gegen das fundamentale right to exercise freedom of expression als auch des constitutional principle of legality sei, welche nur durch explizite Worte des Gesetzgebers außer Kraft gesetzt werden könnten. Inhaltlich gesehen ist die Einführung des Human Rights Act 1998 vor dem Hintergrund der sich ständig weiterentwickelnden, wenngleich inkohärenten Common-Law-Grundrechtsrechtsprechung 196, die ab Mitte der 1980er Jahre an Fahrt gewann, somit nicht so revolutionär, wie er vermuten lässt. Gleichwohl kommt seinem Erlass nicht nur deklaratorische Bedeutung zu. 197 2. Die Bedeutung des Human Rights Act 1998 Der Human Rights Act 1998 schreibt die oben skizzierte Entwicklung fort und transformiert das, was ehemals lediglich Freiheiten darstellte, in positive Rechte, an die staatliche Pflichten geknüpft werden und an denen auch die Legislative gemessen wird. Ausgangspunkt der rechtlichen Betrachtung ist jetzt nicht mehr in erster Linie die Freiheit des Einzelnen, sondern sein Recht. So verweist nun auch der britische Kläger nicht mehr darauf, was dem Staat verboten ist, sondern vielmehr auf seine Rechte. Hierin wird auch die Zuwendung zu einem rightsbased approach im britischen Recht gesehen, 198 der den Bedeutungswandel im tradierten Rechtsverständnis illustriert:
194
R v Lord Chancellor, ex p Witham [1998] QB 575. R v Secretary of State for the Home Department, ex p Simms [1999] 3 All ER 400. 196 Vgl. hierzu Jeffrey Jowell, Beyond the Rule of law: Towards Constitutional Review, [2000] P.L. 674 f.; Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 94 ff.; Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 214 ff. 197 Zu den maßgeblichen Veränderungen durch den Human Rights Act 1998 vgl. auch Lord Hoffmann in R v Secretary of State for the Home Department, ex p Simms [2000] 2 A.C. 131, 132. 198 Vgl. Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated Convention on Human Rights, [1998] P.L. 224 f. 195
§ 8 Die Wandlung des traditionellen Verfassungsverständnisses
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Recht und Gesetz werden von einer Zwangsordnung zu einem Freiheit bewahrenden Mittel, von einem System, das Verhalten der Herrschaft von Regeln unterwirft, zu einem System, das Herrschaft den Prinzipien eines gerechten Verhaltens unterwirft. Recht ist keine Frage allein des (parlamentarischen) Willens mehr, sondern wird als ein Ausdruck objektiver Vernunft begriffen. Abgesehen hiervon sind Exekutive und Judikative nunmehr unmittelbar an die Konventionsrechte gebunden. 199 Dies wiederum eröffnet Raum für eine Kontrolle des der Exekutive eingeräumten Ermessens am Maßstab der Konventionsrechte. So bilden section 6 (2) und section 3 sowie die Möglichkeit der Inkompatibilitätserklärung in section 4 des Human Rights Act 1998 die Basis eines neuen Prüfungsansatzes der Gerichte. Ihnen obliegt nunmehr ausdrücklich die rechtliche Überprüfung abstrakter Parlamentsgesetze am Maßstab der verschriftlichten Konventionsrechte. Hiermit geht ein Gewinn an Klarheit und Kohärenz 200 des britischen Systems zum Schutze grundlegender Rechte sowie eine signifikante Verlagerung des richterlichen Augenmerks einher. Zudem verlangt diese Entwicklung die Elaborierung neuer Prüfungsmethoden. 201 Zum anderen ist der auf der Basis der judicial review 202 von der Richterschaft inkremental entwickelte Grundrechtsschutz, insbesondere die ehemals rein richterrechtliche Auslegungsmaxime, dass das Parlament die Intention habe, sich konventionskonform zu verhalten, jetzt durch die Legislative positiv rechtlich bestätigt worden und hat somit erhöhte Legitimität erhalten. So befand Sir John Laws: „We are I hope on our way to the construction of a renewed constitutional jurisprudence, in which the megalithic doctrine of the sovereignty of Parliament will be refined to allow fundamental rights to flourish, while the legislature’s ultimate supremacy is preserved. The Act of 1998 gives democratic backbone to this important ideal.“ 203
Darüber hinaus wird dem Human Rights Act 1998 aufgrund seiner Bedeutung für die Machtverhältnisse zwischen den Gewalten „Verfassungsrang“ zugesprochen. Ob und inwieweit der hieraus resultierende Machtzuwachs der Judikative (nicht nur) gegenüber der Legislative von der Richterschaft genutzt und sie ihrer neuen constitutional role 204 gerecht werden wird, hängt weiterhin stark von der Richterschaft selbst ab.
199 In Secretary of State for the Home Departement ex p Brind [1991] 2 WLR 588 wurde eine unmittelbare Bindung der Exekutive an die Konventionsrechte noch explizit verneint. 200 Lord Irvine of Lairg, The Impact of the Human Rights Act: Parliament, the Courts and the Executive, [2003] P.L. 321. 201 Siehe unten § 9 III.2.b). 202 Siehe unten § 9 II.2. 203 Sir John Laws, Beyond Rights, (2003) 23 OJLS 279.
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
Paradoxerweise ist es aber gerade die Einführung des Human Rights Act 1998, die die Weiterentwicklung zu einem „fundamentalen“ Grundrechtsschutz im Sinne einer kassatorischen Normenkontrolle unwahrscheinlich werden lässt. Denn die Einführung des Human Rights Act 1998 wird wohl eine weitgehende Zementierung der von den Richtern betriebenen Herausbildung „unantastbarer“ fundamental common law rights 205 auf dem Stand der für den Human Rights Act 1998 gewählten Durchsetzungsform bewirken. Der besondere Wert des Human Rights Act 1998 ist somit in der parlamentarisch abgesegneten Steigerung der richterlichen Kontrolle und dem nunmehr ausdrücklich gesetzlich garantierten Schutz der Konventionsrechte zu sehen. Spätestens jetzt sind die ursprünglich als Prinzipien der politischen Moral wirkenden Werte in positivierte rechtliche Prinzipien transformiert worden. 206
IV. Das moderne Demokratieverständnis – Von majority rule zu einer rights based democracy Obwohl das tragende verfassungsrechtliche Prinzip im Vereinigten Königreich die Parlamentssouveränität ist, die entstehungsgeschichtlich der Idee der Volksherrschaft indifferent gegenübersteht, ist Großbritannien eine Nation mit starker demokratischer Tradition. Hierunter ist aber eine politische – keine rechtliche – Tradition zu verstehen. 207 Es stellt sich daher die Frage, ob sich durch die Einführung des Human Rights Act 1998 an diesem Befund etwas geändert hat. 1. Zur Einführungsdebatte des Human Rights Act 1998 Bereits im Zuge der Debatten zur Einführung des Human Rights Act 1998 traten recht unterschiedliche Demokratieverständnisse zu Tage. Zum einen wurde an einem majoritarian oder government-centered Verständnis von Demokratie im Sinne der Orthodoxie festgehalten und eine gerichtlich durchsetzbare Bindung der Legislative – aufgrund einer ihrem Wesen nach politischen
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Vgl. Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, 89 ff.; Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 67. 205 Besonders aktiv in dieser Hinsicht war Lord Cooke of Thorndon während seiner Zeit am neuseeländischen Court of Appeal in den Jahren 1979 –1984. So äußerte er sich in Fraser v State Services Commission [1984] 1 NZLR 116, 121 wie folgt: „This is perhaps a reminder that it is arguable that some common law rights may go so deep that even Parliament cannot be accepted by the courts to have destroyed them.“ 206 Vgl. Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 225. 207 Siehe oben § 4 II.
§ 8 Die Wandlung des traditionellen Verfassungsverständnisses
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Entscheidung durch nicht demokratisch legitimierte Richter – als undemokratisch verworfen. 208 Zum anderen begann sich ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass Demokratie zumindest die Sicherung derjenigen Voraussetzungen auch gegenüber der Legislative erforderlich mache, die notwendig für ihre Ausübung sind. 209 Daneben fasste der Gedanke Fuß, dass sich eine „gute“ Demokratie nicht im Mehrheitsprinzip erschöpfen dürfe, sondern der Mehrheit zum Schutze der Minderheit der Zugriff auf bestimmte Rechtsbereiche verwehrt werden müsse, was wiederum eine Bindung der Legislative an sogenannte Grundrechte erforderlich mache. 210 Demokratie begann somit als eine „delikate Balance zwischen der Mehrheitsregel und bestimmten grundlegenden Werten, wie den Menschenrechten“ 211 begriffen zu werden. 212 Der diesem Verständnis zugrunde liegenden Argumentation trat Waldron mit der Begründung entgegen, dass – wenn der Kern eines demokratischen Systems in einem informierten Meinungsaustausch über fundamentale Fragen, wie z. B. individuelle Rechte, und nicht in der selbstsüchtigen Rivalität egoistisch motivierter Gruppen liege – es dann angebrachter sei, derartige Meinungsverschiedenheiten
208 Vgl. z. B. J. A. G. Griffith, The Politics of the Judiciary, 1997; K. D. Ewing / Conor Gearty, Democracy or a Bill of Rights, 1991 und dies., Freedom under Thatcher. Civil Liberties in Modern Britain, 1990, S. 262 ff. In diesem Zusammenhang tritt auch immer wieder die Angst vor einer Politisierung der Richterschaft und einem Verlust der Rechtssicherheit durch die vage Natur geschriebener Menschenrechtskataloge auf. 209 Vgl. Sir John Laws, Law and Democracy, [1995] P.L. 72; Trevor R. S. Allan, Parliamentary Sovereignty: Law, Politics, and Revolution, (1997) 113 L.Q.R. 449; Martin Loughlin, Sword and Scales – An Examination of the Relationship Between Law and Politics, 2003, S. 191. 210 Vgl. u. a. Lord Cooke of Thorndon, The Road ahead for the Common Law, (2004) 53 I.C.L.Q. 278. 211 Douglas W. Vick, The Human Rights Act and the British Constitution, (2002) 37 Texas International Law Journal 362: „Democracy is thought to be a delicate balance between majority rule and certain fundamental values, such as human rights.“ 212 Aharon Barak, Judicial Discretion, 1989, S. 6. Diese Sicht, die zwar noch nicht als herrschende, aber doch als auf dem Vormarsch begriffene Meinung verstanden werden kann, erfreut sich einer immer größer werdenden Beliebtheit, siehe z. B. Sir John Laws, Beyond Rights, (2003) 23 OJLS 279 und Jeffrey Jowell, Judicial Deference and Human Rights: A Question of Competence, in: Paul Craig / Richard Rawlings (eds.), Law and Administration in Europe, 2003, S. 74: „There is no longer a dichotomy between the ‚democratic principle‘ (which ensures the supremacy of bodies representing the electorate) and individual rights. The new dispensation considers the protection of rights to be integral to democracy, not opposed to it.“ In diesem Sinne auch Sidney Kentridge, Parliamentary Supremacy and the Judiciary under a Bill of Rights. Some Lessons form the Commonwealth, [1997] P.L. 112: „When British judges are applying the Convention, democratic government will be strengthened, not weakened.“
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auf dem Wege des demokratisch-politischen Prozesses, und nicht vor Gericht zu lösen. 213 Auf der anderen Seite wurde vorgebracht, dass der Vorwurf, die Befugnis zur Normenkontrolle sei undemokratisch, dadurch entkräftet werde, dass das Parlament die Judikative hierzu gerade mittels eines entsprechenden Gesetzes ermächtige. Dem hält Waldron wiederum entgegen: „[T]he fact that there is popular support for an alteration in constitutional procedure does not show that such alteration therefore makes things more democratic (...) If people wanted to experiment with dictatorship, principles of democracy might give us reason to allow them to do so. But it would not follow that dictatorship is democratic.“ 214
Die Debatte um die Einführung einer Bill of Rights – die bemerkenswerterweise zwar in dem Bewusstsein, aber weitgehend ohne nennenswerte Auseinandersetzung mit der artverwandten amerikanischen Debatte 215 hinsichtlich der Reichweite richterlicher Kontrolle der Legislative geführt wurde – veranschaulicht, dass die Frage der Legitimität einer judicial review of legislation demnach maßgeblich von dem verfassungspolitischen Verständnis von „Demokratie“ abhängt. 2. Der politikwissenschaftliche Kontext – unterschiedliche Demokraktieverständnisse Zum besseren Verständnis dieser Debatte ist es daher sinnvoll, sie in einen weiteren politikwissenschaftlichen Kontext einzubetten. 216 Dabei ist es wichtig sich 213
Jeremy Waldron, Law and Disagreement, 1999. Für eine kürzlich erschienene Zusammenfassung seiner Kernthesen vgl. Jeremy Waldron, The Core of the Case Against Judicial Review, (2006) 115 Yale Law Journal 1346 ff. Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Artikel siehe Annabelle Lever, Is Judicial Review Undemocratic?, [2007] P.L. 280 ff. 214 Jeremy Waldron, A rights-based Critique of Constitutional Rights, (1993) 13 OJLS 46. 215 Vgl. z. B. Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch – The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962; John Hart Ely, Democracy and Distrust. A Theory of Judicial Review, 1980; Jörg Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2003 m.w. N. 216 Einen anderen – mehr an institutionellen und prozeduralen Fragen orientierten – Ansatz, um Veränderungen im britischen Demokratieverständnis zu skizzieren, wählt Oliver, die eine Verlagerung von der Konzeption der repräsentativen Demokratie hin zu einem Modell der partizipatorischen bzw. deliberativen Demokratie in Großbritannien konstatiert, vgl. Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 28 ff. Eine umfassende Analyse bietet auch Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990.
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zu vergegenwärtigen, dass die Debatte zwischen den Polen von Demokratie und Rechten sowie Individuum und Kollektiv oszilliert. Innerhalb dieses Koordinatensystems hat Loughlin vier verschiedene Demokratieverständnisse herausgearbeitet, die liberal democratic position, die bourgeois liberal position, die communitarian position und den liberal republicanism. 217 a) Die liberalen Positionen Die ersten beiden Positionen haben ihren Ursprung im Liberalismus. Demnach sollen die Individuen in der Lage sein, möglichst weitgehend ohne staatliche Einmischung ihre Ziele verfolgen zu können. Wie dies bestmöglich erfolgt, wird unterschiedlich bewertet: aa) Die liberal democratic position Die liberal democrats verstehen Demokratie in erster Linie als Verdichtung der Bürgerwünsche, als Teilhabe der einzelnen Bürger am institutionellen Prozess der Gesetzgebung. Nach dieser Ansicht sind sog. entrenched rights anti-demokratisch, da sie bestimmte Rechte der Verfügbarkeit der einfachen Mehrheit entziehen. 218 Liberal democrats sind der Meinung, dass man bei der Diskussion nicht so sehr von dem abstrakten Problem der „counter-majoritarian difficulty“ 219 ausgehen sollte, sondern sich vielmehr praktisch fragen sollte, ob politisch strittige Themen von Richtern anstelle der einfachen Bürger entschieden werden sollten. Dies sei zu verneinen. Vertreter dieser Ansicht begreifen die Rechtsordnung in erster Linie als Ausdruck des Volkswillens und der Selbstherrschaft. Die rechtliche Ordnung, die der ansonsten grenzenlosen Freiheit der Bürger Schranken setzt, sei letzten Endes aufgrund der Tatsache gerechtfertigt, dass die Bürger sie sich selbst gesetzt haben. Die daraus resultierende Herrschaft der Exekutive sei somit ein Produkt des Willens der Bürger vermittelt durch das Parlament. Herrschaftsbeschränkungen werden folgerichtig politisch determiniert und erfordern daher Vertrauen. Dem möglichen Machtmissbrauch der Mehrheit könne nur durch customs oder conventions begegnet werden.
217 Martin Loughlin, Rights, Democracy, and Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 41 ff. 218 Vgl. Jeremy Waldron , A rights-based critique of constitutional rights, (1993) 13 OJLS 18. 219 Topos von Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch – The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962. Vgl. hierzu auch Jesse H. Choper, Judicial Review and National Political Process. A Functional Reconsideration of the Role of the Supreme Court, 1980; Francois Venter, The Politics of Constitutional Adjudication, ZaöRV 65 (2005), 132 ff.
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bb) Die bourgeois liberal position Die bourgeois liberal position hingegen hat ein etwas abgeklärteres Verständnis von Demokratie und befürchtet die Tyrannei der Mehrheit. Für sie stellt die Demokratie lediglich das geringste Übel dar. 220 Um einen Machtmissbrauch der Mehrheit in Schranken zu halten, sei es daher notwendig, eine Zone der privaten Autonomie zu kreieren, die nicht durch Mehrheitsentscheidungen verletzt werden darf. Diese Position versucht, die Frage nach der Legitimation der rechtlichen Ordnung der modernen Gesellschaft durch die Betonung individueller Rechte zu lösen. Die Rechtsordnung finde ihre Rechtfertigung in dem gleichen Schutz fundamentaler Rechte der Bürger. Die Bürger seien Inhaber sogenannter natural rights, die nur insoweit eingeschränkt werden dürften, wie es für eine sachgerechte Regierung notwendig ist. Ziel des Rechts ist es somit nicht allein, Freiheiten des Einzelnen abzuschaffen oder zu beschränken, sondern auch zu bewahren und zu fördern. Herrschaft wird als „Pakt“ zwischen Regierung und Bürgern begriffen. Das Recht ist somit nicht in erster Linie eine Frage des Willens, sondern der Vernunft. 221 Es garantiert die Privatautonomie und schützt den Einzelnen vor der potentiellen Tyrannei der Mehrheit. b) Die republikanischen Positionen Im Gegensatz hierzu gehen die republikanischen Positionen nicht so sehr von dem Einzelnen bzw. der negativen Kontrollfunktion des Rechts aus, sondern betonen seinen positiven Zweck, Regierungsmacht sozial wünschenswerten Zielen dienen zu lassen. 222 Für die republikanische Sichtweise ist es bedeutsam, diejenigen Faktoren zu ermitteln und zu unterstützen, unter denen eine demokratische Selbstbestimmung überhaupt möglich ist. Bürgerliches Engagement soll aktiviert und gefördert werden. Demokratie bedeutet demnach nicht nur Ausdruck des Mehrheitswillens, sondern die Bildung dieses Willens im Wege eines freien Diskurses. Rechte dienen in diesem Sinne nicht nur den Schutzbereichen des Individuums, sondern sind konstitutiv für eine demokratische, d. h. deliberative Willensbildung und dienen somit der Selbstbestimmung. Der Antagonismus zwischen Rechten und Demokratie wird insofern aufgehoben und stellt sich nunmehr als zwei Seiten der gleichen Medaille dar. 220
Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1956. Hierzu Martin Loughlin, Theory and Values in Public Law: An Interpretation, [2005] P.L. 55. Als Vertreter dieser in einer Tradition Kants stehenden Auffassung können vornehmlich Sir John Laws und T. R. S. Allan begriffen werden. 222 Zum besseren Verständnis ist darauf hinzuweisen, dass in diesem Zusammenhang unter Republikanismus keine antimonarchische Haltung zu verstehen ist. Siehe auch P. Pettit, Republicanism: A Theory of Freedom and Government, 1997. Zur republikanischen Tradition in den USA siehe Mortimer N. S. Sellers, Republican Legal Theory. The History, Constitution and Purposes of Law in a Free State, 2003. 221
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aa) Die communitarian position Vor diesem Hintergrund ist die communitarian position als eine Sichtweise zu begreifen, die besonderen Wert auf die öffentliche Verantwortung und nicht so sehr auf private Autonomie legt. Liberale Rechte erodierten nur das Zusammengehörigkeitsgefühl, das für eine soziale Ordnung notwendig sei. 223 bb) Die Position des liberal republicanism Die Position des liberal republicanism hingegen versucht Privatautonomie, bürgerliche Tugend, deliberative Demokratie und fundamentale Rechte miteinander zu vereinbaren. 224 Loughlin hebt hervor, dass – richtig verstanden – Rechte, einschließlich des Rechts auf Privatautonomie (welches auf moralischer Gleichheit beruht), nicht nur bloß vereinbar mit sozialen Verpflichtungen oder Bindungen seien, sondern diese zudem noch stärkten. 225 c) Der Human Rights Act und die Veränderungen im demokratietheoretischen Denken Vor diesem Hintergrund lassen sich nunmehr die Veränderungen im demokratietheoretischen Denken, die zur Einführung des Human Rights Act 1998 geführt haben illustrieren: Mit ihrer Betonung der ungehemmten Mehrheitsdemokratie und dem Aspekt der Selbstherrschaft sind Dicey und die Orthodoxie den klassischen Vertretern der liberal democrats zuzuordnen. Die damit einhergehende positivistische Konzeption von Recht war allerdings etwas, was auch den Sozialisten der damaligen Zeit zusagte, da ihnen die unbeschränkte und von Gerichten unkontrollierbare Macht der Mehrheit zur Durchsetzung radikaler sozialer Reformen gelegen kam. Sie übernahmen daher eine communitarian position. Dies wiederum rief den Argwohn des konservativen Lagers hervor, die daher in den 60er und 70er Jahren mit einer Rights-based-Verfassungsordnung zu liebäugeln begannen. Die Erfahrungen in der Zeit des Thatcherianism bewirkten schließlich, dass auch viele Linke die Allmacht des Parlaments beschränkt wissen wollten. Aus dieser ungewöhnlichen Koalition entstand der Human Rights Act 1998, der somit eine Verlagerung von 223
M. A. Glendon, Rights Talk: The Impoverishment of Political Discourse, 1991. Dieser Denkansatz ist von Habermas inspiriert. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1994. 225 Martin Loughlin, Rights, Democracy, and Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 49; siehe auch R. Dagger, Civic Virtues: Rights, Citizenship, and Republican Liberalism, 1997. 224
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dem klassischen positivist, liberal democratic model hin zu einer rights-based democracy 226 markiert. Er bewirkt somit eine grundlegend veränderte (verfassungsrechtliche) Erwartungshaltung, nämlich, dass die Konventionsrechte von allen drei Gewalten respektiert werden. 227 Fundamentale Rechte werden nicht als Gegenspieler zur Demokratie, sondern als ihr integraler Bestandteil verstanden. Die Gleichsetzung von Demokratie mit reinem majority approval ist dieser Ansicht nach obsolet. Während die Auswirkungen des Human Rights Act 1998 bezüglich der Democracy-Rights-Achse ihrer Tendenz – wenn auch noch nicht ihres Ausmaßes 228 – nach klar sind, bietet der Human Rights Act 1998 keine direkte Antwort auf die Frage, welche Verlagerungen auf der Individual-Collective-Achse stattfinden werden. 229 Werden die Richter den Human Rights Act 1998 eher als Instrument des negativen Konstitutionalismus im Sinne des bourgeois liberalism oder als konstruktive Kraft zur Erreichung wünschenswerter sozialer Ziele benutzen (liberal republicanism)? 230 Lord Hailsham – eher in einer bourgeois liberalen Tradition stehend – prägte in diesem Zusammenhang bereits Ende der 1970er Jahre den Begriff des limited government, der für ihn den Gegenpol zu einem elective dictatorship darstellte, so wie ihn das traditionelle System in seiner radikalen Ausprägung befürchten ließ. 231 Die Idee des limited government, dessen Ursprung Lord Hailsham von Plato bis über Bracton verortet, bedeutet für ihn freedom under law und stellt 226 Vgl. z. B. Jeffrey Jowell, Judicial deference: servility, civility or institutional capacity, [2003] P.L. 597. Jeffrey Jowell / Dawn Oliver (eds.), The Changing Constitution, 2000, S. VI. 227 Jeffrey Jowell, Judicial deference: servility, civility or institutional capacity, [2003] P.L. 597 m.w. N. 228 Für viele bildet der Human Rights Act 1998 eine Art Mittelweg (vgl. z. B. Douglas W. Vick, The Human Rights Act and the British Constitution, (2002) 37 Texas International Law Journal 362). Zwar untersagt er ausdrücklich eine rechtliche Bindung des Parlaments und hält insofern an einem majoritarian Demokratieverständnis fest. Nichtsdestotrotz unterwirft er das Parlament gerichtlicher Kontrolle, um zumindest mittelbar die Beachtung der Rechte der Individuen und damit potentieller Minderheiten zu garantieren. Inwieweit die durch den Human Rights Act 1998 geförderte konstitutionalisierte Form des rechtlichen Diskurses die gesamte Rechtsordnung durchdringen wird, bleibt noch zu klären. 229 Oliver kontrastiert liberal constitutionalism und social democratic constitutionalism und konstatiert, dass eine Vielzahl der in den letzten sechs Jahren getroffenen Maßnahmen eher liberale, zumindest aber ambivalente Züge aufweist, vgl. Dawn Oliver, Constitutional Reform of the United Kingdom, 2003, S. 386. 230 Die beiden divergierenden Lager werden auch als liberal normativism bzw. Blackstonian anti-positivism auf der einen Seite und civic republicanism auf der anderen Seite bezeichnet. Vgl. Thomas Poole, Back to the Future? Unearthing the Theory of Common Law Constitutionalism, (2003) 23 OJLS 438 m.w. N. Nach Poole sind T. R. S. Allan, Sir John Laws, Dawn Oliver und Paul Craig im weitesten Sinne dem ersten Lager zuzurechnen, während er Martin Loughlin und Richard Bellamy eher letzterem zuordnet.
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den Grundstein für eine pluralistische Gesellschaft dar, die seiner Ansicht nach ansonsten von Desintegration bedroht wäre. 232 Andere Autoren hingegen, wie z. B. Martin Loughlin, Richard Bellamy oder Adam Tomkins, 233 favorisieren eher eine republikanische Position. Und obwohl prominente Richter, wie Lord Woolf und Sir John Laws 234, bereits vor Einführung des Human Rights Act 1998 eine Version des limited government mittels des common law propagierten, 235 kann in dieser Hinsicht bisher noch nicht von einer verfestigten herrschenden Meinung gesprochen werden. 236 Ebensowenig ist die Antwort auf die Frage, wie weitreichend die Verlagerung auf der Democracy-Rights-Achse zugunsten der rights ausfallen wird, abschließend geklärt. Sie hängt wieder einmal stark vom dem sich noch herausbildenden Selbstverständnis der Richterschaft ab. Deutlich geworden ist jedenfalls, dass der Human Rights Act 1998 einen Wendepunkt im herkömmlichen Demokratieverständnis markiert, ohne dass allerdings nunmehr von einem einheitlichen Verständnis gesprochen werden könnte. 237 Trotz der Abkehr von einem Demokratieverständnis als reinem Mehrheitsprinzip ist democracy überhaupt erst vereinzelt als Rechtsproblem bzw. verfassungsrechtlicher Maßstab entdeckt worden. So überrascht es nicht, dass man in den einschlägigen Lehrbüchern des Verfassungsrechts keine Kapitel über democracy findet. 238 Durch den Human Rights Act 1998 wird zwar der Schutz vieler Rechte, 231 Lord Hailsham, The Dilemma of Democracy. Diagnosis and Prescription, 1978. Dieser Begriff wurde dann von weiteren Autoren aufgegriffen, vgl. z. B. Jeffrey Jowell, Beyond the Rule of Law: Towards Constitutional Judicial Review, [2000] P.L. 671 ff. 232 Lord Hailsham, The Dilemma of Democracy. Diagnosis and Prescription, 1978, S. 11, 36, 217. 233 Martin Loughlin, Rights, Democracy, and Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.), Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 41 ff.; Martin Loughlin, Sword and Scales – An Examination of the Relationship Between Law and Politics, 2000; Adam Tomkins, In Defence of the Political Constitution, (2002) 12 OJLS 157; Richard Bellamy, Political Constitutionalism. A Republican Defence of the Constitutionality of Democracy, 2007. 234 Sir John Laws wird als Vertreter eines auf das Individuum bezogenen Liberalismus gesehen, der in der Tradition Immanuel Kants stehe. Vgl. J. A. G. Griffith, The Brave New World of Sir John Laws, (2000) 63 M.L.R. 162; Paul Craig, Theory, „pure theory“ and values in public law, [2005] P.L. 443. 235 Siehe oben § 8 II.1. und vgl. auch Lord Woolf, Droit Public – English Style, [1995] P.L. 57. 236 Loughlin befürchtet aufgrund der Art und Struktur der Richterschaft einen Trend zum Modell des bourgeois liberalism, obwohl seiner Meinung nach die gegenwärtige politische Ordnung ihrer Idee nach viel eher dem liberal republicanism entspricht, vgl. Martin Loughlin, Rights, Democracy, and Law, in: Tom Campbell / K. D. Ewing / Adam Tomkins (eds.) Sceptical Essays on Human Rights, 2001, S. 59 f. 237 Im Ergebnis so auch Paul Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990, S. 244.
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die für eine funktionierende Demokratie als konstitutiv erachtet werden, erhöht. Eine rechtliche Bindung der Legislative wird aber weiterhin umgangen. Eines wird jedoch durch die Inkorporierung der Konventionsrechte mittels des Human Rights Act 1998 bewirkt: Spätestens jetzt ist der Begriff der democratic society 239 zu einem britischen Rechtsbegriff geworden, mit dem sich die Rechtswissenschaft auseinandersetzen muss.
V. Die Abkehr vom Rechtspositivismus Es ist wenig verwunderlich, dass die durch den Human Rights Act 1998 geförderte rights-oriented conception of law, die schon vor ihrer „Vergesetzlichung“ durch den Human Rights Act 1998 mittels der Rezeption des Grundrechtsgedankens im common law ihren Anfang nahm, sich auch in einer veränderten rechtstheoretischen Einstellung niederschlägt. Prominente Förderer des rights-oriented approach sehen ihre rechtsphilosophischen Wurzeln nicht mehr im Rechtspositivismus, der herrschenden Theorie der Orthodoxie, sondern wenden sich Kritikern dieses Ansatzes, vornehmlich Ronald Dworkin, zu. 240 In seinen frühen Werken setzte sich Ronald Dworkin insbesondere kritisch mit H. L. A. Harts Version des Rechtspositivismus auseinander. 241 Hierauf aufbauend entwickelte er seine eigene Theorie, 242 die er in späteren Werken als interpretative 238 Vgl. z. B. Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 2000. Zum Demokratieprinzip und seiner Funktion als rechtlicher Prüfungsmaßstab in Deutschland vgl. z. B. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee / Paul Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 2004, S. 429 ff. m.w. N.; Alexander Hanebeck, Bundesverfassungsgericht und Demokratieprinzip – Zwischen monistischen und pluralistischen Demokratieverständnis, DÖV 21 (2004), 901 ff.; BVerfGE 83, 37 und 60. 239 Vgl. z. B. Artikel 8, 10, 11 der EMRK. 240 So u. a. Lord Woolf und vor allem Trevor R. S. Allan, Law, Liberty and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993; ders., The Rule of Law as the Rule of Reason: Consent and Constitutionalism, (1999) 115 L.Q.R. 231 f. und 237 f.; ders., Constitutional Justice. A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001. Vgl. auch Francis Bennion, What interpretation is „possible“ under section 3(1) of the Human Rights Act 1998?, [2000] P.L. 77 ff.; Paul Craig, Theory, „pure theory“ and values in public law, [2005] P.L. 440 f.; Martin Loughlin, The Idea of Public Law, 2003. Loughlin wendet sich hingegen nicht Dworkin, sondern Luhmann zu, vgl. Paul Craig, Theory, „pure theory“ and values in public law, [2005] P.L. 441. Kritisch gegenüber dem Wandel äußert sich Richard Ekins, Judicial Supremacy and the Rule of Law, (2003) 119 L.Q.R., 127 ff. 241 Siehe H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1994. Zu Hart vgl. Nicola Lacey, A life of H. L. A. Hart: the nightmare and the noble dream, 2004. 242 Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977. Zum rechteorientierten Modell von Dworkin siehe auch Ulrich R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen. Das Bundesverfassungsgericht zwischen Populismus und Progressivismus, 1998, S. 262 ff.
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Theorie des Rechts (interpretive theory of law) bezeichnete. 243 Seine Theorie der Rechte lässt sich als Versuch verstehen, die Mängel der positivistischen (aber auch realistischen und hermeneutischen) Ansätze zu vermeiden und mit der Annahme deontologisch konzipierter Rechte zu erklären, wie die richterliche Entscheidungspraxis den Forderungen der Rechtssicherheit und der rationalen Akzeptabilität gleichzeitig genügen kann. Dworkins Kritik am Rechtspositivismus richtete sich sowohl gegen dessen Neutralitätsthese als auch gegen die Annahme eines autonom geschlossenen Rechtssystems. Er ist der Auffassung, dass Individuen Rechte gegen den Staat haben können, die den Rechten, die durch explizite Gesetzgebung geschaffen wurden, vorausliegen, und bei denen der Herkunftsnachweis als Gültigkeitstest versagen muss. Dworkin unterscheidet in seinem Modell des positiven Rechts zwischen Regeln und Prinzipien. Während Regeln konkrete, bereits anwendungsspezifisch bestimmte Normen sind, die im Sinne einer Alles oder Nichts erfordernden Entscheidung konfligieren können, stellen Prinzipien allgemeine und stets interpretationsbedürftige Rechtsgrundsätze dar, die eine von Fall zu Fall variierende Ordnung herstellen. Auf diese, den Hintergrund der positiv ausgeformten Regeln bildenden Prinzipien, müsse bei der Rechtsfindung ständig zurückgegriffen werden, um die Schwächen des vom Rechtspositivimus propagierten Regelmodells zu kompensieren. Gerade die rechtlich anerkannten Grundrechte sind aufs Engste mit Prinzipien verwoben und bieten einen weiten Raum für nichtpositivistische Angemessenheitsvorstellungen. Während die Anwendung von Regeln im Wege der logischen Subsumtion erfolgt, macht die von Prinzipien einen Abwägungsprozess erforderlich. Beide dienen gleichermaßen, wenn auch mit verschiedenem argumentationslogischen Stellenwert, als Argumente in der Begründung von Entscheidungen. Nach Dworkin obliegt es nunmehr dem Richter im Wege kritischhermeneutischen Vorgehens, d. h. einer „konstruktiven Interpretation“, zu einer ideal, d. h. einzig gültigen Entscheidung eines Falles zu gelangen, in dem er die vermeintliche Unbestimmheit des Rechts dadurch kompensiert, dass er seine Begründung auf eine „Theorie“ stützt. Diese „Theorie“ soll die jeweils geltende Rechtsordnung in der Weise rational rekonstruieren, dass das geltende Recht als Ganzes aus Prinzipien gerechtfertigt werden kann. 244 Eine Rechtsanwendung, die sich zum Ziel setzt, das vorhandene rechtliche Material einer bestimmten 243
Siehe Ronald Dworkin, Law’s Empire, 1986; ders. A Matter of Principle, 1985. Aus der mittlerweile sehr umfangreichen Sekundärliteratur zu Dworkin vgl. z. B. Claudia Bittner, Recht als interpretative Praxis: zu Ronald Dworkins allgemeiner Theorie des Rechts, 1988; P. Mazurek, Ronald Dworkins konstruktive Methode im Test des reflexiven Äquilibriums, Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), 213 ff.; J. Hund, New Light on Dworkin’s Jurisprudence, ARSP 75 (1989), 468 ff.; Juha Uusitalo, Legitimacy in Law’s Empire: Burke and Paine Reconciled?, ARSP 75 (1989), 484 ff. 244 Für eine kritische (wenn auch überwiegend wohlwollende) Auseinandersetzung mit Dworkin vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1994, S. 238 –292.
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Gesellschaft als ein in sich stimmiges Ganzes zu interpretieren und die allein richtige Lösung zu finden, entfalte angesichts der weitreichenden Pluralisierung der Gesellschaft eine wichtige basiskonsensstiftende Integrationsfunktion. 245 Die Attraktivität von Dworkins Ansatz im Zusammenhang mit der Einführung geschriebener Grundrechtskataloge ist vor allen Dingen, wenn auch nicht ausschließlich, 246 mit der zentralen Stellung des Individuums in seiner Theorie zu erklären. Bei Dworkin ist daher das „subjektive Recht“ eine zentrale Kategorie seines Rechtsdenkens. 247 Während nach positivistischem Verständnis alles Recht positiv ist und sich nur der Definitionsmacht derer verdankt, die über den staatlichen Zwangsapparat verfügen können, geht Dworkin davon aus, dass das subjektive Recht mehr als nur ein Durchlaufposten der Rechtspolitik sei und gerade nicht zur Disposition derer stehe, die die Macht haben. Das subjektive Recht stelle somit einen „Trumpf“ dar, auf den sich das Individuum verlassen könne, wenn ihm der Staat zu nahe tritt. Nach diesem Konzept sind subjektive Rechte dem Einzelnen nicht im Interesse der Gesellschaft, sondern in erster Linie in seinem eigenen Interesse verliehen. Die Stellung des Einzelnen im Recht wird demnach nicht als bloßes Glied der Gemeinschaft, sondern als Selbstzweck begriffen. Insofern erschwert die Förderung subjektiver Rechte dem Staat allerdings die Erfüllung seiner Aufgabe, für das Gemeinwohl zu sorgen und bedarf daher einer Rechtfertigung. Diese ist nach Dworkin zum einen in der Kant’schen Vorstellung von der Würde des Menschen, die eine Instrumentalisierung des Menschen für fremde Zwecke verbietet, und der Vorstellung der politischen Gleichheit aller Menschen zu sehen: „Die Aussage, dass ein Mensch gegenüber dem Staat ein Grundrecht im starken Sinn 248 (...) hat, ist sinnvoll, wenn dieses Recht zum Schutz seiner Würde erforderlich ist oder zum Schutz seiner Gleichstellung hinsichtlich des Anspruchs auf Rücksicht und Achtung oder zum Schutz eines anderen persönlichen Werts von ähnlicher Tragweite. Andernfalls ist eine solche Aussage nicht sinnvoll.“ 249
245 Johann Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert. Die Rückkehr der Gerechtigkeit, 2001, S. 222. 246 Dworkins Lehre ist zudem für den Activist-Richter von Interesse, da sie ihm einerseits weitreichende rechtspolitische Argumentationen ermöglicht, andererseits aber davon ausgeht, er werde nicht rechtsschöpferisch tätig. Vgl. Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, Band II, 2001, S. 1233. 247 Johann Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert. Die Rückkehr der Gerechtigkeit, 2001, S. 183. 248 Rechte, die formal Teil der Rechtsordnung sind und denen zudem ein moralisches Recht zugrunde liegt, die also ein moralisches Recht durch die Hinzufügung von institutionellem Rechtszwang verstärken, sind nach Dworkin „starke Rechte“. Ein typisches praktisches Beispiel hierfür ist in den rechtlich verbrieften Grundrechten zu sehen. 249 Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 326.
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Daraus folgt, dass ein derartiges Recht nur insoweit eingeschränkt werden darf, als dies wegen der konkurrierenden Rechte anderer Bürger geboten ist, nicht aber aus sonstigen Gründen: „Ein Recht gegenüber dem Staat muss ein Recht sein, etwas selbst dann zu tun, wenn die Mehrheit es für falsch hielte, und selbst dann, wenn es der Mehrheit schlechter ginge, falls es getan würde.“ 250
Die hervorgehobene Stellung des autonomen Subjekts in Dworkins Modell repräsentiert einen Paradigmenwechsel, in dem sowohl das utilitaristische 251 Leitbild des größten gesellschaftlichen Nutzens, als auch das positivistische Leitbild des „geltenden“ Rechts – für den Preis der weitgehenden Verrechtlichung des politischen Systems – durch das Leitbild grundlegender Menschen- und Bürgerrechte ersetzt wird. Der Human Rights Act 1998 kann als Spiegel dieser Entwicklung begriffen werden. Allerdings ist zu bedenken, dass, obwohl er die britische Rechtsordnung gegenüber prinzipienorientierten Argumenten öffnet, er der Form nach die Idee des subjektiven Rechts nicht voll verwirklicht.
VI. Zwischenbetrachtung: Auf dem Weg zu einem (neuen) öffentlichen Recht Die vorstehenden Kapitel haben einen grundlegenden Wandel gegenüber dem traditionellen britischen Verfassungsverständnis gezeigt. 252 Die Doktrin der Parlamentssouveränität wurde ausgehöhlt, während die rule of law eine materielle Anreicherung erfahren hat. Das herkömmliche Demokratieverständnis ist weitgehend der Notion des limited government gewichen und deontologische Ansätze verdrängen zunehmend das alte rechtspositivistische Verständnis. Britisches Rechtsdenken wird somit fortschreitend wertzentrierter. In diesem Zusammenhang wurde jedoch auch deutlich, dass der sich vollzogene und immer noch vollziehende Paradigmenwechsel nicht allein Ausdruck des Human Rights Act 1998 ist. Vielmehr speist sich der Human Rights Act 1998 aus dem der britischen Verfassung inhärenten Spannungsverhältnis von rule of law und Parlamentssouveränität, Demokratie und Individualrechtsschutz, Parlamentsgesetzen 250
Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 319. Für Bentham war der oberste Grundsatz „the greatest happiness of the greatest number“. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er den Gedanken eines dem einzelnen Menschen ursprünglich zukommenden Rechts vehement verwirft. Ein subjektives Recht dieser Art ist für ihn „nonsense on stilts“, Jeremy Bentham, Anarchical Fallacies, in: J. Bowring (ed.), The Works of Jeremy Bentham, vol II, 1843, S. 501 ff. 252 Nevil Johnson konstatiert die „recognition of a domain of public law“, Nevil Johnson, Reshaping the British Constitution. Essays in Political Interpretation, 2004. 251
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und common law (etc.). Er ist zudem selbst Folge einer Entwicklung, die durch die Richterschaft, angesichts eines Potpourries äußerer Einflüsse, wie z. B. der parteipolitischen Polarisation und Regierungskrise in den 1970er Jahren, weitreichenden Staatsreformen und Veränderungen im Regierungsstil unter Thatcher, 253 praktischer Fusion von Exekutive und Legislative, der fortschreitenden Konstitutionalisierung der Europäischen Union und der unaufhaltsamen Globalisierung ihren Anfang 254 nahm und durch den Human Rights Act 1998 ihre Fortführung findet. Diese dem Human Rights Act 1998 vorausliegende Entwicklung geht – wie die vorstehenden Kapitel gezeigt haben – weit über die bloße Rezeption des Grundrechtsgedankens und der bereits mehrfach erwähnten Einführung sogenannter Common-Law-Grundrechte hinaus und kann als eigene Theorie des öffentlichen Rechts begriffen werden. Der sogenannte common law constitutionalism 255 ist nach Thomas Poole „the reconfiguration of public law as a species of constitutional politics centred on the common law court“. 256 In diesem Zitat wird das trotz aller materiellen Anreicherung weiterhin von institutionellem Denken geprägte britische Verfassungsverständnis deutlich. Hervorhebenswürdiger Bestandteil dieser Theorie, die das kontemporäre öffentlich rechtliche Denken zunehmend (wenn auch nicht ausschließlich) beeinflusst, ist neben der bereits dargestellten Betonung der Autonomie des Individuums und dem Wunsch nach traditioneller Anknüpfung, d. h. verfassungsgeschichtlicher Kontinuität, die Wiederentdeckung der Macht der Common-Law-Methode als Ausdruck öffentlicher Vernunft und des ihr innewohnenden Wertgehalts. Der dem common law eigene Prozess der Erkenntnisgewinnung 257 führe, um mit den 253
Zu den Folgen der Reform des öffentlichen Sektors in Hinblick auf die Notion des öffentlichen Rechts vgl. Thomas Poole, Back to the Future? Unearthing the Theory of Common Law Constitutionalism, (2003) 23 OJLS 436. Lord Woolf sieht in dem judicial activism eine direkte Folge der Thatcher-Ära. Lord Woolf, The Observer, 9. Mai 1995, S. 45 (zitiert nach Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band II, 2001, S. 1181). 254 Vgl. für Erklärungen der Konstitutionalisierungstendenzen in Großbritannien auch Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 384. Abstrakt kann festgestellt werden, dass überwiegend eine Unterminierung der comity zwischen den Gewalten und Verstöße gegen die Kultur des self restraint Konstitutionalisierungstendenzen fördern, da sie das Fundament der political constitution untergraben. 255 Dieser Begriff wurde für Großbritannien von Thomas Poole, Back to the Future? Unearthing the Theory of Common Law Constitutionalism, (2003) 23 OJLS 435 ff. geprägt, ohne dass ein Bezug zu seinem terminologischen Vorläufer in den USA hergestellt wird, vgl. hierzu David Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, (1996) 63 University of Chicago LRev. 877 ff. Wesentlich zur Entwicklung der britischen Theorie des common law constitutionalism beigetragen haben u. a. T. R. S. Allan, Sir John Laws, Dawn Oliver, Paul Craig und wohl auch Jeffrey Jowell. 256 Thomas Poole, Back to the Future? Unearthing the Theory of Common Law Constitutionalism, (2003) 23 OJLS 439.
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Worten T. R. S. Allans zu sprechen, zu einem body of reason, dem ein besonderer moralischer Wert innewohne. Damit tritt das common law in Konkurrenz zum parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozess und wird teilweise sogar hinsichtlich seines ihm innewohnenden politisch / moralischen Gehalts, seines evolutionären Charakters und seiner Kontinuität als dem parlamentarischen Prozess überlegen angesehen. Dieser Ansatz ist nicht neu. 258 Das britische Rechtssystem ist seit jeher vom Dualismus von statute law und common law geprägt. Das System der Parlamentssouveränität wurde überhaupt erst durch seinen counterpart, das common law, erträglich. An diese Tradition anknüpfend hat die Theorie des common law constitutionalism in einer Zeit, in der sich das statute law immer weiter auf dem Vormarsch befindet und die Konvergenz der Common-Law-Tradition mit der Civil-Law-Tradition in aller Munde ist, durch einen common-law-spezifischen Weg der Reform zu weitreichenden verfassungsrechtlichen Veränderungen geführt. Dies ist insofern äußerst bemerkenswert. Vor diesem Hintergrund erhellt sich auch der ambivalente Charakter des Human Rights Act 1998. Zwar ist er auf der einen Seite als Folge der soeben beschriebenen Entwicklung zu verstehen und führt zu einer Verfestigung des zuvor erläuterten Paradigmenwechsels, indem er den Gerichten die nunmehr demokratisch legitimierte Aufgabe überträgt, den Bereich individueller Freiheit abzugrenzen, der frei von staatlicher Intervention sein soll; auf der anderen Seite bricht er aber mit dem durch den common law constitutionalism eingeschlagenen Weg, indem er die „Grundrechtsrechtsprechung“ dem parlamentarischen Willen „einverleibt“ und ausdrücklich an den Wortlaut der Konvention bindet. Der ehemals den Gerichten zur richterlichen Gestaltung „frei“ zur Verfügung stehende Raum wird nunmehr durch den Human Rights Act 1998 weitgehend determiniert. Insofern ist der Human Rights Act 1998 trotz aller ihm reformatorisch innewohnen Kraft auch als konservatives Element zu verstehen. Ob der Human Rights Act 1998 dem revolutionären Potential des common law constitutionalism den Wind aus den Segeln nehmen und radikalere Reformen durch die Richterschaft verhindern wird, wird sich zeigen. Jedenfalls stellt er aber das demokratisch legitimierte Bekenntnis zu einer rechtsnormativen Anreicherung der Verfassung dar und verfestigt – wenn nicht gar fördert – die gesteigerte Machtposition der Richterschaft. 257 Zum speziellen Charakter des adversarial trial vgl. Trevor R. S. Allan, Common Law Reason and the Limits of Judicial Deference, in: David Dyzenhaus (ed.), The Unity of Public Law, 2004, S. 289; Herbert J. Spiro, Government by Constitution, 1959, S. 225. Siehe auch oben § 4 II.1. 258 Siehe z. B. die Urteile von Sir Edward Coke aus dem 17. Jahrhundert, als die Idee des höherrangigen Rechts kurzfristig Fuß zu fassen schien (siehe oben § 5 II.2.). Vgl. hierzu auch Jeffrey Goldsworthy, The Sovereignty of Parliament. History and Philosophy, 1999, Kapitel 5.
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Der grundsätzliche Konflikt zwischen Parlamentssouveränität und einer voll ausgereiften rule of law wurde aber auch durch den Human Rights Act 1998 nicht vollends aufgelöst. Vielmehr wird weiterhin in hard cases auf eine politische Lösung vertraut. Die Auswirkungen dieses Spannungsverhältnisses zeigen die Geschehnisse im Zusammenhang mit der Asylum and Immigration (Treatment of Claimants, etc.) Bill. So hat der Versuch der Regierung 2004, den bestehenden Nationality, Immigration and Asylum Act 2002 durch die Asylum and Immigration (Treatment of Claimants, etc.) Bill zu reformieren, einen politischen Zustand provoziert, der als „something close to a constitutional crisis“ 259 bezeichnet wurde. 260 Der Gesetzesentwurf sah vor, zur Entscheidung von Asylrechtsstreitigkeiten ein Tribunal einzusetzen und gleichzeitig den Zugang zu den Common-LawGerichten auszuschließen. 261 Dies war insofern revolutionär, als bislang alle bestehenden Tribunale ein Rechtsmittel an die Gerichte zulassen und gerade der Nationality, Immigration and Asylum Act 2002 in seiner ursprünglichen Form ein beschleunigtes Judicial-Review-Verfahren vorsah, um dem exzessiven Gebrauch dieses Rechtsmittels vor 2002 Herr zu werden. 262 Dieser Umstand veranlasste ein Parlamentsmitglied zu der zynischen Bemerkung: „[i]t is indeed a novel principle of dealing with an abuse of process by removing the process rather than the abuse.“ 263 Zwar sind sogenannte ouster-clauses, d. h. die gerichtliche Kontrolle ausschließende Klauseln, nichts Neues, und die Gerichte waren auch bisher relativ gut in der Lage, den Effekt derartiger Klauseln durch interpretatorische Lösungen zu minimieren bzw. zu umgehen; 264 die in der Asylum Bill vorgesehene ousterclause war jedoch von noch nicht da gewesener Breite und Tiefe. Durch diese un259
Andrew Le Sueur, Three strikes and it’s out? The UK government’s strategy to oust judicial review from immigration and asylum decision-making, [2004] P.L. 225. 260 Vgl. hierzu allgemein Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, verfügbar unter http://law.bepress.com/ expresso/eps.276; Andrew Le Sueur, Three strikes an it’s out? The UK government’s strategy to oust judicial review from immigration and asylum decision-making, [2004] P.L. 225 ff.; Richard Rawlings, Review, Revenge, Retreat, (2005) 67 M.L.R. 378 ff.; Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 25 f. 261 Vgl. auch Ulrike Seif, Recht und Justizhoheit. Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich, 2003, S. 151. 262 Zum rasant steigenden Gebrauch der judicial review vgl. Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, S. 17, verfügbar unter http://law.bepress.com/expresso/eps/267. 263 David Heath, MP, House of Commons Standing Committee B, Hearings on Asylum and Immigration (Treatment of Claimants, etc.) Bill, 20 January 2004, at Col. 257, http://www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/cm200304/cmstand/b/ st040120/pm/40120s01.htm. 264 Vgl. hierzu z. B. Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 2004, S. 846 ff.
§ 9 Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative
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üblich weitreichende Klausel, die laut Lord Woolf eklatant dem mutual respect der Gewalten untereinander widersprach und daher ein „catalyst for a campaign for a written constitution“ sei, 265 wurde erneut die grundlegende Frage virulent und auch praktisch relevant, ob die Gerichte ein vom Parlament beschlossenes Gesetz aufgrund ihrer eigenen verfassungsmäßigen Stellung für nichtig erklären können. 266 Angesichts der stimmgewaltigen Opposition namhafter Mitglieder der Richterschaft 267 und vieler anderer prominenter Rechtswissenschaftler 268 (z. B. Jeffrey Jowell 269) zog es die Regierung vor, dieses Kräftemessen nicht bis zum äußersten zu treiben, und zog die ouster-clause während der zweiten Lesung im House of Lords zurück. Auch wenn dieses Beispiel Zweifel an der Verinnerlichung des neuen Verfassungsverständnisses durch die Exekutive aufkommen läßt, so kann es doch auch als ein Beispiel dafür verstanden werden, dass die politischen Kontrollmechanismen der britischen Verfassung weiterhin funktionieren.
§ 9 Verschiebungen in der Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative durch den Human Rights Act 1998 Der Human Rights Act 1998 trägt zwangsläufig zu Veränderungen des institutionellen Gefüges von Judikative und Legislative bei. Dieser Wandel – so wie er in institutioneller, verfahrensmäßiger und methodischer Hinsicht seinen Ausdruck gefunden hat – soll nunmehr betrachtet werden.
265 Lord Woolf, The Rule of Law and a Change in the Constitution, (2004) 63 C.L.J. 328 f. 266 Zu dieser „nuclear option“ siehe Richard Rawlings, Review, Revenge, Retreat, (2005) 67 M.L.R. 404 ff. m.w. N. 267 Vgl. auch Lord Lester of Herne Hill, The Constitutional Implications of Ouster Clauses, Rede vor der Administrative Bar Law Association, 26. Februar 2004, at 8 – 9, verfügbar unter http://www.blackstonechambers.com/pdfFiles/Blackstone_APL_ALBA %20rule%20of%20law.pdf. 268 Siehe Andrew Le Sueur, Three strikes an it’s out? The UK government’s strategy to oust judicial review from immigration and asylum decision-making, [2004] P.L. 225 m.w. N. 269 So vertrat Jeffrey Jowell die Auffassung, es sei „no longer self-evident (...) that our courts would inevitably concede parliament’s right to ride roughshod over fundamental rights and the newly discovered constitutional principles. And the issue that is most likely to provoke the courts finally to question parliament’s paramount rule is an attack on the courts’ own constitutional duty to hear out people claiming injustice.“ Immigration Wars, The Guardian, 2. März 2004.
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
I. Institutionelle Auswirkungen – die Einführung eines Supreme Court Dem britischen Rechtssystem ist eine dem deutschen Verfassungsgericht vergleichbare Einrichtung fremd. Die gerichtliche Kontrolle der Parlamentsgesetzgebung war angesichts der Doktrin der Parlamentssouveränität weder anhand formeller noch materieller Maßstäbe möglich, und föderative Kompetenzstreitigkeiten konnten im unitaristischen System Großbritanniens nicht aufkommen. 1. Einführung von Normenkontrollmaßstäben Diese Situation hat sich nicht nur aufgrund der Einführung des Human Rights Act 1998 erheblich geändert. Spätestens seit der Factortame-Entscheidung 270 wird nicht mehr grundsätzlich bezweifelt, dass solange das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleibt, die britischen Gerichte sowohl die Kompetenz als auch die Pflicht haben, Parlamentsgesetze am Maßstab des unmittelbar anwendbaren Europarechts zu überprüfen und im Konfliktfall außer Anwendung zu lassen. Diese Kompetenz wird gegenwärtig in letzter Instanz vom House of Lords ausgeübt. Ebenso wurde durch die Devolution-Gesetzgebung von 1998 und 2006, die föderative Elemente in das britische Rechtssystem einbrachte, ein gerichtlicher Kontrollmechanismus in kompetenzieller Hinsicht eingeführt. Es ist Aufgabe des Privy Council bzw. Supreme Court 271 , zu überprüfen, ob sich die Gesetzgebung des schottischen Parlaments und der walisischen Versammlung im Rahmen der Kompetenzen halten, die ihnen durch die Devolution-Gesetzgebung eingeräumt worden sind. 272 Seit der Einführung des Human Rights Act 1998 können Gesetze durch die Gerichte auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention überprüft werden und im Falle von unlösbaren Widersprüchen Inkompatibilitätserklärungen erlassen werden. Sowohl der High Court als auch der Court of Appeal haben die Befugnis für eine derartige Erklärung. Letztinstanzlich entscheidet wiederum das House of Lords 273, dem allerdings weder ein Verwerfungsmonopol noch ein „Declarationof-Incompatibility-Monopol“ zukommt. 270
R v Secretary of State for Transport ex parte Factortame (No 2) [1991] AC 603. Zur Einführung eines Supreme Court vgl. unten § 9 I.2. 272 Siehe section 33 Scotland Act 1998 und section 99 und 112 Government of Wales Act 2006. Zu den mittelbaren Folgen dieser Befugnis hinsichtlich einer Kontrolle des Londoner Parlaments vgl. Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreformen, ZaöRV 64 (2004), 80 f. 273 Vgl. im Übrigen section 4 (5) Human Rights Act. 271
§ 9 Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative
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Den britischen Gerichten und insbesondere dem House of Lords wachsen somit immer mehr verfassungsgerichtliche Funktionen zu. Dadurch nehmen sie eine gesteigerte – wenn auch nicht umfassende oder letztverbindliche – Kontrollfunktion des politischen Prozesses wahr. Zwar hat das House of Lords als Rechtsprechungsorgan nach wie vor weder eine umfassende Normenverwerfungskompetenz gegenüber der Parlamentsgesetzgebung noch ist es zur Entscheidung innerparlamentarischer Organstreitigkeiten befugt, dennoch obliegt ihm nunmehr eine Fülle von politisch relevanten Kompetenzen: Die Überprüfung der Vereinbarkeit von nationalem Recht mit dem Recht der Europäischen Union, Kompetenzabgrenzungen innerhalb eines föderalisierten Staates, die Überprüfung der Konventionskonformität von Gesetzgebung und Handlungen der Exekutive und – eine fortgesetzte Anerkennung der Thoburn-Rechtsprechung 274 vorausgesetzt – die Vereinbarkeit einfacher Parlamentsgesetze mit constitutional statutes. 275 2. Einführung eines Supreme Court Dies alles erfordert eine gewisse personelle und institutionelle Distanzierung vom politischen Geschehen. Der Human Rights Act 1998 hat, insbesondere im Hinblick auf Artikel 6 der Konvention, eine gesteigerte Sensibilität für den Umstand geschaffen, dass das House of Lords die Funktion der obersten Rechtsprechungsinstanz als auch eines Legislativorgans zugleich ausübt. 276 So entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in McGonnell v United Kingdom, 277 dass der Bailiff of Guernsey, der sowohl Funktionen der Judikative als auch der Exekutive und Legislative
274
Thoburn v Sunderland City Council [2003] QB 151. Dort wurde mit der Anerkennung sogenannter constitutional statutes eine gewisse Normenhierarchisierung eingeführt. Siehe oben § 8 I.5. 275 Vgl. Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreformen, ZaöRV 64 (2004), 82. 276 So führte Lord Reed in Starrs v Ruxton 2000 JC 208 auf Seite 250E aus: „The effect given to the European Convention by the Scotland Act and the Human Rights Act in particular represents, to my mind, a very important shift in thinking about the constitution. It is fundamental to that shift that human rights are no longer dependent solely on convention, by which I mean values, customs and practices of the constitution which are not legally enforceable. Although the Convention protects rights which reflect democratic values and underpin democratic institutions, the Convention guarantees the of those rights through legal processes, rather than political processes. It is for that reason that Article 6 guarantees access to independent courts. It would be inconsistant with the whole approach of the Convention of the independence of those courts rested upon convention rather than law.“ Vgl. auch Lord Bingham of Cornhill, A New Supreme Court for the United Kingdom. The Constitution Unit Spring Lecture 2002 by Lord Bingham of Cornhill, 2002, S. 4 ff. 277 [2000] 30 EHRR 289.
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
wahrnimmt, nicht die Unabhängigkeits- und Unbefangenheitsgarantien des Artikel 6 EMRK erfüllt: „The principal judicial officer who sat on the case, the Bailiff, was not only a senior member of the judiciary of the Island, but was also a senior member of the legislature – as President of the States of Deliberation – and, in addition, a senior member of the executive – as titular of the administration presiding over a number of important committees. It is true, as the Government points out, that the Bailiff’s other functions did not directly impinge on his judicial duties in the case and that the Bailiff spends most of his time in judicial functions, but the Commission considers that it is incompatible with the requisite appearance of independence and impartiality for a judge to have legislative and executive functions as substantial as those in the present case.“ 278
Obwohl in diesem Urteil nicht entschieden werden musste, ob die Mehrfachfunktion des Bailiff of Guernsey als solche für eine Verletzung des Artikel 6 der Konvention ausreichend gewesen wäre, war das Urteil ein wichtiger Impuls über die Legitimität der Doppelstellung der Richter des House of Lords nachzudenken. 279 Zwar standen die Integrität der Law Lords und auch ihre Fähigkeit, ihre Doppelrolle auseinanderzuhalten, außer Frage. Das üblicherweise gebrauchte Argument, dass die verfassungsrechtliche Doppelstellung der Law Lords lediglich eine „theoretical anomaly of no practical significance“ 280 darstelle, wurde jedoch durch den gesteigerten Einfluss der Menschenrechtskonvention zunehmend unhaltbar. Bereits in Findlay v United Kingdom 281 unterstrich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Notwendigkeit eines objektiven Maßstabs bei der Beurteilung der richterlichen Unparteilichkeit: „First, the tribunal must be subjectively free of personal prejudice or bias. Secondly, it must also be impartial from an objective viewpoint, that is, it must offer sufficient guarantees to exclude any legitimate doubt in this respect.“
Hinsichtlich richterlicher Unabhängigkeit wurde ausgeführt: „In order to establish whether a tribunal can be considered as ‚independent‘, regard must be had inter alia to the manner of appointment of its members and their term of office, the existence of guarantees against outside pressure and the question whether the body presents an appearance of independence.“
Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter, die die zentrale Legitimationsgrundlage für die Ausübung von Gerichtsbarkeit darstellen, sind aber gerade nicht über jeden Verdacht erhaben, wenn Richter legislative oder – wie ehemals der Lord Chancellor 282 – exekutive Funktionen im politischen Prozess 278
McGonnell v United Kingdom (2000), 30 EHRR 289. Vgl. Robert, Stevens, The English Judges. Their Role in the changing Constitution, 2005, S. 104 ff. m.w. N. 280 A Supreme Court for the United Kingdom, Policy Paper, Justice S. 2, verfügbar unter http://www.justice.org.uk/images/pdfs/supreme.pdf. 281 [1997] 24 EHRR 221. 279
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ausüben, den sie zugleich als Richter kontrollieren sollen. 283 Um möglichen Vorbehalten gegen ihre Unvoreingenommenheit zu begegnen, haben die Law Lords nach der Verabschiedung des Human Rights Act 1998 eine Erklärung abgegeben, unter welchen Umständen sie sich verfassungsgemäß berechtigt sehen, an parlamentarischen Debatten teilzunehmen: „As full members of the House of Lords the Lords of Appeal in Ordinary have a right to participate in the business of the House. However, mindful of their judicial role they consider themselves bound by two general principles when deciding whether to participate in a particular matter, or to vote: first, the Lords of Appeal in Ordinary do not think it appropriate to engage in matters where there is a strong element of party political controversy; and secondly the Lords of Appeal in Ordinary bear in mind that the might render themselves ineligible to sit judicially if they were to express an opinion on a matter which might later be relevant to the House.“ 284
Obwohl dieses statement als wichtiger Schritt in die richtige Richtung gewürdigt wurde, verstummten die Stimmen nicht, die eine saubere Trennung von Legislative und Judikative forderten. Am 13. Juni 2003 kündigte die Regierung des Vereinigten Königreichs die Einrichtung eines institutionell verselbständigten Supreme Courts mit Sitz in London an. 285 Dem von der Legislative personell 286 und 282
Zur Reform des Instituts des Lord Chancellor, der ursprünglich zugleich die Funktion des obersten Richters, Präsident des House of Lords und faktisch eines Justizministers wahrnahm, vgl. den Constitutional Reform Act 2005. So werden u. a. seine gerichtlichen Funktionen auf den President of the Courts of England and Wales transferiert; er ist nicht mehr automatisch Speaker of the House of Lords und muss nicht mehr zwangsläufig aus dem House of Lords stammen, sondern kann auch aus dem House of Commons kommen. Diese Reform ist Ausdruck eines strikteren Verständnisses der Gewaltenteilung und soll der Sicherstellung der sachlichen Unabhängigkeit der Richter dienen. Vgl. z. B. auch Alexander Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 289 ff. Ob der „neue“ Lord Chancellor seiner Aufgabe, die richterliche Unabhängigkeit zu verteidigen, gewachsen ist, wurde kürzlich anlässlich des sog. Craig Sweeney Falls bezweifelt. Der pädophile Craig Sweeney wurde wegen Entführung und sexuellen Missbrauchs einer Dreijährigen von Judge Griffith Williams zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe mit der Möglichkeit der bedingten Haftentlassung nach fünf Jahren und 108 Tagen verurteilt. Trotz ausführlicher Begründung seiner Entscheidung attackierte der damalige Home Secretary John Reid das Urteil als „unduly lenient“, die Entscheidung „does not reflect the seriousness of the crime“. Die Presse griff die Kritik in massiver Form auf. Die zeitlich verspätete und halbherzige Verteidigung des Richters gegenüber den Anschuldigungen des Innenministers durch den damaligen Lord Chancellor, Lord Falconer, wurde als unzureichend empfunden. Näher hierzu House of Lords Select Committee on the Constitution, 6 th Report of the Session 2006 –07, Relations between the executive, the judiciary and Parliament, Report with Evidence, HL Paper 151, London Juli 2007, S. 18 ff. 283 So auch Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 46 f. 284 Hansard, 22. Juni 2000, col 419. 285 Vgl. hierzu ausführlich Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreformen, ZaöRV 64 (2004) 65 ff.; Andrew Le Sueur, Building the UK’s Supreme Court. National and Comparative Perspec-
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institutionell getrennten Supreme Court sollen im Wesentlichen die bisherigen Rechtsprechungsfunktionen des House of Lords und des judicial committee of the Privy Council übertragen werden. 287 Hierdurch verlieren auch die Law Lords ihre Sitze im Oberhaus und werden Mitglieder des neuen Supreme Court, der vom Obersten Lordrichter (Lord Chief Justice) geleitet wird. Der Supreme Court wird damit die höchste Revisionsinstanz (final court of appeal) sowohl für England als auch für Wales, Nordirland und Schottland. 288 Die den Supreme Court konstituierende Constitutional Reform Bill, nunmehr Constitutional Reform Act 2005 289, erhielt am 24. 3. 2005 den royal assent. Voraussichtlich im Oktober 2009 wird das neue Gericht in die Middlesex Guildhall, im Parliament Square, Westminster ziehen und seine Arbeit aufnehmen. Im Zusammenhang mit der Errichtung des Supreme Court wird gelegentlich sogar von der Einrichtung eines constitutional court gesprochen, 290 eine Terminologie, die nach überkommenem Verfassungsverständnis undenkbar gewesen wäre. Diese Bezeichnung ist zwar gemessen an den Funktionen des deutschen Bundesverfassungsgerichts unzutreffend, 291 verdeutlicht aber die fundamentale Bedeutung der Gerichtsreform für britische Verhältnisse – eine Entwicklung, die
tives, 2004; Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, verfügbar unter http://law.bepress.comexpresso/eps/276. 286 So werden die sogenannten Law Lords ihre parlamentarische Funktion verlieren. Dem Gericht werden zwölf Richter angehören, die von der Königin ernannt werden (section 23 (2) Constitutional Reform Act 2005; für das zukünftige Verfahren der Richterernennung vgl. section 25 ff Constitutional Reform Act 2005). Die ersten Richter des Supreme Court werden jedoch gemäß section 24 Constitutional Reform Act 2005 die im Zeitpunkt des Inkrafttretens von section 23 Constitutional Reform Act 2005 amtierenden Lords of Appeal in Ordinary des House of Lords. 287 Das sogenannte appellate committee des House of Lords entscheidet über appeals der Gerichte in England, Wales und Nordirland und bei zivilrechtlichen Fällen aus Schottland. Das judicial committee des Privy Council hat neben seiner Zuständigkeit in ÜberseeAngelegenheiten und kirchlichen Fragen weite Befugnisse im Zusammenhang mit der Föderalisierung des Vereinigten Königreichs erhalten. Vgl. Constitutional Reform Act 2005 – Explanatory Note Nr. 59, verfügbar unter http://www.opsi.gov.uk/ACTS/en2005/ 05en04-a.htm. 288 Vgl. section 40 Constitutional Reform Act 2005 sowie die Explanatory Note Nr. 157, verfügbar unter http://www.opsi.gov.uk/ACTS/en2005/05en04-a.htm. 289 Zum Constitutional Reform Act 2005 vgl. Lord Windlesham, The Constitutional Reform Act 2005: Ministers, Judges and Constitutional Change, [2005] P.L. 806. 290 Vgl. Vernon Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, 1999, S. 293; Diana Woodhouse, The Office of Lord Chancellor, 2001, S. 203; Patricia Maxwell, The House of Lords as a Constitutional Court: The Implications of ex p. EOC, in: Paul Carmichael / Brice Dickson (eds.), The House of Lords, 1999, S. 197. Dieser Begriff wurde jedoch nicht gegenüber dem Department for Constitutional Affairs vorgeschlagen, vgl. http:// www.dca.gov.uk/consult/supremecourt/scresp.htm. 291 Vgl. Bernd Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, S. 118 ff.
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nicht zuletzt auch auf den Einfluss des Human Rights Act 1998 zurückzuführen ist. 292 Ob die institutionelle Verselbstständigung eine die Judikative stärkende Eigendynamik entfalten wird, bleibt abzuwarten. Zumindest wird es jetzt schon für erforderlich gehalten, die Kompetenzen des Supreme Courts im Hinblick auf die Möglichkeit der Invalidierung von Parlamentsgesetzen klar und eindeutig abzustecken. 293 Eines derartigen Hinweises hätte es noch vor einigen Jahren nicht bedurft.
II. Verfahrensmäßige Auswirkungen 1. Einführung einer parlamentarisch legitimierten Normenkontrolle Eine der wohl wichtigsten Folgen des Human Rights Act 1998 ist – wie zuvor ausgeführt –, dass er Parlamentsgesetze explizit der richterlichen Überprüfung am Maßstab der Konventionsrechte unterwirft und somit die Möglichkeit einer ausdrücklich parlamentarisch legitimierten (inzidenten) Normenkontrolle ins Leben gerufen hat. Zwar ist es den Gerichten versagt, ein Gesetz für nichtig zu erklären – die Richter ähneln daher bildlich gesprochen Ärzten, die zwar eine Diagnose stellen aber das für krank befundene Organ nicht entfernen dürfen –, es ist aber zu erwarten, dass der Patient – um im Bild zu bleiben – infolge der Einführung des Human Rights Act 1998 nicht nur vermehrt untersucht werden wird, sondern sich auch die Diagnosetechniken fortschreitend verfeinern werden. Obwohl die mögliche Rechtsfolge der Normenkontrolle – die Abgabe einer Inkompatibilitätserklärung – mangels Kassationsrechts vergleichsweise schwach ausgestaltet ist, lässt die Art und Weise ihrer Durchführung eine immer stärkere Angleichung an kontinentaleuropäische Standards vermuten. Doch wie kommt es zu einer derartigen Überprüfung? Eine der wichtigsten Innovationen neben den bereits erwähnten section 3 und section 4 des Human Rights Act 1998 ist section 6 (1). Er lautet: „It is unlawful for a public authority to act in a way which is incompatible with a Convention right.“
Seine verfahrensmäßige Durchsetzung gewährleistet section 7. Sie regelt, dass jede Person, die ein victim eines möglicherweise konventionswidrigen Verhaltens
292 So auch Lord Bingham of Cornhill, A New Supreme Court for the United Kingdom. The Constitution Unit Spring Lecture 2002 by Lord Bingham of Cornhill, 2002, S. 4. 293 Judges’ Council Response to the consultation papers on constitutional reform (29. 01. 2004), S. 50. Dieser Hinweis wurde allerdings im Zusammenhang mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts und nicht des Human Rights Act 1998 geäußert.
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ist (siehe section 6 (1)) oder darstellen würde und somit antragsbefugt ist, wie folgt vorgehen kann: − to bring proceedings against the authority under the Human Rights Act ‚in the appropriate court or tribunal‘; or − to rely upon the Convention right or rights concerned ‚in any legal proceedings‘. Die genaue Bedeutung dieser section und ihrer Folgen ist Gegenstand weitreichender Debatte und noch nicht abschließend geklärt. 294 Für hiesige Zwecke reicht es, sich die grundlegenden Wirkungsweisen der section 7 i. V. m. section 6 vor Augen zu führen: − Zum einen wird überwiegend davon ausgegangen, dass section 6 (via section7) einen neuen selbständigen Klagegrund (cause of action) für die Verletzung einer durch Gesetz auferlegten Verpflichtung begründet. 295 − Zudem wird wohl ein neuer Grund für die Annahme von illegality in judicial review Verfahren etabliert 296. − Darüber hinaus kann sich ein Betroffener in jedem Verfahren, dass von einer public authority gegen ihn geführt wird, zu seiner Verteidigung auf die Konventionsrechte berufen. Die Geltendmachung von Konventionsrechten ist daher naheliegenderweise nicht auf den Bereich des klassischen Verwaltungsrechts beschränkt, sondern kann z. B. auch in criminal oder civil proceedings (wenn eine Partei öffentliche Funktionen wahrnimmt) erfolgen. Neben Maßnahmen der Exekutive können unter den Voraussetzungen der section 9 auch Akte der Judikative auf ihre Konventionskonformität hin untersucht werden. Zusammengefasst lässt sich somit feststellen, dass Konventionsrechte auf verschiedenste Art und Weise in den verschiedensten Rechtsgebieten, sei es als complaint, als appeal, als private law claim, counterclaim oder im Wege der judicial review geltend gemacht werden können. Auf diese Weise durchdringen die Konventionsrechte fortschreitend das gesamte nationale Recht. 294
Vgl. hierzu Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 164 ff. John Wadham / Helen Mountfield, Blackstone’s Guide to the Human Rights Act 1998, 2000, S. 38. Für eine detailierte Darstellung der möglicherweise weitreichenden Folgen dieser Annahme – inklusive ihrer Auswirkungen auf das common law of human rights – siehe Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 168 f. 296 Nicht unumstritten. Vgl. Paul Craig, Administrative Law, 1999, S. 556 ff.; hierzu näher Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 167, 168; zur problematischen Frage, ob durch den Human Rights Act 1998 ein duales System der judicial review (mit geringerer Zugangshürde (sufficient interests) aber auch geringerer Kontrolldichte bei judicial review außerhalb des Human Rights Act 1998 und genau dem umgekehrten Effekt bei Verfahren gemäß section 7) eingeführt wird, siehe Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 168, 169. Vgl. auch Jeffrey Jowell, Judicial Deference and Human Rights: A Question of Competence, in: Paul Craig / Richard Rawlings (eds.), Law and Administration in Europe, 2003, 76 f. 295
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In all diesen Verfahren obliegt es den Gerichten nunmehr sicherzustellen, dass public authorities keine Konventionsrechte verletzen. Hierbei wird zumeist nicht nur das konkrete Verhalten der public authority auf seine Konventionsmäßigkeit überprüft, sondern auch – soweit vorhanden – das Gesetz, das dem Verhalten der Behörde zugrunde liegt. Basiert jedoch das die Konventionswidrigkeit einer Maßnahme begründende Verhalten allein auf der Tatsache, dass das zugrunde liegende Gesetz konventionswidrig ist und blieb der Behörde aus diesem Grund keine andere Möglichkeit, als ebenfalls gegen die Konvention zu verstoßen, 297 dann sind dem Betroffenen die remedies der section 8 (z. B. certiorari, jetzt quashing order, declaration oder mandamus (mandatory order), eine prohibiting order, jetzt prohibition und ggf. auch damages) verwehrt. Er kann nur noch eine declaration of incompatibility (section 4) erwirken, sofern er sich vor einem hierzu befugten Gericht befindet (section 4 (5)). Ansonsten bleibt der Betroffene praktisch rechtsschutzlos, da es – angesichts des Kostenrisikos und der mangelnden Bindungswirkung einer Inkompatibilitätserklärung – kaum einen Anreiz für ihn geben wird, ggf. im Wege des (wiederholten) appeals 298, den Rechtsstreit in der Hoffnung fortzuführen, an ein Gericht zu gelangen, das zur Abgabe einer declaration of incompatibility befugt ist. Dieser Umstand hat Anlass zu wiederholter Kritik und der Befürchtung gegeben, dass das vorhandene System nicht den Anforderungen von Artikel 13 der EMRK entspricht. 299 Zudem werde, solange keine niederen Gerichte befugt sind, eine Inkompatibilitätserklärung abzugeben, der Druck auf die Gerichte erhöht, Konventionskonformität festzustellen. 300 Für den hier interessierenden Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass zwar die Möglichkeit, eine „offizielle“ Inkompatibilitätserklärung gemäß section 4 erlassen zu können, vergleichsweise selten gegeben sein wird, dies aber nicht den Rückschluss erlaubt, dass die Gerichte sich auch nur dementsprechend selten mit der Frage der Konventionskonformität von Gesetzen auseinanderzusetzen 297
Gemäß section 6 (2) HRA gilt die Grundregel, dass jedes Verhalten öffentlicher Stellen, das nicht im Einklang mit den Konventionsrechten steht, rechtswidrig ist, dann nicht, wenn die öffentliche Stelle aufgrund eines Parlamentsgesetzes nicht anders hätte handeln können. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es zu verhindern, dass Parlamentsgesetze unter Umgehung von section 3 und section 4 HRA indirekt über section 6 (1) HRA angegriffen werden. Wie das Zusammenspiel von section 3, section 4 und section 6 HRA im Detail aussehen wird, wird sich zeigen. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Gerichte, indem sie die Parlamentsgesetze so weit möglich konventionskonform auslegen, eher selten geneigt sein werden, anzunehmen, dass der Behörde keine Handlungsalternative offen stand. Die konventionskonforme Auslegung des Gesetzes wiederum macht eine Überprüfung des Gesetzes am Maßstab der Konventionsrechte unerlässlich. 298 Z. B. müsste der Betroffene nach einem appeal vom Magistrates Court an den Crown Court einen weiteren appeal anstrengen, um eine declaration of incompatibility zu erlangen. 299 Vgl. z. B. Ian Leigh / Laurence Lustgarten, Making Rights Real: the Courts, Remedies, and the Human Rights Act, (1999) 115 L.Q.R. 509. 300 Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 173.
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haben. So findet eine Gesetzeskontrolle nicht allein in den Verfahren statt, in denen ein Gericht befugt ist, eine Inkompatibilitätserklärung zu erlassen, sondern z. B. vor den niederen Gerichten immer wenn section 6 involviert ist, da ohne Gesetzesüberprüfung die Einschlägigkeit von section 6 (2) 301 nicht ausgeschlossen werden kann. 302 Somit hat erstmals eine ausdrücklich parlamentarisch legitimierte Normenkontrolle in die britische Verfassungswirklichkeit Einzug gehalten, durch die Parlamentsgesetze Schritt für Schritt am Maßstab der Konvention überprüft und gegebenenfalls mit ihr in Einklang gebracht werden. Zudem haben gewisse Gerichte nunmehr die Gelegenheit, dem Ergebnis ihrer Überprüfung in unmissverständlicher Form Ausdruck zu verleihen (section 4). Zwar wurden bereits im Bereich des Gemeinschaftsrechts britische Gesetze an einem „höheren“ Maßstab gemessen und überprüft; in dieser Hinsicht ist eine Normenkontrolle den britischen Gerichten demnach nicht völlig fremd. Durch die Einführung des Human Rights Act 1998 hat die inzidente Normenkontrolle jedoch sowohl quantitativ als auch qualitativ eine neue Dimension erreicht und das Machtverhältnis zwischen Legislative und Judikative potentiell zugunsten der letzteren verlagert. 303 Gegen diese Einschätzung kann zwar eingewandt wer301
Grob vereinfacht ausgedrückt normiert section 6 (2) HRA für den Fall, dass das konventionswidrige Verhalten einer Behörde von einem Parlamentsgesetz autorisiert war, eine Ausnahme zu der allgemeinen Regel, dass konventionswidriges Verhalten einer public authority rechtswidrig ist. Section 6: (1) It is unlawful for a public authority to act in a way which is incompatible with a Convention right. (2) Subsection (1) dies not apply to an act if – (a) as the result of one or more provisions of primary legislation, the authority could not have acted differently; or (b) in the case of one or more provisions of, or made under, primary legislation which cannot be read or given effect in a way which is compatible with the Convention rights, the authority was acting so as to give effect to or enforce those provisions. (...) 302 Das Verhältnis zwischen section 3 und section 6 HRA ist sehr komplex und noch nicht abschließend geklärt, vgl. Helen Fenwick, Civil Liberties and Human Rights, 2002, S. 164. Zur Gesetzeskontrolle im Rahmen der Anwendung von section 3 HRA siehe unten § 9 III.2., § 12 II. 303 Aktuell wird sogar die Einführung einer Art „abstrakten Normenkontrolle“ ohne Kassationsrecht diskutiert, die ggf. bereits die Kontrolle von Gesetzesvorhaben (bills) ermöglichen könnte. Dem steht jedoch das House of Lords Select Committee on the Constitution – trotz der ausdrücklichen Anerkennung von Vorteilen einer abstrakten Normenkontrolle – aus verschiedenen Gründen (u. a. Unabhängigkeit der Gerichte, Parlamentssouveränität) ablehnend gegenüber, vgl. House of Lords Select Committee on the Constitution, 6 th Report of the Session 2006 –07, Relations between the executive, the judiciary and Parliament, Report with Evidence, HL Paper 151, London Juli 2007, S. 33 ff. Allein die Tatsache das hierüber debattiert wird, ist allerdings bemerkenswert.
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den, dass eine ehemals allein den Richtern zustehende Domäne – nämlich die Maßstäbe, an denen Gesetze im Wege der Auslegung gemessen werden, zu bestimmen – nunmehr vom parlamentarischen Gesetzgeber übernommen worden ist, indem er die Kontrollmaßstäbe im Human Rights Act 1998 gesetzlich fixiert hat. Allein dadurch geht jedoch kein merklicher Machtverlust der Judikative einher: Zum einen wird eine Weiterentwicklung der common law Grundrechtsrechtsprechung nicht a priori durch den Human Rights Act 1998 ausgeschlossen. 304 Zum anderen unterliegen sowohl der Text des Human Rights Act 1998 als auch die Konventionsrechte der richterlichen Auslegung, inklusive der damit einhergehenden Gestaltungsspielräume. Zwar müssen die Gerichte die Straßburger Rechtsprechung berücksichtigen, sie sind aber nicht gezwungen, sie zu befolgen. Vielmehr treten sie in einen Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Außerdem hat die bisherige Auslegungspraxis der Gerichte durch Erlass des Human Rights Act 1998 eine weitere Legitimationsgrundlage erhalten, die ihre Ausschöpfung und Ausarbeitung beschleunigen dürfte. Den Gerichten kommt die nunmehr auch demokratisch legitimierte Rolle von Hütern eines Raums individueller Freiheit zu, der unberührt von staatlicher Intervention sein soll. Und schließlich räumt die Möglichkeit der Inkompatibilitätserklärung gemäß section 4 den Gerichten ein nicht zu unterschätzendes politisches Druckmittel gegenüber dem Parlament ein. 305 In gewisser Weise ähneln die Legislative und der Erlass des Human Rights Act 1998 ein wenig einem hilflosem Elternpaar, das in dem verzweifelten Versuch, seine Autorität zu wahren, seinen Kindern genau das erlaubt, was diese sich ohnehin schon herausnehmen, und dadurch zu verhindern hofft, dass die Kinder noch renitenter werden. Ob sich diese Hoffnung realisiert und die Politik der
304 So hat das House of Lords in R (on the application of Anufrijeva) v Secretary of State for the Home Department [2004] 1 AC 604, para. 27 zum Ausdruck gebracht, dass „the Convention is not an exhaustive statement of fundamental rights under our system of law“. Eine Verlangsamung oder gar ein Stillstand der Weiterentwicklung der genuinen CommonLaw-Grundrechtsrechtsprechung ist – mangels Notwendigkeit – allerdings anzunehmen. Zudem hält sich die Einengung der richterlichen Freiheit durch die Bindung an die Konventionsrechte in Grenzen: Die Gerichte ließen auch vor der Einführung des Human Rights Act 1998 nicht erkennen, dass sie die Konventionsrechte nicht unterstützten, vielmehr nahmen sie bei der Entwicklung der Common-Law-Grundrechte wiederholt Anleihe bei der Konvention. 305 Von dieser Möglichkeit hatten die Gerichte vor Einführung des Human Rights Act 1998 zwar keinen Gebrauch gemacht. Die neuseeländischen Erfahrungen zeigen aber, dass sich die Gerichte auch ohne gesetzliche Grundlage nicht davon abhalten lassen, derartige Erklärungen abzugeben. Vgl. Thomas J in R v Poumako [2000] 2 NZLR 659, 710, 715 –720; siehe auch Moonen v Film & Literature Board of Review [1999] 5 HRNZ 224.
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Deeskalation fruchtet und ein dauerhaftes constitutional settlement herbeiführt, wird sich zeigen. 306 2. Die judicial review in Großbritannien – Von judicial review zur constitutional judicial review Auch wenn ein claim for judicial review nicht der alleinige Weg ist, ein Gesetz mittels des Human Rights Act 1998 auf den Prüfstand zu stellen, so verdient dieser Aspekt doch eine gesonderte Betrachtung, da die Entwicklung dieses rein richterrechtlich entwickelten Rechtsinstituts von ausschlaggebender Bedeutung für das Selbstverständnis der Richterschaft und von hohem verfassungsrechtlichen Belang ist. Von ihm ging ein entscheidender Impetus für die Verfassungsreform aus, 307 welche u. a. zur Einführung des Human Rights Act 1998 führte. Das Verfahren der judicial review ist somit nicht allein für das Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative, sondern auch für das der Judikative zur Legislative von Relevanz, denn durch restriktive Interpretation weitreichender Ermessensbefugnisse der Exekutive übt die Judikative eine indirekte Kontrolle über die Legislative aus, indem sie den Anwendungsbereich eines Gesetzes zwar nicht wie bei einer Nichtigkeitserklärung völlig aufhebt, ihn aber wesentlich einschränkt. Verwaltungsrecht und verfassungsrechtliche Entwicklung sind daher in Großbritannien untrennbar verbunden. Um eine bessere Einordnung des zuvor Geschilderten zu ermöglichen, sollen daher Entwicklung und Inhalt des Verfahrens der judicial review kurz skizziert werden. An dieser Stelle kann allerdings nur ein Abriss der für den Verfassungswandel sowie zum Verständnis der Durchsetzung der Konventionsrechte erforderlichen Aspekte – der ansonsten äußerst komplexen und vielschichtigen Thematik – gegeben werden. 308
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Siehe oben § 8 IV. Siehe oben § 8 III.1. 308 Für eine ausführliche Diskussion der judicial review siehe Stanley A. De Smith / Lord Woolf of Barnes / Jeffrey Jowell, Principles of Judicial Review of Administrative Action, 1999; Paul Craig, Administrative Law, 1999; Jeffrey Jowell / Lord Woolf / Andrew Le Sueur, Principles of Judicial Review, 1999; Sir William R. Wade / Christopher Forsyth, Administrative Law, 2004. Für einen Überblick in deutscher Sprache siehe auch Jürgen Schwarze, Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in England, DÖV 1996, 771 ff.; Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 154 ff.; Matthias Herdegen, Landesbericht Großbritannien, in: Jochen Abr. Frowein, Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, S. 38 ff. 307
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a) Entstehungsgeschichte der judicial review Die judicial review ist das bedeutendste Verfahren der britischen Verwaltungskontrolle. Unter seinem Dach können dem Betroffenen gemäß sections 29, 31 Supreme Court Act 1981 i. V. m. den Civil Procedure Rules 1998 sowohl die klassischen public law (prerogative) remedies (certiorari, 309 prohibition, 310 mandamus 311) als auch die private law remedies der declaration 312 und injunction 313 gewährt werden. Trotz dieser gesetzlichen Normierung darf nicht vergessen werden, dass die judicial review nicht (allein) das Produkt parlamentarischer Gesetzgebung, sondern richterlicher Rechtsfortbildung ist. Anders als in den Vereinigten Staaten handelte es sich bei der judicial review in Großbritannien ursprünglich gerade nicht um ein Verfahren zur Überprüfung von Gesetzen, sondern in erster Linie um ein spezielles Verfahren zur Überprüfung von Entscheidungen der zahlreichen tribunals und boards 314, die eine Besonderheit des britischen Verwaltungssystems darstellen. Diese tribunals und boards sind durch das Parlament geschaffene Einrichtungen, an die der Einzelne seine Beschwerden über Maßnahmen der Verwaltung richten kann. Es sind Zwitterwesen, deren verfassungsmäßige Stellung ungeklärt ist, da sie sich weder eindeutig der Exekutive noch der Judikative zurechnen lassen. Ihre Bedeutung ist jedoch nicht zu unterschätzen. Rund 2000 dieser Einrichtungen behandeln jährlich eine viertel Million Fälle – überwiegend im Bereich Steuern und Gesundheit –, und damit sechsmal mehr als die ordentlichen Gerichte. 315 Dies ist eine wesentliche Erklärung dafür, dass das Vereinigte Königreich mit einem Bruchteil der Richter auskommt, die das deutsche Gerichtswesen beschäftigt. 316 309
Die order to quash erlaubt es den Gerichten, eine Verwaltungsentscheidung aufzuheben bzw. zurückzuverweisen. 310 Mit der prohibiting order kann das Gericht ein Untergericht, Tribunal oder eine Verwaltungsbehörde davon abhalten, außerhalb seiner Zuständigkeiten zu handeln. 311 Mit der mandatory order kann ein Gericht ein Untergericht, Tribunal oder eine Verwaltungsbehörde dazu anhalten, eine ihr der Öffentlichkeit gegenüber obliegende Pflicht zu erfüllen. 312 Die declaration ist auf die Feststellung von Rechtsverhältnissen gerichtet. 313 Mittels der injunction kann das Gericht gegenüber einer Partei anordnen, dass diese ein bestimmtes Verhalten vorzunehmen oder zu unterlassen hat. 314 Zum Rechtsschutz durch Tribunale, vgl. Wolfgang Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien – Entwicklung und Reform, VerwArch. 1991, 32 ff.; vgl. auch Stefan Schieren, Die stille Revolution. Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001, S. 218 ff.; Karl Anton Friedmann, Kontrolle der Verwaltung in England. Fallstudien zur Beschwerdebehandlung im britischen Unterhaus, 1970, S. 185 ff.; Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band II, 1967, S. 71 ff. 315 Vgl. Andrew Le Sueur / Maurice Sunkin, Public Law, 1997, S. 442 f.
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Im 19. Jahrhundert verabschiedeten sich die Gerichte von ihrem bisherigen Selbstverständnis. Sie verstanden ihre Funktion nicht mehr auf die – vordergründig apolitische – Streitentscheidung zwischen Privaten beschränkt, sondern begannen auf Basis der Ultra-Vires-Doktrin 317, den Gebrauch exekutiver Gewalt einzuschränken. In erster Linie war die judicial review darauf gerichtet, sicherzustellen, dass sich die Exekutive in dem ihr von der Legislative gesetzten Rahmen bewegt und von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen exzessiven Gebrauch macht. Verlieh ein Gesetz einer öffentlichen Stelle scheinbar unbeschränkte Befugnisse, legten die Gerichte diese Befugnisse eng aus, indem sie über den einfachen Gesetzeswortlaut hinaus auf einer Bindung der öffentlichen Hand an die Notion der natural justice 318 oder the right to a fair hearing insistierten. Trotz dieser Zeit relativer richterlicher Aktivität waren die Gerichte aber weit davon entfernt, die Validität von Parlamentsgesetzen in Frage zu stellen. Vielmehr beschränkten sie sich weitestgehend auf eine Plausibilitätskontrolle des exekutiven Handelns. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs veränderte sich diese Haltung der Gerichte. Dort, wo der Exekutive weite Ermessensspielräume eingeräumt wurden, beschränkten sich die Gerichte nunmehr – zunächst angesichts der Notwendigkeiten des Krieges und später angesichts des sich entwickelnden Wohlfahrtsstaates – auf ein Mindestmaß an Intervention. Kritiker dieser Phase bezeichneten die Gerichte dieser Zeit als „more executive-minded than the executive“, und Lord Lester warf ihnen ihre selbst gewählte Zurückhaltung vor, die faktisch in einer beinahe völligen ministeriellen Immunität münde und eine „abdication of judicial responsibility“ darstelle, die auch durch die Doktrin der Parlamentssouveränität nicht mehr zu erklären sei. 319 Ab Mitte der 1960er Jahre änderten die Gerichte ihre Haltung gegenüber der Überprüfung von Ermessensbefugnissen der Exekutive erneut in geradezu radikaler Weise. 320 Insbesondere seit dem Zusammenbruch einer ernstzunehmenden Opposition Anfang der 1980er Jahre wird dieser Wandel immer deutlicher. 321 An316 Nach Hartmut Weber, Recht und Gerichtsbarkeit, in: Hans Kastendieck / Karl Rohe / Angelika Volle, Großbritannien. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, 1998, S. 188 waren es damals 750 britische Richter gegenüber 22 000 deutschen. Siehe auch Richard A. Posner, Law and legal theory in England and America, 1996, S. 28 und S. 115 ff. 317 Die Ultra-Vires-Doktrin, die in engem Zusammenhang mit der Doktrin der Parlamentssouveränität und einem formalen Verständnis der rule of law steht, besagt, dass eine Behörde nicht außerhalb der ihr durch das ermächtigende Gesetz eingeräumten Grenzen handeln darf. Die Ultra-Vires-Doktrin ist jedoch als Legitimationsgrundlage für die judicial review nicht unumstritten, siehe unten § 9 II.2.b); Florian Becker, Die Bedeutung der ultra vires-Lehre als Maßstab richterlicher Kontrolle öffentlicher Gewalt in England, ZaöRV 61 (2001) 85 ff. 318 Die Notion der natural justice umfasst, vergleichbar mit dem amerikanischen Begriff des due process, elementare Verfahrensgrundsätze, wie z. B. das Recht auf richterliches Gehör etc. 319 Lord Lester of Herne Hill, English Judges as Law Makers, [1993] P.L. 275.
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gesichts des präsidialen Regierungsstils Margret Thatchers und der abnehmenden Bedeutung des Parlaments und anderer Institutionen verstanden sich die Richter zunehmend als Hüter der Verfassung. 322 Erleichtert wurde diese Entwicklung zudem u. a. durch die weitreichenden Möglichkeiten und größeren Freiheiten, die den Gerichten durch die fortschreitende Etablierung des purposive approach 323 nun zur Verfügung standen. 324 Durch die Entscheidung Council of Civil Service Union 325 wurde die auf der „Ultra-Vires-Idee“ beruhende judicial review weiter präzisiert, indem Lord Diplock die Grundsätze illegality, irrationality and procedural impropriety etablierte, die noch heute die maßgeblichen grounds of judicial review bilden. 326 Bestrebt, die Regierung und die Verwaltung immer mehr der 320 Zur Rolle des europäischen Einflusses siehe Stefan Schieren, Die stille Revolution – Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001. 321 Robert Stevens, The English Judges. Their Role in the Changing Constitution, 2005, S. 147. 322 So stellt Lord Bingham fest: „(...) the courts tend to be most assertive, active and creative when political organs of the state are least effective.“ J. Rozenberg, Lords Need Common Touch, The Daily Telegraph, 17 April 2001, zitiert nach: Robert Stevens, The English Judges. Their Role in the Changing Constitution, 2005, S. 147. In diesem Zusammenhang ist auch die Aufhebung der sog. „Kilmuir Rules“ im Jahre 1987 zu sehen. Diese Regeln basierten auf einem Brief des damaligen Lord Chancellor, Lord Kilmuir, an den Director General der BBC vom 12. Dezember 1955, in dem klargestellt wurde, dass „as a general rule it is undesirable for members of the judiciary to broadcast on the wireless or to appear on television“. Seit der Aufhebung dieser Regeln ist ein offenerer Umgang der Richterschaft mit den Medien zu verzeichnen. 323 Zur Entwicklung des purposive approach siehe unten § 9 III.2.a). 324 Zum durchaus vorhandenen Einfluss des Beitritts Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft, vgl. u. a. Stefan Schieren, Die stille Revolution – Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, 2001, S. 224 ff. 325 Lord Diplock in Council of Civil Service Union v Minister for the Civil Service [1985] AC 375, 410 ff. 326 Unter diesen drei Grundsätzen ist, kurz gesagt, Folgendes zu verstehen: − „‚Illegality‘ means that the decision-maker must understand correctly the law that regulates his decision-making power and must give effect to it“; vgl. Fayed v United Kingdom [1994] 18 EHRR 393, 410 f. − ‚Irrationality‘ oder ‚Wednesbury‘: „A decision which is so outrageous in its defiance of logic or of accepted moral standards that no sensible person who had applied his mind to the question to be decided could have arrived at it“; vgl. Lord Diplock in Council of Civil Service Unions v Minister for the Civil Service [1985] 1 AC 374, 410. Es sei eine „duty of the court to leave the decision of fact to the public body whom Parliament has entrust the decision-making power save in an case where it is obvious that the public body, consciously or unconsciously, are acting perversely“. Vgl. Fayed v United Kingdom [1994] 18 EHRR 393, 410 f.; vgl. auch Lord Bingham in R v Hillingdon LBC, ex p Puhlhofer [1986] AC 484, 528. − „‚Procedural impropriety‘ covers failure to observe basic rules of natural justice to act with procedural fairness towards the person who will be affected by the decision, as well as failure to observe procedural rules that are expressly laid down even where such
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unnachgiebigen Kontrolle der judicial review auszusetzen, schritt das House of Lords die engen Grenzen des Ultra-Vires-Tests immer weiter aus, unterließ es aber, sie zu überschreiten. Anfang der 1990er Jahre ähnelte das Verhältnis der Judikative zur Exekutive nahezu einem Stellungskrieg. Zwischen 1995 und 1996 wurden mindestens ein Dutzend Entscheidungen des Home Secretary wegen illegality (die Entscheidung bewegte sich außerhalb des der Entscheidung zugrunde liegenden Gesetzes, so wie es sein Sinn und Zweck erkennen lässt) oder procedural unfairness erfolgreich angefochten. Trotz des immer selbstbewussteren Umgangs der Gerichte mit der judicial review und der gesteigerten Bedeutung dieses Rechtsschutzmittels – allein der Gebrauch der judicial review war von 160 Fällen in 1974 auf mehr als 4000 in den 1990er Jahren angestiegen 327 – waren die Richter jedoch eher zögerlich, in eine inhaltliche Prüfung einzusteigen. Vielmehr gewährten sie der Exekutive eine wide margin of appreciation und schritten erst ein, wenn die Entscheidung so unvernünftig (unreasonable) war, dass „no reasonable decision-maker could so act“ (sogenannter Wednesbury-Test 328). Seit der Einführung der EMRK trugen die Gerichte den Konventionsrechten lediglich durch die Auslegungsvermutung (presumption) Rechnung, dass bei failure does not involve any denial of natural justice“. Vgl. Fayed v United Kingdom [1994] 18 EHRR 393, 410 f.; vgl. auch Re Pergamon Press [1971] 1 Ch. 388; Sedley J in R v Ministry for Agriculture, Fisheries and Forrests, ex p Hamble Fisheries (Offshore) Ltd. [1995] 1 CMLRep. 533. Von seinem Ausgangspunkt her dient das Verfahren der judicial review in erster Linie dazu, die Art und Weise, wie eine Entscheidung zustande kam, nicht jedoch ihren Inhalt zu überprüfen. Bei den grounds of review hat sich im Laufe der Zeit zunehmend die Unterscheidung zwischen procedural und substantive grounds of review durchgesetzt, vgl. Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A critical Introduction, 2004. Zwar wird weiterhin auf den Unterschied zwischen appeal und review hingewiesen: Letztere erlaube es nicht, dass sich die Gerichte an die Stelle der Entscheidungsträger setzten, vielmehr dürften die Gerichte (mangels demokratischer Legitimation) eine Entscheidung nur bezüglich ihrer legality (Rechtmäßigkeit), nicht ihrer merits (Zweckmäßigkeit) untersuchen. Allan weist aber zu Recht darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen merits und legality – trotz ihres kategorialen Unterschieds – in der Praxis eine Frage des Grades sei:„The distinction between appeal and review is necessarily one of degree – depending on the circumstances of the particular case“. Vgl. Trevor R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British Constitutionalism, 1993, S. 187, 192. 327 Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, S. 17, verfügbar unter http://law.bepress.com/expresso/eps/267. 328 Dieser Test wurde als ground of judicial review unter dem Obertitel der irrationality geführt. Vgl. Lord Greene in Associated Provincial Picture Houses v Wednesbury Corporation [1948] 1 KB 223, 230. Ausführlich Andrew Le Sueur / Maurice Sunkin, Public Law, 1997, Kapitel 23 bis 25.
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Mehrdeutigkeit (ambiguity) eines Gesetzes eine konventionskonforme Auslegung gewollt war. 329 In der Einräumung weitreichender Ermessensbefugnisse als solcher wurde jedoch gerade keine derartige ambiguity gesehen. Ab Mitte der 1990er Jahre versuchten die Gerichte, der Bedeutung der Konventionsrechte dadurch Rechnung zu tragen, dass sie den Standard des WednesburyTests absenkten und Entscheidungen mit Konventionsrechtsbezug einer größeren Kontrolldichte unterzogen, 330 was jedoch nicht in einer allgemeinen Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes resultierte. 331 Mit der ausdrücklichen Anerkennung von sogenannten constitutional rights in einer Serie von Entscheidungen 332 erreichten Reformvorstöße der Richter schließlich eine neue Qualität. So wurde der Bruch eines Konventionsrechts zum Teil ohne Bezug zu irrationality oder unreasonableness als eigenständiger Grund für die Rechtswidrigkeit einer Entscheidung angesehen. 333 Kurze Zeit später wurden die Konventionsrechte, dem Ansatz der constitutional rights folgend, durch den Human Rights Act 1998 „inkorporiert“. Die judicial review, die sich ursprünglich auf die Kontrolle von Regierungs- und Verwaltungshandeln beschränkte, im Rahmen der hierzu erforderlichen Gesetzesauslegung jedoch eine konkludente Gesetzeskontrolle durchführte, war demnach ein wesentlicher Wegbereiter des Human Rights Act 1998, der nunmehr explizit die judicial review of parliamentary legislation in den Fokus des richterlichen Interesses rückt. Den Gerichten kommt somit die durch den Human Rights Act 1998 demokratisch legitimierte Aufgabe zu, den Bereich abzugrenzen, in dem Individualrechte 329
Diese Auffassung wurde jedoch nicht von den schottischen Gerichten geteilt, die bis in die 90iger Jahre eine konventionskonforme Auslegung ablehnten. 330 „The more substantial the interference with human rights, the more the court will require by way of justification before it is satisfied that the decision is reasonable (...)“, R v Ministry of Defence, ex p Smith [1996] QB 517, oder „When fundamental human rights are in play, the court will adopt a more interventionist role“, R v Coventry City Council, ex p Phoenix Aviation [1995] 3 All ER 37, 62. Trotz des erhöhten Kontrollstandards beschränken sich die Gerichte weitestgehend auf die Prüfung, ob die Behörde ein öffentliches Interesse nachvollziehbar vorgetragen hat und überhaupt eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorgenommen hat. Nur in Ausnahmefällen haben die Gerichte in der jüngeren Vergangenheit ein eigenes Werturteil gefällt, indem sie entschieden haben, dass bestimmten Aspekten kein ausreichendes Gewicht beigemessen wurde, vgl. R v Lord Saville, ex p A [1999] 4 All ER 860. Zur Rolle der EMRK im Verwaltungsrecht vgl. Marius Baum, Rights Brought Home, Zur Inkorporierung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in das nationale Recht des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland, EuGRZ 2000, 288 ff. 331 R v Secretary of State for the Home Department, ex p Brind [1991] AC 696. 332 Siehe oben § 8 III.1. 333 R v Secretary of the Home Department, ex p Leech (No 2) [1994] QB 198.
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frei von staatlicher Intervention sein sollten. Nach der allerdings nicht unumstrittenen Ansicht von Jowell werden sie dadurch zu „arbiters of the boundaries of constitutional democracy“. 334 Die judicial review hat sich somit von einem Instrument, das vornehmlich der Sicherstellung parlamentarischer Herrschaft diente, zu einem Instrument der Herrschaftsbegrenzung gewandelt. Sie dient nunmehr weniger der Sicherung der Funktionenteilung innerhalb der Staatsorganisation als vielmehr dem Individualrechtsschutz. Nicht der Ursprung der Macht, sondern die Rechtsbetroffenheit des Einzelnen wird zum maßgeblichen Kriterium für die Gewährung von Rechtsschutz durch judicial review. 335 Vor diesem Hintergrund kann nunmehr von einer constitutional judicial review gesprochen werden. 336 b) Legitimationsgrundlage der judicial review – die „Ultra-Vires-Debatte“ Mit fortschreitender verfassungsrechtlicher Relevanz der judicial review stellte sich die Frage nach ihrer Legitimationsbasis und ihrem Verhältnis zur Doktrin der Parlamentssouveränität. Von ihrem Ausgangspunkt her kann und wurde die judicial review als Förderer der Parlamentssouveränität verstanden, die sicherstellt, dass sich Verwaltung und Regierung innerhalb der ihnen durch Gesetz gewährten Befugnisse bewegen. Zunächst wurde die richterliche Kontrolle öffentlicher Gewalt somit allein mit dem Schutz des Parlamentswillens gerechtfertigt. Es ist daher nur folgerichtig, dass z. B. die durch Prärogativrechte eingeräumten Kompetenzen der öffentlichen Hand lange Zeit von der judicial review ausgenommen waren. 337 In dieses Verständnis fügt sich auch der Umstand, dass die judicial review nicht unmittelbar beantragt werden konnte, sondern die Krone das Verfahren im Namen des Beschwerdeführers führte (ex parte NN). Nicht das Individuum und seine Rechte, sondern das Parlament und die Durchsetzung seines Willens standen ursprünglich im Vordergrund. Die judicial review bot aber gleichzeitig auch eine Plattform für Gesetzesauslegung und damit ein Einfallstor für Einflüsse und Entwicklungen 338, die kaum 334
Jeffrey Jowell, Beyond the Rule of Law: Towards Constitutional Review, [2000] P.L. 671 f.: „Much (although not all) of judicial review will therefore, shift decisively from administrative to constitutional law.“ 335 Vgl. Florian Becker, Die Bedeutung der ultra vires-Lehre als Maßstab richterlicher Kontrolle öffentlicher Gewalt, ZaöRV 61 (2001), 103. 336 Dieser Begriff wurde von Jowell geprägt, siehe Jeffrey Jowell, Beyond the Rule of Law: Towards Constitutional Review, [2000] P.L. 671 ff. 337 Zur Entwicklung der judicial review of prerogative powers vgl. Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights. A critical Introduction, 2004, S. 98 ff.
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noch mit dem klassischen Verständnis der judicial review als „Beschützer der Parlamentssouveränität“ in Einklang zu bringen waren. Um die Jahrtausendwende wurde die Legitimationsgrundlage der judicial review und ihrer grounds of review zum Gegenstand einer hitzigen Debatte, 339 die sich grob vereinfacht in die folgenden drei Lager unterteilen lässt: aa) Die traditionelle Ultra-Vires-Schule Die traditionelle Ultra-Vires-Schule geht davon aus, dass die einzige legitime Rechtfertigung für die judicial review im legislative intent zu finden ist. Die Gerichte werden somit einzig und allein als Vollstrecker des parlamentarischen Willens verstanden. Es versteht sich von selbst, dass diese Auffassung eine große Nähe zur klassischen Doktrin der Parlamentssouveränität aufweist. bb) Das Common-Law-Modell Die Gegner dieser Sicht, Befürworter des sogenannten Common-Law-Modells, 340 werfen den Vertretern der Ultra-Vires-Schule vor, dass ihre Theorie die Wirklichkeit nicht adäquat beschreibe und realitätsfern 341 sei. So sei die Ultra-Vires-Schule zum Beispiel nicht in der Lage, die Ausweitung der judicial 338
Siehe oben § 8 III.1. Vgl. hierzu allgemein Jeffrey Jowell, Of Vires and Vacuums: The Constitutional Context of Judicial Review, [1999] P.L. 448; Christopher Forsyth (ed.), Judicial Review and the Constitution, 2000; Mark Elliot, The Constitutional Foundations of Judicial Review, 2001; N. Barber, The Academic Mythologians, (2001) 21 OJLS 369; Paul Craig / Nicholas Bamforth, Constitutional Analysis, Constitutional Principle and Judicial Review, [2001] P.L. 763; Trevor R. S. Allan, The Constitutional Foundations of Judicial Review: Constitutional Conundrum or Interpretative Inquiry, (2002) 61 C.L.J. 87; Paul Craig, Constitutional Foundations, the Rule of Law and Supremacy, [2003] P.L. 92; Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 94 m.w. N. Und sehr instruktiv Thomas Poole, Back to the Future? Unearthing the Theory of Common Law Constitutionalism, (2003) 23 O.J.L.S. 435 ff.; David Feldman / Peter Birks (eds.), English Public Law, 2004, S. 695 –707. 340 Vgl. Jeffrey Jowell, Of Vires and Vacuums: the Constitutional Context of Judicial Review, [1999] P.L. 448 ff., Dawn Oliver, Is the Ultra Vires Rule the Basis of Judicial Review?, [1987]P.L. 543; dies., Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 95; Sir John Laws, Law and Democracy, [1995] P.L. 72 ff.; Lord Woolf, Droit Public – English Style, [1995] P.L. 57; David Dyzenhaus, Reuniting the Brain: The Democratic Basis of Judicial Review, [1998] P.L. Rev. 98 ff.; Paul Craig, Ultra Vires and the Foundations of Judicial Review (1998) 57 C.L.J. 63 ff. Aus amerikanischer Sicht das Common-Law-Modell unterstützend: David Jenkins, From Unwritten to Written: Transformations in the British Common-Law Constitution, (2003) 36 Vanderbilt Journal of Transnational Law 893. 341 Sir John Laws bezeichnete diesen Ansatz als fig leaf, vgl. Sir John Laws, Law and Democracy, [1995] P.L. 79. Sich mit diesem Vorwurf auseinandersetzend, Christopher 339
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review auf administratives Handeln, welches seinen Ursprung nicht in einem Parlamentsgesetz hat – sondern z. B. in den prerogative powers 342 oder im common law – adäquat zu erklären. Zwar sei es selbstverständlich, dass bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit administrativen Handelns die Rechtsgrundlage für dieses Handeln berücksichtigt werden muss. Dies könne aber nicht bedeuten, dass dort, wo die Legislative schweigt, auch die grounds of review ihre Herleitung im legislative intent finden müssen. Vielmehr seien sie ein Kind des common law. Nach klassischer Common-Law-Manier haben sie durch richterliche Rechtsfortbildung ein Gesicht erhalten. Offensichtlich spielte in der Praxis, z. B. bei der Ausweitung der judicial review auf Konzepte wie legitimate expectations oder fettering of discretion, der parlamentarische Wille, wenn überhaupt, nur eine gänzlich untergeordnete Rolle. Die Legitimationsgrundlage dieser bereits im 17. Jahrhundert beginnenden Rechtsfortbildung bilde die rule of law 343 bzw. der der Common-Law-Methode innewohnende Wert. Ihre Grenze finde sie lediglich im ausdrücklich geäußerten Willen des Parlaments. 344 Die Befürworter des Common-Law-Models propagieren daher eine vom parlamentarischen Willen weitgehend losgelöste und damit eigenständigere Rolle der Gerichte. cc) Das General-legislative-Intent-Modell Die Kritik an der Rückführung der judicial review auf einen spezifischen Willen des Parlaments wurde teilweise von Vertretern der Ultra-Vires-Schule akzeptiert und führte zur Herausbildung eines neuen Legitimationsmodells, dem sogenannten General-legislative-Intent-Modell. 345 Danach bildet der Ultra-Vires-Gedanke auch weiterhin die zentrale Grundlage der judicial review, und die Doktrin der Forsyth, Of Fig Leaves and Fairy Tales: The Ultra Vires Doctrine, the Sovereignty of Parliament and Judicial Review, (1996) 55 C.L.J. 122 ff. 342 In Council of Civil Service Union v. Minister for the Civil Service [1985] AC 374 hat das House of Lords die Ausübung von Prärogativrechten durch die Regierung für grundsätzlich justiziabel erklärt. Durch die fortschreitende Ausdehnung der richterlichen Kontrolle auf die Ausübung von prerogative powers hat die Judikative einen erheblichen Machtzuwachs erhalten. 343 Vgl. z. B. Lord Steyn in R v Secretary of State for the Home Department, ex p Pierson [1998] AC 539: „Parliament does not legislate in a vacuum (...). Parliament legislates for a European liberal democracy based upon the principles and traditions of the common law (...) and (...) unless there is the clearest provision to the contrary, Parliament must be presumed not to legislate contrary to the rule of law.“ 344 Dies ist der Tribut, der der Doktrin der Parlamentssouveränität gezollt wird. Allan sieht hierin einen inneren Widerspruch des Common-Law-Modells, vgl. Trevor R. S. Allan, Constitutional Dialogue and the Justification of Judicial Review, (2003) 23 OJLS 563 ff. Zudem wird dieser Aspekt von einigen Autoren wie z. B. Lord Woolf, Trevor R. S. Allan und Sir John Laws insofern in Frage gestellt, als sie eine Wirksamkeitsüberprüfung der Parlamentsgesetze an Common-Law-Prinzipien nicht für undenkbar halten (siehe z. B. oben § 8 II.2.).
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Parlamentssouveränität bleibt ebenfalls unangetastet. 346 Die demokratische Anbindung erfolgt aber nicht mehr an den spezifischen Willen des Parlaments, sondern an einen generellen Willen folgenden Inhalts: Es wird allgemein angenommen, dass das Parlament die Konformität seiner Gesetzgebung mit den für eine demokratische Gesellschaft so grundlegenden Prinzipien wie Fairness und Gerechtigkeit intendiert habe. Da vom Parlament eine Ausdifferenzierung dieses allgemeinen Willens realistischerweise nicht erwartet werden kann, delegiert es die Macht zur Ausgestaltung an die Gerichte, die dieser Aufgabe wiederum unter Berücksichtigung der rule of law gerecht werden. Die Kontrollen der judicial review sind dann (und nur dann) legitim, wenn eine positive (und sei sie auch nur impliziter Natur) Anbindung an diesen allgemeinen parlamentarischen Willen hergestellt werden kann. Auf diese Weise versuchen die Vertreter des Modified-ultra-ViresModells zum einen, judicial review und parliamentary sovereignty miteinander zu versöhnen, und zum anderen, gleichzeitig die kreative Rolle der Richterschaft bei der Entwicklung des Verwaltungsrechts anzuerkennen. dd) Diskussion Auf den ersten Blick scheinen die Unterschiede zwischen dem Common-LawModell und der Modified-ultra-Vires-Schule rein akademischer Natur zu sein. Welche Rolle von praktischer Relevanz kann es spielen, ob die richterliche Rechtsfortbildung bescheiden am legislative intent festgemacht oder als eine CommonLaw-Kreation begriffen wird? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich jedoch aus den unterschiedlichen systemimmanenten Grenzen der Rechtsfortbildung beider Modelle: Während das General-legislative-Intent-Modell trotz weitreichender richterlicher Freiheiten die judicial review in erster Linie in den Dienst der Doktrin der Parlamentssouveränität stellt 347, macht das Common-Law-Modell eine Emanzipation der Richterschaft und einen Bruch mit der Tradition der parliamentary sovereignty auch vom theo345 Vgl. Mark Elliot, The Constitutional Foundations of Judicial Review, 2001; Christopher Forsyth, Of Fig Leaves and Fairy Tales: The Ultra Vires Doctrine, the Sovereignty of Parliament and Judicial Review, (1996) 55 C.L.J. 122 ff.; ders. (ed.), Judicial Review and the Constitution, 2000; Christopher Forsyth / Mark Elliott, The Legitimacy of Judicial Review, [2003] P.L. 286 ff. Kritisch hierzu, Paul Craig, Competing Models of Judicial Review, [1999] P.L. 429 f.; Lord Woolf, Droit Public – English Style, [1995] P.L. 66. 346 Die Ultra-Vires-Doktrin verteidigend: Christopher Forsyth, Of Fig Leaves and Fairy Tales: The Ultra Vires Doctrine, the Sovereignty of Parliament and Judicial Review, (1996) 55 C.L.J. 122 ff.; Mark Elliott, The Demise of Parliamentary Sovereignty? The Implications for Justifying Judicial Review, (1999) 115 L.Q.R. 119 ff.; ders., The Ultra Vires Doctrine in a Constitutional Setting: Still the Central Principle of Administrative Law, (1999) 58 C.L.J. 129 ff. 347 Vgl. hierzu Christopher Forsyth / Mark Elliott, The Legitimacy of Judicial Review, [2003] P.L. 286 ff. Wenn Grundlage der judicial review der Wille des Parlaments ist, dann
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retischen Ansatz her grundsätzlich möglich. Letzteres trägt somit den Samen der (richterlichen) Revolution in sich. 348 Gerade Gegner des Common-Law-Modells fürchten daher, dass die Etablierung dieses Ansatzes eines Tages ein britisches Marbury v Madison 349 möglich machen könnte. Auch in der Ultra-Vires-Debatte spiegelt sich somit der bereits geschilderte Verfassungswandel, der zwar von einer immer stärkeren Betonung der rule of law und ihrer materiellen Aufladung gekennzeichnet ist, aber (noch) zu keiner vollständigen Loslösung von der Doktrin der Parlamentssouveränität geführt hat. Das der Ultra-Vires-Doktrin zugrunde liegende Rational lässt sich allerdings mit dem Grundrechtsgedanken nur schwer in Einklang bringen. Während die Ultra-Vires-Doktrin auf dem Gedanken basiert, dass sich die Kontrollmaßstäbe der judicial review für Handlungen der Exekutive (implizit) aus dem parlamentarischen Willen (parliamentary intent) ergeben und ihm daher nachfolgen – sie somit Resultat und nicht Rahmen der Gesetzgebung sind –, bilden Grundrechte von ihrer Idee her den Rahmen der Gesetzgebung und liegen ihr daher logisch voraus. Das common law hingegen wird – verfassungsähnlich – als antezedentes Recht begriffen. 350 Insofern vertragen sich das Common-Law-Modell und die Idee fundamentaler Rechte grundsätzlich besser. Ebenso wie der Human Rights Act 1998 jedoch über section 3 eine möglichst weitreichende Effektivität der Konventionsrechte zu bewirken versucht, ohne aber die Doktrin der Parlamentssouveränität zu verletzen, versucht die Modified-ultra-Vires-Doktrin, kann sie auch nicht dazu benutzt werden, sich über den explizit geäußerten Willen des Parlaments hinwegzusetzen, um Parlamentsgesetze aufzuheben. 348 Sich hierzu bekennend Trevor R. S. Allan, The Constitutional Foundations of Judicial Review: Conceptual Conundrum or Interpretative Inquiry? (2002) 61 C.L.J. 90: „Despite their protestations to the contrary, the common law theorists cannot reasonably object to ultra vires, in its very modest ‚modified‘ version, while continuing to accept absolute parliamentary supremacy. In that sense Christopher Forsyth was right to maintain that ‚weak‘ critics of ultra vires – those who do not explicitly challenge the sovereignty of Parliament – are whether they intend it or not (...) transmuted into ‚strong‘ critics (who do challenge the supremacy of Parliament). In so far as the common law basis for judicial review is offered as a viable and genuine alternative to legislative intent, broadly understood, it entails at least a limited qualification of legislative power (...)“. Noch differenzierter, ders., Constitutional Dialogue and the Justification of Judicial Review, (2003) 23 OJCL 563 ff., in dem er besonders die Interdependenz von parliamentary sovereignty and rule of law betont und für eine shared sovereignty plädiert. 349 1 Cranch 137; 2 L Ed 60 (1803). Dieser Fall legte in den Vereinigten Staaten den Grundstein für eine kassatorische Normenkontrollbefugnis der Gerichte am Maßstab der Verfassung. Vgl. auch Fletcher v Peck 6 Cranch 87 (1810). Zu Marbury v Madison jüngst: Hans Rudolf Horn, Richter versus Gesetzgeber. Entwicklungslinien richterlicher Verfassungskontrolle in unterschiedlichen Rechtssystemen, JöR 55 (2007), 284 ff. 350 Vgl. Sir Owen Dixon, The Common Law as an Ultimate Constitutional Foundation, (1957) 31 Australian Law Journal 240 ff.
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eine möglichst weitreichende judicial review mit der Allmacht des Parlaments in Einklang zu bringen. In dieser Hinsicht funktionieren section 3 Human Rights Act 1998 und das Modified-ultra-Vires-Modell also in sehr ähnlicher Art und Weise 351: Beide verstehen verfassungsrechtliche Werte als den Gesetzen inhärente Schranke. Wie belastbar dieser Ansatz, der nicht frei von Widersprüchen ist, angesichts des weltweit zunehmenden Bedeutungsgewinns fundamentaler Rechte – nicht nur in Europa – auf Dauer sein wird, wird sich zeigen. 352 Bis dato haben die Gerichte keine Notwendigkeit zur Etablierung einer Kassationsbefugnis gesehen. Hierbei wird es – einen sensiblen Umgang der politischen Gewalten mit der Gesetzgebung vorausgesetzt – absehbar auch bleiben.
III. Methodische Auswirkungen Der Human Rights Act 1998 stellt auch in methodischer Hinsicht neue Herausforderungen an die Gerichte. So macht die weite und an allgemeinen Prinzipien orientierte Fassung der durch den Human Rights Act 1998 „quasi-inkorporierten“ Konventionsrechte die Einführung einer diesen – für britische Gesetze ansonsten untypischen – Merkmalen gerecht werdende Interpretationsmethode erforderlich. Die nationalen Gerichte sehen sich somit erstmals mit der Notwendigkeit der Interpretation eines kohärenten Textes von Verfassungsrang konfrontiert und müssen sich angesichts dieser Aufgabe mit der Entwicklung einer Methode der „Verfassungsinterpretation“ auseinandersetzen. Zudem sind die Gerichte gemäß section 3 verpflichtet, britische Parlamentsgesetze konventionskonform auszulegen. Hierin liegt eine klare Abkehr vom dem ehemals selbstverständlichen literal approach der Gesetzesauslegung. Beide Aspekte sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. 1. Zur Methode der Verfassungsinterpretation Mit Einführung des Human Rights Act 1998 haben die nationalen britischen Gerichte erstmals die Gelegenheit, ihre Rechtsprechung an spezifischen, kodifizier351 Christopher Forsyth / Mark Elliott, The Legitimacy of Judicial Review, [2003] P.L. 307. 352 So ist es kaum vermittelbar, dass eine an einem Konventionsverstoß leidende Entscheidung, die auf einer non-statutory power beruht, für aufhebungswürdig gehalten wird, während die gleiche Entscheidung, würde sie auf einem konventionswidrigen Gesetz beruhen, aufrechterhalten würde.
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ten Verfassungsprinzipien auszurichten. Es herrscht Einigkeit dahingehend, dass constitutional statutes wie der Human Rights Act 1998 – und damit einhergehend die Konventionsrechte – aufgrund ihres Stils und der ihnen eigenen Bedeutung und Funktion besondere Auslegungsprinzipien erfordern. Im Bewusstsein der besonderen Natur des Human Rights Act 1998 und der Konventionsrechte 353 sowie der Bedeutung der richterlichen Auslegung im Hinblick auf die Gewaltenteilung bemühen die Gerichte gerne die Metapher des „living tree capable of growth and expansion within its natural limits“. 354 Erste Erfahrungen mit der Ausarbeitung derartiger Auslegungsprinzipien konnte das Privy Council im Rahmen seiner Judikatur zu den Verfassungen und verfassungsgleichen Gesetzen anderer Staaten des Commonwealth sammeln. Zudem muss der Interpretationsansatz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Auslegung der Konventionsrechte zumindest berücksichtigt werden (section 2 (1)). 355 Diese Erfahrungen und der reichhaltige Erfahrungsschatz des Straßburger Gerichts können daher als Vorbild für die Interpretation der im Human Rights Act 1998 normierten Rechte dienen. Sie hindern die britischen Gerichte aber nicht an der Entwicklung eigener Ansätze. 356 353 Der amerikanische Jurist Benjamin Cardozo beschreibt die Natur von Verfassungs(oder verfassungsähnlichen) Texten wie folgt: „Statutes are designed to meet the fugitive exigencies of the hour. Amendment is easy as the exigencies change. In such cases, the meaning once construed tends legitimately to stereotype itself in the form first cast. A constitution states or ought to state not rules for the passing hour, but principles for an expanding future. In so far as it deviates from that standard and descends into details and particulars, it loses its flexibility, the scope of interpretation contracts, the meaning hardens. While it is true to its function, it maintains its power of adaption, its suppleness, its play (...) there are jurists, at any rate abroad, who maintain that the meaning of today is not the meaning of tomorrow (...). ‚We do not inquire‘ [M Ballot-Beaupre] said, ‚what a legislator willed a century ago, but what he would have willed if he had known what our present conditions would be.‘ (...) I have no doubt that [this method of interpretation] has been applied in the past and with increasing frequency will be applied in the future, to fix the scope and meaning of the broad precepts and immunities in state and national constitutions. I see no reason why it may not be applied to statutes framed upon lines similarly general.“ Benjamin Cardozo, The Nature of the Judicial Process, 1991, S. 83 –85 354 Erstmals geprägt in Edwards v A-G of Canada [1930] AC 144, 136 per Lord Sankey. Es ist seit Langem in der Common-Law-Rechtsprechung anerkannt, dass Verfassungstexte einer flexiblen Auslegungstechnik unterliegen müssen, um sich den wechselnden Anforderungen der Realität anpassen zu können. 355 Ausgangspunkt für die Auslegung der Konventionsrechte durch den EGMR ist seit Golder v UK (1973) 1 EHRR 524 Artikel 31 der Vienna Convention, der besagt, dass: „A treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to the terms of the treaty in their context and in the light of its object and purpose.“ Detailiert zum Interpretationsansatz der europäischen Gerichte, der wiederum die britischen Richter beeinflusst hat und auch weiterhin beeinflussen wird, vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 264 ff. 356 David Pannick, Principles of interpretation of Convention rights under the Human Rights Act and the discretionary area of judgment, [1998] P.L. 546 ff.
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Eine Analyse der jüngeren Rechtsprechung lässt im Wesentlichen drei sich weitgehend überlappende aber dennoch unterschiedliche Ansätze erkennen: 357 a) Der generous approach Nach dem generous approach 358 gehen die Gerichte davon aus, dass die „Verfassungsauslegung“ die Entwicklung völlig neuer, sich von den bisherigen Auslegungsmethoden einfacher Gesetze kategorial unterscheidender Auslegungsprinzipien erfordert. Notwendig sei eine „generous interpretation, avoiding what has been called ‚the austerity of tabulated legalism‚, suitable to give to individuals the full measure of the fundamental rights and freedoms referred to“. 359
Die Anwendung dieser Auslegungsmethode führt – wie kanadische Erfahrungen zeigen 360 – tendenziell dazu, dass die Gerichte den Schutzbereich eines Konventionsrechts vergleichsweise weit auslegen und erst auf der Rechtfertigungsebene die Geltendmachung einer Konventionsrechtsverletzung scheitern lassen. b) Der purposive approach Der (broad and) purposive approach 361 beschreibt einen Ansatz, wonach das Gericht die Reichweite eines gewährten Rechts, d. h. seinen Schutzbereich, dadurch zu erfassen sucht, dass es den Sinn und Zweck der durch das Recht geschützten Interessen analysiert, um auf dieser Basis dem ihm zugrunde liegenden Geist möglichst weitreichende aber auch angemessene Geltung zu verschaffen: „(...) the language of a Constitution falls to be construed, not in a narrow legalistic way, but broadly and purposively, so as to give effect to its spirit, and this is particularly true of those provisions which are concerned with the protection of human rights.“ 362 357
Vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 112. Ong Ah Chuan v Public Prosecutor, Koh Chai Cheng [1981] AC 648; Pratt v A-G of Jamaica [1994] 2 AC 1; Huntley v A-G for Jamaica [1995] 2 AC 1; einen generous approach befürwortend David Pannick, Principles of interpretation of Convention rights under the Human Rights Act and the discretionary area of judgment, [1998] P.L. 545 ff. Kritisch hierzu und einen purposive approach bevorzugend, Richard A. Edwards, Generosity and the Human Rights Act: the right interpretation? [1999] P.L. 400 ff. 359 Minister v Home Affairs Fisher [1980] AC 319, 328. 360 Zur Auseinandersetzung mit der kanadischen Rechtsprechung siehe Richard A. Edwards, Generosity and the Human Rights Act: the right interpretation?, [1999] P.L. 400 ff. 361 A-G of the Gambia v Momodou Jobe [1984] AC 689, 700; vgl. auch Richard A. Edwards, Generosity and the Human Rights Act: the right interpretation?, [1999] P.L. 400 ff. 362 A-G- of Trinidad and Tobago v Whiteman [1991] 2 AC 240, 247. 358
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Grundlage dieser Analyse soll nicht nur der Wortlaut des in Frage stehenden Konventionsrechts allein sein. Vielmehr soll die Norm unter Berücksichtigung der umfassenden Ziele der Konvention und anderer Rechte, ihres philosophischen Hintergrunds etc. ausgelegt werden. Hierdurch findet eine Vorselektion statt, die in der Regel zu einem – im Verhältnis zum generous approach – eingeschränkteren Schutzbereich eines Konventionsrechts führt. c) Der realistic approach Der realistic approach 363 hält eine Abkehr von den gewöhnlichen Auslegungsregeln nicht für erforderlich, sondern will sie lediglich in einer „flexibleren“ Art und Weise angewendet wissen, um eine möglichst „realistische“ Auslegung des betreffenden Rechts zu erreichen. d) Fazit Trotz zum Teil erheblicher Unterschiede im Detail 364 ist allen drei Ansätzen eines gemein: Bei der Auslegung des Human Rights Act 1998 wird kein enger, buchstabengetreuer Ansatz verfolgt, sondern vielmehr ein an der zweckorientierten Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angelehnter Ansatz 365 bevorzugt. Lord Irvine führte bereits 1998 diesbezüglich aus: „(...) court decisions in relation to the Human Rights Act will be based on a more overtly principled and, perhaps, moral basis. The court will look at the positive right. It will only accept an interference with that right where a justification allowed under the Convention is made out. The scrutiny will not be limited to seeing if the words of an exception can be satisfied. The court will need to be satisfied that the interference with the spirit of this exception is made out. It will need to be satisfied that the interference with the protected right is justified in the public interest in a free and democratic society.“ 366
363 Robinson v The Queen [1985] 1 AC 956; A-G of Hong Kong v Lee Kwong-kut [1993] AC 951; Matadeen v Pointu [1998] 3 WLR 18. 364 Vgl. z. B. bezüglich der Unterschiede zwischen purposive und generous approach Peter William Hogg, Constitutional Law of Canada, 1997, 625 f., sowie ders., Interpreting the Charter Rights: Generosity and Justification, (1990) 28 Osgoode Hall L.J. 817; siehe auch Richard A. Edwards, Generosity and the Human Rights Act: the right interpretation?, [1999] P.L. 400. 365 Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated Convention on Human Rights, [1998] P.L. 232: „The British Courts will therefore need to apply the same techniques of interpretation and decision-making as the Strasbourg bodies.“ 366 Lord Irvine of Lairg, The Development of the Human Rights in Britain Under an Incorporated Convention on Human Rights, [1998] P.L. 229.
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Diese Einschätzung, die bereits erkennbar den Geist des neuen Verfassungsverständnisses in sich trägt, hat sich grundsätzlich bewahrheitet. In R v DPP, ex p Kebilene wurde der sogenannte generous approach erstmals explizit auf den Human Rights Act 1998 übertragen. 367 2. Zur Methode der Gesetzesinterpretation – section 3 Human Rights Act 1998 Die Auswirkungen des Human Rights Act auf die Interpretation „einfacher“ Gesetze scheint offensichtlich. Section 3 normiert die konventionskonforme Auslegung von Parlamentsgesetzen und ist somit die verbriefte Abkehr von einer wortlautdominierten Interpretation, so wie zu Zeiten des klassischen Verfassungsverständnisses überwiegend üblich war. Doch was bedeutet dies genau? a) Die Abkehr von einer wortlautdominierten Auslegung Wie bereits erläutert, nahm der Wandel der dominierenden Auslegungsmethode schon vor Einführung des Human Rights Act 1998 seinen Anfang. 368 So basierte die Entwicklung der Common-Law-Grundrechte im Wesentlichen auf einer veränderten Auslegungspraxis, die u. a. auf dem Wege von Vermutungsregeln (presumptions) Gerichtsentscheidungen ermöglichte, die bei einer strikten
367 R v DPP, ex parte Kebilene [1999] 3 WLR 972, 988 (per Lord Hope): „In AttorneyGeneral of Hong Kong v Lee Kwong-kut Lord Woolf referred to the generous approach to the interpretation of constitutions and bills of rights indicated in previous decisions of the Board which he said were equally applicable to the Hong Kong Bill of Rights Ordinance 1991. He mentioned Lord Wilberforce’s observation in Minister of Home Affairs v Fisher that instruments of this nature call for a generous interpretation suitable to give individuals the full measure of the fundamental rights and freedoms referred to, and Lord Diplock’s comments in A-G of the Gambia v Momodou Jobe that a generous and purposive construction is to be given to that part of a constitution which protects and entrenches fundamental rights and freedoms to which all persons in the state are to be entitled. The same approach will now have to be applied in this country when issues are raised under the Act of 1998 about the compatibility of domestic legislation and of the acts of public authorities with the fundamental rights and freedoms which are enshrined in the Convention.“ 368 Bereits 1975 führte Lord Diplock in Carter v Bradbee [1975] 1 WLR 1204, 1206 f. aus: „If one looks back to the actual decisions of the (House of Lords) on questions of statutory construction over the last 30 years one cannot fail to be struck by the evidence of a trend away from the purely literal towards the purposive construction of statutory provisions.“ Allgemein zur Gesetzesauslegung ab Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. auch Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band II, 2001, S. 963 ff., der einen stärkeren Fokus auf das Privatrecht legt.
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Wortlautauslegung unmöglich gewesen wären. Beispielsweise konnten bei mehrdeutigem Wortlaut (ambiguity) Gesetze konventionskonform ausgelegt werden. Bereits ab Mitte des 20. Jahrhunderts begann der sogenannte zweckorientierte Ansatz (purposive approach) sich mehr und mehr zu etablieren. Lord Dennings Diktum in Magor and St Mellos RDC v Newport Corpn. 369, das vom damaligen House of Lords noch als „naked usurpation of the legislative function under thin guise of interpretation“ 370 zurückgewiesen wurde, ist eine anschauliche Zusammenfassung des neuen interpretativen Ansatzes: „We do not sit here to pull language of Parliament and of Ministers to pieces and make nonsense of it (...). We sit here to find out the intention of Parliament and of Ministers and carry it out, and we do this better by filling in the gaps and making sense of the enactment than by opening it to destructive analysis.“
Im Namen des purposive approach lebte die Richterschaft immer größere kreative Freiheiten aus, gab aber die parlamentarische Intention als Richtschnur für die Auslegung nicht (ausdrücklich) auf. So schränkten die Gerichte z. B. immer häufiger den Anwendungsbereich einer scheinbar eindeutigen Vorschrift im Hinblick auf Prinzipien des common law im Wege der sogenannten Reading-downoder Reading-in-Technik ein, indem sie allgemeinen Rechtsbegriffen eine restriktive Bedeutung gaben bzw. weitreichende Ermessensbefugnisse an bestimmte Bedingungen banden. 371 Gelegentlich erweiterten sie auch den Anwendungsbe369 [1950] 2 All ER 1226, 1236. Ebenfalls anschaulich und den Einfluss des Europarechts verdeutlichend, Lord Denning in James Buchanan and Company Ltd v Babco Forwarding and Shipping (UK) Ltd [1977] Q.B. 208, 213: „[European judges] adopt a method with they call in English by strange words – at any rate they are strange to me – the ‚schematic and teleological‘ method of interpretation. It is not really so alarming as it sounds. All it means is that the judges do not go by a literal meaning of the words or the grammatical structure of the sentence. The go by the design or purpose (...) behind it. When they come to a situation which is to their minds within the spirit – but not the letter – of the legislation, they solve the problem by looking at the design and purpose of legislature – at the effect it was sought to achieve. They then interpret the legislation so as to produce the desired effect. This means they fill in the gaps, quite unashamedly, without hesitation. They simply ask: what is the sensible way of dealing with this situation so as to give effect to the presumed purpose of the legislature? They lay down the law accordingly.“ 370 Magor and St Mellons RDC v Newport Corporation [1952] AC 189, 191. 371 Vgl. z. B. R v Lord Chancellor, ex p Witham [1998] QB 575, 581, 586, in dem festgestellt wird, dass das verfassungsmäßige Recht auf Zugang zu den Gerichten nicht durch eine weitgefasste Ermessensnorm eingeschränkt werden könne, sofern der Gesetzgeber nicht klar zum Ausdruck bringt, dass eben dies seine Absicht gewesen sei. R v Secretary of State for the Home Department, ex p Pierson [1998] AC 538: Auch das fundamentale Prinzip, dass eine einmal verhängte Strafe nicht mehr rückwirkend erhöht werden kann, könne durch eine weit und allgemein gefasste Ermessensnorm nicht eingeschränkt werden. Malloch v Aberdeen Corporation [1971] 1 WLR 1578: In diesem Fall lasen die Richter in den Education (Scotland) Act 1962 – anlässlich der Entlassung eines Lehrers – die nicht
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reich einer Norm, um sie in Einklang mit dem common law zu bringen bzw. ihr zu mehr praktischer Wirksamkeit zu verhelfen. 372 Ein nicht zu unterschätzender Wegbereiter dieser Entwicklung war die Entscheidung Pepper v Hart 373, die es den Gerichten in Abkehr von der sog. exclusionary rule nunmehr erlaubte, bei der Auslegung von Gesetzen auf die parlamentarischen Debatten zurückzugreifen. Hierdurch wurde der interpretatorische Spielraum der Gerichte erheblich erweitert. 374 Es muss allerdings in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass unter dem Begriff purposive approach nicht allein eine streng am Gesetzeszweck ausgerichtete Auslegungsmethode zu verstehen ist, sondern ein recht unstrukturiertes Konglomerat aus verschieden Ansätzen, wie z. B. der systematischen – insbesondere der common-law-konformen – 375 oder historischen Auslegung, 376 deren gegenseitige Gewichtung nicht abschließend geklärt ist. 377 Auch dem Wortlautkriterium kommt selbstverständlich weiterhin Bedeutung zu – wenn auch nicht in dem zuvor beobachteten Maße. Der Begriff purposive approach ist somit in erster Linie als negativer Begriff in seiner Abgrenzungsfunktion zu der ehemals vorherrschenden Wortlautinterpretation zu verstehen; sein genauer positiver Inhalt bleibt weiterhin diffus. Die Empfehlung der Law Commission Ende der 1960er Jahre, sich eines purposive approach zu bedienen, mag zwar zur Beschleunigung seiner Etablierung beigetragen haben, die Ursachen hierfür lagen aber tiefer: Gewandeltes Verfassungsverständnis und veränderte Interpretationstechnik gingen Hand in Hand. Angesichts der Unterminierung der Doktrin der Parlamentssouveränität und der schwindenden Dominanz des Rechtspositivismus war eine Lockerung der Binexplizit normierte Pflicht hinein, dass der Betroffene vor seiner Entlassung anzuhören ist. Grundsätzlich sollte eine Behörde ihr Ermessen im Einklang mit dem common law (fair, vernünftig etc.) und dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage entsprechend ausüben. 372 Z. B. R v Central Criminal Court, ex p Francis & Francis [1989] AC 346. Die dort in Frage stehende Norm beschränkte den Ausschluss der Beschlagnahmefreiheit für eine Gruppe an Gegenständen, die an sich eindeutig begrenzt war. Dennoch erweiterten die Law Lords den Anwendungsbereich dieser Norm. 373 [1993] AC 593. Kritisch zu dieser Entscheidung Lord Steyn, Pepper v Hart: A Reexamination, (2001) 21 OJLS 59. 374 Siehe Robert Stevens, The English Judges. Their Role in the Changing Constitution, 2005, S. 55 f. m.w. N. 375 Siehe oben § 5 III.1.c). 376 Siehe oben § 5 III.1.b). 377 Zur Gefahr eines Methodensynkretismus vgl. Bernd Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, 53 ff., der die These vertritt, dass in Deutschland eine Neigung zum Methodensynkretismus bestehe, durch die sich die Bundesrepublik von einer parlamentarischen Demokratie zu einem oligarchischen Richterstaat wandele.
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dung an den Gesetzeswortlaut die nahe liegende Folge. Die Hinwendung zur Idee des limited government und die „Konstitutionalisierung“ des Individualrechtsschutzes wiesen den Gerichten eine neue Rolle im Verfassungsgefüge zu. Als „Hüter der Individualrechte“ war eine Abkehr von der Wortlautinterpretation, die die Konsequenz des klassischen Rollenverständnisses der Richterschaft als „Umsetzungsautomaten“ des parlamentarischen Willens war, geradezu zwingend. 378 Die rule of construction der section 3 des Human Rights Act 1998 ist sowohl Folge als auch Katalysator dieses Verständnisses. Indem section 3 eine konventionskonforme Auslegung „soweit möglich“ vorschreibt, bietet sie – trotz oder gerade wegen dieser dem formalen Erhalt der Parlamentssouveränität dienenden Einschränkung – weitreichende Möglichkeiten zur richterlichen Entfaltung. So gehören, wie jüngere Fälle zeigen, reading down 379 und sogar reading in 380 Techniken nunmehr – wenn auch nicht unumstritten – zum Standardrepertoire der Auslegungstechniken unter dem Human Rights Act 1998. Die Bereitschaft, vom buchstäblichen Sinn eines Gesetzes abzuweichen und eine „strained interpretation“ 381 zu wagen, um dem Schutz der Konventionsrechte Geltung zu verschaffen, hängt aber weiterhin von der Einstellung eines jeden Richters und seines Verständnisses der vielfältig auslegbaren Formulierung „as far as possible“ ab. Bedeutung und Anwendung der section 3 sind höchst umstritten und spielen eine wichtige Rolle für die Stellung der Richterschaft im Verfassungsgefüge. In welcher Form der Human Rights Act 1998 in der Praxis umgesetzt wird und welche Rolle dabei das alte und das sich herausbildende neue Verfassungsverständnis spielen, soll anhand ausgesuchter Problempunkte und Beispielsfälle im dritten Teil der Arbeit untersucht werden. b) Struktur einer section 3 Prüfung Zum besseren Verständnis ist es zunächst einmal wichtig, sich von einem theoretischen Standpunkt aus zu verdeutlichen, was es bedeutet, ein Gesetz (soweit möglich) konventionskonform auszulegen, d. h. welche logischen Schritte (1., 2., 3.) einem solchen Auslegungsprozess zugrunde liegen.
378 Trotz des Paradigmenwechsels verstehen sich die Richter aber (selbstverständlich) weiterhin als Interpretatoren und nicht als Gesetzgeber, vgl. z. B. Poplar Housing and Regeneration Community Association Ltd. v Donoghue [2001] 4 All ER 604, para. 75 per Lord Woolf. Die schwierige Frage ist nur, wo Interpretation aufhört und Gesetzgebung beginnt. 379 So z. B. in R v Lambert [2001] 3 WLR 206. 380 So z. B. in R v A (No. 2) [2001] 2 WLR 1546; R v Offen [2001] 1 WLR 421. 381 Vgl. Francis Bennion, What interpretation is „possible“ under section 3(1) of the Human Rights Act 1998?, [2000] P.L. 85 f.
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Damit ist aber nicht gesagt, dass die Gerichte in dieser Weise auch tatsächlich verfahren. Die folgende Ausarbeitung gibt eine widerlegbare Erwartungshaltung wieder, die lediglich dazu dienen soll, bestimmte Problemkreise, die im weiteren Verlauf der Arbeit angesprochen werden und für die Stellung der Richterschaft im Verfassungsgefüge von Bedeutung sind, besser verorten zu können: 1. Um bewerten zu können, ob eine konventionskonforme Auslegung erforderlich ist, sind die Richter notwendigerweise gehalten, das in Frage stehende Gesetz zunächst nach den herkömmlichen Interpretationstechniken auszulegen und das so erlangte Ergebnis dann auf seine Konventionskonformität hin zu untersuchen, d. h. in eine judicial review of legislation einzusteigen. Hierzu ist üblicherweise zunächst zu klären, ob ein Eingriff in den Schutzbereich eines Konventionsrechts vorliegt. Dieser Schritt setzt demnach die Auslegung eines Konventionsrechts (s. o.) voraus. Wird ein derartiger Eingriff bejaht, stellt sich die Frage, ob dieser Eingriff gerechtfertigt werden kann. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und rechtsvergleichender Erfahrungen (z. B. Kanada) ist anzunehmen, dass zur Feststellung des zweiten Schritts (Rechtfertigungsprüfung) eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich ist. 382 2. Für den Fall, dass der Eingriff nicht gerechtfertigt ist (sog. prima facie Inkompatibilität), ist nunmehr zu klären, ob eine andere, konventionskonforme Auslegung gefunden werden kann, welche die Grenzen der Interpretation nicht überschreitet. 3. Sollte dies nicht möglich sein, ist section 3 ausgeschlossen, und es bleibt nur noch die Möglichkeit, eine Inkompatibilitätserklärung nach section 4 zu erlassen. c) Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Auch wenn der Human Rights Act 1998 den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ausdrücklich nennt, so ist davon auszugehen, dass er ihm – der die Einschränkbarkeit bestimmter Konventionsrechte unter bestimmten Bedingungen anerkennt (z. B. necessary in a democratic society) – inhärent ist 383 und daher nunmehr auch im nationalen Recht Anwendung findet. Zwar war der Verhältnismäßigkeitgrundsatz den britischen Gerichten auch vor Einführung des Human Rights Act 1998 nicht vollkommen fremd. 384 Wer aber eine 382 Auf diesen Aspekt, der im englischen Recht weniger selbstverständlich ist, als man nach deutschem Verständnis meinen würde, soll im folgenden Abschnitt noch etwas näher eingegangen werden. 383 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist fester Bestandteil der Rechtsprechung des EGMR. Dazu Rainer Grote / Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, S. 362 ff.
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dem deutschen Proportionalitätsprinzip vergleichbare Durchdringung des Rechtssystems und dogmatische Verfestigung erwartet, wurde und wird enttäuscht. 385 So hatte das englische Recht bisher – ganz der britischen Fallrechtstradition entsprechend – keine Probleme damit, den sogenannten Fair-Balance-Test zwar im Rahmen des Gemeinschaftsrechts, 386 in einigen besonders gesetzlich normierten Fällen 387 und im Rahmen der Rechtsprechung des Privy Council 388 anzuwenden sowie seine tragende Bedeutung für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu erkennen, ohne ihn jedoch allgemein auf die innerbritische verwaltungsrechtliche Kontrolle zu übertragen oder seinen genauen Inhalt einheitlich auszuarbeiten. Spätestens jetzt ist aber zu erwarten, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der zuvor nur gelegentlich und zumeist ohne seine explizite Nennung Anwendung fand, 389 allmählich weitere Bereiche des öffentlichen Rechts durchdringen 390 und eine genauere Konturierung 391 erfahren wird. 384 Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Großbritannien vor Einführung des Human Rights Act siehe Thilo Marauhn, Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Großbritannien – Die Bedeutung polizei(recht)licher Schranken für die Entwicklung materieller Kontrollstandards, VerwArch 85 (1999), 52 ff. 385 Vgl. Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy, A Guide to the Human Rights Act 1998, Oktober 2006, S. 13. So ist bereits die Tatsache, dass die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes weiterhin mit dem diffusen Begriff anxious scrutiny beschrieben wird, ein Indikator für die eher oberflächliche Durchdringung dieses Konzepts. Siehe auch Christoph Knill / Florian Becker, Divergenz trotz Diffusion? Rechtsvergleichende Aspekte des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Deutschland, Großbritannien und der Europäischen Union, Die Verwaltung, 36 (2003), 447 ff. 386 Für einen Überblick siehe Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 288. 387 Z. B. schedule 1 Part I No. 4 des section 2 (1) Data Protection Act 1984: „Personal data held for any purpose or purposes shall be adequate, relevant and not excessive in relation to that purpose or those purposes.“ Vgl. Ralf Brinktrine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England – Eine rechtsvergleichende Untersuchung von Entscheidungsspielräumen der Verwaltung im deutschen und englischen Verwaltungsrecht, 1998, S. 404 f. 388 Z. B. De Freitas v Permanent Secretary of Ministry of Agriculture [1999] AC 69, 80; Thomas v Baptiste [2000] 2 AC 1. 389 Vgl. z. B. R v Secretary of State for the Home Department, ex p Leech (No. 2) [1994] QB 198, 212 ff.; R v Manchester Metropolitan University, ex p Nolan per Sedley J (unreported); R v Ministry of Defence, ex p Smith [1996] QB 517, 556; R v Secretary for the Home Department, ex p Simms [1999] 2 WLR 328, 340 per Lord Steyn, 353 per Lord Hobhouse. 390 Bisher hat das House of Lords die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als eigenständigen ground of review abgelehnt, vgl. R v Secretary of State for the Home Department, ex p Brind [1991] 1 AC 696. Eine Trendwende zeichnet sich jedoch seit R v Secretary of State for the Home Department, ex p Daly [2001] 2 WLR 1622 ab. 391 Hierbei werden das Gemeinschaftsrecht sowie die kanadische Jurisprudenz wohl eine große Rolle spielen, vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights,
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Obwohl Lord Diplock schon Anfang der 1980er Jahre eine Übernahme des Verhältnismäßigkeitsprinzips als allgemeinen Kontrollmaßstab im Verwaltungsrecht anregte, 392 wandten die Gerichte weiterhin den Wednesbury-Test an und behandelten Fragen der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme als Unterfall der irrationality. 393 Die große Flexibilität des Wednesbury-Tests erlaubte es den Gerichten bei bestimmten Sachverhalten, so z. B. bei Entscheidungen mit besonderem politischen Gehalt, den Kontrollmaßstab der Gerichte auf ein Minimum (der sogenannte Super-Wednesbury – Standard) 394 zurückzufahren, während bei Sachverhalten mit (Common-Law-)Grundrechtsbezug, je nach Eingriffsintensität, die Kontrolldichte erhöht (heightened scrutiny test) und eine dementsprechend überzeugendere Rechtfertigung für den Grundrechtseingriff gefordert wurde. 395 Trotz der relativ großen Nähe des zuletzt genannten Ansatzes zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konnte sich ein principle of proportionality als allgemeiner Kontrollmaßstab im Verwaltungsrecht aus Angst vor einer review of merits und der damit verbundenen Gefahr, dass die Gerichte durch richterrechtliche Fortbildung eine eigentlich dem statute law vorbehaltene appellate jurisdiction ausüben könnten, zunächst nicht durchsetzen. 396 Auch nach Einführung des Human Rights Act 1998 wurden die Erwartungen hinsichtlich einer erhöhten Kontrolldichte nach Art des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anfangs enttäuscht. Sowohl in R (Mahmood) v Secretary of State for the Home Department 397 and R (Isiko) v Secretary of State for the Home Department 398 behandelte der Court of Appeal das Verhältnismäßigkeitsprinzip nach Art des Wednesbury-Tests und prüfte lediglich, ob sich die Entscheidung darüber, was die Behörde noch für verhältnismäßig hielt, innerhalb eines Rahmens bewegte, den man von einem reasonable decision-maker erwarten durfte. In R v Secretary of State for the Home Department, ex parte Daly 399 legte das House of Lords den Grundstein für eine Trendwende. So übernahm das Gericht 2000, S. 298. Obwohl zwar immer wieder die deutschen bzw. preußischen Wurzeln des Verhältnimäßigkeitsprinzips hervorgehoben werden, erfolgt ein rechtsvergleichender Blick nach Deutschland jedoch eher selten. Siehe aber z. B. M. P. Singh, German Administrative Law in Common Law Perspective, 2001. 392 Council of the Civil Service Unions v Minister for the Civil Service [1985] AC 374, 410. 393 Vgl. Richard Clayton / Hugh Tomlinson, The Law of Human Rights, 2000, S. 287 mit weiteren Fallbeispielen in den Fußnoten 220 – 223. 394 Z. B. R v Secretary of State for the Environment, ex p Nottinghamshire County Council [1986] AC 240; R v Secretary for the Environment, ex p Hammersmith and Fulham London Borough Council [1991] AC 521. 395 R v Ministry of Defence, ex p Smith [1996] QB 517, 554. 396 R v Secretary of State for the Home Department, ex p Brind [1991] 1 AC 696. 397 [2001] 1 WLR 840. 398 [2001] HRLR 295.
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hier die in dem Diktum von Lord Clyde in der Entscheidung des Privy Council in De Freitas v Permanent Secretary of Minister of Agriculture, Fisheries, Lands and Housing 400 zum Ausdruck kommenden Kriterien einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Danach muss sich ein Gericht damit auseinander setzen: „[w]ether: (1) the legislative objective is sufficiently important to justify limiting a fundamental right; (2) the measures designed to meet the legislative objective are rationally connected to it; and (3) the means used to impair the right or freedom are no more than is necessary to accomplish the objective.“ 401
Lord Steyn weist in Daly zudem ausdrücklich auf die – trotz vieler Gemeinsamkeiten – wesensmäßigen Unterschiede zwischen Verhältnismäßigkeitsprüfung und Wednesbury-Test, die höhere Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung und das Scheitern selbst des Heightened-Scrutiny-Tests 402 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hin. Daneben betont er, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung keine Überprüfung der merits einer Entscheidung bedeute. Lord Cooke bemerkte sogar: „I think the day will come when it will be more widely recognised that Associated Provincial Picture Houses Ltd v. Wednesbury Corpn [1948] 1 KB 223 was an unfortunately retrogressive decision in English administrative law, in so far as it is suggested that there are degrees of reasonableness and that only a very extrem degree can bring an administrative decision within the legitimate scope of judicial invalidation.“ 403
Die Weichen für eine allgemeine Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im britischen Verwaltungsrecht, zumindest im Bereich von Fällen mit Konventionsrechtsbezug, sind somit gestellt. 404 Wie Lord Slynn in R (Alconbury Developments Ltd) v Environment Secretary 405 zutreffend bemerkte: 399
[2001] 2 WLR 1622. Zur Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle gegenüber der Verwaltung siehe Rainer Grote, Die Entwicklung des nationalen Verwaltungsrechtsschutzes unter europäischem Einfluss: einige vergleichende Anmerkungen, in: ders. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit: Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, 2007, S. 786. 400 [1999] 1 AC 69. 401 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass trotz der Anerkenntnis des test of proportionality seine genauen Prüfungsschritte variieren. Dies ist angesichts der Tatsache, dass auch die Straßburger Organe bei ihrer Kontrolle nicht nach einem strikten Schema verfahren, sondern verschiedene Ansätze und Formulierungen gebrauchen, wenig verwunderlich, vgl. Michael Supperstone / Jason Coppell, Judicial Review after the Human Rights Act, (1999) 4 EHRLR 314. 402 In Smith and Grady v UK [1999] 29 EHRR 493 brachte der EGMR zum Ausdruck, dass die englischen Gerichte in R v Ministry of Defence, ex p Smith [1996] QB 517 keine ausreichende Kontrolldichte an den Tag gelegt hätten. 403 R (on the application of Daly) v Secretary of State for the Home Department [2001] 2 WLR 1636 f. 404 Beispiele für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jüngeren Datums: R (Robertson) v Wakefield MDC [2002] 2 WLR 889; R (Stevens) v Plymouth City Council
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„(T)he time has come to recognise that this principle [the principle of proportionality] is part of English administrative law (...).“
Mit der Einführung des Human Rights Act 1998 werden aber nicht nur Entscheidungen der Exekutive am Maßstab der Verhältnismäßigkeit gemessen, sondern auch Entscheidungen der Legislative. Was für den im deutschen Verfassungsrecht geschulten Juristen wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist für den britischen Juristen geradezu revolutionär. Noch vor wenigen Jahrzehnten 406 waren positive Rechte, die die Voraussetzung für einen bewussten Abwägungsprozess nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bilden, dem britischen Rechtsdenken fremd. Die nunmehr erforderliche Rechtfertigung der öffentlichen Hand, sogar der Legislative, für ihre Handlungen 407 ist der deutlichste Ausdruck für den Wandel einer culture of authority, so wie sie das alte Verfassungsregime kannte, zu einer culture of justification 408. Man sollte aber aufgrund der dem common law typischen Fallrechts-Herangehensweise und die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz inhärente Flexibilität 409 keine übertriebenen Erwartungen an die Strukturierungsleistungen des Verhältand C [2002] 1 FLR 1177; R (P and Q) v Secretary of State for the Home Department [2001] FLR 1122. 405 [2001] 2 WLR 1389. 406 Siehe oben § 8 III. 407 D. h. einen Eingriff in ein Konventionsrecht. 408 Eine culture of justification beinhaltet mehr als nur die Pflicht einer Begründung. Der Begriff der Rechtfertigung – in Abgrenzung zu dem Begriff der Erklärung – impliziert, dass die angegebenen Gründe „gute“ Gründe sein müssen. Dies wiederum setzt einen Standard voraus, nach dem dies beurteilt werden kann. Insofern ist das Prinzip der culture of justification nicht nur rein prozeduraler Natur, sondern enthält eine materielle Komponente. Vgl. David Dyzenhaus / Murray Hundt / Michael Taggart, The Principle of Legality in Administrative Law: Internationalisation as Constitutionalisation, (2001) 1 Oxford University Commonwealth Law Journal 27; David Dyzenhaus, Law as Justification: Etienne Mureinik’s Conception of Legal Culture, (1998) 14 SAJHR 11; ders., Form and Substance in the Rule of Law: A democratic Justification for Judicial Review?, in: Christopher Forsyth (ed.), Judicial Review and the Constitution, 2000, S. 171; Etienne Mureinik, A Bridge to Where: Introducing the Interim Bill of Rights, (1994) 10 SAJHR 32 f.; Trevor R. S. Allan, Constitutional Justice: A Liberal Theory of the Rule of Law, 2001, S. 25 –29; Richard A. Edwards, Judicial Deference under the Human Rights Act, (2002) 65 M.L.R. 859 ff.; Lord Steyn, The Case for a Supreme Court, (2002) 118 L.Q.R. 385; Lorraine E. Weinrib, Canada’s Constitutional Revolution: From Legislative to Constitutional State, (1999) 33 Israel LRev. 48 f. Diese Entwicklung wird aber nicht nur mit freudigem Enthusiasmus begrüßt, denn ein Siegeszug des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stellt zugleich auch einen Siegeszug „quasi“ verfassungsrechtlicher Maßstäbe über das einfache Recht dar. So äußert sich Gearty besorgt: „The Convention’s explosive breadth is such that it has the capacity, if untamed, to fill practically every nook and cranny in our law, and indeed in our political process.“ Vgl. Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 142.
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
nismäßigkeitsgrundsatzes als ground of review hegen. So bemerkte Peter Cane mit einiger Berechtigung über die englische Rechtsprechungspraxis: „English courts always have and always will decide whether or not a decision or rule is invalid because of policy mistake in a flexible and fact-sensitive way regardless of the conceptual framework in which the issue is considered.“ 410
Zudem wird – auch wenn die Struktur der Überprüfung öffentlichen Handelns nunmehr zumindest dem Grundsatz nach klar ist, und man annehmen sollte, dass diese Struktur einen allgemein erhöhten Grad an Kontrollintensität sicherstellt – die erforderliche Rechtfertigung des Gesetzgebers in gewissen Bereichen durch die Herausbildung einer doctrine of deference 411 wieder in Frage gestellt. d) Fazit Die sich bereits vor Einführung des Human Rights Act angesichts des zunehmend veränderten Verfassungsverständnisses abzeichnende Etablierung des purposive approach hat in section 3 Human Rights Act seine konsequente Verfestigung, Weiterführung und Legitimierung erfahren. Bei genauer Betrachtung wird zudem deutlich, dass der Struktur einer „Section-3-Prüfung“ eine Verhältnismäßigkeitsprüfung und damit die Idee positiver Rechte anstelle residualer Freiheiten inhärent ist. Insofern müssen sich nunmehr auch Akte der Legislative am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen, der den Gerichten die Möglichkeit einer erhöhten Kontrolldichte einräumt. Das damit einhergehende (rechtliche) Erfordernis einer Rechtfertigung legislativen Handelns markiert den Wandel der ehemals vorherrschenden culture of authority zu einer culture of justification.
§ 10 Zwischenbetrachtung: Das neue Verfassungsverständnis und das Konzept des constitutional dialogue Großbritannien ist Zeuge eines tiefgreifenden Verfassungswandels, der zu einer deutlichen und weitreichenden Abkehr von – nicht aber zum vollständigen Bruch mit – dem herkömmlichen Verfassungssystem der Parlamentssouveränität geführt hat. Vielmehr bilden sich die Reformen, von denen der Human Rights Act 1998 einen bedeutsamen Teil darstellt, aus dem dem traditionellen Verfassungssystem seit jeher immanenten Spannungsverhältnis von rule of law und Parlamentssou409 So folgt die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwar einem klar gegliederten Test; sein inhaltlicher Gehalt ist gleichwohl variabel, vgl. Paul Craig, The Courts, The Human Rights Act and Judicial Review, (2001) 117 L.Q.R. 595 f. 410 Peter Cane, Administrative Law, 2004, S. 258. 411 Siehe unten 3. Teil.
§ 10 Zwischenbetrachtung
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veränität, Demokratie und Individualrechtsschutz etc. in typischer Common-LawManier – Schritt für Schritt – langsam heraus. Am Beispiel des Human Rights Act 1998 wurde deutlich, wie die Doktrin der Parlamentssouveränität ausgehöhlt und die rule of law materiell angereichert wird, wie das utilitaristische, positivistische Verständnis durch das Leitbild grundlegender subjektiver Menschen- und Bürgerrechte ersetzt wird und die Idee des limited government verstärkt Fuß fasst. Dies hat zur Einrichtung eines Supreme Court und der Einführung einer faktischen Normenkontrolle geführt. Die Dominanz der literal rule wurde zugunsten eines purposive approach bei der Gesetzesauslegung aufgegeben, und mit der Etablierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes weicht die culture of authority einer culture of justification, in der die Legislative zu einem Dialog mit den Gerichten gezwungen wird. Zudem wandelt sich das Verfahren der judicial review zu einem Verfahren der constitutional judicial review, d. h. von einem Instrument, das vornehmlich der Sicherstellung parlamentarischer Herrschaft diente, zu einem Instrument der Herrschaftsbegrenzung und damit des Individualrechtsschutzes. Das herkömmliche System der Parlamentssouveränität ist somit nur noch ein Schatten seiner selbst. Doch was ist nunmehr an die Stelle des traditionellen Verständnisses getreten? Eines ist bereits – ohne eine Analyse des Umgangs der Rechtsprechung mit dem Human Rights Act 1998 in der Praxis – klar: „Verfassungssouveränität“ im deutschen oder amerikanischen Sinn scheidet schon aufgrund der für den Human Rights Act 1998 gewählten Struktur aus. Gleichwohl ist die Verstärkung der rechtsnormativen Elemente des nunmehr entstandenen Verfassungsgefüges nicht zu leugnen. 412 Sind somit zumindest die Weichen in Richtung Verfassungssouveränität i.d.S. gestellt? Es scheint eher nicht so: Aufgrund des mit der materiellen Anreicherung verbundenen Bedeutungszuwachses der Judikative wurde in der jüngeren Vergangenheit gerne der Begriff der „bi-polar sovereignty“ 413 von Judikative und Legislative gewählt. Obwohl diesem Ausdruck ein gewisser Widerspruch inhärent ist, da „Souveränität“ einen Vormachtsanspruch der einen Institution über die andere suggeriert, wird gerade in dieser sprachlichen Ungenauigkeit die schleichende Abkehr von einem Verfassungssystem, das an der Frage des Letztentscheidungsrechts orientiert ist, 412
Siehe oben § 8 VI. Dieser Begriff wurde bereits 1995 von Sir Stephen Sedley im Zuge des fortschreitenden common law constitutionalism geprägt. Das Konzept der bi-polar sovereignty umschreibt er wie folgt: „(W)e have today (...) a new and still emerging constitutional paradigm, no longer of Dicey’s supreme Parliament to whose will the rule of law must finally bend, but of a bi-polar sovereignty of the Crown in Parliament and the Crown in the Courts, to each of which the Crown’s minister are answerable – politically to Parliament, legally to the courts.“ Vgl. Sir Stephen Sedley, Human Rights: a Twenty-First Century Agenda, [1995] P.L. 389. Vgl. auch Lord Cooke of Thorndon, The Road ahead for the Common Law, (2004) 53 I.C.L.Q. 275. 413
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
deutlich. 414 Die einzelnen Gewalten werden nicht mehr in erster Linie als Rivalen begriffen, sondern als Teil eines Gesamtgefüges, indem jede ihre ureigensten Aufgaben wahrnimmt und dadurch einen Beitrag zum Gelingen des gemeinsamen Ziels von good governance 415 leistet. 416 Das ehemals vorwiegend institutionell begriffene Verständnis wird nunmehr materiell angereichert; nicht mehr die Souveränität einzelner Gewalten, sondern der dem Gemeinwohl dienende und an den Inhalten der Konventionsrechte ausgerichtete Dialog zwischen den Gewalten steht im Zentrum des Interesses. Hierdurch soll eine institutionelle Balance mit gemeinsamen Verantwortlichkeiten entstehen. Die Idee, dass der moderne Konstitutionalismus als ein Dialog zwischen Judikative, Exekutive und Legislative begriffen werden kann, hat in der gesamten Common-Law-Welt Widerhall gefunden 417 und wurde von einer Vielzahl von britischen Kommentatoren 418 und Politikern 419 bereitwillig, sowie Teilen der Richterschaft 420 – wenn auch hier eher zögerlich – rezipiert. Indem sich die Gewalten 414 Lord Irvine spricht von der Abkehr von einem Sovereigntist-Verständnis und dem Wechsel zu einem Constitutional-Verständnis, vgl. Lord Irvine of Lairg, Activism and Restraint: Human Rights and the Interpretative Process, (1999) 4 EHRLR 350. 415 Näher zu diesem Begriff, der Aspekte wie z. B. Verantwortung, Vertrauen, öffentliche Partizipation, Respekt für Menschenrechte, Transparenz und Effektivität enthält Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 367 ff. 416 Vgl. z. B. Dame Sian Elias, Sovereignty in the 21 st century: another spin on the merry-go-round, (2003) 14 Public LRev. 148 ff: „The view we have favoured in New Zealand is that a Bill of Rights does not entail a choice between parliament and the courts or elected politicians and non-elected judges. It is directed ‚at the law making process as a whole‘. The purpose is good government.“ Siehe auch Lord Woolf, Droit Public – English Style, [1995] P.L. 68, der z. B. die Gerichte und die Legislative „as being partners both engaged in a common enterprise“ ansieht. 417 Für die amerikanische Diskussion vgl. G. Calabresi, Foreword: Antidiscrimination and Constitutional Accountability (What the Bork-Brennan Debate Ignores), (1999) 113 Harvard LRev. 80; T. J. Peretty, In Defense of a Political Court, 1999, S. 55 –74. Für Kanada vgl. Kent Roach, Constitutional and Common Law Dialogues Between the Supreme Court and Canadian Legislatures, (2001) 80 Canadian Bar Rev. 507; Julie Jai, Policy, Politics and Law: Changing Relationships in Light of the Charter, (1996) 9 National Journal of Constitutional Law 13; Peter W. Hogg / Allison Bushell, The Charter Dialogue Between Courts and Legislatures (or perhaps the Charter of Rights isn’t such a bad thing after all), (1997) 28 Osgoode Hall Law Journal 75; Julie Debeljak, Rights Protection without Judicial Supremacy: A Review of the Canadian and British Models of Bills of Rights, (2002) 26 Melbourne University LRev. 285; Kent Roach, The Supreme Court on Trial – Judicial Activism or Democratic Dialogue, 2001. Für Israel, Australien und Neuseeland vgl. Aharon Barak, Foreword: A Judge on Judging – The Role of a Supreme Court in a Democracy, (2002) 116 Harvard LRev. 16; Leighton McDonald, New Directions in the Australian Bill of Rights Debate, [2004] P.L. 22; Dame Sian Elias, Sovereignty in the 21 st century: another spin on the merry-goround, (2003) 14 Public LRev. 148 ff. Vgl. auch Margit Cohn, Judicial Activism and the House of Lords: a Composite Constitutionalist Approach, [2007] P.L. 104 ff. zur britischen Debatte aus israelischer Sicht.
§ 10 Zwischenbetrachtung
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in einem Dialog engagieren und Legislative und Exekutive gehalten sind, ihre Maßnahmen zu rechtfertigen, kann die Judikative eine adäquate Beachtung der Konventionsrechte erwirken. Zugleich wird dabei dadurch, dass Elemente wie z. B. Partizipation, Deliberation und Aspekte der Gewaltenteilung in den Vordergrund rücken, der demokratische Prozess gefördert. 421 Idealiter bewirkt das 418
Vgl. Francesca Klug, The Human Rights Act – a ‚third way‚ or a ‚third wave‚ Bill of Rights, (2001) 6 EHRLR 361; dies., Judicial Deference under the Human Rights Act 1998, (2003) 8 EHRLR 125; Danny Nicol, Are Convention rights a no-go zone for Parliament? [2002] P.L. 438; ders., Statutory interpretation and human rights after Anderson, [2004] P.L. 274; ders., Gender Reassignment and the Transformation of the Human Rights Act, (2004) 120 L.Q.R. 194. R. A. Edwards, Judicial Deference under the Human Rights Act, (2002) 65 M.L.R. 895 weist darauf hin, dass der Human Rights Act 1998 einen bereits vor seiner Einführung bestehenden Dialog zwischen den Gewalten formalisiert und dieser Dialog demokratiefördernd wirke. Vgl. auch Keir Starmer, Two Years of the Human Rights Act, (2003) 8 EHRLR 14, Richard Clayton, Judicial Deference and ‚democratic dialogue‚: the legitimacy of judicial intervention under the Human Rights Act 1998, [2004] P.L. 33; Trevor R. S. Allan, Constitutional Dialogue and the Justification of Judicial Review, (2003) 23 OJLS 563; Tom R. Hickman, Constitutional Dialogue, Constitutional Theories and the Human Rights Act 1998, [2005] P.L. 306; Sandra Fredman, From Deference to Democracy: The role of equality under the Human Rights Act 1998, (2006) 122 L.Q.R. 53; eher kritisch Geoffrey Marshall, The United Kingdom Human Rights Act 1998, in: Vicki C. Jackson / Mark Tushnet (eds), Defining the Field of Comparative Constitutional Law, 2002, S. 107 – 114. 419 Der damalige Innenminister Jack Straw benutzte ausdrücklich die Metapher des „Dialogs“ im Zuge der Erläuterung seines Verständnisses von der Rolle und den Aufgaben der verschiedenen Gewalten in Hinblick auf die Anwendung des Human Rights Act 1998, vgl. HC Deb [UK] vol 214 col 1141, June 1998. 420 Für Lord Irvine stellt der constitutional dialogue zwischen den Gewalten den ausschlaggebenden Mechanismus zur Verwirklichung einer Menschenrechtskultur dar, vgl. Lord Irvine of Lairg, The Impact of the Human Rights Act: Parliament, the Courts and the Executive, [2003] P.L. 308; Lord Phillips bevorzugt den Ausdruck eines spirit of co-operation, vgl. Joint Committee on Human Rights, Minutes of Evidence taken on 26 March 2001 (HL 66-iii; HC 332-iii, 2001) Q. 78; Lord Lester spricht noch von shared sovereignty, vgl. Lord Lester of Herne Hill, The Human Rights Act – Five Years On, 25 th November 2003, verfügbar unter http:// www.hrla.org.uk/docs/lord%20lester.pdf; Lord Bingham hingegen ist nicht der Auffassung, dass es die Rolle der Gerichte sei, Teil eines Dialogs zu sein, vgl. Joint Committee on Human Rights, Minutes of Evidence taken on 26 March 2001 (HL 66-iii; HC 332-iii, 2001) Q. 78. 421 Siehe auch Richter Iacobucci (Kanada) in Vriend v Alberta [1998] 1 SCR 495 para 139: „To my mind, a great value of judicial review and this dialogue among the branches is that each of the branches is made somewhat accountable to the other. The work of the legislature is reviewed by the courts and the work of the court in its decisions can be reacted to by the legislature in passing of new legislation (...). This dialogue between and accountability of the branches have the effect of enhancing the democratic process not denying it.“ Zitiert nach Laws LJ in R (International Transport Roth GmbH) v Secretary of State for the Home Departement [2002] 3 WLR 344, 372. An dieser Stelle wird erneut die
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2. Teil: Die Einführung des Human Rights Act 1998
Konzept des constitutional dialogue somit eine Synthese aus parlamentarischer Demokratie und Grundrechtsschutz unter besonderer Betonung des politischen Elements. Inhaltliche Aspekte der Verfassungssouveränität sollen in einer der Tradition des Parlamentssouveränität entsprechenden Weise verwirklicht werden. Dieser Blickwinkel ermöglicht es, den Human Rights Act 1998 auch als ein Instrument zu verstehen, das weniger darauf gerichtet ist, bestimmte Bereiche der politischen Debatte zu entziehen, als vielmehr den Gerichten zu ermöglichen, an ihr teilzunehmen. Die Konturen des Konzepts des democratic bzw. constitutional dialogues und sein genauer Inhalt bleiben allerdings weiterhin vage; 422 als tragende Verfassungstheorie 423 bedarf sie der weiteren Präzision, 424 und von seiner vollständigen Etablierung kann noch keine Rede sein. Für hiesige Zwecke kann die Idee des constitutional dialogues jedoch als grober Standard dienen, an dem die Rechtsprechungspraxis gemessen werden kann, um das Ob und Wie der Verwirklichung des neuen Verfassungsverständnisses besser zu fassen. Wird das in den Bekenntnissen zum constitutional dialogue zum Ausdruck kommende Verfassungsverständnis durch die Rechtsprechungspraxis bestätigt?
Abkehr von einem Demokratieverständnis als reinem Mehrheitsprinzip deutlich. Allerdings ist der mit einem constitutional dialogue einhergehende Tranzparenzgewinn mit einem Rechtssicherheitsverlust verbunden, da die Relativität des Rechts offen zu Tage tritt. 422 So kann die Idee des constitutional dialogue insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Richterschaft sehr unterschiedlich verstanden werden: A) „principle-proposing“ dialogue: hiernach sind die Gerichte lediglich eine pressure group, die einen Vorschlag unterbreiten, von dem die Legislative legitimerweise abweichen kann; B) „strong-form“ dialogue, der einen Mittelweg zwischen der Variante A) und der völligen Ablehnung eines Dialogs zwischen den Gewalten darstellen soll und nach Hickman am besten der Struktur des Human Rights Act 1998 entspricht. Für die Details, vgl. Tom R. Hickman, Constitutional Dialogue, Constitutional Theorie and the Human Rights Act 1998, [2005] P.L. 306. 423 Kritisch diesbezüglich in der jüngeren Vergangenheit, Iacobucci und Arbour JJ in Doucet-Boudreau v Att-Gen (Nova Scotia) (2003) 232 DLR 577 at para. 53. Clayton hingegen sieht in ihr einen hilfreichen Ausgangspunkt für die Entwicklung einer umfassenden Theorie der Verfassungsrechtsprechung und weist zu Recht darauf hin, dass sauber zwischen ihrer deskriptiven und ihrer präskriptiven, d. h. normativen Komponente unterschieden werden sollte, vgl. Richard Clayton, Judicial Deference and „democratic dialogue“: the legitimacy of judicial intervention under the Human Rights Act 1998, [2004] P.L. 47. 424 Zum Wiedererstarken der Verfassungstheorie in der jüngeren Vergangenheit, vgl. Martin Loughlin, Constitutional Theory: A 25 th Anniversary Essay, (2005) 25 OJLS 183 ff.
3. Teil
Die Gegenbewegung der judicial deference? – Der Human Rights Act 1998 in der praktischen Anwendung Ziel des Human Rights Act 1998 ist es, den Konventionsrechten in einem System der Parlamentssuprematie größtmögliche Geltung zu verschaffen. Der Wille (des Parlaments) soll das letzte Wort haben, doch soll er von der Vernunft geleitet werden. 1 Dieses dem Human Rights Act 1998 inhärente Spannungsverhältnis verlangt nach einem permanenten Ausgleich zwischen Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip, Rechtsetzung und Rechtsprechung, Politik und Recht sowie Individuum und Gemeinschaft. Das alte Leitbild der Letztentscheidungsgewalt ist (weitgehend) dem funktionalen Dialog zwischen den Gewalten gewichen. Doch wie wird zwischen der Beachtung des Willens des demokratischen Gesetzgebers und den möglicherweise entgegenstehenden Erfordernissen der Konventionsrechte vermittelt? Wie kann eine unangemessene Verrechtlichung der Politik bzw. Politisierung des Rechts und der Richter verhindert werden? Wie wird zwischen verfassungsmäßigem Aufgabenbereich der Gerichte auf der einen und dem der Legislative auf der anderen Seite unterschieden, und welche Position nimmt Großbritannien in der intermediären Zone zwischen Parlaments- und Verfassungssouveränität letzten Endes ein? Die Lösung wird in der doctrine of deference gesucht, die – wie an späterer Stelle deutlich werden wird – in unlösbarem Verhältnis zu section 3 und section 4 des Human Rights Act 1998 steht und der das Potential zu einer Gegenbewegung innewohnt. Deference bedeutet wörtlich übersetzt Ehrerbietung oder Nachgiebigkeit und steht für eine zurückhaltende Haltung der Judikative gegenüber den demokratisch legitimierten Gewalten. Insofern lastet ihr der Prima-facie-Verdacht an, restauratorische Tendenzen zu verfolgen 2 und eine Gegenbewegung zum judicial activism darzustellen, der zur Einführung des Human Rights Act 1998 geführt hat. 1
Siehe oben § 8 IV.2.a)bb).
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Judicial deference ist ein schillernder, fast schon konturenloser Begriff mit vielen, sehr unterschiedlichen Bedeutungen. Die Ausdrücke judicial respect 3 oder judicial restraint 4 werden häufig als Synonym gebraucht. So kann z. B. sowohl Zurückhaltung gegenüber der Exekutive, d. h. bei der Kontrolle des Ermessensgebrauchs der Verwaltung, als auch gegenüber dem Gesetzgeber, z. B. im Sinne einer reduzierten Kontrolldichte bei der Überprüfung von Parlamentsgesetzen, gemeint sein. 5 Letzteres soll hier im Fokus der Untersuchung stehen und beispielhaft näher analysiert und bewertet werden. Es soll untersucht werden, wie und wo deference in der Rechtsprechungspraxis wirkt und inwieweit sie – wenn überhaupt – dem neuen Verfassungsverständnis des democratic dialogue entspricht oder vielmehr doch Ausdruck einer restaurato2 In dieser Hinsicht führt Weinrib aus: „Indeed, it [deference] is the evasion of constitutional standards. In Canada the call for deference has been a thinly masked attempt to resurrect the legislative state by reducing constitutional standards to empty shells.“ Lorraine E. Weinrib, Canada’s Constitutional Revolution: From Legislative to Constitutional State, (1999) 33 Israel LRev 49. 3 Vgl. Lord Woolf, European Court of Human Rights on the Occasion of the Opening of the Judicial Year, (2003) 8 EHRLR 257. 4 Die Begriffe judicial restraint und judicial activism wurden in den USA geprägt, wo auf anspruchsvolle Literatur in Bezug auf den Konflikt zwischen demokratischer Gesetzgebung und richterlichem Kontrollrecht zurückgeblickt werden kann, siehe z. B. zur „counter-majoritarian difficulty“ Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch – The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962. Zu dem Versuch der Überwindung der „counter-majoritarian difficulty“ mittels einer Theorie der Repräsentationsoptimierung siehe John Hart Ely, Democracy and Distrust. A Theory of Judicial Review, 1980; hierzu ausführlich Jörg Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2003; siehe auch Ulrich R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen. Das Bundesverfassungsgericht zwischen Populismus und Progressivismus, 1998, S. 256 ff. In der US-amerikanischen Verfassungstheorie hat das Schlagwort judicial restraint mangels normativer Leistungsfähigkeit der Rechtsfigur, ebenso wie in Deutschland, letztlich eine eher untergeordnete Rolle gespielt, vgl. Josef Isensee, Verfassung als „politisches Recht“, in: Josef Isensee / Paul Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, 1992, S. 103 ff. (§ 162, Rn. 88); Kostas Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 170 ff.; Jörg Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2003, S. 433 m.w. N. Vgl. auch Udo di Fabio, Das Recht offener Staaten. Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, 1998, S. 81. Die Begriffe judicial activism und judicial restraint wurden, ohne dass eine nennenswerte Auseinandersetzung mit ihrem amerikanischen Ursprung erkennbar wäre, in den britischen Sprachgebrauch übernommen und an dortige Gegebenheiten adaptiert. 5 Eine Differenzierung in dieser Hinsicht ist derzeit nicht erkennbar. Eine Tatsache, die ebenfalls zur genaueren Betrachtung einlädt, aber den Rahmen dieser Arbeit überschreitet.
§ 11 Zur Entwicklungsgeschichte der judicial deference
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rischen Tendenz, d. h. des alten Verfassungsverständnisses, ist. Die grundlegende Bedeutung der Anwendungspraxis des mit dem Begriff der judicial deference umschriebenen Konzepts durch die Gerichte formulierte Lord Steyn wie folgt: „The limits of deference observed in practice are of fundamental importance to the proper functioning of our democracy.“ 6
§ 11 Zur Entwicklungsgeschichte der judicial deference Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Richter schon frühzeitig zu einer Form von deference dem demokratischen Gesetzgeber gegenüber geäußert und diese für erforderlich gehalten haben.
I. Margin-of-Appreciation-Doktrin Ausgangspunkt war die „Margin-of-Appreciation-Doktrin“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. 7 Nach dieser Doktrin wird den nationalen Gesetzgebern und den Organen, welche die geltenden Gesetze auszulegen und anzuwenden haben, hinsichtlich der Frage der Einschränkbarkeit von Konventionsrechten ein gewisser Beurteilungsspielraum gewährt. Die „Margin-of-AppreciationDoktrin“ ist zwar nicht ausdrücklich im Text der Konvention verankert, hat sich aber mittlerweile in Verbindung mit den Schranken zu den Artikeln 8 bis 11 der EMRK etabliert. In Handyside v United Kingdom 8 wurde sie 1976 erstmals wie folgt erläutert: „By reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, State authorities are in principle in a better position than the international Judge to give an opinion on the (...) ‚necessity‘ of a ‚restriction‘ or ‚penalty‘ (...). It is for the national authorities to make the initial assessment of the reality of the pressing social need implied by the notion of ‚necessity‘ in this context (...). Consequently Article 10 (2) leaves to the Contracting States a margin of appreciation. This margin is given both to the domestic legislator (‚prescribed by law‘) and to the bodies, judicial amongst others, that are called upon to interpret and apply the laws in force.“
Der Inhalt der Doktrin hat sich im Laufe der Zeit fortentwickelt. Noch hat dieser Prozess keinen Abschluss gefunden. So ist der genaue dogmatische Gehalt der
6
Lord Steyn, Deference: A Tangled Story, [2005] P.L. 346. Hierzu Rainer Grote / Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, S. 370 ff. 8 [1976] 1 EHRR 737. 7
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Doktrin weder in der rechtswissenschaftlichen Diskussion noch in der Praxis der Straßburger Organe abschließend geklärt. 9 Für die britischen Gerichte bedeuten die durch die margin of appreciation gewährten Freiräume, dass es in weiten Bereichen der Konventionsrechtsprechung keine verwertbaren precedents gibt, sondern eigene Wertungen getroffen werden müssen. Somit stellt sich die Frage, durch wen diese Wertungen getroffen werden müssen, genauer gesagt, ob diese Wertungen aus Gründen der deference allein dem Parlament oder aber (auch) den Gerichten obliegen sollten. Relativ schnell wurde deutlich, dass eine direkte Übernahme der Straßburger Doktrin auf den Human Rights Act 1998 – die zur Folge gehabt hätte, dass die Gerichte in den von der margin of appreciation umfassten Bereichen keine bzw. eine nur noch sehr eingeschränkte Überprüfungskompetenz parlamentarischer Gesetze gehabt hätten – abgelehnt wurde, da die Rechtfertigung dieser Doktrin untrennbar mit der supranationalen Natur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verbunden ist. 10 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass selbst in demokratischen Staaten der Grad der Einschränkbarkeit von Grundrechten 9
Vgl. z. B. P. van Dijk / G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 1998, S. 82 ff.; Sven-Rüdiger Eiffler, Die Auslegung unbestimmter Schrankenbegriffe der Europäischen Menschenrechtskonvention – Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs der „Ordnung“, 1999, S. 40; Jeroen Schokkenbroek, The Basis of Nature and Application of the Margin of Appreciation Doctrine in the Case-Law of the European Court of Human Rights, (1998) 19 Human Rights Law Journal 30 f.; Paul Mahoney, The Doctrine of Margin of Appreciation under the European Convention on Human Rights: Its Legitimacy in Theory and Application in Practice, (1998) 19 Human Rights Law Journal 1 ff.; Urska Prepeluh, Die Entwicklung der Margin of Appreciation-Doktrin im Hinblick auf die Pressefreiheit, ZaöRV 61 (2001), 773. 10 So z. B. auch Lord Hope in R v DPP ex p Kebilene [2000] 2 AC 326, 380: „By conceding a margin of appreciation to each national system, the court has recognised that the Convention, as a living system, does not need to be applied uniformly by all states but may vary in its application according to local needs and conditions. This technique is not available to the national courts when they are considering Convention issues arising within their own countries.“ Lord Bingham in Brown v Stott [2003] 1 AC 681, 703: “Judicial recognition and assertion of the human rights defined in the Convention is not a substitute for the processes of democratic government but a complement to them. While a national court does not accord a margin of appreciation recognised by the European Court as a supra-national court, it will give weight to the decisions of a representative legislature and a democratic government within the discretionary area of judgment accorded to those bodies (...)“ Lord Steyn in Brown v Stott [2003] 1 AC 681, 842: „Under the Convention system the primary duty is placed on domestic courts to secure and protect Convention rights. The function of the European Court of Human Rights is essential but supervisory. In that capacity it accords to domestic courts a margin of appreciation, which recognises that national institutions are in principle better placed than an international court to evaluate local need and conditions. That principle is logically not applicable to domestic courts.“
§ 11 Zur Entwicklungsgeschichte der judicial deference
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variieren kann, und dass er selbst die lokalen Bedingungen und Umstände aufgrund seiner (örtlichen) Distanz nicht ermessen könne. Diese Argumentation ist auf den Human Rights Act 1998 jedoch nicht übertragbar. Vielmehr gewährt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den nationalen Gewalten eine weite margin of appreciation gerade, weil er davon ausgeht, dass es sowohl Präventivmaßnahmen zur Sicherung der Konventionsrechte bei Erlass eines Gesetzes als auch repressive Maßnahmen der judicial review gibt. 11 Trotz dieser Erkenntnis wurden immer mehr Stimmen laut, dass auch im nationalen Kontext ein Konzept von deference erforderlich sei, da die Gerichte in schwierigen Fällen ihre Wertung nicht an die Stelle der Legislative / Exekutive setzen dürften, sondern die Expertise der Exekutive bzw. die demokratische Legitimation der Legislative respektieren müssten.
II. Nationales Konzept der deference Vor diesem Hintergrund begann die Richterschaft, ein noch recht unstrukturiertes nationales Konzept von deference zu entwickeln. So führte Lord Hope bereits vor Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 in R v DPP ex parte Kebilene aus: „But in the hands of the national courts also the Convention should be seen as an expression of fundamental principles rather than as a set of mere rules. The questions which the courts will have to decide in the application of these principles will involve questions of balance between competing interests and issues of proportionality. In this area difficult choices may have to be made by the executive or the legislature between the rights of the individual and the needs of society. In some circumstances it will be appropriate for the courts to recognise that there is an area of judgment within which the judiciary will defer, on democratic grounds, to the considered opinion of the elected body or person whose act or decision is said to be incompatible with the Convention.“ 12
Ein derartiger Einschätzungsspielraum sei bei einschränkbaren Konventionsrechten eher anzunehmen als bei den absolut gewährten Rechten. Ein weiteres Vgl. auch Sir John Laws, The Limitations of Human Rights, [1998] P.L. 258; Lord Woolf, European Court of Human Rights on the Occasion of the Opening of the Judicial Year, (2003) 8 EHRLR 259 f. 11 European Commissioner for Human Rights (Opinion 1/2002, para. 9): „It is furthermore, precisely because the Convention presupposes domestic controls in the form of a preventive parliamentary scrutiny and posterior judicial review that national authorities enjoy a large margin of appreciation in respect of derogations. This is indeed, the essence of the principle of the subsidiarity of the protection of Convention rights.“ Zitiert nach A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56 para. 40. 12 R v DPP ex p Kebilene [2000] 2 AC 326, 380 f.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Abgrenzungskriterium sei der Kontext, in dem die Entscheidung zu fällen sei. Beträfe sie soziale oder ökonomische Fragen der Politik, sei ein weiter Einschätzungsspielraum gegeben, während in Bereichen von Verfassungsrelevanz oder solchen, in denen die Gerichte zu einer Entscheidung besonders geeignet sind, der Gestaltungsspielraum der Legislative / Exekutive eher beschränkt sei. In dem Fall Brown (Margaret Anderson) v Stott (PC) 13 bestätigt Lord Steyn, dass deference gegenüber dem Parlament vom Kontext der Entscheidung abhänge und zitiert Anthony Lester und David Pannick, um seine Auffassung zu konkretisieren: „Just as there are circumstances in which an international court will recognise that national institutions are better placed to assess the needs of society, and to make difficult choices between competing considerations, so national courts will accept that there are some circumstances in which the legislature and the executive are better placed to perform those functions.“ 14
Auf der Grundlage dieser obergerichtlichen Aussagen zu richterlicher deference unternimmt Sir John Laws in International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department 15 einen ersten Versuch der Systematisierung einer autonomen nationalen Doktrin der judicial deference und beschreibt vier grundlegende Prinzipien: 1. Gegenüber Entscheidungen des Parlaments sei mehr Zurückhaltung geboten als gegenüber Entscheidungen der Exekutive. Der Grund hierfür sei, dass der Human Rights Act 1998 bewußt die Doktrin der Parlamentssouveränität im britischen Verfassungsgefüge aufrechterhalte: „In our intermediate constitution the legislature is not subordinate to a sovereign text, as are the legislatures in ‚constitutional‘ systems. Parliament remains the sovereign legislator. It, and not a written constitution, bears the ultimate mantle of democracy in the state.“ 16
2. Bei einschränkbaren, d. h. nicht vorbehaltlos gewährten Konventionsrechten sei der Legislative bzw. Exekutive grundsätzlich ein größerer Gestaltungsspielraum zuzugestehen als bei unqualifizierten Konventionsrechten, da bereits die Konvention selbst eine Abwägung verschiedener Interessen verlange. 17 3. Der Grad der deference hänge von der Natur des Entscheidungsgegenstandes und der Frage ab, in wessen verfassungsmäßigen Zuständigkeitsbereich (constitutional responsibility) dieser Entscheidungsgegenstand falle: in den der Gerichte oder in den des Parlaments. Während Fragen der Verteidigung vor13
Brown (Magaret Anderson) v Stott [2003] 1 AC 681, 711. Anthony Lester / David Pannick, Human Rights Law and Practice, 1999, S. 74. 15 [2003] QB 728. 16 International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department [2003] QB 728, para. 83. 17 International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department [2003] QB 728, para. 84. 14
§ 11 Zur Entwicklungsgeschichte der judicial deference
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rangig (wenn auch nicht ausschließlich) eine Aufgabe des Parlaments seien, welche nicht auf ihre tatsächliche Zweckmäßigkeit von den Gerichten überprüft werden könnten, sei die wichtigste Aufgabe der Gerichte die Aufrechterhaltung der rule of law und der Bereich des Strafrechts. 18 4. Das vierte Prinzip steht in engem Zusammenhang mit dem dritten. Auch nach diesem Prinzip ist der Sachzusammenhang entscheidend für den Grad der deference. Je nachdem, ob den Gerichten oder dem Parlament die größere Expertise in dem betroffenen Gebiet zukommt, seien die Gerichte gehalten, mehr oder weniger deference walten zu lassen. So obliege die Entscheidung weitreichender und komplexer makroökonomischer oder sozialer Fragen in erster Linie dem Parlament und nicht den Gerichten. 19
III. Zusammenfassende Betrachtung Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen bereits, wie schwer es ist, die Gratwanderung zwischen Recht und Politik juristisch zu determinieren. Allerdings lassen sich schon in diesem frühen Stadium im Wesentlichen zwei grundlegende Argumentationsansätze herauskristallisieren, die die Debatte, wann die Gerichte gegenüber dem Parlament deference walten lassen sollten, dominieren: Zunächst wird – naheliegenderweise – die Natur des Konventionsrecht, d. h. schrankenloses oder einschränkbares Grundrecht, als entscheidend für die Reichweite der zu gewährenden deference angesehen. Darüber hinaus soll dem Kontext der Entscheidung große Bedeutung zukommen und zwar in zweierlei Richtung: Zum einen sollen aus verfassungsmäßigen Erwägungen der demokratischen Legitimation gewisse Entscheidungen dem Parlament vorbehalten bleiben. 20 Diese Argumentation atmet den Geist des alten Verfassungsverständnisses insofern, als dass sie den Aspekt, dass die Legislative weiterhin über dem Human Rights Act 1998 steht, besonders betont. Zum anderen sprechen pragmatische Gründe, z. B. der zur Verfügung stehende Sachverstand dafür, in bestimmten Situationen die Wertungen des Parlamentes unkontrolliert hinzunehmen. 21 Diese Argumentationsstruktur rekurriert nicht mehr
18 International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department [2003] QB 728, para. 85, 86. 19 International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department [2003] QB 728, para. 87. 20 Vgl. z. B. Lord Hope in R v DPP ex p Kebilene [2000] 2 AC 326; Sir John Laws in International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department [2003] QB 728.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
auf Erwägungen der demokratischen Legitimation, sondern auf die Idee der good governance. Allerdings ist die praktische Umsetzung dieser Grundregeln in der Rechtsprechungspraxis bisher alles andere als selbstverständlich, eindeutig oder kohärent. Insbesondere scheint sich noch kein klares Bewusstsein von den unterschiedlichen Wirkebenen der judicial deference etabliert zu haben: Setzt judicial deference bereits auf der section 3 inhärenten Normenkontrollebene oder erst bei der Abgrenzungsfrage von section 3 und section 4 an, oder wirkt sie gar an beiden Stellen? Im Folgenden sollen daher zur Beantwortung dieser Frage und zum besseren Verständnis der judicial deference im Allgemeinen anhand von ausgesuchten Beispielen aus der jüngeren Rechtsprechung sowohl Erscheinungs- und Wirkweise als auch Begründungsansätze der judicial deference untersucht werden.
§ 12 Judicial deference in der jüngeren obergerichtlichen Rechtsprechung I. Der 1. Schritt: Überprüfung eines herkömmlich ausgelegten Gesetzes am Maßstab der Konvention Wie zuvor dargestellt, 22 setzt sich die Struktur einer Section-3-Prüfung aus zwei Schritten zusammen. Der erste Schritt, die Prüfung des Gesetzes nach herkömmlicher Auslegung am Maßstab der Konvention, soll in all seinen verschiedenen Phasen auf Elemente der judicial deference hin untersucht werden. Grundsätzlich gehen die Gerichte dabei ähnlich einer deutschen Grundrechtsprüfung in einem zweistufigen Test vor, der zwischen der Prüfung eines Eingriffs in den Schutzbereich eines Konventionsrechts und seiner Rechtfertigung unterscheidet. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die im Vergleich zur kontinentaleuropäischen Praxis weniger von Systemdenken und dogmatischen Püfungsschemata als vielmehr vom Fallrechtsdenken geprägte Vorgehensweise der britischen Richter auch bei der Normenkontrolle niederschlägt. So wird die richterliche Rechtsprechungspraxis in ihrer Vorgehensweise vornehmlich durch die Auseinandersetzung und den Vergleich mit Präzedenzfällen bestimmt und strukturiert. Dies erschwert eine isolierte Betrachtung einzelner dem deutschen Juristen geläufiger Prüfungsschritte.
21 Vgl. z. B. Lord Steyn in Brown (Magaret Anderson) v Stott [2003] 1 AC 681; Sir John Laws in International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department [2003] QB 728. 22 Siehe oben § 8 III.2.b).
§ 12 Judicial deference in der obergerichtlichen Rechtsprechung
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Zudem sind deference und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz untrennbar miteinander verbunden, da das Maß an deference darüber entscheidet, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wurde. 23 Dadurch, dass sich in Großbritannien die richterliche Normenkontrolle – inklusive der ihr innewohnenden Verhältnismäßigkeitsprüfung – parallel zur Doktrin der judicial deference entwickelt, ist es nahezu unmöglich zu bestimmen, ob ein Gericht hinter dem aus deutscher Sicht zu erwartenden Prüfungsstandard aus Gründen der deference „bewusst“ oder aber nur deshalb zurückbleibt, weil sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bzw. die gesamte richterliche Normenkontrolle noch in einem Entwicklungsstadium befindet. Aus diesem Grund bezieht sich die folgende Untersuchung auf eine Auswahl von Urteilen, die entweder von der Richterschaft selbst oder aber von der akademischen Literatur ausdrücklich als Urteile mit Bezug zu Fragen der judicial deference angesehen werden und verschiedene Erscheinungsformen der judicial deference verdeutlichen. 1. R (on the application of Pretty) v Director of Public Prosecutions (HL 2001) a) Die Entscheidung des House of Lords In Pretty musste sich das House of Lords mit einem tragischen Fall befassen. Frau Pretty litt an einer unheilbaren Krankheit, die zu ihrem baldigen „distressing and humiliating“ Tod führen würde. 24 Geistig im Vollbesitz ihrer Kräfte, aber körperlich nicht mehr in der Lage, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, bat sie ihren Ehemann um Sterbehilfe. Dieser willigte unter der Bedingung ein, dass er nicht gemäß section 2 (1) des Suicide Act 1961 strafrechtlich verfolgt würde. Der Director of Public Prosecutions versagte jedoch eine derartige Zusage. Hierdurch sah sich Frau Pretty in ihren Konventionsrechten verletzt. Vor diesem Hintergrund musste sich das House of Lords u. a. mit der Frage befassen, ob das in section 2 (1) des Suicide Act 1961 ausnahmslos geregelte Verbot der Sterbehilfe gegen Artikel 2, 3, 8, 9 und 14 EMRK verstößt. Die Lordrichter kamen nach ausgiebiger Erörterung und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und anderer Common-Law-Gerichte einhellig zu dem Schluss, dass der Schutzbereich keines der von Frau Pretty angeführten Konventionsrechte (auch keine hieraus
23
Vgl. Paul Craig, The Courts, the Human Rights Act and Judicial Review, (2001) 117 L.Q.R. 595. 24 R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
möglicherweise entstehende Schutzpflicht des Staates) durch section 2 (1) des Suicide Act 1961 betroffen werde. Trotzdem befassten sich einige Lordrichter (Bingham, Hope, Steyn) mit der Frage, ob, wenn man einen Eingriff bejahen würde, dieser möglicherweise gerechtfertigt wäre. 25 Die Kontrolldichte bei der Beantwortung dieser Frage ist auffällig dünn. So stellt z. B. Lord Steyn lediglich fest: „It is a sufficient answer that there is a broad class of persons presently protected by section 2 who are vulnerable. It was therefore well within the range of discretion of Parliament to strike the balance between the interests of the community and the rights of individuals in the way reflected in section 2 (1).“ 26
Pretty wird gerne als ein Paradebeispiel für judicial deference auf der Normenkontrollebene bei Fällen mit moralisch / ethischem Bezug gesehen. 27 Hierbei wird insbesondere auf die einleitenden Worte von Lord Bingham oder Lord Hope vor Beginn ihrer Konventionsrechtsprüfung rekurriert. Dort weisen beide Lordrichter darauf hin, dass es nicht Sache der Gerichte sei, moralische oder ethische Fragen unter Zugrundelegung eigener Wertungen zu entscheiden. Vielmehr ginge es allein darum, das bestehende Recht festzustellen und anzuwenden. 28 Ebenso Lord Steyn, der ausführt, dass niemandem mit der bloßen Aufhebung der section 2 des Suicide Act 1961 gedient sei, sondern in diesem Fall vielmehr eine Art „Death with Dignity Act“ erforderlich sei, um das Problem eines angemessenen Umgangs mit unheilbar Kranken zu lösen. Eine derartige Regelung könne jedoch nicht Sache der Gerichte sein, sondern müsse Aufgabe des Parlaments bleiben: „Essentially, it must be a matter for democratic debate and decision making by legislatures.“ 29
25 Vgl. R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61 para. 26 –30, 62, 92 –97. 26 R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61 para. 62. 27 Vgl. Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 117 ff. 28 R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61 para. 2, 72, 85. Vgl. auch Lord Hobhouse of Woodborough in R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61 para. 120: „The conclusion is inescapable that both the nature of the questions raised by assisted suicide and the formulation of any new policies must under our system of parliamentary democracy be a matter for the legislature not the judiciary. For the time being, Parliament has spoken by including section 2 in the Suicide Act 1961. Any Amendment of that section and its terms would be a matter for Parliament.“ 29 R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61, para. 57.
§ 12 Judicial deference in der obergerichtlichen Rechtsprechung
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b) Anmerkung Diese Äußerungen enthalten zwar keinen zwingenden Beleg dafür, dass die Law Lords aus Gründen der judicial deference von der Annahme einer Schutzbereichsverletzung abgesehen haben. Jedenfalls aber lassen sie eine gewisse Scheu des Gerichts erkennen, einen möglicherweise angebrachten Reformprozess von gerichtlicher Seite durchzuführen bzw. durch eine Inkompatibilitätserklärung anzuregen. 30 Aus diesem Grund legt die Entscheidung in Pretty zumindest den Verdacht nahe, dass die Lordrichter aufgrund – aus ihrer Sicht – eingeschränkter Kompetenz bzw. Legitimation 31 zu der von ihnen getroffenen Entscheidung gelangt sind. Conor Gearty bemerkte diesbezüglich 32: „There can be little doubt that the judges perception of the limits of their judicial powers informed their analysis of the Convention rights and their application of those rights to the facts before them.“
Gleichwohl ist es aufschlussreich, sich zu vergegenwärtigen, dass bereits die Frage der Reichweite des Schutzbereichs eines Konventionsrechts 33 als eine Frage der judicial deference begriffen bzw. als in engem Zusammenhang mit ihr stehend betrachtet wird. Schon 1999 hat R. A. Edwards auf dieses enge Verhältnis zwischen Konventionsrechtsauslegung und judicial deference hingewiesen. 34 Seiner Meinung nach führt der nunmehr herrschende generous approach bei der Auslegung der Konventionsrechte zu einem relativ weiten Schutzbereich der Konventionsrechte. 35 Dies wiederum habe eine Lockerung des erforderlichen Rechtfertigungsstandards durch die Anwendung von judicial deference zur Folge. 30 „In these circumstances it is difficult to see how a process of interpretation of Convention rights can yield a result with all the necessary in built protections.“ R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61, para. 57 (per Lord Steyn). Die Möglichkeit einer Inkompatibilitätserklärung wird gar nicht thematisiert. 31 „The committee is not a legislative body. Nor is it entitled or fitted to act as moral or ethical arbiter“ R (on the application of Pretty) v DPP [2001] UKHL 61, para.2. Vgl. auch das oben angeführte Zitat in para. 57. 32 Vgl. Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 119. 33 Vgl. Paul Craig, The Courts, the Human Rights Act and Judicial Review, (2001) 117 L.Q.R. 592 ff. 34 R. A. Edwards, Generosity and the Human Rights Act: the right interpretation?, [1999] P.L. 400. 35 Dies entspricht der nicht unkritisch gesehenen Situation in Deutschland, wo ein weites Schutzbereichsverständnis eine Ausweitung der Eingriffe zur Folge hat, um notwendigen Regelungsbedürfnissen gerecht zu werden. Vgl. z. B. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, Verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik der gegenwärtigen Grundrechtsdogmatik, Der Staat 42 (2003), 167 ff.; zu den neueren Tendenzen in der deutschen Grundrechtsdogmatik, die eine Umstrukturierung des Schutzbereichs anstreben
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Da unter diesen Bedingungen eine Vorhersehbarkeit der Kontrolldichte kaum möglich sei, ist seiner Meinung nach der restriktivere purposive approach, der zu relativ gleichförmigen Rechtfertigungsanforderungen auf hohem Niveau führe und eine Doktrin der deference entbehrlich mache, vorzuziehen. Vor dem Hintergrund des democratic dialogue und einer culture of justification ist jedoch ein weiterer Schutzbereich zu begrüßen, der allerdings nur dann Sinn macht, wenn der Dialog nicht auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch eine reduzierte Kontrolldichte wieder untergraben wird. 2. Poplar Housing & Regeneration Community Association Ltd v Donoghue (CA 2001) a) Die Entscheidung des Court of Appeal In Poplar Housing gelangte der Court of Appeal zu der Auffassung, dass section 21 (4) des Housing Act 1996 in Frau Donoghues Recht gemäß Artikel 8 (1) EMRK auf ein home life eingreife. 36 Die Regelung des Housing Act 1996 erlaubte der Wohnungsgesellschaft, die von Frau Donoghue und ihren Kindern bewohnte Wohnung zwangsräumen zu lassen, da Frau Donoghue ihre Obdachlosigkeit vorsätzlich herbeigeführt hatte. Statt jedoch nunmehr in eine detaillierte Prüfung der Rechtfertigung dieses Konventionsrechtseingriffs einzusteigen, übernahm das Gericht mit einem Minimum an Argumenten ohne nähere Prüfung die in dem Gesetz zum Ausdruck kommende Wertung des Parlaments. So war Lord Woolf der Auffassung, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen weitreichende und komplexe politische Entscheidungen in ökonomischer und anderer Hinsicht erforderlich sind, das Gericht den vom Parlament getroffenen Entscheidungen mit deference begegnen müsste. So beträfe die Frage, ob section 21 (4) „legitimate and proportional“ sei „(...) the area of policy, where the court should defer to the decision of Parliament. We have come to the conclusion that there was no contravention of article 8 (...).“ 37
siehe Dietrich Murswiek, Grundrechtsdogmatik am Wendepunkt?, Der Staat 45 (2006), 473 ff. 36 Poplar Housing & Regeneration Community Association Ltd v Donoghue [2002] QB 48. 37 Poplar Housing & Regeneration Community Association Ltd v Donoghue [2002] QB 48, 71.
§ 12 Judicial deference in der obergerichtlichen Rechtsprechung
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b) Anmerkung Poplar ist somit ein Beispiel dafür, wie judicial deference zu einer praktisch vollständigen Aufgabe der richterlichen Kontrollfunktion führen kann. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung findet nicht mehr statt. Da die Entscheidung von Fragen mit sozioökonomischer Relevanz more appropriate für das Parlament als für die Gerichte sei, unterstellt der Court of Appeal im Wesentlichen, dass die vom Parlament gewählten Mittel zur Verfolgung eines legitimen Ziels verhältnismäßig und daher konventionskonform gewesen seien. Durch eine derartige Vorgehensweise wird eine culture of justification weitgehend obsolet. Auf die Gefahren eines derartigen Verständnisses von deference wurde bereits 1995 von Justice McLachlin in RJR MacDonald v Canada (Ca) hingewiesen: „Care must be taken not to extend the notion of deference too far. Deference must not be carried to the point of relieving the government of the burden which the Charter places upon it of demonstrating that the limits it has imposed on guaranteed rights are reasonable and justifiable. Parliament has its role: to choose the appropriate response to social problems within the limiting framework of the Constitution. The courts are no more permitted to abdicate their responsibility than is Parliament. To carry judicial deference to the point of accepting Parliament’s view simply on the basis that the problem is serious and the solution difficult, would be diminish the role of the courts in the constitutional process and to weaken the structure for rights upon which our constitution and our nation is founded.“ 38
Obwohl bzw. gerade weil die kanadische Charter of Rights and Freedoms 1982 stärkere Elemente einer constitutional supremacy enthält als der Human Rights Act 1998, 39 sind die von Justice McLachlin getroffenen Aussagen auf das britische System übertragbar, wenn nicht sogar von noch größerer Bedeutung. Da ein gewisses Maß an deference dem Parlament gegenüber schon der unverbindlichen Inkompatibilitätserklärung nach section 4 Human Rights Act 1998 inhärent ist, ist die Gefahr groß, dass jedwede weitere Zurückhaltung der Gerichte die Bedeutung der Konventionsrechte systemwidrig unterminiert. 3. R (on the application of ProLife Alliance) v BBC (HL 2003) Der Pro-Life-Alliance-Fall ist ein vielschichtiger und komplexer Fall, der eine Reihe von interessanten rechtlichen Fragen aufwirft. 40 In dem hier interessierenden Kontext kann er als ein anschauliches Beispiel für die unterschiedliche Herangehensweise der Lordrichter an die judicial review of le38 RJR MacDonald v Canada [1995] 3 SCR 199, para. 136; Richard A. Edwards, Judicial Deference under the Human Rights Act, (2002) 65 M.L.R. 869. 39 Siehe unten § 15 I.1.a). 40 [2003] UKHL 23.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
gislation im Rahmen der Verwaltungskontrolle dienen. Darüber hinaus bietet Lord Hoffmanns Diktum neben vertiefenden allgemeinen Ausführungen zur judicial deference ein Beispiel für eine eher reduzierte Kontrolldichte auf der Rechtfertigungsebene eines Konventionsrechtseingriffs aus Gründen der deference. a) Die Entscheidung des House of Lords Pro Life ist eine politische Partei, deren Programm ausschließlich auf die Abschaffung von Abtreibungen gerichtet ist. Angesichts ihrer Wahlerfolge in Wales stand Pro Life das Recht auf einen knapp fünfminütigen Wahlwerbespot zu. Das von Pro Life eingereichte Video, das drastische aber der Wirklichkeit entsprechende Szenen einer Abtreibung enthielt, wurde von der BBC mit der Begründung abgewiesen, es entspräche nicht den (u. a.) nach section 6 (1) (a) Broadcasting Act 1990 41 erforderlichen Standards des guten Geschmacks (good taste) und Anstands (decency). 42 Pro Life ersuchte daraufhin das Gericht um judicial review der Entscheidung des Senders, ohne jedoch die Konventionskompatibilität der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Norm explizit in Frage zu stellen. Der Court of Appeal kam zu dem Schluss, dass die Entscheidung der BBC gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung der Partei gemäß Artikel 10 EMRK verstoße. Das House of Lords hingegen entschied – abgesehen von Lord Scott 43 – im Sinne der BBC. 44
41 Diese section verlangt von dem Sender unabhängig davon, ob es sich um eine Wahlwerbesendung oder ein sonstiges Programm handelt, dass „(...) nothing is included in its programs which offends against good taste or decency or is likely to encourage or incite to crime or to lead to disorder or to be offensive to public feeling (...)“. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass streng genommen nicht section 6 (1) (a) Broadcasting Act 1990, sondern vielmehr der damit identische Paragraph 5 (1) (d) des BBC Abkommens mit dem Secretary of State die rechtliche Grundlage für die Entscheidung des Senders gewesen ist. Dieser Umstand war für die Lordrichter jedoch nicht von weiterer Relevanz. 42 An dieser Entscheidung änderte auch der Umstand nichts, dass sich Pro Life anbot, dem Werbespot eine Warnung vorauszuschicken und ihn erst nach 22 Uhr senden zu lassen. 43 Zwar setzt sich Lord Scott nicht mit der Konventionskompatibilität der der Entscheidung zugrunde liegenden Regelung auseinander, hinsichtlich der Frage der deference gegenüber der Exekutive schlägt er jedoch einen eindeutigen Weg ein. So ist sein Diktum von der völligen Abwesenheit jedweder Bezüge zu deference geprägt. Vielmehr verlangt er von den Entscheidungsträgern die Anwendung eines normativen Konzeptes hinsichtlich der Frage, wann eine Sendung als offensive einzustufen sei. Es sei nicht so sehr die Frage, ob die Sendung anstößig auf die Zuschauer wirke, sondern vielmehr, ob sie sich beleidigt oder verletzt fühlen durften, was er im vorliegenden Fall verneint: „Indeed, in my opinion, the public in a mature democracy are not entitled to be offended by the broadcasting of such a programme.“ R (on the application of ProLife Alliance) v BBC [2003] UKHL 23, 98. 44 Hierzu kritisch E. Barendt, Free speech and abortion, [2003] P.L. 580 –591; Lord Lester, The Human Rights Act 1998 – Five Years On, Third Annual Lecture of the Bar Council
§ 12 Judicial deference in der obergerichtlichen Rechtsprechung
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Während Lord Nicholls und der ihm zustimmende Lord Millet sich entsprechend der herkömmlichen Verwaltungsrechtsprechung ausschließlich auf die Frage beschränken, ob die streitgegenständliche Entscheidung der BBC sich im Rahmen des Gesetzes(-wortlauts) bewegt, befasst sich Lord Hoffmann als einziger der Richter ausführlicher mit der Frage, ob bereits die der Entscheidung zugrunde liegende Regelung konventionskonform sei. 45 Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Pro-Life-Partei im vorliegenden Fall nicht so sehr ein Abwehrrecht als vielmehr ein Teilhabe- bzw. Leistungsrecht geltend macht, stellt sich für ihn die entscheidende Frage, ob der Standard von good taste und decency ein willkürliches oder unvernünftiges Abgrenzungskriterium dafür sei, einer politischen Partei in Wahlzeiten den freien Zugang zu einem öffentlichen Medium wie dem Fernsehen zu verwehren. Im Ergebnis gelangt er zu dem Schluss, dass die Entscheidung des Parlaments, die öffentliche Meinung bei der Verfolgung von Freiheiten nicht völlig außer Acht zu lassen und daher die Ausstrahlung eines Wahlwerbespots an die Voraussetzung der Wahrung von good taste und decency zu knüpfen, für das Parlament in seiner Funktion als Repräsentant des Volkes eine völlig zutreffende gewesen sei. Sie enthalte keinen willkürlichen oder unreasonable Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung. 46 Lord Hoffmann lässt dem Parlament somit auf der Rechtfertigungsebene einen vergleichsweise weiten Einschätzungsspielraum und nimmt diese Entscheidung zum Anlass, sich ausführlicher und strukturiert mit der Frage der judicial deference auseinanderzusetzen. b) Lord Hoffmann und judicial deference Zunächst einmal hält Lord Hoffmann den Begriff deference für unzutreffend bzw. unpassend, da die Abgrenzung der Gewalten in einer der rule of law und der Gewaltenteilung verpflichteten Staatsform keine Frage der Unterwürfigkeit, sondern vielmehr eine Frage des Rechts sei. 47 Dies bedeute unausweichlich, dass die Gerichte selbst über die Grenzen ihrer Entscheidungsmacht befinden müssten. Law Reform Committee, 25 th November 2003, verfügbar unter http://www.hrla.org.uk/ docs/lord%20lester.pdf. 45 Lord Walker setzt sich ausführlicher mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Entscheidung des Senders auseinander und stimmt Sir John Laws dahingehend zu, dass bei einschränkbaren Konventionsrechten ein geringeres Maß an richterlicher Kontrolldichte angemessen sei. Vor diesem Hintergrund gelangt er zu dem Schluss, dass die Entscheidung der BBC nicht zu beanstanden sei. 46 R (on the application of ProLife Alliance) v BBC [2003] UKHL 23, para. 77. 47 R (on the application of ProLife Alliance) v BBC [2003] UKHL 23, para. 75.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
„The principles upon which decision-making powers are allocated are principles of law. The courts are the independent branch of government and the legislature and executive are, directly and indirectly respectively, the elected branches of government. Independence makes the courts more suited to deciding some kinds of questions and being elected makes the legislature or executive more suited to deciding others. The allocation of these decision-making responsibilities is based upon recognised principles. The principle that the independence of the courts is necessary for a proper decision of disputed legal rights or claims of violation of human rights is a legal principle. It is reflected in article 6 of the Convention. On the other hand, the principle that majority approval is necessary for a proper decision on policy of allocation of resources is also a legal principle. 48 Likewise, when a court decides that a decision is within the proper competence of the legislature or executive , it is not showing deference. It is deciding the law.“ 49
Für Lord Hoffmann ist die Frage der deference somit eine Frage des Rechts, die auf der Basis anerkannter rechtlicher Prinzipien von Richtern zu entscheiden sei. 50 Gemäß dieser rechtlichen Prinzipien – und in offensichtlicher Anlehnung an die klassische Dworkin’sche Unterscheidung von principle und policy 51 – sei die Richterschaft aufgrund ihrer Unabhängigkeit zu der Entscheidung bei umstrittenen (Menschen-)Rechten befugt, während die Legislative / Exekutive aufgrund ihres 48 Diesbezüglich führt Lord Hoffmann allerdings keine Begründung an, sondern beschränkt sich auf die bloße Behauptung. 49 R (on the application of ProLife Alliance) v BBC [2003] UKHL 23, para.76. 50 Hierzu kritisch Jowell: „In so far as the courts (...) concede competence to another branch of government, it seems to me that such a concession is not a matter of law, nor based upon any legal principle as Lord Hoffmann contends. Lord Hoffmann is right that it is for the courts to decide the scope of rights, but there is no magic formula to identify the ‚discretionary area of judgment‘ available to the reviewed body. In deciding whether matters such as national security, or public interest, or morals should be permitted over a right, the courts must consider not only the rational exercise of discretion by the reviewed body but also the imperatives of a rights-based democracy. In the course of some of the steps in the process of this assessment the courts may properly acknowledge their own institutional limitations. In doing so, however, they should guard against the presumption that matters of public interests are outside their competence and be ever aware that they are now the ultimate arbiters (although not ultimate guarantors) of the necessary qualities of a democracy in which the popular will is no longer always expected to prevail.“ Jeffrey Jowell, Judicial Deference: servility, civility or institutional capacity, [2003] P.L. 599; zustimmend Lord Steyn, Deference: A Tangled Story, [2005] P.L. 355 ff., der darauf hinweist, dass es eher eine rechtliche Verpflichtung der Gerichte unter der Konvention sei, darüber zu befinden, ob die Kriterien für die Rechtfertigung eines Konventionsrechtsverstoßes erfüllt sind: „Indeed it is the very ethos of the ECHR that the courts will be the arbiters of these criteria.“ Für ihn ist deference keine Frage des Rechts, sondern eine Frage der discretion. Sowohl Lord Steyn als auch Jowell präferieren einen sogenannten balanced approach. Danach ist grundsätzlich alles justiziabel, es stehe aber im „Ermessen“ (discretion) der Gerichte, in besonderen Einzelfällen aufgrund relativer „institutional competence or capacity“ deference walten zu lassen. 51 Vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, S. 22 ff.
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demokratischen Pedigrees und ihrer Verantwortlichkeit für die Entscheidung politischer Fragen bzw. Fragen der Daseinsvorsorge und Leistungsverwaltung (allocation of resources) prädestiniert sei. 52 Der Vorrang des sogenannten democratic principle liegt für Lord Hoffmann, nicht so sehr in der sogenannten institutional capacity des Parlaments bzw. der Exekutive, d. h. in ihrer speziellen Expertise, als vielmehr in ihrer constitutional capacity, d. h. in der ihnen durch die Mehrheitswahl und den Umstand, dass sie zu politischer Verantwortung gezogen werden können, verliehenen Legitimität begründet. Die Auffassung, dass die Entscheidung von Fragen der Politik und Daseinsvorsorge (d. h. policy and resource allocation) einer demokratischen Legitimierung bedürfen, führte Lord Hoffmann bereits in Rehman 53 aus: „(...) [Legitimacy] can be conferred only by entrusting them [the decisions] to persons responsible to the community through the democratic process. If people were to accept the consequences of such decisions, they must be made by persons whom the people have elected and whom they can remove.“ 54
Vor diesem Hintergrund erachtet Lord Hoffman in Pro Life eine bloße Willkürbzw. „Reasonableness“-Kontrolle für ausreichend. c) Anmerkung Überträgt man Lord Hoffmanns Ansatz hinsichtlich judicial deference auf einschränkbare Konventionsrechte (z. B. Art. 8 bis 11 EMRK) – deren Schranken naturgemäß Ausdruck politischer Fragen sind, die das öffentliche Interesse betreffen (matters of policy) – so hätte diese Unterscheidung in letzter Konsequenz zur Folge, dass die Gerichte in all diesen Fällen aus Rechtsgründen immer deference walten lassen müssten, was angesichts des Sinn und Zwecks des Human Rights Act 1998 zu einer unangemessenen Reduzierung des Einflusses der Konventionsrechte führen würde. Vor diesem Hintergrund ist Lord Hoffmanns Ansatz daher mehrfach kritisiert worden. 55
52
Lord Steyn weist zu Recht darauf hin, dass ihm keine Rechtsquelle bekannt sei, die diese Behauptung Lord Hoffmanns belege, vgl. Lord Steyn, Deference: A Tangled Story, [2005] P.L. 356. 53 Secretary of State for the Home Department v Rehman [2003] 1 AC 153. 54 Secretary of State for the Home Department v Rehman [2003] 1 AC 153, para. 62. 55 Vgl. z. B. Lord Steyn, Deference: A Tangled Story, [2005] P.L. 354 ff.; Jeffrey Jowell, Judicial deference: servility, civility or institutional capacity, [2003] P.L. 593 ff. Den Vorrang des democratic principle bei Policy-Entscheidungen stützend hingegen, Sir John Laws in International Transport Roth GmbH & Secretary of State for the Home Department [2003] QB 278, para. 85 ff. und Lord Woolf in Regina v Lambert [2002] 2 AC 545.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Zwar ist auch Lord Hoffmann der Auffassung, dass es gewisse Rechte des Individuums gebe, die dem Zugriff der Mehrheit entzogen seien. 56 Gleichwohl findet sich in seinen Urteilen bzw. außergerichtlichen Äußerungen eine grundlegende Vorsicht hinsichtlich eines zu weitreichenden Gebrauchs richterlicher Kontroll-, d. h. Entscheidungsbefugnisse: „The courts should not, under cover of interpretation of the human rights of the individual, make decisions about what the general public interest requires. There is no individual right to have the law changed to accord with the court’s perception of the general public interest. Once this happens, we have government by judges rather than government by people.“ 57 „It is (...) a great mistake to suppose that incorporation of the Convention in the Human Rights Act 1998 means that those matters in respect of which the Strasbourg court has allowed or would allow the United Kingdom a margin of appreciation will now be decided by the courts of this country. The constitutional tradition of this country is that such choices are a matter for Parliament, and there is nothing in the Human Rights Act which requires the courts to assume a power to make them instead. In saying this, I am not referring only to the technical rule that, under the Act, the courts cannot declare an Act of Parliament void but can make only a declaration that it does not comply with the Convention. I mean that the very question of whether a law complies with the Convention will often involve a recognition that there are no clear cut and certain answers, that difficult choices are at stake, and that the proper body to make these choices is Parliament.“ 58
Sein Diktum in Pro Life verdeutlicht, wie judicial deference zu einer reduzierten Kontrolldichte auf der Rechtfertigungsebene führen kann. Im Hinblick auf den angestrebten Dialog zwischen den Gewalten als Grundlage eines neuen Verfassungsmodells ist eine zu weitreichende Zurückhaltung der Richterschaft jedoch grundsätzlich kontraproduktiv, da die Anforderungen an die Legislative, einen Konventionsrechtseingriff gegenüber anderen Gewalten zu rechtfertigen, reduziert werden. 4. A v Secretary of State for the Home Department (HL 2004) A – auch als Belmarsh case bekannt – ist hingegen ein Beispiel für ein vergleichsweise hohes Maß an Kontrolldichte im Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Gesetzes. 59 Dies ist allerdings (auch) den besonderen Umständen dieses Falls geschuldet. So fand der Konventionsrechtseingriff auf der Basis von Artikel
56 R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions, ex p Holdings & Barnes Plc [2001] UKHL 23 at 62 (Alconbury Case). 57 Lord Hoffmann, Separation of Powers, [2002] Judicial Review 137. 58 Lord Hoffmann, Bentham and Human Rights, (2001) 54 Current Legal Problems 73. 59 [2004] UKHL 56.
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15 EMRK 60 statt, der bereits dem Wortlaut nach eine besonders hohe Kontrolldichte (strictly required) nahe legt. 61 a) Die Vorgeschichte des Falls Angesichts der Geschehnisse im September 2001 kam die britische Regierung – als einzige in Europa – zu dem Schluss, dass eine terroristische Bedrohung von bestimmten, sich im Inland befindlichen Ausländern ausgehe, die als public emergency im Sinne von Artikel 15 (1) EMRK zu qualifizieren sei. Im November 2001 stimmte das Parlament auf der Basis von Artikel 15 EMRK einer Abweichung von Artikel 5 (1) (f) EMRK zu. Die Human Rights Act 1998 (Designated Derogation) Order 2001 62 trat am 13. November 2001 in Kraft und der Antiterrorism, Crime and Security Act 2001 63 wurde erlassen. Section 23 64 dieses Gesetzes erlaubt es, unter Abweichung von Artikel 5 (1) (f) EMRK ausländische Personen, die in dem Verdacht stehen, terroristische Aktivitäten auszuüben, aber aus rechtlichen oder praktischen Gründen nicht ausgewiesen werden können, auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren. 65 60
Art. 15 (1) EMRK lautet: „In time of war or other public emergency threatening the life of the nation any High Contracting Party may take measures derogating from its obligations under this Convention to the extent strictly required by the exigencies of the situation (...).“ 61 Zur umstrittenen Rechtsnatur der Derogation vgl. Tom R. Hickman, Between Human Rights and the Rule of Law: Indefinite Detention and the Derogation Model of Constitutionalism, (2005) 68 M.L.R. 657 ff. m. w. N. Nach dem sogenannten limitation model stellt die Derogation dem Grunde nach eine Konventionsrechtsschranke wie viele andere auch dar. Der erforderliche „state of emergency“ fungiert somit als Rechtfertigung für den Konventionsrechtseingriff. Nach dem von Hickman favorisierten derogation model entlässt sie hingegen den Staat aus der Verpflichtung, die Konventionsrechte zu beachten (emergency exit des Staates hinsichtlich der Konventionsverpflichtungen). Insofern stellt das Erfordernis eines öffentlichen Notstands keine Rechtfertigung für einen Konventionsrechtseingriff dar, sondern betrifft die Frage, ob überhaupt eine Rechtfertigung notwendig ist. Nach diesem Verständnis unterliegt eine Maßnahme auf der Basis von Art. 15 EMRK zwar keiner rechtlichen Supervision, jedoch einer Kontrolle am Maßstab der Konvention. Rule of law und das Konventionsrechtsregime sind demnach nicht deckungsgleich. 62 Order 2001 No. 3644. 63 Abrufbar unter: http://www.opsi.gov.uk/acts/acts2001/20010024.htm. Zum Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 siehe z. B. Adam Tomkins, Legislating against terror: the Anti-Terrorism, Crime and Security Act 2001, [2002] P.L. 205 ff. 64 Vgl. section 23 (1) Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001: „(1) A suspected international terrorist may be detained under a provision specified in subsection (2) despite the fact that his removal or departure from the United Kingdom is prevented (whether temporarily or indefinitely) by – (a) a point of law which wholly of partly relates to an international agreement, or (b) a practical consideration. (...).“
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b) Die Entscheidung des House of Lords Die Revisionsführer in A, alles „zertifizierte“, des Terrorismus verdächtigte Ausländer 66 wandten sich gegen die Entscheidung des Court of Appeal, 67 in der festgestellt wurde, dass ihre Inhaftierung gemäß section 23 des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 keine Verletzung ihrer Konventionsrechte darstelle. Die Special Immigration Appeal Commission, deren Entscheidung durch den Court of Appeal aufgehoben wurde, war dagegen zu dem Schluss gekommen, dass section 23 des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 unvereinbar mit Artikel 5 und Artikel 14 EMRK sei. Die Revisionsführer brachten im Wesentlichen vor, dass die Derogation von der Konvention unzulässig sei, da kein das Leben der Nation bedrohender Notstand gemäß Artikel 15 EMRK gegeben sei. Darüber hinaus sei die Derogation unverhältnismäßig, da das gesetzgeberische Ziel mit milderen, d. h. weniger die Freiheit der Person einschränkenden Mitteln hätte erreicht werden können. Abgesehen davon diskriminiere section 23 des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 Personen aufgrund ihrer Eigenschaft als Ausländer, da das Gesetz keine Inhaftierung von britischen Terrorismusverdächtigen vorsehe. Das House of Lords gab bis auf Lord Walker 68 der Revision einstimmig statt. 69 Die Derogation Order wurde aufgehoben und section 23 des Anti-terrorism, 65 Aus der umfangreichen Literatur zur allgemeinen Diskussion zum Kampf gegen den Terrorismus in Großbritannien siehe z. B. Conor Gearty, Can Human Rights survive?, 2005; Baroness Helena Kennedy, Legal Conundrums in our Brave New World, 2004, S. 1 ff., Rainer Grote, Country Report on the United Kingdom, in: Christian Walter u. a. (eds.), Terrorism as a Challenge for National and International Law: Security versus Liberty?, 2004, S. 591 ff.; Justice Arden, Human rights and terrorism, in: Stephan Breitenmoser (Hrsg.), Human rights, democracy and the rule of law: liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 21 ff.; Clive Walker, Prisoner of „war all the time“, (2005) 10 EHRLR 50 ff.; Brice Dickson, Law versus terrorism: can law win?, (2005) 10 EHRLR 11 ff. Aus amerikanischer Perspektive: Bruce Ackermann, Before the Next Attack – Preserving Civil Liberties in an Age of Terrorism, 2006; für eine kritische Auseinandersetzung hiermit vgl. Tom R. Hickman, Rezension von Bruce Ackermann, Before the Next Attack – Preserving Civil Liberties in an Age of Terrorism, 2006, in: [2007] P.L. 181 ff. 66 Vgl. section 21 (1) Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001: „(1) The Secretary of State may issue a certificate under this section in respect of a person of the Secretary of State reasonably – (a) believes that the person’s presence in the United Kingdom is a risk to national security, and (b) suspects that the person is a terrorist. (...)“ 67 [2002] QB 335. 68 Lord Walker kam im Gegensatz zu seinen Kollegen zu dem Schluss, dass die Derogation und die damit einhergehenden Maßnahmen weder unverhältnismäßig noch diskri-
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Crime and Security Act 2001 als unvereinbar mit Artikel 5 und Artikel 14 EMRK erklärt. 70 aa) Lord Bingham Lord Bingham, Verfasser des Leiturteils, befasste sich zunächst mit der Frage, ob ein das Leben der Nation bedrohender Notstand gegeben war. 71 Unter Berücksichtigung verschiedener Präzedenzfälle kam er zu dem Schluss, dass die Regierung und das Parlament angesichts der gegebenen tatsächlichen Umstände von einer public emergency ausgehen durften. 72 In diesem Zusammenhang setzte er sich mit der Frage auseinander, wieviel Gewicht das Gericht der Einschätzung der Regierung und des Parlamentes bei der Bewertung eines derartigen Notstands geben sollte, angesichts des Umstands, dass es sich hierbei um eine dem Wesen nach politische Entscheidung handele. „It involved making a factual prediction of what various people around the world might or might not do, and when (if at all) they might do it, and what consequences might be if they did. Any prediction about the future behaviour of human beings (as opposed to the phases of the moon or high water at London Bridge) is necessarily problematical. Reasonable and informed minds may differ, and a judgement is not shown to be wrong or unreasonable because that which is thought likely to happen does not happen. It would be irresponsible not to err, if at all, on the side of safety.“ 73 minierend seien, und votierte daher dafür, die Revision zurückzuweisen, vgl. A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 209 ff. 69 Die Bedeutung des Falls spiegelt der Umstand wieder, dass das House of Lords in seiner vollen Besetzung, d. h. mit neun Richtern, entschied. Dies ist seit dem Zweiten Weltkrieg bisher nur ein weiteres Mal vorgekommen. 70 Als Reaktion auf die Unvereinbarkeitserklärung wurde der Prevention of Terrorism Act 2005 erlassen, der dem Secretary of State ebenfalls weitreichende, die Freiheit der Person beschränkende, Befugnisse verleiht, die jedoch nunmehr Briten wie Ausländer betreffen. Vgl. Sandra Fredman, From deference to democracy: The role of equality under the Human Rights Act 1998, (2006) 122 L.Q.R. 70. Zu der Entscheidung vgl. auch Andrew Blick / Ian Byrne / Stuart Weir, Democratic Audit: Good Governance, Human Rights, War against Terror, (2005) 58 Parliamentary Affairs 418 f.; Sue Prince, Law and Politics: Rumours of the Demise of the Lord Chancellor have been exaggerated ..., (2005) 58 Parliamentary Affairs 252 ff.; Justice Arden, Human Rights in the Age of Terrorism, (2006) 121 L.Q.R. 604 ff. 71 A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 26 –29. 72 Zur Frage, warum überhaupt eine Überprüfung am Maßstab von Art. 15 EMRK erfolgte, obwohl dieser nicht ausdrücklich durch den Human Rights Act 1998 „inkorporiert“ wurde: Adam Tomkins, Readings of A v Secretary of State for the Home Department, [2005] P.L. 260. 73 A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 29. Sollte Lord Bingham mit diesem Satz einen allgemeinen Vorrang von Sicherheit vor individueller Freiheit andeuten wollen, wäre dies höchst bedenklich.
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Obwohl Lord Bingham ebenfalls der Meinung ist, dass politische Fragen in erster Linie von den politischen Institutionen zu entscheiden seien, während den Gerichten die Entscheidung rechtlicher Fragen obläge, 74 teilt er nicht das vom Attorney General vorgebrachte Argument, dass die Gerichte aus demokratischen Gründen gegenüber dem Parlament bzw. der Exekutive deference walten lassen müssten. Vielmehr stellt sich für ihn das Problem als eine Frage der Abgrenzung der verschiedenen Funktionen der Gewalten, d. h. der „relative institutional competence“, dar. 75 Vor diesem Hintergrund kommt er – wenn auch zögerlich – zu dem Schluss, dass das Vorbringen der Revisionsführer die Einschätzung der Regierung im Hinblick auf das Vorliegen einer public emergency nicht zu erschüttern vermag. 76 Anschließend wendet er sich der Frage der Verhältnismäßigkeit der Derogation zu, wobei er in diesem Rahmen auch die Verhältnismäßigkeit der section 23 prüft. Nach eingehender Analyse nationaler, europäischer und ausländischer CommonLaw-Rechtsprechung gelangt er zu der Überzeugung, dass zumindest in Bereichen, in denen die Freiheit des Individuums bedroht ist, für eine doctrine of deference kein Platz ist und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme voll überprüfbar ist. Insbesondere hält er den Vorwurf, dass derartige gerichtliche Entscheidungen undemokratisch seien, schlichtweg für falsch: „It follows from this analysis that the appellants are in my opinion entitled to invite the courts to review, on proportionality grounds, the Derogation Order and the compatibility with the Convention of section 23 and the courts are not effectively precluded by any doctrine of deference from scrutinising the issues raised. It also follows that I do not accept the full breadth of the Attorney General’s submissions. I do not in particular accept the distinction which he drew between democratic institutions and the courts. It is of course true that the judges in this country are not elected and are not answerable to Parliament. It is also true (...) that Parliament, the executive and the courts have different functions. But the function of independent judges charged to interpret and apply the law is universally recognised as a cardinal feature of the modern democratic state, a cornerstone of the rule of law itself. The Attorney General is fully entitled to insist on the proper limits of judicial authority, but he is wrong to stigmatise judicial 74
„The more purely political (in a broad or narrow sense) a question is, the more appropriate it will be for political resolution and the less likely it is to be an appropriate matter for judicial decision. The smaller, therefore, will be the potential role of the court. It is the function of political and not judicial bodies to resolve political questions. Conversely, the greater the legal content of any issue, the greater the potential role of the court, because under our constitution and subject to the sovereign power of Parliament it is the function of the courts and not of political bodies to resolve legal questions.“ Vgl. A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 29. 75 A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 29. 76 Kritisch hierzu Tom R. Hickman, Between Human Rights and the Rule of Law: Indefinite Detention and the Derogation Model of Constitutionalism, (2005) 68 M.L.R. 662 f.
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decision-making as in some way undemocratic. (...) The 1998 Act gives the courts a very specific, wholly democratic, mandate. As Professor Jowell has put it ‚The courts are charged by Parliament with delineating the boundaries of a rights-based democracy‘.“ 77
Vor diesem Hintergrund gelangt Lord Bingham zu der Auffassung, dass section 23 zum einen nicht erforderlich und zum anderen diskriminierend und u. a. deshalb unverhältnismäßig sei. Aus diesem Grund hebt er die derogation order auf und erlässt eine declaration of incompatibility. Das Interessante an diesem Richterspruch ist, dass Lord Bingham, obwohl er der Regierung bei der Bestimmung des unbestimmten Rechtsbegriffs public emergency einen relativ weiten Spielraum lässt, der Ausübung von deference auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung jedoch eine klare Absage erteilt. 78 A ist zudem ein gutes Beispiel dafür, die Ungereimtheiten und Grenzen der sogenannten „Sphärentheorie“ in der praktischen Anwendung zu verdeutlichen. Diese Theorie basiert auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen einer politischen und einer rechtlichen Sphäre und klingt – mal mehr mal weniger differenziert – in den Urteilen einer Vielzahl von Richtern an. So sollen Fragen der Politik, d. h. der Sozialpolitik, der nationalen Sicherheit, ökonomischer und ethischer Natur sowie schwierige Entscheidungen im Allgemeinen dem Parlament obliegen, während rechtliche Fragen insbesondere mit Menschenrechtsbezug – wie z. B. Fragen, die die Freiheit des Individuums tangieren – als auch der Bereich des Strafrechts in den Entscheidungsbereich der Gerichte fallen. 79 Diese grobe Kategorisierung, die den Eindruck erweckt, als könne man zwischen Politik und Recht nach Inhalten trennscharf unterscheiden, erscheint vor dem Hintergrund, dass Konventionsrechtsfragen ihrer Natur nach politische Implikationen aufweisen 80 und politische Entscheidungen in der Regel Konventionsrechte einzelner Individuen tangieren, für die Entwicklung von handhabbaren und vorhersehbaren Abgrenzungskriterien bei der praktischen Anwendung im Einzelfall wenig weiterführend und kann allenfalls als grober Wegweiser bei der Gratwanderung zwischen Recht und Politik dienen. In diesem Zusammenhang sollte besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, dass der Bedeutung der Konventionsrechte in einem System, das am Letztentscheidungsrecht des Parlaments weiterhin festhält, hinreichend Rechnung getragen wird.
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A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 42. Vgl. Stephen Tierney, Determining the State of Exception: What role for Parliament and the Courts, (2005) 68 M.L.R. 668. 79 Siehe auch Dawn Oliver, Constitutional Reform in the United Kingdom, 2003, S. 122 m.w. N. 80 „All constitutional interpretations have political consequences.“ Robert H. Jackson, The Supreme Court in the American System, 1955, S. 56. 78
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Die Konventionsrechte dienen dazu, einen Ausgleich zwischen dem Einzelnen und den Belangen der Allgemeinheit zu schaffen. Insoweit liegt es in ihrer Natur, politische Fragen zu „verrechtlichen“. Ob dieser Ausgleich im konkreten Fall gelungen ist, ist durch die Gerichte nach rechtlichen Kriterien zu entscheiden. Hierbei stecken die Gerichte lediglich den Rahmen ab, innerhalb dessen die Legislative ihre Ziele verfolgen kann. Dass dies im Einzelfall insbesondere dann, wenn die Legislative diesen Rahmen überschritten hat, bedeutet, dass die Gerichte durch ihren Richterspruch die Entscheidung der Legislative in Frage stellen und damit ihre Rechtsauffassung an die Stelle der Legislative setzen, liegt in der Natur der Sache, da andernfalls eine Normenkontrollfunktion der Gerichte sinnlos wäre. Das Parlament hat zwar weiterhin die Macht, den Erwartungen der neuen Rechtsordnung zu trotzen, nicht aber die (alleinige) Macht sie zu definieren. In A hätte der (weitere) Kontext des Falls – die nationale Sicherheit – eigentlich eine weitreichende Zurückhaltung der Gerichte und damit eine reduzierte Kontrolldichte erfordert. Auf der anderen Seite stellte das Gesetz eine potentielle Verletzung der persönlichen Freiheit des Betroffenen dar. Diesem Recht wird in der Regel ein besonders hoher Stellenwert eingeräumt, und die Gerichte werden klassischerweise als besonders geeignet empfunden, in derartigen Fragen zu entscheiden. Die Sphärentheorie hilft demnach an dieser Stelle nicht weiter. Im vorliegenden Fall löst Lord Bingham den Konflikt zugunsten der individuellen Freiheit und damit einer erhöhten Kontrolldichte auf. Ob der zurückhaltende Gebrauch von deference auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung verallgemeinert werden kann, oder der besonderen Stellung des Artikel 5 EMRK geschuldet ist, kann nicht abschließend beurteilt werden. Jedenfalls aber stellt Lord Binghams Diktum eine vorsichtige Abkehr von einer übersimplifizierten Sphärentheorie und eine Hinwendung zu Individualrechten höherer Hierarchiestufe dar. Von besonderer Bedeutung ist zudem der Umstand, dass Lord Bingham die mittelbare demokratische Legitimation der Richterschaft, die ihnen durch den Human Rights Act 1998 verliehen wurde, in den Mittelpunkt stellt und damit deutlich macht, dass, zumindest wenn das Recht auf Freiheit betroffen ist, eine judicial deference on democratic grounds, d. h. eine noch auf dem alten Verfassungsverständnis fußende deference, nicht zu überzeugen vermag. bb) Lord Nicholls Lord Nicholls stimmt mit Lord Bingham grundsätzlich überein, 81 äußert sich jedoch insgesamt zurückhaltender. Er unterstreicht, dass die Gerichte weder in der 81 So auch Lord Hope der ebenfalls der Regierung bei der Frage des Notstandes aus Erkenntnisgründen einen weiten Spielraum einräumt, bei der Frage der Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahme jedoch eine hohe Kontrolldichte der Gerichte propagiert. Auch
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Lage noch dazu beauftragt seien, zu bewerten und zu entscheiden, welche Schritte geeignet und erforderlich seien, die vom Terrorismus ausgehenden Gefahren zu bannen. Dies sei allein Aufgabe der Regierung. Es sei aber die den Gerichten vom Parlament übertragene Aufgabe, darüber zu befinden, ob die Regierung bei ihren Entscheidungen möglicherweise fundamentale Rechte und Freiheiten der Bürger unangemessen außer Acht gelassen habe. In diesem Zusammenhang räumt er dem Parlament jedoch einen vom Kontext der Entscheidung abhängigen Spielraum ein: „For their part, when carrying out their assigned task the courts will accord to Parliament and ministers, as the primary decision-makers, an appropriate degree of latitude. The latitude will vary according to the subject matter under consideration, the importance of the human right in question, and the extent of the encroachment upon that right. The courts will intervene only when it is apparent that, in balancing the various considerations involved, the primary decision-maker must have given insufficient weight to the human rights factor.“ 82
Abgesehen von dem bereits mehrfach erwähnten Trend, die Kontrolldichte bei der Überprüfung eines Gesetzes von seinem inhaltlichen Zusammenhang abhängig zu machen, wird in diesem Diktum deutlich, dass die britischen Gerichte bereit sind, eine allgemeine Rangordnung der Konventionsrechte anzunehmen, mit der Folge, dass je nach abstrakter Wertigkeit eines Rechts der Kontrollmaßstab variiert.
er misst dem context der Entscheidung, d. h. dem tangierten Recht, hinsichtlich des Grads der deference eine große Bedeutung bei: „But the width of the margin depends on the context. Here the context is set by the nature of the right to liberty which the Convention guarantees to everyone, and by the responsibility that rests on the courts to give effect to the guarantee to minimise the risk of arbitrariness and to ensure the rule of law.(...) (T)he Margin of discretionary judgement that the courts will accord to the executive and to Parliament where this right is in issue is narrower than will be appropriate in other contextes. We are not dealing here with matters of social and economic policy, where opinions may reasonably differ in a democratic society and where choices on behalf of the country as a whole are properly left to government and to the legislature. We are dealing with actions taken on behalf of society as a whole which affect the rights and freedoms of the individual. This is where the courts may legitimately intervene, to ensure that the actions are proportionate. It is an essential safeguard, if individual rights and freedoms are to be protected in a democratic society which respects the principle that minorities, however unpopular, have the same rights as the majority.“ Vgl. A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 107, 108. Lords Scott und Rodger sowie Lady Hale legen ebenfalls besonderen Wert auf den strictly required Kontrollstandard, vgl. A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para.155 (Lord Scott), para. 172 (Lord Rodger), para. 227 and 231 (Lady Hale). 82 A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 80.
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cc) Lord Hoffmann Lord Hoffmann räumt der Regierung bei der Frage, ob ein das Leben der Nation gefährdender Notstand vorliegt, im Gegensatz zu den anderen Law Lords keinen Einschätzungsspielraum ein, sondern kommt zu dem Schluss, dass trotz der zugegebenermaßen reellen Gefahr terroristischer Anschläge im Vereinigten Königreich kein das Leben der Nation gefährdender Notstand im Sinne der Konvention gegeben sei. 83 „Terrorist violence, serious as it is, does not threaten our institutions of government or our existence as a civil community. (...) The real threat to the life of the nation in the sense of a people living in accordance with its traditional laws and political values, comes not from terrorism but from laws such as theses. That is the true measure of what terrorism may achieve. It is for Parliament to decide whether to give the terrorists such a victory.“ 84
Diese Aussage hat viel Aufmerksamkeit erregt, darf aber nicht mißverstanden werden. Bereits in Rehman 85 hatte Lord Hoffman zum Ausdruck gebracht, dass die Frage der national security ebenso wie jetzt die Frage eines public emergency eine Rechtsfrage sei, die zu beantworten den Gerichten obliege. Gleichwohl ist Lord Hoffmann der Auffassung, dass die weiterführende Frage, nämlich welche Maßnahmen in solchen Situationen erforderlich seien, sowohl aus demokratischen als auch aus Erkenntnisgründen in den Händen der Regierung und nicht der Gerichte liege: „What is meant by ‚national security‘ is a question of construction and therefore a question of law within the jurisdiction of the Commission, subject to appeal. (...) On the other hand, the question of whether something is ‚in the interests‘ of national security is not a question of law. It is a matter of judgment and policy. Under the constitution of the United Kingdom and most other countries, decisions as to whether something is or is not in the interests of national security are not a matter for judicial decision. They are entrusted to the executive.“ 86
83 A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 91 –97. Lord Hoffmanns Diktum in A stark kritisierend David Dyzenhaus, An Unfortunate Outburst of Anglo-Saxon Parochialism, (2005) 68 M.L.R. 673 ff., der Lord Hoffmann vorwirft, er untergrabe die rule of law, indem er die Rechte der Konvention mit denen der common law constitution gleichsetze (vgl. A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 88), wodurch nach einer rechtmäßigen Derogation wiederum ein rechtsfreier Raum entstünde. 84 A v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 56, para. 96, 97. 85 Home Secretary v Rehman [2003] 1 AC 153. 86 Vgl. Home Secretary v Rehman [2003] 1 AC 153, para. 50. Kritisch hierzu, Trevor R. S. Allan, Common Law Reason and the Limits of Judicial Deference, in: David Dyzenhaus (ed.), The Unity of Public Law, 2004, S. 301 ff.
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5. Zwischenbetrachtung Die diskutierten Beispielfälle haben gezeigt, dass sich Erscheinungsformen der judicial deference im Verlauf der gesamten Normenkontrollprüfung – von der Bestimmung des Schutzbereichs bis hin zur Frage der Rechtfertigung eines Konventionsrechtseingriffs – manifestieren und teilweise dazu führen, dass die den Gerichten durch den Human Rights Act 1998 verliehene Kontrollfunktion – wenn überhaupt – dann nur noch in sehr eingeschränktem Maße wahrgenommen wird, was die Gefahr einer judicial abdication in sich birgt. Denn während der Ausspruch der Konventionswidrigkeit oder -konformität eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der im konkreten Fall gegebenen Problemstellung erfordert, kommt der Ausspruch der Konventionskonformität aus Gründen der deference einer Stimmenthaltung gleich. In letzterem Fall werden Parlamentsgesetze ohne tiefgreifendere Überprüfung als konventionskonform angesehen. Mangels Prima-facie-Konventionsverstoßes erübrigt sich dann natürlich auch die Frage ihrer konventionskonformen Auslegung nach section 3 oder gar der Erlass einer Inkompatibilitätserklärung nach section 4. Ein übermäßiger Gebrauch von judicial deference auf dieser ersten Ebene ist somit von besonders weitreichender Bedeutung, da derart bewältigte Fragen dem „Dialog zwischen den Gewalten“ entzogen werden und die Gerichte Entscheidungen des Parlaments unter Aufgabe ihrer neuen verfassungsrechtlichen Verantwortung, vergleichbar der Situation unter dem traditionellen System der Parlamentssouveränität, unbesehen absegnen. Eine „culture of justification“ bleibt dabei auf der Strecke und der „Quasi-Vorrang der Konventionsrechte“ verkommt zu einer inhaltslosen Hülle. Berechtigte Interessen des Individuums werden der Mehrheit untergeordnet, die rule of law wird weitestgehend auf das Legalitätsprinzip reduziert und eine wirkliche Kontrolle des Parlaments findet nicht statt. Insofern ist ein zurückhaltender Gebrauch von judicial deference vor dem Hintergrund des angestrebten Verfassungsideals eines constitutional dialogues zu begrüßen. Abgesehen von der Frage, ob die Trennung zwischen politischen und rechtlichen Entscheidungen ein taugliches Kriterium ist, 87 stößt insbesondere die Begründung der deference mit der constitutional capacity der Judikative auf Bedenken, 88 da sie den Gerichten die durch den Human Rights Act 1998 verliehene materielle 87 So hält Weiler die Unterscheidung von Recht und Politik für grundlegend zweifelhaft, vgl. J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 15. Ebenfalls eine bright line ablehnend, die geeignet ist, Fundamentales von politisch umstrittenen zu trennen, Danny Nicol, Original Intent and the European Convention, [2005] P.L. 152, 172. 88 In diesem Sinne auch Lord Steyn, Deference: A Tangled Story, [2005] P.L. 346 ff.; Jeffrey Jowell, Judicial Deference and Human Rights: A Question of Competence, in: Paul Craig/ Richard Rawlings (eds.), Law and Administration in Europe, 2003, S. 67 ff.;
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demokratische Legitimation außer Acht lässt, die Bedeutung der Konventionsrechte marginalisiert und starke Anleihe an dem klassischen Verständnis der uneingeschränkten Mehrheitsdemokratie nimmt. Ob und wieweit judicial deference nach der von Lord Bingham eingeleiteten Abkehr ihrer Begründung auf der Basis von demokratischen Erwägungen aus Gründen der „relativen institutionellen Kompetenz“ aufrechterhalten wird, bleibt abzuwarten. 89 In weiten Teilen sowohl der Literatur als auch der Richterschaft stößt die Auffassung auf wachsende Gegenliebe, dass es nunmehr die verfassungsrechtliche Aufgabe der Gerichte sei, zu entscheiden, ob ein adäquater Ausgleich zwischen konkurrierenden Rechten gefunden wurde, die Gerichte aber dabei durchaus die Grenzen ihrer eigenen institutional competence berücksichtigen und ggf. deference walten lassen dürften. 90 Anders als bei der judicial deference on democratic grounds liegt der Grund für die richterliche Zurückhaltung bei der judicial deference on institutional grounds nicht in einer mit einem grundsätzlichen Legitimationsdefizit begründeten Unterwürfigkeit gegenüber der Meinung des unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments, sondern fußt auf der Einsicht in die im Einzelfall gegebenen Grenzen der eigenen Erkenntnisfähigkeit, sei es z. B. aufgrund der Struktur des Gerichtsprozesses, mangelnder Ressourcen oder investigativer Möglichkeiten. Es ist durchaus zuzugestehen, dass eine delegierende oder arbeitsteilige Vorgehensweise in bestimmten Bereichen sachgerecht, wenn nicht gar notwendig ist. 91 Sie fügt sich auch in das überwiegend institutionell geprägte britische Verfassungsdenken, insofern als die Gerichte auf die Erkenntnisleistung anderer, d. h. der Gesetzgebung, vertrauen. Ihre Voraussetzungen und ihr Umfang sind jedoch als juristisches Problem zu thematisieren und ihre Anwendung sollte nicht zu einem Verlust der intellektuellen Unabhängigkeit der Gerichte 92 führen. ders., Judicial deference: servility, civility or institutional capacity?, [2003] P.L. 592 ff.; Richard Clayton, Judicial deference and „democratic dialogue“: the legitimacy of judicial intervention under the Human Rights Act 1998, [2004] P.L. 33 ff. Im Rahmen des Modells der Verfassungssouveränität dieses Merkmal grundsätzlich anerkennend, insbesondere in Bereichen in denen das Grundgesetz wenig beredt ist, Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments, 2001, S. 22 f. m.w. N. 89 Bisher entsprachen sich die Bereiche, in denen deference aus demokratischen Gründen bzw. kompetenziellen Gründen walten sollte, weitestgehend. 90 Vgl. z. B. David Pannick, Principles of interpretation of Convention Rights under the Human Rights Act and the discretionary area of judgment, [1998] P.L. 545 –551; Lord Steyn, Deference: A Tangled Story, [2005] P.L. 346; Jeffrey Jowell, Judicial Deference and Human Rights: A Question of Competence, in: Paul Craig / Richard Rawlings (eds.), Law and Administration in Europe, 2003, S. 67; ders., Judicial deference: servility, civility or institutional capacity?, [2003] P.L. 592. Ablehnend Trevor R. S. Allan, Common Law Reason and the Limits of Judicial Deference, in: David Dyzenhaus (ed.), The Unity of Public Law, 2004, S. 300. 91 Vgl. auch Oliver Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, JZ 2005, 1 ff.
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Nach welchen Kriterien genau sich die institutional competence bemisst oder ob sie lediglich eine Abgrenzung on democratic grounds in einem anderen Gewand darstellt, bleibt abzuwarten. Eine Theorie der Institutionen, d. h. eine Untersuchung dessen, was das Parlament, die Gerichte etc. faktisch leisten und normativ erbringen können, wäre in diesem Zusammenhang dringend erforderlich. Wichtig für den hier interessierenden Zusammenhang ist es jedoch festzuhalten, dass auf der Ebene des „Prima-facie-Konventionsverstoßes“ ein allzu großzügiger Gebrauch von deference aus demokratischen Gründen nicht geeignet ist, dem Verfassungsideal des democratic dialogue zu dienen, sondern vielmehr einen Rückschritt in alte Verfassungsstrukturen darstellt. Betrachtet man die Häufigkeit der Anwendung von section 3 und 4 Human Rights Act 1998 – deren Gebrauch die Feststellung eines Prima-facie-Verstoßes voraussetzt – in den ersten fünfeinhalb Jahren seit Inkrafttreten des Human Rights Act, fällt der eher vorsichtige und zunehmend verhaltenere Umgang mit diesen Instrumenten auf. Während bis Mitte 2004 zehnmal eine „rechtskräftige“ declaration of incompatibility erlassen und zehnmal offiziell Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 gemacht wurde, war dies bis Mitte 2006 nur noch vierbzw. dreimal der Fall. 93 Ohne dass hieraus zwingende Rückschlüsse auf das Maß an deference gezogen werden könnten, 94 legt der relativ seltene Gebrauch dieser Instrumente eine persistierende Zurückhaltung der Richterschaft auf der Ebene der Feststellung eines Prima-facie-Verstoßes zumindest nahe.
92 Vgl. Trevor R. S. Allan, Common Law Reason and the Limits of Judicial Deference, in: David Dyzenhaus (ed.), The Unity of Public Law, 2004, S. 300. 93 Für den Erlass von declarations of incompatibility vgl. Appendix 3 des Joint Committee On Human Rights Twenty-Third Report, http://www.publications.parliament.uk/ pa/jt200506/jtselect/jtrights/239/23909.htm (Stand: 16. 06. 2006) bzw. die Übersicht unter http://www.dca.gov.uk/peoples-rights/human-rights/pdf/decl-incompat-tabl.pdf (Stand: 01. 08. 2006). Für den Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 vgl. Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy, Review of the Implementation of the Human Rights Act, July 2006, S. 17 m.w. N. Vgl auch unten § 12 II.2.c)bb). 94 So ist z. B. weder die Zahl an Fällen, die überhaupt Bezug zum Human Rights Act aufweisen bekannt, noch liegen Erkenntnisse über die Häufigkeit herkömmlicher verfassungskonformer Auslegung vor. Zur Problematik, wann eine Interpretation als „section 3 Interpretation“ klassifiziert werden kann, siehe unten § 12 II.2.a)aa).
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II. Der 2. Schritt: „As far as possible“ – Das Verhältnis zwischen der Interpretationsregel der section 3 Human Rights Act 1998 und der Inkompatibilitätserklärung der section 4 Human Rights Act 1998 Die zweite Stelle, an der judicial deference zum Tragen kommt bzw. diskutiert wird, 95 ist die Frage nach der Reichweite der Auslegungsobligation gemäß section 3. Das Verhältnis der section 3 zu section 4 rückt die seit jeher in der (britischen) Rechtswissenschaft umstrittene Frage, wo Auslegung aufhört und Gesetzgebung beginnt, – respektive die Demarkationslinie zwischen der verfassungsmäßigen Rolle der Judikative und der Legislative – erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der Wortlaut der section 3 ist wenig aufschlussreich. Die Formulierung „as far as possible“ mutet seltsam, da selbstverständlich, an und gibt angesichts der gerade umstrittenen Grenzen der Auslegung kaum eine richtungsweisende Hilfestellung. Theoretisch herrscht Einigkeit darüber, dass section 3 eine rule of interpretation ist, die den Gerichten – schon aus Gründen der Gewaltenteilung – keine Befugnis erteilt, als Gesetzgeber zu fungieren. 96 Was dies im Einzelfall, d. h. der praktischen Anwendung, bedeutet, welche Auslegungsvarianten somit possible im Sinne der section 3 sind und welche nicht, ist höchst umstritten und hat zu einer kaum noch überschaubaren Flut an Literatur 97 und zu einer nur eingeschränkt als kohärent oder gar vorhersehbar zu bezeichnenden Rechtsprechungspraxis geführt. 1. Incorporationists v Third Wave Protagonists Zwei Grundtendenzen sind denkbar, von denen Erstere als ein „Non-deferential“Ansatz verstanden wird, während die zweite als Ausdruck von deference der Gerichte gegenüber der Legislative angesehen wird 98: Nach dem „Non-deferential“-Ansatz wird eine starke Betonung auf den Gebrauch der Auslegungsregel von section 3 gelegt. 95 Vgl. z. B. Keir Starmer, Two Years of the Human Rights Act, (2003) 8 EHRLR 16 –18; Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004. 96 Neben vielen z. B. Lord Woolf in Poplar Housing and Regeneration Community Association LTD v Donoghue [2001] QB 48. 97 Vgl. z. B. Francis Bennion, What Interpretation is „possible“ under section 3(1) of the Human Rights Act 1998?, [2000] P.L. 77 ff.; Francesca Klug, Judicial Deference under the Human Rights Act 1998, (2003) 8 EHRLR 125. 98 Vgl. z. B. Keir Starmer, Two Years of the Human Rights Act, (2003) 8 EHRLR 16 –18. Siehe auch Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004.
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Ausgangspunkt dieser Betrachtung ist die unbestrittene Tatsache, dass eine sehr weitreichende Interpretation unter section 3 – dadurch dass sie direkt zwischen den Parteien wirkt – am besten dazu geeignet ist, den Konventionsrechten möglichst unmittelbar Geltung zu verschaffen. Nach diesem Verständnis stellt sich die Notwendigkeit, eine Inkompatibilitätserklärung zu erlassen – die als öffentliche Kenntlichmachung einer „Unzulänglichkeit“ des Parlaments bzw. als „system failure“ 99 betrachtet und damit als letzter Ausweg (last resort) 100 angesehen wird – selten bis gar nicht. Dieser Ansatz birgt allerdings die Gefahr, dass die Gerichte unter dem Deckmantel der Interpretation beginnen, der Sache nach Gesetzgebungsfunktionen auszuüben. Zwar kann das Parlament, wenn die von den Gerichten gewählte Auslegung eines Gesetzes nicht seinem Willen entspricht, diesem durch erneute, eindeutigere Gesetzgebung Ausdruck verleihen und somit letzten Endes durchsetzen. Angesichts der vergleichsweise geringen Transparenz bzw. mangelnden Offenkundigkeit von unter dem Deckmantel der Auslegung betriebener Rechtsgestaltung besteht jedoch – zumindest bei einer „aktiven“ Richterschaft – die Gefahr einer schleichenden Aushöhlung des gesetzgeberischen Willens. 101 Folglich wird dieser Ansatz der Gerichte als ein dem Parlament gegenüber „Non-deferential“-Ansatz angesehen.
99 Geoffrey Marshall, The lynchpin of parliamentary intention: lost, stolen or strained, [2003] P.L. 237; siehe auch ders., The United Kingdom Human Rights Act 1998, in: Vicki C. Jackson / Mark Tushnet (eds.), Defining the Field of Comparative Constitutional Law, 2002, S. 107; Lord Lester of Herne Hill, hat wohl den Begriff des systemic failure geprägt. 100 Lord Steyn in R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 44. In diesem Sinne auch der damalige Lord Chancellor während des Gesetzgebungsprozesses des Human Rights Act 1998: „In 99% of the cases that will arise, there will be no need for judicial declarations of incompatibility“ Hansard (HL Debates), 5 February 1998, col 840 (3 rd Reading). Ebenso der damalige Home Secretary: „We expect that, in almost all cases, the courts will be able to interpret the legislation compatible with the Convention“ Hansard (HL Debates), 16 February, col 778 (2 nd Reading). Vgl. auch Sir John Laws, der 1999 außergerichtlich die Erwartungshaltung äußerte, dass „section 3 of the Act of 1998, where it applies, will abolish the old lynch pin of search for parliamentary intention“, zitiert nach Geoffrey Marshall, The lynchpin of parliamentary intention: lost, stolen or strained, [2003] P.L. 237. 101 Vgl. z. B. Danny Nicol, The Human Rights Act and the Politicians, (2004) 24 Legal Studies 468, der zutreffend darauf hinweist, das gerichtliche rewrites of legislation unter Anwendung von section 3 (1) HRA ein „(...) relatively invisible means of changing the law in contrast to headline-grabbing declarations of incompatibility“ darstellen. Lord Irvine of Lairg, The Impact of the Human Rights Act: Parliament, the Court and the Executive, [2003] P.L. 319 weist darauf hin, dass „Section 3 enables the courts to iron out incompatibilities throughout the statute book“. Zu Recht weist auch Lord Lester darauf hin, dass „adopting a strained reading of legislation may involve greater inroads into parliamentary sovereignty than invalidation“. Vgl. Lord Lester of Herne Hill, Developing Constitutional Principles of Public Law, [2001] P.L. 691.
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Der „Deferantial-Ansatz“ hingegen legt ein stärkeres Augenmerk auf den Gebrauch von section 4 Human Rights Act 1998 und befürwortet eine restriktive Handhabung von section 3. Die dadurch bedingte erhöhte Zahl an Inkompatibilitätserklärungen wird insofern positiv bewertet, als dass sie dem Parlament in eindeutiger Form die Gelegenheit bietet, seine Gesetzgebung der Rechtsauffassung der Gerichte selbstbestimmt anzupassen bzw. bewusst nicht anzupassen. Im Gegensatz zu den Anhängern des „Non-deferential“-Ansatzes begreifen Vertreter dieser Auffassung eine declaration of incompatibility nicht als last resort, sondern vielmehr als „courteous request for a conversation, not pronouncements of truth from on high“ 102 . Dieses Verständnis trägt der Gesetzgebungsfunktion des Parlamentes daher in besonderem Maße Rechnung und kann somit als deferential bezeichnet werden. Die Frage nach der Reichweite der Auslegung gemäß section 3 lässt sich somit als Spiegel des Widerstreits zweier aus der Debatte um die Einführung einer Bill of Rights bekannten Lager – der sogenannten „incorporationists“ und der sogenannten „third-wave protagonists“ 103 – begreifen 104 und stellt dem Grunde nach die Fortführung dieser Debatte auf der Ebene des Human Rights Act 1998 dar. Während die sogenannten incorporationists – grob vereinfacht – eine verfassungsmäßige Stellung der Konventionsrechte erstreben, mit der Folge, dass den Gerichten eine Kassationsrecht zustehen sollte, sind die sogenannten third waver der Überzeugung, dass der Schutz grundlegender Rechte am besten durch das Zusammenspiel rechtlicher und parlamentarischer Sicherungsmechanismen gewährleistet werden kann. 102
Conor Gearty, Can Human Rights Survive?, 2006, S. 96. Dieser Begriff wurde in Anlehnung an die von Francesca Klug, Values for A Godless Age, The Story of the UK’s New Bill of Rights, 2000, geprägten drei Phasen von Menschenrechtsinstrumenten gewählt. Danach stellt der Human Rights Act 1998 die third wave dar, die im Gegensatz zur second wave (z. B. die EMRK und die International Declaration of Human Rights) durch eine stärkere Betonung eines partizipatorischen Elements geprägt ist. (Die first wave bezieht sich auf das Aufkommen der Idee von unveräußerlichen Rechten zur Zeit der Aufklärung). 104 Vgl. Danny Nicol, Are Convention Rights a no-go Zone for Parliament, [2002] P.L. 438; kritisch hierzu, wenn auch vielleicht Nicols Meinung übersimplifizierend und einen kontextuellen Ansatz bevorzugend, Aileen Kavanagh, Statutory interpretation and human rights after Anderson: a more contextual approach, [2004] P.L. 537. Zu Recht weist Kavanagh aber darauf hin, dass der Kontext einer Entscheidung (bis hin zu Fragen, ob das Parlament zu einer Reform des in Frage stehenden Gesetzes bereit ist oder nicht) nicht vernachlässigt werden darf. Allerdings ist es Nicols Verdienst aufzuzeigen, dass gerade das verfassungsmäßige Vorverständnis der Richter eine nicht zu unterschätzende Facette des Kontextes einer Entscheidung ist. Die Unterscheidung aufgreifend Francesca Klug, Judicial Deference under the Human Rights Act 1998, (2003) 8 EHRLR 126 ff.; Tom R. Hickman, Constitutional Dialogue, Constitutional Theories and the Human Rights Act 1998, [2005] P.L. 306 ff. 103
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Für die incorporationists stellt der Human Rights Act 1998 somit die begrüßenswerte Möglichkeit einer rule of the Convention dar. Die third waver befürchten hingegen angesichts der Auslegungsbedürftigkeit der Konventionsrechte und ihrer grundsätzlich umstrittenen Reichweite eine rule of the courts. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass aus Sicht der incorporationists der Human Rights Act 1998 nur einen Schritt auf Großbritanniens Weg zum vollentwickelten Verfassungsstaat darstellt und der formelle Erhalt der Parlamentssouveränität nicht viel mehr als ein Lippenbekenntnis ist, um den Wandlungsprozess abzumildern. Die third wave protagonists betrachten den Human Rights Act 1998 hingegen als Endprodukt. Naturgemäß liegen den beiden Lagern auch unterschiedliche Verständnisse von Demokratie und dem Wesen der Konventionsrechte zugrunde. Die incorporationists betonen in der Tradition eines bourgeois liberalen Demokratieverständnisses 105 den Schutz des Individuums gegenüber der potentiellen Tyrannei der Mehrheit bzw. dem Staat. Die third wave protagonists, die eher republikanischer Provenienz sind, 106 befürchten hingegen eine Diktatur demokratisch unzureichend legitimierter Richter. Sie stellen nicht so sehr den Schutz des Individuums als solchem, als vielmehr seine politische Partizipation in den Vordergrund. Insofern tritt der dem Individuum dienende Charakter der Konventionsrechte hinter seinem die Demokratie förderndem Wert zurück. Demokratie bedeutet hiernach in erster Linie das Recht auf gleichwertige Partizipation am demokratischen Prozess und damit der Entscheidung von Fragen prinzipieller Bedeutung. Folglich wird der Human Rights Act 1998 nicht als ein Mittel verstanden, gewisse Inhalte der politischen Diskussion zu entziehen, als vielmehr den Gerichten zu ermöglichen, zu der Diskussion beizutragen. Recht stellt hiernach eine „more explicitly rationalized form of political discourse“ dar. 107 Vor diesem Hintergrund lehnen die third wave protagonists überwiegend ein richterliches Interpretationsmonopol ab und favorisieren den Dialog zwischen den Gewalten. Auf der Grundlage dieser unterschiedlichen theoretischen Ansätze ist zunächst einmal zu klären, welche Ausgestaltung section 3 des Human Rights Act 1998 durch die Richterschaft bis dato gefunden hat. Obwohl es wahrscheinlich noch zu früh ist, von der abschließenden Verfestigung eines einheitlichen Interpretationsansatzes in der Rechtsprechungspraxis zu sprechen, lassen sich gewisse Tendenzen und Phasen bereits erkennen und diskutieren. Zur Veranschaulichung 105
Siehe oben § 8 IV.2.a)bb). Siehe oben § 8 IV.2.b). Vgl. auch Tom R. Hickman, Constitutional Dialogue, Constitutional Theories and the Human Rights Act 1998, [2005] P.L. 308. 107 Martin Loughlin, Sword and Scales – An Examination of the Relationship Between Law and Politics, 2000, S. 233. 106
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sollen wiederum einige ausgesuchte Beispiele aus der Rechtsprechungspraxis des House of Lords dienen. 2. Die Rechtsprechung des House of Lords a) Die Ausgangslage Ein gutes Beispiel für die anfangs sehr unterschiedlichen Ansätze innerhalb der Richterschaft bieten die Ausführungen von Lord Steyn und Lord Hope in R v A (No 2) 108. Sie bilden die Eckpunkte des Spektrums der Möglichkeiten unter section 3, so wie sie durch die Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht worden sind. aa) R v A (No 2, HL 2001) In R v A beschäftigte sich das House of Lords mit der Frage, ob section 41 des Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999 das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Artikel 8 EMRK) verletzt. Dem der Vergewaltigung beschuldigten Angeklagten war auf der Basis dieses Gesetzes versagt worden, Beweis darüber zu führen, dass mit der Geschädigten bis kurz vor der Tat ein einvernehmliches sexuelles Verhältnis bestanden habe. Im Ergebnis ging das House of Lords mehrheitlich davon aus, dass section 41 des Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999 gemäß section 3 Human Rights Act 1998 konventionskonform ausgelegt werden könne. 109 Lord Steyn prüfte zunächst, ob auf der Basis der herkömmlichen Interpretationsmethoden (ordinary methods of interpretation) eine konventionskonforme Auslegung möglich sei, verneinte dies jedoch. 110 In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass eine Anwendung von section 3 nicht schon dann in Betracht kommt, wenn sich bei wörtlicher Auslegung eine Prima-facie-Inkompatibilität ergibt, sondern erst dann, wenn auch mittels „ordinary methods of purposive and contextual interpretation“ Konventionskonformität nicht hergestellt werden kann. 111 108
R v A (No. 2) [2001] UKHL 25. Für eine prägnante Zusammenfassung dieses Urteils in deutscher Sprache siehe Markus Verbeet, Die Stellung der Judikative im englischen Verfassungsgefüge nach dem Human Rights Act 1998, 2004, S. 103 ff. 109 So Lord Slynn, Lord Steyn, Lord Clyde und Lord Hutton in R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 15, 46, 140, 163. 110 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 34 –43. Das Gesetz verfolge zwar ein legitimes Ziel, die Art und Weise, wie es dies tue, stelle aber ein „legislative overkill“ dar. 111 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 39: „Two processes of interpretation must be distinguished. First, ordinary methods of purposive and contextual interpretation may yield ways of minimising the prima facie exorbitant breadth of the section. Secondly, the
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Unter Berufung auf das White Paper zur Einführung des Human Rights Act 1998 „Bringing Rights Home“ 112, demgemäß das Parlament ausdrücklich auf das Erfordernis einer reasonable interpretation verzichtet habe, führt er aus, dass es sich bei section 3 um eine starke (strong) Auslegungsregel handele, die nicht nur im Fall der Mehrdeutigkeit des Gesetzeswortlauts Anwendung finde. 113 Nach der herkömmlichen Interpretationsmethode könne ein Gericht vom Wortlaut eines Gesetzes abweichen, um absurde Konsequenzen zu vermeiden: Section 3 ginge jedoch sehr viel weiter. Ohne Zweifel müsse ein Gericht immer nach einer zusammenhangs- und zweckorientierten (contextual and purposive) Interpretation streben; section 3 sei aber in seinen Auswirkungen radikaler. Es gelte eine allgemeine Regel, dass der „Text“ eines Gesetzes grundsätzlich den Ausgangspunkt einer jeden Interpretation bilde. Dieses Prinzip würde aber durch section 3 insofern eingeschränkt, als dem Gericht die Verpflichtung obliege – soweit möglich –, eine konventionskonforme Auslegung herbeizuführen. 114 In section 3 Human Rights Act 1998 habe das Parlament dem Willen Ausdruck verliehen, dass es manchmal notwendig sei, eine Interpretation anzunehmen, die sprachlich gesehen gezwungen (strained) erscheine. So sei sowohl die eingeschränkte Auslegung expliziter Worte als auch das „Hineinlesen“ (reading in) von Regelungen denkbar. Eine Inkompatibilitätserklärung müsse ein letztes Mittel (last resort) bleiben, welches, soweit irgendwie möglich, zu vermeiden sei, es sei denn, eine konventionskompatible Auslegung sei offensichtlich nicht möglich. 115 Dies ist nach Lord Steyns Ansicht dann der Fall, wenn das Parlament mit eindeutigen Worten zum Ausdruck bringe, dass es von den Konventionsrechten abzuweichen beabsichtige. Eine derartige Erklärung des Parlaments sei im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, so dass eine Bedingung in den Gesetzestext „hineingelesen“ werden könne, nach der Beweismittel, die für die Durchführung eines fairen Verfahrens nach Artikel 6 EMRK erforderlich sind, nicht zurückgewiesen werden dürften. 116 interpretative obligation in section 3 (1) of the 1998 Act may come into play.“ Ebenso Lord Woolf in Poplar Housing and Regeneration Community Association Ltd v Donoghue [2002] QB 48 para. 73: „Unless the legislation would otherwise be in breach of the Convention section 3 can be ignored (so courts should always first ascertain whether, absent section 3, there would be any breach of the Convention).“ Diese Auffassung kann jedoch von Teilen der Literatur, die bezweifeln, dass section 3 über die herkömmlichen Auslegungsbefugnisse hinausgehende Interpretationen zulässt, naturgemäß nicht geteilt werden, vgl. z. B. Geoffrey Marshall, The lynchpin of parliamentary intention: lost, stolen or strained, [2003] P.L. 236 ff. 112 Rights Brought Home: The Human Rights Bill (1997) (Cm 3682), para. 2.7. 113 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 44. 114 Lord Steyn führt an späterer Stelle aus, dass section 3 von den Gerichten verlangen würde, die „niceties of language“ eines Gesetzes weitreichenderen Überlegungen, die sich aus Logik und common sense sowie den veränderten Umständen ergeben würden, unterzuordnen, vgl. R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 45. 115 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 44.
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Dieser Auffassung schloss sich die Mehrheit der Lordrichter an. Lord Hope hingegen sieht es schon auf der Basis der herkömmlichen Auslegungsregeln für nicht erwiesen an, dass die in Frage stehende Regelung der section 41 (3) (c) des Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999 mit Artikel 6 EMRK inkompatibel sei. 117 Aus diesem Grund müsse auf section 3 Human Rights Act 1998 nicht mehr zurückgegriffen werden. Dennoch setzt er sich obiter dicta ebenfalls mit der Anwendung von section 3 auseinander und bezweifelt, dass die von Lord Steyn vorgeschlagene Bedingung mittels section 3 „hineingelesen“ werden könne. Zwar stimmt er Lord Steyn darin zu, dass es sich bei section 3 um eine neue Interpretationsregel handele, zu deren Anwendung es keiner ambiguity des Gesetzes mehr bedürfe. Er betont aber, dass es sich bei section 3 trotz des dominierenden Ziels, Konventionskompatibilität zu erreichen, immer noch um eine Auslegungsregel handele, die es den Richtern nicht erlaube, als Gesetzgeber zu fungieren. 118 Die Grenzen richterlicher Auslegungsfreiheit seien „offensichtlich“ dort zu ziehen, wo gesetzliche Bestimmungen ausdrücklich (expressly contradict) oder implizit, d. h. als notwendige Folge (necessary implication) im Widerspruch zu einer konventionskonformen Auslegung stünden, da in beiden Fällen, wie Lord Hoffmann in Simms 119 bereits zutreffend angemerkt habe, der eindeutige Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck komme. 120 Insbesondere gegen sogenannte Reading-in-Techniken äußert er Bedenken. 121 Im vorliegenden Fall sei es Ziel des Parlamentes gewesen, das richterliche Ermessen in den unter section 41 des Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999 genannten Bedingungen einzuschränken. Die von Lord Steyn in Anwendung von section 3 vorgeschlagene Bedingung diene aber gerade einer über section 41 Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999 hinausgehenden Erweiterung des Ermessens und widerspreche daher dessen gesamter Struktur und damit der Intention des Gesetzgebers. 122
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R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 46. Lord Hope geht davon aus, dass anders als in Deutschland, wo ein Gesetz verfassungswidrig ist, wenn es nicht in allen Fällen verfassungskonform ausgelegt werden kann, ein Gesetz erst dann konventionswidrig ist, wenn es in keinem Fall konventionsgemäß ausgelegt werden kann: „I would hold that the required level of unfairness to show that every case where previous sexual behaviour between the complainant and the accused is alleged the solution adopted is not proportionate has not been demonstrated.“ Vgl. R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 104, 105. 118 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 108. 119 R v Secretary of State for the Home Department, ex p Simms [2000] 2 AC 115. 120 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 108. 121 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 109. 122 R v A (No 2) [2001] UKHL 25, para. 109. 117
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bb) Zwischenbilanz Der vorliegende Fall verdeutlicht, dass bei Lord Steyn und Lord Hope Einigkeit dahingehend herrscht, dass section 3 weitreichende Bedeutung zukommt und den Gerichten eine neue interpretatorische Aufgabe zuweist, für deren Anwendung eine Mehrdeutigkeit des Gesetzes (ambiguity) nicht mehr erforderlich ist. Zudem wenden beide Lordrichter das zuvor vorgeschlagene Zwei-Schritt-System an. 123 Im Gegensatz zu Lord Steyn wird bei Lord Hope allerdings nicht deutlich, inwiefern sich – abgesehen vom Wegfall des Erfordernisses der Mehrdeutigkeit (ambiguity) – die neue interpretive obligation von der alten unterscheidet, d. h. wann genau ein „impliziter“ Widerspruch eines Gesetzes zu dessen anvisierter Auslegung anzunehmen ist. Dies mag u. a. daran liegen, dass auch die Reichweite der herkömmlichen Interpretationbefugnisse nicht klar umrissen, sondern höchst umstritten war. Insofern stellt sich die vieldiskutierte Frage, 124 ob den Gerichten nunmehr eine – im Verhältnis zur Situation vor Einführung des Human Rights Act 1998 – neue interpretive obligation obliegt oder der Human Rights Act 1998 die herkömmlichen Regelungen lediglich bestätigt, eher als eine Frage des Grades als der Kategorie dar und ist dem Grunde nach die Fortsetzung der schon vor dem Human Rights Act 1998 existierenden Debatte um die Reichweite der Interpretationsbefugnisse der Gerichte. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Grenzen der Auslegungsmöglichkeiten nach section 3 von Lord Steyn und Lord Hope sehr unterschiedlich bewertet werden. So erachtet Lord Steyn die ins Auge gefasste Interpretation eines Gesetzes erst dann als unmöglich (impossible) im Sinne der section 3, wenn das auszulegende Gesetz dieser Auslegung ausdrücklich widerspricht. Seine Auffassung räumt den Gerichten daher einen großen interpretatorischen Spielraum ein, der einem de facto entrenchment, das dem Gesetzgeber eine Art Zitiergebot auferlegt, sehr nahe kommt. Für Lord Hope hingegen ist es ausreichend, wenn sich ein Widerspruch zur intendierten Auslegung implizit aus dem Gesetz ergibt. Damit ist er, was den Gebrauch von section 3 angeht, sehr viel zurückhaltender als Lord Steyn und räumt den Gerichten einen wesentlich engeren Gestaltungsspielraum ein. Unterschiedlich sind auch die jeweils gewählten Begründungsansätze: Während Lord Steyn zur Begründung auf den Sinn und Zweck des Human Rights Act 1998, wie er bei den parlamentarischen Debatten vor seinem Erlass zum Ausdruck gekommen ist, abstellt und somit den Willen des Gesetzgebers bei Erlass des 123
Siehe oben § 9 III.2.b); § 12 I. und II. Vgl. z. B. Geoffrey Marshall, The lynchpin of parliamentary intention: lost, stolen or strained, [2003] P.L. 246; Richard Ekins, A Critique of Radical Approaches to Rights Consistent Statutory Interpretation, (2003) 8 EHRLR 641. 124
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Human Rights Act 1998 in den Vordergrund rückt, rekurriert Lord Hope in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich – auf den den jeweils auszulegenden Gesetzen zugrunde liegenden Willen des Gesetzgebers. Zwar beruft er sich im konkreten Fall nicht ausdrücklich auf den Schutz der Doktrin der Parlamentssouveränität, die bewusst durch den Human Rights Act 1998 erhalten wurde, ein derartiges Verständnis scheint aber angesichts der Tatsache, dass er das dem Human Rights Act 1998 inhärente Problem der standing intention zugunsten der Intention des Gesetzgebers, der das auszulegende Gesetze erlassen hat, aufzulösen sucht, mitzuschwingen. 125 Diese Vermutung wird zudem dadurch bestärkt, dass Lord Hope die rein interpretatorischen Befugnisse der Richterschaft in besonderem Maße betont. Die beiden Auffassungen unterscheiden sich somit im Wesentlichen durch die Bedeutung, die sie dem bewussten Erhalt der Parlamentssouveränität durch den Human Rights Act 1998 einräumen. Vor diesem Hintergrund fügt sich – ohne die Law Lords vorschnell kategorisieren zu wollen – Lord Steyns Auffassung von section 3 Human Rights Act 1998 mehr in das Lager der incorporationists, während Lord Hopes Interpretation eher der Auffassung der third waver entspricht. In der Literatur ist die Behauptung, dass section 3 Human Rights Act 1998 eine new interpretative obligation beinhalte – insbesondere in der von Lord Steyn vorgeschlagenen Form – von einigen Stimmen scharf kritisiert worden. 126 Abgesehen von logischen Ungereimtheiten im Hinblick auf den Wegfall des Erfordernisses der ambiguity bei gleichzeitiger Annahme von Interpretationsalternativen, weist Marshall – grundsätzlich zu Recht – darauf hin, dass die Notwendigkeit besonderer Interpretationsmethoden bei der Auslegung der Konventionsrechte nicht mit der Frage verwechselt werden dürfe, inwieweit neue Interpretationstechniken für die Auslegung einfacher Gesetze erforderlich seien. 127 Vor allem aber rügt er die Abkehr von der leitenden Funktion des dem auszulegenden Gesetz zugrunde liegenden parlamentarischen Willens. Auch Ekins lehnt den von Lord Steyn in R v A vertretenen Ansatz des „de facto entrenchment“ 128 ab, da er auf einer nicht überzeugenden Theorie des legislative intent beruhe. 129 So werde nicht mehr in erster Linie danach gefragt, was der 125
Zur standing intention siehe oben § 8 I.3. So inbesondere Geoffrey Marshall, The lynchpin of parliamentary intention: lost, stolen or strained, [2003] P.L. 246; Richard Ekins, A Critique of Radical Approaches to Rights Consistent Statutory Interpretation, (2003) 8 EHRLR 641. Letzterer bietet eine aufschlussreiche Analyse und Kritik möglicher Interpretationsansätze nach section 3 HRA. Vgl. auch Danny Nicol, Are Convention Rights a no-go zone for Parliament, [2002] P.L. 443, der Lord Steyns Vorgehensweise in R v A als eine „delete-all-and-replace amendment“ bezeichnet. 127 Geoffrey Marshall, The lynchpin of parliamentary intention: lost, stolen or strained, [2003] P.L. 238. 126
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Gesetzgeber des auszulegenden Gesetzes bezwecken wollte, sondern vielmehr danach geschaut, ob das Gesetz irgend etwas enthalte, was das Gericht zwingen könne, von einer konventionskonformen Auslegung Abstand zu nehmen. Weder das Fehlen einer expliziten Erklärung, dass das Parlament gegen ein Konventionsrecht verstoßen wolle, noch eine Kompatibilitätserklärung nach section 19 Human Rights Act 1998 lasse jedoch den Rückschluss zu, dass das Parlament jede, wie auch immer geartete Auslegung des Gesetzes, welche die Gerichte für konventionskonform halten, beabsichtigt habe. 130 Grundsätzlich müsse aber der Wille des Gesetzgebers (des auszulegenden Gesetzes) entscheidend bleiben, da aus section 3 und section 4 eindeutig hervorgehe, dass die ultimative rechtliche Autorität weiterhin beim Parlament verbleiben solle. Folglich seien Auslegungsmethoden, die den Willen des Gesetzgebers (des auszulegenden Gesetzes) gänzlich ignorierten oder marginalisierten, abzulehnen. Vor diesem Hintergrund gelangt Ekins implizit zu dem Schluss, dass lediglich die herkömmlichen Auslegungsmethoden 131 diesen Anforderungen entsprächen. Ekins Argumentation beruht erkennbar auf einer Tradition, die davon ausgeht, dass es einen prä-existierenden, durch Auslegungsregeln ermittelbaren gesetzgeberischen Willen gibt und Interpretationsmethoden in erster Linie der Bestimmung 132 als vielmehr der Rechtfertigung einer gerichtlichen Entscheidung dienen. Auch er misst dem Erhalt der Parlamentssuprematie unter dem Human Rights Act 1998 besondere Bedeutung bei. Zudem wird deutlich, dass Ekins Auffassung, wie der Human Rights Act 1998 – so wie in der Präambel angekündigt – den Konventionsrechten further effect verleihen sollte, sich nicht auf die Natur der Interpretations128 Francesca Klug bringt Lord Steyns Ansatz in R v A (ebenso wie die Vorgehensweise in R v Offen [2001] 1 WLR 253) durch folgende „Uminterpretation“ von section 3 HRA auf den Punkt: „With regard to Art. 5 and Art. 6 rights, even if it is not possible to do so, primary and subordinate legislation must be read and given effect in a way which is compatible with Convention rights to liberty and a fair trial unless a clear limit on a Convention right is stated in terms.“ Vgl. Francesca Klug, Judicial Deference Under the Human Rights Act 1998, (2003) 8 EHRLR 128. 129 Richard Ekins, A Critique of Radical Approaches to Rights Consistent Statutory Interpretation, (2003) 8 EHRLR 646. 130 Im Gegensatz hierzu erfordere der Human Rights Act 1998 nach Lord Cooke „an approach to statutory interpretation very different from that to which the United Kingdom courts are accustomed. Traditionally the search has been for the true meaning; now it will be for a possible meaning that would prevent the making of a declaration of incompatibility.“ Vgl. Lord Cooke of Thorndon, The British Embracement of Human Rights, (1999) 4 EHRLR 248. 131 So dürften generelle Begriffe restriktiv ausgelegt werden, um Konventionskompatibilität zu erreichen oder aus mehreren gleich überzeugenden Interpretationen diejenige ausgewählt werden, welche konventionskonform ist. Vgl Richard Ekins, A Critique of Radical Approaches to Rights Consistent Statutory Interpretation, (2003) 8 EHRLR 641 f. 132 Skepsis diesbezüglich hervorrufend, Karl N. Llewllyn, Remarks on the Theory of Appellate Decision and the Rules or Canons About How Statutes Are to Be Construed, (1950) 3 Vanderbilt LRev. 401 ff.
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befugnisse der Gerichte erstreckt und er einen bedeutsamen Wirkmechanismus des Human Rights Act 1998 somit ausklammert. Ekins löst daher den dem Human Rights Act 1998 inhärenten potentiellen Konflikt des gesetzgeberischen Willens bei Erlass des Human Rights Act 1998 mit dem bei Erlass des auszulegenden Gesetzes – unter Betonung des formellen Erhalts der Parlamentssuprematie anstelle der vom Human Rights Act 1998 inhaltlich bezweckten verbesserten Durchsetzung der Konventionsrechte – zugunsten des aktuellen Gesetzgebers auf. 133 Wieweit Ekins Verfassungsverständnis von einem grundlegenden Misstrauen gegenüber der Richterschaft geprägt ist, macht nachfolgendes Zitat deutlich: „At best there is abstract agreement in the West that certain ideals are desirable, but this consensus collapses when we come to apply theses ideals to real disputes. (...) Determining the scope of meaning of rights requires political and moral choice in a context of intense moral disagreement. And as disagreement extends to starting premises and methodology as much as to conclusions, the dispassionate application of reason by the judiciary cannot be relied on to generate morally sound outcomes.“ 134
Wenn die Reichweite der Konventionsrechte eine Frage von intense moral disagreement ist (was gar nicht bestritten werden soll), die Rechtsprechung aber nicht in der Lage ist, Ergebnisse zu erreichen, die morally sound sind, dann drängt sich die Frage auf, welche Rolle die Gerichte im Rahmen des parlamentarisch legitimierten Human Rights Act 1998 überhaupt noch spielen sollen. Letzten Endes spricht Ekins in dieser Passage den Gerichten und ihrer an der Vernunft orientierten Betrachtungsweise die Fähigkeit ab, die Grenzen der Konventionsrechte definieren zu können. Zwar ist ihm darin zuzustimmen, dass das Letztentscheidungsrecht auch unter dem Regime des Human Rights Act weiterhin dem Parlament zu steht. Da es dem Parlament jedoch selbst bei einer radikalen Auslegung theoretisch möglich ist, eine zu weitreichende Auslegung im Wege der Gesetzgebung zu korrigieren, trägt dieses Argument nicht den Schluss, den Gerichten jedwedes Mitsprache- und Gestaltungsrecht abzusprechen. Auch Ekins hält es letztlich für durchaus vertretbar, z. B. weite Begriffe eines Gesetzes restriktiv auszulegen und dies damit zu begründen, dass sich das Parlament konventionskonform verhalten wolle. Dabei könnte man dieser Vorgehensweise – zumindest dem Grunde nach – das gleiche Argument entgegenhalten, mit dem Ekins zuvor Lord Steyns Auslegungstechnik angegriffen hat: Der Umstand allein, dass der Wortlaut die dann gewählte eingeschränkte Auslegung mit umfasst, bietet wohl kaum eine Gewähr dafür, dass die vom Gericht gewählte Restriktion auch die vom Parlament
133 Allerdings wohnt seiner Argumentation insofern ein gewisser Zirkelschluss inne, als er davon ausgeht, dass zu der Bestimmung zulässiger Auslegungsmethoden der Wille des Gesetzgebers als Maßstab dienen soll, der Wille des Gesetzgebers sich jedoch nur durch die Auslegungsmethoden ermitteln lässt, welche gerade umstritten sind. 134 Richard Ekins, A Critique of Radical Approaches to Rights Consistent Statutory Interpretation, (2003) 8 EHRLR 644.
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gewünschte ist bzw. das Parlament das Gesetz in eingeschränkter Form überhaupt gewollt hätte. Gleichwohl ist der Ekins Ansatz zugrunde liegende Einwand, dass Lord Steyns de facto entrenchment eine zu große Entfernung von dem dem auszulegenden Gesetz zugrunde liegenden gesetzgeberischen Willens ermöglicht, nicht unbegründet. So weist auch Conor Gearty 135 zu Recht darauf hin, dass ein derartiger Interpretationsansatz eher dem kanadischen Verständnis 136 entsprechen würde, der Gesetzgeber bei Erlass des Human Rights Act 1998 aber bewusst von einer Übernahme des kanadischen Modells abgesehen habe. Diese Einschätzung wird zudem dadurch unterstützt, dass eine Inkompatibilitätserklärung mit der anschließenden Möglichkeit einer fast track procedure (section 10) nur wenig Sinn gibt, wenn ein derartiges Verfahren nur noch in den Fällen Anwendung finden könnte, in denen das Parlament sowieso schon explizit zum Ausdruck gebracht hat, dass es beabsichtige, gegen ein Konventionsrecht zu verstoßen. An dieser Diskussion und den gegensätzlichen Meinungen in der Rechtsprechung wird deutlich, dass die legitime Reichweite der Interpretation eine Frage des Grades ist, die sich eindeutig subsumierbaren Abgrenzungskriterien weitgehend entzieht und wohl erst mit der Zeit – beeinflusst durch das dann dominierende verfassungstheoretische Vorverständnis – im Wege des sich inkremental entwickelnden Fallrechts an Kontur gewinnen wird. b) Der Zwischentrend Die R v A nachfolgenden Fälle lassen eine Tendenz in der Rechtsprechung erkennen, dem von Lord Hope gewählten restriktiveren Auslegungsansatz zu folgen und ihn weiter zu präzisieren. aa) R v Lambert (HL 2001) In R v Lambert 137 knüpft Lord Hope an seine bereits in R v A artikulierte Auffassung an und ist bemüht, die Grenzen einer Auslegung nach section 3 Human Rights Act 1998 zu verdeutlichen.
135
Conor Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, 2004, S. 52. Siehe unten § 15 I.1.a). 137 R v Lambert [2001] UKHL 37. Für eine kurze Zusammenfassung des Sachverhalts und der Entscheidung in deutscher Sprache siehe Markus Verbeet, Die Stellung der Judikative im englischen Verfassungsgefüge nach dem Human Rights Act 1998, 2004, S. 107 ff. und Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 351. 136
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R v Lambert berührt Beweislastfragen im Rahmen einer Verurteilung wegen unerlaubten Drogenbesitzes nach section 5 (3) Misuse of Drugs Act 1971. So ging es insbesondere um die Frage, ob section 29 (2) und section 29 (3) Misuse of Drugs Act 1971, die dem Angeklagten, der sich im Besitz von Drogen befindet, nach herkömmlichen Verständnis auferlegen, seine Unschuld zu beweisen (d. h. zu beweisen, dass er weder wusste, noch wissen konnte, dass es sich bei dem Inhalt des bei ihm gefundenen Päckchens um Drogen handelte), eine unverhältnismäßige Einschränkung der Unschuldsvermutung gemäß Artikel 6 (2) EMRK darstellen. In diesem Zusammenhang weist Lord Hope erneut darauf hin, dass ein Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 dann an seine Grenzen stoße und eher eine declaration of incompatibility angebracht sei, wenn das Gesetz zu der konventionskonformen Auslegung ausdrücklich im Widerspruch stehe oder aber ein solcher Widerspruch eine notwendige Folge der Auslegung sei. 138 Eine „Reading-in-Technik“, so wie sie z. B. in R v A verwendet wurde, sei zwar grundsätzlich zulässig, müsse aber sorgfältig von einer Gesetzesänderung (amendment), die eindeutig in die Sphäre des Gesetzgebers falle, unterschieden werden. 139 Insgesamt mahnt er trotz der großen Bedeutung von section 3, angesichts der Tatsache, dass die Souveränität des Parlaments durch den Human Rights Act 1998 unangetastet bleibt und aus Gründen der Rechtssicherheit, einen vorsichtigen und an die gewöhnliche Bedeutung des Wortlauts des Gesetzestextes gebundenen Gebrauch der neuen Interpretationsmöglichkeiten an: 140 „It does not give power to judges to overrule decisions which the language of the statute shows have been taken on the very point at issue by the legislator.“ 141
Allerdings macht er in seinem Diktum auch deutlich, dass für ihn der gesetzgeberische Wille (des auszulegenden Gesetzes) zwar im Vordergrund steht, aber nicht absolut ist. So sei es für den Gebrauch von section 3 erforderlich „to respect the will of the legislature so far as this remains appropriate (...)“ 142.
Im vorliegenden Fall hielt er es, ebenso wie die übrigen Lordrichter, für vertretbar, die Worte to prove in section 28 (2) bzw. if he proves in section 28 (3) des Misuse of Drugs Act 1971 im Sinne von to give sufficient evidence zu verstehen, um sie mit Artikel 6 (2) EMRK in Einklang zu bringen.
138 139 140 141 142
R v Lambert [2001] UKHL 37, para. 79. R v Lambert [2001] UKHL 37, para. 81. R v Lambert [2001] UKHL 37, para. 79, 80. R v Lambert [2001] UKHL 37, para. 78. R v Lambert [2001] UKHL 37, para. 79.
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bb) Re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) (HL 2002) In Re S 143 bestätigte das House of Lords durch das von Lord Nicholls gefertigte Leiturteil, dass eine Auslegung, die einen fundamentalen Aspekt eines Gesetzes unterminiert, von section 3 nicht getragen wird: „For present purposes it is sufficient to say that a meaning which departs substantially from a fundamental feature of an Act of Parliament is likely to have crossed the boundary between interpretation and amendment.“ 144
Die Annahme, dass diese Grenze überschritten sei, läge dann nahe, wenn, so wie im vorliegenden Fall, eine von der gewöhnlichen Bedeutung abweichende Auslegung zu weitreichenden praktischen Folgewirkungen führen würde, zu deren Bewertung ein Gericht nicht in der Lage (equipped) sei. Zudem weist Lord Nicholls ausdrücklich darauf hin, dass Lord Steyns Ausführungen in R v A keinesfalls so zu verstehen seien, als würde eine ausdrückliche Beschränkung von Konventionsrechten die einzige Grenze der Anwendung von section 3 darstellen. 145 Vor diesem Hintergrund sah sich das House of Lords in Re S nicht in der Lage, im Wege der Interpretation des Children Act 1989 ein System einzuführen (sogenanntes starring system), nach dem die Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen befugt gewesen wären, die zuständigen Behörden dazu zu verpflichten, bestimmte Eckpunkte eines care plans zu erfüllen. 146 Es sei ein Kardinalprinzip des Children Act 1989, dass die Gerichte keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Aufgabenerfüllung einer Behörde im Rahmen einer final care order hätten. Angesichts dieses Umstandes überschreite die Einführung des vorgeschlagenen neuen Verfahrens eines starring systems im Wege einer auf section 3 gestützten Interpretation die Grenzen des Zulässigen. cc) R (Anderson) v Secretary of State for the Home Department (HL 2002) In Anderson 147 befand das House of Lords, dass das dem Secretary of State for the Home Department gemäß section 29 Crime (Sentences) Act 1997 zustehende Recht, über den frühest möglichen Zeitpunkt der Haftentlassung eines zu einer
143 144
Re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10. Re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10, para.
40. 145
Re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10, para.
40. 146
Re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) [2002] UKHL 10, para.
36. 147
R (on the application of Anderson) v Secretary of State for the Home Department [2002] UKHL 46.
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lebenslänglichen Haftstrafe Verurteilten entscheiden zu dürfen, gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 EMRK verstoße. Die Festlegung der Minimaldauer einer Haftstrafe (fixing of a tariff ) sei Teil der Verurteilung und müsse daher von einem unabhängigen Gericht oder Tribunal, nicht aber von einem Vertreter der Exekutive ausgeübt werden. 148 In Anbetracht der Tatsache, dass die in Re S gefällte Entscheidung von allen Law Lords 149 getragen wurde, ist es nicht völlig überraschend, dass nunmehr auch Lord Steyn in R (Anderson) 150 hinsichtlich der Reichweite von section 3 zur herrschenden Meinung seiner Kollegen umschwenkt. So kommt er in seinen Ausführungen zu dem Schluss, dass es unmöglich sei, section 29 Crime (Sentences) Act 1997 in konventionskonformer Weise auszulegen, da es der offensichtliche Wille des Gesetzgebers gewesen sei, dem Secretary of State eine unabhängige Entscheidungsbefugnis einzuräumen: „It would not be interpretation but interpolation inconsistant with the plain legislative intent to entrust the decision to the Home Secretary, who was intended to be free to follow or reject judicial advice. Section 3 (1) is not available where the suggested interpretation is contrary to express statutory words or is by implication necessarily contradicted by the statute.“ 151
Lord Steyn akzeptiert somit die von Lord Nicholls in Re S getroffene Behauptung, dass ein expliziter Widerspruch nicht die alleinige Grenze einer Section-3Auslegung sei und rät zu einer declaration of incompatibility. 152
148 Zur Bedeutung von Anderson im Hinblick auf die Gewaltenteilung vgl. Merris Amos, R v Secretary of State for the Home Department, ex p Anderson – Ending the Home Secretary’s Sentencing Role, (2004) 67 M.L.R. 110. 149 Lord Nicholls of Birkenhead, Lord Mackay of Clashfern, Lord Browne-Wilkinson, Lord Mustill und Lord Hutton. 150 R (on the application of Anderson) v Secretary of State for the Home Department [2002] UKHL 46. 151 R (on the application of Anderson) v Secretary of State for the Home Department [2002] UKHL 46, para. 59. Ebenso Lord Bingham at para. 30: „To read section 29 as precluding participation by the Home Secretary, if it were possible to do so, would not be judicial interpretation but judicial vandalism: it would give the section an effect quite different from that which Parliament intended and would go well beyond any interpretative process sanctioned by section 3 of the 1998 Act.“ Vgl. auch Lord Hutton at para. 81. 152 Als Reaktion auf dieses Urteil wurde section 29 Crime (sentences) Act 1997 mittlerweile durch den Criminal Justice Act 2003, sections 303(b) (I), 332 und Sch. 37, Pt 8 aufgehoben und durch Übergangsregelungen im Criminal Justice Act 2003, Ch 7 und Schs 21 und 22 ersetzt.
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dd) Bellinger v Bellinger (HL 2003) Ein vergleichsweise vorsichtiger Umgang mit section 3 wird auch in Bellinger v Bellinger 153 deutlich. Mrs. Bellinger ist – nach einer Geschlechtsumwandlung nunmehr weiblichen Geschlechts – ein Transsexueller, dessen Ehe mit Mr. Bellinger aufgrund section 11 (c) Matrimonial Causes Act 1973 für nicht bestehend erklärt wurde, da Mrs. Bellinger dem Gesetz nach ein Mann sei. Die Richter des House of Lords sahen sich nicht in der Lage, section 11 (c) des Matrimonial Causes Act 1973 in einer Weise zu interpretieren, die es Mrs. Bellinger erlauben würde, als „Frau“ im Sinne dieses Gesetzes verstanden zu werden. Vor dem Hintergrund der Straßburger Rechtsprechung in Goodwin v United Kingdom 154 votierten die Richter dafür, section 11 (c) für unvereinbar mit Artikel 8 und Artikel 12 EMRK zu erklären. Lord Nicholls begründet seine Auffassung, dass eine konventionskompatible Auslegung nicht möglich sei, im Wesentlichen damit, dass eine derartige Auslegung eine tiefgreifende Veränderung des Rechts bezüglich Geschlechtsveränderungen bedeuten würde und bildlich gesprochen in „deep waters“ 155 führe. Kriterien für eine Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung könnten nicht schrittweise durch die Gerichte festgelegt werden, sondern müssten Teil einer kohärenten policy des Parlaments sein. 156 Derartige Kriterien seien nämlich alles andere als offensichtlich und die bekannte Rechtsprechung böte keine klärende Hilfe. Daher sei das House of Lords nicht in der Lage (not in a position), die Demarkationslinie zwischen Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung vor dem Gesetz und ihrer Versagung zu ziehen. 157 So berühre die zu entscheidende Frage nicht nur grundsätzliche Aspekte des Instituts der Ehe, sondern brächte auch weit über das Eherecht hinausreichende Konsequenzen mit sich. 158 Aus diesem Grunde müsse die Frage, ob und wie Konventionskompatibilität erreicht werden könne, beim Parlament verbleiben. Lord Hope führt hierzu nur knapp aus: „In any event, problems of great complexity would be involved if recognition were to be given to same sex marriages. They must be left to Parliament.“ 159
153 154 155 156 157 158 159
Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21. [2002] IRLR 664. Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, para. 42. Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, para. 45. Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, para. 43 – 44. Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, para. 45. Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, para. 69.
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Und Lord Hobhouse bemerkt: „It would be a legislative exercise of amendment making a legislative choice as to what precise amendment was appropriate.“ 160
ee) Fazit Die oben genannten Entscheidungen verdeutlichen einen überwiegend vorsichtigen Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998, der tendenziell ein den third wave protagonists entsprechendes Verfassungsverständnis reflektiert und dem Willen des Gesetzgebers (des auszulegenden Gesetzes) eine vergleichsweise große Bedeutung beimisst. 161 Sie enthalten die Grundaussage, dass die Auslegungsbefugnis der section 3 dann an ihre Grenzen stößt, wenn das Gesetz zur konventionskonformen Auslegung ausdrücklich im Widerspruch steht oder aber sich dieser Widerspruch implizit aus dem Gesetz ergibt. Letzteres ist dann der Fall, wenn die konventionskonforme Auslegung gegen einen „fundamentalen Aspekt“ des Gesetzes verstößt. 162 Zudem zeichnet sich eine zurückhaltende Haltung der Gerichte in den Fällen ab, in denen mehrere konventionskonforme Auslegungen – sei es in inhaltlicher (vgl. Bellinger v Bellinger) oder aber die Art des Verfahrens betreffender Hinsicht (vgl. Re (S)) – zur Auswahl stehen, insbesondere dann, wenn derartige Entscheidungen mit weitreichenden sozialen Folgen verbunden sind. 163 Zur Begründung dieser Schranken wird zum einen wieder auf den Willen des Gesetzgebers des auszulegenden Gesetzes und die Wahrung der Parlamentssouveränität verwiesen. Zum anderen wird nunmehr aber auch auf dieser Ebene ein Begründungsansatz deutlich, der die Zurückhaltung der Gerichte aus kompetenziellen Gründen fordert. So seien die Gerichte aufgrund ihrer institutionellen Beschaffenheit zur Klärung bestimmter, insbesondere politische Entscheidungen enthaltender Fragen nicht geeignet (equipped) und sollten derartige Entscheidungen daher dem Parlament überlassen. 164 160
Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21, para. 78. Für eine sehr vorausschauende und pointierte Zusammenfassung der bei der Auslegung nach section 3 zu beachtenden Schwierigkeiten und Kriterien vgl. auch die Entscheidung des Court of Appeal in Poplar Housing v Donoghue [2002] QB 48. 162 In diesem Sinne auch Lord Woolf in Poplar Housing v Donoghue [2002] QB 48: „The most difficult task which the courts face is distinguishing between legislation and interpretation. Here practical experience of seeking to apply section 3 will provide the best guide. However, if it is necessary in order to obtain compliance to radically alter the effect of the legislation, this will be an indication that more than interpretation is involved.“ 163 So gab es in Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21 mehrere konventionskonforme Möglichkeiten, unter welchen Umständen eine Geschlechtsumwandlung vor dem Gesetz anzuerkennen sei. Demgegenüber stand bei Re (S) der adäquate prozedurale Mechanismus zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Erfüllung eines care plans in Frage. 161
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c) Die aktuelle Situation Dieser sich aus den zuvor geschilderten Entscheidungen abzeichnende Trend zu einem sehr restriktiven Gebrauch von section 3 wurde jedoch in dem Fall Ghaidan v Godin-Mendoza 165 nicht fortgeführt. Stattdessen wählten die Richter des House of Lords einen zwischen den vorab geschilderten Polen vermittelnden Ansatz. aa) Ghaidan v Godin-Mendoza (HL 2004) In Ghaidan ging es im Wesentlichen um die Frage, ob section 2 des Schedule 1 des Rent Act 1977 konventionskonform ausgelegt werden könne. Das Gesetz bestimmt u. a., dass nach dem Tod eines Mieters, der ein protected tenant of a dwelling-house war, der überlebende und dort wohnhafte Ehepartner automatisch das gesetzliche Mietverhältnis übernimmt. Entsprechendes gilt für eheähnliche Lebensgemeinschaften. In einer noch nicht auf der Grundlage des Human Rights Act 1998 ergangenen Entscheidung 166 befand das House of Lords, dass diese Regelung jedoch keine Anwendung auf homosexuelle Lebensgemeinschaften fände. Mr. Godin-Mendoza, der Lebensgefährte des verstorbenen Mr. Wallwyn-James, sieht sich hierdurch u. a. in seinem Recht auf Gleichbehandlung (Artikel 14 EMRK) verletzt. Die Richter des House of Lords vertraten einhellig die Auffassung, dass die betreffende Vorschrift auf der Basis der herkömmlichen Auslegungsmethoden gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße. Sie waren jedoch alle – bis auf Lord Millet – der Meinung, dass die in Frage stehende Regelung gemäß section 3 Human Rights Act 1998 konventionskonform ausgelegt werden könne, indem man die Passage as his or her wife or husband im Sinne von as if they were his wife or husband auslegte. Obwohl die Lordrichter hinsichtlich des Ergebnisses divergieren, lässt diese Entscheidung doch erste allgemein verbindliche Faktoren im Sinne eines dauerhaften Kompromisses der ursprünglich gegensätzlichen Ansätze für die Grenzen der Auslegung nach section 3 Human Rights Act 1998 erkennen. Zunächst einmal stellt Lord Nicholls klar, dass es der mittlerweile herrschenden Lehre in der Rechtsprechung entspreche, dass für eine Auslegung nach section 3 Human Rights Act 1998 keine Mehrdeutigkeit des Gesetzes mehr verlangt wird: 167 164 165 166
Vgl. insbesondere Bellinger v Bellinger [2003] UKHL 21. Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30. Fitzpatrick v Sterling Housing Association Ltd [2001] 1 AC 27.
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„It is now generally accepted that the application of section 3 does not depend on the presence of ambiguity in the legislation being interpreted. Even if, construed according to the ordinary principles of interpretation, the meaning of the legislation admits of no doubt, section 3 may nonetheless require the legislation to be given a different meaning.“ 168
Hieraus folgert er, dass es sich bei section 3 Human Rights Act 1998 um eine ungewöhliche und weitreichende Interpretationsverpflichtung handele, die es den Gerichten abverlange, ggf. von der Intention des Gesetzgebers, der das Gesetz erlassen hat, abzuweichen und die Bedeutung des Gesetzes konventionskonform zu verändern. 169 Eine übertrieben am Wortlaut verhaftete Interpretationsmethode stelle seiner Meinung nach eine semantic lottery dar, die willkürlich, je nachdem welchem Wortlaut der Gesetzesverfasser im Einzelfall gewählt hat, eine konventionskonforme Auslegung ermögliche oder versage und unmöglich vom Gesetzgeber der section 3 Human Rights Act 1998 gewollt gewesen sein könne. 170 Die kreativen Möglichkeiten der Gerichte stießen jedoch dort an ihre Grenzen, wo die anvisierte Auslegung des Gerichts gegen ein fundamental feature des auszulegenden Gesetzes verstoßen würde oder aber dem Gericht eine Entscheidung abverlange, für die es nicht equipped ist. 171 Auch Lord Steyn lehnt eine „excessive concentration on linguistic features“ ab und bevorzugt einen zweck- bzw. konventionsorientierten Ansatz der Auslegung. 172 Der Gesetzgeber habe bei Erlass des Human Rights Act 1998 bewusst davon abgesehen, eine etwa mit dem New Zealand Bill of Rights Act 1990 vergleichbare reasonable interpretation zu verlangen. Vielmehr habe sich der Gesetzgeber an den weitreichenden Interpretationsbefugnissen des EuGH unter dem EEC Treaty orientieren wollen. 173 Der entscheidende Punkt des Human Rights Act 1998 167
Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 28. Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 29. 169 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 30. 170 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 31. Für Lord Nicholls spielt daher der Wortlaut eines Gesetzes zwar eine nicht völlig zu vernachlässigende, aber im Gegensatz zu dem dem Gesetz zugrunde liegenden Konzept eine eher untergeordnete Rolle. Vgl. aber auch Ekins, der aus dem Argument der semantic lottery genau den gegenteiligen Schluss zieht: Richard Ekins, A Critique of Radical Approaches to Rights Consistent Statutory Interpretation, (2003) 8 EHRLR 648 f. 171 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 33. 172 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 41. Ebensowenig hält er eine Mehrdeutigkeit des auszulegenden Gesetzes für erforderlich (para. 44). 173 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 44, 45. Hierbei verweist Lord Steyn auf Marleasing SA v La Comercial Internacional de Alimentacion SA (C-106/89) [1990] ECR I-4135, 4195, in dem ein sehr teleologischer Ansatz verfolgt wird: „It follows that, in applying national law, whether the provisions were adopted before or after the directive, the national court called upon to interpret it is required to do so, as far as possible, in light of the wording and the purpose of the directive in order to achieve the 168
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sei es, die Konventionsrechte „nach Hause zu bringen“. Dieses Ziel könne am effektivsten durch Anwendung von section 3 und nur in Ausnahmefällen durch section 4 erreicht werden. Entsprechend der Intention des Gesetzgebers bei Erlass des Human Rights Act 1998 stelle section 3 daher eine starke, wenn auch widerlegbare Vermutung für eine konventionskonforme Auslegung dar. 174 Vor diesem Hintergrund wirft er die Frage auf, ob die Rechtsprechung angesichts der Tatsache, dass bis dato 15 Unvereinbarkeitserklärungen erlassen wurden und nur zehnmal Gebrauch von section 3 gemacht wurde, einen grundlegend falschen Weg eingeschlagen hat 175: „A study of case law reinforces the need to pose the question whether the law has taken a wrong turning.“ 176
Lord Rogers leitet die Grenzen der Auslegung aus dem Verhältnis von section 3 und section 6 Human Rights Act 1998 ab 177 und teilt im Ergebnis die Ansicht, dass für die Grenzen einer Auslegung gemäß section 3 nicht vornehmlich der Wortlaut des Gesetzes maßgeblich sein dürfe, sondern die substance der Regelung bzw. der overall scheme des Gesetzes ausschlaggebend sei. Hierzu dürfe die Auslegung eines Gesetzes nicht im Widerspruch stehen: „So from section 6 (2) (a) and (b) one can tell that, however powerful the obligation under section 3 (1), it does not allow the courts to change the substance of a provision completely, to change a provision from one where Parliament says that x is to happen into one saying that x is not to happen. And of course, in considering what constitutes the substance of the provision or provisions under consideration, it is necessary to have regard to their place in the overall scheme of the legislation as enacted by Parliament.“ 178
result pursued by the latter and thereby comply with the third paragraph of Article 189 of the Treaty.“ 174 Dies sei bereits in den Parlamentsdebatten zum Ausdruck gekommen. Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 42, 46, 50. Angesichts der übermächtigen Bedeutung von section 3 erübrigt es sich Lord Steyns Ansicht nach jedoch, allgemeine Kriterien dafür aufzustellen, wann eine Auslegung gemäß section 3 nicht in Betracht komme, da sich derartige Sachverhalte, wie z. B. Anderson oder Bellinger, geradezu aufdrängten: „Like the proverbial elephant such a case ought generally to be easily identifiable. What is necessary, however, is to emphasize that interpretation under section 3 (1) is the prime remedial remedy and that resort to section 4 must always be an exceptional course.“ (para. 50). 175 Für eine Liste der Fälle, bei denen Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 gemacht wurde, vergleiche den Appendix zu den Ausführungen von Lord Steyn in Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30. Dem sind mittlerweile (Juli 2006) zwei weitere Fälle hinzuzufügen: Beaulane Properties v Palmer [2006] Ch 79 (Law of Property Act 1925 – „adverse possession“); Culnane v Morris [2006] 2 All ER 149 (Defamation Act 1952 – „qualified privilege during elections“). 176 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 39. 177 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 105 ff.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Die Art und Weise, wie Konventionskonformität hergestellt werde, z. B. durch Reading-in- oder Reading-down-Techniken, sei unerheblich, solange nicht die Grenze zur Gesetzgebung überschritten werde. 179 So sähe es zwar aus wie ein amendment, wenn die Gerichte bestimmte Worte in eine Regelung hineinläsen, dies sei aber dann nicht der Fall, wenn diese Ergänzungen im Einklang mit dem scheme des Gesetzes stünden und erforderlich für seine Konventionskonformität seien. Es sei vielmehr eine den Gerichten durch den Gesetzgeber auferlegte Pflicht, in einer derartigen Weise zu verfahren. 180 Auch Baroness Hale schließt sich unter Betonung der besonderen Bedeutung des Human Rights Act 1998 und im Einklang mit dem neuen Demokratieverständnis dem Votum ihrer Kollegen an 181: „Finally it is a purpose of all human rights instruments to secure the protection of the essential rights of members of minority groups, even when they are unpopular with the majority. Democracy values everyone equally even if the majority does not.“ 182
Lord Millet gelangt zwar zu einem anderen Ergebnis, wendet aber im Grunde die gleichen Abgrenzungskriterien an: So teilt auch er die Auffassung, dass section 3 Human Rights Act 1998 Auslegungen ermögliche, die nach den herkömmlichen Techniken einschließlich der Vermutung, dass das Parlament nicht beabsichtige, konventionswidrige Gesetze zu erlassen, nicht zur Verfügung standen. Er legt jedoch angesichts des bestehenden Verfassungssystems der Parlamentssouveränität großen Wert auf die Feststellung, dass den Gerichten allein interpretative Kompetenzen zustünden. 183 Dennoch hält auch er weder die Mehrdeutigkeit noch eine übertriebene Orientierung am Wortlaut eines Gesetzes für erforderlich:
178
Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 110. Ebenso wie Lord Nicholls ist er der Auffassung, dass es nicht die Intention des Gesetzgebers des Human Rights Act 1998 gewesen sein könne, die Reichweite des Human Rights Act 1998 in die Hände einer semantic lottery zu legen: „In enacting section 3(1), it cannot have been the intention of Parliament to place those asserting their rights at the mercy of the linguistic choices of the individual who happened to draft the provision in question.“ (para. 121). 179 Insofern sei es zu weitreichend, von den gemäß section 3 Human Rights Act 1998 interpretierenden Parteien den gleichen Standard zu erwarten, wie von einem ein Gesetz verändernden Gesetzgeber. Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 124. 180 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 120, 121. Er warnt jedoch auch vor einer unkritischen Übernahme der Interpretationsmethoden des Privy Council. Vielfach beträfen derartige Entscheidungen Länder, die über eine geschriebene, höherwertiges Recht darstellende Verfassung verfügten und insofern auf das immer noch im Vereinigten Königreich vorherrschende System der Parlamentssouveränität nicht übertragbar seien. 181 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 144. 182 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 132. 183 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 57, 60.
§ 12 Judicial deference in der obergerichtlichen Rechtsprechung
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„It (die allein interpretatorische Aufgaben der Gerichte) means only that the court must take the language of the statute as it finds it and give it a meaning which, however unnatural or unreasonable, is intellectually defensible.“ 184
Grenze dieser Auslegungsobligation seien die fundamental features eines Gesetzes; im Übrigen seien die Möglichkeiten der Gerichte sehr weitreichend: „It (das Gericht) can do considerable violence to the language and stretch it almost (but not quite) to the breaking point.“ 185
Da sich aber der Gesetzgeber, um seine Intention zum Ausdruck bringen zu können, des Mediums der Sprache bedienen müsse, könne auch der Wortlaut nicht völlig unberücksichtigt bleiben, sondern müsse bei der Ermittlung der „fundamental features of the legislative scheme“ – neben der geschichtlichen Entwicklung des Wortlauts eines Gesetzes – berücksichtigt werden. 186 Vor diesem Hintergrund gelangt Lord Millet angesichts der historischen Entwicklung der in Frage stehenden Regelung zu dem Ergebnis, dass sich der Rent Act 1977, trotz mehrfacher Veränderungen, nur auf Beziehungen zweier Menschen verschiedenen Geschlechts beziehe. Daher seien die Worte of the opposite sex der in Frage stehenden Regelung inhärent, so dass sie nicht konventionskonform ausgelegt werden könnten, ohne dass die Auslegung gegen eine „implizite“ Grenze des Gesetzes verstoße. Zudem seien politische Fragen betroffen, die schon aus Gründen der demokratischen Legitimation beim Parlament verbleiben müssten. 187 bb) Fazit Wie bereits angekündigt, lässt Ghaidan v Godin-Mendoza die Verfestigung eines Mittelwegs zwischen den ursprünglich divergierenden Lagern hinsichtlich des Gebrauchs von section 3 Human Rights Act 1998 in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erahnen. Selbstverständlich gibt es nach wie vor keinen abschließenden „Test“, d. h. messerscharfe Trennlinien, nach denen Auslegung von Gesetzgebung – oder besser gesagt unzulässige richterliche Rechtsfortbildung von zulässiger – abschließend unterschieden werden könnte. Lord Nicholls führt in Gaidan daher zutreffend aus:
184
Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 67. Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 67. 186 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 68 –72, 77. 187 Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 98, 99, 101. Lord Mustills abweichendes Urteil ist nicht so sehr in der von ihm angewendeten Methode begründet, als vielmehr in der Annahme, dass die den Veränderungen des Rent Act 1977 zugrunde liegende social policy stabile homosexuelle Partnerschaften nicht mit umfasse, während seine Kollegen von dem Gegenteil ausgehen. 185
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
„What is the standard, or criterion, by which ‚possibility‘ is to be judged? A comprehensive answer to this question is proving elusive. The courts, including (the House of Lords), are still cautiously feeling their way forward as experience in the application of section 3 gradually accumulates.“ 188
Die folgenden vier Kriterien haben jedoch – wie Gaidan zeigt – (vorerst) Anerkennung gefunden: Die Anwendung von section 3 Human Rights Act 1998 erfordert keine Mehrdeutigkeit eines Gesetzes. Die gewünschte Auslegung ist „unmöglich“, wenn die Worte des Gesetzes ihrem herkömmlichen Verständnis nach entweder explizit oder implizit der beabsichtigten Auslegung widersprechen. Dies ist dann der Fall, wenn die beabsichtigte Auslegung einem fundamentalen Aspekt des Gesetzes widerspricht oder ein Gebiet betrifft, das aus der Natur der Sache 189 heraus für eine richterliche Entscheidung – sei es aus kompetenziellen oder demokratischen Gründen – ungeeignet ist. Sowohl Reading-in- als auch Reading-down-Techniken sind grundsätzlich möglich. Der Inhalt und nicht die Art und Weise der Umsetzung des gewünschten interpretatorischen Ergebnisses sind somit für die Frage seiner Zulässigkeit entscheidend. Ghaidan unterscheidet sich jedoch von dem zuvor skizzierten Zwischentrend 190 dahingehend, dass alle Richter, abgesehen vielleicht von Lord Mustill, nunmehr in verschärfter und ausdrücklicher Form die Abkehr von einem sehr an dem Wortlaut des auszulegenden Gesetzes orientierten Ansatz propagieren und sprachliche Bedenken bei der Auslegung in den Hintergrund verweisen. Der Vepflichtung der Richterschaft, aktiv nach einer konventionskonformen Auslegung zu suchen, wird mehr Impetus verliehen. Trotz aller Vorsicht gegenüber einer zu weitreichenden Aushöhlung der Doktrin der Parlamentssouveränität weicht die Rücksichtnahme auf die Intention des Gesetzgebers des auszulegenden Gesetzes zunehmend dem Willen des Gesetzgebers bei Erlass des Human Rights Act 1998 und der Betonung seiner besonderen Bedeutung. Dementsprechend rücken auch bei der Bestimmung der Grenzen der richterlichen Kreativität Fragen der demokratischen Legitimation der Richterschaft gegenüber Fragen ihrer institutionellen Kompetenz immer weiter in den Hintergrund. Tendenziell scheint die Mehrheit der Richterschaft entschlossen zu sein, den vermeintlichen wrong turn 191 des Rechts zu korrigieren und strebt eine vermit188
Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, para. 27. Insbesondere, wenn verschiedene Handlungsalternativen zur Verfügung stehen und die zu entscheidenden Fragen politischer Natur sind. 190 Siehe oben § 12 II.2.b). 189
§ 13 Abschließende Betrachtung
277
telnde Lösung zwischen den in R v A skizzierten Polen an. 192 In der Zeit nach Ghaidan ist zwar ein zahlenmäßig etwas verhaltenerer Gebrauch von section 4 Human Rights Act 1998 zu verzeichnen, allerdings ging auch der Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 erheblich zurück. 193 Soweit die kurze Zeitspanne von sechs Jahren seit Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 überhaupt eine valide Aussage zulässt, kann vor diesem Hintergrund festgestellt werden, dass die Möglichkeiten des Human Rights Act 1998 zwar insgesamt eher vorsichtig genutzt werden, aber in diesem Rahmen die Chance zum Dialog – wenn auch verhalten – angenommen wird.
§ 13 Abschließende Betrachtung Die jüngere Rechtsprechung verdeutlicht, dass das dem Human Rights Act 1998 inhärente Spannungsverhältnis (die bestmögliche Durchsetzung der Konventionsrechte auf der einen Seite und der Erhalt der Parlamentssuprematie auf der anderen Seite) – welches bereits im herkömmlichen Verfassungssystem durch die beiden 191
Siehe oben Zitat von Lord Steyn § 12 II.2.c)aa). Diesen Trend befürwortend Robert Wintemute, Same-sex partners, „living as husband and wife“, and section 3 of the Human Rights Act 1998, [2003] P.L 631. 193 In den ersten viereinhalb Jahren seit Inkrafttretens des Human Rights Acts 1998, d. h. bis zur Entscheidung in Ghaidan am 21. 6. 2004, wurden 15 declarations of incompatibility erlassen, von denen fünf in der nächsten Instanz wieder aufgehoben wurden, und zehn Mal Gebrauch von section 3 gemacht. In den folgenden zwei Jahren nach Ghaidan wurden fünf weitere declarations of incompatibility erlassen, von denen eine wieder aufgehoben wurde, und weitere zwei Mal Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 gemacht (für die declarations of incompatibility vgl. Appendix 3 des Joint Committee On Human Rights Twenty-Third Report, http://www.publications.parliament.uk/pa/jt200506/jtselect/jt rights/239/23909.htm (Stand: 16. 6. 2006) bzw. die Übersicht unter http://www.dca.gov.uk/ peoples-rights/human-rights/pdf/decl-incompat-tabl.pdf (Stand: 1. 8. 2006). Für den Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 vgl. Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy, Review of the Implementation of the Human Rights Act, July 2006, S. 17 m.w. N.). Es ist allerdings anzumerken, dass mangels eindeutiger Demarkationslinie zwischen „herkömmlicher“ und neuer Section-3-Auslegung der zahlenmäßige Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 wenig über den tatsächlichen Umfang richterlicher Auslegungsaktivität aussagt. Im Durchschnitt wurden somit seit Inkrafttretens des Human Rights Act 1998 ca. zwei „rechtskräftige“ declarations of incompatibility pro Jahr erlassen und jährlich ca. drei (Einzel-)Normen für nichtig erklärt. (Im Vergleich hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in den ersten fünf Jahrzehnten seines Bestehens 523 Erklärungen über die Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit einer (Einzel-)Norm getroffen, vgl. Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?, 2001, S. 11; siehe auch die Jahresstatistik 2006 des Bundesverfassungsgerichts zu beanstandeten Normen unter http:// www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/gb2006/A-VI.html.) 192
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Säulen der rule of law und Parlamentssouveränität angelegt war, durch die orthodoxe Lehre aber unterdrückt worden ist – auf der Ebene der judicial deference nunmehr offenkundig wird und nach einer Lösung verlangt. Zwar wurde durch den Human Rights Act 1998 dem Schutz der in der Konvention normierten Rechte ein höherer Stellenwert eingeräumt, zugleich aber der politischen Entscheidung das letzte Wort eingeräumt. Zwischen diesen Polen versuchen die Gerichte, durch Anwendung von judicial deference nunmehr zu vermitteln. Aufgrund des vielfältigen Gebrauchs des Begriffs judicial deference fällt es allerdings schwer, von einer Doktrin zu sprechen. 194 Vielmehr fasst er höchst unterschiedliche Phänomene unter einer Überschrift zusammen und beschreibt eher eine allgemeine Haltung als eine juristische Doktrin. So beeinflusst judicial deference − die Konventionsrechtsdogmatik bei der Bestimmung der Reichweite des Schutzbereichs eines Konventionsrechts, − entscheidet über „Ob“ und „Wie“ der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und − begrenzt die interpretatorischen Befugnisse unter section 3 Human Rights Act 1998. All ihren Ausprägungen ist jedoch als verbindendes Element eines gemein: Judicial deference ist dazu bestimmt, der Zurückhaltung der Richterschaft gegenüber der Legislative und dem politischen Prozess zu dienen. Mit Blick auf die Feststellung eines Konventionsrechtsverstoßes bietet sie hingegen ein widersprüchliches Bild. Während judicial deference auf der ersten Ebene der judicial review of legislation darüber entscheidet, ob überhaupt ein Konventionsrechtskonflikt festgestellt wird und sie die Annahme der Konventionsrechtsverletzung eines Gesetzes eher hindert, ist sie auf der zweiten Ebene darauf gerichtet, an der einmal festgestellten Konventionsrechtswidrigkeit des Gesetzes weitestgehend festzuhalten, um möglichst schnell zu einer Inkompatibilitätserklärung zu gelangen. Auf der ersten Ebene scheint das – auf der Idee der good governance fußende – Argument der institutionellen Kompetenz allmählich Argumentationsansätze, die im Wesentlichen auf der unzureichenden demokratischen Legitimation
194 Dies begrüßend, da eine Doktrin der deference möglicherweise die fälschliche Annahme fördern könnte, die Etablierung eindeutiger auf den Einzelfall anwendbarer Abgrenzungskriterien sei in diesem Bereich möglich: Trevor R. S. Allan, Common Law Reason and the Limits of Judicial Deference, in: David Dyzenhaus (ed.), The Unity of Public Law, 2004, S. 292. Vgl. auch Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, S. 29, verfügbar unter http:// law.bepress.com/expresso/eps/276: „Judicial deference (...) is the product of case law, history, and the judiciary’s own conception of the proper role of the courts.“
§ 13 Abschließende Betrachtung
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und mangelnden politischen Verantwortlichkeit der Judikative beruhen und insofern den Geist der alten Verfassungsordnung atmen, als Legitimationsgrundlage für judicial deference zu Recht zu verdrängen. 195 Nichtsdestoweniger sollte gerade im Bereich der sich verfestigenden Verhältnismäßigkeitsprüfung einer allzu weitreichenden Zurückhaltung der Richterschaft mit größter Vorsicht begegnet werden, da sie vorschnell zu einer unangemessenen Aufgabe der ihr durch den Human Rights Act 1998 auferlegten Verpflichtungen führen und die Rolle der Gerichte im Rahmen des constitutional dialogue unzulässig marginalisieren kann. Gerade weil das Parlament rechtlich nicht gezwungen ist, einer richterlichen Inkompatibilitätserklärung zu folgen, sondern der Human Rights Act 1998 vielmehr die Möglichkeit eines rechtlich legitimen Dissenses 196 vorsieht – die Inkompatibilitätserklärung somit als Informationsangebot für die Legislative begriffen werden kann – 197 steht einer gründlichen Kontrolle der Gerichte zumindest das Argument der Missachtung des parlamentarischen Willens bzw. einer Unterdrückung des
195 Zur grundsätzlichen Berechtigung dieses Ansatzes in Deutschland vgl. Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?, 2001, S. 22 f. m.w. N. 196 Was das genau bedeutet, ist für einen deutschen Juristen schwer fassbar: Hat das Parlament bei der Bestimmung dessen, was konventionsgemäß ist ein Mitspracherecht, d. h. eine eigene rechtliche Definitionsbefugnis (Alternative a), oder ist die Bestimmung dessen, was konventionsgemäß ist, allein Aufgabe der Gerichte (Alternative b)? Alternative a) hätte in letzter Konsequenz zur Folge, dass ein – z. B. trotz Inkompatibilitätserklärung – aufrecht erhaltenes Gesetz nach der Definitionshoheit des Parlaments nunmehr als konventionsgemäß gelten müsste. Hiernach hätte das Parlament die Befugnis zur rechtlichen Mitsprache hinsichtlich der Reichweite der Konventionsrechte. Dann hätte es section 6 (2) Human Rights Act 1998 eigentlich nicht bedurft. Alternative b) hingegen bedeutet, dass das Parlament die rechtliche Befugnis hat, das von den Gerichten als konventionswidrig angesehene Gesetz aufrecht zu erhalten. Das Gesetz bleibt wirksam. Nicht mehr und nicht weniger, denn Kategorisierungen wie z. B. „konventionswidriges aber verfassungsmäßiges Gesetz“ erübrigen sich in einem System der Parlamentssouveränität, wo jedes Gesetz Gültigkeit beansprucht. Nach diesem Ansatz haben die Gerichte zwar nicht das letzte Wort hinsichtlich dessen, was „Recht“ im Vereinigten Königreich ist, sie haben aber das letzte Wort in Fragen der Konventionsmäßigkeit und können so den Gesetzgebungsprozess instruieren. Für einen deutschen Juristen schwer verständliche Ungereimtheiten, wie z. B., dass ein und dasselbe Verhalten der öffentlichen Hand, je nachdem auf welcher Grundlage (Gesetz, common law) es beruht, nach section 6 Human Rights Act 1998 recht- bzw. unrechtmäßig sein kann, sind logische Folge beider Systeme. Fundstellen in Rechtsprechung und Literatur bestätigen eher Alternative b): So stellte Lord Hoffmann in R v Secretary of State for the Home Department, ex p Simms [2000] 2 AC 131 fest: „(...) (T)he principle of legality means that Parliament must squarely confront what it is doing and accept the political cost.“ Jowell bezeichnet die Gerichte als ultimate arbiters, aber nicht guarantors der Grenzen einer constitutional democracy, vgl. Jeffrey Jowell, Judicial deference: servility, civility or institutional capacity, [2003] P.L. 599. 197 Näher zu diesem Aspekt z. B. Tom R. Hickman, Constitutional Dialogue, Constitutional Theories and the Human Rights Act 1998, [2005] P.L. 306.
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
demokratischen Prozesses – wenigstens vom theoretischen Ansatz her – nicht entgegen. Davon abgesehen gehört die Abwägung und Gewichtung divergierender Rechte, trotz des ihr innewohnenden Allgemeinwohlbezugs und zwangsläufiger politischer Implikationen, zum ureigensten Aufgabenbereich der Gerichte. Ordnen sich die Gerichte auf dieser Ebene vorschnell und undifferenziert unter, dann ersetzen sie der Sache nach ihr Urteil über die Grenzen der Reichweite eines Konventionsrechts durch das des Parlaments und negieren die ihnen nunmehr zukommende Aufgabe, die Konturen der Konventionsrechte zu definieren. 198 Zudem treffen sie auf dieser Ebene eine Vorselektion von Fällen, die dem constitutional dialogue gänzlich entzogen werden, ohne dass eine nennenswerte inhaltliche gerichtliche Prüfung stattgefunden hätte. Eine unangemessene Zurückhaltung der Gerichte in diesem Bereich trägt somit rückwärtsgewandte Züge in sich. Insofern könnten Nicols Kategorien von incorporationists und third wavern um ein drittes Lager erweitert werden: den Reaktionären. 199 Auf der zweiten Ebene hat judicial deference zumindest angesichts der Struktur des Human Rights Act 1998 und dem darin zum Ausdruck kommenden Verständnis der Gewaltenteilung, trotz des Wunsches nach bestmöglicher Durchsetzung der Konventionsrechte, eine gewisse Berechtigung. Bei Einführung des Human Rights Act 1998 wurde die Doktrin der Parlamentssouveränität bewusst erhalten. Zudem weist die Möglichkeit der Inkompatibilitätserklärung mit dem sich anschließenden Fast-Track-Verfahren unbestritten starke dialogistische Züge auf. Vor diesem Hintergrund und dem Ideal des constitutional dialogue ist ein zu weitreichender Gebrauch von section 3 Human Rights Act 1998 daher tendenziell abzulehnen und die Folge, dass ein Betroffener trotz Inkompatibilitätserklärung „rechtsschutzlos“ bleibt, gelegentlich hinzunehmen. Denn bei einer strained interpretation sind gegenüber einer declaration of incompatibility die Reaktionsmöglichkeiten des Parlaments erschwert und der Dialog zwischen den Gewalten zumindest geschwächt. 200 So bestimmt bei einer strained interpretation zunächst das Gericht, wie Konventionskompatibilität hergestellt wird. Der Einfluss des Parlaments wird auf ein Veto- bzw. Interventionsrecht beschränkt. Dies aber widerspricht der Dialog-Struktur des Human Rights Act 1998 und trägt seiner Wertentscheidung, dem Parlament das letzte Wort zu geben und damit grundsätzlich auch das „Wie“ der Abhilfe eines Konventionsrechtsdefizits in die Hände des Parlaments zu legen, 198 Vgl. Jeffrey Jowell, Beyond the Rule of Law: Towards Constitutional Review, [2000] P.L. 671, der die Gerichte als „arbiters of the boundaries of constitutional democracy“ ansieht. 199 Eine Kategorie, die auch angesichts des geringen zahlenmäßigen Gebrauchs von section 3 und section 4 Human Rights Act 1998 nicht ganz unangebracht erscheint. Siehe oben § 12 II.2.c)bb). 200 Nicol führt diesbezüglich zutreffend aus, dass richterliche „rewrites of legislation“ gemäß section 3 Human Rights Act 1998 ein „relatively invisible means of changing the law in contrast to the headline grabbing declaration of incompatibility“ darstellt, vgl. Danny Nicol, The Human Rights Act and Politicians, (2004) 24 Legal Studies 488.
§ 13 Abschließende Betrachtung
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nicht hinreichend Rechnung. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Human Rights Act 1998 bereits aufgrund des formellen Erhalts der Parlamentssouveränität von vornherein nur eine abgeschwächte Form der Normenkontrolle (Verzicht auf das Kassationsrecht) zulässt, so dass grundsätzlich – anders als in Staaten mit vollausgereifter Verfassungssouveränität – von einer zu großen Scheu gegenüber dem Gebrauch einer Inkompatibilitätserklärung abzuraten ist. 201 Das adäquate Maß von deference hängt somit entscheidend davon ab, wieviel Raum der parliamentary sovereignty und anderen Elementen der alten Verfassungsstruktur, d. h. politischen Kontrollmechanismen, unter dem Human Rights Act 1998 gelassen werden soll. Der Human Rights Act 1998 bietet in dieser Hinsicht Spielraum. Eine überzeugende verfassungstheoretische Unterfütterung wäre für die Lösung dieser Frage zwar – wie bereits erwähnt 202 – hilfreich und wünschenswert. 203 Ein differenzierterer Leitfaden für den Gebrauch von judicial deference wird sich aber wohl eher nach Common-Law-Manier Schritt für Schritt im Zuge fortschreitender Rechtsprechung herauskristallisieren. 204 Zwar finden sich in Literatur und Rechtsprechung erkennbar Anleihen an die Werke Fullers 205 und Dworkins 206; überwiegend wird aber nur sehr verhalten auf die Erfahrungen und theoretischen 201 Vgl. Michael J. Perry, Protecting Human Rights in a democracy: What role for the courts?, (2003) 38 Wake Forest LRev. 635 ff. 202 Siehe oben § 10. 203 So bemerkt Robert Stevens in The English Judges. Their Role in the Changing Constitution, 2005, S. 147 zutreffend: „There has been what may well be seen as a revolution in the self-perception of the judiciary, although without the benefit which the American Constitution enjoys of a sophisticated literature on judicial restraint and judicial activism, analysing the inherent conflict between judicial powers and the democratic model.“ 204 Zur „Theoriefeindlichkeit“ in Großbritannien vgl. z. B. die nachfolgenden Bemerkungen von Wade und Allan. So bemerkte Sir William R. Wade im Zusammenhang mit möglichen Veränderungen des Verfassungssystems aufgrund des Beitritts Großbritanniens zur Europäischen Union: „Perhaps it is enough to note that some of them (der verfassungstheoretischen Erklärungsansätze des Beitritts) might provide means of entrenching a Bill of Rights, particularly if backed by a treaty, as is the European Convention. Beyond that, the prudential course may be to follow the example of the House of Lords and turn a blind eye to constitutional theory altogether. Unsatisfying as that may be to the academic mind, it at least provides a further example of the constitution bending before the winds of change, as in the last resort it will always succeed in doing.“ Sir William R. Wade, Sovereignty – Revolution or Evolution?, (1996) 112 L.Q.R. 575. Dem trat Trevor R. S. Allan in Parliamentary Sovereignty: Law, Politics, and Revolution, (1997) 113 L.Q.R. 443, wie folgt entgegen: „Such a pusillanimous course would disarm us just when recourse to theory becomes more essential than ever, when political change induces even orthodox lawyers to abandon the simple faith that parliamentary omnipotence can be the governing principle for a modern constitutional democracy.“ 205 So z. B. die Scheu der Gerichte, Sachverhalte, die die Verteilung limitierter Ressourcen betreffen oder aber polyzentrische Probleme berühren, zu entscheiden. Für die
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3. Teil: Die Gegenbewegung der judicial deference?
Abhandlungen anderer Länder in diesem Bereich zurückgegriffen 207 und deren Ansätze unter Berücksichtigung der spezifischen britischen Besonderheiten betrachtet. Trotz dieser weitreichenden Unsicherheiten und Unklarheiten zeichnet sich in der jüngeren Rechtsprechung – abgesehen von zum Teil noch vorhandener reaktionärer Tendenzen – ein vorsichtiger Trend zu einem vom theoretischen Ansatz restriktiveren (1. Ebene) bzw. zumindest strukturierteren (2. Ebene) Gebrauch von judicial deference ab, so dass sich Anspruch und Wirklichkeit des neuen Verfassungsideals ein wenig näher gekommen sind. Literatur vgl. beispielsweise Trevor R. S. Allan, The Rule of Law as the Rule of Reason: Consent and Constitutionalism, (1999) 115 L.Q.R. 221 ff. mit erkennbaren Bezügen zu L. L. Fuller, The Forms and Limits of Adjudication, (1978) 92 Harvard LRev. 353 ff.; ders., The Morality of Law, 1969. 206 So z. B. die von einigen Richtern getroffene Unterscheidung zwischen matters of principle, die für eine gerichtliche Entscheidung geeignet sind und matters of policy, die eher den gewählten Vertretern des Volkes obliegen sollten. Für die Literatur vgl. beispielsweise Trevor R. S. Allan, Dworkin and Dicey: The Rule of Law as Integrity, (1980) 8 OJLS 266 ff. 207 So z. B. auf die umstrittene Political-Questions-Doktrin aus den USA, die in bestimmten Bereichen von politischer Brisanz zu einem Ausschluss der Justiziabilität führt, letztlich aber eine Frage der Gewaltenteilung ist und zugleich die Unterscheidung von Recht und Politik anspricht. Zu dieser Doktrin, die auch in Deutschland diskutiert wurde, aber weder dort noch in den USA eine konsequente Umsetzung gefunden hat, siehe u. a. Christoph Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005, S. 148; Ulrich R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, 1998, S. 213 f.; Josef Isensee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Michael Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, Tübinger Schriften zur Politik, Bd. 3, 1995; Jörg Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2003; Dieter Grimm, Politik und Recht, in: Eckart Klein (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit: Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, 1995, S. 91 ff.; Fritz Wilhelm Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung: die political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des Supreme Court, 1965; Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 52 ff.; Gerd Roellecke, Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit. Über immanente Grenzen der richterlichen Gewalt des Bundesverfassungsgerichts, 1961; Martin Kriele, Recht und Politk in der Verfassungsrechtsprechung, NJW 1976, 777 ff.; Ernst Benda, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, ZRP 1977, 1 ff. Siehe auch Peter Hogg, Constitutional Law of Canada, 1997, S. 810 m.w. N. Zudem wurde u. a. auf James B. Thayer, The Origin and Scope of the American Doctrine of Constitutional Law, (1893) 7 Harvard LRev 129, und seine theory of minimal judicial review zurückgegriffen und auf Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch – The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962, S. 111 ff., der eine Reihe von prozeduralen Möglichkeiten aufzeigt, die den Gerichten inhaltliche Zurückhaltung ermöglichen. Für entsprechende Bezugnahmen vgl. z. B. Martin Loughlin, Sword and Scales. An Examination of the Relationship Between Law and Politics, 2000; oder auch Tom R. Hickman, Constitutional Dialogue, Constitutional Theories and the Human Rights Act, [2005] P.L. 306 ff.
Zusammenfassung und Ausblick § 14 Zusammenfassung Die Verfassungslandschaft in Großbritannien hat sich gewandelt. Eine aktive Richterschaft und der Human Rights Act 1998 haben dazu ihren Beitrag geleistet. Doch der sich weiterhin vollziehende Wandlungsprozess war und ist eher evolutionärer als revolutionärer Natur. Das verleitet dazu, den Grad der Veränderung – bewusst oder unbewusst – ungerechtfertigt zu minimalisieren. Das Department for Constitutional Affairs kommt in seiner Review of the Implementation of the Human Rights Act im Juli 2006 zu dem Schluss, dass „(t)he Human Rights Act has not significantly altered the constitutional balance between Parliament, the Executive and the Judiciary.“ 1
Hinsichtlich der weiterhin vergleichsweise starken Betonung politischer Elemente der Verfassung trifft diese Feststellung sicherlich in gewisser Weise zu und hat bei isolierter Betrachtung des institutionellen Machtgefüges der Verfassung – so wie es sich in der Zeit unmittelbar vor Einführung des Human Rights Act 1998 in der Verfassungswirklichkeit präsentierte – auch eine gewisse Berechtigung. Aber selbst ein derartig eingeschränkter Vergleich trägt der Katalysatorfunktion des Human Rights Act 1998 nicht hinreichend Rechnung und ist wohl eher dem gegenwärtigen politischen Klima geschuldet, 2 als eine Beschreibung der Wirklichkeit. Jedenfalls aber wird dieses Fazit nicht der veränderten Rechts- und 1 Die review ist von dem seltsamen Widerspruch geprägt, auf der einen Seite zu betonen, dass der Human Rights Act 1998 im Grunde kaum etwas verändert hat, um gleichzeitig die Vorzüge seiner Errungenschaften zu loben. Dies mag daran liegen, dass der Human Rights Act 1998 aufgrund von zum Teil falsch verstandener Anwendung (z. B. der Fall Berry Chambers, der, um seiner Festnahme zu entkommen, auf ein Dach geflüchtet war und angeblich zur Sicherung seiner „Menschenrechte“ mit Zigaretten und Lebensmitteln von der Polizei versorgt wurde) und der Befürchtung, dass er den Kampf gegen den Terrorismus hemmen könne, d. h. aufgrund von Missverständnissen und Befürchtungen, die selbstverständlich politisch instrumentalisiert werden, in die Defensive geraten ist. 2 So muss sich der Human Rights Act 1998 in den Augen der Bevölkerung erst noch bewähren und sich Anerkennung und Wertschätzung erarbeiten. Zu immer wieder aufflackernden wenig durchdachten Vorschlägen, den Human Rights Act 1998 aufzuheben, um sich dem wachsenden europäischen Einfluss zu entziehen und originär britische „Werte“ zu bewahren vgl. z. B. David Pannick, Crisis, what crisis? It’s just political posturing, Times Online, 11. Juli 2006, verfügbar unter http://www.timesonline.co.uk/printFreindly/0„1-612260732-61,00.html.; William Robinson / Patrick Doris, Rights and wrongs of Cameron’s
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Zusammenfassung und Ausblick
Verfassungskultur im Vergleich zum orthodoxen Verfassungsverständnis in Großbritannien gerecht. Der richterliche und damit der rechtliche Einfluss hat – weniger vom Extremfall als vom Normalfall aus betrachtet – erheblich zugenommen. 3 Die Zeit der „richterlichen Unterwürfigkeit“ ist einem neuen Zeitalter gewichen: Einem Zeitalter das Substanz gegenüber Form, Vernunft gegenüber Willen, Recht gegenüber Politik betont. So kann schlagwortartig daran erinnert werden, dass − die form- bzw. verfahrensorientierte und von institutionellem Denken geprägte Verfassung materiell angereichert und wertzentrierter wird, die rule of law insofern aufgewertet und die Doktrin der Parlamentssouveränität ausgehöhlt wird; − Recht nicht mehr allein als Frage des parlamentarischen Willens, sondern als Ausdruck von Vernunft begriffen wird, und positivistische Ansätze in den Hintergrund geraten; − das Recht als Rahmen und nicht allein als Werkzeug der Politik begriffen wird und somit nicht nur Verhalten der Herrschaft von Regeln, sondern Herrschaft dem Prinzip eines gerechten Verhaltens unterworfen ist; − Gesetze daher nicht mehr in erster Linie als Zwangsordnung, sondern auch als freiheitsbewahrendes Mittel verstanden werden und politische Freiheitssicherungsmechanismen rechtlichen weichen; − die Idee der positiven Rechte negative Freiheiten verdrängt; − die Autonomie des Individuums auch angesichts gegenteiliger Mehrheitsverhältnisse betont wird; − der Begriff der Demokratie somit nicht mehr auf den Begriff des Mehrheitsprinzips beschränkt ist; − sich prinzipienorientierte Argumentationsstrukturen etablieren; − und die culture of authority hinter einer culture of justification zurücktritt, gleichzeitig aber auch eine culture of trust einer culture of suspicion weicht. Diese Veränderungen haben in institutioneller Hinsicht ihren Niederschlag in der Einrichtung eines Supreme Court gefunden. Methodisch gesehen haben sich britische Richter weitgehend von einer vornehmlich am Wortlaut orientierten Gesetzesauslegung distanziert (purposive approach) und im Rahmen der nunmehr ausdrücklich vorgesehenen Gesetzeskontrolle am Maßstab der Konventionsrechte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angenommen. Diese Instrumentarien sind of‚Magna Carta‘, Times Online, 26. Juli 2006, verfügbar unter http://www.timesonline.co.uk/ printFreindly/0„1-61-2286452-61,00.html. Zur aktuellen Diskussion der Einführung einer „britischen“ Bill of Rights siehe auch oben § 8 I.1. 3 Dies auch anerkennend, Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy; Review of the Implementation of the Human Rights Act, Juli 2006, S. 10 ff. und S. 19 ff.
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fener, d. h. flexibler Natur und lassen eine Vielzahl an Ausgestaltungen zu. So weist die britische Normenkontrolle im Vergleich zur deutschen Vorgehensweise – trotz grundlegender Gemeinsamkeiten – durch die verschiedenen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der auf zwei verschiedenen Ebenen wirkenden judicial deference und der damit verbundenen richterlichen Zurückhaltung nicht unerhebliche Unterschiede 4 auf. Durch das Zusammenspiel von section 3 und section 4 des Human Rights Act 1998 wurde ein Ausgleich zwischen den Anforderungen der demokratischen Selbstherrschaft und der Notwendigkeit eines effektiven Grundrechtsschutzes unter besonderer Betonung des politischen Elements geschaffen. Dies entspricht dem britischen Wunsch nach Kontinuität und steht in Einklang mit der weiterhin starken demokratischen bzw. politischen Tradition in Großbritannien. Großbritannien hat somit die Möglichkeit, ein eigenständiges Verfassungsverständnis zu entwickeln – ein Verfassungsverständnis, das trotz aller Annäherung an kontinentale Standards und Strukturen nicht mit diesen identisch ist. Noch ist unklar, was genau an die Stelle des alten Systems getreten ist und welche verfassungstheoretischen Konzepte nunmehr der Richterschaft als Leitfaden dienen. Die Idee des constitutional dialogue ist in aller Munde, aber wenig elaboriert. Betrachtet man die richterliche Rechtsanwendung, erscheint das Ideal des constitutional dialogue nicht ganz so verfestigt, wie es der Gebrauch dieses Begriffes in der öffentlichen Debatte vermuten läßt. Obwohl sich der überwiegende Teil der Richterschaft zum constitutional dialogue bekennt, sprechen die Urteile der Gerichte eine nicht ganz so eindeutige Sprache. Abgesehen von reaktionären Tendenzen, die aber zu einem gewissen Teil wohl auch der Anfangsphase des Human Rights Act 1998 und deswegen für geboten gehaltener Zurückhaltung 5 geschuldet waren, scheint der Widerstreit zwischen incorporationists und third waver und damit der Umgang mit dem vielschichtigen Phänomen der judicial deference noch nicht abschließend geklärt. 4 Die Unterschiede machen sich vornehmlich nicht dem Grunde, sondern dem Grad nach bemerkbar. Zum Gesetzgebungsermessen in Deutschland vgl. z. B. ausführlich Klaus Meßerschmitt, Gesetzgebungsermessen, 2000; komprimiert Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?, 2001, S. 22 m.w. N. 5 Dennoch kam es insbesondere nach dem Versuch der Exekutive, Mindeststrafen zu erhöhen, die Rechte von Immigranten und Asylsuchenden zu beschneiden und des Terrorismus verdächtigte Ausländer ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit zu internieren, zu nicht unerheblichen Spannungen zwischen der Exekutive und der Judikative, die auch verbal ihren Ausdruck fanden. So äußerte der Home Secretary David Blunkett, er sei „fed up with having to deal with a situation where Parliament debates issues and the judges overturn them“. Woraufhin Lord Irvine erwiderte, dass „maturity requires that when you get a decision that favours you, you do not clap [a]nd when you get one that goes against you, you don’t boo“. Zitiert nach Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, verfügbar unter http:// law.bepress.com/expresso/eps/276.
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§ 15 Ausblick Was die Zukunft bringen wird, vermag vielleicht ein Blick über die Grenzen des Vereinigten Königreichs hinaus ein wenig zu erhellen.
I. Ein Blick ins Ausland Großbritannien ist mit seiner Abkehr von einem Verfassungssystem der reinen Parlamentssouveränität nicht alleine. Im Zuge des weltweiten Vormarsches der Grundrechtsidee hat eine Vielzahl von Commonwealth-Staaten dem klassischen Westminster Model of Democracy in der jüngeren Vergangenheit den Rücken gekehrt und sich neuen Ideen zugewandt. Doch anders als in Westeuropa nach 1945 oder in Zentral- und Osteuropa nach 1989 stand nicht die US-amerikanische Version des Verfassungsstaates für die neuen Strukturen Pate. 1. Das Commonwealth Model of Constitutionalism – Kanada, Neuseeland und Australien Betrachtet man die verfassungsmäßigen Veränderungen in Kanada, Neuseeland und Australien wird deutlich, dass der von Großbritannien durch den Human Rights Act 1998 angestrebte „Mittelweg“ 6 zwischen Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität keinen Einzelfall darstellt. So haben Kanada 1982, Neuseeland 1990 und das Australian Capital Territory 2004 sogenannte einfach gesetzliche Bills of Rights eingeführt. Trotz mannigfacher Unterschiede im Detail ist all diesen Bills of Rights gemein, dass sie die Idee eines legitimen Dissenses des Parlaments gegenüber der richterlichen Rechtsauffassung anerkennen und besonderes Gewicht auf präventive Gesetzgebungskontrolle legen. a) Kanada Zwar ermächtigt die kanadische Charter of Rights and Freedoms 1982 7 die Gerichte, Gesetze für nichtig zu erklären und steht insofern auf den ersten Blick 6 Die Möglichkeit eines solchen Mittelwegs noch verneinend, der Begründer der Normenkontrolle in den Vereinigten Staaten, Chief Justice John Marshall: „Between these alternatives there is no middleground. The constitution is either a superior, paramount law, unchangeable by ordinary means, or it is on a level with ordinary legislative acts, and, like other acts, is alterable when the legislature shall please to alter it.“ Siehe Marbury v Madison 1 Cranch (5 US) 137 (1803) 177. 7 Zur Charter im Allgemeinen, vgl. z. B. Peter William Hogg, Constitutional Law of Canada, 1997; Lorraine Weinrib, Canada’s Constitutional Revolution: From Legislative to Constitutional State, (1999) 33 Israel LRev. 13.
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im Gegensatz zur Parlamentssouveränität. Durch die sogenannte notwithstanding clause der section 33 8 wird jedoch die politische Fähigkeit, sich einer derartigen Entscheidung (zumindest temporär) entgegenzustellen, explizit erhalten; sie legitimiert das Parlament, sich über das Urteil der Richter hinwegzusetzen. Zudem wurde bereits durch die 1960 eingeführte Canadian Bill of Rights eine Rechtskultur eingeführt, die auf der Idee basierte, dass nicht allein retrospektive Gesetzeskontrolle ausreiche, sondern die präventive Einbindung sowohl der Exekutive als auch der Legislative erforderlich sei. Durch die Charter wurde dieser Gedanke fortgesetzt und führte zu einer deutlich intensiveren Kontrolle von Gesetzesentwürfen der Regierung durch das Justizministerium. b) Neuseeland Die Verfasser des New Zealand Bill of Rights Act 1990 (BORA) 9 entschieden sich für eine rein interpretatorische Lösung, der gemäß eine Bill of Rights entsprechende Interpretation eines Gesetzes zu bevorzugen ist (vgl. section 6 BORA 10). Zudem schlossen sie über section 4 BORA 11 ausdrücklich ein Kassationsrecht 8
Section 33 der Charter of Rights and Freedoms 1982 (Ca) lautet: „(1) Parliament or the legislature of a province may expressly declare in an Act of the Parliament or of the legislature, as the case may be, that the Act or a provision thereof shall operate notwithstanding a provision included in section 2 or sections 7 to 14 of this Charter. (2) An Act or a provision of an Act in respect of which a declaration made under this section is in effect shall have such operation as it would have but for the provision of this Charter referred to in the declaration. (3) A declaration made under subsection (1) shall cease to have effect five years after it comes into force or on such earlier dates as may be specified in the declaration. (4) Parliament of the legislature of a province may re-enact a declaration made under subsection (1). (5) Subsection (3) applies in respect of a re-enactment made under subsection 4.“ 9 Zur BORA im Allgemeinen vgl. z. B. Philip A Joseph, Constitutional and Administrative Law, 2001; Paul Rishworth / Grant Huscroft / Scott Optican / Richard Mahoney, The New Zealand Bill of Rights, 2003; Grant Huscroft / Scott Optican / Paul Rishworth, The Bill of Rights – getting the basics right, 2001; Petra Butler, Human Rights and Parliamentary Sovereignty in New Zealand, (2004) 35 Victoria University of Wellington LRev. 12 und die instruktive Zusammenfassung von Lars Puvogel, A V Dicey and the New Zealand Court of Appeal – Must theory finally give in to legal realities?, (2003) 9 Canterbury LRev. 111. 10 Section 6 BORA: „Interpretations consistent with Bill of Rights to be preferred Whenever an enactment can be given a meaning that is consistent with the rights and freedoms contained in this Bill of Rights, that meaning shall be preferred to any other meaning.“ 11 Section 4 BORA: „Other enactments not affected No court shall, in relation to any enactment (whether passed or made before or after the commencement of this Bill of Rights), –
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der Gerichte und damit einen Angriff auf die Parlamentssouveränität aus. Auch der Erlass einer Inkompatibilitätserklärung ist von der BORA nicht vorgesehen. Ein obiter dictum des Court of Appeal im Jahr 1999 12 legt jedoch nahe, dass die Gerichte gleichwohl gewillt sind, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht zum Erlass einer derartigen Erklärung anzuerkennen. 13 Der Idee der präventiven Kontrolle wurde durch section 7 BORA 14 Rechnung getragen. Nach dieser Regelung soll der Attorney-General das Parlament auf Bedenken im Hinblick auf die Bill of Rights Kompatibilität von Gesetzesentwürfen so früh wie möglich hinweisen.
(a) Hold any provision of the enactment to be impliedly repealed or revoked, or to be in any way invalid or ineffective; or (b) Decline to apply any provision of the enactment – by reason only that the provision is inconsistent with any provision of this Bill of Rights.“ 12 Moonen v Film & Literature Board of Review (1999) 5 HRNZ 224. Auf Seite 234 dieser Entscheidung stellt der Court of Appeal fest, dass section 5 BORA (Justified Limitations) „necessarily involves the Court having the power, and on occasions the duty, to indicate that although a statutory provision must be enforced according to its proper meaning, it is inconsistent with the Bill of Rights, in that it constitutes an unreasonable limitation on the relevant right or freedom which cannot be demonstrably justified in a free and democratic society“. 13 So machte Thomas J, Richter am Court of Appeal, in R v Poumako [2000] 2 NZLR 695 als einziger Richter die erste formale Inkompatibilitätserklärung in Neuseeland. Zur Begründung führte er aus (S. 714): „(...) (T)o attribute to a statutory provision which is neither equivocal nor malleable in its terms a meaning which is admittedly contrary to Parliament’s discernible intent is to effectively challenge Parliament’s supremacy. (...) (T)his court would be compromising its judicial function if it did not alert Parliament in the strongest manner to the constitutional privation of this provision.“ Vgl. Petra Butler, Human Rights and Parliamentary Sovereignty in New Zealand, (2004) 35 Victoria University of Wellington LRev. 12; Lars Puvogel, A V Dicey and the New Zealand Court of Appeal – Must theory finally give in to legal realities?, (2003) 9 Canterbury LRev. 111. Laut Paul Rishworth hat die Möglichkeit einer Inkompatibilitätserklärung durch den Human Rights Amendment Act 2001 legislative Zustimmung gefunden, vgl. Paul Rishworth, Common Law Rights and Navigation Lights: Judicial Review and the New Zealand Bill of Rights, (2004) 15 Public LRev. 103. 14 Section 7 BORA: „Attorney-General to report to Parliament where a Bill appears to be inconsistent with Bill of Rights Where any Bill is introduced into the House of Representatives, the Attorney-General shall, – (a) In the case of a Government Bill, on the introduction of that Bill, or (b) In any other case, as soon as practicable after the introduction of the Bill, – bring to the intention of the House of Representatives any provision in the Bill that appears to inconsistent with any of the rights and freedoms contained in this Bill of Rights.“
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c) Australien Auch der im März 2004 vom Australian Capital Territory (ACT) 15 erlassene Human Rights Act weist die beiden oben skizzierten Kernkomponenten des „Mittelwegs“ auf. Die Gerichte sind verpflichtet, eine rechtskonforme Auslegung zu bevorzugen. Sollte eine derartige Auslegung nicht möglich sein, hat der Supreme Court die Befugnis, eine Inkompatibilitätserklärung zu erlassen, die den AttorneyGeneral dazu verpflichtet, unverzüglich das Parlament zu informieren und ihm binnen sechs Monaten eine schriftliche Erklärung zur Frage der Vereinbarkeit vorzulegen. Hinsichtlich der präventiven Kontrollkomponente sieht der ACT Human Rights Act u. a. die Pflicht des Attorney-Generals vor, Gesetzesentwürfe zu überprüfen und Unvereinbarkeiten an das Parlament zu berichten. Zudem ist das betroffene standing committee gehalten, Menschenrechtsbezüge während des Gesetzgebungsprozesses aufzuzeigen. d) Das Commonwealth Model of Constitutionalism Vor dem Hintergrund der grundlegenden Gemeinsamkeiten der genannten Modelle zum Schutze fundamentaler Rechte geht Stephen Gardbaum, Professor an der UCLA School of Law 16 davon aus, dass sich ein eigenes Commonwealth Model of Constitutionalism herausgebildet hat, welches Janet L. Hiebert, Professorin der Politikwissenschaften an der Queen’s University in Kanada 17 als „parliamentary rights model“ bezeichnet, und Paul Rishworth, 18 Professor des Öffentlichen Rechts an der University of Auckland, die „new hybrid breed of bill of rights“ nennt. Ihnen allen ist gemein, dass sie die Möglichkeit eines legitimen Dissenses der Legislative mit der Judikative und eine präventive Gesetzgebungskontrolle unter Einbindung der Exekutive für wesentliche Bestandteile des neuen Modells erachten. Das Commonwealth Model of Constitutionalism wird als bewusste Ablehnung der amerikanischen Form des Konstitutionalismus begriffen, die als zu gerichtslastig wahrgenommen wird. Wichtige Elemente des neuen Konzepts sind 15 Zum ACT Human Rights Act, vgl. z. B. Gabrielle McKinnon, The ACT Human Rights Act – The Second Year, Paper presented at the Australian Bill of Rights Conference, 21. June 2006, verfügbar unter http://acthra.edu.au/news/Conference2006.htm; C. Evans, Responsibility for Rights: The ACT Human Rights Act, (2004) 32 Federal LRev. 291. 16 Stephen Gardbaum, The New Commonwealth Model of Constitutionalism, (2001) 49 Am.J.Comp.L. 707. 17 Janet L. Hiebert, Parliamentary Bills of Rights: An Alternative Model?, (2006) 69 M.L.R. 7. 18 Paul Rishworth, The Birth and Rebirth of the Bill of Rights, in: Grant Huscroft / Paul Rishworth (eds.), Rights and Freedoms in the New Zealand Bill of Rights Act 1990 and the Human Rights Act 1993, 1995, S. 4.
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daher die Herstellung einer institutionellen Balance, gemeinsame Verantwortung und ein interinstitutioneller Dialog. 2. Anfälligkeiten des Commonwealth Model of Constitutionalism Die bisher gemachten Erfahrungen in Kanada und Neuseeland zeigen jedoch auch die Anfälligkeiten dieses neuen Modells und stellen seine Dauerhaftigkeit in Frage. a) Kanada So hat sich in Kanada zwar eine robuste Menschenrechtskultur etabliert, die politischen Akteure orientieren sich aber fast ausschließlich an den Rechtsvorstellungen der Gerichte. Es scheint, als erschöpfe sich die Rolle der demokratisch legitimierten Gewalten darin, die Entscheidungen der Richter zu antizipieren und ihr Handeln danach auszurichten. Eine Bereitschaft, sich kontrovers mit den Rechtsauffassungen der Richterschaft auseinanderzusetzen und die eigenen Auffassungen zu verteidigen und diesbezügliche politische Überzeugungsarbeit zu leisten, besteht kaum. Dies belegt auch der mehr als spärliche Gebrauch der notwithstanding clause. 19 Eine eigene gestalterische Rolle im Rahmen des constitutional dialogue kommt den demokratisch legitimierten Gewalten daher kaum noch zu. Vielmehr wird der Einfluss allein gerichtsbestimmter Rechtsmeinungen auch auf den Entstehungsprozess von Gesetzen ausgeweitet. Damit wird aber einer der Kernaspekte des commonwealth models of constitutionalism obsolet: Die Möglichkeit eines legitimen Dissenses 20 mit richterlichen Rechtsauffassungen wird nicht angenommen. b) Neuseeland Neuseeland hingegen hat eine etwas andere Entwicklung eingeschlagen. Allerdings steht das Parlament in Neuseeland grundsätzlich auch nicht vor der Schwierigkeit, sich ggf. über eine declaration of incompatibility der Judikative hinwegsetzen zu müssen, da eine derartige Erklärung in der BORA nicht vorgesehen ist. 21 Allerdings ist der Attorney-General gemäß section 7 BORA 22 19 Vgl. T. Kahana, The Notwithstanding Mechanism and Public Discussion: Lessons from the Ignored Practice of Section 33 of the Charter, (2001) 44 Canadian Public Administration 255. 20 Dieser Ansatz setzt voraus, dass es jenseits des gerichtlichen Abwägungsprozesses überzeugende Argumente gibt, die geeignet sind, eine andere als die gerichtliche Entscheidung zu begründen, ohne die Annahme einer profunden Grundrechtskultur zu gefährden. Zum legitimen Dissens siehe oben § 13 (Fn). 21 Zur sich abzeichnenden Rechtsfortbildung siehe oben § 15 I.1.b).
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verpflichtet, ein Gesetzgebungsvorhaben auf seine Kompatibilität mit der Bill of Rights zu überprüfen. In Ausübung dieser Verpflichtung ist der Attorney-General weder an die Position seiner Amtsvorgänger noch an Entscheidungen der Gerichte gebunden, auch wenn er sie in der Praxis vielfach beachten wird. Er verleiht vielmehr seiner eigenen (informierten) Rechtsauffassung Ausdruck. 23 Dies bedeutet auch einen möglichen Dissens mit der Richterschaft, der nicht gescheut wird. 24 Ebensowenig, wie der Attorney-General an die Rechtsauffassung der Gerichte gebunden ist, ist auch das Parlament an den Report des Attorney-General gebunden. Die Rechtsauffassung des Attorney-General wird eher als „Denkanregung“ denn als unumstößliche Wahrheit begriffen. So gibt es insbesondere in Bezug auf government bills eine vergleichsweise hohe Zahl an Fällen, in denen das Parlament von der Auffassung des Attorney-General abgewichen ist. 25 Während dies auf der einen Seite als praktische Verwirklichung des gleichberechtigten Dialogs zwischen den Gewalten gesehen werden kann, wird auf der anderen Seite von einigen Autoren bemängelt, 26 dass die Reporte des Attorney-General weniger aus am Gemeinwohl orientierten Gründen, als vielmehr aus parteipolitischen Überlegungen und Interessen einfach ignoriert werden. Dies legt die Vermutung nahe, dass man weiterhin von einem gewissen Defizit in der Grundrechtskultur Neuseelands ausgehen muss. 27 Ob die von den Rechtsauffassungen des Attorney-General bzw. der Gerichte abweichenden Entscheidungen des Parlaments Ausdruck von Ignoranz oder Produkt eingehender politischer und am Gemeinwohl orientierter Überlegungen sind, lässt sich ohne vertieftere Studien nicht abschließend klären.
22 „Attorney-General to report to Parliament where Bill appears to be inconsistent with Bill of Rights.“ 23 Paul Rishworth / Grant Huscroft / Scott Optican / Richard Mahoney, The New Zealand Bill of Rights, 2003, S. 199. 24 Paul Rishworth / Grant Huscroft / Scott Optican / Richard Mahoney, The New Zealand Bill of Rights, 2003, S. 200 ff. m.w. N. 25 Rishworth, Huscroft, Optican und Mahoney deuten an, dass dies womöglich auf einen zu leichtfertigen Gebrauch von Inkompatibilitätserklärungen des Attorney-General zurückzuführen sei, was deren Gewicht unterminiert habe, vgl. Paul Rishworth / Grant Huscroft / Scott Optican / Richard Mahoney, The New Zealand Bill of Rights, 2003, S. 215. Für eine Liste von Beispielen, bei denen das Parlament den Bedenken des Attorney-General nicht Rechnung getragen hat, vgl. dies., The New Zealand Bill of Rights, 2003, S. 202 ff. 26 Vgl. Janet L. Hiebert, Parliamentary Bills of Rights: An Alternative Model?, (2006) 69 M.L.R. 26. 27 Der weitreichende Einfluss der BORA auf die Entwicklung und Bewertung politischer Programme im Vorfeld des eigentlichen Gesetzgebungsprozesses ist hingegen weitgehend unumstritten, vgl. Janet L. Hiebert, Parliamentary Bills of Rights: An Alternative Model?, (2006) 69 M.L.R. 25 f. Ebenfalls herrscht weitestgehend Einigkeit dahingehend, dass die Gerichte die BORA und damit eine culture of rights angenommen haben. Vgl. Stephen Gardbaum, The New Commonwealth Model of Constitutionalism, (2001) 49 Am.J.Comp.L. 730 f.
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c) Fazit Wichtig ist festzuhalten, dass bei einer zu leichtfertigen Distanzierung von richterlichen Entscheidungen die Gefahr eines Rückschrittes in alte „vorgrundrechtliche“ Denkstrukturen zu befürchten ist, während bei einer zu leichtfertigen und unkritischen Übernahme gerichtlicher Wertungen eine übermäßige Verrechtlichung, zutreffender ausgedrückt „Vergerichtlichung“, des politischen Prozesses droht. Der dem Mittelweg genuin verbleibende Raum ist demnach eng begrenzt und setzt voraus, dass es jenseits des gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozesses überzeugende Argumente gibt, die geeignet sind, eine andere als die gerichtliche Entscheidung zu begründen.
II. Die Entwicklung in Großbritannien Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Entwicklung in Großbritannien zu bewerten ist. Wird es dem Vereinigten Königreich gelingen, den sensiblen und fragilen „Mittelweg“ zu verfestigen und eine von allen Gewalten inspirierte Grundrechtskultur zu etablieren, um damit zumindest Elemente einer political constitution zu erhalten? 1. Die Judikative Wie gezeigt wurde, sind die Gerichte willens, sich der Sprache positiver Rechte zu bedienen und damit verbundene Rechtsinstitute wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anzunehmen. Die Gerichte haben somit dem Grunde nach eine robuste, wenn auch ausbaufähige Gesetzeskontrolle etabliert, 28 deren Ausgestaltung zwar noch den mit der Umbruchsituation verbundenen Schwierigkeiten Rechnung trägt, aber bereits die Hinwendung zu einer soliden, wenn auch flexiblen Grundrechtskultur erahnen lässt, obwohl sich die Richterschaft nur vorsichtig von überkommenen Vorstellungen löst und noch immer auf der Suche nach einem neuen verfassungstheoretischen Leitfaden zu sein scheint. So haben z. B. Urteile der jüngsten Vergangenheit, 29 die sich mit heiklen Fragen der Terrorismusbekämpfung auseinandersetzen mussten, gezeigt, dass die 28
So ist anzunehmen, dass solange der Human Rights Act 1998 als Maßstab noch relativ neu und daher „dünn“, d. h. kaum durch britische Richter dogmatisch ausgefüllt ist, sich die Richter eher zurückhaltend verhalten und mit wachsendem dogmatischen Ausbau auch eine höhere Kontrolldichte einhergeht. 29 Re MB [2006] EWHC 1000 (Admin); Secretary of the State for the Home Department v MB [2006] EWCA Civ 1140. Ergänzend, wenn auch die Exekutive betreffend, vgl. Secretary of State for the Home Department v JJ & Ors [2006] EWHC 1623 (Admin), wo Justice Sullivan die dort in Frage stehenden non-derogating control orders für unvereinbar mit dem Recht auf Freiheit aus
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Gerichte grundsätzlich gewillt sind, ihrer Kontrollfunktion und damit dem Schutz individueller Rechte auch in politisch sensiblen Bereichen nachzukommen und parlamentarische Entscheidungen – sei es auch in der mittelbaren Form der section 3 Human Rights Act 1998 Auslegung – zu instruieren. Dabei wurden nicht unerhebliche Spannungen mit der Blair-Regierung in Kauf genommen. 30 So erklärte Justice Sullivan in Re MB 31 die gemäß section 3 des Prevention of Terrorism Act 2005 vorgesehenen Möglichkeiten gerichtlicher Überprüfung von sogenannten non-derogation control orders 32 des Secretary of State für unvereinbar Artikel 5 EMRK erachtete und aufhob. Diese Entscheidung wurde durch den Court of Appeal in Secretary of State for the Home Department v JJ & Ors [2006] EWCA Civ 1141 durch den Lord Chief Justice, Lord Philips, den Master of the Rolls, Sir Anthony Clarke und den President der Queen’s Bench Devision, Sir Igor Judge bestätigt. 30 Zu den nicht unerheblichen Spannungen zwischen der Blair-Regierung und der Richterschaft vgl. Peter L. Fitzgerald, Constitutional Crisis Over the Proposed Supreme Court for the United Kingdom, 2004, S. 21 m.w. N., verfügbar unter: http:// law.bepress.com/expresso/eps/276. Die zuvor genannten Urteile haben auch in der Presse erheblichen Widerhall gefunden und wurden kontrovers diskutiert. Vgl. z. B. Matthew Tempest, Judges spark ‚constitutional crisis‘, Guardian Unlimited, June 29, 2006 (http:// politics.guardian.co.uk/print/0,,329517161-110247,00.html) oder aber auch Simon Jenkins, Judges cut through the hysteria of rulers made tyrants by fear, Sunday Times, July 02, 2006 (http://www.timesonline.co.uk/printFreindly/0,,1-160-2252655-1501,00.html); David Pannick, Crisis, what crisis? It’s just political posturing. Britain doesn’t need a modern Bill of Rights, it needs a properly trained Civil Service, The Times, July 11, 2006 (http:// www.timesonline.co.uk/printFreindly/0,,1-61-2260732-61,00.html). 31 [2006] EWHC 1000 (Admin). 32 Der Prevention of Terrorism Act 2005 unterscheidet zwischen derogating und nonderogating control orders (für den Betroffenen verbindliche Kontrollauflagen). Während derogating control orders unvereinbar mit dem in der EMRK verbürgten Recht auf Freiheit (Artikel 5 EMRK) sind, und nur angesichts einer gemäß section 14 des Human Rights Act 1998 zulässigen Abweichung, designated derogation, erlassen werden können, dürfen nonderogating control orders nicht ungerechtfertigt in die durch den Human Rights Act 1998 inkorporierten Konventionsrechte eingreifen. Im vorliegenden Fall lauteten die Kontrollauflagen wie folgt, Re MB [2006] EWHC 1000 (Admin) at 18: „(1) You will reside at [address given] (‚the residence‘) an shall give the Home office at least 7 days prior notice of any change of residence. (2) You shall report in person to your local police station (the location of which will be notified in writing to you at the imposition of this order) each day at a time to be notified in writing by your contact officer, details to be provided in writing upon service of the order. (3) You must surrender your passport, identity card or any other travel document to a police officer or persons authorised by the Secretary of State within 24 hours. You shall not apply for or have in your possession any passport, identity card, travel document(s) or travel ticket which would enable you to travel outside the UK. (4) You must not leave the UK. (5) You are prohibited from entering or being present at any of the following: – (a) any airport or sea port;
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mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 (1) der EMRK 33 und erließ eine declaration of incompatibility gemäß section 4 des Human Rights Act 1998. Diese Entscheidung begründete er im Wesentlichen damit, dass die Kontrolle des Gerichts lediglich auf die Entscheidung des Secretary of State im Zeitpunkt des Erlasses seiner Entscheidung beschränkt sei, die Kontrolldichte ungenügend und der erforderliche Beweisstandard besonders gering sei. Zudem mache das Gericht von für den Betroffenen nicht zugänglichen und somit einseitigen Beweismitteln (closed material) Gebrauch. Der Court of Appeal hob in Secretary of State for the Home Department v MB 34 unter dem Vorsitz von Lord Phillips die declaration of incompatibility zwar auf, trug aber den Bedenken von Justice Sullivan im Wesentlichen 35 über die ausdrückliche Anwendung einer purposive construction nach section 3 Human Rights Act 1998 Rechnung. So müsse und könne section 3 (10) Prevention of Terrorism Act (b) any part of a railway station that provides access to an international rail service. (6) You must permit entry to police officers and persons authorised by the Secretary of State, on production of identification, at any time to verify your presence at the residence and / or to ensure that you can comply with and are complying with the obligations imposed by the control order. Such monitoring may include but is not limited to: – (a) a search of the residence; (b) removal of any item to ensure compliance with the remainder of the obligations in these orders; and (c) the taking of your photograph.“ Zur Frage der Vereinbarkeit von non-derogating control orders mit Artikel 5 EMRK (Recht auf Freiheit), vgl. Secretary of State for the Home Department v JJ & Ors [2006] EWHC 1623 (Admin), bestätigt durch Secretary of State for the Home Department v JJ & Ors [2006] EWCA Civ 1141. 33 Diesbezüglich deutliche Worte findend Justice Sullivan in Re MB [2006] EWHC 1000 (Admin) at 103: „The court would be failing in its duty under the 1998 Act [Human Rights Act], a duty imposed upon the court by Parliament, if it did not say, loud and clear, that the procedure under the Act [Prevention of Terrorism Act 2005] whereby the court merely reviews the lawfulness of the Secretary of State’s decision to make the order upon the basis of the material available to him at the earlier stage are conspicuously unfair. The thin veneer of legality which is sought to be applied by section 3 of the Act [Prevention of Terrorism Act 2005] cannot disguise the reality. That controlees‘ rights under the Convention are being determined not by an independent court in compliance with Art. 6.1 [EMRK], but by executive decision-making, untrammelled by any prospect of effective judicial supervision.“ 34 [2006] EWCA Civ 1140. 35 Den Gebrauch von closed material sah der Court of Appeal unter Berücksichtigung diesbezüglicher Straßburger Rechtsprechung unter den gegebenen Umständen als zulässig an, vgl. Secretary of State for the Home Department v MB [2006] EWCA Civ 1140 at 68 ff. Bei der Annahme, dass der Beweisstandard besonders niedrig sei, sei Justice Sullivan ein Rechtsfehler unterlaufen, vgl. Secretary of State for the Home Department v MB [2006] EWCA Civ 1140 at 67.
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2005 im Wege der Reading-down-Technik so ausgelegt werden, dass der für die Überprüfung der Entscheidung des Secretary of State relevante Zeitpunkt der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sei. 36 Die Frage, ob vernünftige Gründe für den Verdacht der Involvierung in eine terroristische Tätigkeit bestünden, dürfe voll, und die Frage, ob der Erlass der control order notwendig sei, mit intense scrutiny 37 überprüft werden. 38 Insofern gab der Court of Appeal dem appeal statt. Über die Rechtmäßigkeit der control order muss erneut unter Beachtung der Auffassung des Gerichts entschieden werden. 2. Legislative und Exekutive Doch wie die Erfahrungen in Kanada und Neuseeland gezeigt haben, kommt es zur Verwirklichung des „Mittelwegs“, insbesondere des Erhalts einer political constitution, nicht allein auf die Anwendung des Human Rights Act 1998 durch die Gerichte an. Vielmehr ist auch von Bedeutung, wie die anderen Gewalten den Human Rights Act 1998 begreifen bzw. umsetzen, zum Beispiel, wie sie mit den gerichtlichen Entscheidungen umgehen. Somit stehen Rechtsprechung und Verhalten der demokratisch legitimierten Gewalten in einem unmittelbaren Wechselwirkungszusammenhang. Zwar werden Art und Güte sowie politische Sensibilität der richterlichen Urteile naturgemäß von entscheidender Bedeutung sein, die Verwirklichung des „Mittelwegs“ wird aber auch vom Rollenverständnis der demokratisch legitimierten Gewalten beeinflusst. Die Gestaltung des Verfassungsgefüges ist somit nicht allein eine Frage des judicial activism, sondern auch eine des political activism. Wird sich in Großbritannien ähnlich wie in Kanada eine Art blinde Gefolgschaft 39 an richterliche Urteile entwickeln, die das Letztentscheidungsrecht des
36 Section 3 (10) Prevention of Terrorism Act 2005 liest sich nunmehr „On a hearing (...) the function of the court is to determine whether any of the following decisions of the Secretary of State are flawed (...)“ an Stelle von was flawed. Secretary of State for the Home Department v MB [2006] EWCA Civ 1140 at 38 ff. 37 In diesem Zusammenhang wird zwar im Rahmen der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsüberprüfung aus Gründen der institutionellen Kompetenz ein gewisser Grad von deference gegenüber der Entscheidung des Secretary of State gefordert, gleichzeitig aber eine hohe Kontrolldichte gefordert: „Notwithstanding such deference there will be scope for the court to give intense scrutiny to the necessity for each of the obligations imposted on an individual under a control order, and it must do so.“ Vgl. Secretary of State for the Home Department v MB [2006] EWCA Civ 1140 at 64 f. 38 Die näheren Ausführungen zur Kontrolldichte erfolgten allerdings obiter dictum, vgl. Secretary of State for the Home Department v MB [2006] EWCA Civ 1140 at 49 ff. 39 Wann dies der Fall ist und wann nicht, ist unbestritten eine Wertungsfrage, die nicht frei von politischen Präferenzen ist.
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Zusammenfassung und Ausblick
Parlaments zu einer inhaltsleeren Hülle verkommen lässt und die verkappte Verwirklichung eines klassischen Systems der Verfassungssouveränität bedeutet? Obwohl das britische Parlament oder die Exekutive bisher auf (fast) alle declarations of incompatibility mit einer dem Urteil entsprechenden Gesetzesänderung reagiert haben 40 ist es noch zu früh – und dieser Umstand allein ungeeignet –, um daraus zu schließen, dass die Idee einer von allen Gewalten inspirierten Grundrechtskultur bereits gescheitert ist. Insbesondere der zahlenmäßig geringe Gebrauch von section 3 und section 4 des Human Rights Act 1998 und die noch junge Existenz des Human Rights Act 1998 lassen einen derartigen Schluss vorschnell und undifferenziert erscheinen. So hat z. B. das Department for Constitutional Affairs in seiner im Juli 2006 veröffentlichten Review of the Implementation of the Human Rights Act betont, dass die Regierung einen „proactive, strategic and co-ordinated“ Ansatz im Hinblick auf die Human-Rights-Act-Rechtsprechung anstreben wird. 41 Ziel sei es, darauf hinzuwirken, dass die Regierung auf Gerichtsentscheidungen nicht „simply respond by taking a decision which avoids legal challenge but which may not sufficiently protect public safety“. 42
Es soll somit gerade nicht so sehr die Antizipation und ggf. Vermeidung von Gerichtsentscheidungen im Vordergrund stehen, sondern vielmehr aktiv auf den 40 Seit Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 am 2. Oktober 2000 bis zum 30. Mai 2007 wurden 23 declarations of incompatibility von den nationalen Gerichten erlassen. Hiervon wurden sechs im Appeal-Verfahren wieder aufgehoben, eine Entscheidung steht noch aus (Wright and Others v Secretary of State for Health [2006] EWHC 2886 Admin). Auf neun der 16 verbleibenden „rechtskräftigen“ Nichtigkeitserklärungen wurde im Wege eines Parlamentsgesetzes bereits reagiert, eine Bill befindet sich derzeit noch im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess. Darüber hinaus wurde einer declaration of incompatibility durch eine remedial order entsprochen (R on the application of H v Mental Health Review Tribunal for the North and East London Region & The Secretary of State for Health [2991] EWCA Civ 415, Mental Health Act 1983 (Remedial) Order 2001; SI 2001 No 3712). In den verbleibenden fünf Fällen wird derzeit noch die Frage erörtert, wie der festgestellten Inkompatibilität bestmöglich abgeholfen werden kann. Für eine Übersicht der bisher erlassenen declarations of incompatibility siehe: http://www.dca.gov.uk/peoplesrights/human-rights/pdf/decl-incompat-tabl.pdf oder House of Lords Select Committee on the Constitution, 6 th Report of the Session 2006 – 07, Relations between the executive, the judiciary and Parliament, Report with Evidence, HL Paper 151, Juli 2007, Appendix 6, S. 107 ff. 41 Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy, Review of the Implementation of the Human Rights Act, Juli 2006, S. 39. Ebenso betont das Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy in: A Guide to the Human Rights Act 1998: Third Edition, Oktober 2006, S. 11, dass es sich bei einer Inkompatibilitätserklärung lediglich um ein strong signal an die Legislative bzw. Exekutive handele, ihre Auffassungen zu überdenken, und ggf. zu ändern. 42 Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy, Review of the Implementation of the Human Rights Act, Juli 2006, S. 40.
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Inhalt von Gerichtsentscheidungen eingewirkt 43 bzw. in begründeten Ausnahmefällen von einer gerichtlichen Entscheidung abgewichen werden. Insbesondere für die Beachtung und Betonung des Aspekts der öffentlichen Sicherheit und die Bedeutung der rights of the wider public will sich die Regierung im Rahmen der Konventionsrechte 44 einsetzen. 45 Von den politischen Entscheidungsträgern wird somit viel verlangt. Zum einen sollen sie durch Anwendung der Grundrechtsterminologie und Methodik zu einer strukturierteren Entscheidungsfindung gelangen, andererseits aber weiterhin eine genuin politische Entscheidung treffen. Das Recht soll die Politik somit informieren, 46 aber nicht determinieren. Gleichzeitig erhofft sich die Politik, bei der Bestimmung des Rechts Einfluss nehmen zu können. Hierbei mag ihr die durch den Human Rights Act 1998 eröffnete Möglichkeit des legitimen Dissenses eine Hilfe sein. Allein schon die theoretische Möglichkeit eines legitimen Dissenses fördert das Gleichgewicht zwischen den Gewalten und ist insofern einem Dialog dienlich. Schenkt man den Äußerungen der Regierung Glauben, so scheint sie grundsätzlich bereit zu sein, den mit dem Human Rights Act intendierten „Mittelweg“ zu beschreiten. Allerdings geben gerade die Äußerungen und bisherigen Handlungen der Regierung im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus Anlass zur Sorge, 47 wie ernst es die Regierung mit ihrem Bekenntnis zur Achtung 43 Für eine Aufzählung der anvisierten Maßnahmen vgl. Department for Constitutional Affairs. Justice, rights and democracy, Review of the Implementation of the Human Rights Act, Juli 2006, S. 39 f. 44 An der Verinnerlichung einer Grundrechtskultur der Exekutive werden allerdings angesichts offensichtlich der Idee des Human Rights Act 1998 widersprechender Gesetzesvorhaben immer wieder Zweifel laut, vgl. die Asylum Bill, siehe oben § 8 VI., und die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus, siehe oben § 12 I.4.b). 45 Der Druck auf Parlament und Exekutive einer declaration of incompatibility möglichst umgehend zu entsprechen, wurde allerdings kürzlich durch den EGMR erhöht. Grundsätzlich muss ein Antragsteller, bevor er sich an den EGMR wenden kann, den innerstaatlichen Rechtsweg ausschöpfen, d. h. alle ihm zur Verfügung stehenden effektiven Rechtsmittel nutzen. In Burden v UK (Application No 13378/05, Judgment, 12. Dezember 2006) entschied der EGMR, dass die bloße Möglichkeit einer declaration of incompatibility keine effective remedy in diesem Sinne darstellt. Diese Einschätzung könne sich jedoch ändern, wenn sich zukünftig eine „long-standing and established practice“ etablieren sollte, dass declarations of incompatibility prompt und adäquat entsprochen wird. Siehe hierzu House of Lords, House of Commons, Joint Committee on Human Rights, Monitoring the Government’s Response to Court Judgements Finding Breaches of Human Rights, Sixteenth Report of Session 2007 –07, HL Paper 128, HC 728, Juni 2007, S. 40 ff. 46 „A declaration of incompatibility throws responsibility on to Parliament to make a deliberate, transparent and informed decision – whether or not to remedy a legislative intrusion on the rights or freedom concerned.“ Philip A. Joseph, Constitutional and Administrative Law in New Zealand, 2001, S. 6.
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der Konventionsrechte meint, und sie nicht doch geneigt ist, Freiheitsrechte vorschnell dem „gefräßigen Gott“ der „öffentlichen Sicherheit“ zu opfern. Denn eines muss man sich, wie bereits Geoffrey Marshall 2002 erkannte und überzeichnet formulierte, bewusst sein: „(...) (T)he dialogue between courts and Parliament – which in reality is a dialogue between courts and party politicians – will not necessarily have a happy ending or lead to the withering away of perceived injustice. The outcome will depend on whips and partisan majorities, as it did before we had a Human Rights Act.“ 48
Wann und wie häufig zur Beschreitung des Mittelwegs ein „legitimer Dissens“ erforderlich sein wird oder sein sollte, hängt von vielen Faktoren ab, so u. a. von der Qualität der Urteile sowie einem vorsichtigen und sensiblen Umgang der demokratisch legitimierten Gewalten mit ihrem Gesetzgebungs- bzw. Abweichungsrecht. Jedenfalls aber wird entscheidend sein, ob das Volk die Idee eines legitimen Dissenses und damit seiner eigenen Letztverantwortung ernst- und annimmt, oder ob der (bequeme) Glaube an die Unfehlbarkeit der Gerichte überwiegt und somit die politischen Kosten für die Nichtbeachtung einer declaration of incompatibility unbezahlbar werden, so dass die Idee des legitimen Dissenses zu einer Theorie ohne faktischen Einfluss und Bedeutung verkommt. 3. Schlusswort Bisher hat sich Großbritannien durch eine starke politische, der Idee der self-rule verpflichteten Tradition ausgezeichnet. Und auch, wenn das Zutrauen in die Politik in der Vergangenheit erschüttert worden ist, so ist es fraglich, ob der Glaube an die Richterschaft größer ist. Vor diesem Hintergrund gewinnt das „collaborative enterprise“ 49 des constitutional dialogue trotz seiner theoretischen Unschärfe und Ungereimtheiten an Attraktivität. Es erlaubt Großbritannien, den politischen Charakter seiner Verfassung auch angesichts rechtsnormativer Anreicherungen zu erhalten und damit seinen eigenen Grauton zwischen den Polen der reinen Parlaments- bzw. Verfassungssouveränität zu finden. Helfen wird den Briten dabei ihre lange Tradition, theoretischen Widersprüchlichkeiten mit Pragmatismus und Realismus zu begegnen 50 und ihre Verfassung 47
So z. B. der Prevention of Terrorism Act 2005, siehe oben § 12 I.4.b) (Fn). Geoffrey Marshall, The United Kingdom Human Rights Act 1998, in: Vicky C. Jackson / Mark Tushnet (eds.), Defining the Field of Comparative Constitutional Law, 2002, S. 111. 49 Philip A. Joseph, Constitutional and Administrative Law in New Zealand, 2001, S. 7. 50 Zum britischen Wirklichkeitssinn im Staatsdenken: Friedrich Darmstaedter, Der englische Staatsrechtsgedanke und die deutsche Theorie, in: D. S. Constantopoulos / Hans Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 546 f. 48
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durch graduelle Veränderung zu erhalten – „to preserve by changing“ 51. Die weitere Entwicklung der britischen Verfassung wird deshalb auch in Zukunft ein faszinierendes Thema bleiben. „Ever the master of compromise, anxious to avoid extremism, and always on the look out for ways to make pragmatic progress in line with the spirit of the age, the UK constitution moves gracefully on.“ 52
51
So der englische Philosoph Edmund Burke, vgl. G. H. Sabine, A History of Political Theory, 1963, S. 606. 52 Conor Gearty, Principles on Human Rights Adjudication, 2004, S. 214.
Anhang Human Rights Act 1998 Arrangement of the Sections
Section
Introduction
1. 2.
The Convention Rights Interpretation of Convention rights
3. 4. 5.
Interpretation of legislation Declaration of incompatibility Right of Crown to intervene
6. 7. 8. 9.
Acts of public authorities Proceedings Judicial remedies Judicial acts
Legislation
Public Authorities
Remedial action 10. Power to take remedial action Other rights and proceedings 11. Safeguard for existing human rights 12. Freedom of expression 13. Freedom of thought, conscience and religion 14. 15. 16. 17.
Derogations and reservations Derogations Reservations Period for which designated derogations have effect Periodic review of designated reservations
Judges of the European Court of Human Rights 18. Appointment to European Court of Human Rights Parliamentary procedure 19. Statements of compatibility Supplemental 20. Orders etc. under this Act 21. Interpretation etc. 22. Short title, commencement, application and extent
Anhang
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SCHEDULES: Schedule 1 – The Articles Part I – The Convention Part II – The First Protocol Part III – The Sixth Protocol Schedule 2 – Remedial Orders Schedule 3 – Derogation and Reservation Part I – Derogation Part II – Reservation Schedule 4 – Judicial Pensions
Human Rights Act 1998 (Auszug) 1998 CHAPTER 42 An Act to give further effect to rights and freedoms guaranteed under the European Convention on Human Rights; to make provision with respect to holders of certain judicial offices who become judges of the European Court of Human Rights; and for connected purposes. [9th November 1998]
Be it enacted by the Queen’s most Excellent Majesty, by and with the advice and consent of the Lords Spiritual and Temporal, and Commons, in this present Parliament assembled, and by the authority of the same, as follows:-
Introduction 1. The Convention Rights (1) In this Act „the Convention rights“ means the rights and fundamental freedoms set out in(a) Articles 2 to 12 and 14 of the Convention, (b) Articles 1 to 3 of the First Protocol, and (c) Articles 1 to 2 of the Sixth Protocol, as read with Articles 16 to 18 of the Convention. (2) Those Articles are to have effect for the purposes of this Act subject to any designated derogation or reservation (as to which see sections 14 and 15). (3) The Articles are set out in Schedule 1. (4) The Secretary of State may by order make such amendments to this Act as he considers appropriate to reflect the effect, in relation to the United Kingdom, of a protocol. (5) In subsection (4) „protocol“ means a protocol to the Convention(a) which the United Kingdom has ratified; or (b) which the United Kingdom has signed with a view to ratification.
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Anhang
(6) No amendment may be made by an order under subsection (4) so as to come into force before the protocol concerned is in force in relation to the United Kingdom. 2. Interpretation of Convention rights (1) A court or tribunal determining a question which has arisen in connection with a Convention right must take into account any(a) judgment, decision, declaration or advisory opinion of the European Court of Human Rights, (b) opinion of the Commission given in a report adopted under Article 31 of the Convention, (c) decision of the Commission in connection with Article 26 or 27(2) of the Convention, or (d) decision of the Committee of Ministers taken under Article 46 of the Convention, whenever made or given, so far as, in the opinion of the court or tribunal, it is relevant to the proceedings in which that question has arisen. (2) Evidence of any judgment, decision, declaration or opinion of which account may have to be taken under this section is to be given in proceedings before any court or tribunal in such a manner as may be provided by rules. (3) In this section „rules“ means rules of court or, in the case of proceedings before a tribunal, rules made for the purposes of this section(a) by the Lord Chancellor or the Secretary of State, in relation to any proceedings outside Scotland; (b) by the Secretary of State, in relation to proceedings in Scotland; or (c) by a Northern Ireland department, in relation to proceedings before a tribunal in Northern Ireland(i) which deals with transferred matters; and (ii) for which no rules made under paragraph (a) are in force.
Legislation 3. Interpretation of legislation (1) So far as possible to do so, primary legislation and subordinate legislation must be read and given effect in a way which is compatible with the Convention rights. (2) This section(a) applies to primary legislation and subordinate legislation whenever enacted; (b) does not affect the validity, continuing operation or enforcement of any incompatible primary legislation; and (c) does not affect the validity, continuing operation or enforcement of any incompatible subordinate legislation if (disregarding any possibility of revocation) primary legislation prevents removal of the incompatibility. 4. Declaration of incompatibility (1) Subsection (2) applies in any proceedings in which a court determines whether a provision of primary legislation is compatible with a Convention right. (2) If the court is satisfied that the provision is incompatible with a Convention right, it may make a declaration of that incompatibility.
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(3) Subsection (4) applies in any proceedings in which a court determines whether a provision of subordinate legislation, made in the exercise of a power conferred by primary legislation, is compatible with a Convention right. (4) If the court is satisfied(a) that the provision is incompatible with a Convention right, and (b) that (disregarding any possibility of revocation) the primary legislation concerned prevents removal of the incompatibility, it may make a declaration of that incompatibility. (5) In this section „court“ means(a) the House of Lords; (b) the Judicial Committee of the Privy Council; (c) the Courts-Martial Appeal Court; (d) in Scotland, the High Court of Justiciary sitting otherwise than as a trial court or the Court of Session; (e) in England and Wales or Northern Ireland, the High Court or the Court of Appeal. (6) A declaration under this section („a declaration of incompatibility“)(a) does not affect the validity, continuing operation or enforcement of the provision in respect of which it is given; and (b) is not binding on the parties to the proceedings in which it is made. 5. Right of Crown to intervene (1) Where a court is considering whether to make a declaration of incompatibility, the Crown is entitled to notice in accordance with rules of court. (2) In any case to which subsection (1) applies(a) a Minister of the Crown (or a person nominated by him), (b) a member of the Scottish Executive, (c) a Northern Ireland Minister, (d) a Northern Ireland department, is entitled, on giving notice in accordance with rules of court, to be joined as a party to the proceedings. (3) Notice under subsection (2) may be given at any time during the proceedings. (4) A person who has been made a party to criminal proceedings (other than in Scotland) as the result of a notice under subsection (2) may, with leave, appeal to the House of Lords against any declaration of incompatibility made in the proceedings. (5) In subsection (4)„criminal proceedings“ includes all proceedings before the Courts-Martial Appeal Court; and „leave“ means leave granted by the court making the declaration of incompatibility or by the House of Lords.
Public authorities 6. Acts of public authorities (1) It is unlawful for a public authority to act in a way which is incompatible with a Convention right. (2) Subsection (1) does not apply to an act if-
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(3)
(4) (5) (6)
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(a) as a result of one or more provisions of primary legislation, the authority could not have acted differently; or (b) in the case of one or more provisions of, or made under, primary legislation which cannot be read or given effect in a way which is compatible with the Convention rights, the authority was acting so as to give effect to or enforce those provisions. In this section „public authority“ includes(a) a court or tribunal, and (b) any person certain of whose functions are functions of a public nature, but does not include either House of Parliament or a person exercising functions in connection with proceedings in Parliament. In subsection (3) „Parliament“ does not include the House of Lords in its judicial capacity. In relation to a particular act, a person is not a public authority by virtue only of subsection (3)(b) if the nature of the act is private. „An act“ includes a failure to act but does not include a failure to(a) introduce in, or lay before, Parliament a proposal for legislation; or (b) make any primary legislation or remedial order.
7. Proceedings (1) A person who claims that a public authority has acted (or proposes to act) in a way which is made unlawful by section 6(1) may(a) bring proceedings against the authority under this Act in the appropriate court or tribunal, or (b) rely on the Convention right or rights concerned in any legal proceedings, but only if he is (or would be) a victim of the unlawful act. (2) In subsection (1)(a) „appropriate court or tribunal“ means such court or tribunal as may be determined in accordance with rules; and proceedings against an authority include a counterclaim or similar proceeding. (3) If the proceedings are brought on an application for judicial review, the applicant is to be taken to have a sufficient interest in relation to the unlawful act only if he is, or would be, a victim of that act. (4) If the proceedings are made by way of petition for judicial review in Scotland, the applicant shall be taken to have title and interest to sue in relation to the unlawful act only if he is, or would be, a victim of that act. (5) Proceedings under subsection (1)(a) must be brought before the end of(a) the period of one year beginning with the date on which the act complained of took place; or (b) such longer period as the court or tribunal considers equitable having regard to all the circumstances, but that is subject to any rule imposing a stricter time limit in relation to the procedure in question. (6) In subsection (1)(b) „legal proceedings“ includes(a) proceedings brought by or at the instigation of a public authority; and (b) an appeal against the decision of a court or tribunal. (7) For the purposes of this section, a person is a victim of an unlawful act only if he would be a victim for the purposes of Article 34 of the Convention if proceedings were brought in the European Court of Human Rights in respect of that act.
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(8) Nothing in this Act creates a criminal offence. (9) In this Act „rules“ means(a) in relation to proceedings before a court or tribunal outside Scotland, rules made by the Lord Chancellor or the Secretary of State for the purposes of this section or rules of court, (b) in relation to proceedings before a court or tribunal in Scotland, rules made by the Secretary of State for those purposes, (c) in relation to proceedings before a tribunal in Northern Ireland(i) which deals with transferred matters; and (ii) for which no rules made under paragraph (a) are in force, rules made by a Northern Ireland department for those purposes, and includes provision made by order under section 1 of the Courts and Legal Services Act 1990. (10) In making rules, regard must be had to section 9. (11) The Minister who has power to make rules in relation to a particular tribunal may, to the extent he considers it necessary to ensure that the tribunal can provide an appropriate remedy in relation to an act (or proposed act) of a public authority which is (or would be) unlawful as a result of section 6(1), by order add to(a) the relief of remedies which the tribunal may grant; or (b) the grounds on which it may grant any of them. (12) An order made under subsection (11) may contain such incidental, supplemental or transitional provision as the Minister making it considers appropriate. (13) „The Minister“ includes the Northern Ireland department concerned. 8. Judicial remedies (1) In relation to any act (or proposed act) of a public authority which the court finds is (or would be) unlawful, it may grant such relief or remedy, or make such order, within its powers as it considers just and appropriate. (2) But damages may be awarded only by a court which has power to award damages, or to order the payment of compensation, in civil proceedings. (3) No award of damages is to be made unless, taking account of all the circumstances of the case, including(a) any other relief or remedy granted, or order made, in relation to the act in question (by that or any other court), and (b) the consequences of any decision (of that or any other court) in respect of that act, the court is satisfied that the award is necessary to afford just satisfaction to the person in whose favour it is made. (4) In determining(a) whether to award damages, or (b) the amount of an award, the court must take into account the principles applied by the European Court of Human Rights in relation to the award of compensation under Article 41 of the Convention. (5) A public authority against which damages are awarded is to be treated(a) in Scotland, for the purposes of section 3 of the Law Reform (Miscellaneous Provisions) (Scotland) Act 1940 as if the award were made in an action of damages in which the authority has been found liable in respect of loss or damage to the person to whom the award is made;
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(b) for the purposes of the Civil Liability (Contribution) Act 1978 as liable in respect of damage suffered by the person to whom the award is made. (6) In this section„court“ includes a tribunal; „damages“ means damages for an unlawful act of the public authority; and „unlawful“ means unlawful under section 6(1). 9. Judicial acts (1) Proceedings under section 7(1)(a) in respect of a judicial act may be brought only(a) by exercising a right of appeal; (b) on an application (in Scotland a petition) for judicial review; or (c) in such other forum as may be prescribed by rules. (2) That does not affect any rule of law which prevents a court from being the subject of judicial review. (3) In proceedings under this Act in respect of a judicial act done in good faith, damages may not be awarded otherwise than to compensate a person to the extent required by Article 5(5) of the Convention. (4) An award of damages permitted by subsection (3) is to be made against the Crown; but no award may be made unless the appropriate person, of not a party to the proceedings, is joined. (5) In this section„appropriate person“ means the Minister responsible for the court concerned, or a person or government department nominated by him; „court“ includes a tribunal; „judge“ includes a member of a tribunal, a justice of the peace and a clerk or other officer entitled to exercise the jurisdiction of a court; „judicial act“ means a judicial act of a court and includes an act done on the instructions, or on behalf, of a judge; and „rules“ has the same meaning as in section 7(9).
Remedial action 10. Power to take remedial action (1) This section applies if(a) a provision of legislation has been declared under section 4 to be incompatible with a Convention right and, if an appeal lies(i) all persons who may appeal have stated in writing that they do not intend to do so; (ii) the time for bringing an appeal has expired and no appeal has been brought within that time; or (iii) an appeal brought within that time has been determined or abandoned; or (b) it appears to a Minister of the Crown or Her Majesty in Council that, having regard to a finding of the European Court of Human Rights made after the coming into force of this section in proceedings against the United Kingdom, a provision of legislation is incompatible with an obligation arising from the Convention.
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(2) If a Minister of the Crown considers that there are compelling reasons for proceeding under this section, he may by order make such amendments to the legislation as he considers necessary to remove the incompatibility. (3) If, in the case of subordinate legislation, a Minister of the Crown considers(a) that it is necessary to amend the primary legislation under which the subordinate legislation in question was made, in order to enable the incompatibility to be removed, and (b) that there are compelling reasons for proceeding under this section, he may by order make such amendments to the primary legislation as he considers necessary. (4) This section also applies where the provision in question is in subordinate legislation and has been quashed, or declared invalid, by reason of incompatibilty with a Convention right and the Minister proposes to proceed under paragraph 2(b) of Schedule 2. (5) If the legislation is an Order in Council, the power conferred by subsection (2) or (3) is exercisable by Her Majesty in Council. (6) In this section „legislation“ does not include a Measure of the Church Assembly or of the General Synod of the Church of England. (7) Schedule 2 makes further provision about remedial orders. Other rights and proceedings 11. Safeguard for existing human rights A person’s reliance on a Convention right does not restrict(a) any other right or freedom conferred on him by or under any law having effect in any part of the United Kingdom; or (b) his right to make any claim or bring any proceedings which he could make or bring apart from sections 7 to 9. 12. Freedom of expression (1) This section applies if a court is considering whether to grant any relief which, if granted, might affect the exercise of the Convention right to freedom of expression. (2) If the person against whom the application for relief is made („the respondent“) is neither present nor represented, no such relief is to be granted unless the court is satisfied(a) that the applicant has taken all practicable steps to notify the respondent; or (b) that there are compelling reasons why the respondent should not be notified. (3) No such relief is to be granted so as to restrain publication before trial unless the court is satisfied that the applicant is likely to establish that publication should not be allowed. (4) The court must have particular regard to the importance of the Convention right to freedom of expression and, where the proceedings relate to material which the respondent claims, or which appears to the court, to be journalistic, literary or artistic material (or to conduct connected with such material), to(a) the extent to which(i) the material has, or is about to, become available to the public; or (ii) it is, or would be, in the public interest for the material to be published; (b) any relevant privacy code.
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(5) In this section„court“ includes a tribunal; and „relief“ includes any remedy or order (other than in criminal proceedings). 13. Freedom of thought, conscience and religion (1) If a court’s determination of any question arising under this Act might affect the exercise by a religious organisation (itself or its members collectively) of the Convention right to freedom of thought, conscience and religion, it must have particular regard to the importance of that right. (2) In this section „court“ includes a tribunal.
Derogations and reservation 14. Derogations (1) In this Act „designated derogation“ means(a) the United Kingdom’s derogation from Article 5(3) of the Convention; and (b) any derogation by the United Kingdom from an Article of the Convention, which is designated for the purposes of this Act in an order made by the Secretary of State. (2) The derogation referred to in subsection (1)(a) is set out in Part I of Schedule 3. (3) If a designated derogation is amended or replaced it ceases to be a designated derogation. (4) But subsection (3) does not prevent the Secretary of State from exercising his power under subsection (1)(b) to make a fresh designation order in respect of the Article concerned. (5) The Secretary of State must by order make such amendments to Schedule 3 as he considers appropriate to reflect(a) any designation order; or (b) the effect of subsection (3). (6) A designation order may be made in anticipation of the making by the United Kingdom of a proposed derogation. 15. Reservations (1) In this Act „designated reservation“ means(a) the United Kingdom’s reservation to Article 2 of the First Protocol to the Convention; and (b) any other reservation by the United Kingdom to an Article of the Convention, or of any protocol to the Convention, which is designated for the purposes of this Act in an order made by the Secretary of State. (2) The text of the reservation referred to in subsection (1)(a) is set out in Part II of Schedule 3. (3) If a designated reservation is withdrawn wholly or in part it ceases to be a designated reservation. (4) But subsection (3) does not prevent the Secretary of State from exercising his power under subsection (1)(b) to make a fresh designation order in respect of the Article concerned. (5) The Secretary of State must by order make such amendments to this Act as he considers appropriate to reflect-
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(a) any designation order; or (b) the effect of subsection (3). 16. Period for which designated derogations have effect (1) If it has not already been withdrawn by the United Kingdom, a designated derogation ceases to have effect for the purposes of this Act(a) in the case of the derogation referred to in section 14(1)(a), at the end of the period of five years beginning with the date on which section 1(2) came into force; (b) in the case of any other derogation, at the end of the period of five years beginning with the date on which the order designating it was made. (2) At any time before the period(a) fixed by subsection (1)(a) or (b), or (b) extended by an order under this subsection, comes to an end, the Secretary of State may by order extend it by a further period of five years. (3) An order under section 14(1)(b) ceases to have effect at the end of the period for consideration, unless a resolution has been passed by each House approving the order. (4) Subsection (3) does not affect(a) anything done in reliance on the order; or (b) the power to make a fresh order under section 14(1)(b). (5) In subsection (3) „period for consideration“ means the period of forty days beginning with the day on which the order was made. (6) In calculating the period for consideration, no account is to be taken of any time during which(a) Parliament is dissolved or prorogued; or (b) both Houses are adjourned for more than forty days. (7) If a designated derogation is withdrawn by the United Kingdom, the Secretary of State must by order make such amendments to this Act as he considers are required to reflect that withdrawal. 17. Periodic review of designated reservations (1) The appropriate Minister must review the designated reservation referred to in section 15(1)(a)(a) before the end of the period of five years beginning with the date on which section 1(2) came into force; and (b) if that designation is still in force, before the end of the period of five years beginning with the date on which the last report relating to it was laid under subsection (3). (2) The appropriate Minister must review each of the other designated reservations (if any)(a) before the end of the period of five years beginning with the date on which the order designating the reservation first came into force; and (b) if the designation is still in force, before the end of the period of five years beginning with the date on which the last report relating to it was laid under subsection (3). (3) The Minister conducting a review under this section must prepare a report on the result of the review and lay a copy of it before each House of Parliament.
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Anhang Judges of the European Court of Human Rights
18. Appointment to European Court of Human Rights (1) In this section „judicial office“ means the office of(a) Lord Justice of Appeal, Justice of the High Court or Circuit judge, in England and Wales; (b) judge of the Court of Session or sheriff, in Scotland; (c) Lord Justice of Appeal, judge of the High Court or county court judge, in Northern Ireland. (2) The holder of a judicial office may become a judge of the European Court of Human Rights („the Court“) without being required to relinquish his office. (3) But he is not required to perform the duties of his judicial office while he is a judge of the Court. (4) In respect of any period during which he is a judge of the Court(a) a Lord Justice of Appeal or Justice of the Hight Court is not to count as a judge of the relevant court for the purposes of section 2(1) or 4(1) of the Supreme Court Act 1981 (maximum number of judges) nor as a judge of the Supreme Court for the purposes of section 12(1) to (6) of that Act (salaries etc.); (b) a judge of the Court of Sessions is not to count as a judge of that court for the purposes of section 1(1) of the Court of Session Act 1988 (maximum number of judges) or of section 9(1)(c) of the Administration of Justice Act 1973 („the 1973 Act“) (salaries etc.); (c) a Lord Justice of Appeal or judge of the High Court in Northern Ireland is not to count as a judge of the relevant court for the purposes of section 2(1)or 3(1) of the Judicature (Northern Ireland) Act 1978 (maximum number of judges) nor as a judge of the Supreme Court of Northern Ireland for the purposes of section 9(1)(d) of the 1973 Act (salaries etc.); (d) a Circuit judge is not to count as such for the purposes of section 18 of the Court Act 1971 (salaries etc.); (e) a sheriff is not to count as such for the purposes of section 14 of the Sheriff Courts (Scotland) Act 1907 (salaries etc.); (f) a country court judge of Northern Ireland is not to count as such for the purposes of the County Courts Act (Northern Ireland) 1959 (salaries etc.). (5) If a sheriff principal is appointed a judge of the Court, section 11(1) of the Sheriff Courts (Scotland) Act 1971 (temporary appointment of sheriff principal) applies, while he holds that appointment, as if his office is vacant. (6) Schedule 4 makes provision about judicial pensions in relation to the holder of a judicial office who serves as a judge of the Court. (7) The Lord Chancellor or the Secretary of State may by order make such transitional provision (including, in particular, provision for a temporary increase in the maximum number of judges) as he considers appropriate in relation to any holder of a judicial office who has completed his service as a judge of the Court.
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Parliamentary procedure 19. Statements of compatibility (1) A Minister of the Crown in charge of a Bill in either House of Parliaments must, before Second Reading of the Bill(a) make a statement to the effect that in his view the provisions of the Bill are compatible with the Convention rights („a statement of compatibility“); or (b) make a statement to the effect that although he is unable to make a statement of compatibility the government nevertheless wishes the House to proceed with the Bill. (2) The statement must be in writing and be published in such manner as the Minister making it considers appropriate. Supplemental 20. Orders etc. under this Act (1) Any power of a Minister of the Crown to make an order under this Act is exercisable by statutory instrument. (2) The power of the Lord Chancellor or the Secretary of State to make rules (other than rules of court) under section 2(3) or 7(9) is exercisable by statutory instrument. (3) Any statutory instrument made under section 14, 15 or 16(7) must be laid before Parliament. (4) No order may be made by the Lord Chancellor or the Secretary of State under section 1(4), 7(11) or 16(2) unless a draft of the order has been laid before, and approved by, each House of Parliament. (5) Any statutory instrument made under section 18(7) or Schedule 4, or to which subsection (2) applies, shall be subject to annulment in pursuance of a resolution of either House of Parliament. (6) The power of a Northern Ireland department to make(a) rules under section 2(3)(c) or 7(9)(c), or (b) an order under section 7(11), is exercisable by statutory rule for the purposes of the Statutory Rules (Northern Ireland) Order 1979. (7) Any rules made under section 2(3)(c) or 7(9)(c) shall be subject to negative resolution; and section 41(6) of the Interpretation Act (Northern Ireland) 1954 (meaning of „subject to negative resolution“) shall apply as if the power to make the rules were conferred by an Act of the Northern Ireland Assembly. (8) No order may be made by a Northern Ireland department under section 7(11) unless a draft of the order has been laid before, and approved by, the Northern Ireland Assembly. 21. Interpretation etc. (1) In this Act „amend“ includes repeal and apply (with or without modifications); „the appropriate Minister“ means the Minister of the Crown having charge of the appropriate authorised government department (within the meaning of the Crown Proceedings Act 1947); „the Commission“ means the European Commission of Human Rights; „the Convention“ means the Convention for the Protection of Human Rights and
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Anhang Fundamental Freedoms, agreed by the Council of Europe at Rome on 4th November 1950 as it has effect for the time being in relation to the United Kingdom; „declaration of incompatibility“ means a declaration under section 4; „Minister of the Crown“ has the same meaning as in the Ministers of the Crown Act 1975; „Northern Ireland Minister“ includes the First Minister and the deputy First Minister in Northern Ireland; „primary legislation“ means any(a) public general Act; (b) local and personal Act; (c) private Act; (d) Measure of the Church Assembly; (e) Measure of the General Synod of the Church of England; (f) Order in Council(i) made in exercise of Her Majesty’s Royal Prerogative; (ii) made under section 38(1)(a) of the Northern Ireland Constitution Act 1973 or the corresponding provision of the Northern Ireland Act 1998; or (iii) amending an Act of a kind mentioned in paragraph (a), (b) or (c); and includes an order or other instrument made under primary legislation (otherwise than by the National Assembly for Wales, a member of the Scottish Executive, a Northern Ireland Minister or a Northern Ireland department) to the extent to which it operates to bring one or more provisions of that legislation into force or amends any primary legislation; „the First Protocol“ means the protocol to the Convention agreed at Paris on 20th March 1952; „the Sixth Protocol“ means the protocol to the Convention agreed at Strasbourg on 28th April 1983; „the Eleventh Protocol“ means the protocol to the Convention (restructuring the control machinery established by the Convention) agreed at Strasbourg on 11th May 1994; „remedial order“ means an order under section 10; „subordinate legislation“ means any(a) Order in Council other than one(i) made in exercise of Her Majesty’s Royal Prerogative; (ii) made under section 28(1)(a) Northern Ireland Constitution Act 1973 or the corresponding provision of the Northern Ireland Act 1998; or (iii) amending an Act of a kind mentioned in the definition of primary legislation; (b) Act of the Scottish Parliament; (c) Act of the Parliament of Northern Ireland; (d) Measure of the Assembly established under section 1 of the Northern Ireland Assembly Act 1973; (e) Act of the Northern Ireland Assembly; (f) order, rules, regulations, scheme, warrant, byelaw or other instrument made under primary legislation (except to the extent to which it operates to bring one or more provisions of that legislation into force or amends any primary legislation); (g) order, rules, regulations, scheme, warrant, byelaw or other instrument made under legislation mentioned in paragraph (b), (c), (d) or (e) or made under an Order in Council applying to Northern Ireland;
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(2) (3)
(4)
(5)
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(h) order, rules, regulations, scheme, warrant, byelaw or other instrument made by a member of the Scottish Executive, a Northern Ireland Minister or a Northern Ireland department in exercise of prerogative or other executive functions of Her Majesty which are exercisable by such a person on behalf of Her Majesty; „transferred matters“ has the same meaning as in the Northern Ireland Act 1998; and „tribunal“ means any tribunal in which legal proceedings may be brought. The references in paragraphs (b) and (c) of section 2(1) to Articles of the Convention as they had effect immediately before the coming into force of the Eleventh Protocol. The reference in paragraph (d) of section 2(1) to Article 46 includes a reference to Articles 32 and 54 of the Convention as they had effect immediately before the coming into force of the Eleventh Protocol. The references in section 2(1) to a report or decision of the Commission or a decision of the Committee of Ministers include references to a report or decision made as provided by paragraphs 3, 4 and 6 of Article 5 of the Eleventh Protocol (transitional provisions). Any liability under the Army Act 1955, the Air Force Act1955 or the Naval Discipline Act 1957 to suffer death for an offence is replaced by a liability to imprisonment for life or any less punishment authorised by those Acts; and those Acts shall accordingly have effect with the necessary modifications.
22. Short title, commencement, application and extent (1) This Act may be cited as the Human Rights Act 1998. (2) Sections 18, 20 and 21(5) and this section come into force on the passing of the Act. (3) The other provisions of this Act come into force on such day as the Secretary of State may by order appoint; and different days may be appointed for different purposes. (4) Paragraph (b) of subsection (1) of section 7 applies to proceedings brought by or at the instigation of a public authority whenever the act in question took place; but otherwise that subsection does not apply to an act taking place before the coming into force of that section. (5) This Act binds the Crown. (6) This Act extends to Northern Ireland. (7) Section 21(5), so far as it relates to any provision contained in the Army Act 1955, the Air Force Act 1955 or the Naval Discipline Act 1957, extends to any place to which that provision extends.
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Anhang Schedule 2 REMEDIAL ORDERS Orders
1.- (1) A remedial order may(a) contain such incidental, supplemental, consequential or transitional provision as the person making it considers appropriate; (b) be made so as to have effect form a date earlier than that on which it is made; (c) make provision for the delegation of specific functions; (d) make different provisions for different cases. (2) The power conferred by sub-paragraph (1)(a) includes(a) power to amend primary legislation (including primary legislation other than that which contains the incompatible provision), and (b) power to amend or revoke subordinate legislation (including subordinate legislation other than that which contains the incompatible provision). (3) A remedial order may be made so as to have the same extent as the legislation which it affects. (4) No person is to be guilty of an offence solely as a result of the retrospective effect of a remedial order.
Procedure 2. No remedial order may be made unless(a) a draft of the order has been approved by a resolution of each House of Parliament made after the end of the period of 60 days beginning with the day on which the draft was laid; or (b) it is declared in the order that it appears to the person making it that, because of the urgency of the matter, it is necessary to make the order without a draft being so approved.
Orders laid in draft 3.- (1) No draft may be laid under paragraph 2 (a) unless(a) the person proposing to make the order has laid before Parliament a document which contains a draft of the proposed order and the required information; and (b) the period of 60 days, beginning with the day on which the document required by this sub-paragraph was laid, has ended. (2) If representations have been made during that period, the draft laid under paragraph 2(a) must be accompanied by a statement containing(a) a summary of the representations; and (b) if, as a result of the representations, the proposed order has been changed, details of the changes.
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Urgent cases 4.- (1) If a remedial order („the original order“) is made without being approved in draft, the person making it must lay it before Parliament, accompanied by the required information, after it is made. (2) If representations have been made during the period of 60 days beginning with the day on which the original order was made, the person making it must (after the end of that period) lay before Parliament a statement containing(a) a summary of the representations; and (b) if, as a result of the representations, he considers it appropriate to make changes to the original order, details of the changes. (3) If sub-paragraph (2)(b) applies, the person making the statement must(a) make a further remedial order replacing the original order; and (b) lay the replacement order before Parliament. (4) If, at the end of the period of 120 days beginning with the day on which the original order was made, a resolution has not been passed by each House approving the original or replacement order, the order ceases to have effect (but without that affecting anything previously done under either order or the power to make a fresh remedial order).
Definitions 5. In this Schedule„representations“ means representations about a remedial order (or proposed remedial order) made to the person making (or proposing to make) it and includes any relevant Parliamentary report or resolution; and „required information“ means(a) an explanation of the incompatibility which the order )or proposed order) seeks to remove, including particulars of the relevnat declaration, finding or order; and (b) a statement of the reasons for proceeding under section 10 and for making an order in those terms.
Calculating periods 6. In calculating any period for the purposes of this Schedule, no account is to be taken of any time during which(a) Parliament is dissolved or prorogued; or (b) both Houses are adjourned for more than four days.
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Sach- und Personenregister A v Secretary of State for the Home Department 242 ff. Abkehr vom Rechtspositivismus siehe Rechtspositivismus Abromeit, Heidrun 32 ACT Human Rights Act 289 Act of Settlement 1700 37 Alconbury siehe R (Alconbury Development Ltd) v Environment Secretary Allan, Trevor R. S. 160, 161, 163, 183 Analytische Jurisprudenz (analytical jurisprudence) 71 ancien regime siehe Verfassungsverständnis Anderson siehe R (Anderson) v Secretary of State for the Home Department Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 243 Asylum and Immigration (Treatment of Claimants etc.) Bill 184 Auslegung von Gesetzen 105 ff. – exclusionary rule 110, 213 – golden rule 107 – herkömmliche Auslegung siehe ordinary methods of interpretation – historische 110 – konventionskonforme Auslegung 24 ff., 132, 153, 201, 211 ff., 214 f., 254 ff., 258 ff. – literal rule 105, 121, 207, 221, 272, 274, 276, 284 – Methodenlehre 106 – mischief rule 107 – objektive Theorie 108, 114 – ordinary methods of interpretation 215, 232, 258 ff., 263, 271, 274 – presumptions of interpretation siehe Vermutungsregeln aus dem common law
– purposive approach 199, 209 f., 212, 213, 220, 221, 236, 284, 294 – reading down 212, 214, 274, 276, 295 – reading in 212, 214, 259, 260, 266, 274, 276 – subjektive Theorie 108 – systematische 110 ff. – teleologische 112 f. – Vereinheitlichung 25 – verfassungskonforme Auslegung siehe konventionskonforme Auslegung – Vermutungsregeln aus dem common law 100, 111, 158, 200, 211 – Wortlautauslegung siehe literal rule Auslegungsregel siehe Human Rights Act 1998 Austin, John 70 ff., 95, 117 Bagehot, Sir Walter 49, 59 balanced constitution siehe Verfassung Bamforth, Nicholas 151 Belhoff, M. 166 Bellamy, Richard 177 Bellinger v Bellinger 269, 270 Belmarsh Case siehe A v Secretary of State for the Home Department Bentham 70, 71, 102, 117 bill of rights – Bill of Rights (1688) 37, 134, 152 – bill of rights (Grundrechtskatalog) 125, 126, 127, 128, 145, 165, 172, 256, 289 – Canadian Bill of Rights 1960 287 – New Zealand Bill of Rights Act 1990 272, 287, 291 Bingham, Lord 234, 245 ff., 248, 252 Black-Clawson International Ltd. v Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg AG 108
350
Sach- und Personenregister
Blackstone, Sir William 47, 49 Blair, Tony 18 (Fn 5), 127 (Fn 31), 293 Boateng, Paul 128 Bogdanor, Vernon 51, 68 bourgeois liberal position siehe Demokratieverständnis Bracton, Henry of 176 Bridge, Lord 101, 140 British Bill of Rights (Reformvorschlag) British Railways Board v Pickin 104 Brown (Margaret Anderson) v Stott (PC) 230 Browne-Wilkinson, Lord 128 Campbell, Lord 104 Canadian Bill of Rights 1960 siehe bill of rights Cane, Peter 220 Charter of Rights and Freedoms 1982 (kanadische) 237, 286 civil law tradition 135, 183 civil liberties siehe Freiheit Civil Procedure Rules 1998 197 Clyde, Lord 218 Code of Conduct for MPs 38 Coke, Lord 104 comity 118, 120 common law 57 ff., 67 f., 182 f. – common law constitutionalism 182 f. – common law tradition 135 f., 183 – Freiheits-/Grundrechtsschutz durch 94 ff., 169, 178, 182, 211 – fundamental rights 152, 170 – Grundrechtssprechung 168, 195 Common-Law-Modell siehe judicial review Commonwealth Model of Constitutionalism 286 ff. communitarian position siehe Demokratieverständnis Conservative Party (konservative Partei) 125 constitutional capacity siehe judicial deference
constitutional court siehe supreme court constitutional dialogue 29, 220 ff., 226, 236, 251, 253, 279, 280, 285, 290, 298 – legitimer Dissens 279, 286, 289, 290, 297, 298 Constitutional Reform Act 2005 190 constitutional rights siehe Rechte constitutional settlement siehe Verfassungswandel constitutional statutes siehe Normenhierarchie Cooke, Lord 218 Council of Civil Service Union v Minister for the Civil Service 199 Craig, Paul 91, 99, 157 Crime (Sentences) Act 1997 267, 268 culture of authority siehe Verfassungswandel culture of justification siehe Verfassungswandel De Freitas v Permanent Secretary of Minister of Agriculture, Fisheries, Lands and Housing 218 declaration of incompatibility siehe Human Rights Act 1998 declaratory theory 114 democratic dialogue siehe constitutional dialogue Demokratieverständnis 23, 61 ff., 70, 116, 170 ff., 177, 181, 274 – bourgeois liberal position 173, 174, 176, 257 – communitarian position 173, 175 – Einfluss auf die Gesetzesauslegung 116 – liberal democratic position 173, 175, 176 – liberal republicanism 173, 175, 176 – majority rule siehe Mehrheitsprinzip – Mehrheitsdemokratie 68 ff., 170, 175, 252 – Mehrheitsprinzip 171, 176, 177, 284 – rights based democracy 176, 247, 170 ff.
Sach- und Personenregister – self correcting democracy 69, 90 ff., 157 – traditionelles 61 ff. Denning, Lord 212 Department for Constitutional Affairs 283, 296 devolution 37, 103, 139, 140 ff., 152, 186 – Sewel Convention 141 Dicey, Albert Venn 40, 43, 44, 45 ff., 61 ff., 68 ff., 70, 72, 79 ff., 90 ff., 101, 114, 157, 158, 160, 161, 163, 175 Diceys Konzeption der rule of law siehe rule of law Diktatur der Mehrheit (elective dictatorship) 35, 94, 100, 176 Diplock, Lord 199, 217 Dr. Bonham’s Case 104 dualist approach 159 Dworkin, Ronald 79, 178 ff., 240, 281 – interpretive theory of law 179 Edingbourgh and Dalkeih Ry Co v Wanchope 104 Edwards, R. A. 235 Einfluss auf die Gesetzesauslegung siehe Demokratieverständnis, Parlamentssouveränität, rule of law und Rechtspositivismus Ekins, Richard 262 ff. Elias v Pasmore 99 enacting clause 104 enrolled Bill rule 103, 104 Entick v Carrington 95 entrenchment 151, 154, 261, 262, 265 Erklärungstheorie des Rechts siehe declaratory theory Ermessen 26, 63, 82, 107, 169, 198, 260 – Ermessensbefugnis 82, 89, 111, 119, 167, 168, 196, 198, 201, 212 – Ermessensgebrauch 226 – Ermessensspielraum 80, 112, 198 Eskridge, Wiliam 154, 155 Europäische Menschenrechtskonvention 19, 122, 144
351
– Inkorporierung 124 ff., 145, 178 – konventionskonforme Auslegung siehe Auslegung von Gesetzen europäischer Einfluss siehe Verfassungswandel Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 123, 127, 133, 145, 164, 187, 188, 195, 208, 210, 215, 216, 218, 227, 228, 229, 233 European Communities Act 1972 132, 140, 152, 153 evolutionärer Charakter der Verfassung siehe Verfassung evolutionärer Prozess siehe Verfassungswandel Ewing, K. D. 147 exclusionary rule siehe Auslegung von Gesetzen external limits siehe Parlamentssouveränität Factortame-Entscheidung 139, 140, 186 fast track procedure siehe Human Rights Act 1998 Ferejohn, John 154, 155 Fikentscher, Wolfgang 106 Findlay v United Kingdom 188 formeller Verfassungsbegriff siehe Verfassung Freiheit (freedom) 163, 164, 168, 176, 209, 218 – civil liberties 97 – des Individuums siehe rule of law – Freiheitsrechte 82, 90, 99 f., 298 – Freiheitsschutz 23, 35, 90 ff., 99, 120, 142, 158, 159, 164 – Individualrechtsschutz 28, 32, 93 ff., 127, 163 ff., 181, 202, 214, 221 Fuller, L. L. 281 fundamental law 39 Gardbaum, Stephen 289 Gearty, Conor 235, 265 General-legislative-Intent-Modell judicial review
siehe
352
Sach- und Personenregister
generous approach siehe Verfassungsinterpretation Gerichtssouveränität 33 Gewaltenteilung 56, 185, 208, 223, 239, 254, 280 Ghaidan v Godin-Mendoza 271 ff., 275 ff. Gleichheit vor dem Recht siehe rule of law Glorious Revolution 59 Goff, Lord 96 golden rule siehe Auslegung von Gesetzen good governance 278, 222, 232 Goodwin v United Kingdom 269 Government of Wales Act 2006 141 grounds of judicial review siehe judicial review Grundrechte 35, 69, 146, 152, 171, 179, 206, 228 – common law Grundrechte siehe common law Grundrechtskatalog siehe bill of rights Grundrechtsprüfung 232 Habeas Corpus Act 1679 37 Häberle, Peter 34 Hailsham, Lord 176 Hale, Baroness 274 Halsbury, Lord 114, 115 Handyside v United Kingdom 227 Hart, H. L.A. 72, 178 heightened scrutiny test siehe judicial review herkömmliche Auslegung siehe Auslegung von Gesetzen Hiebert, Janet L. 289 higher law 39 historische Auslegung siehe Auslegung von Gesetzen Hobhouse, Lord 270 Hoffmann, Lord 238, 239 ff., 241, 242, 250, 260 Hope, Lord 229, 234, 258, 260, 261, 262, 265, 266, 269 House of Commons 50, 52, 56, 91, 104 House of Lords 50, 52, 56, 104, 186, 276
– House of Lords Act 1999 38 (Fn 70), 138 (Fn 80) – House of Lords Constitution Committee 134 – Reform des House of Lords 138 Human Rights Act 1998 19, 122 ff. – Adressaten (public authority) 129 ff., 193 – Antragsbefugnis (victim) 131 132, – Auslegungsregel (section 3) 211 ff., 254 ff. – continuing (standing) intention 148, 262 – declaration of incompatibility siehe Inkompatibilitätserklärung – fast track procedure (section 10) 133, 265 – Inkompatibilitäterklärung (section 4) 128, 132, 135, 143, 145, 147, 193, 215, 254, 259, 279 – Kompatibilitätserklärung (section 19) 134, 143, 149 – (als) legal irritant 23, 135 ff. – new rule of interpretation 159 – Unvereinbarkeitserklärung siehe Inkompatibilitätserklärung Human Rights Act 1998 (Designated Derogation) Order 2001 243 Hume, David 70 Hunt, Murray 166 Idee der Privatrechtsgesellschaft siehe privatrechtliches Modell des öffentlichen Rechts Incorporationists siehe judicial deference Individualrechtsschutz siehe Freiheit Inkompatibilitätserklärung siehe Human Rights Act 1998 Inkorporierung der EMRK siehe Europäische Menschenrechtskonvention institutional capacity (competence) siehe judicial deference internal limits siehe Parlamentssouveränität International Transport Roth GmbH v Secretary of State for the Home Department 230
Sach- und Personenregister Interpretation siehe Auslegung von Gesetzen interpretative theory of law siehe Dworkin Irvine of Lairg, Lord 22, 128, 143, 210 Jellinek, Georg 41 Jennings, Sir Ivor 42, 49, 96, 97 Joint Committee on Human Rights 134 Jowell, Jeffrey 185, 202, 247 Jowett, Benjamin 46 judicial activism 27, 86, 111, 225, 295 judicial deference 25 ff., 220, 225 ff., 285 – constitutional capacity 241, 251 – Incorporationists 254, 262, 280, 285 – institutional capacity (competence) 241, 246, 252 f., 270, 276 – Margin-of-Appreciation-Doktrin 227 ff. – nationales Konzept der 229 ff. – Sphärentheorie 247, 248 – Third-Wave-Protagonists 254 ff., 262, 270, 280, 285 judicial restraint 121, 226 judicial review 131, 167, 169, 184, 192, 196 ff. – Common-Law-Modell 203 f., 205 – General-legislative-Intent-Modell/ Modified-ultra-Vires -Modell 204 f., 207 – grounds of judicial review 199, 203, 220 – heightened scrutiny Test 217, 218 – judicial review of legislation siehe Normenkontrolle – traditionelle Ultra-Vires-Schule 203 – Ultra-Vires-Doktrin 198, 199, 200, 206 – Wednesbury Test 200, 201, 217, 218 judicial supremacy 23, 33, 34 judicialization siehe Konstitutionalisierung juridification siehe Konstitutionalisierung juristische Souveränität siehe Parlamentssouveränität Kassationsrecht 102, 191, 207, 256, 281, 287 Kebilene siehe R v DPP, ex p Kebilene
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Keeton, G. W. 49 Kelsen, Hans 72 Klug, Francesca 166 Kompatibilitätserklärung s Human Rights Act 1998 Konstitutionalisierung 34, 147, 163 ff., 182, 214 – judicialization 164, 292 – juridification (Verrechtlichung) 127, 164, 181, 225, 292 Kontrolldichte siehe Normenkontrolle konventionskonforme Auslegung siehe Auslegung von Gesetzen Konventionsrechtsprüfung siehe Normenkontrolle Krüger, Herbert 31 Labour Party 125, 126, 127, 128, 137 Lambert siehe R v Lambert Larenz, Karl 106, 108 Law Commission 213 Laws, Sir John 20, 21, 153, 154, 162, 165, 167, 168, 169, 177, 230 Leech siehe R v Secretary of State for the Home Department, ex p Leech legal fact siehe Parlamentssouveränität legal irritant siehe Human Rights Act 1998 Legalitätsprinzip siehe rule of law Legrand, Pierre 136 Lester, Lord 198, 230 liberal democratic position siehe Demokratieverständnis liberal republicanism siehe Demokratieverständnis Liberalismus 82, 116, 173 limited government 176, 177, 181, 214, 221 literal rule siehe Auslegung von Gesetzen Locke, John 97 Loewenstein, Karl 53, 64 Lolme, Jean Louis de 56 Lord Chancellor (Reform) 138, 188 Loughlin, Martin 173, 175, 177 Low, Sidney 40
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Sach- und Personenregister
Magna Charta 37, 152 Magor and St Mellos RDC v Newport Corpn. 212 majority rule siehe Demokratieverständnis Malone v Metropolitan Police Commissioner 98 manner and form restrictions siehe Parlamentssouveränität Marbury v Madison 86, 206 Margin-of-Appreciation-Doktrin siehe judicial deference Marshall, Geoffrey 262, 298 materielle Aufladung der rule of law siehe rule of law materieller Verfassungsbegriff siehe Verfassung Matrimonial Causes Act 1973 269 McGonnell v United Kingdom 187 McKechnie, W. S. 100 McLachlin, Justice 237 Megarry, Sir Robert 98 Mehrheitsprinzip siehe Demokratieverständnis Meßerschmidt, Klaus 32, 34 Methodenlehre siehe Auslegung von Gesetzen Millet, Lord 238, 271, 274, 275 Ministerial Code 38 Ministry of Justice 138 mischief rule siehe Auslegung von Gesetzen Misuse of Drugs Act 1971 266 Modified-ultra-Vires-Modell siehe judicial review Mountfield, H. 166 Mustill, Lord 276 Nationales Konzept der judicial deference siehe judicial deference Nationality, Immigration and Asylum Act 2002 184 natural justice 86, 104, 112, 198 negative Parlamentssouveränität siehe Parlamentssouveränität
neues öffentliches Recht siehe öffentliches Recht new rule of interpretation siehe Human Rights Act 1998 New Zealand Bill of Rights Act 1990 siehe bills of rights Nicholls, Lord 238, 248 f., 267, 268, 269, 271, 275 Nicol, Danny 140, 280 Normenhierarchie 152 ff., 120 – constitutional statutes 152 ff., 187, 208 Normenkontrolle (judicial review of legislation, constitutional judicial review) 24, 26, 27, 72, 79, 90, 102 ff., 120, 139, 147, 170, 172, 186 f., 191 ff., 196 ff., 215, 221, 233, 237, 248, 251, 278, 281 – constitutional judicial review siehe Normenkontrolle – judicial review of legislation siehe Normenkontrolle – Kontrolldichte 26, 201, 217, 218, 226, 236, 238, 242, 248, 249, 294 – Konventionsrechtsprüfung 234 Objektive Theorie siehe Auslegung von Gesetzen öffentliches Recht 181 ff. – privatrechtliches Modell des öffentlichen Rechts 81, 83, 95, 98 ordinary methods of interpretation siehe Auslegung von Gesetzen orthodoxes Verfassungsverständnis siehe Verfassungsverständnis ouster-clauses 184, 185 Pannick, David 230 Parlament 50 Parlamentssouveränität (Doktrin) 19, 30 ff., 44 ff., 155 ff., 270, 276, 280, 284, 298 – Einfluss auf die Auslegung von Gesetzen 114 – external limits 91 – internal limits 91, 94 – juristische Souveränität 52 ff., 63, 65 – legal fact 50
Sach- und Personenregister – manner and form restrictions 56, 103, 149, 151 – negative 31, 51 f., 147 f. – parliamentary supremacy 44 (Fn 4) – politische Souveränität 52 ff., 63, 64, 65 – positive 31, 51 f., 144 ff. – relativierende Merkmale 56 ff. – rule of recognition 72, 116, 157 – self-embracing supremacy 55, 103 – Substanzverlust 143 ff. – Verhältnis zur rule of law siehe rule of law Pepper v Hart 134, 213 Petition of Rights 1628 37 Phillips, Lord 294 Plato 176 political constitution siehe Verfassung politische Souveränität siehe Parlamentssouveränität politische Verfassung siehe Verfassung Pollock, Chief Baron 109, 113 Poole, Thomas 182 Poplar Housing & Regeneration Community Association Ltd v Donoghue 236 ff. positive Parlamentssouveränität siehe Parlamentssouveränität Prärogativrechte 202, 204 presumptions of interpretation siehe Auslegung von Gesetzen Prevention of Terrorism Act 2005 293, 295 Prinzip der non interference 104 privatrechtliches Modell des öffentlichen Rechts siehe öffentliches Recht ProLife Alliance siehe R (ProLife Alliance) v BBC public authority siehe Human Rights Act 1998 purposive approach siehe Auslegung von Gesetzen und Verfassungsinterpretation R (Alconbury Development Ltd) v Environment Secretary 218 R (Anderson) v Secretary of State for the Home Department 267 f.
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R (Isiko) v Secretary of State for the Home Department 217 R (Mahmood) v Secretary of State for the Home Department 217 R (Pretty) v Director of Public Prosecutions 233 ff. R (ProLife Alliance) v BBC 237 ff. R v A (No 2) 258, 266, 267, 277 R v DPP, ex p Kebilene 211, 229 R v Lambert 265 f. R v Lord Chancellor, ex p Witham 168 R v Secretary of State for the Home Department, ex p Daly 217, 218 R v Secretary of State for the Home Department, ex p Leech 167 R v Secretary of State for the Home Department, ex p Simms 168, 260 Raz, Joseph 77 f. Re MB 293 ff. Re S (Minors) (Care Order: Implementation of Care Plan) 267 reading down siehe Auslegung von Gesetzen reading in siehe Auslegung von Gesetzen realistic approach siehe Verfassungsinterpretation Rechte – constitutional rights 167 f., 201 Rechtmäßigkeit der Verwaltung siehe rule of law Rechtsdualismus von common law und statute law 19, 74, 183 rechtsnormative Anreicherung der Verfassung siehe Verfassungswandel Rechtspositivismus (legal positivism) 70 ff., 78, 120 – Abkehr vom 178 ff., 181, 284 – Einfluss auf die Gesetzesauslegung 116 f., 213 Rechtssicherheit siehe rule of law Rechtsstaatsprinzip siehe rule of law Rehman siehe Secretary of State for the Home Department v Rehman Reid, Lord 104, 108
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Sach- und Personenregister
relativierende Merkmale siehe Parlamentssouveränität Rent Act 1977 271, 275 representative government 65 Republikanismus (Demokratieverständnis) 174, 257 Residualrechte (residual rights) 95 ff., 165, 220 right 164 rights based constitution siehe Verfassung rights based democracy siehe Demokratieverständnis Rights-based-Konzeption der rule of law siehe rule of law Rishworth, Paul 289 RJR MacDonald v Canada 237 Rogers, Lord 273 rule of implied repeal 54 f., 149 ff., 153, 167 rule of law 73 ff., 284 – Abgrenzung zum Rechtsstaatsprinzip 73 ff. – als formales Prinzip 77 f. – als materielles Prinzip 78 f. – als politisches Ideal 76, 88 – Diceys Konzeption 79 ff. – Einfluss auf die Gesetzesauslegung 115 – Freiheit des Individuums 84 f. – Gleichheit vor dem Recht 82 ff. – Legalitätsprinzip 115, 160, 251 – materielle Aufladung 158 ff. – Rechtmäßigkeit der Verwaltung 81 f. – Rechtssicherheit 75, 78, 114, 115, 116, 160, 162 – rights based-Konzeption 79 – Verhältnis zur Sovereignty of Parliament 76, 87 rule of recognition siehe Parlamentssouveränität
Secretary of State for the Home Department v MB 294 Secretary of State for the Home Department v Rehman 241, 250 Sedley, Sir Stephen 167 self correcting democracy siehe Demokratieverständnis self-embracing-supremacy siehe Parlamentssouveränität Sewel Convention siehe devolution Simms siehe R v Secretary of State for the Home Department, ex p Simms Slynn, Lord 218 Souveränitätsbegriff 30, 32, 221 Sovereignty of Parliament siehe Parlamentssouveränität Spannungsverhältnis (inhärentes) siehe Verfassung Sphärentheorie siehe judicial deference standing intention siehe Human Rights Act 1998 Stare-decisis-Doktrin 57 Starmer, Keir 166 statutory interpretation siehe Auslegung von Gesetzen Steyn, Lord 167, 218, 227, 230, 234, 258 ff., 268, 272 Straw, Jack 128 subjektive Theorie siehe Auslegung von Gesetzen Substanzverlust siehe Parlamentssouveränität Sullivan, Justice 293, 294 Supreme Court (Vereinigtes Königreich) 138, 186 ff., 221, 284 – constitutional court 190 Supreme Court Act 1981 197 Sussex Peerage Case 109 systematische Auslegung siehe Auslegung von Gesetzen
Savigny 107 Scarman, Lord 125 Scott, Lord 238
Taylor of Gosforth, Lord 128 teleologische Auslegung siehe Auslegung von Gesetzen
Sach- und Personenregister Teubner, Gunther 136 Thatcher, Margret 17 (Fn 5), 127, 175, 182, 199 Third Wave Protagonists siehe judicial deference Thoburn v Sunderland City Council 153, 187 Tindal, Lord 109 Tocqueville, Alexis de 80 Tomkins, Adam 177 traditionelle Ultra-Vires-Schule siehe judicial review traditionelles Demokratieverständnis siehe Demokratieverständnis traditionelles Verfassungsverständnis siehe Verfassungsverständnis tribunals 84, 184, 197 Ultra-Vires-Doktrin siehe judicial review ungeschriebene Verfassung siehe Verfassung Unvereinbarkeitserklärung siehe Human Rights Act 1998 Vereinheitlichung der Gesetzesauslegung siehe Auslegung von Gesetzen Verfassung (des Vereinigten Königreichs) 35 ff. – als Rahmen der Politik 79, 284 – balanced constitution 117 – evolutionärer Charakter 18, 121, 156 – formelle 41 – inhärentes Spannungsverhältnis 19, 21, 23, 28, 76, 181, 220, 277 – materielle 41, 42 – politische Verfassung (political constitution) 22, 23, 53, 292, 295 – rights-based constitution 142, 175 – ungeschriebene 36 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit 102, 103, 120 Verfassungsinterpretation 207 ff. – generous approach 209, 210, 211, 235 – purposive approach 209 f., 236 – realistic approach 210
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verfassungskonforme Auslegung siehe Auslegung von Gesetzen Verfassungskonventionen (constitutional conventions) 36, 76 Verfassungsreform siehe Verfassungswandel Verfassungssouveränität (constitutional supremacy) 20, 22, 23, 28, 29, 30 ff., 221, 224, 225, 237, 286, 296, 298 Verfassungsverständnis – ancien regime 28 – orthodoxes 28, 43, 44 ff., 101 ff., 119 ff. – traditionelles siehe orthodoxes Verfassungswandel (constitutional change) 17 ff., 137 ff. – constitutional settlement 138, 196 – culture of authority 219, 220, 221, 284 – culture of justification 219, 220, 221, 236, 237, 251, 284 – europäischer Einfluss 17, 139 f. – evolutionärer Prozess 18, 43, 283 – rechtsnormative Anreicherung 19, 22, 23, 183, 221, 298 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 26, 201, 215 ff., 221, 233, 278, 284, 292 Verhältnismäßigkeitsprüfung 215 ff.,236, 237, 242, 246 ff., 279 Verhältniswahlrecht siehe Wahlrecht Vermutungsregeln aus dem common law siehe Auslegung von Gesetzen Verrechtlichung siehe Konstitutionalisierung victim siehe Human Rights Act 1998 Volkssouveränität 61, 63, 65, 102 Voltaire 80 Vorbehalt des Gesetzes 81 Vorrang des Gesetzes 83 Wade, E. C.S. 48 Wade, Lord 125 Wade, Sir William 157 Wahlrecht 66, 68 – Frauenwahlrecht 68 – Reformen 37, 62, 65, 66
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Sach- und Personenregister
– Verhältniswahlrecht 68 Waldron, Jeremy 171, 172 Wednesbury Test siehe judicial review Wheare, K. C. 39 Willis, J. 107 Witham siehe R v Lord Chancellor, ex p Witham
Woolf, Lord 128, 177, 185, 236 Wortlautauslegung siehe Auslegung von Gesetzen Wright, Justice 111 Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999 258, 260