Von der Fabeldeutung mit dem Zauberstab zum modernen Mythenverständnis: Die Mythentheorie Christian Gottlob Heynes 3515124896, 9783515124898

In Mythen haben die ältesten Vorstellungen und frühesten historischen Ereignisse der Menschheit ihre Spuren hinterlassen

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German Pages 350 [354] Year 2019

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise
Kapitel 2: Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen. Eine Analyse des wissenschaftlichen Werks Heynes
2.1 Heynes Publikationen
2.2 Heynes mythentheoretische Schriften
2.3 Heynes Rezensionen – eine Analyse
Kapitel 3: Mythenkonzepte vor Heyne. Zur Begriffs- und Theoriegeschichte eines umstrittenen Teils unserer Kulturgeschichte
3.1 Μῦθοι im antiken Griechenland
3.2 Mythen und Fabeln im 16. und 17. Jahrhundert
Kapitel 4: Heyne im Spiegel der Mythendiskussion seiner Zeit
Kapitel 5: Heynes Menschenbild
5.1 Wissenschaft als ein Springquell vieler Übel – Heyne und das entstehende Konzept menschlicher Rassen
5.2 Die Klimatheorie – Entwicklung und Zustand eines wissenschaftlichen Dogmas des 18. Jahrhunderts
Kapitel 6: „Der rohe Mensch“. Heynes Gedanken zu den Urhebern antiker Mythen
6.1 Heynes Charakterisierung des „rohen Menschen“
6.2 „Das Menschengeschlecht in seiner Kindheit“: antike und neuzeitliche „Wilde“ – Heyne und die Reise- und Entdeckerliteratur
Kapitel 7: Heynes Mythentheorie
7.1 Mythos und Fabel
7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum
7.3 Der sermo mythicus
7.4 Mythus, ritus und religio
7.5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen
7.6 Homer, die Homerischen Epen und die Homerische Frage
Kapitel 8: Der wissenschaftliche Nutzen der antiken Mythologie und Heynes Antikebild
Kapitel 9: Heynes Verdienst und Bedeutung für das moderne Mythenverständnis
Kapitel 10: Literaturverzeichnis
Anhang
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Von der Fabeldeutung mit dem Zauberstab zum modernen Mythenverständnis: Die Mythentheorie Christian Gottlob Heynes
 3515124896, 9783515124898

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Lydia Merkel

Von der Fabeldeutung mit dem Zauberstab zum modernen Mythenverständnis Die Mythentheorie Christian Gottlob Heynes

Wissenschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag

Altertumswissenschaftliches Kolloquium – 26

Altertumswissenschaftliches Kolloquium Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben Herausgegeben von Rainer Thiel und Meinolf Vielberg. Wissenschaftlicher Beirat: Walter Ameling (Köln), Susanne Daub ( Jena), Michael Erler (Würzburg), Angelika Geyer ( Jena), Jürgen Hammerstaedt (Köln), Jan Dirk Harke ( Jena), Gerlinde Huber-Rebenich (Bern), Elisabeth Koch ( Jena), Christoph Markschies (Berlin), Norbert Nebes ( Jena), Tilman Seidensticker ( Jena), Dietrich Simon (Marburg), Timo Stickler ( Jena), Christian Tornau (Würzburg) und Helmut G. Walther ( Jena) Band 26

Von der Fabeldeutung mit dem Zauberstab zum modernen Mythenverständnis Die Mythentheorie Christian Gottlob Heynes Lydia Merkel

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Johann Friedrich der Großmütige („Hanfried“), 1503–1554 Siegel der Friedrich-Schiller-Universität Jena Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 zugleich: Dissertation Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2017 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + Text Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12489-8 (Print) ISBN 978-3-515-12493-5 (E-Book)

Christian Gottlob Heyne, Kupferstich um 1820 von Friedrich Müller, in Privatbesitz

Inhaltsverzeichnis 1

Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

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Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen – Eine Analyse des wissenschaftlichen Werks Heynes 2 1 Heynes Publikationen 2 2 Heynes mythentheoretische Schriften 2 3 Heynes Rezensionen – eine Analyse 3

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Mythenkonzepte vor Heyne – Zur Begriffs- und Theoriegeschichte eines umstrittenen Teils unserer Kulturgeschichte 3 1 Μῦθοι im antiken Griechenland 3 2 Mythen und Fabeln im 16 und 17 Jahrhundert 3.2.1 Fabulae und das pantheum mythicum bei François Antoine Pomey 3.2.2 Fables bei Antoine Banier 3.2.3 Fables bei Bernard le Bovier de Fontenelle 3.2.4 Favole bei Giambattista Vico 3.2.5 Mythi bei Hermann von der Hardt

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Heyne im Spiegel der Mythendiskussion seiner Zeit

5 Heynes Menschenbild 5 1 Wissenschaft als ein Springquell vieler Übel – Heyne und das entstehende Konzept menschlicher Rassen 5 2 Die Klimatheorie – Entwicklung und Zustand eines wissenschaftlichen Dogmas des 18 Jahrhunderts 5.2.1 Die Entwicklung der Klimatheorie von Hippokrates bis Herder 5.2.2 Heynes Haltung zur Klimatheorie

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Inhaltsverzeichnis

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„Der rohe Mensch“ – Heynes Gedanken zu den Urhebern antiker Mythen 6 1 Heynes Charakterisierung des „rohen Menschen“ 6 2 „Das Menschengeschlecht in seiner Kindheit“: antike und neuzeitliche „Wilde“ – Heyne und die Reise- und Entdeckerliteratur 7 Heynes Mythentheorie 7 1 Mythos und Fabel 7.1.1 Begriffe im Wandel – Die Verwendung der Begriffe Mythos und Fabel im 17., 18. und 19. Jahrhundert 7.1.2 Mythos und Fabel bei Heyne 7 2 Mythengenese und die drei genera mythorum 7 3 Der sermo mythicus 7 4 Mythus, ritus und religio 7 5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen 7 6 Homer, die Homerischen Epen und die Homerische Frage

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Der wissenschaftliche Nutzen der antiken Mythologie und Heynes Antikebild

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Heynes Verdienst und Bedeutung für das moderne Mythenverständnis

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Anhang

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Kapitel 1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise Bedienen wir uns heute des Begriffs Mythos, verwenden wir ein außerordentlich häufig gebrauchtes Fremdwort,1 das vermeintlich keiner weiteren Erklärung bedarf Uns ist vielleicht noch bewusst, dass es sich hierbei um eine Entlehnung aus dem Altgriechischen handelt Viel weniger klar ist, dass dieses Wort erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit in unsere Sprache eingewandert ist und einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren hat: Weder unser deutscher Ausdruck Mythos noch seine fremdsprachlichen Entsprechungen myth, mito und mythe haben die gleiche Bedeutung wie ihr antikes Vorbild Bis in die Spätantike verfügt auch das Lateinische nur über die Wörter fabula und fabulosus; die griechischen Fremdwörter mythus und mythicus gelangen erst danach langsam in den lateinischen Wortschatz 2 In die modernen west- und mitteleuropäischen Nationalsprachen wurde später dementsprechend nicht das ungewohnte griechische Fremdwort, sondern erst dessen lateinische Entsprechung übernommen Folglich bot die lateinische Vokabel fabula – beispielsweise in den Formen favola, fable und Fabel – in unserem Kulturkreis über Jahrhunderte hinweg die einzige sprachliche Möglichkeit, antike Götter- und Heldenerzählungen zu benennen, bis diese seit der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts plötzlich immer häufiger auch Mythen genannt wurden Seit dieser Zeit gab es nun im deutschsprachigen Raum zwei Begriffe, mit denen auf dasselbe referiert werden konnte: Mythos und Fabel 3 Sprach man von My1

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Laut Wortschatzportal der Universität Leipzig liegt das Wort Mythos mit der Häufigkeitsklasse 12 auf Rang 9˙836 der häufigsten deutschen Wörter und gehört damit eindeutig zum Grundwortschatz, vgl http://corpora informatik uni-leipzig de/res php?corpusId=deu_newscrawl_2011& word=Mythos Vgl Fritz Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne In: ders (Hg ): Mythos in mythenloser Gesellschaft Stuttgart/Leipzig: 1993 S 284 Die Synonymie von μῦθος und Fabel seit der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts lässt sich mit Hilfe zahlreicher griechisch-lateinischer und lateinisch-griechischer Wörterbücher von vor 1800 gut nachweisen: Fabula wird hier stets mit μῦθος wiedergegeben und umgekehrt, vgl Martin Ruland / David Höschel: Dictionarii Latino-Graeci, sive synonymorum D M R Pars I Augsburg: 1612 S 597; Simone Porzio: Dictionarium Latinum, Graeco-barbarum et litterale Paris: 1635 S 167; Cornelius Schrevel: Lexicon manuale Graeco-Latinum et Latino-Graecum Dresden/ Leipzig: 1707 S 582; Matthias Martenez / Arnold Montanus: Dictionarium tetraglotton novum

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1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

then oder Fabeln, waren – neben der bei Fabeln noch heute gebräuchlichen Verwendung im Sinne der Tierfabel – in der Regel Texte wie die Homerischen Epen, Hesiods Theogonie oder Mythenkompendien wie die Bibliothek Apollodors gemeint Dass mittlerweile selbst Filmstars wie Marilyn Monroe, Künstler wie Andy Warhol oder gar Produkte wie Coca-Cola und ganze Firmen wie Apple als Mythos – und nicht etwa Fabel – bezeichnet werden können, zeigt jedoch, dass sich beide Begriffe seit der Aufklärung in beträchtlichem Maße auseinanderentwickelt haben 4 Selbst wenn eine erweiterte Bedeutung des Wortes Fabel – im Sinne einer erdichteten, unglaublichen Geschichte5 – angenommen wird, können Mythos und Fabel heute nicht mehr synonym verstanden werden, denn Mythen beinhalten zwar ebenso wie Fabeln unglaubliche und unrealistische Stoffe, sind jedoch niemals bewusst von einem Individuum erfunden, sondern vielmehr allgemeiner Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, dem dieser Status stets kollektiv zugeschrieben wird Es ist daher nicht möglich, von einem Autor, Urheber oder Erfinder eines Mythos zu sprechen, wohl aber von dem einer Fabel Die Bedeutung einer vorzeitlichen, überindividuellen Entstehung und kollektiv sinnstiftenden, emotionalen Wirksamkeit ist heute fester Bestandteil der Semantik des Wortes Mythos6 – aber nicht des Wortes Fabel Es muss sich bei einem Mythos – im Gegensatz zur Fabel – nicht mehr zwangsläufig um einen wie auch immer gearteten Text handeln Der moderne Mythosbegriff „transzendiert den Text und spekuliert auf ein vom Text ablösbares ideelles Gebilde, auf eine bestimmte Art der Weltanschauung, auf eine eigene Denkform“ 7 Es zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass die Bedeutung des Begriffes Fabel im Laufe der Zeit immer weiter eingeschränkt wurde, während die Semantik des Wortes Mythos eine erhebliche Ausweitung erfuhr: Mythen sind in einem weiteren Sinne kollektiv entstandene, weltanschaulich relevan-

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Amsterdam: 1713 S 241 Zum Aufkommen der Lemmata fabula und mythus in lateinischen einsprachigen Lexika des 15 und 16 Jahrhunderts vgl Jean-Louis Charlet: Allegoria, fabula et mythos dans la lexicographie latine humaniste (Tortelli, Maio, Perotti, Nestor Denys, Calepino, R Estienne) In: Hans-Jürgen Horn / Hermann Walter (Hg ): Die Allegorese des antiken Mythos in der Literatur, Wissenschaft und Kunst Europas, Vorträge, gehalten anlässlich des 31 Wolfenbütteler Symposions vom 28 September bis 1 Oktober 1992 Wiesbaden: 1997 (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd 75) S 125–146 In den von Charlet untersuchten Wörterbüchern erscheint der Begriff fabula deutlich häufiger als sein griechisches Pendant mythus Erscheinen beide Wörter, sind sie synonym Zu einem breiten Überblick über das Bedeutungsspektrum des modernen Mythosbegriffs vgl Peter Tepe: Mythos und Literatur, Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung Würzburg: 2001 S 14–75 Vgl Renate Wahrig-Burfeind (Hg ): Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache München: 2 2009 S 334 Vgl die drei Bedeutungsangaben in ebd S 671: „Überlieferung eines Volkes von seinen Vorstellungen über die Entstehung der Welt, seine Götter, Dämonen usw ; Sage von Göttern, Helden, Dämonen […]; zur Legende gewordene Begebenheit od Person von weltgeschichtl Bedeutung“ Stefan Matuschek: „Fabelhaft“ und „wunderbar“ in Aufklärungsdiskursen, Zur Genese des modernen Mythosbegriffs In: Hans Adler / Rainer Godel (Hg ): Formen des Nichtwissens der Aufklärung München: 2010 S 111

1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

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te Vorstellungskomplexe, die dazu führen (können), dass Realität affektiv bewältigt wird; in einem engeren Sinne sind Mythen – dies haben engerer und weiterer Mythosbegriff gemeinsam – die ebenfalls kollektiv entstandenen und zum Zeitpunkt ihrer Entstehung weltanschaulich äußerst relevanten Götter- und Heldenstoffe aus der Vorzeit eines Volkes, die bis zu ihrer schriftlichen Fixierung mündlich überliefert wurden und daher auch als Sagen, mittlerweile aber kaum noch als Fabeln bezeichnet werden Ein gewisser Grad an Unschärfe haftet dem Begriff Mythos also heute noch an 8 Das ist auch kein Wunder, betrachtet man seine emotionale Relevanz und vor allem seine von Extrempositionen geprägte Geschichte Die Übernahme des Fremdwortes Mythos ins Deutsche vollzieht sich im 18 Jahrhundert, mitten in der Zeit der Aufklärung In dieser Epoche ist auch der semantische Bruch zwischen dem alten Fabel- und dem neuen Mythosbegriff zu suchen: Der Mythos galt nun nicht mehr wie zuvor als phantasievolle, aber belanglose Erzählung, Stoff- und Motivquelle für Kunst, Musik und Literatur oder heidnischer Irrglaube, sondern wurde als allgemeinmenschliches Weltdeutungs- und -verarbeitungsmuster erkannt, als wissenschaftlicher Gegenstand ernst genommen und als Konstante menschlichen Denkens in die damals aktuellen philosophischen und kulturanthropologischen Diskurse integriert 9 Es herrscht breiter Konsens, dass in diesem Transformations- und Neuinterpretationsprozess Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Professor der Beredsamkeit in Göttingen,10 eine Schlüsselrolle spielte, gilt er doch heute gemeinhin als Gründervater des 8

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So wird zum Teil selbst in den neuesten Lehrwerken für den Lateinunterricht nicht selten unsicher und ausgesprochen undifferenziert mit den Begriffen Mythos, Sage und Legende operiert Intra beispielsweise vermeidet den Begriff Mythos ganz und bietet dafür die Wörter Sage und (in synonymer und dadurch recht unpassender Bedeutung) Legende an Diese antiken Sagen seien in der Regel auf historische Ereignisse und Personen zurückzuführen, vgl Ursula Blank-Sangmeister u a : Intra, Lehrgang für Latein ab Klasse 5 oder 6, Texte und Übungen I Göttingen: 2007 S 113 Prima hingegen referiert mit dem Wort Mythos auf unterhaltsame antike Erzählungen, durch die Naturereignisse erklärt werden sollten, vgl Clement Utz (Hg ): Prima, Gesamtkurs Latein, Ausgabe A, Textband Bamberg: 2004 S 126 Vgl Hans Poser: Mythos und Vernunft, Zum Mythenverständnis der Aufklärung In: ders (Hg ): Philosophie und Mythos, Ein Kolloquium Berlin/New York: 1979 S 130–153; Heinz Gockel: Mythos und Poesie, Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik Frankfurt a M : 1981 (= Das Abendland, Neue Folge, Bd 12); Helmut Buchholz: Perspektiven der Neuen Mythologie, Mythos, Religion und Poesie im Schnittpunkt von Idealismus und Romantik um 1800 Frankfurt a M u a : 1990 (= Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte, Bd 13); Matuschek: „Fabelhaft“ und „wunderbar“ in Aufklärungsdiskursen; Christoph Jamme: Mythos als Aufklärung, Dichten und Denken um 1800 München: 2013 Er war in diesem Amt der Nachfolger Johann Matthias Gesners Zudem war er erst zweiter, dann leitender Bibliothekar der Universitätsbibliothek, Direktor des Philologischen Seminars, Ordentliches Mitglied der Societät der Wissenschaften zu Göttingen und seit 1770 deren Sekretär sowie Inspektor des Pädagogiums Ilfeld und der Stadtschulen von Göttingen und Hannover Daneben leitete er die Redaktion der Göttingischen Gelehrten Anzeigen und war für die Organisation der Freitische verantwortlich Er wurde 1770 zum Hofrat, 1801 zum Geheimen Justizrat und 1810 zum Ritter der Westfälischen Krone ernannt Heynes Leben ist dank der Biographie, die sein Schwiegersohn Arnold Heeren kurz nach seinem Tod über ihn verfasste, verhältnismäßig gut nachvoll-

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1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

modernen Mythenverständnisses Umso erstaunlicher ist es, dass die Beschäftigung mit seiner Mythentheorie bisher nur peripher stattfand, ja dass diesem Status immer noch „ein merkwürdiges Vakuum bezüglich einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit seinen Schriften mythologischen Inhalts“11 gegenübersteht 12 Bisher wurden lediglich im-

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ziehbar, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne Zu Heynes Biographie vgl außerdem Ernst Barth: Christian Gottlob Heyne, Ein großer Sohn des alten Chemnitz In: Sächsische Heimatblätter 8/1 (1962) S 1–12; Friedrich Klingner: Christian Gottlob Heyne In: Klaus Bartels (Hg ): Studien zur griechischen und römischen Literatur Zürich/Stuttgart: 1964 S 701–718; Marianne Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte Leipzig: 2006 (= Beiträge zur Altertumskunde, Bd 229) S 27–106 Tanja Scheer: Heyne und der griechische Mythos In: Balbina Bäbler / Heinz-Günther Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne, Werk und Leistung nach zweihundert Jahren Berlin: 2014 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, Bd 32) S 2 f Aufgearbeitet wurde bisher zum Teil Heynes universitätsgeschichtliche Bedeutung Man konzentrierte sich hier auf seinen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der Fächer Alte Geschichte, Klassische Philologie und vor allem Archäologie, hier insbesondere in seinem Verhältnis zu Winckelmann, vgl Wolf-Hartmut Friedrich u a : Christian Gottlob Heyne, 1729–1812, Ausstellung anläßlich seines 250 Geburtstages Göttingen: 1979; Wolf-Hartmut Friedrich: Heyne als Philologe In: Norbert Kamp u a : Der Vormann der Georgia Augusta, Christian Gottlob Heyne zum 250 Geburtstag, Sechs akademische Reden Göttingen: 1980 (= Göttinger Universitätsreden, Bd 67) S 15–31; Klaus Fittschen: Heyne als Archäologe In: Kamp u a : Der Vormann der Georgia Augusta S 32–40; Ulrich Schindel: In memoriam C G Heyne In: GGA 1980 S 1–5; Maria Michela Sassi: La freddezza dello storico, Christian Gottlob Heyne In: Annali della Scuola Normale superiore di Pisa, Serie III, 16/1 (1986), Classe di Lettere e Filosofia S 105–126; Hartmut Döhl: Die Archäologievorlesungen Chr G Heynes, Anmerkungen zu ihrem Verständnis und ihrer Bedeutung In: Johannes Irmscher (Hg ): Winckelmanns Wirkung auf seine Zeit, Lessing – Herder – Heyne Stendal: 1988 (= Schriften der Winckelmann-Gesellschaft, Bd 7) S 123–147; Erhard Hirsch / Inge Karl: Christian Gottlob Heyne zwischen Philanthropismus und Neuhumanismus In: Irmscher (Hg ): Winckelmanns Wirkung auf seine Zeit S 149–159; Heinz Berthold: Bewunderung und Kritik, Zur Bedeutung der Mittlerstellung Christian Gottlob Heynes In: Irmscher (Hg ): Winckelmanns Wirkung auf seine Zeit S 161–170; Stephanie-Gerrit Bruer: Die Wirkung Winckelmanns in der deutschen Klassischen Archäologie des 19 Jahrhunderts Mainz/Stuttgart: 1994 (= Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg 1994, Nr 3) S 29–62; Bettina Preiß: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Laokoongruppe, Die Bedeutung Christian Gottlob Heynes für die Archäologie des 18 Jahrhunderts Weimar: 1995; Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte; Daniel Graepler / Joachim Migl (Hg ): Das Studium des schönen Altertums, Christian Gottlob Heyne und die Entstehung der klassischen Archäologie Göttingen: 2007; Siegmar Döpp: Es lohnt sich, bei Heyne „anzufragen“, Zu Heynes monumentalem Vergilkommentar In: Bäbler/Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne S 43–61; Gustav Adolf Lehmann: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte In: Bäbler/Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne S 63–74; Daniel Graepler: Antikenstudium für junge Herren von Stand, Zu Christian Gottlob Heynes archäologischer Lehrtätigkeit In: Bäbler/Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne S 75–108; Balbina Bäbler: Winckelmann und Heyne: Bioi paralleloi? In: dies /Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne S 109–131; mit besonderem Schwerpunkt auf das Selbstverständnis als Altertumswissenschaftler bei Winckelmann und Heyne Katherine Harloe: Ingenium et doctrina, Historicism and the imagination in Winckelmann, Heyne and Wolf, corrected preprint (= http://www academia edu/291463/Ingenium_et_doctrina _Historicism_and_the_imagination_in_Winckelmann_ Heyne_and_Wolf) Außerdem wurde Heynes Wirken in Göttingen als Wissenschaftsorganisator beleuchtet, vgl Heinrich Albert Oppermann: Die Göttinger Gelehrten Anzeigen während einer

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mer wieder Schlaglichter auf diese Schriften geworfen So sind Zusammenfassungen der Mythentheorie Heynes durchaus nicht selten 13 Bis in die Mitte der 1990er Jahre wurde

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hundertjährigen Wirksamkeit für Philosophie, schöne Literatur, Politik und Geschichte Hannover: 1844 S 24–223; Friedrich Leo: Heyne In: Felix Klein u a : Festschrift zur Feier des hundertfünfzigsten Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Beiträge zur Gelehrtengeschichte Göttingens Berlin: 1901 S 151–213; Norbert Kamp u a : Der Vormann der Georgia Augusta; Alfred Hessel: Heyne als Bibliothekar In: Georg Schwedt (Hg ): Zur Geschichte der Göttinger Universitätsbibliothek, Zeitgenössische Berichte aus drei Jahrhunderten Göttingen: 1983 S 113–126; Luigi Marino: Praeceptores Germaniae, Göttingen 1770–1820, Übers v Brigitte Szabó-Bechstein Göttingen: 1995 (= Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Bd 10) S 267–275 u ö ; Helmut Rohlfing: Christian Gottlob Heyne und die Göttinger Universitätsbibliothek In: Bäbler/Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne S 145–157; Heinz-Günther Nesselrath: Christian Gottlob und die Göttinger Akademie, Leistung und Wahrnehmung In: Bäbler/ Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne S 159–177 Zudem erschien 2002 eine umfassende Bibliographie zu Heynes Schriften, vgl Fee-Alexandra Haase: Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Bibliographie zu Leben und Werk, Gedruckte Veröffentlichungen, Zeitgenössische Schriften zu seiner Rezeption, Forschungsliteratur Heidelberg: 2002 Diese intensive Auseinandersetzung mit Heynes Bedeutung für die Universität Göttingen ist keineswegs verwunderlich, war er doch spätestens seit der Mitte der 1770er Jahre einer der wichtigsten und einflussreichsten Männer der Georgia Augusta In allen Dingen, die von der kurfürstlich-braunschweig-lüneburgischen und späteren königlich-westfälischen Regierung in Fragen der Universität entschieden werden mussten, wurde er befragt und war damit der wichtigste Vermittler zwischen Universität und Regierung, vgl Arnold Hermann Ludwig Heeren: Christian Gottlob Heyne, Biographisch dargestellt Göttingen: 1813 S 290 Außerdem war Heyne einer der beliebtesten Lehrer der Georgia Augusta Seit Mitte der Siebziger Jahre konnte er in seinen Privatvorlesungen oft 80 bis 100, in seinen Privatissimi 60 bis 70 Zuhörer um sich versammeln, vgl ebd S 239 In Anbetracht dessen, dass in der Georgia Augusta in dieser Zeit nie mehr als 1000 Studenten immatrikuliert waren, vgl ebd S 340, wurden einzelne Veranstaltungen von Heyne also von bis zu zehn Prozent der gesamten Studentenschaft besucht! Doch nicht nur dass Heyne einer der wichtigsten Männer einer der bedeutendsten Universitäten seiner Zeit war, er verfügte auch über ein ausgesprochen großes Netzwerk außerhalb Göttingens Er war Mitglied von insgesamt 29 wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien, darunter zum Beispiel die Society of Antiquarians zu London, die Royal Society ebendort, die Academie des Inscriptions et Belles-Lettres zu Paris, das Institut National de Paris, die Academie Celtique, die Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg und die Akademie der Wissenschaften zu München, vgl ebd S 425 f , und pflegte private Freundschaften mit vielen heute noch bekannten Personen dieser Zeit So zählten etwa Gottlieb Wilhelm Rabener, Christian Fürchtegott Gellert, Albrecht von Haller sowie nach anfänglicher Rivalität auch August Ludwig von Schlözer zu seinen Freunden, vgl ebd S 259–270 Zu seinen engsten Vertrauten gehörten außerdem Gerlach Adolph von Münchhausen, Premierminister der Kurfürstentums Hannover und Begründer, erster Kurator und Förderer der Georgia Augusta, Georg Brandes, Leiter der Geschäfte der Universität und seit 1777 Heynes Schwiegervater, vgl ebd S 158–182, Johann Gottfried Herder sowie Georg Forster, vgl Kap 5 1 S 124 f Vgl Conrad Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart München/Leipzig: 1883 S 484–490; Leo: Heyne S 213–218; Otto Gruppe: Geschichte der klassischen Mythologie und Religionsgeschichte während des Mittelalters im Abendland und während der Neuzeit Leipzig: 1921 (= Wilhelm Heinrich Roscher (Hg ): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Suppl -Bd 4) S 107–111; Christian Hartlich / Walter Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft Tübingen: 1952 (= Schriften der Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien, Bd 2) S 11–19; Jan de Vries: Forschungsgeschichte der Mythologie Freiburg i Br /München: 1961 (= Orbis academicus, Problemgeschichte der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen, Bd 7) S 143–149;

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1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

hier immer wieder auf die Bedeutsamkeit der Heyne’schen Mythentheorie verwiesen Heyne selbst trat in diesen Darstellungen häufig als Begründer „einer wahrhaft wissenschaftlichen Behandlung der griechischen Mythologie“,14 „der mythologischen Studien in der Klassischen Altertumswissenschaft, aber auch in gewisser Hinsicht überhaupt […] der Religionsgeschichte“15 auf Er erschien als Initiator „ein[es] fundamental[en] Paradigmenwechsel[s], fast ein[er] wissenschaftlich[en] Revolution“,16 „one of the revolutionary forces leading to new views of myth“,17 entscheidender Wegbereiter für die Neue Mythologie in Frühromantik und Idealismus, da sich bei ihm „die zeitgenössische Mythenforschung von den Verdikten des doktrinären Rationalismus der Aufklärungsepoche [emanzipiert]“,18 oder gar als „Columbus in that discovery of the New World of myth“ 19 Zuletzt wurde durch die Arbeiten von Marianne Heidenreich,20 Sotera Fornaro21

14 15 16 17 18 19 20

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Burton Feldman: Christian Gottlob Heyne In: ders / Robert Richardson: The Rise of Modern Mythology 1680–1860 Bloomington/Indianapolis: 1972 S 215–218; Axel Horstmann: Mythologie und Altertumswissenschaft, Der Mythosbegriff bei Christian Gottlob Heyne In: Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972) S 60–85; Gioachino Chiarini: Ch G Heyne e gli inizi dello studio scientifico della mitologia In: Lares 55 (1989) S 317–332; Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne; Peter Bietenholz: Historia and Fabula, Myths and Legends in Historical Thought from Antiquity to the Modern Age Leiden u a : 1994 (= Brill’s Studies in intellectual History, Bd 59) S 285–288; Buchholz: Perspektiven der Neuen Mythologie S 33–40; Marino: Praeceptores Germaniae S 269–273; Diego Lanza: Auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Mythologie In: Dieter Burdorf / Wolfgang Schweickard (Hg ): Die schöne Verwirrung der Phantasie, Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800 Tübingen/Basel: 1998 S 10–13; Klaus-Gunther Wesseling: HEYNE, Christian Gottlob In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd 18 Herzberg: 2001 Sp 638–640 Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart S 484 Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne S 284 Ebd S 288 Feldman: Christian Gottlob Heyne S 215 Buchholz: Perspektiven der Neuen Mythologie S 33 Bietenholz: Historia and Fabula S 282 Vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 429–475; 484–496 Das umfassende Werk Heidenreichs ist thematisch deutlich weiter gefasst, als der Titel vermuten lässt So widmet sie allein Heynes Biographie 80 Seiten, auch seine Übersetzer- und Herausgebertätigkeit wird umfassend beleuchtet Zudem integriert sie ein Kapitel zu seiner Mythentheorie, wobei sie der thematischen Ausrichtung ihrer Arbeit gemäß besonderes Gewicht auf Heynes Gedanken zur griechischen Frühzeit und den Anfängen der Geschichtsschreibung legt und auch Schriften einbezieht, die für seine Mythentheorie eher irrelevant sind, vgl ebd S 471–492 Vgl Sotera Fornaro: I Greci senza lumi, L’antropologia della Grecia antica in Christian Gottlob Heyne (1729–1812) e nel suo tempo In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 5 (2004) S 114–116; Christian Gottlob Heyne dans l’histoire des études classiques In: Revue germanique internationale 14 (2011) S 15–26, insbes S 22–25 Für Fornaro stützt sich Heyne auf zahlreiche Reiseberichte und Vorläufer, die er jedoch so gut wie nie nennt Dennoch würdigt sie es als letztendlich Heynes Leistung, die Kulturanthropologie mit komparatistischen Komponenten als Teilbereich der Altertumswissenschaften etabliert zu haben Sie konzentriert sich dabei auf sein Bild des antiken Menschen sowie auf religiöse Aspekte in seinem Werk, die sie im Wesentlichen anhand des Textes Vita antiquissimorum hominum rekonstruiert, und kommt immer wieder auf die Mythentheorie zu sprechen, umreißt diese selbst

1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

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und Tanja Scheer22 der Blick auch verstärkt auf Vorläufer Heynes gerichtet Heidenreich referiert dabei eine Vielzahl von Wegbereitern, darunter François Pomey, Angelo Maria Ricci, Antoine Banier, Nicolas Fréret und Johann Lorenz von Mosheim 23 Parallelen zu Heynes Gedanken sieht sie insbesondere in den Schriften Bernard le Bovier de Fontenelles, David Humes, Étienne Bonnot de Condillacs und William Robertsons 24 Fornaro erkennt Abhängigkeiten zwischen Heyne und den Werken Montesquieus, Claude Adrien Helvétius, Isaak Iselins, Joseph-François Lafitaus, Robert Lowths, Humes, Fontenelles und Giambattista Vicos 25 Scheer wiederum knüpft an Heidenreich und Fornaro an und betont nochmals Entsprechungen zwischen Heynes Gedanken und denen Fontenelles und Vicos 26 Nach den früheren zusammenfassenden Querschnitten durch Heynes Mythentheorie selbst sollten nun durch Längsschnitte Entwicklungslinien aufgezeigt werden, die in dessen Gedanken mündeten Das Resultat war, dass die ältere Forschung in Heyne den genialen Gründervater eines wissenschaftlichen Novums fand, während die Ergebnisse der jüngeren Beiträge Heynes Leistung zum Teil deutlich relativierten: Heyne erscheint hier weniger als Innovator, sondern eher als Kompilator, teils gar als „Plagiator“27 längst dagewesener Ideen 28

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aber nur recht grob, vgl Fornaro: I Greci senza lumi S 114–116 Unter einem ähnlichen Aspekt wie Fornaro nähert sich Gisi Heynes Mythentheorie, vgl Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18 Jahrhundert Berlin: 2007 (= spectrum Literaturwissenschaft, Komparatistische Studien, Bd 11) S 114–149 Er stützt sich dabei maßgeblich auf den Text De caussis fabularum seu mythorum veterum physicis sowie auf Heidenreichs Ausführungen Vgl Scheer: Heyne und der griechische Mythos Scheer beschränkt sich in ihren Quellen hauptsächlich auf die deutschsprachigen Rezensionen der Texte Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata und Sermonis mythici seu symbolici interpretatio a corruptelis nonnullis vindicata, die in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen erschienen Problematisch an Scheers Aufsatz ist jedoch, dass die Rezension zu der Programmschrift Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata nicht, wie Scheer glaubt, von Heyne selbst, sondern von dessen Kollegen Johann Philipp Murray stammt, vgl Wolfgang Schimpf: Die Rezensenten der Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1760–1768, Nach den handschriftlichen Eintragungen des Exemplars der Göttinger Akademie der Wissenschaften Göttingen: 1782 (= Arbeiten aus der Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Bd 18) S 33 Inhaltlich decken sich Programmschrift und Rezension zwar weitgehend; Scheers Darstellungen können jedoch insofern nur eingeschränkt gelten, als es sich in Bezug auf die genannte Quelle lediglich um eine Interpretation Heyne’scher Mythentheorie handelt Vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 431–437 Vgl ebd S 438–445 Vgl Fornaro: I Greci senza lumi Vgl Scheer: Heyne und der griechische Mythos S 18 René Sternke: Balbina Bäbler, Heinz-Günther Nesselrath (Hg ), Christian Gottlob Heyne, Werk und Leistung nach zweihundert Jahren [= Rezension] In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 65/2 (2015) S 257 Vgl zum Beispiel Fornaro: I Greci senza lumi S 111: „In realtà le teorie di Heyne sull’origine, la funzione ed il valore della mitologia scaturiscono da riflessioni più ampie sulla specificità della civiltà greca arcaica, con cui Heyne fondava anche lo studio antropologico della Grecia antica: queste riflessioni si situano cronologicamente piuttosto all’inizio della carriera accademica di Heyne“

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1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

Angesichts dieses Forschungsstandes ist es das Ziel dieser Arbeit, den ambivalenten Status Heynes erneut auf den Prüfstand zu stellen Durch eine quellenbasierte Untersuchung soll eine umfassendere Sicht auf seine Mythentheorie gewonnen werden, die sich nicht wie in der bisherigen Heyne-Forschung auf einige wenige ausgewählte Texte oder eine grobe Zusammenfassung der Hauptideen beschränkt Dabei müssen Längs- und Querschnitt miteinander verbunden werden, damit die Heyne’sche Mythentheorie ins Fadenkreuz genommen und ein geschärfter Blick auf sie gewonnen werden kann Deswegen werden in Kapitel 3 zunächst Vorläufer Heynes im 17 und frühen 18 Jahrhundert nachgezeichnet, um zu verstehen, in welchen Bahnen sich die Mythendiskussion vor Heyne bewegte und inwiefern sich Übereinstimmungen finden lassen In Kapitel 4 wird Heyne daran anschließend in der konkreten Mythendiskussion seiner Zeit verortet und es wird aufgezeigt, wie er sich selbst von damals gängigen Erklärungsmustern abgrenzte Denn wie ist es zu erklären, dass es gerade Heyne gelang, den entscheidenden Schritt zu einem wissenschaftlichen Umgang mit Mythen zu vollziehen, eine neue mythentheoretische Konzeption zu erschaffen und letztendlich das bis heute bestehende Fundament für alle nachfolgenden Auseinandersetzungen mit den frühesten immateriellen Relikten archaischer Kulturen zu legen? Um Erklärungen dafür zu finden, verfolge ich nachstehende These: In Heynes Mythentheorie greifen vier Elemente ineinander, die diese in ihrem Zusammenspiel zu einer wissenschaftlichen Innovation werden lassen Diese vier Elemente sind 1 ) ein anthropologischer Zugang, die Forderungen 2 ) größtmöglicher Objektivität und 3 ) multikausaler Erklärungsmuster sowie schließlich 4 ) einer terminologischen Differenzierung Den Ursprung aller Mythen sieht Heyne in primitiven irrationalen Mustern menschlicher Weltdeutung Mythen sind damit für ihn ein uraltes kulturelles Phänomen, das die Entwicklung menschlichen Denkens in einer kulturellen Frühphase dokumentiert und folglich von seinen Urhebern aus gedacht werden muss Mythen rücken so aus dem Bereich der Klassischen Philologie in die Kulturanthropologie und sind daher aufs Engste mit Heynes Menschenbild verknüpft, insbesondere mit seinen Vorstellungen von denen, die die Mythen schufen, den barbari und homines rudes Ein aufgeschlossener Blick des Forschers auf jene Menschen wird damit automatisch zum elementaren Schlüssel zu deren Verständnis, ein egalitäres Menschenbild die Voraussetzung eines vorurteilsfreien Zugangs zu fremden Kulturen und deren grundsätzlicher Vergleichbarkeit Folglich ist Heynes Menschenbild für das Verständnis seiner Mythentheorie von zentraler Bedeutung und bedarf einer eingehenden Untersuchung Anhand der aufklärerischen Diskurse zur menschlichen Rasse, Sklaverei und Klimatheorie soll daher in Kapitel 5 seine Haltung in diesen Fragen verdeutlicht und ein Blick auf sein Menschenbild ermöglicht werden Heyne, der stets betonte, dass der rohe Mensch, der die Mythen schuf, in einer vollkommen entrückten, fremden Welt lebte, erkannte in der Reise- und Entdeckerliteratur der Aufklärung eine Möglichkeit, diese Distanz zwischen dem Forscher der

1 Fragestellugen, Thesen, Vorgehensweise

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Neuzeit und dem antiken Menschen zu überbrücken, da er fest an die Gleichheit aller Menschen und damit auch an eine Vergleichbarkeit jeglicher primitiver Kulturen glaubte, unabhängig davon, wann und wo diese lebten, und führte damit den ethnologischen Komparatismus ins Feld der Altertumswissenschaften ein In Kapitel 6 wird daher gezeigt, welche Erkenntnisse Heyne der Reiseliteratur seiner Zeit abgewann Nun sind die Grundlagen gelegt, um in Kapitel 7 Heynes Mythentheorie selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen Zunächst wird dabei nach einem Blick auf die im 18 Jahrhundert vorherrschende Begrifflichkeit der von Heyne angestoßene terminologische Wandel in den Fokus genommen Anschließend wird untersucht, wie Heyne seiner Forderung nach der Vermeidung monokausaler Deutungsmodelle der Mythologie nachkam, indem er ein differenziertes Modell zur Integration verschiedener Prinzipien von Mythengenese erarbeitete Weiterhin sollen Heynes Vorstellungen von der Sprache, in der die Mythen formuliert sind, der sermo mythicus, seine Annahmen zum Zusammenspiel von Mythen, Riten und Religion sowie die von ihm erstellten Regeln zur Mythenrekonstruktion und -interpretation betrachtet werden Abschließend wird anhand Heynes Beschäftigung mit den Homerischen Epen ein Beispiel gezeigt, wie er seine Mythentheorie auf Schriftquellen anwandte Zunächst wird jedoch anstelle einer Biographie29 das Augenmerk auf das wissenschaftliche Werk Heynes gerichtet

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Heynes Vita ist inzwischen hinlänglich untersucht, s o Anm 10

Kapitel 2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen Eine Analyse des wissenschaftlichen Werks Heynes 2.1 Heynes Publikationen Um Heynes Mythentheorie in sein Gesamtwerk einordnen zu können, soll im Folgenden eine Analyse seiner Veröffentlichungen vorgenommen werden Nach einer Beschreibung der Publikationsformen seiner Texte werden diese nach verschiedenen Themenbereichen unterteilt, um anhand der Verteilung seiner Texte auf verschiedene Fachgebiete zeigen zu können, welche Schwerpunkte Heyne in seiner Forschung setzte und wie sich diese quantitativ zueinander verhalten Anschließend soll anhand einer chronologischen Analyse untersucht werden, ob sich in Heynes Werk Phasen ausmachen lassen, in denen er sich schwerpunktmäßig mit besonderen Fachbereichen oder Themen auseinandersetzte Da Heyne seine Arbeitsergebnisse in unterschiedlichen Formaten präsentierte, soll schließlich betrachtet werden, an welchen Adressatenkreis er seine jeweiligen Abhandlungen richtete und ob er seine Themen nach dem jeweiligen Publikum auswählte Heynes Liste an Veröffentlichungen ist extrem lang 1 Betrachtet man diese genauer, fällt auf, dass er kaum Monographien publizierte 2 Sein gesamtes wissenschaftliches Werk besteht vornehmlich aus Programmschriften und Vorträgen, die er in Sammlungen oder in den Zeitschriften der Göttinger Societät der Wissenschaften veröffentlichte, sowie aus Textausgaben und Rezensionen 3 Im Laufe seines Lebens gab er drei

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Zu Heynes Bibliographie vgl Haase: Christian Gottlob Heyne (1729–1812); Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 585–609, wobei Heidenreich Haases leider sehr fehlerhaftes Register um einige Einträge ergänzen konnte Im Gegensatz zu Heidenreich nimmt Haase auch die Rezensionen auf, allerdings mit einigen Lücken Er veröffentlichte insgesamt lediglich fünf Monographien, davon drei über archäologische Gegenstände, einen thematischen Abriss seiner Archäologievorlesungen und ein Werk zum antiken römischen Recht Heyne verfasste zu fast allen seiner Programme und Societätsabhandlungen Rezensionen, in denen er diese inhaltlich zusammenfasste und einige Änderungen vornahm, wobei „oft der Plan verbessert und Einiges im Einzelnen berichtiget [war], indem die Gedankenreihe in der deutschen

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solcher Sammlungen, bestehend aus insgesamt neun Bänden, heraus: In seinen Opuscula academica4 publizierte er gesammelt alle Reden und Programmschriften, die er in seiner Funktion als Professor der Beredsamkeit verfasste, in leicht überarbeiteter Form und zum Teil mit Ergänzungen 5 Mit den Prolusiones nonnullae academicae6 erschienen einzelne ausgewählte Programmschriften in England und in seiner Sammlung antiquarischer Aufsätze,7 dem einzigen thematisch einheitlichen Sammelband, sind einige ausnahmsweise deutschsprachige Aufsätze zu archäologischen und kunsthistorischen Problemen zusammengefasst Im Laufe der 50 Jahre, in denen er Mitglied der Societät der Wissenschaften zu Göttingen war, hielt Heyne zwischen 1763 und 1811 insgesamt 52 Fachvorträge in den Sitzungen, also in jedem Jahr mindestens einen, so viele wie sonst kein Mitglied dieser Vereinigung 8 Diese wurden zwischen 1771 und 1813 in der Zeitschrift der Societät, den Novi Commentarii beziehungsweise ab 1779 Commentationes Societatis Regiae Scientiarum (ab 1811 mit dem Zusatz recentiores) publiziert 9

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Sprache laufen mußte, und also aus der Angel des Lateins gehoben wurde“ ([Christian Gottlob Heyne]: 122 St In: GGA 1788 S 1221 (= Rez zu Opuscula academica, Bd 3)) Die Selbstrezensionen können daher ebenso wie die Programmschriften und Societätsabhandlungen als Texte gelten, in denen er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse – auch zur Mythentheorie – verbreitete Christian Gottlob Heyne: Opuscula academica collecta et animadversionibus locupletata, 6 Bde Göttingen: 1785–1812 Vgl [Heyne]: 122 St In: GGA 1788 S 1221 (= Rez zum Opuscula academica, Bd 3) Heyne schreibt hier, dass er die Veröffentlichung der Programmschriften in den Opuscula als Gelegenheit nutzte, „die Mängel zu vermindern, hie und da einen Auswuchs abzuschneiden oder durch bessere Bestimmung und sorgfältigere Berichtigung dem Gedanken mehr Klarheit und Wahrheit zu geben“ (ebd ) Christian Gottlob Heyne: Prolusiones nonnullae academicae London: 1790 Die darin veröffentlichten Programmschriften erschienen auch im vierten Band der Opuscula academica. Sie wurden zwischen dem 02 07 1788 und dem 17 09 1789 verfasst und auch als Einzeldrucke verlegt Christian Gottlob Heyne: Sammlung antiquarischer Aufsätze, 2 Bde Leipzig: 1778/1779 Bei den hierin veröffentlichten Aufsätzen handelt es sich ausnahmsweise nicht um Programmschriften Sie behandeln Themen wie etwa Die in der Kunst üblichen Arten die Venus vorzustellen oder Irrthümer in Erklärung alter Kunstwerke aus einer fehlerhaften Ergänzung und erschienen 1788 und 1789 auch in der Pariser Zeitschrift Recueil des Pieces interessantes concernant les Antiquités, les Beaux Arts, les Belles Lettres, et la Philosophie. Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 256 Die Zeitschrift erschien einmal jährlich bis 1783, dann unregelmäßiger alle zwei bis drei Jahre und war unterteilt in verschiedene Fachbereiche Das spätere Erscheinen der Vorlesungen aus den 1760er Jahren liegt daran, dass Heyne erst 1770 Sekretär der Societät wurde Er führte eine Reform durch, sodass Sitzungen seitdem wieder regelmäßig stattfanden und die darin gehaltenen Vorträge in einer Zeitschrift publiziert wurden Da es bis 1771 also keine Zeitschrift der Societät gab, wurden ältere Abhandlungen in spätere Ausgaben eingefügt Zusätzlich wurden hier auch zwei weitere Abhandlungen publiziert, die Heyne nicht in den Sitzungen verlesen hatte Daneben war es Heynes Aufgabe als Sekretär, die Reden zur Jahresversammlung und Gedächtnisreden auf verstorbene Mitglieder zu halten, vgl ebd S 258 In den Reden zur Jahresversammlung referierte er über die Mitglieder der Societät, also über Neuaufnahmen und Abgänge sowie besondere Ereignisse Diese wurden in der Zeitschrift der Societät als Praefationes veröffentlicht und auch die Memoriae erschienen dort Hinzukommen also 26 Praefationes und 17 Memoriae, darunter zum Beispiel die auf Gerlach Adolph von Münchhausen, Johann Andreas Murray, Albert von Haller, Johann David

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Insgesamt gibt es in Heynes Bibliographie kein umfassendes Hauptwerk, keine zentralen Texte und auch keine erschöpfend ausgearbeiteten Themen Zudem lässt sich die Fachzugehörigkeit etlicher Texte nicht einmal genau bestimmen 10 Dennoch kann Heynes Werk thematisch grob in vier Hauptdisziplinen unterteilt werden: Alte Geschichte, Archäologie/Kunstgeschichte, Religionsgeschichte/Mythentheorie und Philologie Zur Alten Geschichte verfasste Heyne zwischen 1763 und 1812 insgesamt eine Monographie11 und 68 Vorträge und Abhandlungen, in denen er sich hauptsächlich mit antiker Gesetzgebung und Außenpolitik auseinandersetzte In das damals gerade entstehende Fachgebiet der Archäologie und Kunstgeschichte gehören zwei Monographien über Reliefe mit Szenen aus den Homerischen Epen und die Kypseloslade, ein Begleitheft zu seinen archäologischen Lehrveranstaltungen, Heynes Anmerkungen zum dritten Band der Lippert’schen Dactyliotheca universalis,12 seine archäologischen Vorlesungen, die ein unbekannter Herausgeber13 zehn Jahre nach Heynes Tod veröffentlichte, eine zweibändige Aufsatzsammlung zu archäologischen Themen und 39 Abhandlungen, in denen es vor allem um die Beschreibung antiker Artefakte, etruskische und byzantinische Kunst, Götterdarstellungen und um die Rekonstruktion antiker Kunstwerke aus schriftlichen Quellen geht In den Bereich der Klassischen Philologie fallen 15 Abhandlungen14 und 17 Briefe oder Vorwörter für andere Herausgeber, die textkritische Anmerkungen enthalten und in den jeweiligen Textausgaben veröffentlicht wurden 15 Er selbst veröffentlichte Gesamtausgaben von Tibull, Vergil, Pindar und Homer, Einzelwerkausgaben von Epiktet, Plinius dem Älteren, Apollodor von Athen und Konon und Parthenios von Nicea sowie Übersetzungen von Chariton von Aphrodisias und Philon von Alexandria Den kleinsten Teil seiner Publikationen stellen die 26 Abhandlungen und Programmschriften zu antiken Religionsbräuchen und zur Mythentheorie dar, wobei im engeren Sinne nur neun Schriften mythentheoretisch zu nennen sind 16

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Michaelis, Christoph Meiners und Ernst Brandes Anders als die Abhandlungen erschienen die Elogia auch als Einzeldrucke Vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 18 Diese trägt den Titel Antiquitas Romana inprimis iuris Romani und wurde 1779 von ihm als Begleitlektüre für seine Lehrveranstaltungen veröffentlicht Heyne bearbeitete noch vor seiner Berufung nach Göttingen 1762 für Lippert die lateinischen Begleittexte Es handelt sich bei dem Herausgeber möglicherweise um einen Studenten Heynes, da dieser angibt, die Vorlesungen aus Mitschriften rekonstruiert zu haben Themen der Abhandlungen sind etwa Hesiods Theogonie, die Homerischen Epen und antike Redner In dieser Form leistete er Beiträge zu Ausgaben von Stesichoros, Euripides, Simonides von Keos, Heraklit, Hesiod, Zosimos, Proklos, Aristoteles, Herodot, Philetas, Silius Italicus, Eratosthenes von Kyrene, Herodes Atticus und dem Carmen aureum Daneben veröffentlichte er zwischen 1753 und 1769 acht Übersetzungen aus dem Französischen sowie zwischen 1765 und 1772 die ersten sieben Bände der Allgemeinen Weltgeschichte von William Guthrie und John Gray aus dem Englischen und fungierte für die Bände 1, 4, 5, 10 und 11 der Tübinger Gesamtausgabe Herders, erscheinend ab 1805, als Herausgeber Durch sein Amt als Professor

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Auch wenn Heynes Werk in der Gesamtschau sehr heterogen erscheint, lassen sich doch – in gewissem Rahmen – Phasen ausmachen, in denen er sich besonders intensiv mit bestimmten Themen beschäftigte 17 Mit Klassischer Philologie befasste er sich bereits in den 1750er Jahren 18 Seit seiner Berufung nach Göttingen steigen seine Veröffentlichungen auf diesem Fachgebiet kontinuierlich an und bleiben relativ konstant auf hohem Niveau Er arbeitete also an Ausgaben und Problemen der antiken Literatur ständig etwa in gleichem Maße Veröffentlichungen von Heyne auf dem Gebiet der Alten Geschichte beginnen erst nach seiner Ankunft in Göttingen Bereits in den sechziger Jahren schrieb er vergleichsweise viel hierzu,19 etwas weniger jedoch in den Siebzigern 20 In den achtziger Jahren hingegen folgte offensichtlich eine besonders intensive Auseinandersetzung Dies war die Zeit, in der vor allem seine Programmschriften für universitäre Veranstaltungen durch Themen der Alten Geschichte geprägt sind In vielen Fällen erörterte er in diesem Kontext, angestoßen durch die Ereignisse in Frankreich, aktuelle Probleme der Politik anhand althistorischer Themen 21 Nach diesem Peak fällt die Zahl seiner Veröffentlichungen zu diesem Fachgebiet kontinuierlich ab 22 Zur Archäologie und Kunstgeschichte publizierte er bis zum Beginn der 1770er Jahre nur ein einziges Werk 23 Im Laufe der siebziger Jahre jedoch war er auf diesem Themengebiet enorm produktiv: Es erschienen hier so viele Aufsätze und Abhandlungen zur Archäologie und Kunstgeschichte wie danach nie wieder 24 In den Achtzigern lässt

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der Beredsamkeit und Sekretär der Societät der Wissenschaften bedingt erschienen weiterhin 35 Memoriae und etliche Festreden von ihm, die nur zum Teil oder gar nicht wissenschaftliche Themen aufgreifen Nicht thematisch ordnen lassen sich neun Vorwörter, eine Ausgabe verschiedener politischer Bekanntmachungen und Verordnungen sowie zwölf weitere Schriften, zum Beispiel seine Dissertation über das Pfandrecht, drei Schriften über das Schulwesen und sechs Gedichte, die in einer von Christoph Wilhelm Mitscherlich herausgegebenen Gedichtsammlung erschienen Vgl zur folgenden Analyse Diagramm 1, Anh S 339 Der Analyse und dem Diagramm liegen die Veröffentlichungen Heynes zugrunde Ziel ist es aufzuzeigen, mit welchen Themen sich Heyne wann beschäftigte Weil davon auszugehen ist, dass sich Heyne auch bei Neuauflagen erneut mit den entsprechenden Themen oder Autoren auseinandersetzte, wurden auch diese in die Analyse aufgenommen Er veröffentlichte 1755 und 1756 seine Tibull- und Epiktet-Ausgaben und seine Übersetzungen von Chariton und Philon Er verfasste in dieser Zeit allein sieben Schriften über antike Gesetzgebung und sechs über antiken Ackerbau Er konzentrierte sich in diesem Jahrzehnt hauptsächlich auf antike Gesetzgebung Die Themen seiner althistorischen Veröffentlichungen erscheinen in dieser Zeit stärker durchmischt Er befasste sich mit griechischer Kriegstaktik, antiker Geschichtsschreibung, Gesetzgebung, römischer Außenpolitik, mit dem römischen Rechtssystem, Sparta und spätantiken Barbareneinfällen Themen waren in diesen letzten 22 Jahren etwa antiker Handel, das römische und griechische Rechtssystem, antike Außenpolitik, die Krise der Römischen Republik, Ackergesetze, Seemächte sowie das antike Makedonien und Alexandrien Es handelt sich hierbei um Heynes Bearbeitung des Textes zu Lipperts Dactyliothek. Thematisch sind seine archäologischen Schriften in dieser Zeit jedoch eher uneinheitlich Er befasste sich mit Numismatik, Götterdarstellungen, Winckelmanns Kunstgeschichte, mit der

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seine Beschäftigung damit jedoch stark nach,25 steigt in den Neunzigern aber wieder deutlich an,26 um nach 1800 wieder leicht abzusinken 27 Schriften zur Mythentheorie und antiken Religion veröffentlichte Heyne seit 1763 28 Seine Produktivität auf diesem Themenfeld bleibt seit den 1760er Jahren auf etwa gleichem Niveau Vergleicht man also die Menge von Heynes Veröffentlichungen auf den Fachgebieten Klassische Philologie, Alte Geschichte, Archäologie und Mythentheorie, fallen folgende Tendenzen auf: Mit Klassischer Philologie, Mythentheorie und antiker Religion beschäftigte er sich seit den 1760er Jahren bis zu seinem Tod in etwa gleichbleibend intensiv; zwischen seinen Veröffentlichungen in Alter Geschichte und Archäologie wird aber ein Zusammenhang deutlich: In Zeiten, in denen er viele Texte zur Alten Geschichte verfasste, setzte er sich weniger mit Archäologie auseinander; konzentrierte er sich mehr auf archäologische Problemstellungen, schrieb er weniger über Alte Geschichte Es ergibt sich dementsprechend dieses Bild: In den 1760er Jahren befasste er sich hauptsächlich mit Alter Geschichte, in den Siebzigern vornehmlich mit Archäologie, in den Achtzigern wieder in erster Linie mit Alter Geschichte und in den Neunzigern wieder mit Archäologie In seinen letzten Lebensjahren gleicht sich das Ausmaß seiner Beschäftigung mit den genannten Bereichen aneinander an Er befasst sich nun nur noch verhältnismäßig wenig mit Alter Geschichte und konzentriert sich vor allem auf die Klassische Philologie, aber auch auf Archäologie und Mythentheorie Da Heyne seine Forschungsergebnisse fast ausschließlich in Vorträgen oder als Programmschriften präsentierte, ist davon auszugehen, dass er seine Themen auch mit Rücksicht auf seine Adressaten auswählte Im Folgenden soll daher analysiert werden, wann er in welchen Kontexten welche Themen präsentierte Nach ihrem Publikum geordnet zerfallen Heynes Abhandlungen in zwei Gruppen: Es gibt zum Einen die Schriften, die er als Ordentliches Mitglied der Societät der Wissenschaften29 in den

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Laokoongruppe, etruskischer Kunst und speziellen Fertigungstechniken und Materialien Die enorme Anzahl der Veröffentlichungen in diesem Jahrzehnt ist vor allem durch seine Sammlung antiquarischer Aufsätze zu erklären Er befasste sich in dieser Zeit hauptsächlich mit Numismatik und ägyptischen Mumien In dieses Jahrzehnt fallen sechs Vorträge zur byzantinischen Kunst und neun Rekonstruktionen antiker Kunstwerke aus Schriftquellen In diesen letzten Jahren setzte er sich mit Numismatik, Reliefen, antiken Töpferwaren, byzantinischer Kunst, der Rekonstruktion aus schriftlichen Quellen und antiken Kunstepochen auseinander Zur Analyse des mythentheoretischen und religionswissenschaftlichen Werks vgl Kap 2 2 S 31–44 Die Societät der Wissenschaften zu Göttingen, heute Akademie der Wissenschaften, wurde 1751 gegründet und ist die älteste der deutschen Akademien der Wissenschaften Seit ihrer Gründung bestand sie aus mehreren gleichberechtigten Klassen (die Dreiteilung in eine physische oder physikalische, mathematische und historische Klasse wurde zwischen 1810 und 1814 um eine Klasse für alte Literatur und Kunst erweitert; danach wurden die beiden letztgenannten zu einer historisch-philologischen Klasse zusammengeführt) Heyne gehörte der historischen Klasse an und fungierte zwischen 1770 und 1812 als Sekretär sowie 1776 als Direktor der Societät In den monatlich stattfindenden Sitzungen wurden Vorträge von den Ordentlichen Mitgliedern verlesen und disku-

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Versammlungen derselben vortrug, und zum Anderen diejenigen, die er in seiner Funktion als Professor der Beredsamkeit als Programme für die Universität verfasste In der Societät hielt er im Laufe seiner fünfzigjährigen Mitgliedschaft insgesamt 52 Vorlesungen, also in etwa eine pro Jahr Für die Mitglieder der Universität schrieb er zwischen 1763 und 1809 fast doppelt so viele Texte wissenschaftlichen Inhalts, nämlich 92 30 Solche Programm- oder Anschlagsschriften wurden in der Regel31 für die feierlichen Prorektoratswechsel, anlässlich des Gründungsjubiläums der Georgia Augusta im September und für den Essay-Wettbewerb der Universität verfasst 32 In ihnen wurden die Mitglieder der Universität, also die Studenten und Professoren, zu den jeweiligen feierlichen Veranstaltungen eingeladen Die Einladung an sich umfasste meist nur wenige Zeilen am Anfang oder Ende des Programms; der Hauptteil bestand aus einer Abhandlung zu einem wissenschaftlichen Thema Die Programme wurden nicht verlesen, sondern konnten jeweils vor dem Anlass beim Buchhändler erworben werden, möglicherweise wurden sie auch an die Studenten verteilt 33 Ob sie, wie ihre Bezeichnung als Anschlagsschriften vermuten lässt, auch öffentlich in der Universität

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tiert, sodass Heynes Publikum bei seinen Abhandlungen vor der Societät aus den Ordentlichen Mitgliedern und gelegentlichen Teilnehmern oder Besuchern bestand (korrespondierende oder auswärtige Mitglieder und Assessoren waren nicht zur Teilnahme verpflichtet) Zu einer Aufstellung aller Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen zwischen 1751 und 2001, aus der sich auch Heynes Hörerschaft bei den Abhandlungen ergibt, vgl Holger Krahnke: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751–2001 Göttingen: 2001 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Folge 3, Bd 246, zugl Mathematisch-Physikalische Klasse, Folge 3, Bd 50) Zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen vgl Rudolf Vierhaus: Etappen der Göttinger Akademiegeschichte Göttingen: 2003; Christian Starck: Akademie und Staat In: Kurt Schönhammer / Christian Starck (Hg ): Die Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Teil 1 Berlin: 2013 S 3–26 Zu den Mitgliedern der Societät vgl Karl Arndt u a (Hg ): Göttinger Gelehrte, Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen, 1751–2001, Bd 1 Göttingen: 2001 In einigen seiner Programmschriften macht Heyne kein wissenschaftliches Thema zum Gegenstand Diese wurden daher aus der Analyse des wissenschaftlichen Werks ausgenommen Andere Gelegenheiten, für die er Programmschriften verfasste, etwa zum dritten Todestag Georgs II , der Eröffnung des Historischen Instituts oder bei fünfzigjährigen Amtsjubiläen seiner Kollegen, waren selten Normalerweise fand der Prorektoratswechsel zweimal jährlich statt Hinzu kam das Gründungsjubiläum im September und seit 1785 die jährliche Preisverleihung an die Studierenden, ein durch König Georg III gestifteter Essaywettbewerb, für den Heyne die Einsendungen resümierte und die Gewinner und Preisfragen für das nächste Jahr bekanntgab, sodass Heyne zum Teil viermal im Jahr Programmschriften vorlegte In einigen Jahren fand kein Prorektoratswechsel statt und seit 1792 wurden das Universitätsjubiläum und der Prorektoratswechsel im zweiten Halbjahr zusammengelegt Inhaltliche Unterschiede in den Reden zum Prorektoratswechsel und zum Jubiläum gibt es nicht Beide Anlässe können daher zu einer Gruppe zusammengefasst werden In den 25 Programmschriften zu den Preisverleihungen behandelte Heyne kein wissenschaftliches Thema, sodass diese hier nicht berücksichtigt werden müssen Eine Ausnahme bildet lediglich die Schrift zur Preisverleihung aus dem Jahr 1805 Heyne fügte hier einen Excursus de Alexandro M. bei, in dem er über Alexanders Motive für seine Feldzüge reflektiert Dies mutmaßt zumindest Heidenreich, vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 188, Anm 5

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ausgehängt wurden, ist unklar, jedoch nicht sehr wahrscheinlich – der teilweise recht hohe Umfang wäre der Lektüre jedenfalls hinderlich gewesen Die Programmschriften erschienen sowohl jeweils zuvor als Einzeldrucke als auch mit einigem zeitlichen Abstand und leicht überarbeitet in den Opuscula academica Heynes In den Programmschriften befasste er sich vornehmlich mit Alter Geschichte Von allen 92 dieser Abhandlungen befassen sich 54 – mit 59 Prozent also deutlich über die Hälfte – mit Themen dieses Fachbereichs 34 An zweiter und dritter Stelle folgen Schriften zu den Themen Archäologie35 und Klassische Philologie; mit 15 in der Archäologie und 14 in der Klassischen Philologie liegen beide Fächer mit je etwa 15 Prozent gleichauf 36 Zehn Programme und damit etwa zehn Prozent handeln von Bräuchen und Riten der antiken Religionen und nur ein einziges präsentierte er zur Mythentheorie vor den Studenten und Professoren Göttingens 37 Unter Einbeziehung der zeitlichen Abfolge der Programmschriften ergibt sich folgendes Bild:38 In den 1760er Jahren behandelt der Hauptteil seiner Programmschriften – nämlich allein 14 der 18 in dieser Zeit gehaltenen Vorträge, etwa 80 Prozent – Themen der Alten Geschichte 39 Zweimal setzte er sich mit Klassischer Philologie40

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Davon mit 18 Abhandlungen (wieder über die Hälfte) kreisen um die Bereiche antike Gesetzgebung, Innenpolitik und antike Rechtssysteme Elf Abhandlungen verfasste er über antike Außenpolitik, Handel und Kolonial- beziehungsweise Provinzverwaltung und sieben zu antikem Ackerbau und Ackergesetzen Daneben schrieb er zwei Abhandlungen über Barbareneinfälle nach Europa und je eine Abhandlung zum Zeitalter der Ptolemäer, zu einer Epidemie in Rom, zur Geschichte der Krim sowie zwei allgemein historische Abhandlungen zu politischen Systemwechseln und Krieg Zu Heynes archäologischen Forschungen vgl Daniel Graepler: Archäologische Forschungsthemen Heynes In: ders /Migl (Hg ): Das Studium des schönen Altertums S 45–72 Die archäologischen Abhandlungen bestehen aus elf Rekonstruktionen von antiken Kunstwerken aus Schriftquellen und vier Vorträgen über Münzen, die sich im Besitz der Georgia Augusta befanden In der Klassischen Philologie lassen sich nur sieben Schriften zu relativ unbekannten antiken Autoren zu einer Gruppe zusammenfassen Der Rest erscheint eher uneinheitlich: Er hielt drei Reden allgemein über die Ziele und den Nutzen der Klassischen Philologie und je einen über Simonides, ein Manuskript der Göttinger Bibliothek, Boethius und einen Überblick über die antike Literatur Im Bereich antiker religiöser Bräuche schrieb er zu zwei Veranstaltungen über die Entstehung von Religion, zweimal über antike Formen der Mantik und je einmal über den Gründungsmythos Arkadiens, das ägyptische Totengericht, antike Vorstellungen von der Seele, den Musenkult und über spezielle antike Gottesvorstellungen Bei der Schrift zur Mythentheorie handelt es sich um den Text Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis. Vgl dazu Diagramm 2, Anh S 339 Den Hauptteil der althistorischen Abhandlungen dieser Zeit bilden zwei Vorlesungsreihen Er verfasste hier eine Serie von sechs Schriften zu antikem Ackerbau und die ersten fünf Teile einer Reihe von Vorlesungen speziell zur Gesetzgebung und Verwaltung der griechischen Kolonien, die sich bis in die Siebziger erstreckt Daneben veröffentlichte er eine zweiteilige Programmschrift über die griechischen Kolonien im Allgemeinen und eine Vorlesung über das Zeitalter der Ptolemäer 1764 befasste er sich mit Simonides’ Aussagen zur Lebensführung und zur erfolgreichen Auseinandersetzung mit Klassischer Philologie

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auseinander und je einmal mit antiken religiösen Vorstellungen41 und Mythentheorie 42 Auch in den Siebzigern bestimmt die Alte Geschichte über die Hälfte seiner Programmschriften Zehnmal besprach er hier die Gesetzgebung und Verwaltung in den griechischen Kolonien 43 Außerdem befasste er sich je viermal mit antiker Religion44 und Archäologie45 und einmal mit Klassischer Philologie 46 Die 1780er Jahre sind noch stärker von Alter Geschichte geprägt: 17 von 23 Programmen dieser Zeit, also drei Viertel drehen sich um dieses Thema 47 Viermal äußerte er sich hier zu antiken religiösen Bräuchen und Vorstellungen48 und einmal zu Darstellungen auf antiken Münzen Die althistorischen Themen dieser Dekade sind viel heterogener als zuvor, es gibt keine umfassenden Serien mehr und nur wenige Doppelvorlesungen Er ließ sich seit Beginn der 1780er Jahre viel stärker als zuvor durch aktuelle politische Ereignisse bei der Themenwahl leiten und versuchte so Aktualitätsbezüge herzustellen,49 da es für ihn der Zweck historischer Studien war, über aktuelle politische Gegenstände urteilen zu können 50 Diese Strategie bei der Themenwahl setzt sich bis zur Mitte neunziger Jahre fort51

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Anlässlich des dritten Todestages Georgs II schrieb er ein Programm über das Totengericht der Ägypter Am 17 09 1764 veröffentlichte er zum 27 Gründungsjubiläum der Universität die Programmschrift Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis über die frühesten philosophischen Spekulationen, die in Mythen zu finden sind Die zehn Abhandlungen schließen sich thematisch an die Reihe von Schriften zum selben Thema aus den Sechzigern an Er erörterte den Gründungsmythos der Arkadier und hielt 1779 den Doppelvortrag Vita antiquissimorum hominum ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, in dem er die Prinzipien der Religionsgenese anhand des Vergleichs antiker Völker mit den Ureinwohnern Afrikas und Amerikas aufzeigt Es handelt sich hier um einen dreiteiligen Vortrag über einige Münzen der Göttinger Sammlung 1773 beschreibt er einen Codex zum Römischen Recht aus dem Besitz der Bibliothek Er publizierte zum Beispiel zwei Programmschriften zur römischen Bündnispolitik, drei zum römischen Rechtssystem und je eine zum Handel und zur Verwaltung der Provinzen Roms Er erörterte Heraklits Vorstellungen von der Beschaffenheit der Seelen, das Konzept des im Platonismus verbreiteten Glaubens an einen Schöpfergott, den Demiurg, und in zwei Vorträgen die antike Praxis der Mantik Er verfasste beispielsweise, angestoßen durch die beginnende Abschaffung der Sklaverei, ein Programm zum antiken Sklavenhandel, verglich den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mit den römischen Bundesgenossenkriegen und schrieb anlässlich der Reise Kaiserin Katharinas II auf die Krim eine kurze Geschichte dieser Halbinsel Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 230 Anlässlich der Französischen Revolution verfasste er bereits im September 1789 das Programm Libertas populorum raro cum exspectato ab iis fructu recuperata Als Ludwig XVI im Juni 1791 nach Varennes floh, schrieb er im September 1791 Reges a suis fugati externa ope in regnum reducti Nach dem Sturz der Monarchie und der Errichtung der neuen Regierung in Frankreich erschienen Vani Senatus Romani conatus sub Imperatoribus restituendi libertatem rei publicae und Libertatis et aequalitatis civilis in Atheniensium reip. delineatio ex Aristophane Als die Revolution schließlich auf das restliche Europa übergriff, richtete er sich 1794 und 1795 mit den Programmen De bellis internecinis eorumque caussis et eventis und Exulum reditus in patriam ex Graecis Romanisque historiis enotati an sein Publikum

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2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen

und endet dann abrupt 52 Bis 1795 erschienen insgesamt 12 solcher Abhandlungen Mit dem 1 März 1796 beginnt dann eine Serie, bestehend aus 11 Abhandlungen, die ausschließlich die Rekonstruktion antiker Gemälde und Statuen durch die Schriften der Rhetoren Flavius Philostratos, Philostratos des Jüngeren und Kallistratos beinhalten, davon acht in den neunziger Jahren Nachdem Heyne die letzten drei Reden dieser Reihe 1801 beendet hatte, folgt eine weitere längere Programmschriftenreihe, bestehend aus acht Texten, in denen er sich mit den Schriften der spätantiken Autoren Symmachus, Ausonius, Ammianus Marcellinus, Salvian von Marseille, Boethius und zwölf Panegyrikern auseinandersetzt Den Abschluss seiner Abhandlungen für die Universität stellt eine Programmschrift vom 1 März 1809 über die Religionspolitik Kaiser Severus Alexanders dar Im darauffolgenden August legte er sein Amt als Professor der Beredsamkeit nieder und verfasste von da an keine Programmschriften mehr Zusammenfassend lassen sich für die Programmschriften Heynes folgende Tendenzen feststellen: Allgemein hielt er offensichtlich Problemstellungen der Alten Geschichte für ein gemischtes und breites Publikum für besonders geeignet Die Themen, die er dabei für seine Anschlagsschriften zu festlichen Anlässen auswählte, sind von Beginn an sehr speziell und eingegrenzt, offensichtlich um thematische Geschlossenheit gewährleisten zu können Dennoch stehen viele der Texte nicht isoliert, sondern fügen sich in Serien von aufeinander aufbauenden Abhandlungen ein, die bis zu 11 thematisch zusammengehörende Programme umfassten und sich dadurch zum Teil über mehrere Jahre erstreckten In den ersten Jahrzehnten seiner Professur der Beredsamkeit erörterte er vor allem anderen Themen der Alten Geschichte, nach 1795 hingegen gar nicht mehr Nachdem er in einer ganzen Reihe von Programmen am Ende der achtziger Jahre und zu Beginn der neunziger Parallelen zwischen Antike und Gegen52

Möglicherweise wurde Heyne für diese Art der Themenwahl kritisiert Dafür spricht zumindest, dass er etwa zeitgleich mit dem Erscheinen der durch politische Ereignisse angeregten Programmschriften im vierten Band der Opuscula im Jahr 1796 aufhört, alte Geschichte mit moderner Politik zu verbinden Zudem hielt er es für notwendig, in der Rezension zu diesem Opuscula-Band, in dem die Mehrzahl seiner Programme mit Bezügen zur aktuellen Politik enthalten sind, darauf hinzuweisen, dass „Programmschriften, welche im Nahmen der ganzen Universität abgefaßt werden, da diese hier als Person aufzutreten scheint“, „[m]ehr Schwierigkeiten […] haben [können]“ ([Christian Gottlob Heyne]: 16 St In: GGA 1796 S 155) Man sei hier jedoch „längst übereingekommen, daß bloß die Ankündigung im Nahmen der Universität geschieht, das Uebrige nur Privat-Schrift ist Nie wird eine Universität für die Sätze verantwortliche seyn, welche in den Programmen aufgestellt werden; wenn gleich der Verfasser auf der andern Seite eingedenk bleiben muß, daß er die Ehre seiner Universität nie dabey in Gefahr setzen darf “ (ebd ) Dies hört sich ganz so an, als sei er wegen der in diesem Band enthaltenen politischen Programme beschuldigt worden, die Universität in Verruf zu bringen – warum sonst sollte er explizit darauf hinweisen, dass er hier nur seine persönlichen Ansichten niederschrieb und nicht für die ganze Universität spricht? In der Rezension zum 1801 folgenden fünften Band der Opuscula schreibt er: „Um d Ton zu verändern, verließ der V[erfasser] [= Heyne] das reiche Feld, die Vergleichung der politischen Zeitvorfälle mit ähnl Erscheinungen im Alterthum, u ging zu einem weniger verfänglichen Gegenstand über“ ([Christian Gottlob Heyne]: 131 St In: GGA 1802 S 1311) Das heißt also, die politischen Programme waren verfänglich und wurden kritisiert

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wart aufzeigte, unterlässt er dies anschließend vollkommen Er wendet sich daraufhin der Klassischen Philologie und Kunstgeschichte zu Abhandlungen zur Archäologie und Kunstgeschichte setzen wiederum erst vergleichsweise spät ein; sie erschienen erst seit 1777 Nach einem Tief folgte eine Phase, in der er den Studenten und Professoren eine ganze Serie kunsthistorischer Abhandlungen präsentierte In den letzten Jahren jedoch erschienen fast ausschließlich Abhandlungen zur Klassischen Philologie, in denen er die Werke relativ unbekannter antiker Schriftsteller präsentierte Die insgesamt 52 Abhandlungen, die Heyne in der Societät der Wissenschaften zu Göttingen präsentierte, sind thematisch viel mehr durchmischt als seine Programmschriften So gibt es hier kein so starkes Übergewicht von Themen eines Fachbereichs und keine längeren Vorlesungsreihen;53 auch wechseln sich die Fachbereiche viel mehr ab Am häufigsten referierte er zu Problemen der Archäologie; 19 Abhandlungen beziehungsweise gut ein Drittel lassen sich diesem Gebiet zurechnen An zweiter Stelle folgen 17 Abhandlungen zu Mythentheorie und antiken religiösen Bräuchen, danach Alte Geschichte mit 15 Abhandlungen Nur einmal sprach er über ein Problem der Klassischen Philologie Die Verteilung der Themen stellt sich in den Vorträgen für die Societät also ganz anders als in denen für die Universität dar Nicht Alte Geschichte, sondern das relativ junge Fach der Archäologie macht hier den größten Teil der Abhandlungen aus Er sprach auch viel häufiger über Religion und Mythen, fast gar nicht jedoch zu altphilologischen Problemen, die in den Programmen für die Universität gerade in den späteren Jahren einen großen Raum einnehmen Aus diesem Grund unterscheidet sich die Verteilung der gewählten Themenbereiche nach Dekaden geordnet hier auch deutlich von der der Programme für die Universität 54 In den 1760er Jahren hielt er je eine Vorlesung zur Alten Geschichte55 und Mythentheorie56 und zwei zur antiken Religion 57 In den siebziger Jahren präsentierte er erstmals archäologische und kunsthistorische Abhandlungen58 vor den Mitgliedern der Societät; allein sechs der insgesamt elf Commentationes dieser Dekade widmen sich solchen Themen, während

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Eine Ausnahme bildet eine Reihe von sechs direkt aufeinander folgenden Abhandlungen zu byzantinischer Kunst, die Heyne zwischen 1790 und 1795 verlas Davon abgesehen gibt es noch einige drei- beziehungsweise zweiteilige Vorlesungen Vgl Diagramm 3, Anh S 340 1769 verlas er den ersten Teil einer Doppelvorlesung über antike Seemächte im östlichen Mittelmeerraum Bei dieser Abhandlung handelt es sich um die Schrift Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata, in der er in erster Linie darüber reflektiert, was Mythen sind Es ist der erste Vortrag, den er in der Societät hielt Der Titel der Abhandlung lautet Musarum religio eiusque origines et caussae Heyne behandelt hier den Glauben an die Musen In der Abhandlung De Graecarum origine e septentrionali plaga befasste er sich mit dem Gründungsmythos der Griechen Vier dieser Abhandlungen machen etruskische Artefakte zum Gegenstand, zwei antike Elfenbeinschnitzerei

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er zur Alten Geschichte59 und Mythentheorie60 zwei und zur antiken Religion61 eine verlas Im nächsten Jahrzehnt steht dahingegen die Alte Geschichte stärker im Zentrum seiner Abhandlungen vor der Societät Mit diesem Gebiet befasste er sich hier siebenmal,62 außerdem fünfmal mit Archäologie oder Kunstgeschichte63 und zweimal mit antiken Religionen 64 In den 1790er Jahren spielte Archäologie wieder eine große Rolle: Sieben seiner zehn Abhandlungen vor der Societät behandelten solche Themen 65 Daneben befasste er sich dreimal mit Mythentheorie 66 Die Abhandlungen der letzten Jahre von Heynes Mitgliedschaft in der Societät erscheinen thematisch stärker durchmischt als zuvor Von insgesamt zwölf Abhandlungen seit 1800 befassen sich vier mit Alter Geschichte,67 drei mit Mythentheorie,68 je zwei mit antiken Religionen69 und Archäologie70 und eine mit dem griechischen Text auf dem 1799 gefundenen Stein von Rosette

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1771 hielt er den zweiten Teil seiner Vorlesung über antike Seemächte und sprach 1776 über die Etrusker Es handelt sich um die Abhandlungen De origine et caussis fabularum Homericarum von 1777 und De Theogonia ab Hesiodo condita von 1779 In der Abhandlung De maribus inter Scythas morbo effeminatis et de Hermaphroditis Florida geht es um Hermaphroditen und Eunuchen in verschiedenen Kulturen, wobei auch religiöse Aspekte eine Rolle spielen Bezüge zur antiken Religion weisen auch zwei der Abhandlungen zur etruskischen Kunst auf: Elemente der antiken griechischen und etruskischen Religionen werden hier anhand von Fundstücken rekonstruiert In drei Abhandlungen befasste er sich mit Diodors Quellen, in je zwei mit Sparta und mit antiken Waffen, Kampftechniken und -taktiken Er stellte zweimal die Ergebnisse von Untersuchungen ägyptischer Mumien vor, präsentierte eine antike Münze, die der Universität geschenkt wurde, beschrieb Götterdarstellungen auf antiken Fundstücken und hielt den ersten Teil einer Vorlesung über antike Kunst, die in griechischen Epigrammen beschrieben wird 1781 erklärte er verschiedene Möglichkeiten, woher Herakles’ Beiname Musagetes stammen könnte, und 1786 antike Mysterienkulte 1790 folgte der zweite Teil seiner Rekonstruktion antiker Kunstwerke aus griechischen Epigrammen Danach verfasste er eine Reihe von sechs Abhandlungen zu byzantinischen Kunstwerken Es handelt sich um die Texte De fide historica aetatis mythicae und Historiae scribendae inter Graecos primordia, in denen es jeweils um Mythen, die auf historischen Ereignissen fußen, sowie um mündliche Geschichtsüberlieferung geht In De antiqua Homeri lectione indaganda, diiudicanda et restituenda geht er außerdem der Homerischen Frage nach Er verfasste hier Abhandlungen über die Herkunft von Edelmetallen in der Antike, die römische Provinzverwaltung, Alexandrien unter römischer Herrschaft und die Geschichte Byzanz’ Seine letzte Abhandlung, die vor der Societät verlesen wurde, Sermonis mythici seu symbolici interpretatio, stammt aus dem Jahr 1807 und gehört zu diesem Themengebiet Außerdem erschienen im Jahr 1800 mit De opinionibus per mythos traditis und De mythorum poeticorum natura, origine et caussis zwei Abhandlungen zur Mythentheorie in der Zeitschrift der Societät, die Heyne nicht verlesen hatte 1804 verlas er eine Abhandlung über einen bestimmten babylonischen Opferritus, bei dem sich junge Frauen vor ihrer Ehe im Namen einer Göttin prostituierten, und 1806 eine über religiöse Gebräuche im antiken Kappadokien Er hielt 1810 einen Vortrag zu antiken Vasen und 1809 nochmals einen zu byzantinischer Kunst

2 1 Heynes Publikationen

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Insgesamt kann man feststellen, dass sich Heynes Reden vor der Societät der Wissenschaften thematisch sehr von den Abhandlungen für die Universität unterscheiden So gibt es nur wenige Themen, die er mit ähnlichen Schwerpunkten in beiden Kontexten vorgetragen hätte Und auch zeitlich lassen sich lediglich zweimal Parallelen feststellen: Zum einen hielt er mit Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata im September 1763 in der Societät einen Vortrag darüber, was grundsätzlich Mythen sind, mit Schwerpunkt auf Mythen, die auf historischen Ereignissen basieren, und wie man mit ihnen umgehen müsse Etwa neun Monate später folgte das Programm Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis für die Universität, das ebenfalls seinen Mythosbegriff zum Thema macht, jedoch die ersten philosophischen Mythen stärker in den Vordergrund rückt Zum anderen verfasste er 1784 und 1785 Programmschriften über die in der Antike verbreitete Praxis der Mantik und den Glauben an göttliche Omen 1786 sprach er zu einem ähnlichen Thema, den antiken Mysterienkulten, auch vor den Mitgliedern der Societät Ansonsten erfolgte seine Beschäftigung mit ähnlichen Problemstellungen erst in der Societät und dann mit starker Verzögerung nochmals als Programmschrift So stellte er zum Beispiel sowohl für die Universität als auch vor der Societät Rekonstruktionen von Kunstwerken mit Hilfe von antiken Schriftquellen vor, doch tat er dies vor der Societät bereits 1789/90 – als Programmschrift aber stark zeitversetzt, erst sieben Jahre später Ähnlich verzögert erfolgten in Universität und Societät seine Vorlesungen zum griechischen Musenkult Bereits 1766 erörterte er diesen in der Societät; über sechs Jahre später stellte er einige Anmerkungen zur antiken Literatur mit Hilfe der Beinamen und Attribute der Musen und anderer Götter in der Universität vor Anderweitige Parallelen, wie etwa dass Heyne zu bestimmten Zeiten in beiden Präsentationskontexten ähnliche Themen wählte, sind nicht einmal als Neigung zu einem bestimmten Fachbereich erkennbar Wenn Heyne also so unterschiedliche Gegenstände für seine Vorträge und Programme wählte, muss er die Themenwahl stark von seinen Adressaten abhängig gemacht haben Das Publikum für Heynes mythentheoretische Schriften waren in erster Linie seine Kollegen, die Mitglieder der Societät, sowie der Leser der Societätszeitschrift – hier präsentierte er mit Abstand das meiste seiner Überlegungen zum Mythos Deutlich weniger machte er seine Mythentheorie durch seine Programmschriften auch den Studenten der Georgia Augusta zugänglich Für die Societät wählte er, so Heeren, nur Vorlesungen, die mit seinen übrigen Studien in Verbindung [standen] Die Gegenstände, welche eine besondere gelehrte Ausführung verdienten, und dennoch anderswo nicht wohl ausgeführet werden konnten, pflegte er für die Societät sich vorzubehalten So erfüllte er den Hauptzweck, nur Gegenstände zu behandeln, durch welche die Wissenschaften erweitert wurden 71 71

Heeren: Christian Gottlob Heyne S 257

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2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen

Für die Studierenden und Professoren der Universität hingegen mied er Gegenstände von sehr großem Umfange, und es mußten doch Gegenstände wissenschaftlicher Art seyn Gern wählte er solche, die in einer gewissen Beziehung auf die Zeitumstände überhaupt, oder die besondere Veranlassung der Schrift standen 72

Für seine Programmschriften für die Universität versuchte er also allgemein interessante Themen auszuwählen, die – so Heyne in seiner Rezension zum dritten Band seiner Opuscula academica – in die große populäre Classe von Gegenständen, die für alle passend sind, welche die Elementarkenntnisse aus der Jugend nicht ganz vergessen, noch die im gesellschaftlichen Kreis von Personen, die einige Cultur und Belesenheit besitzen, herrschenden Notionen aus ihrem Gesichtskreis vorsätzlich verbannen,73

gehören 74 Neue Erkenntnisse spielten zwar auch hier für ihn eine wichtige Rolle, aktuelle Forschungsfelder behielt er sich jedoch für die Reden in der Societät vor Hierin gehörte für ihn offensichtlich auch die Mythentheorie: Von allen ausschließlich mythentheoretischen Schriften schrieb er nur eine einzige als Programmschrift für die Universität – die restlichen sechs schrieb er alle für die Societät Seine Mythentheorie muss Heyne also als ein Thema der Forschung, als einen Beitrag zu einer aktuellen Kontroverse, durch den „die Wissenschaften erweitert wurden“,75 betrachtet haben Heyne war jedoch daran interessiert, ein noch größeres Publikum zu erschließen: Sowohl seine Societätsabhandlungen als auch seine Programmschriften rezensierte er selbst ausführlich in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen (GGA), sodass seine Mythentheorie vor allem hier, in deutscher Sprache und in einem relativ ausgedehnten Verbreitungsgebiet, ein größeres Publikum erreichte 76

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Ebd S 237 Doch waren die Veranlassungen, die Heeren hier meint, zum Teil eher untergeordnet Zu der langen Reihe an Programmen über antike Gemälde, die er aus Beschreibungen Philostratos’ rekonstruierte, stieß ihn beispielsweise die Schenkung einer Gemäldesammlung an die Universität an, für die er öffentlich zu danken hatte, vgl ebd S 238 Die darauffolgende zehnteilige Serie von Programmschriften wurde erst nach vier Jahren und sechs Monaten beendet, sodass der eigentliche Anlass, die Schenkung durch Johann Wilhelm Zschorn, nach wenigen Programmen keine Rolle mehr gespielt haben kann [Heyne]: 122 St In: GGA 1788 S 1220 Auffällig ist jedoch, dass er am Ende seines Lebens zunehmend sehr spezielle Themen wie die Bilderbeschreibungen Philostratos’ und unbekannte lateinische Autoren wählte Die Themenwahl erfolgte also seit Mitte der 1790er Jahre offenbar stärker nach seinen eigenen Neigungen und orientierte sich wohl weniger an den Interessen des Publikums Heeren: Christian Gottlob Heyne S 257 Dass dies funktionierte, zeigt das Vorwort Johann Matthias Schroeckhs zu seiner Übersetzung von Baniers La Mythologie et les Fables expliquées par l’Histoire aus dem Jahr 1766. Er gibt hier kurz die neuesten Entwicklungen in der Mythentheorie wieder und verweist dabei auch auf Heyne Er ist dabei auf dem allerneuesten Stand, denn er erwähnt nicht nur die drei Jahre alte Abhandlung Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata, sondern nennt auch die Societäts-

2 2 Heynes mythentheoretische Schriften

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2.2 Heynes mythentheoretische Schriften Nachdem in Kapitel 2 1 Heynes Gesamtwerk auf spezifische Arbeitsphasen und thematisch bestimmende Publikationskontexte hin untersucht wurde, soll im Folgenden dezidiert auf seine mythen- und religionswissenschaftlichen Schriften eingegangen und geprüft werden, ob sich bestimmte Kernphasen einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Themen in Heynes wissenschaftlicher Tätigkeit ausmachen lassen Dazu werden die einschlägigen Abhandlungen in chronologischer Folge kurz beschrieben und Themenfelder abgesteckt, die Heyne in diesem Rahmen bearbeitete Heyne war keineswegs dafür prädestiniert, einer der wichtigsten Gelehrten der Altertumswissenschaften in seiner Zeit zu werden Er stammte ähnlich wie Winckelmann aus sehr armen Verhältnissen,77 und auch in seiner Ausbildung deutet nichts darauf hin, dass er zum Begründer moderner Mythentheorien aufstreben sollte: Nach seinem Besuch der Kinderschule in der Vorstadt von Chemnitz wurde er 1741 in das dortige Lyzeum aufgenommen Hier genoss er seiner eigenen Aussage nach einen äußerst mangelhaften Lateinunterricht, der hauptsächlich in Auswendiglernen lateinischer Verse bestand, und hatte dementsprechend nach seiner Schulzeit nur Grundkenntnisse in dieser Sprache 78 1748 entschied er sich für ein Jurastudium in Leipzig 79 1752 schloss er dieses ab und zog nach Dresden, wo er als Kopist in der Brühl’schen Bibliothek,80 Hauslehrer und Übersetzer aus dem Französischen und Altgriechischen arbeitete 81 Bis er im Sommer 1763 auf Empfehlung seines Leipziger Professors Johann August Ernesti nach Göttingen berufen wurde, lebte er in ständiger finanzieller Not

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vorlesung Musarum religio eiusque origines et caussae aus dem Erscheinungsjahr der Übersetzung. Er verweist hier nicht auf die lateinischsprachigen Publikationen, sondern ausschließlich auf Heynes Selbstrezensionen in den GGA, vgl Johann Matthias Schroeckh: Vorrede In: Antoine Banier: Erläuterung der Götterlehre und Fabeln aus der Geschichte, Übers v Johann Matthias Schroeckh, Bd 5 Leipzig: 1766 19–24 Er wurde am 29 September 1729 in Chemnitz als ältester Sohn von Georg und Elisabeth Heyne geboren Sein Vater war von Beruf Leineweber und gehörte damit „der niedern Classe der Gesellschaft“ (Heeren: Christian Gottlob Heyne S 2) an; dementsprechend „hatte er mit allen den Entbehrungen, welche dieser eigen sind zu kämpfen“ (ebd ) Vgl ebd S 234 Wahrscheinlich konnte er seine Fertigkeiten im Lateinischen während seines Studiums in Leipzig in den philologischen Kollegien bei Ernesti verbessern – wie sonst hätte er seine Tibull- und Epiktet-Ausgaben in den fünfziger Jahren bewerkstelligen sollen? Seit seiner Zeit in Göttingen war Latein seine alltägliche Arbeitssprache; folglich lernte er hier durch Anwendung in den ersten Jahren viel hinzu Sein Latein ist als klassisch und ausgesprochen korrekt zu bezeichnen; Heeren behauptet sogar, er hätte es besser als seine Muttersprache beherrscht, vgl ebd Er besuchte hier die Vorlesungen über Römische Rechtsgeschichte bei Johann August Bach, hörte aber auch philologische und philosophische Kollegien bei Johann August Ernesti, Johann Friedrich Christ und Johann Heinrich Winckler, vgl ebd S 11–39 Dabei wurde er seiner eigenen Aussage nach am meisten durch Ernesti beeinflusst, vgl ebd S 30 Die Brühl’sche Bibliothek in Dresden war mit circa 70˙000 Bänden eine der größten und wertvollsten Bibliotheken ihrer Zeit, vgl ebd S 41 f Vgl ebd S 32–42

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2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen

Nur vier Monate nach seiner Ankunft in Göttingen (am 29 Juni 1763) hält er am 10 Dezember 1763 mit dem Text Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata82 seine erste Vorlesung zur Mythentheorie in der Societät der Wissenschaften Zwar reißt er in diesem eher programmatischen Vortrag in weiten Teilen nur Problembereiche der Beschäftigung mit antiker Mythologie an, doch tauchen bereits hier alle Themen auf, die ihn bis ans Ende seines Lebens bei seiner Arbeit am antiken Mythos und dessen Entstehung wichtig erschienen Er problematisiert schon die Terminologie, mit der auf die antiken Erzählstoffe referiert wird, kritisiert die gängigen falschen, viel zu schlichten und unterkomplexen Vorstellungen von ihnen sowie den geringen Stellenwert, den man ihnen beimisst, betont psychologische Aspekte und fordert, dass Mythen aus ihrer Zeit heraus und in Abhängigkeit von den Lebensbedingungen ihrer Erfinder verstanden werden müssen Seine Mythentheorie steht in ihren Grundfesten bereits hier fest: Aus den Mythen kann man die frühesten historischen Ereignisse vor jeder schriftlichen Fixierung und die Anfänge menschlichen Denkens herauslesen; die Ähnlichkeiten zwischen den Mythen verschiedener Völker können nicht nur auf Kulturtransfer zurückgeführt werden, sondern sind durch allgemeinmenschliche geographisch und historisch voneinander unabhängige ähnliche Denkmuster zu erklären; die naturnahe Lebensweise, die Rohheit und das ausschließlich sinnliche, konkrete, ausgesprochen beschränkte Denken und die wortarme, gestenreiche Sprache der barbari führte zu den Mythen, nicht aber Philosophie oder Poesie Es erscheint also fast unerklärlich, wie Heyne so kurz nach seiner Ankunft in Göttingen einen solchen Text vorlegen konnte, hatte er sich in den Jahren davor doch nur vergleichsweise wenig mit Klassischer Philologie und antiker Mythologie auseinandergesetzt haben können Zwar beschäftigte er sich während seines Studiums durch den Besuch der Veranstaltungen Ernestis83 viel mit antiken Texten und hatte während seiner Anstellung als Kopist freien Zugang zu einer ausgesprochen reichen Bibliothek, was es ihm ermöglichte, erstmals als Philologe in Erscheinung zu treten84 und sich privat mit Philosophie und Theologie, insbesondere mit Montesquieu, Shaftesbury und Locke, zu befassen 85 Jedoch verlor er die Anstellung schon 1756 wieder und arbeitete als Hauslehrer für die Existenz seiner Familie 86 Zudem verlor er 1760 seinen gesamten Besitz durch ein Bom-

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Vgl Christian Gottlob Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 8 (1787), Commentationes antiquiores S 3–19 Vgl ebd S 11–39 Er übersetzte 1753 den antiken Roman Chaireas und Kallirrhoë des Chariton von Aphrodisias 1755 veröffentlichte er seine Tibull-Ausgabe, ein Jahr später folgte eine Epiktet-Edition Beide Ausgaben wurden im Übrigen auch in den GGA gelobt, vgl o V : 45 St In: GGA 1755 S 409–411; o V : 26 St In: GGA 1756 S 214–216 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 42 f Vgl ebd S 46–53

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bardement auf Dresden im Zuge des Siebenjährigen Krieges 87 Seit 1756 hatte er also keinen Zugang mehr zur Brühl’schen Bibliothek; seine persönlichen Bücher sowie alle seine Exzerpte hatte er verloren; durch die prekäre finanzielle Situation konnte er außerdem kaum Zeit für persönliche Forschungen haben Nichtsdestoweniger bezieht sich Heyne bereits in seiner Vorlesung Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata mehrfach auf den Diskurs über antike Mythen Er schreibt, dass es bei vielen Gelehrten durch die Verwendung des Begriffs Fabel zu Missverständnissen und Fehldeutungen gekommen sei,88 dass sich viele davor scheuten, die heidnischen Mythen mit den Texten der Bibel zu vergleichen,89 andere jedoch so viel Ähnlichkeiten zwischen den heidnischen Mythen und der Bibel sähen, dass die antike Mythologie aus dem Judentum abzuleiten sei, und erfolglos versuchten das Alte Testament in griechischen Texten zu finden 90 Er kritisiert weiterhin, dass viele Gelehrte in antiken Mythen nur Aberglauben oder Poesie sähen, oder sie für ausschließlich religiöse Texte hielten;91 andere wiederum fänden in den antiken Texten lediglich „absurda, impia et blasphema“ 92 Das Problem dabei sei, dass die meisten Gelehrten die Antike und ihre Mythen aus ihrer eigenen Perspektive betrachteten, allerhand viel zu einfache, einseitige und undifferenzierte Hypothesen für deren Deutung verbreiteten und zu extreme Ansichten verträten,93 etwa dass alle Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen verschiedener Völker auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen seien,94 dass in antiken Mythen geheimes Wissen verborgen wäre95 oder dass die Eigenheiten der Sprachen und Texte Vorderasiens durch bestimmte klimatische Bedingungen erklärt werden müssten 96 Heyne zeigt in Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata also verschiedenste zu seiner Zeit übliche Deutungsmuster für die antike Mythologie auf; er muss sich folglich bereits 1763 bestens in der Mythendiskussion seiner Zeit ausgekannt und viel zu diesem Thema gelesen haben 97 Selbstverständlich war er bereits während seiner Schul- und Studienzeit mit mythologischen Stoffen in Berührung gekommen, schließlich bildeten antike Autoren einen sehr festen und großen Bestandteil des damaligen Bildungskanons Außerdem veröffentlichte er bereits in den 1750er Jahren Ausgaben und Übersetzungen von Tibull, Epiktet und Chariton von 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl ebd S 61 Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 3 Vgl ebd S 3 f Vgl ebd S 7 Vgl ebd S 4 f ; 8 Ebd S 5 Vgl ebd S 6 f ; 16 Vgl ebd S 7 Vgl ebd S 8 Vgl ebd S 15 Aus seinen Rezensionen lässt sich hier nichts ableiten Er verfasste 1763 lediglich zwei Kritiken, eine zu Samuel Musgraves Exercitationes in Euripidem und eine Selbstrezension (De genio saeculi Ptolemaeorum).

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2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen

Aphrodisias und arbeitete an Daniel Lipperts Dactyliotheca universalis mit In diesem Rahmen beschäftigte er sich sicherlich auch mit Mythologie Allein dadurch lässt sich der kritische Ton seiner frühesten mythentheoretischen Schrift jedoch nicht erklären Er zeugt von einem langen Studium aktueller und älterer Literatur schon in den Jahren vor seiner Berufung nach Göttingen und von einer nicht nur allgemeinen Kenntnis antiker mythologischer Stoffe In dieser ersten mythentheoretischen Schrift hatte sich Heyne vornehmlich auf die sozialen, kulturellen und psychologischen Umstände, die zu Mythen führen, konzentriert In seiner nächsten Schrift zur Mythentheorie, der Programmschrift Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis anlässlich des 27 Gründungsjubiläums der Georgia Augusta im September 1764, griff er erneut einige Aspekte auf und thematisierte hier insbesondere die Entstehung von Mythen des genus philosophicum 98 Damit ergänzte er die frühere Abhandlung um einen weiteren wesentlichen Punkt seiner Mythentheorie, wobei sich die Programmschrift – wohl aufgrund ihres anderen Adressatenkreise – inhaltlich und sprachlich insofern stark von der Societätsschrift unterscheidet, als theoretische Teile deutlich reduziert erscheinen und in den panegyrischen Ton einer ausführlichen Danksagung für die finanzielle und ideelle Förderung der Universität durch König Georg III und den damaligen Kurator Gerlach Adolph von Münchhausen sowie den 1763 geschlossenen Frieden von Paris eingebettet werden99 – wohl nicht zuletzt auch weil Heyne besonders unter den Auswirkungen des Siebenjährigen Kriegs gelitten hatte, wird der ein Jahr zuvor geschlossene Frieden hier als göttliches Geschenk dargestellt 100 Mythen erscheinen in diesem Text als die narrativen Produkte affektiv gesteuerter Menschen, die aufgrund der Einschränkungen ihres Denkens und ihrer Sprache unbewusst Mythen schufen Nach den beiden frühen mythentheoretischen Schriften, der Societätsabhandlung Temporum mythicorum memoria und dem Programm Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, legte Heyne eher Schwerpunkte auf archäologische Themen101 und befasste sich 13 Jahre lang nicht mehr mit einem explizit mythentheoretischen Gegenstand Dies erfolgte erst wieder 1777 mit der Abhandlung De origine et caussis fabularum Homericarum, gehalten am 6 September in der Sitzung der Societät der Wissenschaften, in der er sich mit der Entstehung der Homerischen

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Vgl Christian Gottlob Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis In: Opuscula academica, Bd 1 S 184–194 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 118 St In: GGA 1764 S 953–955 99 In der Veröffentlichung in den Opuscula von 1785 fügte Heyne dann auch einen ausgesprochen umfassenden Nachsatz hinzu, vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 195–206 Er bestimmt hier deutlich genauer, wie philosophische Mythen, aber auch Riten und Religion entstehen 100 Vgl ebd S 184 f 101 Gleichwohl spielte antike Mythologie und Religion auch hier eine gewisse Rolle, s u S 42 f

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Epen und den darin enthaltenen mythischen Stoffen auseinandersetzt 102 Nun folgte wieder eine lange, diesmal achtzehnjährige Phase ohne Veröffentlichungen zur Mythentheorie,103 bis er sich am 1 August 1795 anlässlich des Erscheinens von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum nochmals zu den Homerischen Epen mit der Abhandlung De antiqua Homeri lectione indaganda, diiudicanda et restituenda wieder zur Entstehung derselben, aber auch zu textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Aspekten äußerte 104 Es folgte nun eine Phase, in der er verstärkt an Publikationen zur Mythentheorie arbeitete Im Februar 1798 kommt er in der Societätsabhandlung De fide historica aetatis mythicae auf die allgemeine Mythentheorie wieder zurück105 und behandelt damit einen Gegenstand […], mit welchem er sich in frühern Jahren beschäftigt hatte; seine damahls angegebenen Bestimmungen des Begriffs dessen, was Mythus ist, und seine Grundsätze 106

Diese seien mittlerweile „von mehreren Gelehrten angenommen, weiter ausgeführt und angewendet worden“,107 weshalb er über dasjenige, was er ehemals in einzelnen Aufsätzen darüber gesagt hatte, eine Revision und Prüfung anstellen [will], um zu sehen, was ihm darin noch haltbar scheint oder nicht108

– und das, obwohl er „[d]urch die Art […], wie der Gegenstand zur Streitfrage gemacht worden ist,“ – Heyne spielt hier auf die Auseinandersetzung mit Wolf um die Homerische Frage an – „fast alles Interesse verloren hat“ 109 Anlass zu De fide historica aetatis mythicae lieferte ihm die durch Jacob Bryant „aufgestellte Abläugnung, daß je ein Tro102

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Vgl Christian Gottlob Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum In: Novi Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 8 (1777), Commentationes historicae et philologicae S 34–58 sowie die entsprechende Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 40 St In: Zugabe zu den GGA 1777 S 625–632 Doch tauchen mythologische und religionswissenschaftliche Aspekte auch in den Abhandlungen dieser Zwischenzeit auf, s u S 39–41 In diese Periode fällt außerdem seine Ausgabe der Bibliothek Apollodors – die antike Mythologie war also auch hier ein wichtiges Thema seiner Arbeiten Vgl Christian Gottlob Heyne: De antiqua Homeri lectione indaganda, diiudicanda et restituenda In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 13 (1799), Commentationes Classis Historicae et Philologicae S 159–182 und die entsprechende Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 203 St In: GGA 1795 S 2025–2035 Vgl Kap 7 6 S 280–282 Vgl Christian Gottlob Heyne: De fide historica aetatis mythicae In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 14 (1800) S 107–117 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 465–476 Ebd S 465 Ebd Ebd S 467 Ebd Offensichtlich war ihm die Auseinandersetzung um Homer zu hitzig und unsachlich geworden Er schreibt: „wo die Sittlichkeit aus den Augen gesetzt wird, hört alle Gelehrsamkeit, die ohnedem nur einen untergeordneten und relativen Werth hat, auf, irgend Jemanden, welcher eine sittliche Bildung hat, weiter zu interessiren“ (ebd )

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janischer Krieg und ein Ilium gewesen sey“,110 welche ihn zu der Vermutung veranlasste, „daß die richtigen Begriffe über den Mythus, als Sage und Geschichte aus Überlieferung, noch nicht so allgemein verbreitet seyn können“ 111 Er entschloss sich daher dazu, diesem Gegenstande einige Aufsätze zu widmen; der ihn in frühern Zeiten dadurch fesselte, weil der Mythe, so gedacht und bestimmt, wie er that, den Anfang alles menschlichen Denkens, und alle älteste Geschichte enthält, und tausend Dingen dadurch eine andere […] und wahre Gestalt gegeben wird 112

Es folgten die Societätsvorlesungen Historiae scribendae inter Graecos primordia,113 gehalten im März 1799 sowie zwei Abhandlungen, die er, um seinen Zuhörern „fastidium“,114 Überdruss, zu ersparen, nicht in der Societät vortrug, sondern nur in deren Zeitschrift im Jahr 1800 veröffentlichte, nämlich De opinionibus per mythos traditis tanquam altero, secundum historicum, mythorum genere115 und De mythorum poeticorum natura, origine et caussis.116 In der Abhandlung Historiae scribendae inter Graecos primordia setzt er sich wie auch in der ein Jahr zuvor gehaltenen Vorlesung De fide historica aetatis mythicae mit historischen Mythen und den Anfängen der griechischen Geschichtsschreibung auseinander In der nicht verlesenen Abhandlung De opinionibus per mythos traditis erläutert Heyne die Prinzipien der Entstehung von Mythen des genus philosophicum und der ersten Theo- und Kosmogonien, die die Grundlage der Religion darstellen Poetische Mythen und das Entstehen einer frühen griechischen Literatur sowie den Übergang von einem unbewusst-mythischen hin zu einem bewusst-poetischen Sprechen stellt er schließlich in dem Text De mythorum poeticorum natura, origine et caussis dar Heyne vervollständigte somit durch die nicht verlesenen Abhandlungen seine Mythentheorie um die noch nicht in der Societät präsentierten Mythenarten Seine letzte mythentheoretische Schrift, die Societätsabhandlung Sermonis mythici seu symbolici interpretatio,117 gehalten im November 1807, sollte schließlich 110 111 112 113

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Ebd S 468 Vgl Kap 7 6 S 270 [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 468 Ebd Vgl Christian Gottlob Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 14 (1800), Commentationes historicae et philologicae S 121–142 sowie die entsprechende Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 46 St In: GGA 1799 S 449–456 Vgl Christian Gottlob Heyne: De opinionibus per mythos traditis tanquam altero, secundum historicum, mythorum genere In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 14 (1800), Commentationes historicae et philologicae S 143 Vgl ebd Vgl Christian Gottlob Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 14 (1800) S 149–157 Vgl Christian Gottlob Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio ad caussas ductasque inde regulas revocata In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 16 (1808), Commentationes Classis Historicae et Philologicae S 285–323 und die entsprechende Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2009–2016

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als der Beschluß, wo nicht als Resultat, eines Studiums von mehreren Jahren gelten, das er auf die Berichtigung des Begriffs von den alten Mythen, Bestimmung ihres verschiednen Charakters, insonderheit der Griechischen Mythen, folglich auch auf das verschiedene Verfahren zu Auffindung ihres Sinnes, verwendet hatte 118

In der dazugehörigen Rezension verweist er stolz auf das Umdenken in Bezug auf die antike Mythologie, das nicht zuletzt durch ihn eingesetzt hat: „Die Mythen haben ihren Werth und Rang wieder erhalten“ 119 Um seine Überlegungen zum Mythos zu vervollständigen, „blieb nun übrig, für die Deutung und Erklärung der Mythen gewisse Grundsätze und Regeln auszuwerfen“,120 die er in dieser Abhandlung nun ausführlich darlegt 121 Neben den genannten neun Abhandlungen zur eigentlichen Mythentheorie122 im engeren Sinn präsentierte Heyne auch zahlreiche Schriften, in denen er die Entstehung von Religion, bestimmte mythische Stoffe und Erzählungen, religiöse Bräuche oder antike wie primitive Gesellschaften überhaupt erläuterte 123 So behandelte er anlässlich des Todestages Georgs II am 25 Oktober 1763 in der Programmschrift Nonnulla de iudicio, quod defunctis Aegyptiorum regibus subeundum erat das ägyptische Totengericht und den dortigen Pharaonenkult 124 Am 2 Juli 1764 folgte dann die Programmschrift Nonnulla de efficaci ad disciplinam publicam privatamque vetustissimorum poetarum doctrina, in der er das hohe Ansehen antiker Barden und Schriftsteller auf eine besondere Neigung primitiver Menschen zu Gesang und Tanz und die daraus resultierende identitätsstiftende Rolle von festlichen Zusammenkünften zurückführt, bei denen Gesänge vorgetragen wurden 125 Die Sänger und Dichter des Stammes stiegen dadurch so sehr in ihrem Ansehen, dass sie zu Religionsstiftern, Gesetzgebern und

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Ebd S 2009 Ebd Ebd S 2010 Vgl Kap 7 5 S 255–264 Zu den genannten lateinischsprachigen mythentheoretischen Abhandlungen kommen außerdem die beiden Vorreden zum ersten und zweiten Band von Martin Gottfried Hermanns Handbuch der Mythologie aus den Jahren 1787 und 1790, in denen Heyne seine Mythentheorie in deutscher Sprache kurz umreißt, vgl Christian Gottlob Heyne: Vorrede In: Martin Gottfried Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1, Aus Homer und Hesiod, als Grundlage zu einer rüchtigern Fabellehre des Alterthums mit erläuternden Anmerkungen versehen Berlin/Stettin: 1787 14 S ; Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 2 S III–IX 123 Marinos Behauptung, Heyne habe „im Verlaufe seiner mythologischen Forschungen kaum Gegenstände religiösen Charakters“ (Marino: Praeceptores Germaniae S 283) berührt, ist also zu widersprechen 124 Vgl Christian Gottlob Heyne: Nonnulla de iudicio, quod defunctis Aegyptiorum regibus subeundum erat In: Opuscula academica, Bd 1 S 135–153 125 Vgl Christian Gottlob Heyne: Nonnulla de efficaci ad disciplinam publicam privatamque vetustissimorum poetarum doctrina In: Opuscula academica, Bd 1 S 166–183 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 116 St In: GGA 1764 S 937–939

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wie zum Beispiel Orpheus, Linos und Musaios letztendlich mythischen Figuren erhoben wurden Mit einem ähnlichen Thema setzte er sich auch in der Einladungsschrift zum Prorektoratswechsel am 1 Januar 1765 auseinander Unter dem Titel Nonnulla in vitae humanae initiis a primis Graeciae legumlatoribus ad morum mansuetudinem sapienter instituta untersuchte er hier, wie die primitive Ureinwohnerschaft Griechenlands durch Kulturbringer und frühe Gesetzgeber erste Schritte zu einer sittlichen Kultur unternahm 126 Etwa ein Jahr später setzte er sich nach seiner ersten mythentheoretischen Abhandlung in der darauffolgenden Vorlesung vor der Societät am 22 Dezember 1764 mit dem Text De Graecorum origine e septentrionali plaga repetenda suspiciones wieder mit einem mythischen Gegenstand, nämlich mit dem Gründungsmythos der Griechen, auseinander 127 Auch seine nächste Vorlesung in der Societät, gehalten am 15 März 1766, widmete sich der antiken Mythologie In der Abhandlung Musarum religio eiusque origines et caussae untersuchte er die antiken griechischen Musen, von denen er auf die Entstehung von Literatur und Musik in Thessalien und Böotien schließt 128 Dieses Thema griff er in ähnlicher Form im September 1772 nochmals in der Programmschrift Litterarum artiumque inter antiquiores Graecos conditio ex Musarum aliorumque

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Vgl Christian Gottlob Heyne: Nonnulla in vitae humanae initiis a primis Graeciae legumlatoribus ad morum mansuetudinem sapienter instituta In: Opuscula academica, Bd 1 S 207–220 und die entsprechende Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 3 St In: GGA 1765 S 17–19 Vgl Christian Gottlob Heyne: De Graecorum origine e septentrionali plaga repetenda suspiciones In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 8 (1787), Commentationes antiquiores S 20–32 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 154 St In: GGA 1764 S 1240–1244 Aus dem Deukalion-Mythos leitet er hier ab, dass Deukalion, der möglicherweise ursprünglich Skythe war, während oder nach einer großen Überschwemmung, eventuell ausgelöst durch den Durchbruch des Schwarzen Meers, aus Vorderasien nach Griechenland kam, die ursprünglich sehr wild lebende pelasgische Ureinwohnerschaft in Siedlungen gesammelt und in der neuen Niederlassung einige Gesetze, Sitten und Bräuche aus seiner Heimat eingeführt habe Deukalion muss also ebenso wie sein Vater Prometheus ein früher Kulturbringer wahrscheinlich nichtgriechischer Herkunft in Griechenland gewesen sein Vgl Christian Gottlob Heyne: Musarum religio eiusque origines et caussae In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 8 (1787), Commentationes antiquiores S 33–46 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 35 St In: GGA 1766 S 273–276 Heyne beschreibt die Musen hier als „blose symbolische Bilder […] und folglich ihrer Natur nach gleich poetisch“ (ebd S 273 f ) Sie stünden für die menschliche Fähigkeit, Musik und Dichtung zu schaffen Er argumentiert, dass die Gebundenheit der Musen an gewisse Berge im nördlichen und mittleren Griechenland ein deutlicher Hinweis darauf sei, dass der Glaube an die Musen sehr alt sein müsse, weil „Anhöhen und Hügel die ältesten Andachtsplätze gewesen sind“ (ebd S 274), und dass die Landschaften, in denen die Berge der Musen stehen, Böotien und Thessalien, „der älteste Sitz der Religion, der Weltweisheit, der Dichtkunst und der Musik“ (ebd S 275) seien, dass hier „die ersten Barden [lebten]“, sich hier „die ersten gesitteten Gesellschaften [bildeten]“ (ebd ) Folglich müsse hier „der Sitz der meisten Fabeln des Alterthums“ (ebd ) sein Der äolische Stamm, der hier lebte und in Kontakt mit den Thrakern, den „eigentlichen Erfinder[n] oder Stifter[n] der Musik, Dichtkunst, der Weltweisheit und der gottesdienstlichen Gebräuche unter den Griechen“ (ebd S 276), kamen, müsse also „sehr früh, und noch vor den Ionen, unter den Hellenen zu einer grossen Cultur gelanget“ (ebd S 275) sein, was durch deren Erfindung der Musen bestätigt werde

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deorum nominibus muniisque declarata auf 129 Im Juli 1775 setzte er sich in dem Universitätsprogramm De Arcadibus luna antiquioribus mit dem Gründungsmythos der Arkadier auseinander, laut dem die Arkadier älter als der Mond seien 130 Etwa zwei Jahre später, am 19 September 1778, ging es in seiner Societätsabhandlung De maribus inter Scythas morbo effeminatis et de Hermaphroditis Florida um Hermaphroditen, Eunuchen und Transsexualität in verschiedenen Kulturen, vor allem bei den Skythen und den Ureinwohnern Floridas 131 Die Abhandlung widmet sich vor allem der sozialen Stellung der Betroffenen sowie medizinischen Aspekten Die Verknüpfung mit Religion spielt aber auch insofern eine Rolle, als die Ausdeutung des Phänomens als eine göttliche Gabe oder als Fluch in verschiedenen Kulturen, damit verbundene hellseherische Fähigkeiten und bestimmte Riten thematisiert werden Ein knappes Jahr später, am 17 Juni 1779, verlas er in der Societät die Abhandlung De Theogonia ab Hesiodo condita,132 129

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Vgl Christian Gottlob Heyne: Litterarum artiumque inter antiquiores Graecos conditio ex Musarum aliorumque deorum nominibus muniisque declarata In: Opuscula academica, Bd 2 S 299–314 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 117 St In: GGA 1772 S 1001–1005 Aus der Musen- und Apollverehrung leitet er hier Rückschlüsse auf den Zustand der Literatur, Kunst und Wissenschaft in Griechenland ab und deduziert aus den Attributen und Eigenschaften der Musen sowie der Götter Apoll und Merkur, dass „die ganze Wissenschaft und Gelehrsamkeit des damaligen Zeitalters in Musik, Tanz und Poesie bestand, daß man noch keine Buchstabenschrift kannte oder doch aus Mangel einer bequemen Materie, worauf man schreiben konnte, nicht gebrauchte, […] und nicht einmal Prose zu schreiben verstand“ (ebd S 1002 f ), da die drei ältesten Musen, Melete (Übung), Mneme (Gedächtnis) und Aoide (Gesang) nahelegen, dass Wissen schriftlos in Versen weitergeben wurde Diese These bestätige weiterhin der Umstand, dass Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, die Mutter der neun olympischen Musen ist, Apoll als Gott der Wissenschaft die Kithara als Attribut habe und zugleich auch Gott der Musik und Dichtung ist Auf Schriftlichkeit beziehungsweise auf einen verbreiteten und häufigen Gebrauch von Schrift verweisen erst die späteren neun olympischen Musen Vgl Christian Gottlob Heyne: De Arcadibus luna antiquioribus In: Opuscula academica, Bd 2 S 332–353 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 81 St In: GGA 1775 S 689–691 Anlass für die Programmschrift war Heynes eigenen Angaben zufolge, vgl ebd S 689 f ; De Arcadibus luna antiquioribus S 333, der Essai sur les Comètes von Achille Pierre Dionis du Séjour Dieser führte den Gründungsmythos der Arkadier als Beweis für seine These an, dass der Mond ursprünglich ein Komet gewesen sei, der erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit in den Orbit der Erde gelangte, vgl Achille Pierre Dionis du Séjour: Essai sur les Comètes en général, et particulierement sur celles qui peuvent approcher de l’Orbit de la Terre Paris: 1775 S XV Heyne setzt sich in der Programmschrift nun kritisch mit der These, die Arkadier habe es bereits vor dem Mond gegeben, auseinander und kommt zu dem Schluss, dass der alte Name der Arkadier, Proselenoi, am wahrscheinlichsten dahingehend zu deuten sei, dass es die Arkadier bereits gab, bevor in ihrem Siedlungsgebiet ein Mondkult, eine Mondgottheit, Mondbeobachtungen oder ein Mondkalender aufkamen Vgl Christian Gottlob Heyne: De maribus inter Scythas morbo effeminatis et de Hermaphroditis Florida In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 1 (1779), Commentationes Historicae et Philologicae Classis S 28–44 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 123 St In: GGA 1778 S 993–998 Vgl Christian Gottlob Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita, Ad Herodoti lib II c 52 In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 2 (1780), Commentationes Historicae et Philologicae Classis S 125–154 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 777–784

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in der er die Entstehung von Hesiods Theogonie sowie einige darin enthaltene Mythen analysiert, Herodots Behauptung, dass die griechische Religion aus Ägypten stamme, nachgeht und dabei die Entwicklungen der griechischen Religion nachzeichnet Er kommt hier zu dem Schluss, dass einige ihrer Elemente tatsächlich aus Ägypten stammen, der Großteil jedoch andere Ursprünge aufweist Etwa zur selben Zeit, im Juli und September 1779, veröffentlichte er die zweiteilige Programmschrift Vita antiquissimorum hominum Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata 133 Er untersucht hierin, gestützt durch Erkenntnisse aus Reisebeschreibungen, den Prozess früher Religionsgenese 134 In einer Societätsabhandlung von 1781 spielt dann erneut der antike Musenkult eine Rolle In der Vorlesung De Hercule musageta nominisque caussis setzte er sich mit dem Motiv des Herakles als Führer der Musen auseinander 135 Im selben Jahr behandelte er außerdem in der Einladungsschrift De animabus siccis, ex Heraclito placito, optime ad sapientiam et virtutem instructis zum Universitätsjubiläum am 17 September Heraklits Theorie vom Feuer als Urstoff aller Dinge, damit auch der menschlichen Seelen,136 die er als eine frühe Form des Philosophierens darstellt, die noch in der alten Tradition des mythischen, bildhaften Sprechens stand und daher kaum abstrakt sein konnte 137 Im September 1784 und Juli 1785 folgte die zweiteilige Programmschrift Historiae naturalis fragmenta ex ostentis, prodigiis et monstris, in der er die vor allem in Italien verbreitete Praxis der Divination und deren Ursa-

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Vgl Christian Gottlob Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, 2 Teile In: Opuscula academica, Bd 3 S 1–30 und die dazugehörigen Rezensionen [Christian Gottlob Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 801– 807; 121 St In: GGA 1779 S 977–981 Vgl Kap 6 2 S 178–201 Vgl Christian Gottlob Heyne: De Hercule musageta nominisque caussis In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 3 (1781) S XXIII–XXX und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 32 St In: GGA 1781 S 249–252 Er wendet sich hier gegen die euhemeristische Deutung Louis François de Fontenus, der in seiner Dissertation sur Hercule Musagete behauptete, Herakles sei ursprünglich ein bedeutender Astronom, Mathematiker und Dichter gewesen, weshalb ihm der Beiname Musenführer und die Lyra als Attribut gegeben wurde, vgl Louis-François de Fontenu: Dissertation de Hercule Musagete In: Histoire de l’Académie Royale des Inscriptions et Belles Lettres 7 (1733), Memoires de Litterature S 51–68 Heyne hingegen führt den Beinamen auf eine viel spätere Zeit zurück Nach dem Ende des Feldzugs des römischen Konsuls Marcus Fulvius Nobilior im Römisch-Syrischen Krieg habe dieser im Jahr 189 v Chr reiche Kriegsbeute nach Rom gebracht, darunter auch Statuen von Herakles und den Musen Diese stellte er gemeinsam in einem neu errichteten Herakles-Tempel auf, weshalb die Verknüpfung zwischen Herakles und den Musen also eher zufällig entstanden sei Je mehr Feuer bei der Zusammensetzung der menschlichen Seele erhalten bleibe und nicht durch sein Gegenteil, das Feuchte, ‚gelöscht‘ werde, desto ‚trockener‘ sei die Seele Diese ‚trockenen‘ Seelen führten nun dazu, dass deren Besitzer eher zu Tugend und Weisheit neigen Vgl Christian Gottlob Heyne: De animabus siccis, ex Heraclito placito, optime ad sapientiam et virtutem instructis In: Opuscula academica, Bd 3 S 93–107 sowie die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 124 St In: GGA 1781 S 993–997

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chen darstellt 138 1786 wandte er sich schließlich erstmals in einer eigenen Abhandlung antiken Mysterienkulten zu In der Societätsvorlesung Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae beschreibt er diese Geheimkulte als eine spezifische Ausprägung von Religionen in primitiven Gesellschaften, die sich insbesondere durch das Hervorrufen von Trancen durch rhythmische Tänze auszeichnen 139 Im selben Jahr veröffentlichte er außerdem die Programmschrift Demogorgon, seu Demiurgus, e disciplina magica repetitus, in der er sich mit der Entwicklung des Glaubens an einen Schöpfergott niederen Ranges, den Demiurgen, von den Platonikern bis Milton auseinandersetzt 140 Einen speziellen Ritus behandelte er 1804 in der Societätsabhandlung De Babyloniorum instituto religioso vt mulieres ad Veneris templum prostarent 141 Er geht hier der Entstehung des von Herodot im ersten Buch der Historien beschriebenen babylonischen Initiationsritus nach, laut dem sich junge Frauen vor ihrer Hochzeit einmal am Tempel der Mylitta, laut Herodot die Entsprechung der Venus, prostituieren und den Erlös dem Tempel überlassen mussten Heyne deutet den Mythos als Opferritual, der sich aus dem Brauch, dass Frauen zur Ehe verkauft wurden,142 entwickelte143 und laut 138

Vgl Christian Gottlob Heyne: Historiae naturalis fragmenta ex ostentis, prodigiis et monstris, 2 Teile In: Opuscula academica, Bd 3 S 198–215; 255–274 und die entsprechenden Rezensionen [Christian Gottlob Heyne]: 191 St In: GGA 1784 S 1905–1910; 111 St In: GGA 1785 S 1105–1108 Vgl Kap 6 2 S 195 f 139 Vgl Christian Gottlob Heyne: Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae ad loc Strabonis de Curetibus lib X In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 8 (1787), Commentationes historicae et philologicae S 3–24 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 84 St In: GGA 1786 S 833–843 Vgl Kap 7 4 S 250–253 140 Vgl Christian Gottlob Heyne: Demogorgon, seu Demiurgus, e disciplina magica repetitus In: Opuscula academica, Bd 3 S 291–314 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 13 St In: GGA 1786 S 121–127 Heyne untersucht hier die Etymologie des Begriffs sowie die Geschichte der Idee seit Platon über die Platoniker, die Gnostiker, die Mysterien, Laktanz, Boccaccio bis zu John Miltons Paradise lost 141 Vgl Christian Gottlob Heyne: De Babyloniorum instituto religioso vt mulieres ad Veneris templum prostarent ad Herodot I, 199 In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 16 (1808), Commentationes Classis Historicae et Philologicae S 30–42 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 71 St In: GGA 1804 S 697–703 142 Heyne glaubt, dass es zuvor den Brauch gab, dass die Frauen auf einer Art öffentlichen Heiratsmarkt verkauft wurden, damit alle Mädchen verheiratet werden konnten Aus dem Erlös der schnell und teuer verkauften schönen Mädchen soll die Ausstattung der weniger schönen bestritten worden sein, vgl Heyne: De Babyloniorum instituto religioso vt mulieres ad Veneris templum prostarent S 33 f 143 Die Heiratsmärkte seien nach dem Niedergang des Babylonischen Reichs aufgrund verbreiteter Armut aufgegeben worden Besonders die armen Mädchen hätten nun für ihre Aussteuer selbst aufkommen müssen, und da es keine Werkstätten oder Manufakturen gab, in denen sie arbeiten konnten, mussten sie Geld durch Prostitution verdienen Dies hätten sie an Markt- und Festtagen, wenn viele Fremde in der Stadt waren, in der Nähe des Mylittatempels getan Sie seien unter den Schutz des Tempels gestellt worden und mussten dafür eine Abgabe entrichten So erhielten die Mädchen allmählich den Status von besonders Geschützen, Geweihten und Geheiligten und schließlich wurde aus der ursprünglichen Prostitution aus Armut ein Einweihungsritus in die Ehe, dem sich auch die reichen Frauen unterzogen, um den Segen der Göttin Mylitta zu erhalten, vgl ebd S 34–37

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dem die Frauen an bestimmten Festtagen144 ihre Keuschheit der Göttin durch einen Fremden weihen mussten 145 Schließlich wandte er sich im März 1806 mit der Societätsabhandlung De sacerdotio Comanensi omninoque de religionum cis et trans Taurum consensione nochmals den antiken Mysterien und verschiedenen Ausformungen antiker religiöser Verehrung zu 146 Antike Mythologie und Religion spielten darüber hinaus in einigen fachübergreifenden Arbeiten Heynes eine wichtige Rolle 147 So ging er 1772 in der Societätsabhandlung De fabularum religionumque Graecarum ab Etrusca arte frequentatarum natura et caussis der Frage nach, wie es zu Darstellungen griechischer Gottheiten auf etruskischen Funden kommen konnte, und vollzieht die Völkerwanderungen und Koloniegründungen im antiken Italien und damit auch die Verbreitung der griechischen Götter im Mittelmeerraum nach 148 1775 setzte er sich ebenfalls in einer Societätsabhandlung nochmals genauer mit den Glaubensvorstellungen der Etrusker auseinander In der Schrift De vestigiis domesticae religionis patriique ritus in artis Etruscae operibus149 versuchte er von Darstellungen kleiner Figuren in tempelartigen Bauten, den sogenannten Naïskoi, auf, wie er glaubte, etruskischen Vasen,150 Rückschlüsse auf die etruskische Religion abzuleiten Er äußert sich dabei ausgesprochen skeptisch gegenüber jeder Form von Bedeutungsaufladung, da die etruskischen Künstler ihre Vasen bemalten,

144 Herodot berichtet, dass die Frauen zum Teil mehrere Jahre auf einen Freier warten mussten Heyne hält dies für unwahrscheinlich und glaubt vielmehr, dass der Brauch eher zeremoniellen Charakter hatte und an wenigen regelmäßig wiederkehrenden Tagen durchgeführt wurde, vgl ebd S 33 145 Dass Einheimische zu dem Ritual zugelassen waren, kann sich Heyne nicht vorstellen Er glaubt, dies hätte den sozialen Frieden gestört, vgl ebd 146 Vgl Christian Gottlob Heyne: De sacerdotio Comanensi omninoque de religionum cis et trans Taurum consensione In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 16 (1808), Commentationes Classis Historicae et Philologicae S 101–149 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 55 St In: GGA 1806 S 537–547 Vgl Kap 7 4 S 253–255 147 Den Nutzen interdisziplinären Arbeitens betonte Heyne etwa 1783 in seiner Festrede zum 32 Jubiläum der Societät der Wissenschaften Die Klassische Philologie könne dabei vor allem durch das „vitae humanae, rerum publicarum, hominum naturae studi[um]“ (Christian Gottlob Heyne: Allocutio in Anniversariis sollennibus d XVI Novemb CIƆ IƆ CCLXXXII In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 5 (1783), Commentationes Historicae et Philologicae Classis S 133), also durch Geschichte, Politikwissenschaft und Anthropologie befruchtet werden 148 Vgl Christian Gottlob Heyne: De fabularum religionumque Graecarum ab Etrusca arte frequentatarum naturis et caussis In: Novi Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 3 (1773), Commentationes historicae et philologicae S 32–55 und die dazugehörigen Rezensionen [Christian Gottlob Heyne]: 110 St In: GGA 1772 S 937–943; 115 St In: GGA 1772 S 985–988 149 Vgl Christian Gottlob Heyne: De vestigiis domesticae religionis patriique ritus in artis Etruscae operibus In: Novi Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 6 (1776), Commentationes historicae et philologicae S 35–58 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 115 St In: GGA 1775 S 985–989 150 Die Vasen waren jedoch, wie sich später herausstellte nicht etruskischer, sondern griechischer Herkunft, vgl Graepler: Archäologische Forschungsthemen Heynes S 48

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ohne sich etwas bestimmtes dabey zu denken; das heißt: keine bestimmte Gottheit, kein bestimmtes Opfer […]; und so sollte der Antiquarier auch nicht mehreres darinn suchen […]: so sind es doch weiter nichts als Malerfiguren, den leeren Platz auszufüllen, und weiter keine Bedeutung 151

Antike Kunstwerke sind damit für Heyne neben Textquellen eine wichtige Basis für die Rekonstruktion antiker Religion und deren Stellenwert, vor allem in Kulturen oder Epochen ohne schriftliche Zeugnisse, auch wenn hier freilich religiöse Prinzipien nur sehr grob erkennbar werden können Die Grundzüge der etruskischen Glaubensvorstellungen fasste er dann 1776 in der Abhandlung Etrusca antiquitas a commentitiis interpretamentis liberata zusammen 152 1786 hielt er schließlich erneut eine Vorlesung über die Darstellung von antiken Gottheiten vor der Societät, diesmal in Anwesenheit der drei Prinzen von England, die zu dieser Zeit ihr Studium in Göttingen aufnahmen In der Vorlesung De auctoribus formarum quibus dii in priscae artis operibus efficti sunt referiert er über die Herkunft der Ikonographie griechischer Götter, die sich, so Heyne, aus den ursprünglichen pelasgischen „Stamm- Familien und Hausgötter[n], ohne Namen und weitere Bestimmung […] in einer unförmlichen Menschengestalt“153 durch Ausdifferenzierung und Erweiterung der Religion sowie durch die Verarbeitung mythischer Stoffe in Dichtung und bildender Kunst zu Gottheiten mit Eigenschaften, Attributen und einem bestimmten Aussehen heranbildeten 154 Festzuhalten bleibt, dass Heyne seine Mythentheorie hauptsächlich vor der Societät der Wissenschaften vortrug Nimmt man die Texte aus, die sich auf die Homerischen Epen konzentrieren und damit auch der Klassischen Philologie zugeschlagen werden könnten, gliedert sich seine Beschäftigung mit Mythentheorie in zwei Phasen: Gleich zu Beginn seiner Professur in Göttingen legte er seine Überlegungen zum Mythos in zwei Schriften, den Texten Temporum mythicorum memoria und Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis in Grundzügen vor Eine Ausarbeitung erfolgte dann in einer zweiten Phase um 1800, beginnend mit dem Text De fide historica aetatis mythicae (1798) Im Jahr 1807 schließlich gipfeln und enden seine Publikationen zur Mythentheorie mit der regelwerkartigen Anleitung zur My-

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[Heyne]: 115 St In: GGA 1775 S 988 Vgl Christian Gottlob Heyne: Etrusca antiquitas a commentitiis interpretamentis liberata In: Novi Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 7 (1777), Commentationes historicae et philologicae S 17–47 sowie die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 101 St In: GGA 1776 S 857–861 Er betont dabei vor allem die Mantik als einen bedeutenden Teil der etruskischen Religion [Christian Gottlob Heyne]: 123 St In: GGA 1786 S 1226 Vgl Christian Gottlob Heyne: De auctoribus formarum quibus dii in priscae artis operibus efficti sunt In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 8 (1787) S XVI–XXX und die dazugehörige Rezension [Heyne]: 123 St In: GGA 1786 S 1225–1232

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2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen

theninterpretation Sermonis mythici seu symbolici interpretatio. Die übrigen genannten Texte verteilen sich relativ gleichmäßig zwischen diese Kernphasen 2.3 Heynes Rezensionen – eine Analyse Deutliche Hinweise auf Heynes wissenschaftliche Arbeit liefern vor allem auch seine zahlreichen Rezensionen, die er für die GGA155 verfasste Anhand dieser ist zweifelsfrei nachweisbar, mit welchen Texten welcher Autoren sich Heyne definitiv befasste und wie er diese bewertete Da die GGA, wie Heyne selbst betont, einigermaßen das Tagebuch dessen [ist], was ein großer Theil der hiesigen [= Göttinger] Gelehrten […] jeder in der Wissenschaft, die seine Hauptbeschäftigung ausmachte, […] an neuen Schriften gelesen hat,156

und man dadurch „manchen Gelehrten in seiner ganzen Bildung verfolgen“157 kann, soll durch eine nun folgende Analyse dieser Rezensionen158 aufgedeckt werden, wie

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Der Name der Zeitschrift änderte sich im Laufe ihres Bestehens mehrmals Gegründet 1753 als Göttingische Gelehrte Anzeigen, wurde sie 1802 in Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen umgetauft Zwar erfolgte die Publikation aller Rezensionen der GGA anonym, doch ist glücklicherweise ein Schlüssel für die Rekonstruktion der Verfasser überliefert: Der Bibliothekar Jeremias David Reuß vermerkte in seinem persönlichen Exemplar der GGA zwischen 1769 und 1836 die Mehrzahl der Verfasser handschriftlich Er notierte daneben auf dem Vorsatzblatt des ersten Bandes jedes Jahrgangs auch die wichtigsten Mitarbeiter der GGA und zwischen 1778 und 1794 sowie 1805 die Auflagenzahl Sie stieg von 500 auf 600 Exemplare und sank in der napoleonischen Zeit auf 300 ab Neben dem Reuß’schen Exemplar der GGA existieren in Göttingen zwei weitere, in denen ebenfalls die Namen der Rezensenten eingetragen wurden Es handelt sich um Heynes Exemplar mit Eintragungen zwischen 1771 und 1812 und das der Göttinger Akademie der Wissenschaften mit Beischriften von 1760 bis 1803 Auf Grundlage dieser handschriftlichen Vermerke gaben Oscar Fambach und Wolfgang Schimpf Auflistungen der Verfasser der Rezensionen in den GGA zwischen 1760 und 1836 heraus, vgl Oscar Fambach: Die Mitarbeiter der Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1769–1836, Nach dem mit den Beischriften des Jeremias David Reuß versehenen Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen Tübingen: 1976; Schimpf: Die Rezensenten der Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1760–1768 Zuvor hatte bereits Ferdinand Wüstenfeld ein Register der Rezensenten herausgegeben, das Fambach und Schimpf korrigieren und erweitern konnten, vgl Ferdinand Wüstenfeld: Die Mitarbeiter an den Göttingischen Gelehrten Anzeigen in den Jahren 1801–1830 Göttingen: 1887 (= Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-Augusts-Universität Göttingen, 1887, Beilage) Wüstenfeld stützte sich auf die noch vorhandenen Rechnungshefte der GGA, in denen die Honorare mit dem dazugehörenden Beitrag verzeichnet waren, und nicht auf die vorhandenen Exemplare mit den handschriftlichen Beischriften Es ist damit heute durch drei unabhängig voneinander entstandene Register sehr genau bestimmbar, welche Rezensionen von Heyne stammen Christian Gottlob Heyne: Vorrede In: Friedrich Ekkard: Allgemeines Register über die Göttingischen Gelehrten Anzeigen von 1753 bis 1782, Bd 1 Göttingen: 1784 S 8 Ebd S 9 Eine Analyse der Rezensionen führte bereits Marianne Heidenreich durch, vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 263–420 Nach einer kurzen quantitativen

2 3 Heynes Rezensionen – eine Analyse

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Heynes Interessengebiete gelagert waren, auf welche Themengebiete sich seine Rezensionen aufteilen und welche Schwerpunkte er bei seiner Lektüre wann wählte Zugleich mit dem Sekretariat der Societät der Wissenschaften zu Göttingen übernahm Heyne 1770 die Leitung der Redaktion der GGA, der ältesten bis heute bestehenden Zeitschrift im deutschsprachigen Raum Für diese Funktion war er durch sein Amt als Erster Bibliothekar prädestiniert, denn er war damit für den Ankauf der Bücher zuständig159 und „die für die Bibliothek angeschafften Bücher sind in der Regel die, welche in den Anzeigen recensirt werden “160 Doch leitete er die GGA nicht nur 42 Jahre lang bis zu seinem Tod, er war auch der zu seiner Zeit mit großem Abstand produktivste Mitarbeiter Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte er seit seiner Ankunft in Göttingen im Sommer 1763 bis zu seinem Tod 1812 ständig Rezensionen für die GGA Dabei brachte er es in diesem Zeitraum auf insgesamt 6620 Kritiken und 624 Mitteilungen161 – eine enorme Anzahl 162 Im Schnitt publizierte Heyne somit etwa 130 Rezensionen jährlich, wodurch er nach Albrecht von Hallers Tod 1777 derjenige Mitarbeiter der GGA ist, der sowohl jährlich wie auch insgesamt

Auswertung, aus der jedoch keine Aussagen abgeleitet werden, vgl ebd S 263–266, greift sie exemplarisch eine Vielzahl von Beiträgen unterschiedlichster Bereiche heraus und fasst Heynes Kritiken zusammen, vgl ebd S 268–420 Eine erneute Analyse wurde hier durchgeführt, weil Heidenreichs thematische Untergliederung zum einen zu fein erschien – sie unterscheidet 13 Themenbereiche –, um daraus klare Aussagen über Heynes Interessengebiete treffen zu können, zum anderen weil die für diese Arbeit interessanten Beiträge bei ihr nur teilweise untersucht werden 159 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 294 f 160 Ebd S 259 161 Da es neben der Publikation von Rezensionen auch der Zweck der GGA war, „als Annalen der hiesigen [= Göttinger] Universität sowohl als der Gesellschaft der Wissenschaften zu dienen; und das Organ der Einen und der Andern bey dem Publicum zu seyn“ (ebd S 262), wurden in ihnen auch das Universitätswesen betreffende Mitteilungen bekannt gemacht, deren Verfasser Heyne sehr häufig war Diese umfassen in der Regel Todesnachrichten von bekannten Gelehrten und Mitteilungen über personelle Angelegenheiten der Universität, Festakte, Preisverleihungen sowohl der Georgia Augusta und der Societät der Wissenschaften als auch fremder Einrichtungen (also Frageankündigungen und die Bekanntgabe der Gewinner), Berichtigungen von fehlerhaften Rezensionen, den Zustand der Universitätsbibliothek, Schenkungen, Versteigerungen und ähnliche Dinge 162 Die Zählung stützt sich auf das Register von Fambach und Schimpf Heidenreich kommt bei ihrer Zählung auf eine Summe von 6550 Beiträgen inklusive Mitteilungen, vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 263, was sich daraus ergeben dürfte, dass sie die Anzahl der Beiträge zählt und nicht die rezensierten Werke Sammelrezensionen, in denen mehrere Schriften besprochen wurden, zählt sie als 1 Die anschließend vorgenommene thematische Verteilung der Beiträge ist daher insofern problematisch, als Schriften eines Beitrags nur einem Themengebiet zugeordnet werden konnten, auch wenn sich die angezeigten Werke thematisch unterschieden In meiner Zählung gingen angezeigte Werke einzeln ein Ebenso wurden Besprechungen, die sich über mehrere GGA-Nummern verteilten, mitgezählt wie Kritiken einzelner Bände eines Werks, da es darum gehen sollte, aufzuzeigen, mit welchen Werken sich Heyne in wie vielen Rezensionen beschäftigte

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2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen

mit großem Abstand die meisten Rezensionen veröffentlichte 163 Oppermann betont daher, dass „[e]in großer, vielleicht der wichtigste […] Theil […] seiner Wirksamkeit […] in den Göttinger Anzeigen niedergelegt“164 ist, da er hier durch seine Beiträge ein für damalige Verhältnisse enorm großes Publikum erreichen konnte Nach einer groben Rahmenanalyse und einer thematischen Unterteilung der Rezensionen zeigt sich, dass Heyne fast ausschließlich wissenschaftliche Werke rezensierte 165 Den größten Teil der Rezensionen Heynes nehmen mit einer Anzahl von 1834 und einem Anteil von 28 % Kritiken von Ausgaben und Abhandlungen der Klassischen Philologie ein An zweiter Stelle folgen mit 652 Rezensionen (10 %) Werke der Archäologie und Kunstgeschichte, darunter teilweise auch zeitgenössische Kunst und Galeriebeschreibungen Am dritt- und vierthäufigsten rezensierte Heyne mit jeweils etwa 9 % Anteil Werke moderner Philologie, also neusprachliche Grammatiken und Wörterbücher, Belletristik sowie Schriften der allgemeinen Literatur- und Sprachwissenschaft (593 Rezensionen), und Periodika gemischten Inhalts (567 Rezensionen) Zudem nannte er 519 (8 %) Reiseberichte und ethnographische Werke, darunter neben authentischen auch (partiell) fiktive Reiseberichte, bildbandartige Voyages pittoresques und geographische Werke Danach folgen mit 447 Rezensionen (7 %) Werke der neueren Geschichte, allgemeinen Menschheitsgeschichte, Staats- und Zeitgeschichte sowie Staatsphilosophie In Anbetracht dessen, dass Heynes Bibliographie enorm viele Publikationen zur Alten Geschichte aufweist, verfasste er erstaunlich wenige, nur 293 (4 %) Rezensionen zu diesem Fachgebiet Die restlichen 949 Rezensionen mit jeweils eher geringem Anteil verteilen sich auf die Themenbereiche Bibliotheks-, Buch- und Gelehrtenwesen (also Buch- und Messkataloge, Nekrologe und Biographiensammlungen, 284 Rezensionen, 4 %), Pädagogik und Universitätsgeschichte (256 Rezensionen, 4 %), Theologie und Religionswissenschaft (176 Rezensionen, 3 %) und 233 Selbstrezensionen (3,5 %) 166 Weitere 766 Rezensionen (12 %) lassen sich keinem bestimmten Fachbereich zuordnen, etwa Gesamtausgaben von Gelehrten, Nachrufe und Gelehr163

Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 264 Nach der Schätzung von Wilfried Enderle soll von Haller bis zu seinem Tod über 8000 Rezensionen verfasst haben, vgl Wilfried Enderle: Britische und europäische Wissenschaft in Göttingen, Die Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen als Wissensportal im 18 Jahrhundert In: Elmar Mittler (Hg ): „Eine Welt allein ist nicht genug“, Großbritannien, Hannover und Göttingen 1714–1837 Göttingen: 2005 (= Göttinger Bibliotheksschriften, Bd 31) S 164 164 Oppermann: Die Göttinger Gelehrten Anzeigen S 25 165 Der Grund dafür ist nicht nur Heynes offensichtliches Interesse an wissenschaftlichen Gegenständen, sondern auch das Konzept der GGA Es wurden „die für die Bibliothek angeschafften […] Bücher in den Anzeigen recensirt“ (Heeren: Christian Gottlob Heyne S 259) Und da nur „wissenschaftliche Bücher auf die Bibliothek“ kamen, konnte „der Kreis dieser Blätter sich nur auf das Wissenschaftliche beschränken“ (ebd ) 166 Heidenreich wählte bei ihrer thematischen Analyse andere Themenbereiche Sie unterscheidet altertumswissenschaftliche Sammelwerke, griechische und lateinische Philologie, Archäologie, Altertümer, Alte Geschichte, übrige alte Völker, Europa in neuerer Zeit, die außereuropäische Welt, neuere europäische Sprachen, übrige Wissenschaften, Schul-, Universitäts- und Bibliothekskunde,

2 3 Heynes Rezensionen – eine Analyse

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tenviten, oder behandeln Themen, wie etwa Medizin, Jura und Wirtschaft, mit denen sich Heyne ansonsten nur wenig auseinandersetzte Ein chronologischer Längsschnitt167 zeigt, dass Heynes Produktivität in den ersten Jahren seiner Zeit in Göttingen vergleichsweise niedrig war Ein deutlicher Sprung ist ab 1770 zu beobachten – in diesem Jahr übernahm er die Leitung der GGA Während Heyne bis 1770 nie über 100 Rezensionen pro Jahr veröffentlichte, sank deren Anzahl seitdem nur noch selten wieder unter diese Marke,168 lag teilweise sogar deutlich darüber 169 Nach einer Anlaufzeit mit weniger Rezensionen steigerte sich die Anzahl veröffentlichter Kritiken, bis sie Mitte der 1780er Jahre ihren Höhepunkt erreichte und dann wieder leicht zurückging, was dadurch zu erklären sein könnte, dass Heyne vermutlich um 1800 verstärkt an seiner Homer-Ausgabe arbeitete und im Alter möglicherweise sein Arbeitspensum etwas reduzierte Die Anzahl der Mitteilungen blieb während seiner Zeit in Göttingen nach einer Anlaufphase auf etwa gleichem Niveau Bei der thematischen Verteilung der Rezensionen Heynes170 lässt sich für das Fachgebiet, das er mengenmäßig am meisten bearbeitete, die Klassische Philologie, feststellen, dass er hier nach einem stetigen Anstieg seit 1763 am Ende der 1780er Jahre mit Abstand die meisten Werke in den GGA anzeigte Danach fällt diese Intensität leicht ab, bleibt aber noch immer im Vergleich zu den Rezensionen anderer Fachgebiete sehr hoch 171 Nennenswerte Parallelen zwischen der Anzahl der Rezensionen und der Intensität von Heynes eigenen Veröffentlichungen zu diesem Gebiet sind nicht feststellbar Ebenso wenig lassen sich aus den Schriften der allgemeinen Philologie, Literaturwissenschaft und Belletristik Schlussfolgerungen ableiten Zu bemerken ist, dass sie sich ebenso wie die Rezensionen zur Klassischen Philologie mengenmäßig ähnlich wie die Gesamtzahl der Rezensionen verhalten,172 sodass anzunehmen ist, dass sich Heyne nicht beson-

Nachrichten aus der gelehrten Welt sowie Anzeigen eigener Schriften, vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 265 167 Vgl Diagramm 4, Anh S 340 Die Rezensionen wurden hier zu Fünfjahresgruppen geordnet, da eine Ordnung nach Dekaden zu grob erschien, nach Einzeljahren jedoch zu fein, als dass Tendenzen deutlich geworden wären 168 Lediglich in den Jahren 1775 (92), 1777 (83) und 1807 (92) lagen Heynes Rezensionen bei unter 100 169 Die meisten Rezensionen veröffentlichte Heyne in den Jahren 1784 (202), 1786 (224) und 1791 (206) 170 Da es hier darum gehen soll aufzuzeigen, für welche Fachgebiete sich Heyne zu welcher Zeit interessierte, wurden für eine bessere Übersichtlichkeit nur Fremdrezensionen aufgenommen, die sich zu größeren Gruppen ordnen lassen Weil es sich bei Mitteilungen nicht um Rezensionen handelt, wurden diese hier ausgenommen, ebenso wie Periodika, Selbstrezensionen und die Rezensionen, die sich keinem Fachbereich zuordnen lassen beziehungsweise nur in Kleinstgruppen zu ordnen wären Zudem bleiben die Fachgebiete Pädagogik/Universitätswesen und Bibliotheks-/Gelehrtenwesen hier unberücksichtigt, weil sie für die Fragestellung der Arbeit irrelevant sind und ohnehin nur einen kleinen Teil der Rezensionen ausmachen (jeweils etwa 4 %) 171 Vgl Diagramm 5, Anh S 341 172 Vgl Diagramm 6, Anh S 341

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2 Ein Gelehrter zwischen den Disziplinen

ders leidenschaftlich in bestimmten Phasen für Schriften dieser Gebiete interessierte, sondern sich im Verhältnis zur Gesamtzahl immer eine ähnliche Menge an zu rezensierenden Werken zuteilte Aus dem Fachgebiet Alte Geschichte rezensierte Heyne bis Ende der 1770er Jahre verhältnismäßig wenige Schriften, zwischen 1778 und 1792 jedoch umso mehr; 146 von insgesamt 293 Rezensionen, also die Hälfte, fallen allein in diese 15 Jahre Danach sinkt die Anzahl von Rezensionen zur Alten Geschichte wieder deutlich ab 173 Das heißt, in der Phase, in der er selbst besonders viele Schriften zur Alten Geschichte verfasste,174 rezensierte er auch viele Werke dieser Disziplin Da Heyne während seiner Zeit der intensiven Beschäftigung mit Alter Geschichte in seinen Programmschriften in den 80er Jahren stets auch eine Brücke zu Ereignissen der jüngeren oder allgemeinen Geschichte schlug, wäre zu erwarten, dass sich die gleiche Tendenz auch bei seinen Rezensionen auf dem Gebiet der allgemeinen Geschichte und Zeitgeschichte zeigt Und dies ist tatsächlich so Nach einem stetigen Anstieg der Rezensionen auf diesem Gebiet seit dem Beginn seiner Rezensententätigkeit erreichen diese in den 15 Jahren zwischen 1778 und 1792 einen Höhepunkt – mit 198 von insgesamt 447 erschien hier immerhin fast die Hälfte der Rezensionen dieses Gebiets – und gehen dann wieder zurück 175 Im Bereich der Archäologie und Kunstgeschichte zeigt sich ein eher uneinheitliches Bild Besonders intensive Phasen der Auseinandersetzung mit Archäologie fanden hier offensichtlich in den späten 70er und frühen 80er Jahren sowie am Ende von Heynes Leben statt 176 Dies deckt sich nicht ganz mit der Verteilung seiner eigenen Arbeiten auf diesem Gebiet – viele Schriften zur Archäologie veröffentlichte Heyne in den 1770er und 1790er Jahren 177 Eine intensive Beschäftigung mit der Literatur dazu erfolgte also offenbar leicht zeitversetzt Bei Heynes Rezensionen von Schriften zur Theologie und Religionswissenschaft lassen sich folgende Tendenzen beobachten: Nach einer eher geringen Anzahl von Rezensionen bis 1782 steigt diese in den zehn Jahren zwischen 1783 und 1792 an, sinkt dann ab und verzeichnet zum Ende seines Lebens hin wieder einen enormen Zuwachs 178 Allein in seinen letzten fünf Lebensjahren verfasste er 53 Kritiken zu diesem Thema, das ist etwa ein Drittel aller Rezensionen, die er zu diesem Gebiet schrieb Die Kurve dieser Rezensionen deckt sich außerdem nicht mit der Verteilung aller Rezensionen, sodass davon ausgegangen werden muss, dass Heyne die Werke dieses Fachs interessengeleitet wählte Reiseberichte, ethnographische und geographische Werke hingegen rezensierte er vor allem zwischen 1778 und 1792 179 Der ausgesprochen starke Anstieg spricht auch hier für eine interessengeleitete Lektüre Vergleicht man diese Tendenzen mit der Anzahl seiner 173 174 175 176 177 178 179

Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl

Diagramm 7, Anh S 342 Kap 2 1 S 21 Diagramm 8, Anh S 342 Diagramm 9, Anh S 343 Kap 2 1 S 21 f Diagramm 10, Anh S 243 Diagramm 11, Anh S 244

2 3 Heynes Rezensionen – eine Analyse

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Veröffentlichungen zur Mythentheorie, fällt schließlich auf, dass Heyne einen großen Teil davon in den Jahren nach dem Hoch von Rezensionen zur Religionswissenschaft und Ethnographie in den 80er und frühen 90er Jahren verfasste Eine Beeinflussung seiner Forschung durch seine Lektüre ist also hier sehr wahrscheinlich 180

180 Zu einer Aufstellung der von Heyne rezensierten Werke vgl Haase: Christian Gottlob Heyne (1729–1812) S 34–170, wobei hier leider etliche Beiträge fehlen

Kapitel 3 Mythenkonzepte vor Heyne Zur Begriffs- und Theoriegeschichte eines umstrittenen Teils unserer Kulturgeschichte 3.1 Μῦθοι im antiken Griechenland Der Begriff Mythos stammt ursprünglich aus dem Altgriechischen und ist hier bereits in den ältesten schriftlichen Quellen überliefert In den Homerischen Epen wird das Wort μῦθος im Sinne von Wort oder Rede gebraucht, ohne dass dabei ein etwa nicht vorhandener Wahrheitsgehalt eine Rolle spielt Oft treten daher Verbindungen wie „ποῖον τὸν μῦθον ἔειπες“, „πρὸς μῦθον ἔειπε“ oder „μύθων ἦρχε“ auf 1 An einigen Stellen wird das griechische μῦθος auch in der Bedeutung Versprechen,2 Ratschlag3 oder Beschluss4 verwendet Der Wortsinn ‚erdichteter Erzählstoff ‘ oder ‚religiöse Vorstellung‘ spielt jedoch in den Homerischen Epen noch gar keine Rolle Der Begriff μῦθος in seiner Bedeutung als erdichtete Erzählung tritt zuerst im sechsten vorchristlichen Jahrhundert bei Pindar auf 5 Bei den Tragikern erscheint das Wort noch oft in der Bedeutung Wort oder Rede,6 häufig wird es auch im Sinne des Inhalts der Rede oder Geschichte verwendet 7 In antiken Prosatexten enthält das Wort μῦθος recht deutlich die Nebenbedeutung erdichtete, fabelhafte Erzählung Es handelt sich so etwa in Platons Texten zumeist um erfundene Geschichten oder märchenartige Erzählungen 8 Μῦθοι stehen daher bei Platon bereits im Gegensatz zu λόγοι, die je nach Kontext eine Rede oder einen Vortrag bezeichnen, aber immer einen vorhandenen, in der Regel sach-

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Übersetzungen: „Was für ein Wort sagtest du?“, „Er sagte“, „Er ergriff das Wort “ Vgl Hom Il 5, 715 Vgl ebd 12, 80 Vgl Hom Od 4, 675; Hom Il 1, 545 Vgl Pind Od 1, 29; Pind N 8, 33; Pind N 7, 23 Vgl Aesch Prom 505; ebd 641 f ; Soph Phil 1417 Vgl Aesch Pers 713; Eur El 346 Vgl Plat Rep I, 350e; Plat Polit 268e

3.1 Μῦθοι im antiken Griechenland

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lich bedingten Wahrheitsgehalt ohne fiktive Elemente aufweisen 9 Zudem entwickelt sich das Wort μῦθος bei Platon zu einem Begriff für literarische Texte, indem er die Dichtungen Aesops – also Tierfabeln – mit diesem Begriff benennt 10 Platon versteht neben dieser Bedeutung aber auch bereits Göttergeschichten, die Teil der antiken griechischen Religion sind, unter dem Wort μῦθος 11 Für Platon sind μῦθοι also nicht mehr wie für die Dichter der Homerischen Epen Erzählungen jeder Art, sondern vielmehr erfundene Geschichten, deren Wahrhaftigkeit viele Menschen jedoch nicht bezweifeln Platons Texte offenbaren daher ein differenziertes Bild von der eigenen Religion und einen μῦθος-Begriff, der an Schärfe gewinnt und die Grundlage für den modernen Mythosbegriff darstellt Das Wort μῦθος wies also bereits im Altertum ein breites Sinnspektrum auf Dieses oszillierte zwischen der Bedeutung einfachen Sprechens ohne weitere Einschränkungen bis hin zu dem Literaturgenre der Tierfabeln, das im deutschen Sprachraum erst rund 2000 Jahre später sprachlich von den religiösen Vorstellungen und Heldenepen der Antike unterschieden wurde Das Wort schien dabei bereits in der Antike einen Bedeutungswandel erfahren zu haben Bezeichnete es noch in der Zeit der Entstehung von Ilias und Odyssee einen Bericht, ein Versprechen, einen Ratschlag oder Beschluss, in jedem Fall aber nichts bewusst oder unbewusst Erfundenes, scheinen wenige Jahrhunderte später fiktive Elemente ein fester Bestandteil eines μῦθος zu sein Doch sind nicht nur die sprachlichen Fundamente des Begriffs in der Antike zu finden Auch das Nachdenken darüber, was Mythen sind und wie sie gedeutet werden können, hat hier seine Anfänge Dabei festigten sich zwei Strategien, mit den überlieferten Erzählstoffen umzugehen: Man verstand sie entweder in der Tradition der antiken Rhetoriker und Grammatiker als fiktive Geschichten ohne Wahrheitsgehalt oder aber wie die Stoiker und Neuplatoniker allegorisch als Verschleierungen historischer, physikalischer oder moralischer Wahrheiten 12 Zu letztem ist auch der Euhemerismus zu zählen, erstmals nachweisbar bei Euhemeros von Messina (3 Jahrhundert 9 10 11

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Vgl Plat Prot 320c; Plat Tim 26 e; Plat Phaed 61 b Vgl ebd ; ebd 60c So schreibt Platon in seiner Schrift Nomoi über den Ganymedmythos: „πάντες δὲ δὴ Κρητῶν τὸν περὶ τὸν Γανυμήδη μῦθον κατηγοροῦμεν, ὡς λογοποιησάν των τούτων·“ (Plat Leg 363c Übersetzung: „Wir alle beschuldigen aber daher die Kreter, die Geschichte (μῦθος) über Ganymed erfunden zu haben “) In seinem Werk Politeia reflektiert er über die Vorstellungen, was mit dem Menschen nach seinem Tod geschieht: „οἵ τε γὰρ λεγόμενοι μῦθοι περὶ τῶν ἐν Ἅιδου, ὡς τὸν ἐνθάδε ἀδικήσαντα δεῖ ἐκεῖ διδόναι δίκην, καταγελώμενοι τέως, τότε δὴ στρέφουσιν αὐτοῦ τὴν ψυχὴν μὴ ἀληθεῖς ὦσι·“ (Plat Rep I, 330df Übersetzung: „Und die Geschichten (μῦθοι) aber, die über die in der Unterwelt erzählt werden, dass der, der hier Unrecht getan hat, dort eine Buße tun muss, die bis dahin verlacht wird, werden dann sogleich ihren Sinn kreisen lassen, ob sie nicht wahr sind “ Vgl ausführlich zur Mythenauslegung in Antike und Mittelalter Gruppe: Geschichte der klassischen Mythologie und Religionsgeschichte S 1–26; de Vries: Forschungsgeschichte der Mythologie S 1–66; Jon Whitman: Allegory, The Dynamics of an Ancient and Medieval Technique Cambridge: 1987; Luc Brisson: Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd 1, Antike, Mittelalter und Renaissance Darmstadt: 1996; Wolfgang Bernhard: Zwei verschiedene Methoden der Alle-

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

v Chr ), laut dem in den Götter- und Heroenerzählungen ins Unrealistische verschobene historische Ereignisse zu suchen sind Antike Mythen entwickelten sich auf diese Weise zu einem Sammelsurium verschiedenster Stoffe, die nach vergleichsweise simplen Erklärungsmustern gedeutet werden konnten, ohne dass man sich weiter um ihre Entstehung kümmern musste – man sah in ihnen eher Rätsel, deren Bedeutung ohne weiteres entschlüsselt werden konnte, oder schlicht unsinnige Märchen Diese seit der Antike gängige Praxis der Mythenauslegung führte schließlich dazu, dass der Prozess der Deutung umgekehrt wurde Seit dem Neuaufleben des Interesses an der Antike im Zuge der Renaissance deutete man Mythen nicht mehr nur, sondern nutzte sie nun auch als produktives künstlerisches Darstellungsmuster, mit dem Bedeutungen und Aussagen kunstvoll verdeckt werden konnten Durch unzählige Darstellungen mythischer Stoffe in Literatur, Musik und bildender Kunst, bei denen es nie um die mythischen Inhalte an sich, sondern stets um die durch sie verdeckten Botschaften ging, wurde die antike Mythologie zu einem konventionellen künstlerischen Mitteilungscode und damit so präsent, dass eine neue Auseinandersetzung mit ihr notwendig wurde 3.2 Mythen und Fabeln im 16. und 17. Jahrhundert 3 2 1 Fabulae und das pantheum mythicum bei François Antoine Pomey Bis ins 17 Jahrhundert war die Bewertung verschiedener religiös-mythischer Erzählungen noch relativ unproblematisch Unterteilt wurde lediglich in wahre und falsche Ursprungs- und Götterberichte, wobei nach christlicher Apologetik alle heidnischen Mythen als Idolatrie gelten Dementsprechend werden der heidnische Glaube und die antiken römischen und griechischen Göttererzählungen nicht als Religionen ernstgenommen, oft als Albernheiten und Kuriositäten belächelt oder gar als Ketzerei verteufelt Dennoch fragt man sich auch schon zu dieser Zeit, wie jener ‚Irrglaube‘ entstehen konnte Mit diesem Thema setzte sich der französische Jesuit und Professor für Rhetorik François Antoine Pomey (auch Pere oder Franz Pomey, Pomai oder Pomay, 1618–1673) in seiner Schrift Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia13 von 1671 auseinander und kann somit als Vorläufer späterer Mythentheorien gelten Der Kern dieser dialogischen Abhandlung ist eine umfassende Darstellung und Erklärung der römischen Götterwelt, doch wird eingangs auch die Frage nach der „idolatriae origo“14 berührt Im Gegensatz zur christlichen Religion beruht der heidnische

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gorese in der Antike In: Horn/Walter (Hg ): Die Allegorese des antiken Mythos in der Literatur S 63–83 François Antoine Pomey: Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia Venedig: 1671 Ebd S 1

3 2 Mythen und Fabeln im 16 und 17 Jahrhundert

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Glaube für Pomey nicht auf einer Gottesoffenbarung, sondern auf Einfalt und Fiktion, sodass die antike Religion hier nur als falsche Religion, Ketzerei und Irrglaube aus Unwissenheit erscheinen kann 15 Die Hauptursache für das Entstehen dieser falschen Religion sieht Pomey dabei in einer Verehrung für Menschen mit besonderem sozialem Status, vor allem für Herrscher, die sich bis ins Religiöse steigern konnte Durch eine immer weiter getriebene Huldigung wurden die ursprünglich historischen Personen zu Göttern erhoben, indem man ihnen Altäre und Bildnisse weihte, durch die ihnen Unsterblichkeit gesichert werden sollte 16 Diese Art der Götterentstehung sei zuerst unter Ninus, dem ersten Assyrerkönig und Gründer der Stadt Ninive aufgekommen, als dieser nach dem Tod seines Vaters, dem mythischen Begründer Babylons Belos beziehungsweise Nimrod,17 für diesen eine Statue errichtete, die besonders geehrt, zu einem besonderen Schutzraum und dadurch zu einer Zufluchtsstätte erklärt wurde Nach und nach glaubte man, es handele sich bei Belos-Nimrod um eine Gottheit, der im Laufe der Zeit auch andere Heiligtümer geweiht und neue Namen, nämlich Iovis und Saturnus Babylonius gegeben wurden 18 Einmal entstanden, habe die „sacrilega lues Idolorum“,19 die gottlose Seuche der Götzenbilder, in der Folge auf andere Länder übergegriffen und sich weit im Mittelmeerraum und in Vorderasien verbreitet Es wurden hier neue Götter erfunden, die zum Teil ebenfalls auf wirklichen Menschen, zum Teil aber auch auf Tieren, Gegenständen und den Elementen basierten So wurden beispielsweise in Afrika der Himmel verehrt, das Feuer, der Wind und das Wasser in Persien, Sonne und Mond in Libyen oder das Schaf und das Wiesel in Theben; selbst Porree, Zwiebeln und Knoblauch hätten als Gottheiten gegolten 20 Insofern deutet Pomey die heidnischen Gottheiten sowohl euhemeristisch als historische Ereignisse und Personen als auch ätiologisch als Allegorien und Symbole Allerdings verfolge ein Volk nicht nur die eine oder die andere Strategie bei der Erfindung seiner Götter, weshalb Pomey für die Entstehung der römischen Götter, um die es im Hauptteil des Pantheum mythicum geht, unterschiedliche Deutungsansätze anbietet Er identifiziert beispielsweise ganz euhemeristisch Jupiter mit einem kretischen König, ähnlich wie Abraham 21

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Vgl ebd S 1 f Vgl ebd S 2 f Eine ähnliche These vertritt später auch Heyne; auch er betont, dass ein Göttermythos durch die Bewunderung eines Menschen entstehen kann, wenn sie im Laufe der Zeit bis hin zu religiöser Verehrung gesteigert wird, vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 187 f Allerdings äußert sich Heyne viel weniger wertend als Pomey, vgl Kap 7 2 S 229 Ninus wird mittlerweile meist mit Nimrod identifiziert, sodass Nimrod sowohl Ninive als auch Babylon gegründet haben soll, vgl Christoph Uehlinger: Nimrod In: Karel van der Toorn u a (Hg ): Dictionary of deities and demons in the bible Leiden u a : 1995 Sp 1181–1186 Vgl Pomey: Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia S 3 f Ebd S 4 Vgl ebd Dieser kretische König soll sich nach dem Sieg über seinen Vater die Herrschaft mit seinen beiden Brüdern Neptun und Pluto geteilt haben, und da Jupiter durch das Los die östlichen Gebiete,

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

Ätiologisch hingegen wird die Entstehung des Gottes Apoll gedeutet Dieser sei nichts anderes als die Sonne, die zu einer Gottheit personifiziert wurde 22 Auch wenn Pomey mit seiner Schrift Pantheum mythicum einen sehr umfassenden23 und detaillierten Führer durch die antike römische Mythologie vorlegte, dessen Erklärungen durchaus einen nach damaligen Maßstäben hohen Anspruch zeigen,24 wird doch immer wieder deutlich, dass Pomey dem Dogma seiner Zeit gemäß den antiken römischen Glauben als Irr- und Aberglauben ansah und ihn somit als Religion nicht ernst nehmen konnte Doch indem er sich auf einem für seine Zeit sehr hohen wissenschaftlichen Niveau mit antiker Mythologie auseinandersetzt und auf weitgehend

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Pluto die westlichen und Neptun die Küsten zugefallen waren, wurden Jupiter, Pluto und Neptun erst zu den Herrschern, dann zu den Göttern des Himmels, der Unterwelt und des Meeres, vgl ebd S 26 Ebenfalls euhemeristisch identifiziert Pomey Mars mit dem Thrakerkönig Tereus, vgl ebd S 81 Gleich mehrere Erklärungsvarianten bietet er für die Entstehung von Bacchus an, wobei er im Dunkeln lässt, ob sich der Bacchusmythos seiner Meinung nach aus mehreren Quellen entwickelt hat, die verschiedenen Erzählungen dann zu einem Mythos verwachsen sind und somit bei der Mythenentstehung Polygenese vorliegen kann, oder ob nur einer seiner Ansätze als richtig einzustufen ist, aber nicht entschieden werden kann, welcher dies ist So können sich hinter dem Weingott zwei historische Personen verbergen: Mit Nimrod und Moses nennt er hier zwei alttestamentarische und zur Entstehungszeit von Pomeys Schrift unumstritten historische Figuren als Grundlage für die Erfindung dieser Gottheit Eine ätiologische Ausdeutung erfährt der Mythos, indem Pomey ihn als Symbol für die Trunkenheit interpretiert, was er vor allem aus den Beinamen des Bacchus herleitet, zum Beispiel Nudus, der Nackte, oder Hilarus, der Vergnügte, vgl ebd S 69–74 Auch für Saturn entwickelt Pomey zwei Erklärungsvarianten Einerseits sei es möglich, dass Saturn in Wahrheit Noah sei, andererseits könne Saturn auch symbolisch für die Zeit stehen, was sich etymologisch schon allein aus seinem griechischen Pendant Kronos ergäbe, das von dem griechischen Wort für Zeit, χρόνος, abgeleitet sei, vgl ebd S 143–146 Dafür sprächen vor allem die vier Fähigkeiten, Eigenschaften und Attribute, die Apoll zugesprochen werden und auch auf die Sonne zuträfen, nämlich zum einen die Fähigkeit der Weissagung, die in dem alles erhellenden Sonnenlicht ihre Entsprechung finde, zum anderen die Fähigkeit des Heilens, die bekanntlich auch die Sonne habe, dann die Pfeile, mit denen Apoll meist dargestellt wird, die wie Sonnenstrahlen auch entfernte Orte erreichen, und schließlich Apolls Funktion als Gott der Musik, die auch der Sonne nicht fremd sei, da sie als Mittelpunkt der Planeten den rhythmischen Umlauf der Planeten vorgebe – nicht umsonst entspräche schließlich die Anzahl der Saiten auf Apolls Cithara – nämlich sieben – genau der Anzahl der (damals bekannten – Uranus wurde erst 1846 entdeckt) Himmelskörper, vgl ebd S 40 f Zudem würden auch die Tiere und Pflanzen, die Apoll geopfert werden oder geheiligt sind, dessen eigentliche Identität als die Sonne verdeutlichen Pomey nennt hier Olive und Lorbeer, die nur in sonnenreichen Gegenden wachsen, Schwäne, Greifvögel und Raben, da auch sie die Fähigkeit der Weissagung besäßen, deshalb wüssten, was sie nach dem Tod erwartet und aus diesem Grund mit Gesang und Freude stürben, den Falken, weil er wie die Sonne sehr scharfe Augen habe, den Hahn, weil er die Ankunft der Sonne meldet, und die Zikade, da auch sie wie die Sonne einen Rhythmus angäbe, vgl ebd S 41 Ebenfalls ätiologische Deutungen bietet er für Juno an Diese sei entweder ein Symbol für die Erde oder für die Luft, vgl ebd S 92 f Minerva stehe für Weisheit und Keuschheit, vgl ebd S 101–104, Venus für Schönheit und Verlangen, vgl ebd S 124–126 Das Werk umfasst mit Index immerhin 377 Seiten Der hohe Anspruch des Werks wird daran deutlich, dass Pomey häufig mehrere Erklärungsvarianten, die er offenbar in verschiedenen Texten fand, darstellt, sehr viele antike Autoren und das Alte Testament in seine Erklärungen einbezieht und seinen Text mit Fußnoten und genauen Literaturangaben versieht

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rationale Art und Weise nach Gründen und Ursachen für diesen in seinen Augen irrationalen Aberglauben sucht, räumt er ihr doch einen erheblichen Stellenwert ein Obwohl sich Heyne in keiner seiner wissenschaftlichen Schriften direkt auf Pomeys Werk bezieht, steht doch fest, dass ihm das Pantheon mythicum bekannt war In einer seiner Rezensionen aus dem Jahr 1770 berichtet er nämlich recht ausführlich von einer Gesellschaft in Russland, die Übersetzungen verschiedenster Werke ins Russische förderte und dazu Listen mit übersetzungswürdigen Werken veröffentlichte Auf einer dieser Listen befindet sich laut Heynes Rezension auch „das elende Pantheon mythicum vom Pomey“ 25 Heyne kannte das genannte Werk also definitiv, auch wenn er ganz offensichtlich keine allzu hohe Meinung davon hatte Auch in einer anderen Rezension Heynes wird Pomey genannt; es handelt sich hierbei um eine Kritik zu Christoph Seybolds Einleitung in die Griechische und Römische Mythologie der alten Schriftsteller für Jünglinge, deren Kupferstiche laut Heyne „doch besser als im Pomey“26 sind Somit kann Pomey als direkter Vorläufer Heynes gelten, der ihn mit Sicherheit in seinen Ansichten über den antiken Mythos beeinflusste, wenn auch nur als ein negatives Beispiel, wie man sich mit antiker Mythologie nicht auseinandersetzen sollte 3 2 2 Fables bei Antoine Banier Einen weiteren bedeutenden Gelehrten, der die Diskussion darüber, was Mythen sind und wie sie zu deuten sind, bis Heyne beeinflusste, ist der französische Geistliche und Altertumsforscher Antoine Banier (1673–1741) mit seinen Werken Explications historiques des fables27 von 1711 und La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire28 von 1738–1740 29 Er erklärt darin wie von der Hardt30 in euhemeristischer Tradition die griechische und römische Mythologie rationalistisch mit historischen Ereignissen und versucht vor allem in seinem seitenreichen Buch Mythologie et les fables expliquées

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[Christian Gottlob Heyne]: 84 St In: GGA 1770 S 725 [Christian Gottlob Heyne]: 35 St In: Zugabe zu den GGA 1779 S 557 Zwar geht aus dieser Rezension nicht mit Sicherheit hervor, dass sich Heyne hier auf Pomeys Pantheon mythicum bezieht, doch legt dessen thematische Nähe mit dem besprochenen Werk dies nahe, sodass als es als sehr wahrscheinlich gelten kann, dass Heyne hier dieses Werk Pomeys meint Antoine Banier: Explication historique des fables, ou l’on decouvre leur origine et leur conformité avec l’Histoire ancienne, et où l’on rapporte les époques des Héros et des principaux évenemens dont il est fait mention, 2 Bde Paris: 1711 Antoine Banier: La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire, 3 Bde Paris: 1738–1740 Das frühere zweibändige Werk ist Baniers eigener Aussage zufolge nur ein erster Versuch gewesen, vgl Banier: La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire, Bd 1 S III Eine Überarbeitung folgte also in dem späteren Werk Daher wird im Folgenden letztes sozusagen als die Theorie letzter Hand betrachtet Ausführlich zu Baniers Mythentheorie vgl Gockel: Mythos und Poesie S 32–39 Zu von der Hardts Mythentheorie vgl Kap 3 2 5 S 74–82

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par l’histoire den wahren historischen Kern in den antiken mythischen Erzählungen zu extrahieren und mit dem Alten Testament in Einklang zu bringen,31 wodurch die antiken Mythen einerseits aus geschichts-wissenschaftlicher Perspektive interessant gemacht werden, ohne dass die christliche Orthodoxie in Frage gestellt werden musste Mit diesem Mythenverständnis prägte er die religionsgeschichtliche Konzeption der Académie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres 32 Bei Banier wird der antiken Mythologie eine fundamentale Wichtigkeit für das Verständnis moderner Kultur zuerkannt: Durch unzählige antike Statuen, Reliefe und Monumente sowie durch moderne Kunst und Literatur, die auf diese Stoffe Bezug nehmen, werde „le souvenir de ces anciennes fictions“33 aufrecht erhalten Folglich sei es zugleich nützlich und notwendig, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sie zu verstehen 34 Banier versucht daher, der antiken Mythologie ihren Irrationalismus zu nehmen, indem er ihr auf wissenschaftlichem Niveau Sinn verleiht und ihren Wert für die Geschichte hervorhebt Er sieht in den fables35 folglich nicht „pures fictions“;36 vielmehr sind sie bei ihm „Histoire cacheé sous l’enveloppe de la Fable“,37 wahre Berichte historischer Begebenheiten, die, ähnlich wie später bei Heyne, von einem rohen, unkultivierten Volk, „un Peuple grossier, & vagabond, sans Loix, sans Politesse, & presque sans Religion“,38 mündlich tradiert wurden Die Götter, die in diesen Erzählungen vorkommen, seien daher nicht als religiös oder philosophisch motivierte Allegorien oder Symbole zu verstehen – dies war nicht „le premier objet de ceux qui les on inventées“39 –, sondern als historische Personen Jedoch erkennt auch Banier bereits, dass fables verschiedene Funktionen aufweisen können, und unterscheidet insgesamt sechs Fabelarten: „des Fables Historiques, Philosophiques, Allégoriques, Morales, Mixtes, & inventées à plaisir“ 40 Die historischen fables seien mit Abstand der größte Teil, zu ihnen sind etwa die Erzählungen über Herakles und die Argonautenfahrt zu zählen Philosophische fables seien als Gleichnisse erfunden worden, um philosophische Spekulation darin einzukleiden, wie etwa die Vorstellung, dass das

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Diese Harmonisierungsversuche mit christlicher Dogmatik spielen vor allem in den Kapiteln über die Theo- und Kosmogonien eine große Rolle, vgl Banier: La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire, Bd 1 S 75–121 Vgl Ernst Müller: Mythos/mythisch/Mythologie In: Karlheinz Barck u a (Hg ): Ästhetische Grundbegriffe, Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd 4 Stuttgart/Weimar: 2002 S 314 f Banier: La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire, Bd 1 S I Vgl ebd S II; 1 f Banier verwendet konsequent den Terminus fable Da es in diesem Kapitel um Baniers Vorstellungen von Mythen geht, die nicht durch eine Übersetzung vorinterpretiert sein sollen, wird hier der originalsprachliche Ausdruck des Autors verwendet Selbiges gilt für alle nachfolgenden Kapitel Ebd Ebd S II f Ebd S VIII f Ebd S VII Ebd S 28 f

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Meer der Vater der Flüsse sei Allegorische fables seien ebenfalls solche Gleichnisse, allerdings um einen mystischen Sinn darin zu verbergen, und dienten wie auch die ebenfalls bewusst erfundenen moralischen fables dazu, Moral zu vermitteln Daneben gebe es auch noch Mischtypen und fables, die aus reinem Vergnügen verfasst wurden 41 Baniers Ausführungen erinnern hier zwar stark an Heynes Mythensystematik, er überführt diese Untergliederung jedoch noch nicht wie Heyne in ein System gleichwertiger Mythentypen Deutet Banier mythische Erzählungen auch nicht ganz so konsequent euhemeristisch wie von der Hardt, so haben bei ihm die fables historiques ein dennoch eindeutiges Übergewicht: Er glaubte nämlich in beinahe allen fables einen wahren historischen Kern erkennen zu können 42 Dieser Großteil der antiken Mythologie ist bei ihm durch einen langen Prozess mündlicher Überlieferung entstanden, indem historische Ereignisse durch bewusstes allegorisches und metaphorisches Sprechen über die handelnden Personen bei der Überlieferung ins Unrealistische verzerrt und überhöht wurden Er betrachtet die unrealistischen Elemente in den antiken mythischen Erzählungen als „allégories, comme des métaphores & des expressions figurées, qui on été ajoutées pour marquer les caracteres des personnes dont on veut parler“ 43 So sei etwa Atlas ein König gewesen, der sich für Astronomie interessierte; um dies nach der gewohnten antiken Art allegorisch auszudrücken, habe man erzählt, er trage den Himmel auf seinem Rücken 44 Solche Erzählungen waren für die Griechen von enorm hoher Bedeutsamkeit, da sie einen wichtigen Teil ihre Identität, ihre Geschichte, bildeten; die Taten ihrer Vorfahren wollten sie daher durch Übertreibungen und poetisches Erzählen noch bedeutender machen 45 Sie wurden ständig wiederholt und wegen der typisch antik-griechischen Freude an nichtwörtlichem Sprechen immer wieder durch neue allegorische Erweiterungen folglich immer mehr entstellt Da die Griechen noch keine Schrift besaßen, habe man historische Begebenheiten mündlich weitergeben müssen und nicht schriftlich fixieren können Man wandelte daher die überlieferten Stoffe ab, füllte Lücken durch Erfindungen, deutete Vorhandenes immer wieder um 41 42

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Vgl ebd S 4 f Banier schreibt dazu: „Généralement parlant, il y a très-peu de Fables dans les anciens Poëtes, qui ne renferment quelques traits d’Histoire“ (ebd S 30) Fables, die Heynes philosophischem Mythentyp entsprechen, handelt Banier vergleichsweise kurz ab, vgl ebd S 42–44 Er merkt an, dass es auch fables gebe, die aus Unwissenheit über die Ursachen bestimmter Naturphänomene resultierten Um also etwa die Sonne oder Witterung zu erklären, erfanden die antiken Menschen eine Gottheit, die durch Rituale besänftigt werden konnte Ebenso wurden einzelnen Quellen und Flüssen Schutzgottheiten zugeschrieben Priester und Dichter erfanden schließlich Erzählungen um die angebeteten Gottheiten, sodass diese „pitoyable Philosophie“ (ebd S 44) immer weiter zu einer komplizierten Religion mit sehr vielen Gottheiten ausgebaut wurde Im Grunde tauchen diese Gedanken so ähnlich wieder bei Heyne auf, nur dass er das Verhältnis zwischen einer solchen primitiven Philosophie und historischen Ereignissen in den Mythen als deutlich ausgewogener betrachtet, vgl Kap 7 2 S 221–236 Banier: La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire, Bd 1 S 23 Ebd S 24 Vgl ebd S 51

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und schuf auf diese Weise phantastische Erzählungen, hinter denen sich ein historischer Kern verbirgt Ähnlich wie bei von der Hardt erscheinen Mythen bei Banier also als Produkte symbolisch-allegorischen Sprechens im Zuge von Geschichtsüberlieferung, jedoch mit etwas unterschiedlicher Akzentuierung Während von der Hardt in den antiken Mythen eine anspruchsvolle Kunstdichtung erkennt, sind sie bei Banier eher Produkte langfristiger Volksdichtung auf relativ niedrigem Niveau Heyne kannte Baniers historische Mythenauslegung nachweislich: 1766 rezensierte er in den GGA den vierten und fünften Band einer deutschen Übersetzung 46 Aus der Rezension geht klar hervor, dass Banier für Heyne keineswegs einen Meilenstein im Nachdenken über antike Mythen darstellte Im Gegenteil, es könne an und für sich nur in so fern als ein Hauptbuch in dieser Gattung von antiquarischer Kenntniß angesehen werden […], weil wir kein besseres haben, und sich auch keines leicht so bald erwarten läßt 47

Heyne hebt zwar positiv hervor, dass nun in Bezug auf „die ganze älteste Geschichte Griechenlands vom Banier […] die allgemeinen und nützlichsten Begriffe“48 dargelegt wurden, bemängelt aber stark den Leichtsinn und die seichte Gelehrsamkeit des Franzosen, der blos die neuern mythologischen Schriften plündert, selten aber um die Quellen […] bekümmert gewesen ist, der ferner das zusammengetragne nicht sowohl mit philosophischen Augen betrachtet, sondern blos mit einem lebhaften Witze in eine gewisse Verbindung, und mit Hülfe mancher Voraussetzung oder künstlichen Einkleidung und Ausschmückung in ein scheinbares System gebracht hat, das doch nur zum Theil wahr seyn konnte 49

Was den historischen Kern, der hinter Mythen stecken kann, angeht, stimmt Heyne also offensichtlich mit Banier überein Er deutet aber zugleich auch an, dass Baniers Ansatz zu einseitig ist und nicht das ganze Wesen antiker Mythologie erfassen kann, da es sich nur auf einen, wenn auch wichtigen Teil antiker Mythologie konzentriert, wodurch Baniers Werk nutzlos erscheint Dementsprechend ist für ihn „Banier am we-

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Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 126 St In: GGA 1766 S 1001–1003 Der Übersetzer von Baniers La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire, Johann Matthias Schroeckh, sieht Baniers Werk selbst nicht auf dem neuesten Stand, was die Vorstellungen von antiken Mythen angeht Er gibt einige mythentheoretische Schriften Heynes inhaltlich knapp wieder, darunter beispielsweise Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata und De caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, vgl Schroeckh: Vorrede 19–24, und verbreitet damit Heynes komplexere Theorie, dass „die sogenannten Mythi der Alten […] die älteste Geschichte sowohl als die älteste Philosophie und Theologie in sich enthalten müssen“ (ebd S 23) [Heyne]: 126 St In: GGA 1766 S 1001 Ebd S 1002 Ebd S 1001 f

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nigsten der Mann, dem man folgen müßte Seine Erklärungen sind ein Gewäsch, ohne Kenntniß und ohne Urtheil“ 50 3 2 3 Fables bei Bernard le Bovier de Fontenelle Einen weiteren Vorläufer der Mythentheorie Heynes stellt der französische Aufklärer Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) mit seiner 1724 veröffentlichten Schrift De l’origine des fables51 dar 52 Fontenelle vertritt hier wie nach ihm auch Heyne die Ansicht, dass sich hinter den mythischen Erzählungen des Altertums einerseits historische Ereignisse und andererseits die philosophischen Spekulationen der antiken Menschen verbergen, die durch mündliche Überlieferung, Übertreibungen und fiktive Erweiterungen zu den fables verändert wurden Dabei interessiert sich Fontenelle besonders für die psychologischen Voraussetzungen des Menschen, die die Entstehung von fables überhaupt erst ermöglichten Er macht folglich kein bestimmtes Volk oder eine Gruppe von Völkern für die Entstehung der fables verantwortlich, sondern vielmehr die Unwissenheit kulturell wenig entwickelter Menschen generell, bezieht seine Annahmen daher ausdrücklich auf alle Menschen53 und stellt seine Betrachtungen bereits unter einem komparatistischen Blickwinkel an, indem er explizit „une conformité étonnante entre les Fables des Ameriquains, & celles des Grecs“ konstatiert 54 Eine anthropologische Ausrichtung ist damit bereits in Fontenelles Mythentheorie erkennbar Fontenelle geht bei seinen Überlegungen zur Mythengenese davon aus, dass die alten Völker von kaum mehr vorstellbarer Unwissenheit und Rohheit gewesen sein müssen 55 Da mangelnde Kenntnisse und Erfahrungen seiner Ansicht nach generell für Wunderglauben verantwortlich seien, muss dieses Phänomen also in der Antike besonders ausgeprägt gewesen sein – sobald antike Menschen etwas beobachteten oder erlebten, das sie sich nicht erklären konnten oder das ihnen sehr wichtig war, gingen 50 51

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[Christian Gottlob Heyne]: 95 St In: GGA 1772 S 815 So lautet Heynes Urteil in einer Rezension aus dem Jahr 1772 zu Joachim von Sandrarts Deutscher Akademie der Bau-, Bildhauer- und Mahlerkunst, in der dieser häufig auf Banier verweist Bernard le Bovier de Fontenelle: Über den Ursprung der Mythen In: Helga Bergmann (Hg ): Fontenelle, Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte, Ausgewählte Schriften, Übers v Ulrich Kunzmann Leipzig: 1989 S 228–242; im Original Bernard le Bovier de Fontenelle: De l’origine des fables In: Entretiens sur la pluralité des mondes Paris: 1724 S 353–385 Die genaue Datierung der Entstehung des Aufsatzes ist nicht vollständig geklärt Es handelt sich dabei um eine Überarbeitung des Textes Sur l’histoire, dessen Entstehungszeit zwischen 1685 und 1690 angesiedelt wird, vgl Bergmann (Hg ): Fontenelle S 362 Zu einer kurzen Zusammenfassung Fontenelles Mythentheorie und deren Bedeutung vgl Robert Richardson: Bernard Fontenelle In: Feldman/Richardson: The Rise of Modern Mythology 1680– 1860 S 7–18 Vgl Fontenelle: De l’origine des fables S 374 f Ebd S 375 Vgl ebd S 354

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sie sofort davon aus, dass es sich um ein Wunder handeln müsse Erzählten sie ihre Erlebnisse dann weiter, übertrieben sie und erfanden einiges hinzu, um bei den Zuhörern Überraschung und Verwunderung hervorzurufen,56 sodass der wahre Kern ihrer Erzählungen schon von Anfang an stark verfälscht sein musste, ohne dass dies zwangsläufig intendiert war 57 Noch viel mehr seien diese Erzählungen dann durch spätere mündliche Überlieferungen verändert worden, da jeder Einiges beim Weitererzählen wegließ und hinzuerfand, sodass nach wenigen Jahrhunderten kaum noch etwas von der ursprünglichen Erzählung und erst recht nichts Wahres mehr enthalten gewesen sein dürfte 58 Insofern sind die fables der Antike für Fontenelle klar von modernen fiktiven Erzählungen abzugrenzen, deren Handlungen ja gerade nicht als historische Wahrheiten verstanden werden sollen, während in der Antike Tradierung von Wissen und Geschichte gar nicht anders als durch fables möglich war 59 Bei Fontenelle konnten fables also einerseits durch mündliche Überlieferung von besonderen Ereignissen entstehen Zum Zweiten könne aber auch ein großer Teil der antiken Mythologie auf die „Philosophie […] dans ces Siécles“60 zurückgeführt werden So konnten fables in der Antike auch entstehen, wenn einzelne etwas klügere Menschen über die beobachteten scheinbar unerklärlichen Phänomene nachdachten und nach deren Gründen und Ursachen suchten Waren Ursachen nicht offensichtlich, stießen sie nach umfänglichen Überlegungen zuweilen auf Erklärungen, die ihnen sehr wahrscheinlich schienen, zum Beispiel dass das Wasser eines Flusses von irgendjemandem aus einem Krug gegossen wird Eine solche Erklärung sei für diese Menschen naheliegend gewesen, weil sich die tatsächliche Ursache des beständigen Wasserstroms ihrem Erfahrungs- und Beobachtungshorizont entzog, das Wasser-Ausgießen aus Krügen hingegen Teil ihrer Lebenswelt war 61 Durch diese frühe Stufe der Philosophie seien mittels primitiver Theoriebildung die antiken Gottheiten entstanden, indem beeindruckende und unerklärliche Dinge wie etwa Blitze, Stürme oder Fluten durch riesige mächtige Wesen erklärt wurden, denen übermenschliche Fähigkeiten, ansonsten aber menschliches Aussehen und menschliche Eigenschaften zugeschrieben waren, da sich die frühen Menschen in ihren Vorstellungen nur an Bekanntem und an sich selbst orientieren konnten 62 56 57 58 59

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Vgl ebd S 355 f Vgl ebd S 356 Vgl ebd S 356 f Vgl ebd S 354 Ähnlich wie Fontenelle erklärt auch Heyne die Entstehung von Mythen, die auf historischen Begebenheiten beruhten Auch er glaubte, dass den antiken Menschen aufgrund ihres geringen Kenntnisstandes und Erfahrungshorizonts besonders wichtige, erstaunliche oder erschreckende Ereignisse wie Wunder erschienen, sie diese an ihre Nachkommen überlieferten und durch Übertreibung, Hinzufügen und Auslassen fantastische Erzählungen, die Mythen, schufen Die Mythen, die auf diese Weise entstanden sind, nennt Heyne historische Mythen, vgl Kap 7 2 S 227–231 Vgl Fontenelle: De l’origine des fables S 357 Vgl ebd S 357 f Vgl ebd S 359 f

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In diesen frühesten Zeiten – laut Fontenelle zu Zeiten Homers – waren die Menschen roh und ungebildet; also können auch ihre Götter wie sie selbst nur „opposés les un aux autres, cruel, bizarres, injustes, ignorans“63 gewesen sein Jedoch änderten sich die Eigenschaften der Götter, wie sich die Menschen selbst veränderten Im Verlauf der Zeit gewannen die Menschen genauere Vorstellungen über Weisheit und Gerechtigkeit, und so wurden auch die Götter schließlich weiser und gerechter 64 Diese beiden Arten der fables als Produkte von Tradierung einerseits und primitiver Spekulation andererseits sind Fontenelles Ansicht nach eher zufällig und ungewollt durch allgemeinmenschliche Denk-, Erklärungs- und Erzählmuster entstanden Jedoch bilden sie die Grundlage für einen Kreislauf der Selbsttäuschung,65 das heißt eine Stabilisierung dieser primitiven Erklärungsstrategien durch fables So seien fables immer wieder als Erklärung für alle möglichen Ereignisse herangezogen worden,66 wodurch eine Mischung aus tatsächlichen Ereignissen und den primitiv-philosophischen Vorstellungen früherer Zeiten entstanden sei, die sich in vielen späteren fables niederschlage 67 Mit zunehmender Verbreitung dieses fable-Mischtyps wurden auch fables ohne jede Grundlage geschaffen und alle Berichte von bedeutenden Ereignissen wurden mit erfundenen Ausschmückungen versehen, die vielleicht auch zum Teil mit dem Bewusstsein, dass es sich um Fiktion handelte, erzählt wurden 68 Größtenteils jedoch sei man sich nicht bewusst gewesen, dass die mythischen Ausschmückungen in den im Grunde wahren historischen Berichten nicht wahr sein konnten; man hielt diese fables aber für sehr wahrscheinlich und betrachtete sie daher als historische Quellen 69 Hinzu kommen zwei weitere psychologische Ursachen, die die Weiterverbreitung dieser mythischen Geschichtsüberlieferung begünstigten Zum einen entstanden per Analogiebildung immer mehr fables, das heißt, wenn die Menschen etwa einmal eine Erzählung glaubten, in der sich ein Gott in eine menschliche Frau verliebt, kamen in der Folge noch andere ähnliche fables mit verliebten Gottheiten auf 70 Zum anderen führte „le respect aveugle de l’antiquité“,71 dazu, dass einmal eingeführte fables nicht mehr auf ihre Richtigkeit und ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft oder infrage gestellt wurden 72 Bei diesen beiden Bedingungen der Mythengenese und -verbreitung handelt es sich 63 64 65 66

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Ebd S 362 Vgl ebd S 363 f Vgl ebd S 364 f Als Beispiel für diese Art der Mythengenese nennt Fontenelle hier den Fall, dass ein junger Mann in den Fluss stürzte und sein Körper nicht mehr gefunden wurde Als Erklärung dafür zogen die Menschen die bereits vorhandene philosophisch begründete fable heran, dass im Fluss junge Mädchen lebten Diese Nymphen hätten den jungen Mann eben entführt, vgl ebd S 365 Vgl ebd S 365 f Vgl ebd S 366 Vgl ebd S 368 Vgl ebd S 371 f Ebd S 372 Vgl ebd

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

Fontenelles Auffassung nach um Konstanten der menschlichen Psychologie, da Irrtümer bis in die Gegenwart durch beide Prinzipien geschaffen, ausgeweitet und bewahrt werden Der Unterschied zwischen den Irrtümern der Gegenwart und denen des Altertums bestehe lediglich darin, dass sich die jüngeren falschen Vorstellungen von einem weniger absurden Ausgangspunkt aus entwickelten 73 Aus den fables entstand schließlich laut Fontenelle bei den meisten Völkern eine Religion, wobei die Griechen allerdings einen Sonderfall darstellen, da ihre fables nicht zu einem religiösen Vorstellungskomplex erstarrten, sondern auch zur Unterhaltung dienten und somit Grundlage für hochentwickelte Kunstformen wie Malerei und Poesie wurden,74 weshalb sie nach wie vor in Malerei und Literatur präsent sind 75 Mit der Erfindung der Schrift sei dann schließlich die Produktion neuer fables zurückgegangen, bis sie endlich ganz aufhörte,76 und durch die Zunahme des Wissens wurde die Überlieferung der Geschichte weniger „fabuleuse“ 77 Wie aus der Untersuchung von Fontenelles Essay De l’origine des fables hervorgeht, wird im Nachdenken über den Mythos und dessen Entstehung zwischen Pomey und Fontenelle ein essenzieller Schritt vollzogen Fontenelle betrachtet die Mythen der Antike viel weniger als Pomey durch die Brille der Theologie und nähert sich der Mythengenese von einem anthropologischen Standpunkt aus, indem er annimmt, dass diese auf einigen allgemeingültigen psychologischen Grundvoraussetzungen des menschlichen Geistes beruht Jedoch hängt auch Fontenelle noch der Ansicht an, dass es wahre und falsche Religionen gebe und dass die antiken Gottheiten ohne Frage den „fausses Divinités“78 zuzuordnen seien, das Christentum hingegen als „vraye Religion“79 zu gelten habe Andererseits rechnet er aber auch einige Erzählungen, die in der Folge des Christentums entstanden sind, zu den fables, wie etwa diejenige über die einst wohlschmeckenden Früchte des Holunderbeerbaums, die minderwertig wurden, weil sich Judas an einem solchen Busch erhängt habe Zwischen der Erzählweise dieser eindeutig durch das Christentum motivierten fable und den heidnischen Metamorphosen Ovids bestehe nun kein großer Unterschied Also müsse auch diese Erzählung unwahr und deren Entstehung, wie auch die der heidnischen fables, durch die psychologischen Voraussetzungen der frühen Menschen bedingt sein 80 Zwischen den Mythentheorien Heynes und Fontenelles treten zahlreiche Berührungspunkte hervor So wird die Entstehung von Mythen jeweils unter Einbezug psychologischer Annahmen und anthropologischen Prämissen erklärt und auch die 73 74 75 76 77 78 79 80

Vgl ebd S 373 Vgl ebd S 378 f Vgl ebd S 380 Vgl ebd S 383 Ebd Ebd S 360 Ebd S 374 Vgl ebd S 370

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Einteilung der Mythen in verschiedene Arten mit verschiedenen Entstehungsbedingungen, wie sie bei Heyne erfolgt, ist schon bei Fontenelle klar erkennbar, wenn auch ohne Darstellung einer expliziten Systematik Auch die Erkenntnis, dass sich hinter den mythischen Erzählungen der Antike die Schilderungen historischer Begebenheiten und primitive philosophische Spekulationen und Erklärungsversuche für scheinbar unerklärliche Naturphänomene verbergen, gewinnen sowohl Fontenelle als auch Heyne Jedoch zeigt sich auch ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Autoren, nämlich in Hinblick auf den rekonstruierbaren Gehalt der antiken Mythen und den Sinn sowie Nutzen, diesen zu suchen Heyne glaubte, anhand der Mythen die moralischen und physikalischen Vorstellungskomplexe der antiken Menschen aufdecken zu können,81 wohingegen Fontenelle der Ansicht war, es sei vollkommen sinnlos, sich mit antiken mythischen Erzählungen auseinanderzusetzen, da in ihnen nur die Irrtümer und Hirngespinste primitiver Menschen und keinesfalls Vorstellungen über Physik und Moral enthalten seien Vielmehr negiert Fontenelle jeden wissenschaftlichen Nutzen einer Beschäftigung mit den fables der Alten, da diese nur eine Beschäftigung mit der Geschichte der menschlichen Irrtümer sein könne Der wissenschaftliche Ertrag, der aus den fables abgeleitet werden kann, besteht seiner Meinung nach nur darin, dass man durch sie erkennen kann, was die Menschen der Antike zu ihren Irrtümern veranlasst hat82 – eine Haltung, die sicherlich auf seine Rolle als „Parteihaupt der Modernisten“83 in der Querelle des anciens et des modernes zurückzuführen ist: Als Anhänger der Modernen stellte er die Bewunderung für die Antike freilich in Frage Sind die Übereinstimmungen zwischen Heynes und Fontenelles Mythentheorien nun Zufall? Dass Heyne Fontenelle und seine Schrift De l’origine des fables kannte, ist wahrscheinlich 84 Fontenelle als Person erwähnt Heyne in zwei seiner Rezensionen, nämlich 1778 in einer Zusammenfassung zu einer englischen Aufsatzsammlung85 und 1793 in seiner Rezension zum ersten Band der Nachträge zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste.86 Darüber hinaus nennt Heyne 1769 Fontenelles Entretiens sur 81 82 83 84

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Vgl Kap 7 2 S 221–227 Vgl Fontenelle: De l’origine des fables S 384 f Werner Krauss: Vorwort zu: Fontenelle und die Aufklärung In: Winfried Schröder (Hg ): Werner Krauss, Das wissenschaftliche Werk, Bd 5, Aufklärung I Berlin/Weimar: 1991 S 203 Der Ansicht, dass Heyne Fontenelles Schriften kannte, sind auch Bremmer und Fornaro, vgl Jan N Bremmer: A Brief History of the Study of Greek Mythology In: Ken Dowden / Niall Livingstone (Hg ): Greek Mythology Oxford: 2011 S 527; Fornaro: I Greci senza lumi S 162 f Auch Scheer betont: „man muss wohl fast sicher annehmen, dass er [= Heyne] ihn [= Fontenelle] kannte“ (Scheer: Heyne und der griechische Mythos S 18) Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 53 St In: GGA 1778 S 432 Zwar befindet sich in der besagten Aufsatzsammlung kein Beitrag von Fontenelle, doch gibt Heyne hier eine darin befindliche Erwähnung Fontenelles wieder Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 59 St In: GGA 1793 S 588 In den hier besprochenen Nachträgen zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste befindet sich auch ein Beitrag zu Fontenelles literarischem Schaffen, insbesondere zu seinen Eklogen, Heroiden und Opern, vgl o V : Bernard de Fontenelle In: Nachträge zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste, Bd 1, Erstes Stück

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la pluralité des mondes, worin der Aufsatz Sur l’origine des fables erschien, in einer Reihe von Übersetzungen ins Polnische 87 Außerdem vermerkt Heyne in einer Rezension von 1783, dass der Herausgeber der Werke Stellinis diesen mit einem lateinischen Vers Lucans, „welchen Fontenelle vom Newton brauchte“,88 charakterisierte, listet in seiner Rezension zu den letzten Bänden der Oeuvres posthumes de Frederic II. einige darin enthaltene Briefe an und von Friedrich dem Großen auf, darunter auch sechs von beziehungsweise an Fontenelle aus dem Jahr 1731 bis 1740,89 und nennt Nicolaus Carl Trublet in dessen Todesmitteilung einen „Freund des Fontenelle“ 90 Dass Heyne Fontenelle in seinen Rezensionen so häufig ohne weitere Angaben zur Person nennt, ist ein deutliches Indiz dafür, dass Fontenelle allgemein und insbesondere auch Heyne bekannt war Weitere Rezensionen von anderen Verfassern der GGA, in denen Fontenelle erwähnt oder seine Werke besprochen werden, erschienen 1763,91 1788,92 1795,93 1803,94 1804,95

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Leipzig: 1792 S 77–88, es wird allerdings auch kurz auf seine philosophischen Werke eingegangen, vgl ebd S 77 f Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 147 St In: GGA 1769 S 1324 Diese Nennung kann jedoch nicht als sicheres Indiz dafür gelten, dass Heyne das Werk gelesen hat, weil das Werk zum einen lediglich genannt wird, zum anderen weil Heyne hier fälschlicherweise François Fénelon als Verfasser angibt [Christian Gottlob Heyne / Abraham Gotthelf Kästner]: 2 St In: GGA 1783 S 10 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 37 St In: GGA 1789 S 362 f [Christian Gottlob Heyne]: 133 St In: GGA 1770 S 1160 Vgl [Albrecht von Haller]: 42 St In: GGA 1763 S 340–342 In dieser Rezension bespricht von Haller eine postum herausgegebene Sammlung von Briefen, Gedichten und Anekdoten Fontenelles In der Kritik werden sein Leben sowie seine Charaktereigenschaften zusammengefasst und seine wichtigsten Schriften genannt Vgl außerdem [Albrecht von Haller]: 107 St In: GGA 1763 S 857–863, insbes S 863 Von Haller rezensiert hier die Zeitschrift der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Paris In dem besprochenen Band befindet sich unter anderem ein Aufsatz über das Leben Fontenelles Zwar war Heyne noch nicht Redakteur der GGA, als diese Rezension erschien, doch hielt er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Göttingen auf und verfasste in diesem Jahr auch schon Rezensionen Es ist also möglich, dass er die GGA und damit auch die genannte Kritik, vielleicht sogar auch die rezensierte Zeitschrift selbst gelesen hatte Der Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner nennt hier Fontenelles Vorstellungen vom Unendlichen im Rahmen eines mathematischen Problems, vgl [Abraham Gotthelf Kästner]: 165 St In: GGA 1788 S 1652 Wiederum Kästner, der in diesem Jahr einen Nachruf auf Jean-Sylvain Bailly rezensierte, hebt hervor, dass es vor Bailly lediglich Fontenelle geschafft habe, in die drei bedeutendsten französischen Gelehrtengesellschaften, die Académie des sciences, die Académie française und die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, aufgenommen zu werden, vgl [Abraham Gotthelf Kästner]: 120 St In: GGA 1795 S 1202 Auch dies ist ein deutlicher Hinweis auf Fontenelles allgemeine Bekanntheit in Europa und in den Kreisen der Autoren der GGA Rezensiert wird hier eine Sammlung von Schriften aus dem Nachlass von Suzanne Necker, darunter auch eine Beschreibung Fontenelles, vgl [Ernst Brandes]: 78 St In: GGA 1803 S 783 Ernst Brandes rezensiert in diesem Jahr die französische Literaturgeschichte Lycée ou Cours de Littérature ancienne et moderne, in deren dreizehntem Band ein Abschnitt über Fontenelle, Lamotte und Trublot mit Schwerpunkt auf deren Dichtungen erscheint, vgl [Ernst Brandes]: 48 St In: GGA 1804 S 466 f

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1805,96 180697 und 1807 98 Rezensionen von Fontenelles Entretiens sur la pluralité du monde erschienen 1780,99 1783100 und 1789 101 Als Heyne an der Georgia Augusta lehrte, und vor allem seit 1770, seit er den GGA als Redakteur vorstand, wurden Fontenelle und dessen Werke, darunter auch seine Entretiens sur la pluralité des mondes, also mehrfach in dem Göttinger Rezensionsblatt erwähnt Spätestens ab 1770 muss er also alle Rezensionen gelesen oder wenigstens zur Kenntnis genommen haben Folglich muss Heyne Fontenelle und auch dessen Entretiens sur la pluralité des mondes, in denen sein mythentheoretischer Aufsatz De l’origine des Fables erschien, bekannt gewesen sein, auch wenn sich leider nicht direkt belegen lässt, dass er diesen Essay gelesen hat Warum aber sollte gerade Heyne, der sich Zeit seines Lebens brennend für dieses Thema interessierte und von dem bekannt ist, dass er ein unglaublich hohes Lesepensum hatte, ausgerechnet diesen viel rezensierten Aufsatz des bekannten Fontenelle nicht gelesen haben? Es spricht nichts dagegen, dies anzunehmen

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Bei dem rezensierten Werk handelt es sich um eine Gesamtausgabe der Werke Anthony Hamiltons, in denen sich auch die von ihm verfassten Memoiren Philibert de Gramonts befinden Zu diesen berichtet Ernst Brandes die Anekdote, der zum Zeitpunkt ihrer Ersterscheinung zuständige Zensor – Fontenelle – habe aufgrund des skandalösen Inhalts zunächst die Druckerlaubnis verweigert, vgl [Ernst Brandes]: 64 St In: GGA 1805 S 636 Ebenfalls in diesem Jahr wird der fünfzehnte Band des Lycée ou Cours de Littérature ancienne et moderne rezensiert, der sich auf französische Philosophen des 18 Jahrhunderts konzentriert, vgl [Ernst Brandes]: 95 St In: GGA 1805 S 937–947 Chronologisch geordnet wird hierin als erster Fontenelle in einem sehr ausführlichen Beitrag vorgestellt, vgl Jean-François de La Harpe: Fontenelle In: Lycée, Ou Cours de Littérature ancienne et moderne, Bd 15, Philosophie du dix-huitième siècle Paris: [1805] S 19–41 97 Es handelt sich hierbei um eine Rezension eines Nachrufs auf Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes, der laut Ansicht des Rezensenten viel zu emotional und subjektiv gestaltet ist Als positives Gegenbeispiel führt Brandes unter anderem den Nachruf auf Fontenelle an, vgl [Ernst Brandes]: 70 St In: GGA 1806 S 690 98 Friedrich Ludewig Bouterweck rezensiert hier den sechsten Band der von ihm selbst verfassten Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreyzehnten Jahrhunderts. In diesem Band wird die französische Literatur dargestellt, wobei „Fontenelle […] freylich kein sonderliches Lob [erhält]“ ([Friedrich Ludewig Bouterweck]: 106 St In: GGA 1807 S 1052) 99 Es handelt sich hierbei um Kästners Rezension der deutschen Übersetzung der Entretiens sur la pluralité du mondes von Johann Elert Bode Kästners Fachgebiet gemäß, der Mathematik, wird hier vor allem auf die astronomischen Arbeiten Fontenelles Gewicht gelegt, vgl [Abraham Gotthelf Kästner]: 52 St In: Zugabe zu den GGA 1780 S 823 f 100 Ebenfalls von Kästner wird hier eine originalsprachliche Ausgabe der Entretiens sur la pluralité des mondes angezeigt, vgl [Abraham Gotthelf Kästner]: 161 St In: GGA 1783 S 1624 101 In diesem Jahr rezensierte wieder Kästner eine Neuauflage der bereits 1780 erschienenen deutschen Übersetzung der Entretiens sur la pluralité des mondes von Bode, vgl [Abraham Gotthelf Kästner]: 112 St In: GGA 1789 S 1128

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

3 2 4 Favole bei Giambattista Vico Ein weiterer wichtiger Vorläufer der Mythentheorie Heynes ist der Italiener Giambattista Vico (1668–1744) mit seiner Schrift Principij di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni beziehungsweise La scienza nuova, erstmals 1725 publiziert und 1730 und 1744 mit Erweiterungen neu aufgelegt 102 In diesem Werk setzt sich Vico mit den Wurzeln der menschlichen Kultur auseinander, und dabei spielen Mythen natürlich eine große Rolle Wie bereits Fontenelle erklärt Vico die Entstehung der favole durch allgemeingültige Grunddispositionen des menschlichen Geistes und ähnliche Lebensbedingungen, denen die frühen Kulturen ausgesetzt waren, wodurch er die Parallelen zwischen den Mythen verschiedener Völker in den Frühzeiten – etwa Berichte von Sintfluten, das Vorhandensein einer Göttervaterfigur wie Zeus und Göttervatersöhnen wie Herakles – erklären will Wie bei Pomey und Fontenelle wird auch bei ihm eine scharfe Grenze zwischen falscher heidnischer und wahrer christlicher Religion, „la vera religione, ch’è la nostra cristiana“,103 gezogen, weshalb sich seine Ausführungen zur Entstehung der favole ausschließlich auf heidnische Völker beziehen 104 Ähnlich wie Hermann von der Hardt105 sieht Vico in den mythischen Motiven der Antike, den favole, die Grundbausteine eines für diese Zeit typischen nichtwörtlichen 102

Verwendet wird folgende Textausgabe, die die dritte Fassung aus dem Jahr 1744 beinhaltet: Giambattista Vico: Principi di scienza nuova (1744) In: ders : Opere, Bd 1 Mailand: 32001 S 411–971; in deutscher Übersetzung, die ebenfalls auf der dritten Fassung fußt, Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Übers v Vittorio Hösle u Christoph Jermann, Bd 1 Hamburg: 1990 103 Vico: Principi di scienza nuova S 446 (Abs 40) 104 Auch steht für Vico fest, dass das erste Volk der Welt die Hebräer waren, vgl ebd S 460 (Abs 51), und dass die biblische Geschichtsschreibung älter als die früheste heidnische ist und daher wahr sein muss, vgl ebd S 504 f (Abs 165 f ) Vicos Differenzierung zwischen Heiden und Hebräern führt so weit, dass er die frühesten Menschen in zwei grundlegend verschiedene Arten unterteilt: in Heiden beziehungsweise Giganten, die seiner Meinung nach tatsächlich von ungeheurer Körpergröße und äußerster Rohheit waren, vgl ebd S 505 (Abs 170), und Hebräer, die eine normale Körpergröße hatten Dieser religiöse wie körperliche Unterschied könne nun nur aus der tierischen Erziehung der ersten und der menschlichen Erziehung der zweiten hervorgegangen sein, vgl ebd S 506 (Abs 172) Die tierische Erziehung, die Vico hier anspricht, resultierte seiner Auffassung nach daraus, dass sich die Nachfahren Noahs in die Welt verstreuten und von der Religion ihres Vorfahren abfielen Im Gefolge dieses Verlustes der wahren Religion seien auch die Institutionen Ehe und Familie aufgelöst worden; die Mütter überließen ihre Kinder sich selbst, wodurch diese ohne menschliche Sprache und Sitten aufwuchsen und in einen vollkommen bestialischen Zustand übergingen Die Mütter stillten ihre Kinder lediglich und ließen sie ansonsten in ihrem Kot liegen Weil sich diese verwilderten Menschen sehr anstrengen mussten, um durch die dichten Wälder zu gelangen, drangen beim Dehnen der Muskeln die düngenden Nitratsalze aus dem Kot in ihre Körper ein Zudem wurde ihr Wachstum durch keine Gottesfurcht gemäßigt; daher wuchsen sie zu riesigen, sehr kräftigen Wesen heran und wurden auf diese Weise zu Giganten, vgl ebd S 564 f (Abs 369) Da unter den Römern und Griechen die Ehe und verschiedene Reinigungsrituale wieder eingeführt worden waren, seien die Menschen später jedoch wieder auf eine normale Körpergröße geschrumpft, vgl ebd S 566 f (Abs 371 f ) 105 Vgl Kap 3 2 5 S 74–82

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Erzählens, das durch eine starke Bildhaftigkeit, Symbolik und Analogiebildungen gekennzeichnet ist Ganz anders als von der Hardt spricht er den Menschen der Antike jedoch bei dieser Erzählform jede Absichtlichkeit und Intelligenz ab; die überlieferten Texte seien vielmehr nur die Überreste einer Erzählhaltung, in denen sich eine antike Denkform und Weltbewältigungshaltung manifestiere, die nur „fantasie robustissime, come d’uomini di debolissimo raziocinio“,106 äußerst kräftige Phantasien, wie sie nur bei Schwachsinnigen vorkommen, hervorbringen können Das Grundprinzip der Entstehung der favole ist für Vico, dass diese ersten primitiven Menschen – Vico nennt sie „stupidi, insensati ed orribili bestioni“107 und „fanciulli del gener umano“108 – „poeti“109 waren, die „per caratteri poetici“110 sprachen 111 Die „caratteri poetici“, die diese ersten Menschen verwendeten, um sich sprachlich auszudrücken, waren, so Vico, „generi fantastici“,112 fantastische Kategorien, zum Beispiel Götter oder Heroen, auf die sie alles zurückführten,113 also Vorstellungen, anhand derer die Menschen der Antike ihre Lebenswirklichkeit wahrnehmen und bewältigen konnten Diese caratteri poetici sind die favole der antiken Menschen, deren Entstehung bei Vico eng mit der Bildung abstrakter Begriffe verbunden ist Ebenso wie Kinder die Vorstellungen und Namen von Personen, die sie zuerst kennenlernen, auch später auf alle Personen und Dinge, die mit den zuerst gekannten Ähnlichkeiten aufweisen oder in Beziehung stehen, übertragen,114 waren auch die ersten Menschen nicht in der Lage,

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Vico: Principi di scienza nuova S 441 (Abs 34) Ebd S 569 (Abs 374) Ebd S 513 (Abs 209) Ebd S 440 (Abs 34) Ebd Der italienische Terminus caratteri, den Vico hier wählt, weist allerdings eine Doppelbedeutung auf, die für das Verständnis ebendieser caratteri poetici und damit auch der ganzen Mythentheorie Vicos von elementarer Wichtigkeit ist Die beiden Bedeutungen, die hier eine Rolle spielen, sind zum einen die Verwendung im Sinne einer Summe von Eigenschaften beziehungsweise einer fiktiven Figur, zum anderen aber auch die Bedeutung als Zeichen Im Italienischen schwingt dieser doppelte Charakter mit, denn caratteri poetici sind bei Vico einerseits Figuren wie Achilles und Odysseus, andererseits dienen diese Figuren als Symbole und Zeichen, eine terminologische Doppelbödigkeit, die durch eine deutsche Übersetzung kaum fassbar ist Hösle und Jermann entscheiden sich in ihrer Übersetzung für eine Wiedergabe als poetische Charaktere, vgl beispielsweise Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker S 32 (Abs 34), wodurch die Bedeutung des Satzes einerseits vollkommen im Dunkeln bleibt und andererseits die Bedeutung von Vicos Begriff stark verkürzt erscheint Der Gedanke tritt im Übrigen später sehr ähnlich bei Herder auf, vgl Johann Gottfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Erste Sammlung von Fragmenten In: Bernhard Suphan (Hg ): Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, Bd 1 Hildesheim u a : 1994 S 153 Herder führt hier aus, dass Abstrakta bei der Sprachentstehung zunächst nicht adäquat ausgedrückt werden konnten, weshalb sie durch konkrete Begriffe ersetzt wurden Die ersten Sprachen waren daher „bildervoll, und reich an Metaphern“ (ebd ) Dieses Sprachstadium heißt dementsprechend bei Herder das poetische Sprachalter Vico: Principi di scienza nuova S 513 (Abs 209) Vgl ebd S 430 f (Abs 34) Vgl ebd S 513 (Abs 206)

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intelligible und abstrakte Gattungsbegriffe zu bilden, und mussten daher auf caratteri poetici zurückgreifen, das heißt fantastische Gattungs- oder Allgemeinbegriffe erfinden, die sie auf Unbekanntes, das Bekanntem ähnelte, projizieren konnten 115 Durch solche Übertragungen schufen die frühesten Menschen „vere allegorie poetiche“,116 die keine analogen, sondern die wörtlichen Bedeutungen verschiedener Eigenschaften auf die favole übertrugen Diese poetischen Gattungsbegriffe nennt Vico diversiloquia und meint damit Begriffe, die als eine Art Subkategorie eines allgemeinen Begriffs verschiedene Arten von Menschen, Ereignissen oder Dingen zusammenfassen, aber auf keiner abstrakten Ebene anzusiedeln sind, sondern vielmehr konkret und sinnlich empfindbar bleiben müssen 117 Diese diversiloquia oder mitologie, wie er derartige Allegorien an anderer Stelle nennt, bezeichnen verschiedene Unterarten oder Individuen, die unter einem Gattungsbegriff zusammengefasst werden, sodass sie eine eindeutige Bedeutung erhalten, die eine besondere Eigenschaft, die allen Unterarten oder Individuen gemeinsam ist, umfasst, etwa wie sich in den Figuren Achilles und Odysseus eine Idee der Tapferkeit und Klugheit findet, die allen Tapferen und Weisen gemeinsam ist 118 Vicos Vorstellung ist also, dass die frühen Menschen nicht über den abstrakten Begriff Tapferkeit sprechen konnten, da sie nicht zu Abstraktion fähig waren, und daher Prototypen wie Achilles erfinden mussten, die sich nicht auf wirkliche Menschen bezogen, sondern auf mental repräsentierte Figuren, die die Eigenschaft oder Idee in optimaler Weise verkörperten, aber durch ihre Konkretheit auf die Lebenswirklichkeit der Menschen beziehbar blieben Insofern stellen Vicos favole gewissermaßen bildhafte gedankliche Konstrukte dar, anhand derer die frühen Menschen die Eigenschaften verschiedener Individuen unter einer sinnlich greifbaren allgemeineren Kategorie – man könnte sagen, einem konkreten Abstraktum – subsumieren konnten, weil der Geist dieser Menschen keine abstrakten Vorstellungen erzeugen und sich gedanklich nicht anders vom Konkreten und Individuellen lösen konnte Mythische Figuren und Gottheiten sind damit bei Vico vor allem sprachliche Hilfskonstrukte, die sich ähnlich wie bei Heyne119 aus einem sehr frühen Sprachentwicklungsstadium ergeben und daher eine Art poetische Metaphysik darstellen, die dem Prinzip anthropomorpher Analogiebildung folgt 120 Als Beispiel für diese poetische Metaphysik erläutert Vico die Entstehung der Göttervaterfigur Zeus-Jupiter als „la prima favola divina“ 121 Nachdem die Nachfahren No115 116 117 118 119 120 121

Vgl ebd S 513 f (Abs 209) Ebd S 514 (Abs 210) Vgl ebd Vgl ebd S 587 (Abs 403) Vgl Kap 7 3 S 236–243 Vgl Vico: Principi di scienza nuova S 494 (Abs 120) Nach diesem Prinzip werde laut Vico beispielsweise Magnetismus durch eine Verliebtheit des Magneten in das Eisen begründet, vgl ebd S 508 (Abs 180) Ebd S 572 (Abs 379)

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ahs von der wahren hebräischen Religion abgefallen, zu Giganten geworden waren122 und erstmals Donner und Blitze wahrnahmen,123 waren sie durch diese Erscheinung zutiefst erschrocken und stellten sich vor, der Himmel sei ein mächtiges lebendiges Wesen, das ihnen etwas mitteilen will, da sie die Ursachen unerklärlicher Phänomene mit bekannten Kategorien zu fassen versuchten 124 Da die Menschen dazu neigten, eine einmal gefasste Vorstellung auf andere Dinge zu übertragen,125 transferierten sie diesen ersten Göttlichkeitsbegriff auf alles andere und glaubten schließlich an die Existenz einer universalen „sostanza animata“,126 die sie als Jupiter bezeichneten Mit der Erschaffung einer solchen Göttervaterfigur lösten sich, so Vico, die Giganten vom Atheismus, da dadurch erstmals ein religiöses Bewusstsein und Demut vor einer göttlichen Macht entstanden seien 127 Dabei stellte das Erkennen des Himmels als Träger und Aufenthaltsort einer Jupiter-Figur gewissermaßen den Kondensationskeim der „morale poetica“128 dar, das heißt aller Sitten und kulturellen Errungenschaften, die wiederum die Quelle anderer Götterfiguren bildete Denn durch die Furcht vor dem Himmelsgott verließen die Giganten die Berge und Wälder, wurden an geschützten Orten sesshaft, paarten sich nicht mehr unter freiem Himmel, da sie sich vor diesem ängstigten, und bildeten ständige Lebensgemeinschaften So sei aus Angst vor Jupiter die Scham und in deren Folge die Ehe entstanden 129 Nach und nach entwickelten sich feierliche Bräuche zur Eheschließung und aus diesen sei schließlich die zweite Gottheit, nämlich Jupiters Ehefrau Juno, hervorgegangen 130 Mit dieser Lösung vom Atheismus und der Entwicklung eines religiösen Bewusstseins endete die Zeit der Giganten Die Menschen entwickelten sich sodann zu Heroen,131 die eine normale Körpergröße hatten, und das heroische Zeitalter des Hei122 123

S o S 66, Anm 104 Dass Vico davon ausgeht, dass die Giganten zum ersten Mal ein Gewitter wahrnehmen konnten, ohne zuvor zumindest aus den Erzählungen anderer davon gehört zu haben, und das Gewitter somit ein erschreckendes singuläres Ereignis für sie darstellt, erklärt sich durch seine Annahme, dass es in Mesopotamien über 100 Jahre und in der übrigen Welt über 200 Jahre keine Gewitter gegeben habe, weil es so lange gedauert habe, bis die Erde nach der Sintflut getrocknet war und daher keine trockenen Ausdünstungen und feurigen Stoffe, die Blitze und Donner erzeugen können, in der Luft gewesen sein sollen, vgl Vico: Principi di scienza nuova S 571 (Abs 377) 124 Vgl ebd 125 Vgl ebd S 508 (Abs 183) 126 Ebd S 573 (Abs 379) Indem Vico feststellt, dass es letztendlich die Furcht gewesen sei, die die Götter entstehen ließ, vgl ebd S 575 (Abs 382), zeigt sich, dass ähnlich wie bei Hume und Heyne auch in Vicos Mythentheorie Angst und erschreckende Ereignisse wie Gewitter einen entscheidenden Impuls für die Mythenentstehung darstellen, vgl Kap 7 2 S 222–224; 7 4 S 243–245 127 Vgl Vico: Principi di scienza nuova S 643 (Abs 502) 128 Ebd 129 Vgl ebd S 644 f (Abs 504 f ) 130 Vgl ebd S 647 (Abs 511) 131 Mit dem Begriff Heroen meint Vico wie auch mit dem Wort Giganten keine mythologischen Figuren, sondern bezieht ihn vielmehr auf einen kulturellen Entwicklungsstand der frühen heidnischen Völker Dabei bezeichnet der Terminus nicht alle Menschen, sondern lediglich den männlichen

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

dentums begann In dieser Zeit bildeten sich die heroischen Sitten, zu denen neben der Eheschließung das Familienleben, die Staatenbildung oder die Bestattung der Toten gehörten Da die Heroen eine Religiosität entwickelten, die sich durch eine große Angst vor den Gottheiten und speziell vor dem Göttervater auszeichnete, waren diese Sitten sehr stark durch die Religion und eine patriarchalische Machtausübung geprägt und insgesamt äußerst restriktiv Vico nennt sie „rozzi, villani, feroci, fieri, mobili, irragionevoli o irragionevolemente ostinati, leggieri e sciochi“ 132 In dieser heroischen Zeit seien die Homerischen Epen entstanden, die er ebenfalls unter dem Begriff favola subsumiert Obwohl Vico die überlieferten mythischen Erzählungen wie etwa Ilias und Odyssee nicht explizit von den mythischen Konzepten zur Wirklichkeitsbewältigung unterscheidet, bei denen es sich eher um die konstruierten Elemente einer simplen Wahrnehmungs- und Bewältigungshaltung handelt, die es den frühen Menschen ermöglichten, das gemeinsame Merkmal mehrerer konkreter Dinge oder Individuen zu einer Art konkret-abstraktem Begriff zu bündeln und in Kategorien zu denken, und nicht um tatsächlich formulierte Texte, wird doch deutlich, dass textlich vorliegende favole wie Ilias und Odyssee inhaltlich weiter zu fassen sind als diese gedanklichen Konstrukte, auch wenn sie sich freilich aus ihnen zusammensetzen Somit spielt für das Verständnis der Homerischen Epen als favole die Doppelnatur von Vicos favola-Begriff als favola und favella, das gedankliche Konstrukt und die Artikulation des Konstrukts durch Sprache, eine entscheidende Rolle Vico geht davon aus, dass die erste Geschichtsschreibung aus favole bestand133 und somit jegliche heidnische Geschichte mythischen Ursprungs ist 134 In diesem Sinne seien auch die favole der Homerischen Epen als eine frühe Form heidnischer Geschichtsschreibung zu bestimmen Er sieht in ihnen wahre Geschichten über die handelnden Heroen und Reflexe ihrer heroischen Sitten, sodass Odyssee und Ilias für ihn zwei bedeutende historische Quellen des natürlichen Rechts unter den Griechen, als diese noch Barbaren waren, darstellen 135 Jedoch glaubt Vico im Gegensatz zu von der Hardt und Heyne nicht, dass diesen Erzählungen wirkliche historische Ereignisse, also etwa ein tatsächlich um Troja geführter Krieg, zugrunde liegen So äußert Vico zwar nicht explizit, dass der Trojanische Krieg seiner Ansicht nach nicht stattgefunden habe, jedoch stützt er sich auf andere Gelehrte, die dieser Ansicht waren 136 Seine Vorstellung von Geschichtsschreibung bezieht sich hier vor allem auf eine allgemeine Geschichte der menschlichen Kultur In diesem Sinne

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Teil einer herrschenden Gruppe von Adligen, die ihren Herrschaftsanspruch daraus ableiteten, dass sie Kinder Jupiters seien Dadurch weist Vico auch auf das hohe Maß an Ungleichheit, das diese Gesellschaft prägte, hin Ebd S 815 (Abs 787) Vgl ebd S 461 (Abs 51) Vgl ebd S 460 f (Abs 51) Vgl ebd S 420 (Abs 7) Vgl ebd S 841 (Abs 873)

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sind die Homerischen Epen in Vicos Theorie in erster Linie Dokumentation eines vergangenen kulturellen Zustandes und insofern Teil der Geschichte des Menschen Nach einer Analyse der Homerischen Epen stellt Vico fest, dass die an manchen Stellen beschriebenen Artefakte nicht zu den ebenfalls dargestellten heroischen Sitten passen, und kommt daher zu dem Schluss, dass es kein Dichterindividuum Homer gegeben haben könne, sondern dass Ilias und Odyssee von mehreren Dichtern aus verschiedenen Zeiten verfasst worden sein müssen 137 Am Ende seiner Betrachtungen resümiert er, dass Homer also nur zum Teil als Mensch, der wirklich gelebt und gedichtet hat, gelten könne Zum anderen Teil sei Homer selbst „un carattere eroico d’uomini greci“,138 und zwar in dem Sinne, dass er die Griechen verkörperte, die ihre Geschichte in Versen dichteten Daher seien auch die Eigenschaften, die Homer zugeschrieben werden, zum Beispiel seine Blindheit und Armut, die typischen Eigenschaften der fahrenden Rhapsoden, die die Homerischen Dichtungen verbreiteten 139 Der historische Homer habe lediglich Teile der Ilias verfasst, die Odyssee hingegen sei viel weniger durch die heroischen Sitten geprägt und müsse daher mehrere Jahrhunderte später von einem anderen Homer verfasst worden sein 140 In diesem wie in einigen anderen Punkten ähneln sich Heynes und Vicos Sichtweisen stark,141 etwa in der Art und Weise, wie der primitive Mensch und seine Sprache beschrieben werden und Religion durch Staunen und Angst entsteht Jedoch finden sich in Heynes Abhandlungen leider nirgends direkte Nachweise, dass er mit dessen Werk vertraut war 142 Allerdings erwähnt er seinen Namen in einer Rezension zu einem Buch über die Geschichte Roms 143 Der ungenannte Verfasser des hier besprochenen Buchs stützt sich auf den Juristen und Philosophen Emanuele Duni, der wiederum „auf den Sätzen des Giambatt Vico bauete“ 144 Zudem zählt Heyne in der Rezension

137 138 139 140

Vgl ebd S 820 f (Abs 804) Ebd S 840 (Abs 873) Vgl ebd S 842 f (Abs 874–878) Vgl ebd S 843 (Abs 879 f ) Weiterführend zu Vicos La scienza nuova vgl Gockel: Mythos und Poesie S 88–96 Zu einer knappen Zusammenfassung Vicos Mythentheorie und deren Bedeutung vgl Burton Feldman: Giambattista Vico In: ders /Richardson: The Rise of Modern Mythology 1680–1860 S 50–61 141 Eine detaillierte Aufstellung der Ähnlichkeiten zwischen Vicos La scienza nuova und Heynes Texten lieferte Giuseppe d’Alessandro Für ihn sind die Übereinstimmungen so signifikant, dass er zu der Annahme gelangt, dass Heyne Vicos Werk gekannt haben muss, vgl Giuseppe d’Alessandro: L’influenza di Vico in Heyne e nella scuola storico-mitologica di Gottinga In: Giuseppe Cacciatore u a (Hg ): La filosofia pratica tra metafisica e antropologia nell’età di Wolf e Vico, Atti del Convegno Internazionale Napoli, 2–5 aprile 1997 Napoli: 1999 (Studi Vichiani, Bd 29) S 157–204 Vgl außerdem Fornaro: I Greci senza lumi S 151–154 142 Ausgeschlossen ist dies keineswegs, denn da Heyne etwa 220 Rezensionen über italienischsprachige Bücher und Zeitschriften in den GGA veröffentlichte, muss er über Kenntnisse im Italienischen verfügt haben und kann La scienza nuova folglich originalsprachlich gelesen haben 143 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 24 St In: Zugabe zu den GGA 1779 S 370 144 Ebd

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zum zwölften Band der Biographiensammlung Vitae Italorum doctrina excellentium qui saeculis XVII. et XVIII. floruerunt von Angelo Fabronio auch Vicos Namen als eine der beschriebenen Persönlichkeiten auf 145 In dem Aufsatz zu Vicos Leben in lateinischer Sprache stellt der Autor auch verhältnismäßig ausführlich den Inhalt von dessen La scienza nuova dar 146 Sollte Heyne diese Biographiensammlung also gelesen und nicht nur überflogen haben, dürfte er über gute Kenntnisse zu Vicos Vita und auch zu seiner La scienza nuova verfügt haben und wäre in dem Fall damit zumindest inhaltlich grob vertraut gewesen Ein weiteres Werk, in dem Vicos La scienza nuova besprochen wird und das von Heyne rezensiert wurde,147 ist Das Museum der Alterthums-Wissenschaft, herausgegeben von Friedrich August Wolf und Philipp Buttmann Im ersten Band dieser Zeitschrift ist das dritte Buch der Scienza nuova, Della discoverta del vero Omero, unter dem Titel Über den Homer in Auszügen veröffentlicht 148 Die Herausgeber konzentrierten sich vor allem auf Abschnitte, in denen Vico Homers mutmaßliche Herkunft, seine Lebensdaten und die Entstehungsumstände der Homerischen Epen zu rekonstruieren versucht Dabei wurden auch Teile aufgenommen, in denen Vico seine These, es habe wenigstens zwei Dichter der Homerischen Epen geben müssen, dargelegt In der Rezension zum Museum der Alterthums-Wissenschaft äußert sich Heyne nicht weiter zu Vicos Schrift Über den Homer; er nennt lediglich Titel und Verfasser Da Heyne aber den ersten Aufsatz des Bandes, den Aufsatz Darstellung der Alterthums-Wissenschaft von Wolf, recht ausführlich kommentiert,149 ist anzunehmen, dass er auch den Rest der Zeitschrift gelesen haben dürfte Damit ist es also nicht, wie Hartlich und Sachs meinen, „unwahrscheinlich“,150 sondern im Gegenteil sogar sehr wahrscheinlich, dass Heyne mit den Hauptgedanken des dritten Buches der Scienza nuova vertraut war, zumal Giuseppe d’Alessandro zeigen konnte, dass die Universitätsbibliothek Göttingen 1774 unter der Leitung Heynes das Werk in der Ausgabe von 1730 erwarb 151 Da Heyne persönlich für den Ankauf neuer Bücher zuständig war,152 muss er es folglich selbst angeschafft haben Fest steht also in jedem Fall, dass Vico und sein Hauptwerk Heyne dem Namen nach bekannt gewesen sein müssen und den genannten Indizien nach

145 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 145 St In: GGA 1786 S 1456 146 Vgl Angelo Fabronio: Ioannes de Vico In: ders (Hg ): Vitae Italorum doctrina excellentium qui saeculis XVII et XVIII floruerunt, Bd 12 Pisa: 1785 S 294–301 147 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 104 St In: GGA 1809 S 1036–1038 148 Vgl Giambattista Vico: Über den Homer In: Museum der Alterthums-Wissenschaft 1 (1807) S 555–570 149 Vgl [Heyne]: 104 St In: GGA 1809 S 1036–1038 150 Hartlich/Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft S 16, Anm 2 Ebenso glaubt Bietenholz nicht daran, dass Heyne Vicos Scienza nuova kannte, vgl Bietenholz: Historia and Fabula S 285 Fornaro hingegen nimmt an, dass Heyne Vicos Scienza nuova bekannt war, vgl Fornaro: I Greci senza lumi S 47 Ihr folgt Scheer, vgl Scheer: Heyne und der griechische Mythos S 18 151 Vgl d’Alessandro: L’influenza di Vico in Heyne S 197 152 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 294 f

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war er auch mit den Hauptgedanken der Scienza nuova vertraut Demnach ist auch nicht auszuschließen, dass er La scienza nuova gelesen oder von ihr wenigstens aus anderen Büchern erfahren hatte, spätestens nämlich aus der Biographiensammlung von Fabronio und dem Museum der Alterthums-Wissenschaft von Wolf und Buttmann Gewisse Übereinstimmungen dürften also kein Zufall sein, sondern resultieren aller Wahrscheinlichkeit nach aus Heynes Rezeption von Vico Mit seinem Werk La scienza nuova stellt Vico ohne Zweifel einen Meilenstein in der Geschichte der Reflexion über menschliche Kulturgeschichte und, darin eingebettet, über Mythen dar, doch gelingt ihm noch nicht der Durchbruch zu objektiver Wissenschaftlichkeit Dies wird jedoch erst in wissenschaftshistorischem Kontext verstehbar: Seit dem Mittelalter bis weit ins 17 Jahrhundert und zum Teil bis ins 18 Jahrhundert hinein war es im christlich geprägten Europa eine unumstößliche Wahrheit, dass Moses der erste Geschichtsschreiber war 153 Im 17 Jahrhundert wird die Vorstellung über die Frühzeit des Menschen aber zunehmend problematisch, denn in der Zeit um 1700 eröffnen neue wissenschaftliche Befunde Zeitfenster in der Menschheitsgeschichte, die die biblische Historiographie nicht zu füllen vermochte So ist es beispielsweise nicht mehr erklärbar, wie die Anfänge ägyptischer und chinesischer Hochkulturen vor jene 6000 bis 7000 Jahre datiert werden können, die durch die Bibel abgedeckt werden, und nicht zuletzt die Erkenntnisse über das Alter geologischer Formationen fordern damals ein Umdenken und Loslösen von einem Jahrhunderte alten Dogma Somit erscheinen weiße Stellen in der Frühzeit des Menschen und der Erde, die gefüllt werden müssen; das alte christlich geprägte Bild der menschlichen Kulturgeschichte wird brüchig und ein neues Nachdenken über die Frühzeit und andere Kulturen wird notwendig Der Ursprung ist nicht mehr das Vollkommene, die Geschichte nicht mehr kontinuierlicher Verfall; im Gegenteil, der Anfang ist Chaos, Geschichte ist nun Progression und Erleuchtung In dieser „Krise der Chronologie“154 ist auch Vicos La scienza nuova zu lokalisieren Vico versucht die Entstehung heidnischer Kulturen und deren Religionen sowie die Menschheitsgeschichte schon im Sinne einer allgemeingültigen prinzipiengeleiteten kulturellen Entwicklung zu erklären, kann sich jedoch noch nicht von dem alten, christlich geprägten Weltbild lösen Er versucht vielmehr neue Erkenntnisse über alte Kulturen und das Alte Testament in Einklang zu bringen und erschafft damit einen Hybriden aus wissenschaftlicher, undogmatischer Kulturgeschichte und christlicher Orthodoxie

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Vgl Martin Mulsow: Zur Geschichte der Anfangsgeschichten In: Eve-Marie Becker (Hg ): Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung Berlin/New York: 2005 S 19 Ebd S 21

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

3 2 5 Mythi bei Hermann von der Hardt Im Blick auf den antiken Mythos gelang eine Loslösung vom christlichen Dogma dem Helmstedter Historiker und Orientalisten Hermann von der Hardt (1660–1746) Zwei Jahre vor Vicos La scienza nuova und ein Jahr vor Fontenelles Aufsatz zur Entstehung von Fabeln155 veröffentlichte er die Monographie Aenigmata prisci orbis 156 Mythische Erzählungen heißen hier aenigmata, ein in diesem Kontext schwer übersetzbares Wort 157 Von der Hardt meint damit eine mit Symbolen und nicht-wörtlichen sowie allegorischen Bedeutungen aufgeladene Erzählung aus einer nicht näher bestimmten und bestimmbaren Vorzeit, wie die Erzählungen über Miletos und Cyanea, von Adam und Eva und deren jeweilige Kinder, die von der Hardt hier sogar direkt miteinander vergleicht 158 Dies ist für die Zeit, in der der Text entstanden ist, durchaus bemerkenswert, ging man doch davon aus, dass zwischen den Erzählungen der griechisch-römischen Antike und den Texten aus dem Alten und Neuen Testament ein erheblicher Unterschied bestehe und diese keineswegs gleichgestellt werden dürften 159 Von der Hardt jedoch negiert diese Unterscheidung in den Aenigmata prisci orbis und nennt die Zeit, zu der diese mythischen Erzählungen verfasst wurden, mythicus beziehungs-

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158 159

Die von Graf getroffene Behauptung, dass Fontenelle der „Ahnherr aller mythologischen Studien“ (Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne S 285) sei, muss daher in Zweifel gezogen werden Hermann von der Hardt: Aenigmata prisci orbis Helmstedt: 1723 Der Georges gibt für aenigma folgende Bedeutungen an: das Rätsel, das Rätselhafte/Dunkle/Unerklärliche, die dunkle Andeutung/Anspielung, die allzu dunkle, daher fehler- und rätselhafte allegorische Darstellung, die Geheimlehre, das Mysterium, vgl Karl Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd 1 Hannover/Leipzig: 1913 Sp 181 Vgl von der Hardt: Praefatio ad Germaniae Academias In: Aenigmata prisci orbis S 10 f Von der Hardt stand seit seiner Berufung zum Ordentlichen Professor an der Universität Helmstedt im Jahr 1690 unter dem Verdacht, falsche Lehren zu verbreiten Obwohl er Professor für orientalische Sprachen war, hielt er häufig Vorlesungen über Bibelexegese und veröffentlichte Schriften zu diesem Themengebiet Nachdem eine seiner Abhandlungen allgemein großen Anstoß erregt hatte, verbot ihm das Universitätskuratorium, weiterhin exegetische Vorlesungen zu halten, und im Jahr 1727 wurde er mit Ausnahme der Leitung der Bibliothek aller seiner universitären Ämter enthoben und emeritiert Der Anlass für diesen drastischen Schritt waren die Aenigmata prisci orbis, die bereits seit ihrem Erscheinen von der Zensurbehörde verboten waren und für die von der Hardt zu einer Strafe von 100 Reichstalern verurteilt worden war Zudem wurde er angewiesen, sich künftig nicht mehr mit biblischen Themen zu befassen und ohne behördliche Genehmigung keine Schriften über Theologie drucken zu lassen Von der Hardt reagierte auf diese Strafmaßnahme, indem er acht Bände seiner Bibelerklärungen verbrannte und ihre Asche zusammen mit der auferlegten Strafsumme an die Landesbehörde schickte Nichtsdestoweniger kündigte von der Hardt nur ein Jahr später eine Auslegung des Buches Hiob an, deren erster Teil sofort nach dem Erscheinen durch die Behörden konfisziert wurde, obwohl darin noch gar nichts zum angekündigten Thema, sondern nur einige bereits einzeln erschienene Abhandlungen zur griechischen Sprache enthalten waren, vgl Georg Heinrich Klippel: Hermann von der Hardt In: Johann Jakob Herzog (Hg ): Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd 5, Gemeinschaft bis Hermeneutik Stuttgart/Hamburg: 1856 S 767 f

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weise aenigmaticus 160 Ein wichtiger Schritt in der Mythentheorie ist bei von der Hardt außerdem, dass er Mythen nicht mit Fabeln gleichsetzt161 und das Vorgehen vieler anderer Gelehrter162 kritisiert, die in den Erzählungen der Alten nur Märchen und nicht ernstzunehmende poetische Texte sähen und sie daher fälschlicherweise Fabeln genannt hätten oder darin nach Anhaltspunkten für frühe physikalische Erkenntnisse und Ethik suchten163 – Gedanken, die einige Jahre später auch Christian Gottlob Heyne formulieren wird Für Hermann von der Hardt beruht die gesamte Mythologie auf historischen Ereignissen; er deutet Mythen somit konsequent euhemeristisch 164 Somit betont er, wie auch Heyne, dass die antiken mythi untrennbar mit weit zurückliegenden Ereignissen verbunden sind, weshalb sich jeder Gelehrte, der sich mit Alter Geschichte auseinandersetzt, auch mit der „poetarum mythologia“165 befassen müsse Andererseits seien keine Erkenntnisse über diese „mythologia“ möglich, wenn nicht auch „historia vetus & geographia graeca“166 in die Untersuchungen einbezogen werde Der Grund dafür sei, dass Mythologie eine „historia symbolica“,167 also Geschichtsschreibung, sei, die eben nicht faktenorientiert, objektiv und ‚wahr‘ zu sein versuche, sondern Geschichte symbolisch, das heißt mit mehreren Bedeutungsebenen, vermitteln wolle Die mythi sind dabei „icones“,168 also Bilder oder Gleichnisse mit nichtwörtlicher Bedeutung, deren allegorische Bedeutung wie ein Rätsel, eben ein aenigma, aufgelöst werden muss Mythen sind bei von der Hardt damit stilistische Elemente einer frühen Geschichtsschreibung, die sich durch eine „arguta dictio“,169 eine poetische Kunstsprache auszeichnet

160 Vgl von der Hardt: Praefatio ad Germaniae Academias S 11 Die Kopplung der beiden Adjektive mythicus und aenigmaticus durch vel zeigt hierbei, dass mythi und aenigmata bei von der Hardt gleich oder doch zumindest sehr ähnlich sind 161 Auch Heyne unterscheidet zwischen Mythen und Fabeln und fordert ebenfalls die Umbenennung von Fabeln in Mythen, vgl Kap 7 1 2 S 210–212 162 Von der Hardt nennt an dieser Stelle leider keine Namen, vgl von der Hardt: Praefatio ad Germaniae Academias S 11 163 Vgl ebd 164 Von der Hardts Ansicht, dass Mythen Symbole und Allegorien für historische Ereignisse seien, prägt das gesamte Werk Aenigmata prisci orbis Er deutet im Hauptteil der Aenigmata die alttestamentarische Figur Jona als Allegorie für das Reich Juda unter der Herrschaft König Josias (640– 609 v Chr ) In Wirklichkeit handele die Erzählung über Jona von dem Konflikt mit den Assyrern, der Auseinandersetzung um die Stadt Ninive und den Feldzügen der Skythen 165 Von der Hardt: Detecta mythologia graecorum in decantato pygmaeorum, gruum et perdicum bello in profundae antiquitatis honorem Homeri, & vetustorum quorumcunque autorum, poetarum, historicorum & geographorum, graecorum & latinorum, desideratam lucem, pro luculenta universae veteris mythologiae idea, et Ezechiele a pygmaeis liberando In: Aenigmata prisci orbis S 29 f 166 Ebd S 30 167 Ebd 168 Ebd 169 Ebd

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

Ein Beispiel dafür, was mit einem aenigma beziehungsweise mythus bei von der Hardt gemeint ist, stellt seiner Erklärung der Entstehung des Bacchusmythos dar Von der Hardt erläutert, der Weingott Bacchus stehe symbolisch für den Erfinder des Weins Dieser Erfinder sei jedoch keine Einzelperson, sondern das Volk der Phocier, die am Berg Parnassos lebten Von der Hardt leitet dies aus der semantischen Analogie der Wörter Phocenses und Bacchus her Etymologisch sei der Name der Phocier von ἐκφωνέω beziehungsweise φωνή abgeleitet, den griechischen Wörtern für (aus-)rufen und Ton, Laut, Stimme Das Wort Bacchus komme vom griechischen βακχεύω, das einen begeisterten, leidenschaftlichen Zustand bezeichnet Aufgrund der ähnlichen Bedeutung der Wörter ἐκφωνέω und βακχεύω seien die Phocier auch Βάκχοι genannt worden, und dies nicht, weil dieses Volk wegen seiner Trunkenheit oder seines Geschreis verrufen war, sondern weil ein Name mit einer Etymologie wie der der Phocier dies nahelege Ein aenigma liegt hier also gleich doppelt vor: Zum einen wird als Erfinder des Weins anstatt eines Volkes ein Einzelner genannt, zum anderen wird das Volk nicht mit seinem eigentlichen Namen bezeichnet, sondern es wird eine andere Bezeichnung mit ähnlicher Bedeutung gewählt, die sich auf die Etymologie des eigentlichen Namens des Volkes bezieht 170 Ein wesentliches Merkmal von mythi oder icones ist, dass sie, so von der Hardt, ursprünglich nicht primär durch erzählende Texte vermittelt wurden, sondern durch andere künstlerische Ausdrucksformen, wie Malerei, Bildhauerei und Musik 171 Mythi sind für von der Hardt also nicht in erster Linie Texte, sondern eher Vorstellungen und Stoffe, die auf verschiedene Arten künstlerisch ausgedrückt werden können Daher schreibt von der Hardt über Homer: „Quomodo cum majoribus suis, apud graecos, Homerus, res graeciae memorabiles, pace belloque gestas, pinxit & cantavit, non tam verbis quam coloribus “172 Homer habe also die Ereignisse, die er beschrieb, nicht durch einen Text mit Worten weitergegeben, sondern gewissermaßen gemalt und gesungen; er verwendete dabei keine Worte, sondern Farben Das heißt, die Anschaulichkeit, Ästhetik und Wirkung der (hier natürlich) sprachlichen Bilder hatte den Vorrang vor inhaltlicher Richtigkeit, Realitätsnähe und historischer Wahrheit Der Grund für diese poetische Art von Geschichtsschreibung sei also vor allem ein höheres Maß an Ästhetik Daneben sei ein weiterer Anlass für dieses symbolische Berichten gewesen, dass die Autoren die eigentlich besungenen Städte und Völker „tutius“,173 also sicherer, mit geringerer Gefahr, loben oder tadeln können wollten 174 So wollten sie sich durch die 170 Vgl von der Hardt: In Bacchum vini et cerevisiae aegypti inventorem In: Aenigmata prisci orbis S 105 171 Vgl von der Hardt: Detecta mythologia graecorum in decantato pygmaeorum, gruum et perdicum bello S 30 172 Ebd 173 Von der Hardt: Argonautae, cives urbis Argi Amphilochici, aureum vellus Argonautarum ex Orphei thesauro In: Aenigmata prisci orbis S 100 174 Vgl ebd

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Darstellung fremder Städte und Völker entweder kritisch oder lobend über die eigene Stadt oder das eigene Volk äußern, und dies sei vor allem durch den Vergleich mit Gegenständen möglich gewesen, die dem Namen und dem Charakter der Griechen entsprächen Daher sei die Grundlage dieser „ars pingendi & simulandi“175 auch der Vergleich mit fremden Städten und Gebieten 176 Ähnlich wie später Heyne sieht von der Hardt in den Mythen auch bewusste künstlerische Verhüllung des eigentlichen Textgegenstandes durch intendierte symbolisch-allegorische Ausdrucksweise Jedoch ist das Motiv für dieses Erzählen bei von der Hardt primär ein sehr hohes Maß an Ästhetik und zudem ein persönlicher Schutz vor einer Gefahr durch ein wörtliches Sprechen ohne Vergleiche; für Heyne hingegen setzte bewusst verwendete Allegorie und Symbolik in den Mythen erst verhältnismäßig spät ein 177 Dementsprechend muss von der Hardt einen deutlich kleineren Adressatenkreis für Mythen annehmen als Heyne Während Heyne davon ausgeht, dass Mythen vor allem auf Festen unter den Anwesenden als sinnstiftendes Gemeinschaftserlebnis mündlich weitergegeben wurden,178 erklärt von der Hardt: Solche historische verblümte uhralter zeit bücher sind nicht für gemeines volck geschrieben gevvesen, sondern für diejenige in und ausser landes grosse leute, vvelche gantzer völcker, reiche, länder, geschichte beobachten, in augen haben, und betrachten musten 179

Dieser deutlich kleinere, geradezu elitäre Adressatenkreis antiker mythischer Texte führte nun dazu, dass aus der Masse der Bevölkerung „solche bücher recht zu verstehen niemand zu solcher zeit [hat] geschickt seyn können“ 180 Folglich könne diese hochentwickelte Literatursprache „in solchen alten gemahleten büchern“181 „der späten nachvvelt“182 erst recht nicht mehr im Detail transparent gemacht werden, weshalb man sich heute „vergnügen muss an dem, dass die haupthistorien ehemaliger vvelt in solchen zierligsten abbildungen eingesehen vverden können “183 Diese „haupthistorien“ können nun beispielsweise aus den Homerischen Epen rekonstruiert werden

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Ebd Vgl ebd Von der Hardt scheint hier davon auszugehen, dass es bereits in der Antike eine zensorische Kontrollpraxis von für die Öffentlichkeit bestimmten Texten gab Inwiefern seine Erfahrungen mit der Zensurbehörde und dem Universitätskuratorium in Helmstedt in diese Bewertung hineinspielen, muss jedoch dahingestellt bleiben 177 Vgl Kap 7 3 S 236–243 178 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 144 179 Von der Hardt: Hohe und helle Sinnbilder Jonae von den Historien Manassis und Josiae In: Aenigmata prisci orbis S 790 Von der Hardt bezieht sich an dieser Stelle zwar auf das Alte Testament, da er aber christliche und heidnische Mythen nicht unterscheidet, sondern gerade deren Ähnlichkeit hervorhebt, kann seine Äußerung zu den Adressaten allgemein für Mythen gelten 180 Ebd 181 Ebd 182 Ebd 183 Ebd

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3 Mythenkonzepte vor Heyne

Beim Abfassen seiner Epen habe Homer, so von der Hardt, auf das Geschichtswissen seiner Vorfahren zurückgegriffen184 und seine „plenior narratio“,185 eine angereicherte Erzählung, sei dann an die Nachwelt immer weiter überliefert worden Dabei blieben Homers Worte erhalten,186 die eigentliche symbolische Bedeutung des Textes geriet aber in Vergessenheit, weil man die alten „figurae“187 der Vorfahren – gemeint sind die alten Symbole beziehungsweise aenigmata – nicht mehr interpretieren konnte Man glaubte daher, die Ereignisse in den Epen seien tatsächlich so geschehen und damit wahr, wodurch den Erzählungen ihre allegorische Sinnebene genommen wurde und von einer wahren, poetisch erzählten, seriösen „historia“ allmählich zu erfundenen, unterhaltsamen „fabulae“ herabgesetzt wurden 188 Spätere Dichter hätten dann begonnen, selbst fabulae im Ton der antiken Geschichtsschreibung zu erfinden und vorzutäuschen, es handele sich um tatsächlich geschehene historische Ereignisse 189 Wenn man daher die eigentlich symbolische Geschichtsschreibung durch mythi von Dichtern wie Homer und Hesiod fabulae nennt, werde man ihren mythischen Texten in keiner Weise gerecht, da fabulae immer etwas Erfundenes seien, diese Geschichtsschreiber aber Wahres im Gewand von Symbolen, eben mythi, beschrieben 190 Eine wichtige Rolle innerhalb der Mythentheorie von der Hardts spielen auch das Volk und die Volksdichtung Er merkt in seinen Aenigmata prisci orbis an, dass die mythischen Erzählungen der Antike nicht immer von einem einzelnen Dichter als Kunstdichtung verfasst wurden, sondern zum Teil über sehr große Zeiträume durch mündliche Überlieferung nach und nach, also durch Volksüberlieferung, entstanden sind Dennoch geht von der Hardt nicht davon aus, dass mythi originär im Volk generiert wurden Vielmehr habe das Volk die mythische Kunstdichtung von Schriftstellern aufgenommen und weitergegeben, ohne jedoch die Symbole und Gleichnisse verstanden zu haben Daher wurde bei der Volksüberlieferung dieser Erzählungen Einiges hinzugefügt und verändert, sodass erfundene fabulae entstanden, die zwar rein äußerlich nicht von mythi zu unterscheiden, im Gegensatz zu diesen aber wirklich fiktiv sind Die falschen Auffassungen der Gelehrten über fabulae und mythi sowie deren nicht vorgenommene Unterscheidung zu seiner Zeit resultierten nun daraus, dass jenes falsche Urteil nicht revidiert wurde und die Unkenntnis der alten mythischen Erzählweise nach wie vor herrsche 191 Um die Absicht der Dichter zu erkennen und den ganzen Sinn des Textes zu enthüllen, sei es nun die Aufgabe des Lesers, und insbesondere des 184 Vgl von der Hardt: Detecta mythologia graecorum in decantato pygmaeorum, gruum et perdicum bello S 39 185 Ebd 186 Vgl ebd 187 Ebd 188 Vgl ebd 189 Vgl ebd 190 Vgl ebd 191 Vgl ebd S 40

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gelehrten Lesers antiker mythischer Texte, immer die alten historischen Ereignisse im Blick zu haben, um zu erkennen, ob fabulae und somit Fiktion durch Volksdichtung oder mythi und somit „occulta historia“192 durch Dichter vorliegen 193 Die Mythentheorien bei von der Hardt und Heyne weisen somit deutliche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf Heyne versucht viel stärker eine Systematik in seinem Mythosbegriff zu etablieren, indem er zwischen drei Mythenarten, dem genus historicum, philosophicum und poeticum, unterscheidet 194 Von der Hardts Mythosbegriff scheint hingegen eher eine Mischung aus dem genus historicum und dem genus poeticum – man könnte sagen, einem genus historico-poeticum – zu entsprechen Von der Hardts und Heynes Erklärungen der Entstehung geschichtlich bedingter Mythen unterscheiden sich insofern wesentlich voneinander, als von der Hardt glaubte, dass antike Geschichtsschreiber, zu denen für ihn vor allem Homer, Hesiod und Orpheus zu zählen sind, absichtlich unrealistisch über historische Ereignisse berichteten und Symbole, Gleichnisse und Allegorien – eben mythi – anstatt einer wirklichkeitsnahen Darstellungsweise wählten Für von der Hardt basiert demnach jeder Mythos auf Geschichte und deren eben nicht offener, sondern eher indirekter Darstellungsweise durch einen „peregrinus habitus“,195 man könnte sagen, durch Verfremdung 196 Aus diesem Grund nennt er Mythen auch „arcana relationes de majorum facinoribus praeclaris“,197 verborgene Berichte über die herrlichen Taten der Vorfahren Heyne hingegen war der Ansicht, dass auch diejenigen, die mythische, auf historischen Ereignissen basierende Erzählungen niederschrieben, den wahren Hergang der Begebenheiten nicht kannten Mythen sind seiner Ansicht nach nicht bewusst erfunden, wie von der Hardt meinte, sondern vielmehr durch Übertreibungen, Vermutungen und Informationsverluste aufgrund wiederholten Berichtens und Hinzuerfindens zur Schließung von entstandenen Informationslücken ein Nebenprodukt der Geschichtsüberlieferung 198 Von der Hardt hingegen glaubte, die mythi seien nicht durch Überlieferung entstanden, sondern umgekehrt gerade durch Überlieferung verdorben und zerstört worden, sodass aus wahren mythi erfundene fabulae wurden Der Urheber sei dabei immer ein einzelner Dichter, auch wenn die mythischen Erzählungen zum Teil so alt seien, dass sich die Namen der Dichter nicht mehr rekonstruieren ließen 199 Heyne hingegen benennt ganz allgemein die homines veteres, antiqui oder rudes, die Menschen der Antike,

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Ebd Vgl ebd Vgl Kap 7 2 S 221–236 Von der Hardt: Argonautae, cives urbis Argi Amphilochici, aureum vellus Argonautarum ex Orphei thesauro S 100 196 Vgl ebd 197 Ebd S 48 198 Vgl Kap 7 2 S 227–231 199 Diese Auffassung lässt sich aus von der Hardts Äußerungen über die Entstehung des Bacchusmythos erschließen, vgl von der Hardt: In Bacchum vini et cerevisiae aegypti inventorem S 105

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als die Begründer der frühen Mythen des genus historicum und nimmt keinen konkreten Schriftsteller an Lediglich die jüngeren Mythen des genus poeticum sind seiner Ansicht nach Produkte von Individuen, die jedoch auf die älteren Mythen zurückgreifen Für Heyne sind Mythen folglich in ihrer ursprünglichen Form kollektiv entstanden, während von der Hardt kollektive Mythengenese nicht in Betracht zieht Hermann von der Hardts Schrift Aenigmata prisci orbis zeigt, dass die Frage nach dem Wesen des antiken Mythos und die Forderung, die antiken Mythen als wissenschaftlichen Gegenstand ernst zu nehmen und sie daher umzubenennen, bereits deutlich vor dem Erscheinen der Schriften Heynes zur Mythentheorie in den wissenschaftlichen Diskurs Eingang gefunden hatten Von der Hardt bemühte sich dabei, die Beschäftigung mit Mythen auf einem wissenschaftlichen Niveau zu vollziehen und machte deutlich, dass sich hinter den mythischen Erzählungen der Antike historische Ereignisse verbergen und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Alter Geschichte unmöglich ist, wenn man sich nicht auch mit Mythen befasst Dabei ähneln sich die Ansichten von der Hardts und Heynes in einigen Punkten auffällig, insbesondere was die Forderung nach einer Umbenennung von Fabeln in Mythen betrifft Es stellt sich daher die Frage, ob Heyne von der Hardts Aenigmata prisci orbis möglicherweise gekannt und Anregungen von ihm übernommen haben könnte Dass sich Heyne und von der Hardt persönlich kannten, ist aufgrund des großen Altersunterschiedes und der unterschiedlichen Herkunft auszuschließen 200 Dennoch gibt es einige Indizien, die nahelegen, dass Heyne einige der Schriften von der Hardts gekannt haben könnte Ein Anhaltspunkt besteht darin, dass Heyne wenigstens eine Person recht gut kannte, die mit von der Hardts Schriften definitiv vertraut war, nämlich keinen geringeren als Johann Gottfried Herder Dieser erwähnt in der Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts und im Journal meiner Reise von 1769 von der Hardt an zwei Stellen201 und hatte seine Schriften demnach gelesen Nicht nur dass Heyne Herder als Gelehrten sehr schätzte,202 sondern auch dass Heyne bei einigen Bänden der Anthologie Herders als Herausgeber fungierte, zeigt, dass wiederum Heyne Herders Abhandlungen bekannt gewesen sein mussten und er im Rahmen seiner Herausgebertätigkeit auch auf den Namen von der Hardts gestoßen sein dürfte, wenn er ihn nicht ohnehin schon kannte Ein weiteres Argument für die These, dass Heyne von von der Hardts Text

200 Von der Hardt starb am 28 Februar 1746 in Helmstedt im Alter von 85 Jahren, vgl Klippel: Hermann von der Hardt S 768 Heyne war zu diesem Zeitpunkt erst 16 Jahre alt und besuchte das Lyzeum in Chemnitz, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S XX Da Heynes Vater ein ursprünglich aus Schlesien stammender Leineweber war, vgl ebd S 5, von der Hardts Eltern hingegen aus Geldern im unteren Niederrheingebiet kamen und dann nach Osnabrück übersiedelten, ist auch eine Bekanntschaft oder Verwandtschaft beider Familien sehr unwahrscheinlich 201 Vgl Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise von 1769 In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 4 S 361; Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 6 S 360 202 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 174

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Kenntnis hatte, ist die geographische Nähe der Wirkungsstätten beider Autoren 203 Zudem hatte Heyne nachweislich das Buch Verdienste der Professoren zu Helmstädt um die Gelehrsamkeit von Paul Jakob Bruns gelesen 204 Hierin werden von der Hardts Vita und insbesondere seine akademische Laufbahn beschrieben 205 Auch seine „seltsamen und paradoxen Meinungen“206 bei der Bibelexegese werden hier thematisiert Bruns schreibt, von der Hardt „fand Mythen und Sinnbilder in den biblischen Schriften, so wie die gesammte alte Welt ihre Vorstellungen nicht anders ausgedrückt hätte“ 207 Heyne muss diese Darstellung der Helmstedter Professoren gründlich gelesen haben208 und insbesondere auch den Abschnitt zu Hermann von der Hardt, denn er nennt von der Hardt in seiner Rezension zu Bruns Werk einen exzentrischen, aber scharfsinnigen, Gelehrten, von dem man sich, wie gewöhnlich ist, mehr beflissen hat, die Schwächen als die Verdienste, aufzudecken, mehr das Sonderbare zu erzählen, als das wirklich Merkwürdige im Andenken zu behalten 209

Des Weiteren erwähnt Heyne von der Hardts Namen in einer Rezension aus dem Jahr 1788 Der Herausgeber der hier besprochenen Ausgabe der Fragmente des Hellanikos von Lesbos, Friedrich Wilhelm Sturz, stützt sich in seinen Erläuterungen auf verschiedene ältere Autoren, was Heyne vor allem dann bemängelt, „wenn die Träumer, von der Hardt und Graf Carli, angeführt werden “210 Zudem erschienen weitere Rezensi-

203 Ein weiterer, allerdings schwächerer Anhaltspunkt ist, dass sich von der Hardt nachweislich an Orten aufhielt, an denen auch Heyne später lebte, wie die Biographien beider Gelehrter überhaupt überraschend viele Ähnlichkeiten und Berührungspunkte zeigen: Beide erlangten in Leipzig die Magisterwürde, hielten sich in Dresden auf und erhielten Anstellungen als Bibliothekare, Sekretäre und Professoren, Christian Benedikt Michaelis fällte über von der Hardt das sehr unschmeichelhafte Urteil, er sei hochmütig, habe viel „ingenium und sehr wenig judicium und ergreife daher und vertheidige alle Hirngespinste seines ausschweifenden Kopfes, so daß sein Gehirn ein verworrener Haufe der allerabgeschmacktesten Meinungen, eine Vorrathskammer alberner Erklärungen und eine reiche Mutter der Thorheiten sei“ (zit in Klippel: Hermann von der Hardt S 769), dessen Sohn wiederum, Johann David Michaelis, war Heynes Vorgänger als Bibliothekar in Göttingen und arbeitete einige Jahre gemeinsam mit ihm in der Bibliothek Vgl allgemein zu den Biographien von der Hardts und Heynes Heeren: Christian Gottlob Heyne; Klippel: Hermann von der Hardt; zu von der Hardt außerdem: Friedrich Wilhelm Bautz: Hardt, Hermann von der In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd 2 Hamm: 1990 Sp 534 f Gemeinsame Bekannte oder eine allgemeine Bekanntheit von der Hardts an Heynes Wirkungsstätten sind somit nicht auszuschließen 204 Heyne rezensierte diese Schrift im Jahr ihres Erscheinens, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 157 St In: GGA 1810 S 1561–1567 205 Vgl Paul Jakob Bruns: Verdienste der Professoren zu Helmstädt um die Gelehrsamkeit, Ein Fragment, Philologen, Philosophen, Mathematiker Halle/Berlin: 1810 S 25–33 206 Ebd S 31 207 Ebd 208 Davon zeugt allein schon der Umfang der Rezension, die er zu diesem Werk verfasste Mit insgesamt sieben Seiten gehört sie zu den längeren seiner Kritiken 209 [Heyne]: 157 St In: GGA 1810 S 1563 210 [Christian Gottlob Heyne]: 1 St In: GGA 1788 S 8

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onen von anderen Mitarbeitern der GGA, in denen von der Hardt erwähnt wird, als Heyne Redakteur dieser Zeitschrift war: nämlich 1784,211 1798212 und 1805 213 Des Weiteren ist zu klären, ob Heyne überhaupt Zugang zu von der Hardts Aenigmata prisci orbis hatte Laut Auskunft der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen verzeichnet das Akzessionsjournal, dass das genannte Werk am 13 Juni 1750 in den Bestand der Bibliothek aufgenommen wurde Demzufolge hat Heyne von der Hardts Schrift zwar nicht selbst in seiner Zeit als leitender Bibliothekar in Göttingen angeschafft, er hatte jedoch Zugriff darauf Zwar ist nicht zweifelsfrei nachweisbar, ob Heyne von der Hardts Aenigmata prisci orbis gelesen hat, allerdings kannte er ihn zumindest aus Bruns’ Darstellung über die Helmstedter Philologen, Philosophen und Mathematiker und wusste demnach auch um seine Art der Bibelexegese und seinen daher entstandenen umstrittenen Ruf wenigstens in groben Zügen Jedenfalls erscheint von der Hardt mit seiner Entmythisierung, Entmystifizierung und Entdogmatisierung der Bibel als ein radikalaufklärerischer Vorläufer Heynes Sein Credo – „Wunder gibt es nicht in der wirklichen Welt, nur im Inneren der Person“214 – wird ein halbes Jahrhundert später auch Heyne zur Grundlage seiner mythentheoretischen Schriften machen Dass die Mythentheorie Heynes heute „das uneingestandene Erbe von der Hardts“215 genannt werden kann, mag nicht zuletzt daran liegen, dass von der Hardt aufgrund seiner selbst damals gewagten und heute zum Teil bizarr anmutenden Thesen216 als Vorbild denkbar ungeeignet war

Johann Christoph Friedrich Schulz rezensiert hier die syrische Kurzgrammatik Breuis linguae Syriacae institutio von Jacob Georg Christian Adler, die „ohngefehr nach Hermann von der Hardts Muster eingerichtet [ist]“ ([ Johann Christoph Friedrich Schulz]: 150 St In: GGA 1784 S 1502) 212 In der Rezension zu dem juristischen Gutachten Über die Verbesserung des Judeneides von Moses Philipson, in dem unter anderem auf die Besonderheiten des Eidablegens vor Gericht durch Juden eingegangen und eine jüdische Eidesformel vorgeschlagen wird, bemängelt der Rezensent, der Jurist Johann Anton Ludwig Seidensticker, dass der Autor nicht die Verdienste Hermann von der Hardts und dessen Neffen Anton Julius um die Aufnahme einer Eidesformel für Juden in Zelle und Braunschweig erwähnt, vgl [ Johann Anton Seidensticker]: 124 St In: GGA 1798 S 1234–1238, insbes S 1238 213 Gottlob Wilhelm Meyer stellt hier den von ihm selbst verfassten vierten Band der Geschichte der Schrifterklärung seit der Wiederherstellung der Wissenschaften vor, in dem die Geschichte der Theologie seit der Reformation bis zum Ende des 17 Jahrhunderts dargestellt wird und auch Hermann von der Hardt ein Abschnitt gewidmet ist, vgl [Gottlob Wilhelm Meyer]: 110 St In: GGA 1805 S 1089–1092, insbes S 1090 214 Martin Mulsow: Sintflut und Gedächtnis, Hermann von der Hardt und Nicolas-Antoine Boulanger In: ders / Jan Assmann (Hg ): Sintflut und Gedächtnis, Erinnern und Vergessen des Ursprungs München: 2006 S 143 215 Ebd 216 So vertritt von der Hardt beispielsweise die These, das Hebräische habe sich aus dem Griechischen entwickelt, vgl Hermann von der Hardt: Commentarii linguae hebraeicae ex graecia apologiae tres Helmstedt: 1727 211

Kapitel 4 Heyne im Spiegel der Mythendiskussion seiner Zeit Wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, waren die Vorstellungen von Mythen in Europa bis in die Gegenwart Heynes sehr uneinheitlich Die antiken Götter- und Heldenstoffe galten hauptsächlich als die Erfindungen antiker Dichter ohne Wahrheitsgehalt, wobei diese sehr oft als eigenständige, reflektiert agierende Individuen angesehen wurden, die im Bewusstsein des Dichtens absichtlich fiktive Texte erschufen, die höchstens von poetischem Wert waren Andere Gelehrte betrachteten die Mythen des Altertums als unwahr, irrational und als die Irrtümer früherer Epochen Diese Darstellungen wurden besonders im Rahmen der Apologetik des Christentums verbreitet, indem man, wie etwa Pomey, versuchte die Erzählungen über die Götter und Heroen der Antike als heidnisch, gottlos und frevelhaft darzustellen 1 Gegen Ende des 18 Jahrhunderts tritt zudem verstärkt die These auf, Mythen seien nichts weiter als ein Priesterbetrug und somit ein wirksames Mittel, das deren Machtposition legitimieren und festigen sollte Allgemein wurde Mythen keine tiefere Bedeutung beigemessen; man sah sie vielmehr als unterhaltsame, phantasievolle Erzählungen, als literarische Texte von relativ niedrigem Niveau an Symptomatisch für diese Vorstellung von Mythen in dieser Zeit ist das Erscheinen von Gustav Schwabs Die schönsten Sagen des klassischen Altertums 2 Mit dieser Sammlung antiker Mythen versuchte Schwab, die Antike Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen Indem er Mythen verschiedener Herkunft zu einem geschlossenen Erzähltext zusammenstellte und dafür sorgte, dass „alles Anstößige entfernt bleibe“,3 erschuf er ein jugendgerechtes, unterhaltsames Werk, das bereits kurz nach seinem Erscheinen große Erfolge feierte4 und bis heute einen Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur darstellt 5 Neben dieser unterhaltenden Funktion spielten Mythen auch für die Bildung der oberen Gesellschaftsschichten eine entscheiden1 2 3 4 5

So etwa Pomey, vgl Kap 3 2 1 S 52–55 Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, 3 Bde Stuttgart: 1838–1840 Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Bd 1 S VII Die zweite Auflage erschien bereits 1846, also nur sechs Jahre nach dem Ersterscheinen des dritten Bandes Schwabs Werk wurde immer wieder neu aufgelegt und überarbeitet Die neueste Ausgabe erschien erst im Juni 2015 im Loewe-Verlag

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de Rolle: Man musste sich in der antiken Mythenwelt auskennen, allein schon um die Kunstwerke dieser Zeit zu verstehen Dass die antike Mythologie nach wie vor zum Bildungskanon gehörte und als künstlerischer Code, Stoff- und Motivquelle verwendet wurde, zeigt neben unzähligen anderen Werken der Literatur, Musik und bildenden Künste allein schon Goethes Faust II Sie diente dabei häufig als Möglichkeit, kritische Aussagen kunstvoll zu verschleiern oder Erotik frei darstellen zu können – unter einem mythologischen Gewand konnten anstößige Aussagen und Darstellungen verborgen werden und erhielten stets ihre Legitimation, da Inhalte in eine Phantasiewelt verschoben wurden, deren Kenntnis als Ausdruck höchster Bildung galt So konnte etwa Goethes Prometheus als Kritik an den konventionellen Vorstellungen eines herrschenden, strafenden Gottes und damit auch am Katholizismus gelesen werden, ohne dass dies ausgesprochen werden musste Nackte Frauen konnten gemalt werden, wenn man sie nur Venus, Echo oder Daphne nannte 6 Dieser enorm hohen kulturellen Bedeutsamkeit der antiken Mythologie versuchte man seit dem beginnenden 18 Jahrhundert mehr und mehr Rechnung zu tragen, indem man sie neu zu interpretieren versuchte Es kamen nun erstmals mit Fontenelle und Vico Ansätze auf, die das Entstehen der Mythen durch psychologische Grunddispositionen und die Lebensbedingungen in primitiven Gesellschaften erklären sollten Von der Hardt und Banier verwiesen mit ihren euhemeristischen Ansätzen bereits auf einen wahren historischen Kern in den Mythen, der für die historischen Wissenschaften nutzbar gemacht werden könne, und häufig wurde der Irrationalismus der Mythologie dabei durch ein spezifisch antikes nichtwörtliches, allegorisches Sprechen erklärt, so etwa bei Vico, von der Hardt und Banier Man versuchte der Mythologie so in einer Gesellschaft, die sich selbst als aufgeklärt verstand, ihren Platz – den sie ohnehin hatte – zu sichern und ihr ihre Anstößigkeit zu nehmen, indem man ihr einen historischen oder poetischen Wert gab Wie verhielt sich nun Heyne zu den zu seiner Zeit verbreiteten Vorstellungen von antiken Mythen? Er versuchte durch seine Abhandlungen und eine wissenschaftliche Beschäftigung mit antiker Mythologie ein neues und vor allem differenziertes Mythenbild zu etablieren 7 So prangert er in seiner Vorrede zu Martin Gottfried Hermanns Handbuch der Mythologie die damalige Behandlung der antiken Mythen als

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Zur Bedeutsamkeit der Mythologie als Indikator für höhere Bildung und künstlerischer Code im 17 und 18 Jahrhundert vgl Jean Starobinski: Fabel und Mythologie im 17 und 18 Jahrhundert In: Das Rettende in der Gefahr, Kunstgriffe der Aufklärung, Übers v Horst Günther Frankfurt a M : 1990 S 318–337 Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 4; 5; 16 Heyne weist an den genannten Stellen darauf hin, dass die antike Mythologie eine überaus komplexe und heterogene Sache von enorm hoher Bedeutsamkeit sei, der jedoch oftmals mit vollkommen falschen Vorstellungen begegnet werde Um ein genaueres und vor allem richtiges Bild von antiken Mythen, von dem alten Wissen, das in den Mythen steckt, und vom Altertum überhaupt zu erlangen, müsse man sich im Bewusstsein um diese Heterogenität intensiv und wissenschaftlich mit ihnen befassen

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sehr stiefmütterlich an und formuliert das Ziel, Mythen für wissenschaftliche Zwecke nutzbar zu machen:8 Gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu, da es zu der vermeintlichen Aufklärung des Zeitalters gehört, die ganze alte Litteratur, unbedingter Weise, für unnütz zu erklären, scheint die Empfehlung eines mythologischen Buches in der That ein wenig zu späte zu kommen […] Die vielen schiefen Urtheile von so verschiedener Art über Mythologie, ihre Entbehrlichkeit, Unzulässigkeit und Schädlichkeit, müssen sich auch abändern, wenn man sie in der rechten Gestalt dargestellt siehet […] [Ich will] vielleicht das Urtheil derjenigen ein wenig einlenken können, die die Mythologie ganz aus dem Kreis der Kenntnisse, selbst für den gelehrten Unterricht, verbannen wollen 9

Heyne gibt zu, dass, wenn die antike Mythologie nichts weiter als ein Inbegriff von Fabeln, Erdichtungen und ungereimten Mährchen, oder wohl gar von Stücken des heidnischen Aberglaubens [ist], […] der Nutzen allerdings sehr eingeschränkt [ist],10

doch stellt er fest: „Allein die Sache verhält sich etwas anders “11 Seiner Auffassung nach ist Mythologie „an und für sich die älteste Geschichte und älteste Philosophie; und von dieser Seite erhält sie einen neuen Werth“ 12 Diesen Wert versuchte Heyne immer wieder in seinen akademischen Veröffentlichungen deutlich zu machen Heyne geht selbst nur an wenigen Stellen auf die Äußerungen anderer Autoren ein;13 ein paarmal erwähnt er außerdem, dass sich auch andere mit den von ihm behandelten Themen befassten 14 Aus diesem Grund muss letztlich offen bleiben, welche Autoren seine Mythentheorie direkt beeinflussten 15 Im Folgenden soll diese daher in die Mythendiskussion des 18 Jahrhunderts eingebettet werden

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Heyne moniert auch an anderen Stellen den schlechten Stand der Mythen in wissenschaftlichen Diskursen, vgl z B Christian Gottlob Heyne: Praefatio In: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae cum commentatione de Apollodoro argumento et consilio operis et cum Apollodori fragmentis, Bd 1 Göttingen: 1783 S 3 Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a2rf Ebd S a2v Ebd S a3r Ebd Vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 39 f , Anm d) Hier zitiert Heyne Clarke und Ernesti und geht kritisch auf deren Ansichten ein Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 14; Sermonis mythici seu symbolici interpretatio ad caussas ductasque inde regulas revocata S 286, Anm a); 286 Heyne schreibt an den angegebenen Stellen lediglich, dass sich bereits andere Gelehrte hinreichend mit Mythologie und deren Entstehung befasst hätten Dass die Voraussetzung für die Entstehung des Heyne’schen Mythosbegriffs noch weitgehend ungeklärt sind, konstatiert auch Horstmann, vgl Horstmann: Mythologie und Altertumswissenschaft S 60

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In der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts, also zu der Zeit, als auch Heyne seine Schriften zu Mythentheorie veröffentlichte, nimmt die Beschäftigung mit antiker Mythologie deutlich zu Hier übten die dunklen Frühzeiten der Geschichte eine enorme Anziehungskraft auf die Gelehrten aus Der Ursprung von Sprache, Religion, Mythen, Philosophie und der Menschheit überhaupt stellte somit ein wichtiges Forschungsthema dar, das auch Heyne mit größter Aufmerksamkeit verfolgte Er beobachtete dabei zwei ausgesprochen populäre Möglichkeiten, antike Mythen neu zu interpretieren und zu deuten: einerseits den Zugang über Etymologie und andererseits den über Symbolik Mit der etymologischen Methode kam Heyne durch das ursprünglich auf 30 Bände ausgelegte Werk Le monde primitif, analysé et comparé avec le monde moderne des Theologen Antoine Court de Gébelin16 (1719–1784) in Kontakt, das dieser seit 1772 herausgab Court de Gébelin war ähnlich wie Jean-Sylvain Bailly17 von der Existenz eines gemeinsamen untergegangenen Urvolks und einer Ursprache, auf die sich alle Sprachen zurückführen lassen, fest überzeugt 18 Man müsse daher nur das Leben und die Bedürfnisse der Frühmenschen verstehen; dann könne man daraus die Ursprache und -grammatik ableiten Diese wiederum in Verbindung mit dem Aufkommen von Schriftlichkeit seien der Schlüssel zur Antike, da aus der verschriftlichten Sprache wiederum auf die Lebensumstände und das Denken der Menschen geschlossen werden könne Das wichtigste Element zur Erschließung des antiken Lebens stellen daher für Court de Gébelin die antiken Quellen dar Diese Erzählstoffe sind bei ihm ganz ähnlich wie bei Hermann von der Hardt kunstvoll ersonnene Allegorien, verfasst in der typisch antiken allegorischen Sprache 19 Aus diesen Allegorien wiederum könne man durch sprachliche, insbesondere etymologische Analysen den eigentlichen Sinn rekonstruieren; und dieser bestehe entweder aus Berichten über historisch bedeutsame Ereignisse, wie etwa die Erfindung des Ackerbaus oder des Kalenders, oder aus den 16 17 18

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Antoine Court de Gébelin: Monde primitif, analysé et comparé avec le monde moderne, 9 Bde Paris: 1772–1782 Zur Urvolkhypothese bei Bailly vgl Manfred Petri: Die Urvolkhypothese, Ein Beitrag zum Geschichtsdenken der Spätaufklärung und des deutschen Idealismus Berlin: 1990 (= Historische Forschungen, Bd 41) S 121–150 Die Annahme, dass es eine gemeinsame Ursprache gebe, und Versuche, diese zu rekonstruieren, waren im 18 Jahrhundert durchaus populär So sollte etwa auf Befehl Katharinas II ein Glossaire universel et comparatif de toutes les Langues angelegt werden, mit dessen Hilfe man die Ursprache freilegen zu können hoffte Heyne äußert sich skeptisch über das Ziel des Unternehmens Seiner Ansicht nach könne es „eine Langue primitive, die durchaus für uns verloren ist und seyn muß, nicht wieder finden helfen“ ([Christian Gottlob Heyne]: 201 St In: GGA 1785 S 2029), doch könne zumindest „der Gewinn für Völkergeschichte, Menschengeschichte, Sprachmetaphysik und Psychologie unendlich groß seyn“ (ebd ) So leitet er etwa aus einem Fragment Sanchuniathons ab, dass die Erzählungen um die Gottheit Saturn von der Erfindung des Ackerbaus berichten, vgl Court de Gébelin: Second Fragment de Sanchoniaton, ou histoire de Saturne, Allégorie sur l’invention de l’agriculture In: Le Monde primitif, Bd 1 S 1–97

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Botschaften des Alten Testaments Court de Gébelins Ansicht nach verbergen sich nämlich hinter einem großen Teil der antiken Gottheiten die Inhalte der jüdischen Religion, die durch kulturellen Transfer in die nichtjüdischen antiken Gesellschaften übergingen, durch die Weitergabe jedoch stark verzerrt wurden Die ersten acht Bände der Monde primitif unterzog Heyne einer ausführlichen Rezension in den GGA 20 Heyne bescheinigt dem Verfasser „bey einem Umfang von Kenntnissen, einer Fruchtbarkeit von Witz, einem Feuer von Einbildungskraft […] viele edle Gesinnung und warme Menschenliebe“,21 fand das Werk an sich jedoch im Ganzen offensichtlich sehr merkwürdig – es enthalte eine „Menge sonderbarer Dinge“22 und der Leser solle „sehr auf seiner Hut seyn, zumal wenn er irgend in einem Punkte mit dem Verf sympathisirt, damit er bey kaltem Blute bleibt“ 23 Er bestätigt, dass es in seiner Ausführung durch „viel Blendendes, Auffallendes, unerwartet Zusammentreffendes, auch wirklich Wahres und Richtiges“24 sehr anziehend wirkt, da es die antike Welt scheinbar schlüssig erklärt, doch sei es gerade in seiner Geschlossenheit auch hochgradig unwissenschaftlich, da allzu häufig „das Unerwiesene und Unerweisliche, blosse Möglichkeit und Muthmassung, mit dem Scheinbaren zusammenläuft“ 25 Das Problem an der Schrift sei, dass Court de Gébelin seine gesamte systematische Auslegung der antiken Mythologie ausgehend von der Grundthese führt, dass darin absichtlich geschaffene und allein durch sprachliche Analysen rekonstruierbare Allegorien lägen Und genau diese Grundannahme sei bereits falsch, denn eine Sache, die ganz historisch ist, und bloß historisch erwiesen werden müßte, wird a priori dargethan; alles gehet von willkührlich angenommenen oder willkührlich angewandten Sätzen und Begriffen aus 26

Court de Gébelins ausschließlich theorie- und systeminterne Argumentationsweise führe daher zwar zu einer erstaunlich ausführlichen und pseudoschlüssigen Analyse, im Grunde seien seine umfassenden Ausführungen aber nur „Millionen Fäden, Stricke, Taue, die an ein Haar geknüpft sind, das im Winde spielt“ 27

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Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 10 St In: GGA 1782 S 145–154 Albrecht von Haller hatte bereits 1773 den ersten Band der Monde primitif angezeigt und grob Anlage und Inhalt des Werks angegeben, vgl [Albrecht von Haller]: 46 St In: Zugabe zu den GGA 1773 S CCCCI f Allerdings mache, so Heyne, das Werk „zu viel Aufsehens, als daß wir es ganz übergehen könnten“ ([Heyne]: 10 St In: GGA 1782 S 145) Daher rezensierte Heyne es erneut und deutlich ausführlicher Ebd Ebd Ebd S 145 f Ebd S 146 Ebd Ebd Ebd S 147 Ähnliche Beurteilungen finden sich auch in anderen Rezensionen Heynes So schreibt er beispielsweise in der Rezension zu einer Zusammenfassung der Werke Rousseaus und Court de Gébelins durch einen anonymen Verfasser: „neun Bände vom Monde primitif durchzulesen –

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Court de Gébelins sprachlich-etymologischer Ansatz bei der Mytheninterpretation fand einige Anhänger, insbesondere in Frankreich So erklärt etwa auch Jean Baptiste Lefebvre de Villebrune in seiner Silius-Italicus-Ausgabe Eigennamen und Mythen durch etymologische Analysen; Heyne konstatiert in der entsprechenden Rezension: „Dies etymologische Fieber greift um sich, wie wir sehen; der Himmel verhüte, daß es unsere Deutschen nicht auch ergreift “28 Auch Jean-Paul Rabaut de Saint-Étienne griff in seinen Lettres à Monsieur Bailly sur l’histoire primitive de la Grèce von 178729 die Ideen von Bailly und Court de Gébelin auf Er geht hier von einem primitiven Urvolk aus, das über eine allegorische Ursprache verfügte, die es an andere spätere Völker weitergab Diese konnte dann aber nicht mehr als nichtwörtliches Sprechen interpretiert werden, sodass die Erzählungen in dieser symbolischen Sprache als Tatsachenberichte verstanden wurden, woraus sich wiederum die Mythologie formierte Diese „histoire primitive“ enthält bei Rabaut de Saint-Étienne antike Geographie und Astronomie 30 So seien die mythischen Figuren nichts anderes als ursprünglich bewusst personifizierte Berge, Flüsse, Städte, Länder und Sternbilder 31 Wie Court de Gébelin versucht nun also auch Rabaut de Saint-Étienne die allegorische Ursprache durch etymologische Analysen wiederherzustellen Heyne jedoch kritisiert: Man weiß von dem einen so wenig als von dem andern; desto mehr läßt sich hinzudenken; man nimmt unsere neuen Vorstellungen und Begriffe und legt sie den Völkern, die von

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ist eine starke Buße, die sich der Verfasser auferlegt hat“ ([Christian Gottlob Heyne]: 201 St In: GGA 1785 S 2033), denn „das System von Court de Gebelin ist unter einem […] Haufen von schwärmerischen Chimären versteckt“ (ebd ); es sei nicht nur „unerwiesen“, sondern auch „wider alle Psychologie, Erfahrung und Geschichte“ (ebd S 2034 ) So ähnlich außerdem [Christian Gottlob Heyne]: 35 St In: GGA 1779 S 553: „Court de Gebelin, Bailly, mit ihren chimärischen Einfällen, müssen keinen Platz in einem Handbuche der Mythologie haben“; [Christian Gottlob Heyne]: 76 St In: GGA 1781 S 613: Heyne schreibt hier, Court de Gébelin sei jemand, „den nachschlagen mag, wer grundlose Hypothesen und Spielwerke lesen will“; [Christian Gottlob Heyne]: 68 St In: GGA 1780 S 560: in einer Aischylos-Ausgabe überlässt der Herausgeber „alle allegorische Erklärung der Mythologie dem Hrn Bryant und Hrn Court de Gebelin […]: in guten Händen ist die Mythologie bey keinem von beyden“ (zu Jacob Bryant s u S 89–91) [Christian Gottlob Heyne]: 17 St In: GGA 1782 S 265 Im Folgenden nennt Heyne einige Beispiele „[g]anz im Geist des Hrn von Gebelin“ (ebd ) Dass die sprachlich-etymologische Methodik Court de Gébelins nach Heynes Wahrnehmung zwar im deutschsprachigen Raum bekannt sei, aber wenig angewendet werde, geht auch aus einer späteren Rezension hervor: „[D]ie chimärische Art, alte Geschichte, Fabel und Kunst zu erklären […] [ist] eine Krankheit, von der sich der Deutschen Bonsens bisher noch, wenige Ausnahmen abgerechnet, frey erhalten hat; ob schon Court de Gebelin, Bailli, und andre unter uns gar nicht unbekannt geblieben sind“ ([Christian Gottlob Heyne]: 135 St In: GGA 1790 S 1357) Jean-Paul Rabaut de Saint-Étienne: Lettres à Monsieur Bailly sur l’histoire primitive de la Grèce Paris: 1787 Vgl ebd S 369 Die Argonautenfahrt interpretiert Rabaut de Saint-Étienne beispielsweise als eine Darstellung antiker astronomischer Kenntnisse, die in „une manière figurée“ (ebd S 372) verschriftlicht wurde, vgl ebd S 370–407

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allem dem nichts hatten, unter; und so gehet es, wie man von den Alchemisten sagt, sie machen Gold, indem sie erst heimlich Gold in den Schmelztiegel legen Unser Hr Verf […] legt dasjenige in die Mythologie hinein, was er darin finden will 32

Freilich, gibt Heyne zu, könne es sich bei einigen mythischen Figuren um Personifikationen handeln, problematisch an der Methode Court de Gébelins und seiner Anhänger sei aber, wenn man eine allgemeine Hypothese über die Mythologie, die doch ein so ganz vielartiges Ding ist, darauf bauet; wenn nun die ganze Mythologie ein Corpus von Geographie und Astronomie seyn soll, und wenn man von Ecriture universelle des peuples primitifs spricht, und dann nichts weiter geben kann, als ein Dutzend griechische Fabeln, die man willkührlich zerlegt und deutet 33

Die Court de Gébelin’sche Methode der Mythendeutung krankt Heynes Sicht nach also vor allem daran, dass philosophische und historische Methodik vertauscht wurden: Philosophiren muß man, wenn erst die historischen Data richtig bestimmt sind; aber solche Gelehrte philosophiren sich Thatsachen, und dann fangen sie an, davon zu erzählen 34

Kurz nach dem Erscheinen des Court de Gébelin’schen Werks verfolgte der britische Philologe Jacob Bryant (1715–1804) einen ähnlichen Ansatz In seinem Werk A New System or Analysis of Ancient Mythology, erschienen zwischen 1774 und 1776, leitet dieser die gesamte antike Mythologie aus dem Hebräischen her Er glaubte, dass sich die Nachfahren Hams auf der ganzen Welt verbreiteten und als die bedeutendsten Kulturüberbringer die Erzählungen der Genesis überall hin brachten, sodass sich diese nun aus den alten Mythen rekonstruieren ließen So sei Ham in Ägypten und Phönizien als Sonnengott verehrt worden; dementsprechend sei nun der Name des Sonnengottes Amun eine verdorbene Form des Namens Ham, weshalb Bryant diese Völker Amonier nennt Diese hätten eine gemeinschaftliche Sprache gehabt,35 die er zur Grundlage seiner etymologischen Spekulationen macht 36 Im Hauptteil versucht er durch etymologische Analysen von Orts- und Götternamen sowie anderen mythischen Begriffen auf spezifische religiöse Vorstellungen und Praktiken zu schließen und deren Herkunft 32 33 34 35 36

[Christian Gottlob Heyne]: 150 St In: GGA 1787 S 1500 Ebd S 1500 f Ebd S 1501 Vgl Jacob Bryant: A New System or an Analysis of Ancient Mythology, Wherein an Attempt is made to divest Tradition of Fable, and to reduce the Truth to its Original Purity, Bd 1 London: 1773 S VII So seien etwa Camarina (antike Stadt auf Sizilien), Amun, Kamera, Kamin, Camilla und zahllose andere Wörter und Eigennamen auf den Wortstamm Ham beziehungsweise Cham zurückzuführen, vgl ebd S 3–5

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und Verbreitungsgeschichte zu verfolgen In unendlichen, eher assoziativen Ketten von Ableitungen aus ähnlichen Lautfolgen im Amonischen, Hebräischen und Griechischen konstruiert er dabei Gottheiten, deren Namen auf ursprünglich amonischen Worten fußen sollen 37 Heyne hielt Bryants spekulative etymologische Analysen offensichtlich für so abstrus, dass er glaubte, das „Buch dürfte nicht sehr bekannt werden“,38 und unterzog aus diesem Grund zumindest den ersten Band einer besonders ausführlichen Rezension 39 Bryants etymologische Methodik kritisiert er dabei scharf Seine Etymologien machen, so Heyne, den ganzen Grund aus, auf welchem er Geschichte baut; noch mehr, er reißt gute tüchtige alte historische Gebäude nieder, und setzt an ihrer Stelle Luftschlösser aus Etymologien geblasen […] [W]ie ein Schneeball wächst ihm die Hypothes unter den Händen so hoch, daß er endlich selbst nicht mehr darüber hinweg sehen noch den Klumpen weiter bewegen kan Nun vergißt er, daß es das Werk seiner Hände war, und sieht es als Denkmal von Jahrtausenden an: macht die scharfsinnigsten Deutungen von dem ganzen Bau und dem Geiste der frühen Weltalter 40

Bescheinigt Heyne Bryant auch eine ausgesprochene „Belesenheit und […] Gelehrsamkeit“,41 so ist er seiner etymologischen Methode gegenüber doch zutiefst skeptisch Es gebe in allen Sprachen gewisse Aehnlichkeiten von Tönen, zumal von den einfachen, die immer wieder vorkommen und überall einerley oder fast einerley sind; fängt man einmal an, zu etymologisiren, und sieht sie als Elementartöne an, so findet man überall alles was man will […] Wie es Hr B[ryant] anfänget, so könnte man […] die Utahitischen Worte nehmen, die Töne mit den Malayischen oder andern vergleichen, und so die ganze Geschichten der Utahiten dadurch ausfinden 42

Bryant konstruiere dabei eine Urreligion, die es gar nicht gab, und begebe sich damit „in ein Gewebe der seltsamsten Grillen über die älteste Geschichte“,43 in ein „Land der Träume“ 44 Gegen die religiösen Gemeinsamkeiten, die er überall entdecken will, wendet Heyne ein, es gebe

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Auf diese Weise kann er etwa Janus, Saturn, Poseidon, Prometheus und viele andere mythische Figuren mit Noah identifizieren, vgl Bryant: A New System or an Analysis of Ancient Mythology, Bd 2 S 253–282 [Christian Gottlob Heyne]: 10 St In: GGA 1774 S 73 Vgl ebd S 73–86; 56 St In: GGA 1775 S 476–479; 12 St In: GGA 1777 S 92–94 [Heyne]: 10 St In: GGA 1774 S 74 f [Heyne]: 56 St In: GGA 1775 S 476 [Heyne]: 10 St In: GGA 1774 S S 85 f [Heyne]: 12 St In: GGA 1777 S 92 [Heyne]: 10 St In: GGA 1774 S S 85

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Gebräuche, Handlungen und Gedanken, auf welche jeder sich überlassene Mensch überall fallen muß: wovon die Uebereinstimmung blos so viel zeugt: die menschliche Natur ist überall dieselbe Wenn der Wilde, der Neger, der Indier einen Schurz um die Hüfte bindet, so ist gewiß keine Ueberlieferung aus dem Paradieße der Grund dazu 45

Doch auch Bryants Ziel, die Schließung von historiographischen Lücken, erachtet Heyne als „eine mißliche Sache“ 46 Er fragt sich: „wo ist der Sterbliche, der eine Kette von tausend Gliedern ergänzen kan, wozu er mehr nicht als ein paar verrostete unkenntbare Eisenstücken hat?“47 Heyne behielt mit seiner Vermutung, dass Bryant mit seinen konjekturalen Etymologien erfolglos bleiben würde, nicht Recht Das Werk wurde mehrmals neu aufgelegt48 und fand viele Bewunderer und Nacheiferer 49 Und so stellt auch Heyne fest, dass Bryants „Sonderbarkeiten vielen Eingang fanden“ 50 Ansätze zur Mytheninterpretation wie die von Bryant und Court de Gébelin führten Heynes Ansicht nach viel zu weit 51 Sie sind ihm zu einseitig, stützten sich auf abstruse Hypothesen und Theorien und vermitteln ein vollkommen falsches Bild von der antiken Lebenswelt 52 Ihren Erfolg bemerkt jedoch auch Heyne: Auch andere hät45 46 47 48 49

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Ebd S 75 Ebd S 74 Ebd Mehrere Neuauflagen erschienen kurz nach dem Ersterscheinen Nachdrucke erscheinen noch heute So etwa Robert Potter (1721–1804), der Bryant in seinen Notes on the Tragedies of Aeschylos folgt, Edward Burnaby Greene (~1740–1788), der in den Anmerkungen und Exkursen seiner Übersetzung der Argonautenfahrt von Apollonius Rhodius Bryants Deutungen übernimmt, und Francis Fawkes (1721–1777), der gleiches in seiner Apollonius-Rhodius-Übersetzung tut Heyne merkt dazu an: „Nie hätten wir geglaubt, daß dieser Gelehrte [= Bryant] mit seiner räthselhaften Deutung der alten Mythologie noch jetzt in England Beyfall und Anhänger finden könnte“ ([Christian Gottlob Heyne]: 14 St In: GGA 1781 S 111) Im Jahr 1799 untersuchte Philip Allwood (1769–1838) in seinem Buch Literary Antiquities of Greece ausgehend von Bryants etymologischen Untersuchungen in ähnlicher Weise die früheste Geschichte und Sprache der Griechen und versuchte sie mit dem Alten Testament zu harmonisieren Allwood geht dabei noch weiter als Bryant – er leitet sogar die Ureinwohner Amerikas und Neuseelands und der Pazifischen Inseln von Ham ab, vgl Philip Allwood: Literary Antiquities of Greece London: 1899 S 400–402, und versucht nachzuweisen, dass das Griechische direkt aus der amonischen Sprache hervorgegangen sei Für Heyne sind Allwoods „willkührlichen Etymologien der Nahmen von Menschen, Völkern, Örtern s w nach dem Laute und Ohr“ ([Christian Gottlob Heyne]: 188 St In: GGA 1800 S 1875) in der Tradition Bryants „ein unverantwortlicher Zeitverlust“, (ebd S 1876), „abentheuerliche Behauptungen“ (ebd ) und „kaum begreiflich“ (ebd ) [Christian Gottlob Heyne]: 18 St In: GGA 1779 S 143 So Heyne in seiner Rezension zu A Dissertation on the Languages, Litterature and Manners of Eastern Nations von John Richardson, der Bryants Thesen hier und in anderen Schriften heftig bestritt Court de Gébelins Verfahren sei dabei jedoch „die abentheuerlichste unter allen“ ([Christian Gottlob Heyne]: 70 St In: GGA 1781 S 567) Vgl ebd S 564: „Die Franzosen haben Ursache, den Schaden in der alten Geschichte wieder gut zu machen, den zeither die Träumereyen einiger ihrer Landsleute, insonderheit des Hrn Court de Gebelin, Bailly […] und andere angerichtet haben“

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ten sich „mit der Krankheit des guten Court de Gebelin angesteckt, aus willkührlichen Etymologien Facta zu bilden“ 53 Zwar spielt wie in den etymologischen Ansätzen von Court de Gébelin und Bryant auch in Heynes Mythentheorie die antike Erzählweise eine tragende Rolle; auch er betont „den richtigen Begriff von alter Sprache“ 54 Doch könne man wie Court de Gébelin und Bryant auf keine Ursprache ausgehen wollen, diese können wir so wenig auffinden, als die eigentlichen Stammsprachen; keine Etymologien müssen hier die Basis machen sollen 55

Stattdessen muss „das Studium“, so Heyne, theils durch Psychologie und Philosophie der Sprache, theils durch Beschauung derjenigen Schriften geleitet seyn, welche zunächst von jener, nicht mehr vorhandenen, rohen Sprache abgeleitet sind,56

also durch quellennahe Untersuchungen unter Einbezug grundlegender psychologischer Prinzipien Neben den Rekonstruktionsversuchen einer untergegangenen Ursprache durch eine etymologische Ausdeutung der antiken Mythologie beobachtete Heyne auch die neu entstehenden Zugänge zu dieser über eine Interpretation ihrer Symbolik So setzte er sich auch intensiv mit Pierre-François Hugues d’Hancarvilles (1719–1805) Werk Recherches sur l’origine, l’esprit et les progrès des Arts de la Grèce von 1785 auseinander 57 D’Hancarville, der durch seine Beschäftigung mit antiken Vasen als Archäologe bekannt geworden war, stellt in diesem Werk die Entwicklung antiker Kunst dar und versucht diese durch kulturellen Transfer und gemeinsame Ursprünge zu erklären So hätten sich etwa durch die Eroberung Asiens durch die Skythen ursprünglich skythische religiöse Symbole bis nach China, Indien und Japan verbreitet, was er anhand verschiedener Münzen zu erweisen versucht 58 Er findet bei seinen umfänglichen Vergleichen antiker Relikte aus Europa, Asien und Ägypten immer wieder so deutliche Parallelen in ihrer Symbolik, dass er von einem gemeinsamen Ursprung aller Völker, Sprachen, Schrift und Religion, den Skythen, ausgeht Heyne kritisiert diese These scharf, er berichtigt:

53 54 55 56 57 58

[Christian Gottlob Heyne]: 118 St In: GGA 1789 S 1181 Heyne schreibt dies in seiner Rezension zu Vincenzio Antonio Formaleonis Storia filosofica della navigazione, del Commercio e delle Colonie degli Antichi nel Mare nero. [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 471 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae) Ebd Ebd Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 24 St In: GGA 1786 S 231–237; 28 St In: GGA 1786 S 265–280 Vgl Pierre François Hugues d’Hancarville: Recherches sur l’origine, l’esprit et les progrès des arts de la Grèce, Sur leur connexion avec les arts et la religion des plus anciens peuples connus, Sur les monumens antiques de l’Inde, de la Perse, du reste de l’Asie, de l’Europe et de l’Égypte, Bd 1 London: 1785 S 36–136

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sinnbildliche Vorstellung der Begriffe bey den alten Völkern, und zwar insonderheit der Begriffe von der Gottheit […] waren […] die schwankendsten und unbestimmtesten und mannichfaltigsten Begriffe, als man sich sie nur denken kann; und mußten es auch seyn: Hr d ’H[ancarville] hingegen will sie auf Eines bringen 59

Die Ähnlichkeiten in der Symbolik der verschiedenen Völker, die d’Hancarville herausstellt, sieht er hingegen in grundlegenden menschlichen Denkmustern begründet: Was die ältesten Völker ausdrückten, waren die ersten einfachsten Begriffe, und die Symbole die ersten einfachsten Zeichen, die sich jedem Menschen, und überall darbieten mußten, […] ohne daß es eine Erlernung und Ableitung erforderte60

Ganz im Gegenteil, dass solche Ähnlichkeiten das Produkt von kulturellem Austausch seien, hält Heyne gerade für unwahrscheinlich, da die Völker der Antike besonders separiert voneinander lebten; es habe in den frühesten Zeiten einen „Mangel der Verbindung und Gemeinschaft unter ihnen“61 gegeben, sodass „auch verwandte Stämme einander ganz fremd wurden“ 62 Kultureller Austausch könne daher nur ein Produkt späterer Zeiten sein Eine „solche methodische Fortpflanzung von Begriffen“63 wie bei d’Hancarville ist folglich Heynes Ansicht nach vollkommen unzulässig Außerdem könne es keineswegs als gesichert gelten, dass tatsächlich die Skythen das „Stammvolk der Völker im nördlichen Asien“64 sind Doch nicht nur d’Hancarvilles Vorannahmen kritisiert Heyne; auch seine Methodik ist aus seiner Sicht vollkommen unzureichend: Der Hr Chev[alier d’Hancarville] gehet […] von den frühesten Zeitaltern der Menschen aus, von denen wir so wenig Sicheres und Zuverlässiges wissen; er schreibt ihnen Symbole zu, blos nach gewissen, sehr sinnreichen, Voraussetzungen, zu denen er glaubet Beweise in Schriftstellern zu finden, die von allem dem nicht unterrichtet waren, noch es seyn konnten; tausend Jahre darnach lebten […] Die glühende Einbildungskraft erlaubte ihm dabey keinen ruhigen sichern Gang 65

Eine „Muthmaßung, eine bloße Möglichkeit“ werde dabei „eine Hypothese, nicht lange darauf ein erwiesner Satz, und nun bauet er ganze Systeme darauf “ 66 Zwar lobt er d’Hancarvilles

59 60 61 62 63 64 65 66

[Heyne]: 28 St In: GGA 1786 S 266 Ebd S 268 f Ebd S 269 Ebd Ebd Ebd S 272 Ebd S 266 f Ebd S 267

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ausgebreitete Kenntniß von Kunst und Litteratur; […] die Fruchtbarkeit seines Witzes, wie er sich alles zu Nutze zu machen […] weiß, indem er Bild, Schrift, Etymologie, […] Bailly, […] Court de Gebelin, zu seiner Absicht vereiniget,67

es fehle hier aber „historische Kritik“68 und vor allem „Wahrheit“ 69 Offensichtlich hat d’Hancarville aus Heynes Sicht also nicht verstanden, was das Wesen des antiken Menschen ausmacht; er bedenke nicht, dass eine moderne Deutung der antiken Symbolik „etwas ganz anderes seyn [muss], als was der rohe Mensch dabey dachte“,70 und komme dadurch auf seine „grotesken Ideen“ 71 Einen Zugang zu antiker Mythologie über Symbolik wählte auch Georg Friedrich Creuzer (1771–1858) Auch wenn Heyne nach 1807 keine Schriften mehr zur antiken Mythologie und Religion verfasste, setzte er sich doch bis zu seinem Lebensende intensiv mit der aktuellen Literatur zu diesen Themen auseinander und rezensierte folglich auch Creuzers Dionysus sive commentationes academicae de rerum Bacchicarum Orphicarumque originibus et causis von 1807–1809 und sehr ausführlich dessen dreibändiges Werk Symbolik und Mythologie der alten Völker von 1810–1812, was eine intensive Lektüre und Auseinandersetzung belegt 72 Creuzer geht hier davon aus, dass den antiken Religionen ursprünglich ein monotheistisches Prinzip zugrunde liege Dieses habe sich bei den Griechen schon früh in der „Ahndung […] einer Bedeutsamkeit der einzelnen Phänomene der Natur, dass sie Zeichen gebe, und […] zum Menschen rede“73 geäußert und in einen frühen Pantheismus gemündet 74 Die Griechen glaubten, die Götter teilen sich durch geheime Zeichen und Symbole, in Träumen, im Vogelflug oder in den Eingeweiden der Opfertiere mit Folglich war das Prinzip 67 68 69 70

71 72

73 74

Ebd Ebd Ebd S 275 Ebd S 269 Zu diesem Punkt führt Heyne außerdem ein Beispiel aus d’Hancarville an Dieser habe geschrieben, dass „Feuer und Licht […] die erste Vorstellung von der erzeugenden oder erschaffenden Gottheit“ (ebd ) gewesen sei Das Feuer soll durch eine Pyramide und das Licht durch einen Obelisken symbolisiert worden sein, was sich in Pfeil-, Blitz- und Obeliskensymbolen auf griechischen Münzen wiederfinde, im Original vgl d’Hancarville: Recherches sur l’origine, l’esprit et les progrès des arts de la Grèce, Bd 1 S XI; 6–14 Heyne zweifelt jedoch, „daß in der Pfeilgestalt etwas Symbolisches war“ ([Heyne]: 28 St In: GGA 1786 S 270), und auch dass auf griechischen Münzen Obelisken dargestellt worden seien, hält er für unerwiesen, vgl ebd S 270 f [Christian Gottlob Heyne]: 15 St In: GGA 1803 S 152 Vgl zu Dionysus [Christian Gottlob Heyne]: 174 St In: GGA 1808 S 1729–1738; 28 St In: GGA 1809 S 265–277; zu Symbolik und Mythologie der alten Völker [Christian Gottlob Heyne]: 5 St In: GGA 1811 S 41–48; 6 St In: GGA 1811 S 49–52; 7 St In: GGA 1811 S 67–72; 128 u 129 St In: GGA 1811 S 1273–1284; 88 St In: GGA 1812 S 875–879; 89 St In: GGA 1812 S 883–888; 90 St In: GGA 1812 S 892–896 Er widmete dem Werk damit etwa 43 Seiten, so viel wie sonst keinem anderem! Georg Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, In Vorträgen und Entwürfen, Bd 1 Leipzig/Darmstadt: 1810 S 7 Vgl ebd

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praktischer Religionsausübung stets das Zeigen und Auslegen dieser göttlichen Zeichen 75 Mit zunehmender Festigung der Religion entstand beim einfachen Volk immer mehr das Bedürfnis, das Göttliche klarer und deutlicher erkennen zu können Priester befriedigten dieses Bedürfnis, indem sie durch Symbole und Mythen eine Nähe zur Gottheit erzeugten Durch das Deuten und Schaffen von Symbolen eignete sich die antike griechische Religion, so Creuzer, einen ausgeprägten Symbolismus an, der die Basis für Mythen als narrativen flexiblen und erweiterten Überbau darstellt 76 Beides, Symbol und Mythos, hätten sich am ursprünglichsten in den symbolischen Ritualen der antiken Mysterien erhalten, weil sie hier geregelt von wenigen an wenige weitergegeben wurden Außerhalb der geschlossenen Geheimkulte wurden sie jedoch im Laufe der Zeit durch Künstler, Dichter und Philosophen ausgeschmückt, erweitert und umgedeutet, können aber, so Creuzer, vor allem durch die Mysterienkulte wieder rekonstruiert werden Aus heutiger Sicht erscheine diese tradierte Symbolik und Mythologie ausgesprochen unübersichtlich und vielschichtig, weil sie über Jahrhunderte hinweg vor allem durch die spätere Philosophie immer mehr erweitert und zu einer komplexen Metaphysik ausgebaut wurde Die Basis bilden jedoch einige wenige schlichte religiöse und metaphysische Ideen, die sich in den Symbolen und Mythen in unterschiedlichsten Formen widerspiegeln – in diesem Punkt sieht sich Heyne aufs Neue in seinem Grundsatze bestärket: die Symbolik der Alten […] kann reich an Bildern seyn, ist aber sehr arm an Ideen, die sich durch sinnliche Bilder ausdrücket und ausdrücken kann 77

So bildet die Basis eine im Grunde pantheistische Naturreligion einer auf Ackerbau angewiesenen Gesellschaft, sodass die antiken Symbole bei Creuzer immer wieder auf die Natur als erzeugende und gebärende Kraft,78 den Wechsel der Jahreszeiten und astronomische Regelmäßigkeiten79 zurückgeführt werden 80 In dieser Reduzierung antiker Symbolik und Mythologie auf sehr einfache religiöse Denkmodelle sieht sich Heyne durch Creuzers Analysen bestätigt Er

75 76 77 78 79

80

Vgl ebd S 9–13 „Der Mythus in seinem freiesten Fluge könnte dem Schmetterling verglichen werden, der jetzt leichtbeflügelt im Sonnenlicht mit seinen Farben spielt; das Symbol der Puppe, die das leichte Geschöpft und seinen Flügel noch unentfaltet unter einer harten Decke verborgen hielt“ (ebd S 122 f ) [Heyne]: 28 St In: GGA 1809 S 266 So führt Creuzer etwa in Vorderasien verbreitete Fischkulte und -gottheiten auf einen Glauben an das Wasser als zeugendes Element zurück, vgl Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, Bd 2 S 55–78 So sei etwa der Tod des Dionysos und Osiris, der in den jeweiligen Kulten eine bedeutende Rolle spielte, ein Symbol für das durch den Winter gehemmte Pflanzenwachstum, vgl Friedrich Creuzer: Dionysus sive commentationes academicae de rerum Bacchicarum Orphicarumque originibus et causis, Bd 1 Heidelberg: 1809 S 236 Weiterführend zu Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker vgl Jamme: Mythos als Aufklärung S 199–208

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freuet sich, zu sehen, daß ihm der Verf [= Creuzer] nun auf eben der Bahn entgegen kömmt Natur, hervorbringende Kräfte, elementarische Stoffe, Erde, Wasser, Feuer, Wärme, Sonne, Unterwelt, Sommer, Winter, ist der Schlüssel zu den symbolischen Mythen, physischer und theologischer Art, zu heiligen Sagen, geheimen Bräuchen, Mysterien; und wieder die Bilder, haben unter einander die augenscheinlichste Verwandtschaft, da so Vieles auf eben und dieselbe Idee hinweiset, und so viele bildliche Gebräuche, Geräthe, Attribute, Beywörter, Darstellungsarten, Eines und dasselbe andeuten, wenn man sie einmahl gefaßt hat 81

Es werde bei Creuzer endlich auch deutlich, warum sich die alte Mythologie verschiedener Völker immer am Ende auf einerley Begriffe zurückbringen läßt; es spielt immer Alles um die Natur, und verwandte Begriffe herum 82

Heyne bekennt, dass ihm Creuzers philosophisches Werk über Symbolik, […] von einem Gelehrten, welcher Alterthumskunde mit Belesenheit der alten Philosophen in einem seltenen Verein verbunden hat, […] eine höchst erfreuliche Erscheinung83

sei Methodisch problematisch sei jedoch Creuzers Quellenauswahl Creuzer stützt sich in seinen Ausführungen maßgeblich auf spätantike Neuplatoniker, etwa Iamblichos von Chalkis, Simplikios, Proklos und Plotin, wodurch er, so Heyne, seine Erklärung und Bestimmung der Symbolik nicht aus der Natur und dem Gange des menschlichen Geistes, sondern aus den spätern Griechischen künstelnden Philosophen und Grammatikern aufgenommen hat 84

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82 83 84

[Heyne]: 28 St In: GGA 1809 S 267(= Rez zu Creuzers Dionysus) Ähnlich äußert sich Heyne auch zu Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker: „So fand der Rec seinen alten Satz wieder, den er immer nährte, eigentlich ahnete, ohne daß er ihn durch das Einzelne durchzuführen im Stande war, und er fand ihn bestätigt Das ganze Mythenaggregat […] so verschiedener Nationen und Zeiten […]; alles läuft am Ende auf wenige physische Sätze hinaus, die durch symbolische Vorstellungen und Ausdrücke ins Zahllose vervielfältigt sind, in welchen sich der frühe Denker lange vor Homer […] aus Mangel deutlicher Begriffe und Ausdrücke, Andern mitgetheilt, und veranlaßt hatte, daß forthin alle die verfeinerten Speculationen in eben dem bildlichen Ausdrucke fortgingen; ursprünglich ein grober Faden, der nach und nach zerfasert, zerspaltet, und in eine Menge feinere Fäden aufgelöset worden ist, die man aufs neue auf verschiedene Weisen zusammengedreht, gesponnen und verwebt, nach und nach auch so verdünnt und verschlungen hat, daß man, so bald man sie auffaßt und aufnehmen will, Gefahr läuft, sie zu zerreißen, zu verwirren“ ([Heyne]: 90 St In: GGA 1812 S 895) [Heyne]: 28 St In: GGA 1809 S 268 [Heyne]: 5 St In: GGA 1811 S 42 Ebd

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Außerdem stimmt er mit Creuzers Bewertung von Symbolik nicht überein Für Creuzer zeigt sich in antiker Symbolik subtile antike metaphysische Spekulation, für Heyne hingegen ist Symbolik […] eine Geburt der Schwäche des menschlichen Verstandes […] und die Quelle von tausend Verirrungen desselben, in den mannigfaltigen monströsen Vorstellungsarten von der Gottheit und von übersinnlichen Dingen, in den seltsamsten Religionsgebräuchen, welche nach und nach […] in die wildesten Orgien und in die größte Ueppigkeit ausarten mußten, je mehr sich in der Folge der eigentliche Sinn der Symbole von Natur und Naturdienst verloren hatte 85

Im Ganzen jedoch lobt Heyne Creuzers Werk, vor allem „den vielumfassenden Umfang“86 und seine Leistung, unzählige neue Ideen, neue Ansichten, neue Combinationen, gegeben […] [zu haben], die uns doch weiter führen können; und dieß alles in einem Fache der Litteratur, wo wir bloß einzelne, unzusammenhängende, zerstreute, Angaben und Bruchstücke haben, aus denen wir mehr nicht, als etwas Wahrscheinliches zusammenstellen können, und es doch verfolgen müssen, weil es die ersten Keime, Versuche und Spiele, des menschlichen Geistes betrifft, ehe er auch nur zum Jünglingsalter reifen konnte 87

Mag „manches Einzelne bey einer genauen Critik auch unhaltbar seyn“,88 so ist es für Heyne „doch ein großer Gewinn, daß wir bessere allgemeine Ansichten, und hier und da helle Blicke erhalten haben“,89 die nun weiter ausgebaut werden können Heyne setzte sich außerdem mit Karl Philipp Moritz’ (1756–1793) Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten von 179190 auseinander, ohne die, wie Christoph Jamme hervorhebt, die poetische und ästhetische Ausdeutung des Mythischen in der Klassik und Romantik „nicht denkbar“91 wäre Moritz betrachtet die griechische Götterwelt als eine nur auf sich selbst bezogene, nur durch eine eigene Logik bestimmte dichterische Sphäre, als „eine Welt für sich […] aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben“,92 gehüllt in eine „Sprache der Phantasie“ 93 Die Mytho85 86 87 88 89 90

91 92 93

[Heyne]: 128 u 129 St In: GGA 1811 S 1274 [Heyne]: 7 St In: GGA 1811 S 70 [Heyne]: 88 St In: GGA 1812 S 876 [Heyne]: 128 u 129 St In: GGA 1811 S S 1284 Ebd Ausführlich zu Moritz’ Götterlehre vgl Hans Joachim Schrimpf: Die Sprache der Phantasie, Karl Philipp Moritz’ Götterlehre In: Herbert Singer / Benno von Wiese (Hg ): Festschrift für Richard Alewyn Köln/Graz: 1967 S 165–192; Christoph Jamme: „Sprache der Phantasie“, Karl Philipp Moritz’ ästhetische Mythologie In: Burdorf/Schweickard (Hg ): Die schöne Verwirrung der Phantasie S 45–60; Jamme: Mythos als Aufklärung S 185–198 Ebd S 45 Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten Berlin: 1791 S 1 Ebd

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logie erscheint daher bei Moritz als eine dichterische Kunstwelt, die in einer eigenen Sprache verfasst, der Wirklichkeit entgegengehalten wird Dies mache das Wesen der antiken mythischen Dichtungen aus Euhemeristische oder allegorische Ausdeutungen sind für Moritz daher ein „thörichtes Unternehmen“, da dies „den Schleier, der diese Dichtungen bedeckt, ganz hinwegziehen will, […] zugleich das zarte Gewebe der Phantasie [verletzt]“ 94 Ebenso wenig solle man abstrakte oder metaphysische Begriffe in ihnen suchen, da die Phantasie diese „meidet“,95 „weil ihre zarten Schöpfungen, wie in einer öden Wüste, sich plötzlich darin verlieren würden“ 96 Folglich komme es darauf an, antike Dichtungen „zuerst, ohne Rücksicht auf etwas, das sie bedeuten sollen, grade so zu nehmen, wie sie sind“ 97 Im Hauptteil stellt Moritz eine Beschreibung der griechischen Götterwelt auf der Grenze zwischen Dichtung und Abhandlung vor Diese erscheint hier als eine Kette von Transformationen vom Chaos zur Ordnung, vom formlosen Undefinierten zum definierten Formvollendeten In seinen Beschreibungen verbinden sich Werden und Vergehen, Bilden und Zerstören, Gutes und Böses, „Zartheit des Gebildeten mit der Stärke des Ungebildeten“ 98 Die Götter erscheinen als Wesen voller Widersprüche 99 Bei Moritz rückt die Ästhetik einer zeitlosen Dichterwelt in den Vordergrund Die Frage nach Bedeutung und Interpretation antiker Mythologie stellt sich für ihn daher gar nicht mehr, sondern kann vollkommen ausgeklammert werden Im Gegensatz dazu sind antike Mythen für Heyne stets nur in ihrer historischen Einbettung verständlich Sie dienen für ihn dem Verstehen des menschlichen Denkens Obwohl sich also Heynes Vorstellungen vom Zweck der Beschäftigung mit antiken Mythen sehr stark von der Funktion, die Moritz ihr zuteilt, unterscheidet, bezeichnet er die Götterlehre doch als „ein in seiner Art vortreffliches Werk“ 100 Zwar wendet er ein: So fein, so sinnreich dachten sich freylich die Alten nicht alles; noch weniger ahndeten sie eine solche Vereinigung des Ganzen; den ältern Dichtern war immer alles nur einzeln Bild, oder Gruppe, Geburt des Augenblicks des Gefühls oder der bildenden Imagination,101

erkennt aber, dass es Moritz nicht darauf ankam, die antike Mythen in ihrer historischen Gebundenheit zu betrachten, sondern sie eben daraus zu lösen und zu betonen, wie sie als „ein Geschöpf der Phantasie“102 „jetzt noch für Poesie und Kunst von

94 95 96 97

Ebd S 3 Ebd S 1 Ebd S 2 Ebd S 4 So bedeute beispielsweise „[d]er Begriff Jupiter […] in dem Gebiete der Phantasie zuerst sich selbst“ (ebd ) 98 Ebd S 98 99 So ist beispielsweise Moritz’ Apoll todbringend und heilend zugleich, vgl ebd S 109–115 100 [Christian Gottlob Heyne]: 16 St In: GGA 1791 S 154 101 Ebd S 155 102 Ebd S 154

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Gebrauch seyn kann; also Mythologie unserm Gefühle näher gebracht“,103 weshalb „[g]elehrte Forschung, Philosophie der Fabel […] verbannt seyn“104 konnte In der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts erschienen neben den genannten Abhandlungen zur Theorie und Interpretation der Mythen als Symptom für deren Verwendung als künstlerischer Code und Bedeutung für die höhere Bildung auch zahlreiche Kompendien und Lexika, in denen die antike Mythologie, oft für Schüler und Studenten, zusammengetragen wird, etwa Philipp Gottlieb Seegers Die Götter der alten Griechen und Römer von 1777/78, David Christoph Seybolds Einleitung in die Griechische und Römische Mythologie der alten Schriftsteller für Jünglinge aus dem Jahr 1779,105 Johann Heinrich Pröbsters Kurzgefaßte Götter- oder Fabellehre der alten Griechen und Römer zum unanstößigen Unterricht von 1803 oder Albrecht Heinrich Baumgärtners Geschichte der Götter und vergötterten Helden Griechenlands und Latiens von 1784 Doch genügen alle Heyne bekannten Kompendien seinen Ansprüchen nicht 106 Noch 1773

103 Ebd 104 Ebd S 155 105 In der Regel wurden in solchen Kompendien keine Überlegungen über die Herkunft der Mythen angestellt; eine Ausnahme stellt jedoch Seybolds Werk dar Er schreibt in seiner Einleitung, die Mythologie scheine „hauptsächlich folgende Quellen gehabt zu haben, 1) die allgemeine Neigung der Menschen, besonders der rohen, etwas Wunderbares unter den gemeinsten Phänomenen der Natur zu suchen, und zu glauben, und 2) die allgemeine Ehrsucht der Menschen vor alten Helden, Stiftern und Wohlthätern der Nationen“ (David Christoph Seybold: Einleitung in die Griechische und Römische Mythologie der alten Schriftsteller für Jünglinge Leipzig: 1779 S 4) Da der „rohe Mensch […] sehr sinnlich [ist], und alles, hauptsächlich schrökende und außerordentliche Phänomene der Natur […] einen desto tiefern Eindruk auf ihn [machen], ie weniger er sie sich philosophisch oder physisch zu erklären im Stande ist“, sei er „sehr geneigt, sie der unmittelbaren Wirkung irgend eines höheren Wesens zuzuschreiben“ (ebd ) Weil diese rohen Menschen jedoch noch nicht abstrakt denken konnten, glaubten sie an menschenähnliche Auslöser für beobachtete Phänomene, vgl ebd S 4 f Auf den folgenden Seiten spekuliert Seybold außerdem über die Entstehung von Mythen, die durch die Verehrung von Menschen entstanden sind, vgl ebd S 6–14 Im Hauptteil beschreibt er die antiken Gottheiten und stellt dazu meist euhemeristische Erklärungsversuche an In seiner Rezension zu dem Werk kritisiert Heyne dieses Vorgehen Die „Philosophie über die Fabel“ ([Heyne]: 35 St In: GGA 1779 S 554) gehöre nicht in das Buch und sei außerdem in Seybolds Fall sehr ungenau und falsch verstanden worden So beziehe er etwa dichterische Mythen nicht in seine Überlegungen ein, vgl ebd S 555, und seine hauptsächlich euhemeristische Mythenauslegung widerspreche dem „Geist der alten Fabel“ (ebd ) Seiner Ansicht nach sollen in einem solchen Kompendium lediglich „von jeder Gottheit die bekannten Fabeln angeführt, dann die Erfindungen, die Verehrungsplätze und Beynamen beygebracht werden“ (ebd S 556) 106 Zu Seegers Die Götter der alten Griechen und Römer vgl [Christian Gottlob Heyne]: 117 St In: GGA 1777 S 940–944 Seegers Werk wird hier von Heyne in Anlage und Ausführung als ausgesprochen mangelhaft beschrieben Zu Baumgärtners Geschichte der Götter und vergötterten Helden Griechenland und Latiens vgl [Christian Gottlob Heyne]: 12 St In: GGA 1785 S 115–117 Heyne hält Baumgärtners Kompendium für nicht gut gelungen Die ausgewählten Illustrationen seien nicht repräsentativ, die Erläuterungen zu undifferenziert und seine ausschließlich euhemeristischen Deutungen viel zu einseitig Zu Pröbsters Götter- oder Fabellehre vgl [Christian Gottlob Heyne]: 118 St In: GGA 1804 S 1175 f Pröbsters Mythologie wird hier von Heyne als zu weitschweifig und fehlerhaft beurteilt

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hält er Hederichs Mythologisches Lexicon (erstmals 1724 aufgelegt!) für „das zur Zeit unter allen mythologischen Schriften, selbst den Banier eingeschlossen, immer noch für Studierende […] brauchbarste Buch“ 107 Er fordert: „eine brauchbare Mythologie müsse so geschrieben seyn, daß der Verfasser gar keine Hypothese dabey zum Grunde lege “108 Eine Ausnahme stellt für Heyne jedoch das dreibändige Handbuch der Mythologie (1787–1795) seines ehemaligen Schülers Martin Gottfried Hermann (1754–1822)109 dar Zu den ersten beiden Bänden verfasste Heyne selbst Vorreden, in denen er seine Mythentheorie in stark geraffter Form darstellt Eine noch komprimiertere Zusammenfassung der Vorreden präsentierte er außerdem in seiner Rezension zu Hermanns Handbuch in nur einem Satz: Vor mehrern Jahren bereits […] machte der Hr Hofr H[eyne] […] darauf aufmerksam, daß Mythologie eigentlich erster Versuch der Völker zu denken, älteste Geschichte und älteste Philosophie und Theologie des Kindesalters der Menschheit ist, welche nachmals bey allen Völkern theils die Urgeschichte, theils Stoff der Dichter ward, den man auf vielfältige Weise gebraucht hat; daß man aber nie in der Mythologie zu Etwas Gesundem gelangen werde, bis man nicht die Mythologie der ältern Zeitalter rein vortragen und von der spätern Dichter Gebrauche absondern, alsdann die Mythologie der alten Lyriker, der Tragiker, der Alexandrinischen Dichter u s w jede für sich stellen wird 110

107 [Christian Gottlob Heyne]: 1 St In: Allgemeine deutsche Bibliothek 19 (1773) S 124 Heyne rezensiert hier eine überarbeitete Neuauflage von Hederichs Mythologischen Lexikon Dennoch nennt er einige Kritikpunkte, etwa, „daß der Fabel der Alten ein unächter und unedler, unrichtiger, oft unwürdiger Gesichtspunkt geliehen wird“ (ebd S 125), und „die ungereimten Deutungen, eigentlichen Historien, und die Etymologien“ (ebd ) 108 [Heyne]: 117 St In: GGA 1777 S 942 109 Im ersten Band stellt Hermann die antike griechische Mythologie nach den Homerischen Epen und Hesiods Theogonie dar Er ordnet dazu die verschiedenen mythischen Figuren, soweit möglich, nach ihren Herkunftsgebieten und gibt mit umfassenden Quellennachweisen ihre Darstellungen bei Homer und Hesiod wieder Im zweiten Band erfolgt selbiges, jedoch mit den Beschreibungen und entsprechenden Nachweisen aus den griechischen Lyrikern und den Hymnen In Band drei werden die astronomischen Mythen in ähnlicher Weise zusammengestellt Nach Sternbildern geordnet sammelt Hermann hier Quellenmaterial, vornehmlich aus Aratos’, Eratosthenes’, Apollodors und Hygins astronomischen beziehungsweise mythologischen Schriften, lässt aber deutlich mehr eigene Interpretationen als in den ersten beiden Bänden einfließen Ein vierter Band mit den Quellen aus den antiken Dramatikern erschien, obwohl geplant, nicht mehr Hermanns Handbuch der Mythologie stellt somit eine ausgesprochen umfangreiche Quellensammlung zu antiken mythischen Stoffen dar Es ist damit, so Heyne, kein „angenehmes Lesebuch […]; aber wohl brauchbar und angenehm dem denkenden und selbst forschenden Leser, der nun die zerstreuten Spuren auf der Stelle gesammelt, chronologisch geordnet und erläutert antrifft“ ([Christian Gottlob Heyne]: 107 St In: GGA 1795 S 1075 (= Rez zu 3 Hermanns Handbuch der Mythologie, Bd 3)) 110 [Christian Gottlob Heyne]: 139 St In: GGA 1787 S 1386 Eine etwas ausführlichere Zusammenfassung seiner Gedanken über den Nutzen der Beschäftigung mit antiken Mythen folgt auf den Seiten 1787 f

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Genau diese Forderung, eine umfassende Darstellung antiker Mythologie „ohne Hypothese“,111 sei nun hier erstmals in Hermanns Handbuch „mit vielem Fleiße und guter Ordnung“112 verwirklicht, „in einem Fache […], das bis dahin fast überall das Gebiet der Seher und Träumer war“ 113 So sei Hermanns Quellensammlung zu mythischen Stoffen der einzige und sichere Weg, zum Zwecke zu gelangen, daß man vorher die Mythen selbst sammelte, prüfte, reinigte, ordnete, ehe man sie erklären und deuten und ein Gebäude aufführen wollte114

und daher dafür verantwortlich, dass „die Mythologie nach einer vernünftigen Behandlung und in ihrem rechten Gesichtspuncte in den neuesten Zeiten merkliche Fortschritte gemacht hat“ 115 Heyne bekundet seinen Stolz auf Hermanns Werk offen: Für einen Lehrer ist es nicht wenig aufrichtend, wenn er ein Saamenkorn, das er längst einmal ausgestreut hatte, unvermuthet an einer unbemerkten Stelle hervorkeimen sieht 116

Für Heynes Auseinandersetzung mit den Mythentheorien seiner Zeit bleibt Folgendes festzuhalten: Er wendet sich zum Teil polemisch gegen jegliche einseitige Ableitungen der griechischen Mythologie und Religion durch kulturellen Transfer 117 Für ihn sind die antiken Mythen nicht durch Kolonisation oder Handel nach Griechenland gelangt 118 Er vermutet hinter ihnen keine geheimen Botschaften und wendet sich 111 112 113 114 115 116 117

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[Christian Gottlob Heyne]: 151 St In: GGA 1790 S 1515 (= Rez zu Hermanns Handbuch der Mythologie, Bd 2) [Heyne]: 139 St In: GGA 1787 S 1386 f [Heyne]: 151 St In: GGA 1790 S 1516 [Heyne]: 107 St In: GGA 1795 S 1075 Ebd [Heyne]: 139 St In: GGA 1787 S 1386 So versuchten etwa Robert Wood und Antoine-Yves Goguet die Herkunft der griechischen Mythologie aus Ägypten abzuleiten Sie beriefen sich dabei auf Herodot II, 52, wo dieser behauptet, dass die griechischen Götter aus Ägypten übernommen worden seien Court de Gébelin versuchte die Erzählungen des Alten Testaments in den griechischen Mythen wiederzuerkennen Solche Prozesse wurden oft so erklärt, dass die Religionen aus Ägypten, Indien, Thrakien oder Phönizien durch Kulturübermittler nach Griechenland importiert wurden, doch waren die Ankömmlinge kulturell überlegen Die Griechen konnten die Religionen der Fremden nicht zuletzt auch aufgrund der sprachlichen Barriere nicht verstehen und interpretierten sie neu Ältere Religionen sollen so vollkommen verdreht übernommen und uminterpretiert worden sein Die unter der griechischen Mythologie verborgenen ausländischen Religionen könnten aber nun rekonstruiert werden Von einer solchen These ging beispielsweise Karl Dietrich Hüllmann (1765–1846) aus In seiner Schrift Theogonie, Untersuchungen über den Ursprung der Religion des Alterthums von 1804 vermutet er, dass alle Religionen aufgrund vieler auffälliger Übereinstimmungen einen gemeinsamen Ursprung haben müssen, den er „in der Niederlassung einer gebildetern Herrencaste unter einem ganz rohen Volke“ (Karl Dietrich Hüllmann: Theogonie, Untersuchungen über den Ursprung der Religion des Alterthums Berlin: 1804 S 5), der Einwanderung eines kulturell weit überlegenen Volkes in Vorderasien, sieht Die übrigen unterlegenen Stämme glaubten, es handele sich bei den Einwanderern um höhere Wesen Diese brachten den Wein- und Getreideanbau

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klar gegen jede einseitige Systematik der Mytheninterpretation Für ihn stecken hinter angeblichen Kulturübermittlern und Religionsstiftern wie Kadmos, Eumolpos, Melampus und Orpheus durchaus reale historische Persönlichkeiten119 – dass die gesamte griechische Religion aber, wie Herodot behauptet,120 aus fremden Ländern importiert worden sei, glaubt er nicht 121 Zwar sei freilich einiges aus fremden Kulturen übernommen worden,122 doch seien die importierten Gottheiten stets dem griechischen Religionssystem angepasst worden So konnten etwa einzelne Attribute oder Namen transferiert worden sein 123 Deswegen aber die griechische Religion insgesamt als reines Importgut einzustufen, ist für ihn ein unzulässiger Schluss mit und rissen nun die Herrschaft an sich Einmal sei ein junges Paar zur Bewachung der Felder eingeteilt worden Jedoch stahlen sie einige der Früchte, gründeten in einem anderen Gebiet eine neue Siedlung und lehnten sich gegen den Rest ihres Stammes auf Nach einiger Zeit erfolgte eine große Überschwemmung, vor der sich jedoch einige in Booten retten konnten Diese Überlebenden breiteten sich weiter aus, gründeten neue Siedlungen und gaben die alten Überlieferungen weiter Genau diese Prozesse und Ereignisse seien in der Genesis und den Mythen verschiedener Religionen überliefert So entwickelten sich aus dem Oberhäuptern des eingewanderten Stammes die Götter Jehovah, Jupiter, Saturn und Uranus, aus dem importierten Ackerbau und der Hegemonie der Einwanderer entstanden die Erzählungen um das Paradies, die Bacchuskulte, Osiris, Attis, Horus, Apoll, Mars, Herakles, Vishnu, die Titanen, Isis, Ceres, Kybele, Vesta, Proserpina, Hekate, Diana und Minerva Das geflohene Paar habe die Grundlage zu den Mysterien und den Geschichten von Adam und Eva, dem Sündenfall, von den goldenen Äpfeln der Hesperiden und vom Goldenen Vlies gebildet Hüllmann leitet damit sämtliche Gottheiten von historischen Personen aus einer Zeit vor der Sintflut ab, die durch Wanderung bis nach Ägypten, Indien und Europa verbreitet wurden Heyne stößt sich vor allem an Hüllmanns Folgerung, dass alle Religionen einen gemeinsamen Ursprung haben müssen Die von Hüllmann beobachteten Übereinstimmungen aller Religionen will Heyne vielmehr auf psychologische Ursachen, auf „eine natürliche Aehnlichkeit und Verwandschaft“ ([Christian Gottlob Heyne]: 55 St In: GGA 1804 S 539) zurückführen, weshalb Hüllmann Schrift von Heyne „keinen vollen Beyfall“ (ebd ) erhält 119 Vgl Christian Gottlob Heyne: De fabularum Graecarum ab Etrusca arte frequentatarum naturis et caussis In: Novi Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 3 (1773), Commentationes historicae et philologicae S 48 Orpheus, Melampus, Eumolpos und Musaios werden hier als Stifter verschiedener Mysterien genannt Vgl weiterhin Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 317 120 Vgl Herod II, 52 121 Heyne geht vielmehr davon aus, dass Herodot einen oder mehrere ägyptische Priester gesprochen habe, die aus Eitelkeit behaupteten, sämtliche griechische Religion sei ursprünglich ägyptisch, vgl Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 130 Diese „konnten von den Gottheiten und den Fabeln der Griechen sehr wenig wissen, und waren doch keck genug, über ihren Ursprung zu entscheiden und eignem Vorurtheil zufolge alles von Aeypten aus abzuleiten“ ([Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 778) Der „gute Herodot“, so urteilt er, war hier „unstreitig zu leichtgläubig“ (ebd ) 122 So seien etwa Hera, Hestia, Themis und die Dioskuren pelasgischer Herkunft, vgl Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 128 123 So sei laut Heyne etwa der Name der Göttin Athene und einige ihrer Attribute und Eigenschaften von der ägyptischen Göttin Neith entlehnt, vgl ebd S 129; Heyne: Litterarum artiumque inter antiquiores Graecos conditio ex Musarum aliorumque deorum nominibus muniisque declarata S 305 Seiner Ansicht nach seien vor allem Elemente der phönizischen, phrygischen und thrakischen Religionen in Griechenland verbreitet gewesen und hätten sich auf die antike hellenische Religion ausgewirkt, vgl Christian Gottlob Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica In: ders (Hg ): Homeri carmina cum brevi annotatione, accedunt variae lectiones et observationes vete-

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Genauso wenig könne antike Religion aus einer göttlichen Offenbarung oder dem Judentum hergeleitet werden – in Heynes Augen sind solche Versuche „absurdissima“ 124 Bemühungen, eine monotheistische Basis in der antiken Mythologie erkennen und nachweisen zu wollen, waren noch im späten 18 und frühen 19 Jahrhundert durchaus nicht ungewöhnlich So versuchten etwa Friedrich Esaias Pufendorf 1773,125 Abbé Paul Foucher 1777,126 Hermann Friedrich Kahrel 1786,127 Philip Howard 1797128 und Sergei Semjonowitsch Uwarow 1812129 ein christliches Fundament unter den antiken Religionen nachzuweisen Zu diesen Deutungsansätzen äußert sich Heyne in den entsprechenden Rezensionen deutlich vorsichtiger und kritisiert sie nur implizit: rum grammaticorum cum nostrae aetatis critica, Bd 8 Leipzig/London: 1802 S 572 An anderer Stelle nennt er „die Thracier […] die eigentlichen Erfinder oder Stifter der Musik, Dichtkunst, der Weltweisheit und der gottesdienstlichen Gebräuche unter den Griechen“ ([Heyne]: 35 St In: GGA 1766 S 276) 124 Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 134 Vgl ähnlich [Heyne]: 1 St In: Allgemeine deutsche Bibliothek 19 (1773) S 126 (= Rez zur Neuauflage von Hederichs Mythologischen Lexikon): „Nichts ungereimteres ließ sich wohl nicht denken, als die alte Fabellehre aus einer einzigen Quelle abzuleiten, und sie wohl gar als eine Verfälschung der Offenbarung anzusehen Wie der gesunde Menschenverstand sich so weit hat verliehren können, ist doch fast unbegreiflich “ 125 Friedrich Esaias Pufendorf (1707–1785) ging in seinem Buch Religio gentium arcana von 1773 davon aus, dass sich in den antiken Religionen Überlieferungen der Schöpfungsgeschichte und die Ankündigung eines Messias sowie des Jüngsten Gerichtes erhalten hätten, und versucht dies durch die Mythen verschiedener Völker zu beweisen, in denen er Übereinstimmungen mit der Bibel zu sehen glaubt, vgl Friedrich Esaias Pufendorf: Religio gentium arcana Hannover: 1773 126 Im siebten Teil seiner Aufsatzreihe Recherches sur l’Origine et la Nature de l’Hellenisme, veröffentlicht in der Histoire de l’Académie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres, behauptet Paul Foucher (1704–1779), dass alle Völker der Welt zunächst an eine monotheistische Urreligion, das Judentum, geglaubt hätten, vgl Paul Foucher: Recherches sur l’Origine et de la Nature de l’Hellenisme, Teil 7 In: Histoire de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 38 (1777) S 340 f Erst später seien neue Gottheiten erfunden worden Die Religion der Phönizier erklärt er daher als verdorbene Weiterentwicklung des zugrunde liegenden jüdischen Glaubens 127 Hermann Friedrich Kahrel (1719–1787) unternahm einen solchen Versuch mit seinem Schlüssel zur allerältesten Geschichte der Welt und Beweis der Uebereinstimmung aller Religionen mit Moses. Er versucht hier verschiedene Mythologien und andere Überlieferungen mit dem Alten Testament in Übereinstimmung zu bringen, vgl Hermann Friedrich Kahrel: Schlüssel zur allerältesten Geschichte der Welt und Beweis der Uebereinstimmung aller Religionen mit Moses Frankfurt a M / Leipzig: 1786 128 In The Scriptural History of the Earth and of Mankind wendet sich Philip Howard (1730–1810) polemisch gegen jegliche Versuche, die Frühgeschichte jenseits der biblischen Schöpfungsgeschichte erklären zu wollen, da diese seiner Ansicht nach nur dazu dienten, das Christentum zu vernichten, um die Französische Revolution zu propagieren und zu verbreiten, wobei er sich vornehmlich gegen Buffon und Bailly richtet So versucht er nachzuweisen, dass die Welt nicht älter als in der Bibel angegeben sein könne und dass es die Sintflut gegeben haben müsse, vgl Philip Howard: The Scriptural History of the Earth and of Mankind, compared with the Cosmogonies, Chronologies, and original Traditions of ancient Nations, An Abstract and Review of several modern Systems London: 1797 Heyne rezensierte 1799 die deutsche Übersetzung Geschichte der Erde und des Menschengeschlechts nach der Bibel, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 78 St In: GGA 1799 S 769–772 129 1812 versucht Sergei Semjonowitsch Uwarow in seinem Essai sur les Mystères d’Éleusis nachzuweisen, dass sich eine früheste Offenbarung Gottes in den Eleusinischen Mysterien erhalten habe, vgl Sergei Semjonowitsch Uwarow: Essai sur les Mystères d’Éleusis Sankt Petersburg: 1812

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Pufendorf unterstellt er, dass dieser „vermuthlich selbst die Sache als eine Hypothese erkennt“ und enthält sich „durchaus aller Einschaltung und Beyfügung unserer Zweifel oder Urtheile“;130 Kahrel habe wohl nicht bemerkt, „daß mittlerweile die Litteratur um ein Großes ist verrückt worden“,131 und sich damit auf einen Weg begeben, „auf dem schon so viele verunglückt sind“;132 Howard gehe zu „polemisch“133 und mit zu viel Eifer […] der durch die Vorstellung erhitzt wird: Daß jede Hypothese, welche von der Mosaischen Erzählung abweicht, aus der unlautern Absicht hervorgegangen […] sey, das Ansehen der offenbarten Religion zu untergraben,134

vor; seine Widerlegungsversuche angeblich unchristlicher Hypothesen zur Erklärung der Frühgeschichte wie die von Bailly über ein angenommenes Urvolk weist Heyne als ebenso hypothesenbehaftet und unbeweisbar zurück;135 bei Uwarow möchte er die Frage „nach dem historischen Erweis“136 lieber nicht stellen, da er befürchte, „zum lästigen Quäler und Störer des Genusses“137 zu werden Durch diese und ähnliche der zahlreichen Deutungsversuche der Mythologie im 18 Jahrhundert sei man dem Wesen des Mythos Heynes Ansicht nach kein Stück näher gekommen Er schreibt am Ende des Jahrhunderts, im Jahr 1798: Alle künstliche Gebäude, alle sinnreiche Hypothesen, die ganze Mythologie in Allegorie oder Geschichte zu verwandeln, oder wohl gar eine ausländische Geschichte unterzulegen, widersprechen der Natur des Mythus, das ist, demjenigen, was Denkungsart, Ausdruck und Erzählungsweise jener frühern Zeitalter gestatten kann 138

Für ihn sind antike Mythologie und Religion ein bunter Flickenteppich, dessen Teile verschiedensten Quellen entstammen,

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135 136 137 138

[Christian Gottlob Heyne]: 137 St In: GGA 1773 S 1162 [Christian Gottlob Heyne]: 82 St In: GGA 1786 S 823 Ebd [Heyne]: 78 St In: GGA 1799 S 770 Ebd Heyne nimmt solche Erklärungsversuche der Frühgeschichte, die sich von der Bibel lösen, in Schutz Er schreibt, dass dies „doch bey denjenigen der Fall nicht seyn kann, welche eine bessere Hermeneutik verstehen, und indem sie unter einer historisch erwiesenen Thatsache und einer Sage der Stammväter […] einen Unterschied machen, der Offenbarung ihre ganze Kraft nicht nur lassen, sondern sie stärken und befestigen“ (ebd ) Indem Howard jedoch „seinen Gegnern böse Absichten beylegt, sie sich nicht anders, als Ungläubige, Naturalisten und Göttesläugner denkt“, falle es ihm schwer, „die schmale Linie der Wahrheit immer zu halten“ (ebd ) Vgl ebd S 771 Heyne schreibt, eine solche Widerlegung sei leicht, jedoch sei dadurch „eine andere Hypothese noch nicht befestigt, in so fern sie auf gleichem Grunde gebauet ist“ (ebd S 772) [Christian Gottlob Heyne]: 137 St In: GGA 1812 S 1366 Ebd [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 476 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae)

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ein bloßes successives, nach und nach entstandenes, Aggregat von einzelnen sinnlichen Ansichten und Vorstellungen, Phantasien, Ausbildungen, ganz verschiedener Art, und von Meinungen 139

Beides entwickelte sich über Jahrhunderte hinweg; zum Teil einiges von gemeinsamem Ursprung driftete auseinander, anderes wurde zusammengeführt und vermischt, in Heynes Worten: Begriffe und Gebräuche entstanden einzeln, zufällig, in großem Zwischenraum der Zeit, in verschiedenen Gegenden, Stämmen, also bey verschiedenem Local und Clima; bald dieses bald jenes kam hier hinzu, verlor sich anderwärts 140

In antiken Religionen sei daher alles „fragmentarisch […] seiner Natur nach“,141 eine einheitliche und systematische Theologie könne es also nicht gegeben haben 142 Will man also eine 139

[Christian Gottlob Heyne]: 71 St In: GGA 1811 S 711, so Heyne in seiner Rezension zu Johann Gottfried Grubers Wörterbuch der altklassischen Mythologie und Religion 140 [Christian Gottlob Heyne]: 51 St In: GGA 1793 S 508, so Heyne in seiner Rezension zu Paul Joachim Sigismund Vogels Versuch über die Religion der alten Aegypter und Griechen. Er kritisiert hier den Versuch, in antiken Religionen ein theologisches System entdecken zu wollen Ähnlich äußert sich Heyne auch in einer Rezension zu Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker: „Ausgemacht ist und bleibt es, die Hellenische Religion geht aus Mythen hervor, die aber nicht auf einmahl erfunden, gedacht und aufgestellt worden, sondern ursprünglich einzeln, in keiner Verbindung, in einzelnen denkenden Köpfen, entstanden, den Nähesten mitgetheilt, in Stammsagen, Localsagen, übergingen, verbunden, vervielfältigt, verändert, gedeutet, wieder bildlich, in festlichen Aufzügen, in öffentlichen und geheimen Festen, dargestellt, bey wachsender Cultur aber, ohne daß ein Glaubenssystem, ein religiöses Gesetzbuch, irgend ein Inbegriff für das Volk, oder einzelne Gemeinen, aufgestellt worden wäre, bloß mit Zusammenstellung mehreres Einzelnen durch Versuche mancherley Art auf verschiedene Weise gefaßt und gedeutet, von den Dichtern aber als Stoff zu poetischen Dichtungen verwendet ward“ ([Heyne]: 88 St In: GGA 1812 S 877 f ) 141 [Heyne]: 51 St In: GGA 1793 S 509 142 Vgl ebd S 508: „Systeme finden hier [= bei antiken Religionen] nicht Statt Hier ist nichts, was aus allgemeinen Grundsätzen entstanden und abgeleitet, durch zusammenhängende Schlußfolgen verbunden war Religionen, die vor aller Philosophie voraus entstanden, konnten nie systematisch seyn: wo also nie ein System war, noch seyn konnte, wie läßt sich da ein System verlangen!“ Ähnlich äußert sich Heyne auch noch 1806: „So wie es ein Christenthum gibt, so ist ein Wort gebildet, das Heidenthum Dieses Wort, das eigentlich ein Gegensatz vom Christenthum seyn soll, hat schon oft die Vorstellung veranlaßt, als ständen die alten Völkerreligionen eben so in einem systematischen Zusammenhange, wie unsere Christlichen […] Aus den rohesten Vorstellungen von dem, was sie nicht begriffen, bildete sich jeder Völkerstamm einen rohen Cultus; es stand weiterhin irgend einmahl ein Begeisterter […] auf, und brachte einige neue Vorstellungsarten in Umlauf; […] bey einigen bildeten sich Schamanen, Priesterorden s w , bey andern […] Gesetzgeber und Stifter eines Cultus, der meist aus dem, was schon vorhanden und üblich, und […] aus einigen mehr oder weniger vernünftigen Begriffen, verbessert war […] Alles dieses unter ein System des Heidenthums gebracht, und aus diesem alles so gestellt, wie es der voraus gefaßten Hypothese gemäß gedacht werden kann: gibt ein herrliches Truggemählde, dessen Unhaltbares gleich in die Augen fällt, wenn man die Fackel wirklicher Alterthumskenntniß nahe hält, und sieht, daß

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systematische Verbindung hinein bringen, so trägt man fremde Ideen hinein; und da es der Möglichkeiten so viele giebt, als es scharfsinnige Köpfe giebt: so wird es nun ein Stoff philosophischer Speculation, ein neues eignes Gewebe und System, hört aber auf alte Geschichte von Meynungen und Begriffen zu seyn 143

Ohne eine solche systematische Theologie kann es in der Antike folglich auch keine festgeschrieben Dogmatik und kirchenartige Institutionen gegeben haben, da „die alten Religionen vom Cultus ausgingen und im Cultus bestanden, Dogmen aber ein Werk der Folgezeit und der Philosophen allein waren“ 144 Heyne ist jeder Hypothesenbildung in Bezug auf antike Mythologie und Religion gegenüber so kritisch eingestellt, weil sie den Zugang zu objektiver Sachlichkeit sowohl zum Gegenstand an sich als auch zum Diskurs darüber verstellt: Weil man die Sprachen der Völker, die auf gemeinen Menschenverstand, sinnliche und Imaginations-Begriffe, gegründet sind, aus metaphysischen Spitzfindigkeiten ableiten will, so entstehen daher auch wechselseitige Bestreitungen und Befehdungen, welche noch mehr verderben; denn über kleinliche Gegenstände wird immer mit mehr Hitze gestritten, als über die wichtigsten; und je feiner man einen Faden ausgesponnen hat, desto ärgerlicher ist es, wenn er für ein Spinnengewebe gehalten werden will 145

Weder eine Mythenauslegung nach einer einzigen wie auch immer gearteten These, einem einzigen System oder Prinzip noch die Abqualifizierung der Mythen zu bedeutungslosen Märchen können der richtige, nämlich wissenschaftliche Zugang zu ihnen sein Er fragt sich daher: Wer könnte sich nun träumen lassen, in das ganze Chaos ein einziges Princip, ein System, wohl gar ein philosophisches oder historisches, oder wissenschaftliches von irgend einer

alles aus verschiedenen Zeiten zusammengestellt, mit den spätern philosophischen Forschungen, Meinungen und Lehren in Verbindung gebracht und ausgefüllt ist“ ([Christian Gottlob Heyne]: 161 u 162 St In: GGA 1806 S 1604 f ), so Heyne 1806 in seiner Rezension zu Karl August Limmers Urbegriffe des griechisch-römischen Heidenthums Limmer behauptet hier, dass der Mensch von frühesten Zeiten an zur Einsicht in die Existenz eines einzigen, ewigen Gottes fähig gewesen wäre, vgl Karl August Limmer: Urbegriffe des griechisch-römischen Heidenthums Riga: 1806 Dieses ursprüngliche monotheistische Weltbild versucht er in den antiken heidnischen Religionen nachzuweisen und behauptet die Existenz antiker Dogmatik und institutionalisierter Religion Heyne entgegnet: „Das Spätere ist hier für das Aelteste genommen“ ([Heyne]: 161 u 162 St In: GGA 1806 S 1603); „Auf die Annahme einer höchsten Urkraft, die alles erzeugt habe und regiere, ist die allgemeine Vernunft gar nicht bald geleitet worden, und eben so wenig verstand sie dieselbe so bald unter dem Ausdruck Gott; dazu gehörte viele Zeit, und viele andere Begriffe, Einsichten, u Verbindung durch Nachdenken mußten vorausgegangen seyn“ (ebd S 1605) 143 [Heyne]: 51 St In: GGA 1793 S 509 144 [Heyne]: 161 u 162 St In: GGA 1806 S 1603 145 [Christian Gottlob Heyne]: 76 u 77 St In: GGA 1811 S 764, so Heyne in seiner Rezension zu diversen mythologischen und archäologischen Schriften Aubin Louis Millins

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Art hinein zu zimmern! und wieder auf der andern Seite, wie kann man das alles zusammen als Fabelwerk ohne Sinn und Bedeutung ansehen!146

Aufgrund der Heterogenität der antiken Mythologie muss man sich ihr von verschiedenen Seiten nähern und verschiedene Ansätze verfolgen Die erste Prämisse bei dieser Art von Forschung müsse es daher sein, dass man historische Data aufsucht, sich in die Denkart des Zeitalters setzt, allgemeine Begriffe von Menschengeschichte mit hinzubringt, und so jene Begriffe, Meynungen und Gebräuche zusammenstellt, entwickelt, und erwartet, was sich daraus ergiebt,147

denn nur auf diese Weise könne sichergestellt werden, dass „das, was herausgebracht ist, sicher, daß es Wahrheit, oder der Wahrheit nahe ist“ 148 Wenn man umgekehrt zuerst von einer These ausgeht und dann erst nach Belegen sucht, könne „nur ein glücklicher Zufall zur Wahrheit führen, neben der einen gefundenen Möglichkeit sind noch zehn, zwanzig andre Möglichkeiten“ 149 Heyne wehrte sich also immer wieder gegen eine herablassende Haltung dem Altertum gegenüber, würdigt die Mythen als eine Leistung der antiken Menschen und unternimmt den Versuch einer Erklärung antiker Denkstrukturen ohne Vor- und Werturteile Er will die wissenschaftliche Behandlung der antiken Mythologie vom Zugriff aus einer christlichen Perspektive befreien150 und mit dem zu seiner Zeit immer noch aktuellen Tabu, hebräische Ursprungsgeschichten mit heidnischen zu vergleichen,151 brechen, da man der antiken Literatur mit einer Herabsetzung als Blasphemie nicht gerecht werden könne 152 So beklagt er beispielsweise, dass die Haltung vieler Gelehrter, die die Geschichtsüberlieferung christlicher Tradition ausnahmslos für 146 [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2015 f (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) 147 [Heyne]: 51 St In: GGA 1793 S 507, so Heyne in seiner Rezension zu Vogels Versuch über die Religion der alten Aegypter und Griechen. Vogel ist darin der Ansicht, dass „dem Forscher nichts übrig [bleibt], als das verzweifelte Mittel, bey diesen historischen Untersuchungen nicht die historischen Data zum Grunde zu legen, und aus ihnen das System der Religion zu entwickeln, sondern umgekehrt, sich selbst ein System zu schaffen, das den Religionsmeynungen und Gebräuchen zum Grunde gelegen seyn könnte, und dann zu versuchen, ob die historischen Data sich mit demselben in Uebereinstimmung bringen lassen“ (ebd , im Original Paul Joachim Sigismund Vogel: Versuch über die Religion der alten Aegypter und Griechen Nürnberg: 1793 S 3) Heyne widerspricht dem vehement 148 [Heyne]: 51 St In: GGA 1793 S 507 149 Ebd S 507 f 150 Vgl Heyne: Temporum mythicorum a corruptelis nonnullis vindicata S 8 f Heyne äußert hier, dass es ungerecht sei, als Europäer die afrikanischen und amerikanischen Ureinwohner zu verspotten, weil sie das Christentum an ihre Religionen anpassen, da schließlich bei der Anwendung der europäisch-christlichen Perspektive auf nahezu alle Sachverhalte im Grunde nichts Anderes geschehe 151 Vgl ebd S 3 f Heyne bemängelt hier, dass es allgemein als unzulässig gilt, biblische Erzählungen mit antiken mythischen zu vergleichen 152 Vgl ebd S 5

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wahr, die antike heidnische hingegen für unwahr halten, wissenschaftlich nicht tragbar sei, und vertritt öffentlich die Ansicht, dass derselbe Arbeitsaufwand, der auf die Untermauerung der mosaischen Geschichtsüberlieferung gewendet wurde, auch der Untersuchung der profanen Geschichtsschreibung zustehen müsse 153 Er geht sogar so weit zu behaupten, dass den Geschichtsschreibern Hellanikos von Lesbos und Moses ein gleicher Stellenwert eingeräumt werden müsse, was den Wahrheitsgehalt ihrer Berichte betrifft 154 Andererseits müsse es aber ebenso vermieden werden, die Antike und deren Mythen zu positiv zu beurteilen und sich dadurch in einem nüchternen Urteil einschränken zu lassen Es sei also vor allem wichtig, die zu Heynes Lebzeiten herrschenden extremen Positionen hinsichtlich der antiken Mythologie aufzugeben und die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr zu entemotionalisieren 155 Er kritisiert insbesondere den distanzlosen Umgang mit den überlieferten Mythen, der diese ganz für die Gegenwart vereinnahmen will, und fordert, die antike Mythologie objektiv ohne die Kategorien Wahr und Falsch im Bewusstsein um ihre frühgeschichtliche Herkunft und mit der erforderlichen Distanziertheit zu sehen und die Gegenwart und deren Perspektive, Vorurteile und Denkweisen aus wissenschaftlichen Betrachtungen der Antike auszuschließen Gerade das Letzte war ihm sehr wichtig Für ihn liegt ein wesentliches Problem bei der Beschäftigung mit Mythologie und Antike im Allgemeinen im Denken und in der Sprache des modernen Europäers, der sich damit auseinandersetzt Der Gelehrte der Neuzeit verwendet seine Sprache mit ihren vorgeprägten Begriffen in vielen Fällen vollkommen unkritisch Er gebraucht beispielsweise Begriffe wie Gott, Gottesdienst und Verehrung, um antike Religion zu beschreiben, ohne sich bewusst zu sein, dass diese Wörter durch seine eigene Kultur und christliche Prägung Bedeutungen implizieren, die auf das antike Phänomen gar nicht zutreffen können Und genau darin liegt schon der Fehler Versteht man das Wesen des antiken Menschen, wird sofort klar, dass er keineswegs die gleichen religiösen Empfindungen haben konnte wie ein moderner Europäer und auch keine ähnlichen 156 Man kann daher den antiken Menschen nicht einmal ohne Weiteres mit der eigenen Sprache beschreiben, da auf diese Weise schon von Anfang an Projektionen, Vorinterpretationen und falsche Implikationen induziert werden, die nur zu falschen Schlussfolgerungen führen können Folglich kann man ihn aus der neuzeitlichen Gelehrtenperspektive auch nicht verstehen Für Heyne ist der Mensch nämlich fest eingebunden in seine Zeit, 153 154 155 156

Vgl Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 107; 109 Vgl ebd S 110 Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 7 Heyne stellt an dieser Stelle fest, dass ein Großteil der falschen Vorstellungen über die Mythologie darauf zurückzuführen ist, dass die Gelehrten entweder zu negativ oder zu positiv über die Antike urteilen Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 7–9; Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] In: Opuscula academica, Bd 3 S 32 Ausführlicher zur mangelhaften Beschreibbarkeit und Perspektiviertheit des Denkens vgl Kap 6 2 S 181–187

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seinen Lebensraum und seine Kultur Von ihnen kann er sich nur schwer lösen, sie prägen sein Denken und seine Sprache Der primitive Mensch, der die Mythen erschuf, muss zunächst also vollkommen fremd und unverständlich sein, weil die modernen Sprachen nicht über Begriffe verfügen können, die das Denken dieser Menschen adäquat fassen könnten 157 Löst man sich also nicht von den eigenen Vorurteilen und den eigenen kulturell determinierten Konzepten, kann der Umgang mit Mythen nur unkritisch und leichtfertig sein Elementar ist daher in Heynes Augen eine Neubestimmung der Begriffe Er selbst sah seinen eigenen Beitrag darin, einen neuen wissenschaftlich brauchbaren Mythosbegriff zu erarbeiten und zu verbreiten Einen weiteren Beitrag können hier, so Heyne, auch Reisebeschreibungen bieten, denn vermittelt über ethnographische Berichte könne das Wesen und die Primitivität des archaischen, noch nicht durch moderne Zivilisation geprägten homo rudis verstanden und die Lebensweise, die Wahrnehmungs- und Denkmuster des antiken Menschen wenigstens in ihren Grundsätzen rekonstruiert werden 158 Das Problem, dass Fehlschlüsse durch die Determiniertheit und Perspektiviertheit des europäischen Denkens auftreten, ist zwar dadurch nicht behoben – bei der Arbeit mit Reisebeschreibungen ist, so Heyne, ein kritischer Umgang mit der eigenen Sprache nicht minder wichtig159 – doch steht immerhin nicht mehr eine enorm große zeitliche Distanz zwischen dem Gelehrten und dem wilden Menschen Mythologie ist damit bei Heyne nicht mehr ein Produkt früher Dichtung, sondern umgekehrt, antike Dichtung basiert nun auf Mythologie, die sich aus den Bedingungen primitiver Gesellschaften ergibt 160 Es ist für ihn daher unmöglich die Fabel der darauf zu verwendenden Zeit werth zu achten; wenn sie mehr nicht ist als ein Wust von […] zum Theil so ungereimten, Mährchen, die der eine so, der andere anders erzählt hat; ohne allen Schmuck der Poesie, und wohl gar im Tone der Erzählungen beym Spinnrocken, vorgetragen; bey denen man sich weiter nichts zu denken

157

Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 9 f ; Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 22 158 Vgl zu dieser These beispielsweise [Heyne]: 3 St In: GGA 1765 S 17 Heyne führt hier in der Rezension zu seinem Aufsatz Nonnulla in vitae humanae initiis a primis Graeciae legumlatoribus ad morum mansuetudinem sapienter instituta, in dem es um kulturellen Transfer und erste Gesetzgebung in Griechenland geht, aus, dass sich die Bevölkerung des antiken Griechenland auf einem ähnlichen kulturellen Entwicklungsstand befand wie etwa die neu entdeckten indigenen Völker Amerikas Durch Erkenntnisse über die Lebensweise dieser Völker könne man also Rückschlüsse auf die Lebensweise der antiken Europäer ziehen und dadurch allgemeingültige Prinzipien menschlicher Kulturentstehung und -entwicklung ableiten, die sich wieder für die Klassische Philologie fruchtbar machen ließen 159 Vgl Kap 6 2 S 181–187 160 Vgl Hartlich/Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft S 18

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weis, als daß man etwa die fromme Ausrufung beyfügt: die armen blinden Heyden, die solchen Unsinn haben glauben können!161

Die Deutung dieser Texte muss daher für ihn aus einem neuen, nämlich einem psychologisch-anthropologischen Gesichtspunkt erfolgen, denn „[t]ausend Ungereimtheiten fallen weg, wenn man den ersten Zustand der Nation, ihren Fortgang der Cultur, ihre Entstehung und ihr Wachsthum kennt “162 Folglich müsse endlich „[d]ie Zeit der Fabeldeutung mit dem Zauberstab in der Hand, da man alles in ein schön Feenschloß verwandelt“,163 vorbei sein und der Weg zu einer wissenschaftlichen Mythologie eröffnet werden

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[Heyne]: 1 St In: Allgemeine deutsche Bibliothek 19 (1773) S 126 (= Rez zur Neuauflage von Hederichs Mythologischen Lexikon) Ebd S 127 [Christian Gottlob Heyne]: 149 St In: GGA 1787 S 1494 Heyne wendet sich in dieser Rezension gegen die vereinheitlichende und ahistorische Darstellungsweise eines religiösen Systems der Griechen durch Leclerc de Sept-Chênes in dessen Essai sur la Religion des anciens Grecs von 1787, der für Heyne „vom Geiste des Alterthums eben so weit entfernt ist, als von den Zeiten der Noachischen Wasserfluth“ (ebd S 1495)

Kapitel 5 Heynes Menschenbild 5.1 Wissenschaft als ein Springquell vieler Übel – Heyne und das entstehende Konzept menschlicher Rassen Heyne war der Überzeugung, dass ausgehend von der Lebensweise und den Denkmustern der ‚wilden‘ Völker seiner Zeit, also in erster Linie der Ureinwohnerschaft Afrikas sowie Nord- und Südamerikas, auf die ebenso ‚wilden‘ Völker der europäischen Antike geschlossen werden könne, da es seiner Ansicht nach aufgrund der ähnlichen Lebensbedingungen sowie einer noch naturnahen und noch nicht durch moderne Zivilisation überformten Lebensweise bei allen Unterschieden, die sich freilich auch ausmachen ließen, signifikante Parallelen hinsichtlich des Empfindens und Denkens dieser Menschen und allgemeingültige Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmechanismen gebe, die sich überall auf der Welt und zu jeder Zeit gleichen müssten Die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen den neuentdeckten indigenen Bevölkerungen des 18 Jahrhunderts und der antiken Gesellschaft sah er vor allem in ihrem relativ niedrigen kulturellen Entwicklungsstand, den er besonders an ihrer Schriftlosigkeit festmachte und der zu ähnlichen religiösen Modellen führen müsse Daher könnten, so Heyne, durch die Betrachtung von Reiseberichten, in denen exotische Völker und deren Religionen beschrieben sind, und deren Vergleich mit antiken Quellen Aussagen über die Entstehung von Mythen, Riten und Religion getroffen werden, da hierin allgemeingültige Prinzipien menschlichen religiösen Denkens zu erkennen seien Heyne nutzte deshalb „[d]ie großen Entdeckungen in der Völkerkunde, die Bekanntschaft mit Völkern, die noch in dem Kreise ihrer Mythen leben“,1 und war überzeugt so zu einem elaborierten und vor allem erstmalig wissenschaftlichen Mythosbegriff zu gelangen Damit war er einer der ersten, der solche volkskundlichen Erkenntnisse auf die Antike anwendete und daraus Schlüsse über antike Gesellschaften zog 2 Es ist

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Heeren: Christian Gottlob Heyne S 194 Seinem Biographen zufolge wirkte Heyne mit diesen Erkenntnissen auch auf die Theologie und Exegese des Alten Testaments, vgl ebd S 196 Sein Einfluss auf dieses Fach ist außerdem darauf

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folglich für die Beurteilung Heynes und seiner Forschungen – insbesondere im Bereich seiner Mythentheorie – essentiell, aus welcher Perspektive er sich der Urbevölkerung der europäischen Kolonien näherte und wie er sie beurteilte: Sind sie schlicht unterentwickelte, gar minderwertige Primitivlinge oder ernstzunehmende Menschen mit einer schützenswerten Kultur und gleichen Rechten wie Europäer? Diese Frage beschäftigte nicht nur Heyne, sie war eine der brennendsten der Aufklärung Viele Gelehrte der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts machten sich Gedanken darüber, wie die Mannigfaltigkeit menschlichen Aussehens und menschlicher Kultur, die durch die Vielzahl der damaligen Reisebeschreibungen nicht mehr übersehen werden konnte, zu deuten sei Das folgenreichste Erklärungsmuster für die Unterschiede zwischen Menschen war das damals neu entstehende Konstrukt menschlicher Rassen Mit deren Erfindung erhielten nun nicht nur Sklaverei, Unterdrückung und Diskriminierung ihre (pseudo-)wissenschaftliche Legitimation; auch für die Kulturwissenschaften ergaben sich daraus Konsequenzen: Es war für viele eine Selbstverständlichkeit, dass der antike Grieche schon aufgrund seiner Rasse rein gar nichts mit einem primitiven Stammesangehörigen aus Afrika oder Amerika gemein haben konnte Der anthropologisch-komparatistische Ansatz Heynes muss demzufolge eine andere Grundlage haben und lässt sich nur aus seinem egalitären Menschenbild erklären Folglich sind von diesem seine Aussagen über die ‚rohen‘ Völker Europas und der anderen Kontinente sowie über die Entstehung von Mythen und Religion abhängig Im Folgenden soll daher Heynes Menschenbild im Mittelpunkt stehen, das anhand der Diskurse der Aufklärung über die Existenz von Rasse, Volkscharakter und Hierarchien nachgezeichnet werden soll, da diese die Antworten auf Fragen nach der Frühzeit des Menschen, die eigene Abstammung und die Entstehung und Verbreitung von Kultur, Sprache und Religion entscheidend bestimmten Wirft man einen Blick auf die Geschichte des west- und mitteleuropäischen Rassismus,3 mag es zunächst erstaunen, dass die ideologischen Fundamente desselben am Ende des 18 Jahrhunderts, ausgerechnet in der Blüte der Aufklärung gelegt werden, war es doch das eigentliche Ziel, den Menschen mittels Vernunft zu einer Befreiung aus den autoritären Dogmen früherer Zeiten zu befähigen und Rationalität und Toleranz zu fördern Intendiert waren die Autonomie des Individuums und die persönliche Unabhängigkeit von überkommener Tradition und gottgegebener Unterdrückung – nicht umsonst fällt in diese Zeit etwa die Aufhebung der Leibeigenschaft in Deutsch-

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begründet, dass später bedeutende Theologen der Aufklärung wie etwa Johann Benjamin Koppe und Johann Gottfried Eichhorn seine Schüler waren Die philologischen hermeneutischen Methoden, die diese bei Heyne lernten, wendeten sie später auch auf die Bibel an, vgl ebd S 268; Hartlich/Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft S 20–38 Vgl eingehend zur Geschichte des europäischen Rassismus George L Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa Frankfurt a M : 2006

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land Doch heißt dies noch lange nicht, dass die neugewonnene Freiheit im Denken eine Abschaffung sämtlicher einschränkender Autoritäten zur Folge gehabt hätte – die Dominanten des Denkens waren nun zwar nicht mehr christliche Glaubensdogmen und eine gottgewollte gesellschaftliche Hierarchie, doch traten nun stattdessen neue allumfassende Autoritäten auf: die Vernunft und die Naturgesetze Die Welt und alle in ihre befindlichen Entitäten und Phänomene wurden jetzt nicht mehr als unabänderliche Produkte der Schöpfung und als Teile eines unergründlichen göttlichen Plans, der nicht hinterfragt werden kann, verstanden, sondern rational betrachtet und kategorisiert, um die Weltordnung erkennen zu können Und diesen Prozessen wurde in der Konsequenz auch der Mensch unterworfen Daher zeichnet sich die Zeit der Aufklärung auch durch zahlreiche Versuche zur Gruppierung und Klassifizierung von Menschen aus Dieser Diskurs über die Heterogenität der Menschheit und die Frage danach, wie diese zu deuten sei, entspricht dabei vollkommen der aufklärerischen Überzeugung, dass die Welt eine feste Ordnung aufweist, in der auch dem Menschen ein Platz zugewiesen ist, und dass diese Ordnung durch Vernunft mittels empirischer Methoden erkannt werden könne So sollte durch die neu entstehende Wissenschaft der Anthropologie diese Stellung des Menschen in der Natur durch Beobachtungen, Messungen und Vergleiche exakt bestimmt werden Der Drang nach Klassifizierung und Kategorisierung führte damals dazu, dass der Blick auf die Unterschiede zwischen den bekannten Völkern gelenkt wurde Hinzu kommt der technische Fortschritt, der den Ausbau und die Beschleunigung des weltweiten Handels, die zunehmende Kolonisierung und die damit einsetzende Globalisierung vorantrieb und dazu führte, dass viele neue Völker ins Bewusstsein der Europäer gerieten und Kontakte zwischen Europäern und anderen Völkern immer häufiger wurden Reisen, mitunter auch sehr weite, wurden für immer mehr Menschen möglich – diese technischen und ökonomischen Voraussetzungen in Verbindung mit dem verbreiteten Interesse an fremden Menschen und Kulturen führten dazu, dass während der Aufklärung immer mehr Berichte über fremde Völker nach Europa gelangten Das Wissen über Menschen in den entlegensten Teilen der Erde nimmt rasant zu und wird schließlich unüberschaubar; es ist also aus aufklärerischer Perspektive folgerichtig, dass die Menschheit angesichts der neuen Vielfalt menschlicher Erscheinungsformen anhand beobachteter morphologischer und kultureller Unterschiede in Gruppen geschieden wird und diese Strukturierungsversuche eine Erkenntnis der Weltordnung erleichtern sollen Neben dieser Begeisterung für Klassifikationen spielte dabei sicherlich auch die Etablierung eines gewissen menschlichen Schönheitsideals eine Rolle An diesem Muster wurden alle Menschen gemessen; und je stärker sich die neuentdeckten Menschen von diesem starren Ideal entfernten, desto fester glaubten die Aufklärer, dass es verschiedene Menschentypen geben müsse – Ästhetik und Wissenschaft wurden dabei so eng miteinander verwoben, dass Fakt und Wertung kaum voneinander zu unterscheiden waren; Schönheit und Hässlichkeit wurden ebenso zu wissenschaftlichen Kriterien wie Messungen und

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Vergleiche 4 Bei der Bewertung fremder Völker spielten aber nicht nur äußerliche Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle Man maß die Fremden auch an den moralischen Wertvorstellungen der eigenen Gesellschaft, und sobald man diese bei anderen Völkern nicht gegeben sah oder zu sehen glaubte, minderte dies deren Wert Diese Vermischung von ethnologischen Beschreibungen mit ästhetischen und moralischen Werturteilen stellt die Basis für den modernen Rassismus dar Bei der Kategorisierung der Menschheit blieb man teilweise bei der Unterscheidung in das ohnehin vorhandene Konzept des Volkes; doch auch Völker sollten nach übergeordneten Kategorien unterteilt werden können Diese höhere Kategorie sollte seit dem Ende des 18 Jahrhunderts immer häufiger die Rasse darstellen 5 Bis zur Aufklärung existierte der Begriff nur im Bereich der Tierzucht und wurde von hier in die neue Wissenschaft der Anthropologie übertragen, um verschiedene angenommene Menschenarten mit einem kategorialen Terminus zu versehen Die Idee der Existenz verschiedener Rassen hatte folglich noch nicht zwangsläufig Rassismus zur Folge und ist damals wohl noch eher als ein Symptom der Neugier auf andere Menschentypen denn als Ideologie zu sehen So waren die Ergebnisse zum Teil neutral gemeinte Untergliederungen, schnell wurden aber auch Stereotype und Klischees reproduziert und der schmale Grat zwischen objektiver Beschreibung ethnischer Unterschiede und

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So spielen bereits in dem ersten Werk, in dem das Wort Rasse als systematischer Kategorisierungsbegriff auf den Menschen angewandt wird, Schönheitsideale eine wichtige Rolle: Georges-Louis Leclerc de Buffon bestimmte bereits 1749 in seiner Histoire naturelle, générale et particulière die Spanne zwischen dem 40 und dem 55 Breitengrad als die Gegend, in der „les hommes les plus beaux et les mieux faits“ (Georges-Louis Leclerc de Buffon: Histoire naturelle, générale et particulière, Avec la description du Cabinet du Roi, Bd 3 Paris: 1749 S 528) ansässig seien Extrembeispiele für diese Tendenz sind Christoph Meiners und Peter Camper Letzterer vermaß menschliche Schädel und berechnete sogenannte Gesichtswinkel, indem er den Winkel zwischen der Linie von der Oberlippe zur Stirn und der Horizontalen ermittelte Bei einem Winkel von 100° war seiner Ansicht nach das griechische Schönheitsideal erreicht Europäer wiesen normalerweise einen Winkel von 91° auf, afrikanische Gesichter jedoch teils unter 70°, wodurch sie, wie er behauptete, Affen- oder Hundeschädeln mehr ähnelten als Menschen Ausführlich zu Peter Camper und seinen Gesichtsmessungen vgl Miriam Claude Meijer: Race and Aesthetics in the anthropology of Petrus Camper (1722–1789) Amsterdam: 1999 Anders als Camper versuchte Meiners seine ästhetischen Beurteilungen nicht einmal mehr durch Messungen zu stützen In seinem Grundriß der Geschichte der Menschheit schreibt er 1785 schlicht: „Eins der wichtigsten Kennzeichen von Stämmen und Völkern ist Schönheit oder Häßlichkeit, entweder des ganzen Cörpers oder des Gesichts“ (Christoph Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit Lemgo: 1785 S 43) Mittlerweile ist der Begriff Rasse längst kein Terminus der Biologie und Anthropologie mehr, sondern lediglich ein immer noch politisch wirksames gesellschaftliches Konstrukt ohne empirisch nachweisbares Pendant Dass dieses Konzept wissenschaftlich unbegründet und inzwischen obsolet ist, steht nun außer Frage, vgl Österreichische UNESCO-Kommission, Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien (Hg ): Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung, Deklaration von Schlaining Stadtschlaining: 1995 S 2–4 18 namhafte Humanbiologen und Genetiker erklärten 1995 in dieser Stellungnahme, dass das Konzept menschlicher Rassen als verschiedene geographisch voneinander getrennte, in sich homogene genetische Gruppen haltlos ist, weil die genetische Varianz zwischen verschiedenen Völkern zwar vorhanden, aber nicht signifikant sei

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Rassismus war überschritten: Es entstanden die ersten Theorien mit starken Werturteilen in Bezug auf den sozialen Wert bestimmter Gruppen, indem man zum Teil auf rassisch, zum Teil auf umweltlich determinierte physische und psychische Merkmale verwies und Hierarchien behauptete Die charakterlichen Eigenschaften, die für die verschiedenen Rassen oder Völker typisch sein sollten, entstammten selten eigenen Erfahrungen, sondern bauten auf vorhandenen Klischees6 auf oder waren in vielen Fällen aus Reisebeschreibungen abgeleitet; recht unkritisch wurden damit subjektive Erfahrungen zu wissenschaftlichen Wahrheiten erklärt; allmählich wurde jedem Volk sein eigener Volkscharakter angedichtet, der in den meisten Fällen pejorativ wirkte und im Grunde nur gesellschaftliche Ängste widerspiegelte Bei der Einteilung in verschiedene Rassen wurde das seit Aristoteles traditionelle hierarchische Stufenmodell, die scala naturae, angenommen, laut der sich alle Lebewesen, angefangen beim Menschen in einer kontinuierlichen Rangfolge bis zu den niedersten Geschöpfen ordnen lassen Demnach musste es zwischen dem Menschen und den Tieren ein Verbindungsglied geben Als das höchste Tier galt gemeinhin der Affe, da er dem Menschen am ähnlichsten ist Darauf müsse derjenige Mensch folgen, der dem Affen am ähnlichsten ist – diesen Platz wies man dunkelhäutigen Afrikanern an 7 Sah man die Bewohner der außereuropäischen Kontinente in der frühen Zeit der Kolonisierung noch als das Idealbild des von der Zivilisation noch unverdorbenen Naturmenschen, als den „edlen Wilden“,8 tritt dieses Motiv in den Reiseberichten der 6

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Dass solche Nationalstereotype schon vor der Aufklärung relativ fest ausgebildet waren, belegen die Völkertafeln des frühen 18 Jahrhunderts Auf diesen Übersichten wurden verschiedene Völker mit ihren angeblich typischen Eigenschaften gegenübergestellt Hier wurden beispielsweise Russen als boshaft, dumm, ungehobelt und verräterisch oder Deutsche als klug, mutig und verschwenderisch dargestellt, vgl Franz Karl Stanzel (Hg ): Europäischer Völkerspiegel, Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18 Jahrhunderts Heidelberg: 1999 Vgl Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa S 30 f Spielte die Diskriminierung von Juden in Europa auch seit jeher eine große Rolle, richtete sich der frühe europäische Rassismus doch in erster Linie gegen Schwarze So verliefen die Entwicklungen von Rassismus und Antisemitismus zunächst getrennt Erst seit 1850 wurden Juden zunehmend nicht mehr nur als Religionsgemeinschaft und Volk, sondern auch als eigene Rasse beschrieben, vgl ebd S 39 f Ausführlich zum Motiv des ‚guten‘ oder ‚edlen Wilden‘ vgl Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick, Das Bild des Guten Wilden Frankfurt a M : 1986 Das Motiv des ‚edlen Wilden‘ war vor allem zur Zeit der einsetzenden Kolonisierung im 15 und 16 Jahrhundert weit verbreitet In diesem Idealbild manifestierten sich Vorstellungen von einem idyllischen Leben im Einklang mit der Natur, in Unschuld, Freiheit und Gleichheit, ohne Verbrechen und Lüge sowie der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus gut sei und erst durch Zivilisation verdorben werde – der ‚Wilde‘ galt damit als Inbegriff einer friedlichen, natürlichen Lebensweise Als prominenter Vertreter dieses Konzept wäre Rousseau zu nennen, der in seinem Émile und dem Discours sur l’inégalité den Naturzustand als den ursprünglichen idealen Zustand darstellt Bedingung für die Entstehung des Motivs des ‚edlen Wilden‘ ist das Aufeinandertreffen und Zivilisations- und Naturgesellschaft, insbesondere während der Expansion der europäischen Großmächte Spanien, Portugal, England, Niederlande und Frankreich nach Amerika, Afrika, Asien und auf die Pazifikinseln seit dem 15 Jahrhundert Vor Ort wurden die einheimischen Kulturen freilich von Anfang an unterdrückt und ausgebeutet, zum Teil wurden auch Versuche physischer und kultureller Ausrottung unternommen Nach

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Aufklärung sehr viel seltener auf Exotische Kulturen erscheinen nun nur noch vereinzelt positiv als unberührt, idyllisch und unschuldig Das allgemeine Interesse am Exotismus, der beispielsweise in der Chinoiserie der höfischen Gesellschaft Europas im 18 Jahrhundert Ausdruck fand, schwand nach und nach 9 Fremde Kulturen wirken nun viel stärker rückständig und minderwertig, was entweder durch die Rasse der dort lebenden Menschen begründet oder mit dem Stufenmodell menschlicher Entwicklung erklärt wurde Die ‚Barbaren‘ ferner Länder seien eben noch nicht über die Kindheitsphase hinausgekommen beziehungsweise steckten in ihr fest – folglich sah man in ihnen dumme Kinder oder unberechenbare Jugendliche, die es zu erziehen galt Die Versuche, Menschen zu kategorisieren und in verschiedene Rassen zu untergliedern, wurden während der Aufklärung aus zwei Perspektiven unternommen Einerseits wurde aus einem biologischen Interesse am Menschen nach in erster Linie physischen und zum Teil auch psychischen Unterschieden gefragt Durch diesen naturwissenschaftlich-empirischen Ansatz sollten biologische Prinzipien, Naturgesetze und schlussendlich die Weltordnung freigelegt werden Schnell zeichnete sich dabei die Frage nach dem Anlage-Umwelt-Problem ab: Die Vertreter der frühen physischen Anthropologie stießen bald auf die Frage, inwiefern körperliche und geistige Merkmale durch umweltliche Faktoren wie Klima und Lebensraum bestimmt und damit veränderbar und welche Eigenschaften angeboren und erblich sind10 – die Antwort auf diese Frage entscheidet schließlich, wie breit die Kluft zwischen den angenommenen Rassen ist Aus einem solchen naturwissenschaftlichen Interesse heraus wandte der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) bereits 1749 den Begriff Rasse auf den Menschen an und ist damit der erste Gelehrte, der diesen Begriff als systematischen Terminus in einem wissenschaftlichen Werk benutzte, um Menschen nach körperlichen und psychologischen Gesichtspunkten zu kategorisie-

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Europa aber gelangten Berichte von exotischen Paradiesen voll friedlicher Naturmenschen Das Konzept des ‚edlen Wilden‘ diente dort als Gegenentwurf zum eigenen Leben und Ausdruck einer kulturpessimistischen Einstellung, vielleicht auch als Lockmittel, um Auswanderer als Kolonisten zu gewinnen Zur Zeit der Aufklärung verliert das Motiv an Bedeutung, wird aber später, vor allem in der Romantik, wieder aufgegriffen Spätestens seit Joseph Arthur de Gobineau, einem der bekanntesten Rassentheoretiker des 19 Jahrhunderts, werden auch Chinesen zu einer minderwertigen Rasse abklassifiziert, vgl Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa S 38 f Während der Aufklärung waren vor allem Theorien verbreitet, die Umweltfaktoren eine große Relevanz einräumten Insbesondere das Klima wurde als determinierender Faktor betont, vgl Kap 5 2 1 S 139–153 Neben den Klimatheoretikern war einer der bedeutendsten Vertreter der Sichtweise, dass der Mensch wie jedes andere Lebewesen durch seine Umwelt geformt wird, Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) Im Gegensatz zu dem Materialisten de Lamarck, der psychische Merkmale konsequent als unterscheidende Faktoren ausschloss, sind charakterliche Attribute bei Carl von Linné (1707–1778) fester Bestandteil der Eigenschaften einer Rasse, die Entstehung der Spezifika der auch von ihm postulierten menschlichen Rassen werden aber auch bei ihm ausschließlich durch Umweltfaktoren erklärt, vgl Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa S 43–46

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ren Im dritten Band seiner umfassenden Histoire naturelle, générale et particulière unterscheidet er drei gleichwertige Kriterien, nach denen verschiedene Menschentypen, von ihm Rassen genannt, unterschieden werden: die Hautfarbe, Statur und Körpergröße sowie das „naturel des différens peuples“ 11 Als ursächlich für die Ausformung der verschiedenen Varietäten betrachtet er drei Faktoren: Klima, Nahrung und Sitten, wobei er dem Klima die größte Wirksamkeit einräumt 12 Mit diesen Gedanken gab er die Richtung vor, der auch spätere deutsche Gelehrte folgen sollten,13 und etablierte den Begriff Rasse als Fachbegriff auf dem Feld der neu entstehenden naturwissenschaftlich-biologisch orientierten Anthropologie Andererseits näherte man sich der Vielfalt menschlicher Spezies auch aus einem kulturwissenschaftlichen Interesse heraus Durch einen Überblick über die Gesamtheit aller menschlichen Erscheinungsformen, der sowohl körperliche wie auch psychische und kulturelle Eigenheiten umfassen sollte, versuchte man Prinzipien und Einflussfaktoren kultureller Entwicklung zu erkennen, um so die Anfänge von Kultur, Sprache und Religion besser verstehen zu können Die kulturwissenschaftlich orientierte Anthropologie erhielt folglich durch die immer bedeutender werdende Beschäftigung mit der Geschichte des Menschen wesentliche Anschübe Dementsprechend war die damals überaus populäre Universal- oder Menschheitsgeschichte ein wichtiges Forschungsfeld, für das sich auch Heyne sehr interessierte So übersetzte er zwischen 1765 und 1772 insgesamt sieben Bände der Allgemeinen Weltgeschichte von der Schöpfung bis auf die gegenwärtige Zeit der Briten William Guthrie und John Gray14 und verfasste in den GGA insgesamt 61 Rezensionen, in denen er Werke der Universal-, Ursprungsoder allgemeiner Menschheitsgeschichte bespricht 15 Das allgemeine Interesse am 11 12 13

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Buffon: Histoire naturelle, générale et particulière, Bd 3 S 371 Vgl ebd S 446 f Zu Klimatheorie bei Buffon vgl Kap 5 2 1 S 142 f So erscheinen etwa die gleichen drei Einflussfaktoren auch später bei Blumenbach, vgl Johann Friedrich Blumenbach: Handbuch der Naturgeschichte Göttingen: 1797 S 24 f Zum Einfluss Buffons auf die Natur- und Kulturwissenschaften der deutschen Spätaufklärung vgl Phillip R Sloan: Buffon, German Biology, and the Historical Interpretation of Biological Species In: British Journal of the History of Science 12 (1979) S 109–153; Frank William Peter Dougherty: Buffons Bedeutung für die Entwicklung des anthropologischen Denkens im Deutschland der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts In: Gunter Mann / Franz Dumont (Hg ): Die Natur des Menschen, Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750–1850) Stuttgart u a : 1990 (= Soemmerring-Forschungen, Bd 6) S 221–279 William Guthrie / John Gray: Allgemeine Weltgeschichte von der Schöpfung bis auf die gegenwärtige Zeit, Bd 1–7, Übers v Christian Gottlob Heyne Leipzig: 1765–1772 Heyne verstand sich bei der Übersetzung dieses riesigen Werks keineswegs als getreuer Reproduzent des Originals Er griff zum Teil wesentlich in den Originaltext ein, berichtigte, was ihm falsch erschien; und fügte selbst errechnete Zeitangaben hinzu Heynes Biograph merkt an, dass die Übersetzung und Revision dieses Werks für Heyne sehr wichtig war, insbesondere was seine Kenntnisse der Geschichte des Orients betraf, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 92 f Aus diesem Themengebiet rezensierte Heyne neben Guthries und Grays Allgemeiner Weltgeschichte zum Beispiel John Blairs The Chronology and History of the World from the Creation to the Year of Christ 1768, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 27 St In: GGA 1769 S 257–259, Karl Renatus Hau-

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Ursprung und an der Frühzeit des Menschen und der Völker zeigte sich nicht zuletzt auch in Herders Werken, die Heyne im Übrigen gut kannte 16 Durch einflussreiche Schriften wie Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit machte er Theorien über Ursprungsgeschichten populär und verbreitete insbesondere das Denken in zyklischen Geschichtsläufen nach einem menschlichen Entwicklungsstufenmodell parallel zum Erwachsenwerden des Menschen Herder geht davon aus, dass jeder Mensch in gleicher Weise Anlagen zu Geselligkeit und die Fähigkeit zur Ausprägung von Kultur besitzt Dieses Potenzial wird bei ihm in den verschiedenen Kulturen je nach den vorliegenden äußeren Bedingungen unterschiedlich ausgeprägt Eine Unterscheidung in verschiedene Rassen, denen unterschiedliche Merkmale eigen wären, kommt für Herder daher nicht in Frage 17 Vielmehr wünscht er, dass die Unterscheidungen, die man aus rühmlichem Eifer für die überschauende Wissenschaft, dem Menschengeschlecht zwischengeschoben hat, nicht über die Grenzen erweitert18

werden mögen Zwar hätten einige z B vier oder fünf Abtheilungen desselben [= Menschengeschlechts], die ursprünglich nach Gegenden oder gar nach Farben gemacht waren, Racen zu nennen gewaget,19

Herder selbst jedoch sieht „keine Ursache dieser Benennung“,20 da der Begriff

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sens vierbändiger Versuch einer Geschichte des menschlichen Geschlechts, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 21 St In: GGA 1772 S 171–174, Johann Christoph Gatterers Weltgeschichte in ihrem ganzen Umfange, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 164 St In: GGA 1785 S 1641–1648 und Wilhelm Heinrich Friedrich Seehases Buch Zur Geschichte der ersten Menschen und Völker, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 131 St In: GGA 1787 S 1310 f Wichtige Werke auf diesem Gebiet, die Heyne kannte, waren außerdem Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society, John Millars Observations concerning the Distinctions of Ranks in Society, Henry Home Kames Sketches of the History of Man, Gilbert Stuarts View of Society in Europe und James Dunbars Essays on the History of Mankind Heyne nennt diese Werke im 1785 verfassten Nachsatz zu seiner Programmschrift Nonnulla in vitae humanae initiis als wichtige Schriften für das Verständnis von Gesellschaften und ihrer Entwicklung, vgl Heyne: Nonnulla in vitae humanae initiis S 219 Vgl Kap 3 2 5 S 80; Kap 5 1 S 124 f ; Kap 5 2 2 S 153–155 Doch kann sich auch Herder nicht ganz aus einer eurozentrischen Perspektive lösen und lässt ästhetische wie moralische Bewertungen über verschiedene Völker einfließen: „Zuerst fällt jedermann ins Auge, daß der Strich der wohlgebildetsten Völker ein Mittelstrich der Erde sei, der wie die Schönheit selbst, zwischen zweien Aeußersten liegt […] und da schon Hippokrates bemerkt hat, daß eine sanfte Regelmäßigkeit der Jahrszeiten auch auf das Gleichgewicht der Neigungen großen Einfluß zeiget: so hat sie solchen in den Spiegel und Abdruck unsrer Seele nicht minder Die räuberischen Turkmannen, die auf den Bergen oder in der Wüste umherschweifen, bleiben auch im schönsten Klima ein häßliches Volk“ ( Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 13 S 227) Ebd S 257 Ebd Ebd

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auf eine Verschiedenheit der Abstammung [leitet], die hier entweder gar nicht statt findet, oder in jedem dieser Weltstriche unter jeder dieser Farben die verschiedensten Racen begreift 21

Die Welt und der Mensch sind bei Herder voll von Wandlung und Veränderung Ein Rassekonzept wie das Kant’sche weist er folglich zurück, für ihn gibt es „weder vier oder fünf Racen, noch ausschließende Varietäten […] auf der Erde “22 Für diese Aussagen wurde Herder in Kants Recensionen von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit aus dem Jahr 1785 zum Teil heftig gerügt Kant äußert sich teils sehr belehrend und herablassend über Herders Ideen23 und vermutet, dass Herder das Rassekonzept nur ablehnt, „weil der Begriff einer Race ihm noch nicht deutlich bestimmt ist “24 Kant selbst verwendete den Begriff Rasse in mehreren seiner Werke zur Kategorisierung von Menschen anhand physischer, geographischer und kultureller Merkmale, besonders ausführlich in der Vorlesung Von den verschiedenen Racen der Menschheit von 1775 und in der Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace von 1785 Rassen leiten sich bei Kant von einer ursprünglichen Menschenart, der sogenannten Stammgattung ab und sind strikt hierarchisch nach ihrem Talent geordnet, was er an den jeweiligen wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften festmacht Laut Kant ist [d]ie Menschheit […] in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften 25

Das wichtigste Kriterium bei der Unterscheidung von Rassen stellt bei ihm Erblichkeit dar: „[n]ur das, was in dem Klassenunterschiede der Menschengattung unausbleiblich anerbt, kann zu der Benennung einer besondern Menschenrace berechtigen “26 Doch erkennt Kant auch den Einfluss von Umwelteinflüssen an beziehungsweise integriert diese ähnlich wie Johann Friedrich Blumenbach in seine Vererbungstheorie 27 Spätes-

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Ebd Ebd S 257 Vgl Immanuel Kant: Recensionen von J G Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg ): Kants Werke, Bd 8 Berlin: 1968 S 52–55; 60–62 Ebd S 62 Immanuel Kant: Physische Geographie, Teil 2 In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg ): Kants Werke, Bd 9 S 316 Immanuel Kant: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg ): Kants Werke, Bd 8 S 99 Seiner Ansicht nach wies die ursprüngliche menschliche Stammgattung unterschiedliche Anlagen, sogenannte „Keime“ (Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg ): Kants Werke, Bd 2 S 434), auf, die „die Fürsorge der Natur“ (ebd ) in jedem Lebewesen angelegt hat, um das Überleben unter verschie-

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tens seit Kant wird Rasse damit zu einem ererbten, unauslöschlichen und äußerlich ablesbaren Merkmal eines Menschen, das zugleich mit einem Wert verbunden ist, und die Konstanz erblicher Unterschiede zwischen angenommenen Menschenrassen ist fortan populär und in Gelehrtenkreisen anerkannt Dennoch betont Kant die Abkunft des Menschen von einer ursprünglichen „Stammgattung“28 und hält am Dogma christlicher Monogenese fest Ein Jahr nach dem Erscheinen der Bestimmung des Begriffs einer menschlichen Rasse setzt er in der Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte von 1786 die Entstehung des Menschen als eine Schöpfung Gottes als notwendige Prämisse voraus,29 da diese „keiner Ableitung aus vorhergehenden Naturursachen durch menschliche Vernunft fähig ist“,30 der wahre Ursprung des Menschen folglich außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt, aber notwendigerweise vorausgesetzt werden muss und demzufolge qua logischer Deduktion ein erstes Stammelternpaar und damit ein monogenetischer Ursprung angenommen werden müsse 31 Im selben Jahr des Erscheinens von und als direkte Reaktion auf Kants Muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte wendet sich Heynes Schwiegersohn Georg Forster öffentlich gegen den Königsberger Philosophen 32 Er kritisiert, dass aus Kants Ausführungen bezüglich des menschlichen Ursprungs anstelle der von Kant angenommenen Monogenese ebenso gut Polygenese angesetzt werden könne, und sieht in Kants Vorgehen die Gefahr, dass die naturwissenschaftliche Anthropologie zur Beweisführung der biblischen Schöpfungsgeschichte benutzt wird, um so die Stellung des Christentums in Europa als ordnende und herrschende Instanz auch wissenschaftlich zu untermauern Forster polemisiert gegen Kant, indem er anmerkt, dass die Annahme

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denen Bedingungen zu gewährleisten Durch Anpassung an den Lebensraum prägten sich diese Anlagen zu verschiedenen Merkmalen aus – Kant spricht in diesem Zusammenhang von Anartung Die menschliche Stammgattung ging dadurch in ihre diversen Abartungen, die Rassen, über, vgl ebd S 434–441 Nach dieser Phase der Ausdifferenzierung, in der als erstes und wesentliches Merkmal einer Rasse die Hautfarbe auf die klimatischen Bedingungen des Siedlungsraumes abgestimmt wird, werden die Anpassungen der menschlichen Abarten erblich und damit unumkehrbar, weil die übrigen, nicht benötigten Anlagen bei diesem Prozess gelöscht werden Die aus dem Prozess der Anartung hervorgegangene Erblichkeit der Hautfarbe ist bei Kant viel stabiler und dauerhafter, als beispielsweise bei Blumenbach, der davon ausging, dass sich äußerliche Eigenschaften bei veränderten Umweltbedingungen relativ schnell ändern können, s u S 126 f Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen S 440 Vgl Immanuel Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg ): Kants Werke, Bd 8 107–123 Ebd S 110 Vgl ebd Zu Forsters Kritik an Kant und seinen Ausführungen zu menschlichen Rassen vgl Richard Georg Häuser: Georg Forsters Auseinandersetzung mit Immanuel Kant, Eine Kontroverse des 18 Jahrhunderts In: Mainzer Zeitschrift 83 (1988) S 145–153; Mario Marino: Noch etwas über die Menschenrassen, Eine Lektüre der Kant-Herder-Forster-Kontroverse In: Simone de Angelis u a (Hg ): ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte, Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900) Heidelberg: 2010

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von Monogenese der alttestamentarischen Genesis mit zwei gemeinsamen Urahnen aller Menschen noch längst nicht zur Erkenntnis von Gleichheit und Verhinderung von Vernichtung, Versklavung und Unterdrückung geführt hätte,33 im Gegenteil Die offensichtliche Ungleichheit und Verschiedenheit aller Menschen widerspreche ja sogar der aus der von Kant angenommenen Monogenese ableitbaren Gleichheit aller Menschen, weshalb es unzulässig sei, diese als gegeben anzunehmen Polygenese müsse nicht zuletzt auch angesichts der Vielfalt menschlicher Ethnien als eine denkbare Möglichkeit zur Verfügung stehen 34 Zum anderen stößt sich Forster an Kants begriffe- und kategorienschaffender systematischen Vorgehensweise Er war zutiefst

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Vgl Georg Forster: Noch etwas über die Menschenraßen In: Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte (Hg ): Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd 8 Berlin: 1974 S 154 f Bei seiner Kritik an Kant und dessen Ausführungen über die menschlichen Rassen und die Entstehung des Menschen unterlag Forster jedoch einem Irrtum: Seine Kritik kreist um das Spannungsfeld zwischen Kants postulierten hierarchisch geordneten Rassen einerseits und der von ihm vorausgesetzten (biblischen) Monogenese andererseits Doch sind die beiden relativ kurz nacheinander entstandenen Texte Kants, auf die sich Forsters Kritik ausdrücklich bezieht, vgl ebd S 131, programmatisch nicht aufeinander bezogen, worauf Kant selbst in seiner Reaktion auf Forsters Kritik hinweist, vgl Immanuel Kant: Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg ): Kants Werke, Bd 8 S 160 So folgen die beiden Texte Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace und Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte bei Kant zwei grundlegend unterschiedlichen Forschungs- und Erkenntnisprinzipien Für Kant gehören die Beschreibung und Erklärung der menschlichen Rassen in den Bereich der Naturbeschreibung und müssen demzufolge auf Grundlage beobachtbarer Phänomene, den empirisch untersuchbaren Eigenschaften des menschlichen Organismus, a posteriori gedacht werden Die Theorie über die Entstehung der Rassen jedoch gehört auf das Feld der Naturgeschichte Diese zeichnet sich dadurch aus, dass eben nicht auf gesammeltes Datenmaterial zurückgegriffen werden kann, weil sie weit in der Vergangenheit liegt Anhand von Analogien und Hypothesen müssen nun Theorien erarbeitet werden, die in gewissen Grenzen durch Beobachtungen, die durch die theoretische Grundlage gefiltert sind, erwiesen oder widerlegt werden können, vgl ebd S 160–164 In der Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte hingegen entzieht sich der Untersuchungsgegenstand, die Entstehung des Menschen, vollkommen einer Betrachtung a posteriori Die Herleitung muss daher logisch a priori vorgenommen werden, indem ein erstes Urelternpaar als Vorfahren aller Menschen als notwendige Prämisse postuliert wird Anhand der von Kant behaupteten Existenz der Rassen könne nicht auf die menschliche monogenetische Schöpfung zurückgeschlossen werden, weil die Existenz der Rassen nicht logisch aus der Existenz des Menschen gefolgert werden kann, vgl ebd S 178 Monogenese könne aber wohl aus der Existenz des Menschen geschlossen werden, da diese beweist, dass es auch erste Menschen gegeben haben muss Die Existenz der Rassen und die monogenetische Schaffung des Menschen hat daher für Kant insofern nichts miteinander zu tun, als ersteres aus Datenmaterial und der Betrachtung der Welt empirisch und daher aposteriorisch hergeleitet wird, also in die Naturbeschreibung gehört, letzteres hingegen logisch, das heißt apriorisch geschlussfolgert wird und damit der Metaphysik zuzurechnen ist, vgl ebd S 179 Den Ausschlag für den monogenetischen Ansatz Kants gab lediglich, dass ihm die Abstammung von einem einzigen Paar wahrscheinlicher und logischer erscheint, was nicht heißen soll, dass er Polygenese kategorisch ausschließe, vgl ebd Kant weist daher Forsters „Verdacht, daß […] [er] das letztere [= Monogenese] als ein Factum und zwar zufolge einer Autorität [= das Christentum] behaupten wolle“ (ebd ), zurück Monogenese sei „nur die Idee, die ganz natürlich aus der Theorie folgt“ (ebd )

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skeptisch gegenüber Systemen mit festen Definitionen, erstens weil jegliche Erkenntnis in seinen Augen unvollkommen und vorläufig ist, durch neues Wissen umgestoßen oder modifiziert wird und eine „Infallibilität der Principien“35 daher unmöglich ist und zweitens weil durch vorgefasste, immer potenziell falsche Systeme und Begriffe jegliche Beobachtung gelenkt und gefiltert vonstattengeht und dementsprechend nur Argumente und Beweise für die angenommene Theorie bevorzugt werden 36 Wissenschaft müsse sich daher kritisch mit Ordnungssystemen und Definitionen auseinandersetzen und sich bewusst sein, dass Theorien nichts anderes als falsifizierbare menschliche Konstrukte sind, die jeder Zeit durch neue Erkenntnisse geändert werden können müssen 37 Dementsprechend misstraut Forster erstens der Annahme menschlicher Rassen überhaupt, weil die Voraussetzungen für deren Existenz nicht bewiesen sind, sondern lediglich auf Annahmen basieren – es sei ebenso plausibel verschiedene Gattungen anzunehmen;38 solange hier keine Klarheit herrsche, solle man vorschnelle Behauptungen und Systematisierungen lieber unterlassen Und zweitens sei der Begriff selbst ungeeignet Er präferiert vielmehr den Linné’schen Begriff Varietät 39 Die in den 1780er Jahren vornehmlich von Kant, Herder und Forster40 angestoßene und geführte Rassenkontroverse41 blieb nicht etwa ein beachteter Streit zwischen Ge35 36

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Forster: Noch etwas über die Menschenraßen S 132 Speziell Forsters Abneigung dagegen, „vorher ein Princip festzusetzen, nach welchem sich der Naturforscher sogar im Suchen und Beobachten solle leiten lassen“ (Kant: Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie S 161), moniert Kant in seiner Replik auf dessen Kritik Für Kant ist es unumgänglich, dass wissenschaftliche Begriffe erarbeitet und Hypothesen gebildet werden, bevor man sich den Daten zuwendet, gerade damit der Blick auf das Wichtigste und Wesentliche fallen kann Andernfalls sei alles Forschen „bloßes empirisches Herumtappen ohne leitendes Princip“ (ebd ) Vgl Forster: Noch etwas über die Menschenraßen S 132 f Vgl Georg Forster: 171, An Samuel Thomas Soemmerring In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 14 S 515 Weitere Belegstellen ließen sich anführen, um zu zeigen, dass Forster gegen diesen Begriff war, vgl beispielsweise Georg Forster: 213, An Samuel Thomas Soemmerring In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 14 S 618: „Daß ich das Wort Menschenracen nicht liebe, wirst Du nun aus dem Novemberheft des Merkurs auch wohl wißen; ich brauchte es, um Kants Wort zu gebrauchen “ Vgl Forster: Noch etwas über die Menschenraßen S 152 Im Übrigen agierten Herder und Forster nicht isoliert voneinander gegen Kant; sie tauschten sich auch in Briefen über die Debatte aus, vgl zum Beispiel Georg Forster: 170, An Johann Gottfried Herder In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 14 S 512– 514 Ausführlich zur Herder-Forster-Kant-Kontroverse vgl Michael Weingarten: Menschenarten oder Menschenrassen, Die Kontroverse zwischen Georg Forster und Immanuel Kant In: Gerhart Pickerodt (Hg ): Georg Forster in seiner Epoche Berlin: 1982 (= Literatur im historischen Prozeß, Neue Folge, Bd 4) S 117–148; Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, Gedanken zu Forster, Herder und Kant In: Claus-Volker Klenke (Hg ): Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, Beiträge des Internationalen Georg-Forster-Symposions in Kassel, 1 bis 4 April 1993 Berlin: 1994 S 115–132; Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18 Jahrhunderts Tübingen:

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lehrten um Details ihrer Überlegungen, sondern ist vielmehr als Symptom des aufklärerischen Emanzipationsprozesses von Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften von christlicher Religion und kirchlicher Dogmatik zu sehen Sie dreht sich um Fragen der eigenen Identität und Abstammung: Was ist der Mensch? Wie ist die Mannigfaltigkeit menschlicher Ethnien zu klassifizieren, zu deuten und zu bewerten? Wie entsteht Kultur und Fortschritt? Gibt es Sinn und Ordnung in der Welt? Inwiefern kann die Bibel ihre Gültigkeit behalten? Herder und Forster versuchten auf solche Fragen zu antworten, indem sie die Vielfalt der Menschen betonen, die aus den Quellen der Reisebeschreiber zutage tritt Mit diesen suchen sie eine kritische Auseinandersetzung; sie zeigen sich ihnen gegenüber skeptisch, suchen nach glaubwürdigen Ethnographien und fordern Präzisierung und Objektivität, damit auf Basis des gesammelten Materials ein buntes Bild von der Welt und ihren Menschen entstehen kann, ohne dass die Menschheit in ein enges Korsett voreiliger Systematisierungen gezwängt wird Kant hingegen geht einen anderen Weg: Er sucht eine Ebene der Logik jenseits der Quellen; er bestimmt Begriffe und Kategorien, in die empirisches Material eingearbeitet wird, weil es darauf ankomme, „den Begriff, welchen man durch Beobachtung aufklären will, vorher selbst wohl bestimmt zu haben, ehe man seinetwegen die Erfahrung befragt“ 42 Er erarbeitet daher eine Systematik mit theoretischen Konstrukten, um die Anthropologie in die Naturwissenschaften einzubetten, und hält an dem Begriff der Rasse fest, weil er fester Bestandteil seiner Theorie von Zeugung, Abstammung und Anartung ist Forster und Herder hingegen lehnten ihn ab, jedoch aus etwas unterschiedlichen Motiven Forster wehrt sich gegen den Begriff aus einer Skepsis gegenüber schnell festgefahrenen Systematiken, die jegliche objektive Urteilskraft trüben können; es soll daher nichts als entschieden dargestellt werden, worüber nicht entschieden werden kann – wie eben die Existenz der Rassen Durch den Begriff werden seiner Ansicht nach also vorschnell Unterscheidungen vorgenommen, wo es möglicherweise keine gibt Herder hingegen ist überzeugt, dass durch den Rassebegriff Unterschiede eingeführt werden, wo definitiv keine sind Aus seiner Sicht ist der Rassebegriff also einerseits aus Theoriegründen abzulehnen, andererseits spielt hier aber auch eine moralische Komponente eine wichtige Rolle Er sah durch „das unedle Wort“43 die Würde des einzelnen Menschen wie auch die Einheit der Menschheit bedroht 44 Wenn Forster auch stärkere Schwerpunkte in der physischen Anthropologie setzt als Herder,45 erscheint der Mensch doch bei beiden tief eingebettet und verwurzelt in eine organische, dynamische und lebendige Welt Der starken Systematik Kants setzen sie ein

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2004 (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd 23) S 85–176; Marino: Noch etwas über die Menschenrassen Vgl Kant: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace S 91 Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit In: Sämtliche Werke, Bd 13 S 151 Vgl Marino: Noch etwas über die Menschenrassen S 411 f Vgl van Hoorn: Dem Leibe abgelesen S 17–19; 191–233

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antidualistisches, antisystematisches und universalistisches Welt- und Menschenbild entgegen Beide wollten durch ihr Argumentieren gegen den Rassebegriff dem Auseinanderdriften von kultur- und naturwissenschaftlich orientierter Anthropologie entgegenwirken – Kant jedoch trieb durch seine Systematisierung den Keil immer weiter in den Spalt zwischen den beiden Ausprägungen der jungen Disziplin Bei Herder, Forster und Kant treten somit zwei grundlegend verschiedene Weltund Menschenbilder zutage: Ist bei Kant die Welt durch Statik und Ordnung geprägt, wird sie bei Herder und Forster von Wandlung und Chaos beherrscht Beide Gegensätze kulminieren in der Frage nach der Rasse: Gibt es sie nun oder gibt es sie nicht? In der Antwort darauf stehen sich beide Parteien diametral gegenüber Während Herder und Forster die Existenz von Menschenrassen klar negieren, steht diese für Kant als unumstößliche Wahrheit fest Bei diesem spaltet die Hautfarbe die Menschheit in vier scharf voneinander getrennte Gruppen Bei jenen ist sie nur eines von vielen harmlosen Kennzeichen menschlicher Varietät Sie ist hier eine klimatisch induzierte Varianz – bei Forster zumindest solange, bis das Gegenteil erwiesen ist Bei ihnen passt die Menschheit in kein System, sondern erscheint als ständig im Wandel befindliche bunte Menge verschiedenster Individuen, die sich nur im Kleinsten gruppieren lassen Innerhalb der Menschheit gibt es keine klaren Grenzen, sondern nur fließende Übergänge; es ist „alles nur Schattierung eines und desselben großen Gemäldes, das sich durch alle Räume und Zeiten der Erde verbreitet“ 46 Wie ist nun Heyne in dieser Debatte um Menschenrassen zu verorten und was verrät uns dies über sein Menschenbild? Herder und Forster gehörten zu den engsten Freunden Heynes Obwohl sich Heyne und Herder nur wenige Male persönlich begegneten,47 hat Heyne nur „wenige Menschen […] so geliebt und geachtet wie Herder’n“;48 und für Herder war Heyne „die edelste, feinste, wohlklingendste Seele, die man nie in einem lateinischen Manne suchen u auch vielleicht in Jahrhunderten nicht finden wird“ 49 Ihre Freundschaft zeichnete sich vor allem durch intellektuelle Berüh-

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Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit In: Sämtliche Werke, Bd 13 S 258 Heynes Biograph Heeren zufolge trafen sie sich 1791 in Weimar zum ersten und einzigen Mal, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 174 Doch kann dies nicht stimmen Herder berichtet nämlich bereits 1772 in einem Brief an Karoline Flachsland von einer Reise nach Göttingen, bei der er auch Heyne kennengelernt hatte Dort habe er einen Abend in Heynes Haus „in einer witzigen gelehrten Gesellschaft, die sehr laut war“ ( Johann Gottfried Herder: 59, An Karoline Flachsland In: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Hg ): Johann Gottfried Herder, Briefe, Bd 2, Mai 1771 – April 1773 Weimar: 1977 S 138) verbracht Heyne selbst jedoch war „sehr leise, ja fast stumm u schien beinahe […] mißvergnügt“ (ebd ) Bei einem späteren Besuch im selben Jahr lernte er Heyne dann besser kennen und führte viele Gespräche mit ihm, vgl ebd S 138 f Im April 1772 beginnt schließlich ein Briefwechsel zwischen beiden Später setzte sich Heyne mehrfach vergeblich dafür ein, dass Herder als Professor für Theologie nach Göttingen berufen wird, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 173–175 Ebd S 174 Herder: 59, An Karoline Flachsland S 138

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rungspunkte aus, insofern sie beide die Poesie als das Fundament ihrer Bildung ansahen und „ähnliche Studien, und ähnliche Ansichten der Geschichte“50 an sich beobachteten Obwohl sich keiner von beiden als eigentlicher Historiker verstand, hatten doch „beyde […] die Geschichte zu ähnlichen Zwecken studirt, und ähnliche Resultate daraus abgezogen “51 Ebenso gehörte Georg Forster „zu den Menschen, die Heyne auf das innigste geliebt hat “52 Er wurde 1785 durch seine Ehe mit Heynes ältester Tochter Therese sein Schwiegersohn, doch kannte ihn Heyne durch dessen Professur im benachbarten Kassel auch vorher schon gut 53 Das Band zwischen den beiden gründete sich auf wissenschaftlicher Ebene vor allem auf ihre völker- und länderkundlichen Ansichten und Kenntnisse – Heyne hatte diese aus Büchern kennen gelernt, Forster hatte sie durch seine Entdeckungsreisen gewonnen – so bereicherten sie sich auf diesem Gebiet gegenseitig Forsters Tod 1794 traf Heyne folglich schwer 54 In Kontakt mit der Diskussion kam Heyne also nicht nur durch seine Freunde Forster und Herder,55 deren Schriften und Ansichten er zweifelsfrei gekannt haben muss – Heyne stand in der Kontroverse mit Kant mit Sicherheit auf deren Seite, hatte ihm doch Forsters Aufsatz gefallen56 – das Zentrum des damaligen Diskurses um die menschliche Rasse lag

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Heeren: Christian Gottlob Heyne S 174 Ebd Ebd S 343 Heyne verhinderte im Übrigen 1793, dass Forster aufgrund seiner politischen Ansichten und seines Engagements für die Französische Revolution aus der Göttinger Societät der Wissenschaften ausgeschlossen wurde, obwohl er von der Regierung in Hannover dazu aufgefordert wurde Heyne mobilisierte jedoch die Mitglieder der Societät gegen diese Aufforderung mit der Begründung, dass die politischen Ansichten von Gelehrten nicht für ihre Arbeit in einer wissenschaftlichen Vereinigung wie die Societät von Belang seien, und warnte vor einer drohenden Instrumentalisierung der Societät durch die Politik Vgl ausführlich zu dieser Angelegenheit Ulrich Joost: Die Respublica Litteraria, der gelehrte Zunftzwang und ein Beispiel wahrer Liberalität, Nachrichten von Georg Forster und einigen seiner Zeitgenossen In: Göttinger Jahrbuch 27 (1979) S 159–175 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 342 f Vgl ebd S 344 Forster informierte Heyne über seinen Aufsatz Noch etwas über Menschenraßen unmittelbar nach dessen Erscheinen in einem Brief Er legt hier kurz dar, dass der Aufsatz gegen das, was „der Archisophist und Archischolastiker unserer Zeit […], Hr Kant“ (Georg Forster: 199, An Christian Gottlob Heyne In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 14 S 586 f ) zu diesem Thema geäußert hatte, und erläutert Heyne nochmals kurz seine Motivation: „Ich wollte nur zeigen, daß sich die Sache auch aus einem andern Gesichtspunkte ansehen ließe, und daß man nicht mit apodiktischer Gewißheit darüber sprechen könne Wenn die Sache aufs Reine kommen soll, so muß sie pro et contra ventilirt werden Daß die Menschen Einer Gattung sind, ist wohl ausgemacht, sobald man den Begriff Gattung so bestimmt, daß es sich ausmachen läßt Ob sie aber alle Eines Stammes sind, folgt daraus noch lange nicht Die eigentliche Veranlassung, weshalb ich mich mit der Sache befaßte, war die, daß er besonders über die Südseeinsulaner viel Unrichtiges gesagt hatte Herder, dem ich meinen Aufsatz zuschickte, hat große Freude darüber und schreibt mir einen lieben, vortrefflichen Brief “ (ebd S 587) Vgl Georg Forster: 215, An Christian Gottlob Heyne In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 14 S 624 f : „Es hat mir große Freude gemacht, daß Ihnen mein Aufsatz im Merkur gefallen hat Abgerechnet, daß Herr Kant uns hier wirklich im Cirkel herum-

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auch in seiner unmittelbaren Nähe, waren doch die wichtigsten deutschen Vertreter früher Rassetheorien seine Göttinger Kollegen Christoph Meiners und Johann Friedrich Blumenbach 57 Mag das Ziel ihrer beider Forschungen auch dasselbe sein – die Unterscheidung und Abgrenzung verschiedener menschlicher Rassen –, folgten sie doch zwei verschiedenen Wegen Blumenbach näherte sich der Kategorisierung der Menschen aus einer biologischen Perspektive und ist im deutschen Sprachraum einer der ersten, der den Begriff Rasse aus dem Bereich der Tierzucht auf den Menschen übertrug Er suchte nach Unterschieden bezüglich Haut- und Haarfarbe und vermaß und verglich menschliche Schädel aus verschiedenen Teilen der Erde 58 So hielt er in der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen zwischen 1789 und 1826 insgesamt sieben Vorträge, in denen er Schädel unterschiedlicher Ethnien präsentierte und deren Besonderheiten darlegte Bei fünf dieser Vorträge war auch Heyne anwesend, sodass er die Vermessung und Kategorisierung des Menschen mit eigenen Augen verfolgen konnte In Bezug auf die Unterscheidung der Menschheit nach verschiedenen Rassen vertritt Blumenbach eine eher gemäßigte Haltung Bei ihm gehört jeder Mensch der gleichen biologischen Art an;59 klar voneinander abtrennbare Rassen gibt es für Blumenbach nicht,60 sondern Rasse ist hier eher als eine weiche Kategorie zu verstehen, die Übergänge und Durchlässigkeit zulässt, da physische Merkmale seiner Ansicht nach nicht rassespezifisch sind, sondern sich in unterschiedlichen Ausprägungen in jeder Rasse wiederfinden 61 Unterschiede in Wuchs, Haut- und Haarfarbe erklärt er durch eine Anpassung an Umweltbedingungen, insbesondere an das Klima und Nahrungsmittel,62 wobei die Ausprägung solcher rassespezifischer Merkmale bei

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führte, und einen Begriff zu finden vorgab, den er schon in der Voraussetzung gegeben hatte, so glaube ich, daß es nicht schaden kann, die Sachen manchmal von einer andern Seite anzusehen “ Ausführlich zu Blumenbachs und Meiners Wirken in Göttingen vgl Marino: Praeceptores Germaniae S 90–137 Auch wenn sich Blumenbach bei seinen Forschungen hauptsächlich auf Messungen und Beobachtungen verlegte, sind seine Texte nicht frei von ästhetischen Bewertungen So lobt er beispielsweise 1798 in seinem Buch Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte die schönen Gesichter der Rassen, die die gemäßigten Klimazonen bewohnen, vgl Johann Friedrich Blumenbach: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte Leipzig: 1798 S 137; 148–150 Vgl ebd S 224 Vgl Johann Friedrich Blumenbach: Beyträge zur Naturgeschichte, Erster Theil Göttingen: 1790 S 80 f Vgl ebd S 84 f ; Blumenbach: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte S 203 Blumenbach unterscheidet dabei insgesamt fünf Hauptvarietäten: 1 ) die kaukasische (Europäer, Nordwestasiaten und Nordafrikaner), 2 ) die mongolische (Süd- und Ostasiaten sowie Nordamerikaner), 3 ) die äthiopische (Mittel- und Südafrikaner), 4 ) die amerikanische (Südamerikaner) und 5 ) die malayische Varietät (die Bewohner der Pazifikinseln und Australier), vgl ebd S 204; Beyträge zur Naturgeschichte S 82 f Vgl Blumenbach: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte S 97–99; 153 Weitere bedeutende Faktoren, die sich laut Blumenbach auf den menschlichen Körper auswirken und damit zu rasse- oder volkstypischen Körpermerkmalen führen, sind die Lebensweise

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ihm im Gegensatz zu Kant ein dauerhafter und reversibler Prozess ist So seien einige körperliche Merkmale wie Schädelform und Körpergröße relativ schnell veränderbar, jedoch in eher engen Grenzen 63 Umso schärfer und hierarchischer erscheinen Rassen bei seinem Kollegen Christoph Meiners, der sich mit diesem Thema eher aus kulturwissenschaftlicher Sicht auseinandersetzte Heyne arbeitete selbst nicht aktiv an solchen Versuchen, die Menschheit nach gewissen Kriterien zu gruppieren, doch tangierte ihn die Thematik bei seinen Forschungen stark, zum einen weil die Diskussion über menschliche Rassen damals vorrangig in Göttingen geführt wurde und mit Herder und Forster zwei seiner engsten Freunde lebhaft daran teilnahmen, zum anderen weil ihn zwar nicht die Konsequenzen dieser Kategorisierungen, wohl aber das Datenmaterial, aus dem sich diese speisten, die Reise- und Entdeckerberichte seiner Zeit, interessierten Er sah darin einen Schatz, der für die Altertumswissenschaften noch gehoben werden könnte, und verfasste mit seinem Doppelaufsatz Vita antiquissimorum hominum ein Beispiel dafür, wie Reiseliteratur und Altphilologie gemeinsam neues Wissen über die Antike und den Menschen hervorbringen können Doch blieb es leider bei diesem einen Aufsatz zu diesem Gebiet; den Grund dafür gibt Heyne im Epimetrum zu diesem Text an, welches er vermutlich kurz vor dem Erscheinen des Textes im dritten Band seiner gesammelten akademischen Schriften 1788 verfasste Er erläutert darin, dass er nach der Veröffentlichung der Vita antiquissimorum hominum nicht weiter an diesem Thema arbeitete, weil ein jüngerer Kollege von ihm – gemeint war Christoph Meiners – begonnen hatte, ebenfalls „ad generis humani […] historiam“64 zu forschen 65 Meiners, geboren 1747 und damit 18 Jahre jünger als Heyne, war in Göttingen Professor für Philosophie und lehrte dort Geschichte Er verfasste mehrere Schriften zur Kultur- und allgemeinen Menschheitsgeschichte sowie Volkskunde66 – dass es sich bei dem Kollegen, den Heyne hier nennt, um Meiners handelt, ist also mehr als nur wahrscheinlich Dieser ging, so Heyne selbst, von vollkommen anderen Prinzipien und Argumenten aus und gelang-

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und die Sitten eines Volkes So sei beispielsweise der häufig vorkommende flache Hinterkopf der Deutschen sowie einiger Völker Nord- und Mittelamerikas damit zu erklären, dass Mütter ihre Kinder häufig auf den Rücken legen Niederländische Frauen hingegen legten ihre Kinder meist auf die Seite, sodass sie später eher längliche Köpfe hätten, vgl ebd S 154 f Vgl ebd S 133–141; 152–161; 189 f Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 31 Heyne spielt hier offensichtlich auf Meiners Grundriß der Geschichte der Menschheit an, das dieser drei Jahre vor dem Erscheinen der Programmschrift im dritten Band der Opuscula 1785 veröffentlicht hatte Unter anderem Christoph Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, besonders der Egyptier Göttingen: 1775; Grundriß der Geschichte der Menschheit; Allgemeine und kritische Geschichte der Religionen, 2 Bde Hannover: 1806/1807; Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen (die verschiedenen Menschenarten) in Asien und den Südländern, in den Ostindischen und Südseeinseln nebst einer historischen Vergleichung der vormaligen und gegenwärtigen Bewohner dieser Continente und Eylande, 3 Bde Tübingen: 1811–1815

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te dementsprechend zu ganz anderen Schlüssen 67 Heute gilt Meiners als einer der maßgebenden Wegbereiter späterer Rassetheorien In seinem Grundriß der Geschichte der Menschheit bezeichnet er es beispielsweise als seine wichtigsten Erkenntnisse und Facta […]: daß das gegenwärtige Menschengeschlecht aus zween Hauptstämmen bestehe, dem […] Kaukasischen, und dem Mongolischen Stamm: daß der letztere nicht nur viel schwächer von Cörper und Geist, sondern auch viel übel gearteter und tugendleerer als der Kaukasische sey: daß endlich der Kaukasische Stamm wiederum in zwo Racen zerfalle, in die Celtische und Slawische, unter welchen wiederum die erstere am reichsten an Geistesgaben und Tugenden sey 68

Er propagierte im Laufe seines Lebens immer wieder die Existenz rassisch begründeter Ungleichheit und seine Einteilung in schöne, kluge, weiße Kaukasier und hässliche, dumme, dunkelhäutige Mongolen und ist damit im deutschen Sprachraum einer der ersten Vertreter einer Rassenlehre, die neben körperlichen Merkmalen auch und vor allem Intelligenz, Moral und Psychologie zu erblichen Faktoren und festgelegten Rassemerkmalen erhebt Dabei macht Meiners die europäischen Moralvorstellungen seiner Zeit zum Maßstab seiner Kategorisierung: Der helle, sittsame, mutige, freiheitsliebende, mitfühlende und gemäßigte Kaukasier sticht bei ihm den dunklen, angeblich wollüstigen, feigen, devoten, egoistischen und triebhaften Mongolen in jeder Hinsicht aus Steht Meiners mit seiner Kategorisierung der Menschheit in verschiedene Gruppen mit verschiedenen festgelegten Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts auch keinesfalls allein, herrschte doch in der Regel Konsens, dass die Unterschiede zwischen den Völkern durch Klima, Geologie, Nahrung, Staatsform oder Lebensweise, in den meisten Fällen aber durch eine Gemengelage verschiedenster Ursachen und Faktoren zu erklären seien69 – zwar waren auch solche Kategorisierungsversuche bei weitem nicht in allen Fällen neutral gemeint, doch wurde bei aller Mannigfaltigkeit normalerweise nicht angezweifelt, dass alle Menschen einen einzigen gemeinsamen Ursprung haben und damit im Grunde gleich sind oder zumindest der gleichen Art angehören Meiners hingegen glaubte, dass Gott nicht einen Stammvater beziehungsweise eine menschliche Art, sondern nach und nach in verschiedenen Erdteilen mehrere erschaffen haben müsse, aus denen sich die Rassen entwickelten, weil es ihm unplausibel erschien, dass von einem einzigen Urmenschen so viele physisch und psychisch unterschiedliche Menschen abstammen können 70 Mit seiner Reduktion aller Verschiedenheit allein auf Erblichkeit 67 68 69 70

Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 31 Meiners: Vorrede In: Grundriß der Geschichte der Menschheit o S Meiners beide Hauptrassen zerfallen wiederum in verschiedene Untergruppen, vgl Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit S 18–32 Vgl insbesondere zur Klimatheorie Kap 5 2 1 S 139–153 Vgl Meiners: Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen, Bd 1 S 40 Meiners hielt damit nicht wie die Mehrheit europäischer Gelehrter bei seinen Spekulationen über den Ursprung des Menschen und die Ausdifferenzierung der Rassen an der biblischen Schöpfungsge-

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verfolgt Meiners einen in seiner Zeit kaum rezipierten Ansatz, der zum Teil auch auf offene Ablehnung stieß Einer seiner prominentesten Kritiker war Heynes Schwiegersohn Georg Forster Dieser schreibt über Meiners in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi: der Polterer Meiners kann nichts mehr als seinen ungeheuern Collectaneensack voll Cruditäten ins Publicum ausleeren Denken und Kritik hat er längst verlernt 71

Auch Heinrich Kunhardt ging 1796 in seinem Buch De nationum diversa indole eiusque causis den Ursachen für charakterliche Unterschiede zwischen verschiedenen Völkern nach und sah diese vor allem in klimatischen, geologischen, alimentären, physischen, politischen, pädagogischen, religiösen und sittlichen Faktoren begründet 72 Die Existenz menschlicher Rassen bestritt Kunhardt aber und wendete sich ausdrücklich gegen die von Meiners verbreiteten Theorien, indem er diese ausführlich widerlegt 73 In der Rezension, die Heyne zu Kunhardts Schrift verfasste, nimmt er wie so oft eine unklare Mittelposition ein Zwar erkennt er die vom Verfasser herausgearbeiteten Ursachen als zutreffend an,74 möchte aber auch Meiners – dessen Name in der Rezension nicht fällt, obwohl sich Kunhardts Schrift in einem maßgeblichen Teil offen und ausdrücklich gegen dessen Theorie richtet – nicht widersprechen, sondern schreibt, dass beiden Ursachenfeldern – Anlage und Umwelt – Rechnung getragen werden müsse und eine Reduktion auf lediglich einen Faktor unstatthaft sei, wobei die Wahrheit „noch nicht überall genug geschieden und geläutert zu seyn [scheint]; […] es vielleicht auch nie genug werden [kann]“ 75 An anderer Stelle, allerdings zeitlich viel früher, wendet sich

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schichte fest Üblicherweise wurden Kapitel 10 und 11 der Genesis zur Erklärung der Entstehung verschiedener Rassen herangezogen, wonach Noahs Söhne verschiedene Stämme gegründet haben sollen, aus denen sich später die Rassen entwickelten; der niedrige gesellschaftliche Status der Schwarzen wurde durch Gottes Fluch über Hams Sohn Kanaan erklärt Biblisch begründete Monogenese konnte auf diese Weise mit dem Konstrukt hierarchisch geordneter Rassen harmonisiert und im christlichen Europa plausibel und gesellschaftsfähig gemacht werden Meiners hingegen ging davon aus, dass die Unterschiede zwischen den Rassen so groß seien, dass man von unterschiedlichen Gattungen ausgehen müsse, wobei er sich jedoch nicht so weit von seiner Religion löst, dass er eine nichtgöttliche Schöpfung annehmen würde Darauf zurückzuführen seien ewige und unveränderbare rassische Unterschiede Der wesentliche Unterschied zwischen mono- und polygenetischen Ansätzen besteht also darin, dass bei letzteren die Rassen von Anfang an getrennt sind und die Kluft zwischen ihnen durch die Annahme verschiedener biologischer Arten viel breiter ist als bei monogenetischen, während monogenetische Ansätze die Rassen als Varianten einer Art deklarieren Polygenese wie etwa bei Meiners, Peter Camper oder dem französischen Anthropologen Pierre Paul Broca blieb jedoch bis ins 19 Jahrhundert als Erklärungsansatz eher unbedeutend, wohl nicht zuletzt auch weil er der christlichen Orthodoxie widersprach, und ging schließlich im Zuge der Verbreitung der Darwin’schen Evolutionstheorie unter, die erstmals einen nichtbiblischen monogenetischen Ansatz bereitstellte, vgl Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa S 56 f Georg Forster: 111, An Friedrich Heinrich Jacobi In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 15 S 208 Vgl Heinrich Kunhardt: De nationum diversa indole eiusque causis Helmstedt: 1797 S 12 f Vgl ebd S 37–60 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 92 St In: GGA 1798 S 918 f Ebd S 919

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Heyne jedoch sehr deutlich gegen eine Erklärung ethnischer Unterschiede durch Vererbung In seiner Rezension zu Antoine Bénézets A short account of that Part of Africa inhabited by the Negroes von 1769 gibt er die Beobachtung des Verfassers wieder, dass bei weitem nicht alle Reisebeschreiber den Einwohnern Afrikas nur negative Eigenschaften beilegen, sondern sie im Gegenteil sogar als sehr freundliche, ehrliche und kluge Menschen darstellen Für Heyne bestätigt dies das Urtheil des bessern Theils der Philosophen, welche die vorgebliche viehische Dummheit und Boshaftigkeit der Negern […] nicht von einer natürlichen darauf abgezielten Anlage, sondern mehr von sittlichen und politischen, als von physischen, ableiten 76

Vermutlich spielt Heyne also in seinem Epimetrum zu Vita antiquissimorum hominum auf Meiners unpopuläre monokausale Erklärungsmuster an, wenn er schreibt, dass der besagte jüngere Kollege die Geschichte der Menschheit unter ganz anderen Gesichtspunkte betrachtet als er selbst Aber auch die Konsequenzen, die Meiners aus seinen rassistischen Erblichkeitshypothesen zog, können Heyne nur missfallen haben 1790 schreibt Meiners: und so wenig jemals Unterthanen mit ihren Regenten, Kinder mit Erwachsenen, Weiber mit Männern, Bediente mit ihren Herren, […] gleiche Rechte und Freyheiten erhalten werden; so wenig können Juden und Neger, so lange sie Juden und Neger sind, mit den Christen und Weissen […] dieselbigen Vorrechte und Freyheiten erlangen Wenn es ungerecht ist, unter Wesen, die einander gleich sind, mit Gewalt niederdrückende Ungleichheiten zu erzwingen; so ist es nicht weniger ungerecht, solche, welche die Natur, oder andere unüberwindliche Ursachen einander ungleich machen, gleichsetzen zu wollen 77

Heyne hingegen betonte in seinen Rezensionen stets die Gleichheit aller Menschen und lehnte Kulturchauvinismus, Rassismus und ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Völkern, insbesondere gegenüber den indigenen Bevölkerungen der damaligen Kolonien teilweise sehr deutlich ab Er weist mehrmals darauf hin, dass sich beispielsweise die allgemeine Charakterisierung afrikanischer Menschen als boshaft, dumm oder faul bei weitem nicht durch alle Reisebeschreibungen dieser Gebiete belegen lasse und hebt positive Darstellungen von indigenen Völkern oft hervor Ebenfalls in der Rezension zu Bénézets A short account of that Parts of Africa inhabited by the Negroes schreibt er zum Beispiel, dass [e]ine Menge Reisebeschreiber […] die Negern […] als menschenfreundlich, dienstfertig, liebreich, ehrlich im Handel […] und eben so voll Fähigkeit, Mutterwitz und Scharfsinn

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[Christian Gottlob Heyne]: 149 St In: GGA 1769 S 1350 Christoph Meiners: Ueber die Natur der Afrikanischen Neger, und die davon abhangende Befreyung, oder Einschränkung der Schwarzen In: Göttingisches Historisches Magazin, 6 (1790) S 386 f

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[rühmen]; und bey Personen von Erziehung fanden sie einen so glänzenden Verstand, als bey irgend einem Europäer 78

In Thomas Winterbottoms Darstellung An account of the native Africans in the neighbourhood of Sierra Leone von 1803 konnte er „[m]it großem Vergnügen“79 lesen, dass [d]ie Natur […] sie [= die Afrikaner] nicht anders [bildet], als uns Europäer, überhaupt mit eben den physischen Geistes- und Körperkräften in Stufen und Nuancen von Temperamenten, und mit eben der Verschiedenheit der Individuen, wie bey uns; sie haben eben die Naturanlagen, nur daß sie durch Mangel unserer Cultur anders gebildet und verbildet werden […] Der Verf fand unter ihnen so viel Herzensgüte, liebreiche Aufnahme, besonders die Ehrfurcht gegen das Alter – ein Maaß von Verstandesfähigkeiten, das in Individuen, in Temperament, Alter, Lage und Stand eben so variirte, wie bey uns 80

In der Rezension zu Henri Grégoires Schrift De la Littérature des Nègres, ou Recherches sur leurs facultés intellectuelles, leurs qualités morales, et leur littérature von 1808 bescheinigt er dem Verfasser, mit einer umfassenden Belesenheit und unparteyischen Prüfung […] überzeugend klar zu erweisen, daß die Neger, so gut, wie die Weissen, Anlagen physischer und moralischer Art zu Kenntnissen und Künsten besitzen; was aber die barbarische und unmenschliche Behandlung, der Mangel an Cultur und Bildung, die natürlichen Anlagen[…] bey den Negern zurück- und niederhält,81

und betont, dass „[a]lle gebildete[n] Völker […] einmahl Barbaren [waren], unsre Vorfahren auch, mögen es die Neger auch seyn“ 82 Auch wenn Heyne Ureinwohner oft selbst als roh oder auf der Kindheitsstufe der menschlichen Entwicklung befindlich beschrieb und andere seiner Zeit aus diesem aus europäischer Sicht niedrigeren kulturellen Entwicklungsstand oft eine Legitimation für Unterdrückung und Versklavung ableiteten, erkannte Heyne stets deren menschliche Würde und Errungenschaften an und wies pauschalisierende Abwertungen dieser nichteuropäischen Völker zurück Daher mahnt er zur Vorsicht bei vorschnellen Bewertungen von Völkern, da solche Kategorisierungen erst bei umfassender Kenntnis aller Fakten zulässig seien und dazu in den meisten Fällen umfassende Beschreibungen noch fehlten 83 Heyne sieht indigene Völker keineswegs lediglich als primitive, einfach strukturierte Gesellschaften Nicht zuletzt Grégoires Sammlung von Beschreibungen 78 79 80 81 82 83

[Heyne]: 149 St In: GGA 1769 S 1349 f [Christian Gottlob Heyne]: 11 St In: GGA 1805 S 107 Ebd S 107 f [Christian Gottlob Heyne]: 25 u 26 St 1809 In: GGA 1809 S 241 f Ebd S 248 In seiner Rezension zu Henri Grégoires De la Littérature des Nègres schreibt Heyne zu diesem Problem: „Einzelne Menschen können durch physische Fehler und körperliche Uebel schwachsinnig

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afrikanischer Völker zeigte ihm, dass es auch unter den Völkern Afrikas zum Teil sehr komplizierte politische Systeme gibt Daher ist es seiner Ansicht nach auch nicht möglich, dem Negervolke überhaupt alle Civilisation abzusprechen; eben so wenig, als man behaupten kann, die unsrige habe nun ihre Vollkommenheit erlangt 84

Dementsprechend wendete er sich klar gegen Sklaverei und Sklavenhandel und sah die damals immer weiter um sie greifende Kolonisation in Afrika sowie Nord- und Südamerika durchaus kritisch Grégoire, ebenfalls Gegner der Sklaverei, erfährt daher Heynes Zustimmung, wenn er schreibt, es sei [d]ie traurigste von allen Erfahrungen […], daß […] man […] so weit ging, um die gegen den Schwächern gemißbrauchte Gewalt des Stärkern zu bestärken, lieber abzuläugnen, daß Menschen Menschen sind, daß sie unsers Geschlechts sind […], lieber durch Sophisterey zu behaupten, daß ein Theil des Menschengeschlechts bloß zum Dulden gesetzloser, unvernünftiger Behandlung bestimmt sey 85

Und auch Bénézet, der eine Abschaffung des Sklavenhandels vehement forderte und dies religiös begründete, pflichtet Heyne in seiner Rezension zu dessen A short account of that Part of Africa inhabited by the Negroes bei, dass es absolut unverständlich ist, „wie Menschen, welche einiges Gefühl und Religion haben, einen solchen Handel treiben können “86 Außerdem schreibt er zu Winterbottoms An account of the native Africans in the neighbourhood of Sierra Leone, dass die Europäer nach fast dreihundert Jahren der Kolonisation in Westafrika „nichts von allen Künsten des gesitteten Lebens“, sondern lediglich „Beyspiele von allem, was Habgier, Raubsucht, Handelsbetrug und Uebervortheilung nur erdenken kann; des Sklavenhandels selbst nicht zu gedenken“87 dorthin gebracht hätten Vielmehr ist Heyne die „Vorstellung, jedes Stück Toback und Zucker triefe von Blut der unglücklichen Neger [schrecklich] “88 Aus der Feststellung des schottischen Geographen Alexander Dalrymple, „daß die Südländer sehr cultivirt sind“,89 folgert er daher, dass „den guten Südländern noch lang das Glück, von Europäern unentdeckt zu bleiben“,90 zu wünschen sei Ebenfalls zum Thema der Sklaverei und des Sklavenhandels verfasste Heyne anlässlich der allmählich einsetzenden Abschaffung derselben in den Nordstaaten der USA, England und Frankreich 1789 die Programmschrift E quibus terris mancipia in Graecorum

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seyn, aber bis man dieses von ganzen Menschenstämmen behaupten kann, sind Erfahrungen von ganz anderer Art nöthig, als wir zur Zeit haben “ ([Heyne]: 25 u 26 St In: GGA 1809 S 249) Ebd Ebd S 245 f [Heyne]: 149 St In: GGA 1769 S 1349 [Heyne]: 11 St In: GGA 1805 S 107 [Heyne]: 149 St In: GGA 1769 S 1350 [Christian Gottlob Heyne]: 53 St In: GGA 1771 S 451 Ebd

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et Romanorum fora advecta fuerint 91 Der Aufsatz stellt auch insofern eine Besonderheit dar, als Heyne sonst selten so klar Stellung zu einem politischen Problem bezieht wie hier,92 was wohl aber nicht zuletzt auch seiner Rolle als Professor der Beredsamkeit geschuldet sein dürfte – als offizieller Sprecher der Universität konnte er wohl eher nicht durch umstürzlerische Reden auffallen Seine Programmschriften zeichnen sich daher in vielen Fällen durch panegyrische Dankes- und Lobesworte für König Georg und die Vertreter der Regierung in Hannover aus In der genannten Programmschrift äußert er sich jedoch sehr eindeutig zur Frage der Sklaverei; das sich zu Beginn des 19 Jahrhunderts heranbildende politische Professorentum93 steckt bei Heyne also noch in den Kinderschuhen, ist aber schon deutlich erkennbar Er vergleicht hier den Sklavenhandel der Antike mit dem der Neuzeit und kommt zu dem Schluss, „daß es mit dem Sklavenhandel in alten Zeiten im geringsten nicht anders, als mit dem Negerhandel in unsern Zeiten, gegangen ist “94 Anders ist nun lediglich, dass die Sklaven der Römer und Griechen nicht mehr aus dem Norden verschleppt werden, sondern nun aus dem Süden kommen 95 Nun werde jedoch jene Handlungsweise, die schon seit langer Zeit von den Klügeren vergeblich geächtet wurde, endlich allmählich gesetzlich verboten 96 Heyne betont in dem Text mehrmals, dass intelligente und gebildete Menschen schon lange ein Verbot der Sklaverei forderten 97 Dies impliziert, dass es kein Zeichen von großem Verstand und Bildung ist, die Sklaverei zu verteidigen – und dieses Urteil richtete sich wohl nicht zuletzt auch gegen seinen Kollegen Meiners Umso unverständlicher und verwerflicher sei es, dass diese Praxis, die in Europa verboten oder wenigstens eingeschränkt wurde, in Amerika immer weiter um sich greift und sogar noch religiös begründet wird 98 Als Gründe für die moderne Sklaverei nennt Heyne zum einen die für die Schifffahrt günstige geographische Lage Westafrikas,99 dann die Gier der europäischen Könige und Fürsten, zum

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Christian Gottlob Heyne: E quibus terris mancipia in Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint In: Opuscula academica, Bd 4 S 120–139 Dass ihn die Abolitionistenbewegung – in seinen eigenen Worten die „Abschaffung des Neger-Handels“ ([Heyne]: 16 St In: GGA 1796 S 156) – zu diesem Aufsatz veranlasst hatte, schreibt er in der Rezension zu dem Opuscula-Band, in dem der Aufsatz erschien, vgl ebd , sowie in der Einleitung zu dem Aufsatz selbst, vgl Heyne: E quibus terris mancipia in Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint S 120 f Zu politischen Aspekten in Heynes Universitätsprogrammen vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 197–209; 220–252 Zum politischen Professorentum seit dem frühen 19 Jahrhundert vgl Klaus Ries: Wort und Tat, Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19 Jahrhundert Stuttgart: 2007 (= Pallas Athene, Bd 20) [Heyne]: 16 St In: GGA 1796 S 1161 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 116 St In: GGA 1789 S 1162 (= Rez zu E quibus terris mancipia Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint). Vgl Heyne: E quibus terris mancipia in Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint S 121 Vgl ebd Vgl ebd Die religiöse Begründung, die Heyne hier meint, ist der Glaube, dass die Nachfahren Hams Noahs Fluch abzubüßen hätten Vgl [Heyne]: 116 St In: GGA 1789 S 1163

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anderen die mangelnde Kenntnis von den gesellschaftlichen Bedingungen in Afrika, die dazu führe, dass Afrikaner generell als minderwertig gelten, und viertens die dortige politische Unorganisiertheit und das Leben in kleinen Verbänden ohne gesetzlich geregelte Strukturen, die Stammesfürsten hervorbringe, die despotisch regieren und ihre Untertanen ohne Konsequenzen knechten und an Europäer verkaufen können 100 Vor allem Letzteres ist für Heyne die grundlegende Bedingung für das Vorhandensein von Sklaverei in Gesellschaften Bei primitiven Völkern gibt es Heynes Ansicht nach „nur eine Regierungsart, […] unbedingte Beherrschung und Furcht“ 101 Solange die Gesetzgebung nicht wenigstens zum Teil vom Volk ausgeht, betrachtet jede herrschende und gesetzgebende Instanz den macht- und rechtlosen Teil ihrer Gesellschaft als ihren Besitz, mit dem sie nach Belieben verfahren kann, und konsolidiert rechtliche Ungleichheit Solche Ungleichheit führt in Gesellschaften dazu, dass die Schwächeren wie etwa Kinder, Besitzlose, Verurteilte und Gefangene als Eigentum betrachtet und dementsprechend zwar verpflegt, aber auch nach Belieben zu Arbeit eingesetzt, verkauft und getötet werden Solche Spiralen der Ungleichheit ermöglichen schließlich absolute wirtschaftliche Ausbeutung, die dazu führt, dass sich die machthabenden Schichten auf Kosten der machtlosen immer mehr bereichern, obwohl diese den größten Teil der Wirtschaftsleistung, insbesondere in der Landwirtschaft, erbringen102 und daher „den edelsten Theil der Nation ausmachen sollte[n]“ 103 Auf diese Weise erreichte – so Heyne – beispielsweise das Römische Imperium seine Macht und kulturelle Blüte, indem nämlich immer wieder durch Eroberungskriege nahezu kostenlose Arbeitskräfte ins Reich gelangten, auf deren Kosten die Oberschicht ihren Reichtum und Luxus kumulierte und monumentale Bauwerke errichten ließ, deren Ruinen man heute bewundert 104 Dies klassifiziert Heyne als eine Schande und mahnt an, sich dieses negative Beispiel zu Herzen zu nehmen, „[i]ura […] humanitatis et societatis“105 – heute spräche man von Menschenrechten – zu errichten und endlich damit aufzuhören, Rom, den Verwüster der ganzen Welt, zu glorifizieren Die Pracht und Macht, für die das antike Rom heute verehrt wird, sei nämlich 100 101 102 103

Vgl Heyne: E quibus terris mancipia in Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint S 121 f [Heyne]: 116 St In: GGA 1789 S 1164 Vgl Heyne: E quibus terris mancipia in Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint S 122–126 [Heyne]: 116 St In: GGA 1789 S 1163 Dass Heyne die politischen und rechtlichen Strukturen in den Herkunftsgebieten der Sklaven als eine wesentliche ermöglichende Ursache für die Sklaverei ansieht, geht außerdem aus seiner Rezension zu Thomas Winterbottoms Reisebeschreibung An Account of the native Africans in the neighbourhood of Sierra Leone hervor Winterbottom beschreibt hier, dass die muslimischen Mandinka in ihren Herrschaftsgebieten Schulen einführten und das Gesetz erließen, dass niemand von ihnen versklavt und verkauft werden dürfe, weshalb ihre Gebiete vergleichsweise stark bevölkert und kultiviert sind, vgl [Heyne]: 11 St In: GGA 1805 S 102, im Original Thomas Winterbottom: An Account of the native Africans in the neighbourhood of Sierra Leone, Bd 1 London: 1803 S 7 Heyne Kommentar dazu lautet: „Man sieht also, auf welchem Wege die bessere Menschheit festen Fuß gewinnen könnte“ ([Heyne]: 11 St In: GGA 1805 S 102), Hemmnisse für den Sklavenhandel wären also Bildung und entsprechende Verbote in den Herkunftsländern 104 Vgl Heyne: E quibus terris mancipia in Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint S 129–133 105 Ebd S 131

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nicht zum Wohle aller seiner Bewohner aufgebaut, sondern für wenige mit dem Blut und dem Leben der meisten bezahlt worden 106 Die Menschenmassen, die die Römer dafür brauchten, kauften oder raubten sie aus ihren Provinzen und Kriegsgebieten und verschifften sie nach Rom, um sie dort auf Märkten zu verkaufen Und genau dies und nichts anderes geschieht, so Heyne, zu seiner Zeit in Afrika: Aus „cupiditas lucri“107 verurteilen Könige und Fürsten Angeklagte zur Sklaverei, halten sich Sklaven, rauben Menschen und lauern auf sechshundert verschiedene Arten der Freiheit auf 108 Wer dies weiß und den Sklavenhandel dennoch verteidigt, verwirkt also seine Glaubwürdigkeit109 – auch Meiners, ein prominenter Befürworter der Sklaverei, der Heynes Programmschrift mit Sicherheit zur Kenntnis nahm und nur ein Jahr später in seinem Aufsatz Ueber die Natur der Afrikanischen Neger, und die davon abhangende Befreyung, oder Einschränkung der Schwarzen die Sklaverei als eine natürliche Folge der von ihm angenommenen Minderwertigkeit schwarzer Menschen darstellt, ein rassistisches Zerrbild der afrikanischen Bevölkerung entwirft und dieses auch noch als wissenschaftlich fundiert darstellt,110 musste für Heyne also zu diesem Kreis der Scheinheiligen gehört haben Heyne selbst distanziert sich von solcherlei Legitimationsversuchen für die Versklavung von Afrikanern; er „findet gar nichts, was den Negern, als Negern, besonders eigen wäre“;111 Dummheit, ein angeborener Hang zu Unterwürfigkeit, moralische Minderwertigkeit, Stumpfsinnigkeit, Gefräßigkeit, Triebhaftigkeit, Schamlosigkeit, Mitleidlosigkeit, Boshaftigkeit, und was Meiners sonst noch an Eigenschaften den Afrikanern zuweisen will, kommen für ihn als Gründe für deren Unterdrückung und Ausbeutung folglich nicht in Frage Dies beweist allein schon der Umstand, dass in der Antike ganz andere Völker, unter anderem auch die Vorfahren der neuzeitlichen Sklavenhalter selbst, geraubt, verkauft und geknechtet wurden 112 Vielmehr sind wirtschaftliche und politische Übermacht, Unwissenheit und vor allem wirtschaftliche Interessen die Motoren für den im 18 Jahrhundert blühenden transatlantischen Sklavenhandel Äußert sich Heyne in E quibus terris mancipia in Graecorum et Romanorum fora advecta fuerint auch ausgesprochen wohlwollend über die frühen abolitionistischen Bewegungen seiner Gegenwart, ist er aber doch im Grunde pessimistisch, was die endgültige Abschaffung der Sklaverei angeht In der dazugehörigen Rezension schreibt er: Freylich hat auch die Natur durch die Anlagen des Menschen einen gar unglücklichen Grund zur Sklaverey gelegt, da der Mensch […], so bald er Sklave wird, sofort die Hälfte seiner Würde verliehrt; und die andere Hälfte der Würde der Menschheit gehet durch die

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Vgl ebd S 132 f Ebd S 133 Vgl ebd S 133 Vgl ebd S 133 f Vgl Meiners: Ueber die Natur der Afrikanischen Neger [Heyne]: 116 St In: GGA 1789 S 1163 Vgl ebd

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Dauer der Sklaverey verlohren Daraus bildet sich für die gesitteten Europäer ein neues erworbenes Recht: also müssen Unterdrückte und Sklaven ewig Sklaven bleiben 113

Die Ursache für die zu seiner Zeit vorherrschende stark negative Beurteilung insbesondere der afrikanischen Bevölkerung sah Heyne in den wenigen, einseitigen Reisebeschreibungen Afrikas und seiner Bewohner, die seiner Ansicht nach dazu führten, dass „selbst die respectabelsten Gelehrten den Schwarzen eine niedrige Stufe der Menschheit anwiesen“ 114 Solche Darstellungen seien meist von Kolonisten oder Befürwortern der Kolonisation verfasst worden, um Sklaverei und Unterdrückung zu legitimieren, und nicht von Gelehrten aus wissenschaftlichem Interesse Es liege daher auf der Hand, dass vor allem die Ungleichheit und Minderwertigkeit dunkelhäutiger Menschen propagiert werde 115 Des Weiteren spielten „Hypothesen von Menschen-Racen“116 eine Rolle – der Hinweis kann als Anspielung auf Meiners Rassetheorien und deren Wirkungen gesehen werden Nachdem nun aber immer mehr objektive und umfassendere Darstellungen über andere Völker veröffentlicht werden, hofft Heyne, könne dieser Irrtum revidiert werden Er selbst äußerte sich öffentlich kaum negativ zu Meiners Person,117 seinen Schriften oder Theorien;118 in seinem Nachruf119 findet er sogar viele lobende Worte 120 Heyne 113 114 115 116 117

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Ebd S 1164 [Heyne]: 25 u 26 St In: GGA 1809 S 242 Vgl ebd S 245 Ebd S 242 Etwas klarer ist seine Meinung aus einigen Briefen an Forster herauszulesen, vgl Christian Gottlob Heyne: 305, Von Christian Gottlob Heyne In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 18 S 444: „Hr Meiners hat im neusten Stücke des historischen Journals sein Thema verfolgt und vom Slavischen Stamm gehandelt, mit dem Schluße: diesem nach könne er Russen und Polen für keine vollbürtigen Brüder halten / Des Widerspruchs und des Unsinns soll kein Ende seyn“; 394, Von Christian Gottlob Heyne In: ebd S 553: „Daß Sie sich nicht ärgern, will ich Ihnen voraus sagen, daß Meiners wieder auf eine plumpe Art gegen Sie aufgetreten ist in II Band 1 Stück des Neuen historischen Gottingischen Magazins Abhandlung vom Sklavenhandel und Freylassung der Neger […] Indessen halte ich für das Beßte, man achtet nicht darauf, gedenkt der Schrift nicht, bringt aber in den vorkommenden Fällen / unbefangen dasjenige bey, was zur Erledigung der Streitfrage dienen kan“ In den wenigen Rezensionen, die Heyne zu Meiners Schriften veröffentlichte, beanstandet er höchstens indirekt dessen Thesen Zu nennen ist hier Heynes Rezension zu Meiners letztem Werk Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen, das erst postum veröffentlicht und von Meiners selbst als die Krone seines wissenschaftlichen Wirkens beschrieben wurde, vgl Meiners: Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen, Bd 1 S XXIII, aus heutiger Sicht aber als zutiefst rassistisch, menschenfeindlich und pseudowissenschaftlich bezeichnet werden muss Heyne hält sich mit einer klaren Beurteilung dieses Werks jedoch stark zurück; er merkt lediglich an, dass Meiners’ Forschungsergebnisse „bloß auf Muthmaßungen, höchstens Wahrscheinlichkeiten, gegründet […] waren […]; also selten bestimmte und entscheidende Aussprüche, sondern bloß Gründe für, und Gründe wider darboten“ ([Christian Gottlob Heyne]: 50 St In: GGA 1812 S 490 f ) Meiners’ durch die Annahme von Polygenese begründete Rassentheorie gibt Heyne kurz wieder Diese habe hier „immer im Hinterhalte“ (ebd S 491) gelegen Zwar räumt Heyne ein, dass Meiners’ Ausführungen „einzeln ihr großes Interesse, und auch ihren

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merkt darin allerdings auch an, dass Meiners zuweilen dazu neigte, seine Meinung etwas zu forsch, zum Teil anscheinend regelrecht autoritär und jähzornig zu vertreten121 – Heyne bezieht sich hier ausdrücklich auf Meiners’ Ansichten über die Lebensweise und das Aussehen wilder Völker, die Frage nach der Rasse und der Legitimation der Sklaverei 122 Dieser sei dabei sogar so weit gegangen, dass er teils die Darstellungen anderer uminterpretierte, wenn diese nicht mit seinen Ansichten übereinstimmten, oder Fakten in ihr Gegenteil kehrte, damit sie seine Thesen stützten 123 Zurückgekommen sei Meiners dabei immer wieder auf seine Hauptthese, nämlich dass die Menschheit in verschiedene Rassen geschieden sei und dass sich schwarze Menschen niemals aus ihrer niederen und wertlosen Stellung befreien könnten, weil sie naturgegeben sei Doch obwohl, schreibt Heyne weiter, auch ganz anders über fremde Völker und deren Wert geurteilt werden könne, ließ sich Meiners in dieser Hinsicht zu Lebzeiten niemals von anderen Meinungen überzeugen Doch ist er sich sicher, dass Meiners nun nach seinem Tod zur Wahrheit geführt worden sei, indem er in seinem Leben nach dem Tod in einen Kreis von Menschen aufgenommen worden sei, dem auch Schwarze angehören 124 Bemerkenswert ist, dass diese Beurteilung fast ganz am Ende von Heynes Nachruf auf Meiners steht Beinahe die letzten Worte, die Heyne über Meiners in der Versammlung der Societät der Wissenschaften zu Göttingen verliert, beinhalten also die Hoffnung, dass Meiners vielleicht noch nach seinem Tod von seinen menschenfeindlichen Irrtümern bekehrt würde Was von Meiners bleibt, ist in Heynes Augen also offenbar das Bild eines Menschen, der bei aller Klugheit und Bildung doch in dem, was ihn am meisten bewegte, immer irrte Dennoch versucht Heyne in seinem Nachruf auch Gründe für die Entstehung von Meiners’ rassistischen Hypothesen aufzuzeigen: Einerseits sei Meiners durch seine chaotische Arbeitsweise zu einigen halbwahren oder irrigen Ansichten gelangt In sei-

sichern Werth durch die Belesenheit und die Menge von Citaten haben“ (ebd S 492), eine Zustimmung zu seinen Hauptthesen lässt sich in der Rezension jedoch nirgends finden Vielmehr äußert Heyne, dass die von Meiners aufgezeigten Argumente dessen Annahmen nicht beweisen, sondern dass sie ihnen lediglich nicht widersprechen, sodass seine Rassetheorie als Hypothese weder bewiesen noch unbewiesen bleibe, vgl ebd S 493 119 Christian Gottlob Heyne: Memoria Christophori Meiners In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis recentiores 1 (1811), Appendix I S 1–18 120 Aus Heynes Feder stammt außerdem eine Mitteilung zu Meiners Tod am 1 Mai 1810, die in den GGA erschien Heyne meldet hier lediglich den Tod seines Kollegen und nennt seine Ämter und Funktionen an der Göttinger Universität Auch wenn – so Heyne – Meiners’ „Andenken in den Jahrbüchern der Universität immer auf das rühmlichste erhalten“ ([Christian Gottlob Heyne]: 76 St In: GGA 1810 S 745) bleiben wird, geht er hier mit keiner Silbe auf seinen wissenschaftlichen Nachlass ein – auch das ist ein Hinweis darauf, dass Heyne denselben vielleicht nicht als allzu bedeutungsvoll einschätzte 121 Vgl Heyne: Memoria Christophori Meiners S 10; 17 f 122 Vgl ebd , S 18 123 Vgl ebd S 17 f 124 Vgl ebd

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nen vielen umfangreichen Exzerpten habe er oft die Inhalte verschiedener Schriften, Zeiten und Autoren auf einem Blatt zusammengetragen und vertauschte wohl zuweilen beim späteren Lesen, was Ursache, Wirkung, Grund, Nebensache, Bericht oder Meinung war 125 Andererseits seien die vielen Irrtümer, die Anthropologie, Menschheitsgeschichte und Völkerkunde, diese „multorum malorum scaturigo“,126 ein Springquell vieler Übel, hervorgerufen hätten, nicht in erster Linie Meiners anzulasten, sondern vor allem denen, die falschen Gebrauch von diesen Wissenschaftszweigen machen 127 Insofern sah er Meiners’ Rassetheorie hellsichtig als Produkt einer fatalen Strömung, die in ganz Europa Einzug gehalten hatte, der Kategorisierungswut der Aufklärung, der er zumindest ein Stück weit entgegenzulenken versuchte, indem er sich öffentlich gegen herabsetzende Beschreibungen indigener Völker wandte und positive Beiträge vor Rezensionen durch Meiners in den GGA schützte 128 Kurzum: Heyne war mit seinem Kollegen Christoph Meiners offensichtlich ganz und gar nicht einer Meinung, was dessen Menschenbild angeht Dennoch wollte er die Konkurrenz mit ihm auf dem Gebiet der Kultur- und Menschheitsgeschichte vermeiden und zog sich daher leider aus diesem Forschungsgebiet zurück 129 Doch ist der Aufsatz Vita antiquissimorum hominum als bedeutende Quelle zu Heynes Gedanken über antike Religion glücklicherweise überliefert, auch wenn darin nur einige Hauptpunkte angesprochen werden, die, wie er selbst bekennt,130 noch hätten ausgebaut werden können Auch wenn sich Heyne in manchen seiner Rezensionen zu Werken mit herabsetzenden Bemerkungen über Nichteuropäer in seiner Kritik wie gezeigt stark zurückhält,131 wandte er sich doch an anderen Stellen sehr deutlich gegen diese Schattenseite der Aufklärung Zwar trat Heyne nicht wie seine Freunde Herder und Forster als selbstbewusster und lautstarker Kritiker zeitgenössischer Rassetheorien und abwertender Hierarchisierungen von Menschen auf, jedoch sind ihm seine vorsichtig mahnenden und zurückhaltend kritischen Worte durchaus anzurechnen Immerhin erkannte er das Gefahrenpotenzial der aufklärerischen Menschenklassifizierungen

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Vgl ebd Ebd S 14 Vgl ebd Vgl Christian Gottlob Heyne: 219, Von Christian Gottlob Heyne In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 18 S 352: „Ich will doch lieber das Postgeld daran wenden, damit diese Description de la Nigritie nicht in Hrn Meiners Hände kömmt“; 319, Von Christian Gottlob Heyne In: ebd S 456: „ich lege noch Eines bey, daß unserm Meiners nicht in die Hände kommen muß: L’Afrique par l’Amiral ein Vertheidiger des Sklavenhandels, mit allen den Gründen der der kaufmännischen Philosophie“; 330, Von Christian Gottlob Heyne In: ebd S 472: „Vielen Dank für Ihre Recensionen von Robertson und la Borde Den letztern verlangte Hr Meiners: von dem Sie wieder eine schiefe Recension von Herders Ideen lesen werden“ Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 31 Vgl ebd Vgl etwa die genannte Rezension zu Meiners Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen, [Heyne]: 50 St In: GGA 1812 S 489–494

5 2 Die Klimatheorie – Entwicklung und Zustand eines wissenschaftlichen Dogmas

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und benannte diese unangenehme Seite der neu entstehenden Anthropologie bei allem Nutzen auch als einen Springquell vieler Übel 132 Heynes Mythentheorie basiert im Wesentlichen auf seinem anthropologischen Blick, den er auf den antiken Menschen wirft Sein egalitäres Menschenbild war dafür insofern Voraussetzung, als der Vergleich zwischen ‚Wilden‘, egal welcher Zeit, welcher geographischen Herkunft und welchen Aussehens, erst dadurch möglich wurde, dass er sich jedem vorschnellen Werturteil über fremde Völker entzog, ohne dabei jedoch ihr Anderssein aus dem Blick zu verlieren und in den Unterschieden zwischen den Ethnien einen immensen Vorteil zu erkennen: nämlich die Möglichkeiten neuen Erkenntnisgewinns Nur durch seine Skepsis gegenüber dem neu aufkommenden Rassekonzept ist seine komparatistische Herangehensweise an die antike Gesellschaft und ihre Mythen und Religionen denkbar – andernfalls wären europäische, afrikanische und amerikanische primitive Gesellschaften für ihn wohl nicht miteinander vergleichbar gewesen Sein Respekt gegenüber allen gewesenen und lebenden Menschen macht ihn daher zum Humanisten im doppelten Sinne – im weltanschaulichen wie wissenschaftlichen 5.2 Die Klimatheorie – Entwicklung und Zustand eines wissenschaftlichen Dogmas des 18. Jahrhunderts 5 2 1 Die Entwicklung der Klimatheorie von Hippokrates bis Herder Dass während des 18 Jahrhunderts im Zuge der Frage nach menschlichen Typologien auch das Anlage-Umwelt-Problem eine große Rolle spielte, wurde bereits angesprochen Doch suchte man nicht nur nach Erklärungen dafür, wie Menschen ihre spezifischen physischen und psychischen Charakteristika ausprägen; auch wie kulturelle Entwicklung und historische Verläufe angestoßen und vorangetrieben werden, beschäftigte die Gelehrten der Aufklärung Man forschte dabei nach äußeren Einflussgrößen und fand im Klima einen determinierenden Faktor nicht nur für biologisch-physische Differenzen, sondern auch für unterschiedlich ausgeformte Kulturen und Mentalitäten Im Folgenden soll dieses Erklärungsmodell, die Klimatheorie, in seiner Entwicklung, hauptsächlich aber in seiner Ausformung während der Aufklärung umrissen werden Dabei wird besonderes Augenmerk auf klimatheoretische Aspekte in den Werken Montesquieus, Winckelmanns und Herders gerichtet, da sich Heyne mit deren Schriften besonders intensiv auseinandersetzte Im Anschluss wird beschrieben, wie er diese Ansätze bewertete und die Klimatheorie in seine Mythentheorie integrierte

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Vgl Heyne: Memoria Christophori Meiners S 14

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5 Heynes Menschenbild

Die Klimatheorie besagt nichts weiter, als dass sich das Klima als relativ konstanter Faktor langfristig auf physische und psychische Merkmale des Menschen auswirkt Dementsprechend seien körperliche Unterschiede, unterschiedliche Mentalitäten, verschiedene politische, religiöse, sittliche Institutionen, unterschiedliche kulturelle Entwicklungsverläufe und somit auch geschichtliche Ereignisse durch die jeweiligen klimatischen Bedingungen in den Siedlungsgebieten der verschiedenen Völker determiniert Dieses Argumentationsmuster ist zuerst in der um 430 v Chr entstandenen pseudo-hippokratischen133 Schrift Περὶ ἀέρων, ὑδάτων, τόπων134 nachweisbar und zu diesem Zeitpunkt Produkt des Bedürfnisses, Erkenntnisse über die natürlichen Gegebenheiten der damals bekannten Welt zu gewinnen, um sie auf die sich heranbildende wissenschaftliche Medizin anzuwenden Für den Verfasser ist der Ausgangspunkt die These, dass sich die Umwelt des Menschen, insbesondere die Beschaffenheit der Atmosphäre, der Bodenverhältnisse sowie des Trinkwassers auf dessen physische und geistige Konstitution so stark auswirkt, dass er schließlich regelrecht als ein Produkt seiner Umwelt gelten kann Psychische und physische Unterschiede werden hier vor allem zwischen den Bewohnern Asiens und Europas herausgestellt und durch das jeweilige Klima begründet: Die in Europa herrschenden starken Schwankungen zwischen Hitze im Sommer und Kälte im Winter hätten zu mehr Intelligenz, Mut und Freiheitswillen geführt,135 während die über das Jahr hinweg eher gleichbleibenden klimatischen Bedingungen Asiens die dort lebenden Menschen träge, ängstlich und devot gemacht hätten,136 wobei unter gewissen Voraussetzungen auch gesellschaftliche und politische Strukturen verstärkend oder hemmend auf diese Tendenzen einwirken könnten 137 Heyne kannte dieses erste klimatheoretische Werk nachweislich, rezensierte er doch im Jahr 1788 eine in seinen Augen schlecht gelungene, weil zu wörtliche Überset-

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Ob der Verfasser der Schrift Hippokrates war oder nicht, lässt sich heute nicht mehr entscheiden Zur Verfasserfrage vgl Max Pohlenz: Hippokrates und die Begründung der wissenschaftlichen Medizin Berlin: 1938 S 63–80 Der lateinische Titel lautet De aeribus aquis locis. Die Schrift ist Bestandteil des Corpus Hippocraticum, das circa 60 antike medizinische Texte von mehreren größtenteils unbekannten Autoren umfasst und etwa zwischen 430 v Chr und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, hauptsächlich aber im fünften und vierten Jahrhundert v Chr entstanden sind Vgl zum Corpus Hippocraticum sowie insbesondere zu De aeribus aquis locis ausführlich ebd ; Fritz Jürß u a : Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, Hg v Joachim Herrmann Berlin: 1982 (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd 13) S 312–319 Vgl Hippokr aër 23 Vgl ebd 16 Dazu weiterführend vgl Wilhelm Backhaus: Der Hellenen-Barbaren-Gegensatz und die Hippokratische Schrift Περὶ ἀέρων ὑδάτων τόπων In: Historia 25 (1976) S 170–185; Charlotte Triebel-Schubert: Anthropologie und Norm, Der Skythenabschnitt in der hippokratischen Schrift „Über die Umwelt“ In: Medizinhistorisches Journal 25 (1990) S 90–103 So wirke eine einmal an die Macht gekommene despotische Regierung weiter schwächend, während politische Selbstbestimmtheit die Menschen tapferer mache, vgl Hippokr aër 23

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zung des Werks ins Französische138 und 1801 eine griechische Textausgabe, die von ihm durchaus Anerkennung findet 139 Aus der späteren Rezension geht hervor, dass Heyne mit der Περὶ ἀέρων, ὑδάτων, τόπων bestens vertraut war Er konstatiert, dass [d]ieses herrliche Werk des alten Griechen [= Hippokrates] […] immer als ein Grundwerk dieses Theils der Physiologie und als ein Muster von Beobachtungen dieser Art betrachtet werden [wird]140

und hebt auch ausdrücklich das Vorwort des Herausgebers hervor, in dem dieser den ganzen Gang der Beobachtungen des Hippocrates über den Einfluß des Clima auf den Menschen [verfolgt], welche ihn auf den Satz führten: der Mensch hat ein gewisses Temperament und einen gewissen sittlichen Charakter, zufolge der physischen Ursachen, die auf ihn wirken 141

Folglich kannte Heyne die Grundlagen und Ursprünge der Klimatheorie gut, konstatiert aber auch, dass diese bis in seine Gegenwart weiterentwickelt worden sind 142 Ausgebaut und modifiziert wurde die Klimatheorie noch in der Antike von Aristoteles143 und Poseidonius,144 die zuerst aus klimatischen Bedingungen offen hegemoniale Ansprüche ableiteten Auf Aristoteles geht die Einteilung der Erde in die drei Hauptklimazonen warm, kalt und gemäßigt zurück In seiner Politik145 unterscheidet er dementsprechend zwischen den Bewohnern des kalten Nordens, die freiheitsliebend, mutig und stolz, zugleich aber zu wild und zu unbesonnen seien, um stabile politische Systeme schaffen zu können, und den Völkern des heißen Südens, die zwar intelligent und nüchtern seien, aber zu träge und ängstlich, um sich gegen Despotien aufzulehnen In der goldenen Mitte zwischen dem chaotisch-anarchistischen nordischen Bar138 139

Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 138 St In: GGA 1788 S 1382 f Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 92 St In: GGA 1801 S 917–920 Zudem erwähnt Heyne dieses Hippokrates zugeschriebene Werk in seiner Rezension zu Leonhard Ludwig Finkes Versuch einer allgemeinen medicinisch practischen Geographie, „zu welchem das Hippocratische Buch von der Luft, den Wassern und den Gegenden Anleitung gegeben hat “ ([Christian Gottlob Heyne]: 69 St In: GGA 1793 S 693) 140 Heyne: 92 St In: GGA 1801 S 917 141 Ebd 142 Vgl ebd S 918 143 Zur Begründung der naturgegebenen Ungleichheit unter den Menschen bei Aristoteles weiterführend vgl Reimar Müller: Hellenen und „Barbaren“ in der griechischen Philosophie In: Menschenbild und Humanismus in der Antike Leipzig: 1980 S 118 f 144 Vgl Katharina Schmidt: Kosmologische Aspekte im Geschichtswerk des Poseidonius Göttingen: 1980 (= Hypomnemata, Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben, Bd 63) insbes S 13–25 u 58–79; Reimar Müller: Das Barbarenbild des Poseidonius und seine Stellung in der philosophischen Tradition In: Emerita 61/1 (1993) S 41–52 145 Dass Heyne Aristoteles’ Politik als Professor für Klassische Philologie gekannt haben muss, versteht sich von selbst Der Vollständigkeit halber seien hier dennoch zwei Rezensionen von Ausgaben dieser Schrift aus Heynes Feder genannt: vgl [Christian Gottlob Heyne]: 206 St In: GGA 1803 S 2061–2063; 205 St In: GGA 1809 S 2041–2045

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barentum auf der einen und der devot-sklavischen Trägheit des Südens auf der anderen Seite sieht Aristoteles die Griechen, die durch ihr gemäßigtes Klima die besten Eigenschaften beider Extreme, nämlich Mut und Intelligenz, aufwiesen und daher in Freiheit lebten sowie die beste staatliche Organisationsform pflegten 146 Aristoteles begründete so nicht nur die politische Vorherrschaft der Griechen in seiner Zeit, sondern schuf auch die Basis für alle, die später Hegemonie und Hegemonialansprüche als naturgegeben legitimieren wollten Sein Modell wurde in der Folge sehr populär und entwickelte sich zu einem gängigen Denkmuster, was aus sozialpsychologischer Sicht sehr gut nachvollziehbar ist, erfuhr doch die Aufwertung der eigenen Gruppe wie die Abwertung der anderen eine scheinbar wissenschaftliche Begründung So verwundert es nicht, dass sein Axiom der drei Klimata im antiken Rom wohlwollend aufgenommen wurde, wobei die gemäßigte Klimazone natürlich auf Italien ausgeweitet wurde, um die eigene Überlegenheit gegenüber der tumben Bevölkerung nördlich der Alpen aufzuzeigen Mit der Verschiebung der Machtzentren nach Norden verlagerte sich auch die gemäßigte Klimazone in diese Richtung, und zwar zunächst nach Frankreich, wo die Klimatheorie vor allem im 18 Jahrhundert wesentliche Impulse erfuhr 147 In einer kulturwissenschaftlichen Stoßrichtung untersuchten hier etwa Jean-Baptiste Dubos,148 François Ignace d’Espiard149 und Jean-Louis Castilhon,150 welchen Einfluss das Klima auf verschiedene Völker nimmt und wie es Fortschritte in Kunst, Literatur und Gesellschaft determiniert, wobei nach wie vor das gemäßigte Klima als besonders günstig hervorgehoben wurde Bei Dubos wird das Klima hier erstmals zu einer auf lange Sicht inkonstanten Größe und damit auch zu einem bestimmenden Faktor für historische Entwicklungen: So führt er beispielsweise die großen politischen Umbrüche in Italien auf ein unterschiedliches Verhalten zwischen den antiken Römern und den modernen Italienern zurück, welches auf einem veränderten Volkscharakter basiere, der wiederum durch einen Klimawandel ausgelöst worden sei 151 Aus einem naturwissenschaftlichen Interesse erarbeitete Georges-Louis Leclerc de Buffon im Zuge seiner breit angelegten Histoire naturelle, générale et particulière im dritten Band eine Typologie des Menschen, die sich an dem damals neuen Konzept der Rasse orientiert Darin lässt er neben physischen Merkmalen wie Haut- und Haar-

146 Vgl Arist Pol VII, 7 147 Für einen Überblick über die Entwicklung der Klimatheorie vgl Roger Mercier: La théorie des climats des „Réflexions critiques“ à „L’Esprit des Lois“ In: Revue d’Histoire littéraire de la France 53 (1953) S 17–37, 159–174; Jean Ehrard: L’idée de Nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle Paris: 1963 S 691–717; Gisi: Einbildungskraft und Mythologie S 83–114 148 Vgl Jean-Baptiste Dubos: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture Paris: 1719 149 Vgl François Ignace d’Espiard: L’Esprit des Nations, 2 Bde Den Haag: 1752 150 Vgl Jean-Louis Castilhon: Considérations sur les causes physiques et morales de la diversité du génie, des mœurs et du gouvernement des nations Paris: 1769 151 Vgl Dubos: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture S 287–295

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farbe, Wuchs und Physiognomie auch kulturelle Merkmale wie Brauchtum, Religion, Ernährungs- und Lebensweise als distinktive Merkmale einfließen, wobei er auf eine Determination durch das Klima spekuliert Von der spezifischen Zusammensetzung verschiedener klimatischer Faktoren sei vor allem die Hautfarbe des Menschen abhängig, aber auch das Vorkommen bestimmter Pflanzen und Tiere und, darüber vermittelt, die menschliche Ernährung Nahrung und Klima wiederum wirken sich auf das Temperament, die Statur und Körpergröße des Menschen aus und bestimmen somit die Ausprägung der verschiedenen Rassen mitsamt ihren Eigenschaften 152 Montesquieu interpretiert die Klimatheorie in seinem Werk De l’Esprit des lois153 im Rahmen seiner Staatstheorie aus einer empirisch-naturwissenschaftlichen Perspektive Für ihn ist die Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Systeme mit ihren unterschiedlichen Wertvorstellungen, Normen, Sitten und Staatsformen ein Reflex auf die verschiedenen natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebensumfeldes Auf Grundlage unterschiedlichster Daten154 versucht er daher hier nach einer Inspektion der Vielfalt menschlicher Gesellschaften die Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens aufzudecken, die sich eben nicht in spezifischen universellen Gesetzen und Normen zeigen, sondern vielmehr in ihrer Angemessenheit bezüglich der physischen und psychischen Beschaffenheit einer Gesellschaft Die Vielfalt der Natur bedinge daher die Vielfalt der Rechtssysteme Neben anderen Faktoren wie etwa Geologie des Landes ist dabei vor allem das Klima ausschlaggebend, das zum Teil unmittelbar, zum Teil aber auch indirekt über die daraus resultierende Lebensweise für die Mentalität eines Volkes und damit auch für seine Disposition zu einem bestimmten politischen System verantwortlich gemacht wird Für Montesquieu steht daher fest: „L’Empire du climat est le premier de tous les empires “155 Dabei löst sich aber auch er nicht von einer eurozentri-

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Vgl Georges-Louis Leclerc de Buffon: Suppléments à l’Histoire naturelle, générale et particulière, Bd 4, Servant de suite à l’Histoire naturelle de l’homme Paris: 1777 S 555 Allgemein zu Montesquieus Schrift vgl Reimar Müller: Montesquieu über Umwelt und Gesellschaft, Die Klimatheorie und ihre Folgen In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 80 (2005) S 22 In einigen früher entstandenen Schriften Montesquieus, etwa in den 1748 veröffentlichten Lettres Persanes, und seines Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence von 1734 – das Heyne übrigens nachweislich kannte, wie seine Rezension einer Übersetzung dieses Werkes beweist, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 157 St In: GGA 1786 S 1584) – sowie anderen, zum Teil erst postum erschienenen Studien, spielt die Klimatheorie jedoch auch bereits eine Rolle, vgl Müller: Montesquieu über Umwelt und Gesellschaft S 24 Die Daten und Erfahrungen, auf die sich Montesquieu bei der Ausarbeitung von De l’Esprit des lois stützte, sammelte er unter anderem auf seinen Reisen durch Europa seit 1728 sowie durch die Lektüre von Reiseberichten Eingehend zur Entstehung des Werkes vgl Robert Shackleton: The Evolution of Montesquieu’s Theory of Climate In: Revue internationale de Philosophie 33/34 (1955) S 317–329; Werner Krauss: Die Entstehungsgeschichte von Montesquieus „Esprit des lois“ In: Winfried Schröder (Hg ): Werner Krauss, Das wissenschaftliche Werk, Bd 5, Aufklärung I Berlin/Weimar: 1991 S 291–328 Charles-Louis de Sacondat Baron de la Brède et de Montesquieu: De l’Esprit des lois In: Roger Caillois (Hg ): Montesquieu, Œuvres complètes, Bd 2 Paris: 1951 S 565, XIX, 15

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schen Perspektive: Dass Europa mit seinen überwiegend monarchischen Regierungen sowohl politisch als auch kulturell allen anderen Erdteilen weit voraus sei, stand für ihn außer Frage,156 während die Bevölkerung Asiens und aller anderen südlichen Gebiete als klimatisch klar benachteiligt dargestellt wird – ein Schluss, der bei Montesquieu nur zu einer Legitimation und Begründung von Sklaverei und Unterdrückung in diesen Gebieten führen kann 157 Der Widerspruch, der daraus entsteht, – der Gegensatz zwischen dem aufklärerischen Gedanken der Gleichheit aller Menschen sowie der sich daraus ergebenden Ablehnung der Sklaverei einerseits und andererseits der theoretisch begründeten Zwangsläufigkeit, die Sklaverei als geographisch und klimatisch bedingt ansehen zu müssen – bleibt jedoch bei Montesquieu unaufgelöst 158 Frühe Auseinandersetzungen mit der Klimatheorie erfolgten im deutschsprachigen Raum159 etwa durch Christoph Besold,160 Christoph August Heumann161 und Johann 156

Seine biophysikalische Erklärung dafür lautet wie folgt: Eine kalte Umgebung bewirkt, dass sich die Fasern des menschlichen Körpers stärker zusammenziehen und durch diese Straffung einen schnelleren Blutfluss, eine erhöhte Herztätigkeit und eine geringere Empfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen bedingen Infolgedessen empfänden die Bewohner der nördlichen Breiten Europas mehr Mut und Drang zu freiheitlichen politischen Systemen und weniger Leidenschaft In den wärmeren Gebieten Asiens hingegen erschlaffen die Körperfasern und rufen damit geringere Spannkraft, Herzschwäche und durch die offen liegenden Nervenzellen eine stärkere Empfindlichkeit für Reize hervor, wodurch die dort lebenden Menschen zügellos und ängstlich seien und sich bereitwillig unterwerfen ließen, vgl ebd S 474 f , XIV, 2 Stärker als bei seinen Vorgängern werden zivilisatorischen Aspekten wie Regierungsform, Bevölkerungszahl, Traditionen, Religion und Wirtschaft bei Montesquieu korrigierende oder mäßigende Funktionen zugewiesen Dementsprechend sind Völker auf einer niedrigeren kulturellen Entwicklungsstufe bei Montesquieu in ihren physischen und psychischen Eigenschaften stärker durch das Klima determiniert, vgl ebd S 479, XIV, 4 157 Vgl Ebd S 495 f , XV, 6 f 158 Vgl zu diesem Dilemma sowie allgemein zu Montesquieus Klimatheorie ausführlich Claus-Peter Clostermeyer: Zwei Gesichter der Aufklärung, Spannungslagen in Montesquieus ‚Esprit des lois‘ Berlin: 1983 S 139–147; Kohl: Entzauberter Blick S 117–120 159 Zum Verhältnis zwischen französischen und deutschen Klimatheoretikern vgl Gonthier-Louis Fink: De Bouhours à Herder, La théorie française des climats et sa réception outre-Rhin In: Recherches Germaniques 15 (1985) S 3–62; Von Winckelmann bis Herder, Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive In: Gerhard Sauder (Hg ): Johann Gottfried Herder 1744–1803 Hamburg: 1987 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd 9) S 156–176 Fink betont stark eine „narzisstisch-nationalistische Ausrichtung“ (ebd S 156), die in den französischen Klimatheorien immer wieder zum Ausdruck komme und dazu geführt habe, dass sich deutsche Gelehrte erst später, etwa ab Mitte des 18 Jahrhunderts und tendenziell kritisch mit klimatischer Determination auseinandergesetzt hätten Zacharasiewicz hält dem allerdings entgegen, dass die Klimatheorie auch deutschen Gelehrten in Barock und Frühaufklärung „aus frühen psychologischen Handbüchern und aus Staatslehren bestens vertraut war“ (Waldemar Zacharasiewicz: Klimatheorie und Nationalcharakter auf der „Völkertafel“ In: Stanzel (Hg ): Europäischer Völkerspiegel S 120) und dass „das Ansehen der Klimatheorie […] auch in Deutschland ungebrochen“ (ebd S 121) war Zum gleichen Schluss gelangt Gisi, vgl Gisi: Einbildungskraft und Mythologie S 84 160 Vgl Christoph Besold: De natura populorum ejusque pro loci positu, ac temporis decursu variatione, et simul etiam de linguarum ortu atque immutatione philologico discursu Tübingen: 21632 Ausführlicher zu Besolds Werk und darin enthaltenen klimatheoretischen Aspekten vgl Zacharasiewicz: Klimatheorie und Nationalcharakter auf der „Völkertafel“ S 125 f

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Georg Walch 162 Erst nach dieser Bearbeitung durch relativ unbekannte Autoren folgte etwa ab Mitte des 18 Jahrhunderts eine breitere Debatte um die Klimatheorie, in die sich auch bekanntere Autoren einschalteten So setzten sich nun zum Beispiel Winckelmann, Lessing,163 Wieland,164 Herder, Georg Forster und Kant165 mit den klimatheoretischen Überlegungen von Dubos, d’Espiard, Montesquieu, Buffon und Castilhon auseinander Winckelmann sieht in seiner Geschichte der Kunst des Altertums die Entwicklung der Künste durch das Klima beeinflusst, weist dem Klima jedoch eine weitaus weniger umfassende Macht zu, als Dubos dies tat So räumt er ein, dass das Klima sowie auch die geographische Lage eines Landes die Hautfarbe, den Wuchs und die Gesichtszüge sowie einige andere physische Merkmale166 der dort lebenden Menschen

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Vgl Christoph August Heumann: Acta Philosophorum, das ist: Gründl Nachrichten aus der Historia Philosophica, Vierdtes Stück Halle: 1716 S 633–664 Heyne kannte den Göttinger Professor Heumann übrigens persönlich, wenn auch nur kurz – er verstarb ein Jahr nach Heynes Ankunft in Göttingen, was Heyne mit einem Nachruf auf Heumann bedachte, vgl Christian Gottlob Heyne: Memoria Christophori Augusti Heumanni In: Samuel Mursinna (Hg ): Biographia selecta sive memoriae aliquot virorum doctissimorum cum commentationibus quibusdam aliis ad historiam litterariam spectantibus Halle: 1782 S 131–168 162 Unter dem Eintrag Naturell der Völcker referiert Walch in seinem Philosophischen Wörterbuch von 1726 zunächst einige gängige Stereotype, vgl Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon Leipzig: 1726 Sp 1869, und teilt gemäß der gängigen Gliederung in die drei Hauptklimazonen heiß, kalt und gemäßigt die Völker in drei Klassen ein, vgl ebd Als Ursache für die Unterschiede unter den Völkern betrachtet er „die Lufft, von der die Beschaffenheit und Bewegung des Geblüts; von dieser aber die Disposition der Seelen in ihren Würckungen dependire“ (ebd Sp 1873) 163 Lessings Haltung zur Klimatheorie erscheint stark gespalten Einerseits wies er mehrfach auf charakterliche Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen hin und machte die Klimatheorie einem breiteren deutschen Publikum zugänglich, indem er 1752 mit Johann Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften eine Übersetzung des Examen de Ingenios (1575) des spanischen Arztes Juan Huarte veröffentlichte, der hierin eine Typologie der Bevölkerung Europas und Ägyptens darlegt und diese als klimatisch determiniert ansieht Andererseits fühlte sich Lessing der Universalität der Aufklärung verpflichtet und war von der Gleichheit aller Menschen überzeugt Er kritisierte d’Espiards Klimatheorie und verwarf mehrfach die These, dass die Völker mit Intelligenz und Fähigkeit zu Kunst und Kultur in unterschiedlicher Weise begabt seien, vgl Fink: Von Winckelmann bis Herder S 168; Nationalcharakter und nationale Vorurteile bei Lessing In: Wilfried Barner / Albert Reh (Hg ): Nation und Gelehrtenrepublik, Lessing im europäischen Zusammenhang, Beiträge zur Internationalen Tagung der Lessing Society in der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v d H 11 bis 13 Juli 1983 Detroit/München: 1984 S 90–119 164 Wieland verarbeitet die Klimatheorie in seinem Roman Geschichte des Agathon, in dem er den menschenverachtenden Sophisten Hippias als Verteidiger der Klimatheorie auftreten lässt, vgl Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon In: Fritz Martini / Hans Werner Seiffert (Hg ): Christoph Martin Wieland, Werke, Bd 1 München: 1964 S 457 f 165 Bei Kant erscheinen klimatheoretische Überlegungen hauptsächlich im Rahmen seiner Überlegungen zu menschlichen Rassen, vgl Kap 5 1 S 119 f Er übernimmt in seinen Vorlesungen Über die physische Geographie in weiten Teilen die Theorie Buffons 166 So war er der Meinung, dass die Nerven des menschlichen Sprechapparats in kalten Gebieten starrer und träger sein müssen als in wärmeren, sodass die nördlichen Sprachen insgesamt weniger Phoneme und vergleichsweise weniger Vokale, dafür aber sehr viele Konsonanten und Konsonan-

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präge,167 weist aber den Lebensgewohnheiten, der Religion und anderen zivilisatorischen Aspekten eine viel größere Bedeutung zu Er war der Ansicht, dass ein relativ gleichmäßiges Klima ohne größere Witterungsunterschiede besonders schöne Menschen mit markanten Gesichtszügen heranbilde und führt Griechenland und Neapel als Beispiele für solch ein günstiges Klima an 168 Den Einfluss des Klimas auf die menschliche Psyche und darüber vermittelt auf die Bildung, Erziehung, Kunst und Politik stellt Winckelmann in seiner Kunstgeschichte allerdings als vergleichsweise gering dar Zwar sei wärmeres Klima für eine erhöhte Nerventätigkeit und damit für mehr Intelligenz und Phantasie verantwortlich zu machen,169 ausschlaggebend für eine gelungene Entfaltung von Kunst seien aber letztendlich die gesellschaftlichen Verhältnisse: Nur in freiheitlichen, demokratisch gelenkten Gesellschaften könne Kunst zur vollen Blüte gelangen – unter restriktiven, despotischen Regierungen müsse sie zwangsläufig verkümmern, auch wenn die klimatischen Bedingungen auch noch so günstig sind 170 So setzt sich Winckelmann kritisch mit Dubos’ postulierter Allgemeingültigkeit klimatisch bedingter Determination in Bezug auf die Entwicklung von Kunst und Kultur auseinander, obwohl er ihn trotz einer intensiven Auseinandersetzung mit den Réflexions critiques171 an keiner Stelle zitiert Er gesteht zu, dass die Mentalität der Griechen durch das dort vorherrschende Klima teilweise begründet werden kann und dass „[d]er Einfluß des Himmels […] den Samen beleben [muss], aus welchem die Kunst soll getrieben werden“,172 die Blüte der antik-griechischen Kunst habe daneben aber noch andere bedeutsame Ursachen, nämlich zum einen die Entstehung der Freiheit, welche, „[i]n Absicht der Verfassung und Regierung von Griechenland […] die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst [ist] “173 Resultierend aus dem Selbstverständnis der Griechen, die sich als freie Menschen tenverbindungen aufweisen, vgl Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, Hg v Wilhelm Senff Weimar: 1964 S 33 167 Vgl ebd S 33–36 168 Vgl ebd S 34–36 169 Vgl ebd S 37 f 170 Vgl ebd S 38 f Winckelmann führt hier das Beispiel Ioniens an Zwar sei dieses Gebiet aus klimatischen Gesichtspunkten weitaus mehr als die attische Demokratie für den Höhepunkt der antiken Kunstentfaltung gewesen, die Vorherrschaft der Perser mit ihrer Monarchie habe dies aber verhindert, sodass Athen schließlich den Gipfel antiker Kunst und Wissenschaft erreichte Winckelmanns stark normativer Begriff von Kunst und Ästhetik wird im Übrigen nicht zuletzt hier deutlich 171 Winckelmann exzerpierte Dubos’ Schrift ausführlich, vgl Gottfried Baumecker: Winckelmann in seinen Dresdner Schriften, Die Entstehung von Winckelmanns Kunstanschauung und ihr Verhältnis zur vorhergehenden Kunsttheoretik mit Benutzung der Pariser Manuskripte Winckelmanns Berlin: 1933 S 32 172 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums S 115 173 Ebd S 116 Winckelmann versteht unter Freiheit eine gewisse persönliche Ungebundenheit des Individuums, die persönliche Rechte und Handlungsspielräume mit sich bringt Freiheit ist in diesem Sinne für ihn nicht an Demokratie gebunden, sondern „hat in Griechenland alle Zeit den Sitz gehabt, auch neben dem Throne der Könige, welche väterlich regierten“ (ebd )

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begriffen, erblühten Philosophie, Rhetorik und Dichtung, die wiederum auch die bildenden Künste anschoben 174 Anders als vor ihm Dubos vertrat Winckelmann somit in Bezug auf die Entwicklung der Kunst eine gemäßigte klimatheoretische Position und machte komplexe Kausalzusammenhänge dafür verantwortlich, dass sich die antike griechische Kunst zum Ideal aufschwingen konnte Den späteren Niedergang der griechischen Kunst kann Winckelmann somit plausibler als Dubos erklären, zum Teil in Anlehnung an Montesquieu mit veränderten politischen Verhältnissen, zum Teil mit verändertem Klima Indem Winckelmann die Entfaltung der antik-griechischen Kunst als komplex bedingtes Phänomen anerkennt, weist er bereits auf Herders Kulturtheorie voraus, bleibt aber letzten Endes inkonsequent, da er den einmalig-historischen Charakter dieser kulturellen Blüte negiert, wenn er sie emphatisch zum nachzuahmenden Ideal erhebt und sie zur zwangsläufigen Folge spezifischer kultureller Entwicklung, bedingt durch äußere Umstände, macht Am intensivsten und längsten mit der Klimatheorie auseinandergesetzt hat sich wohl Herder, der in immer wieder neuen Ansätzen versuchte, die Klimatheorie mit ihren distinktiven und wertenden Aspekten mit seinem humanistischen Kosmopolitismus in Einklang zu bringen Während seines Studiums in Königsberg besuchte er Kants Vorlesungen über die Physische Geographie, wenig später las er Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums,175 sodass er klimatheoretischen Positionen schon frühzeitig begegnete Nachdem er sich in mehreren früheren Schriften unter verschiedenen Aspekten mit der Klimatheorie auseinandergesetzt hatte,176 folgt seit den 1770er 174 175 176

Vgl ebd S 117 f Vgl Fink: Von Winckelmann bis Herder S 170; 172 Zunächst übernahm er in seinem Aufsatz Ueber den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen von 1764 die Klimatheorie und verband sie mit eigenen Gedanken, indem er das Klima für die Eigenheiten und den Charakter verschiedener Sprachen verantwortlich machte, vgl Johann Gottfried Herder: Ueber den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 1 S 1 f 1766 interessierte ihn in der Schrift Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele? der Zusammenhang von Klima und körperlicher Schönheit Dabei geht er noch mit direktem Bezug auf Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums davon aus, dass in sehr heißen und sehr kalten Gegenden, die bekanntlich hässliche Menschen hervorbrächten, auch charakterliche Schwächen vermehrt aufträten, vgl Johann Gottfried Herder: Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele? In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 1 S 46; 49 Nur ein Jahr später kritisiert er jedoch plötzlich Winckelmann dafür, dass dieser ein gleichmäßiges Klima für die Schönheit der Griechen verantwortlich mache; vielmehr kann er das Klima nun „eigentlich nicht für die Bilderin der Schönheit ansehen“ ( Johann Gottfried Herder: Stücke aus einem älteren „Critischen Wäldchen“, 1767 (Aus der Handschrift) In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 4 S 204), da es schöne und hässliche Menschen in allen Teilen Welt gebe, sodass Schönheit offensichtlich vererbt sein müsse, vgl ebd S 203–206; 210 Die Richtigkeit der Klimatheorie bleibt in ihren Grundsätzen jedoch unangetastet, vgl ebd S 204 In den Fragmenten ueber die neuere Deutsche Literatur von 1767/68 und im Journal meiner Reise von 1769 erscheint Klima dann bei Herder vermehrt als konstituierendes Element für kulturelle Entwicklung, insbesondere Sprache, Religion und Literatur, wobei er die gängigen Stereotype reproduziert, vgl Johann Gottfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Zwote Sammlung von Fragmenten In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 1 S 263–265; 294; Ueber die neuere deutsche

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Jahren eine intensivere und eigenständigere Auseinandersetzung mit der Klimatheorie In Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 rekonstruiert der die Entwicklung der Menschheit von ihrem Anbeginn an und stellt einen engen Zusammenhang zwischen Geschichte und Klima her Dabei geht er zum einen davon aus, dass sich die Menschheit insgesamt sowie die einzelnen Völker ähnlich wie Individuen phasenweise durch die verschiedenen Lebensalter weiterentwickeln,177 zum anderen dass Tugenden und Laster überall gleich und gerecht verteilt sind,178 sodass sich jedes Volk potenziell voll entwickeln könne,179 wobei eine solche Blüte einer Kultur immer einmalig sein müsse, da „jede Menschliche Vollkommenheit National, Säkular, und am genauesten betrachtet, Individuell“180 ist 181 Ob es nun zu solchen Höhepunkten kommen könne, hängt bei Herder von verschiedenen Faktoren ab, nämlich von „Zeit, Klima, Bedürfniß, Welt [und] Schicksal“ 182 Folglich komme es über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg immer wieder zu abwechselndem Auf- und Untergehen solcher Blütephasen, wie sie, stets verbunden mit Macht und Vorherrschaft, etwa den Ägyptern, Griechen und Römern widerfuhren So schwangen sich nach dem Untergang des Römischen Reichs wegen seiner zu großen Ausdehnung die nordischen Völker zu einer solchen privilegierten Position auf 183 Da im kälteren Norden morgenländisch-idyllisches Hirtenleben unmöglich war, folglich „schwerere Bedürfniße hier den Menschlichen Geist mehr druckten, als wo die Natur fast allein für den Menschen würkte“184 und „die Nordluft die Menschen mehr […] härtete, als sie im warmen Treibhause Osts und Süds gehärtet werden konnten“,185 waren die Menschen des Nordens ihrem Naturell nach roher, wilder und lebten in kleineren, dafür aber engeren Gemeinschaften Ausgestattet mit diesen klimatisch bedingten Ei-

Litteratur, Fragmente, Erste Sammlung, Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe; Ueber die neuere deutsche Litteratur, Fragmente, Zweite Sammlung, Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 2 S 31; 45; 71; 117; Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769 S 343–461, insbes S 351–353 Der Gegensatz zwischen dem Norden, wo die Menschen rauh, stark und barbarischen sind, und dem Süden mit seinen feinsinnigen, aber schwachen Bewohnern tritt hier deutlich hervor, vgl ebd S 351 f 177 Die Analogie zwischen der Entwicklung der Völker und dem Erwachsenwerden eines Menschen wird von Herder hier eingangs sehr breit ausgeführt Er verortet dabei den Orient in der Kindheit, die Ägypter im Knabenalter, die Griechen in der Jugend und die Römer im Erwachsenenalter, vgl Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 5 S 483–501 178 Vgl ebd S 511 179 Vgl ebd S 508 f 180 Ebd S 505 181 Vgl ebd S 504–509 182 Ebd S 505 Vgl außerdem ebd S 506 183 Vgl ebd S 513 f 184 Ebd S 514 185 Ebd

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genschaften drangen diese Menschen186 nach dem Zusammenbruch des Römischen Imperiums während der Völkerwanderung in Scharen nach Süden vor Die zuvor bevorzugten südlichen Gebiete mitsamt ihren Bewohnern verloren ihren privilegierten Status als herrschendes Volk, da hier alles erschöpft, entnervt, zerrüttet: von Menschen verlaßen, von entnervten Menschen bewohnt, in Üppigkeit, Lastern, Unordnungen, Freiheit und wildem Kriegesstolz untersinkend187

war Hatte bei Herder also in der Frühzeit der Menschen der Orient noch alle Vorzüge eines idealen Klimas, änderte sich dies rasch unter anderen Bedingungen In der zyklisch verlaufenden Geschichte erlangten durch ständiges Abwechseln von Aufstieg und Niedergang verschiedener Kulturen in unterschiedlichen Gegenden immer wieder andere Völker, die durch das jeweilige Klima ihrer Herkunftsländer geprägt sind, Macht, wobei Herder die damals gängigen Stereotype reproduziert: Im Wesentlichen stehen sich hier der feinsinnige, kunst-, kultur- und wissenschaftsinteressierte, aber auch schwache, faule und patriarchalisch-despotisch regierte Südländer und der rohe, wilde, tätige, kräftig-tapfere und freiheitsliebende Nordländer gegenüber Bleiben die Grundannahmen der Klimatheorie bei Herder also auch im Wesentlichen unangetastet, erfahren sie hier doch eine Relativierung und Erweiterung durch eine historische Dimension Eine deutlich umfassendere eigene Bearbeitung der Klimatheorie erfolgt schließlich in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, insbesondere im siebten und achten Buch Aus den Ideen geht deutlich Herders Skepsis gegenüber den früheren recht eindimensionalen klimatheoretischen Modellen hervor Zum einen verweist er darauf, dass die Gemeinsamkeiten aller Menschen die Unterschiede klar überwiegen 188 Zum anderen sei die Faktenlage noch viel zu desolat, um gesicherte Aussagen darüber zu treffen, welche physischen Bedingungen überhaupt relevant sind,189 welche Auswirkungen nicht nur Tag und Nacht und der Reihentanz abwechselnder Jahrszeiten […] sondern [auch] der Streit der Elemente, die Gegenwirkung der Erde und des Meers, die Lage der Berge und Ebnen, die periodischen Winde, die aus der Bewegung der Kugel, aus der Veränderung der Jahres- und Tageszeiten und aus so viel kleinern Ursachen entspringen,190

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Gemeint sind hier die „Gothen, Vandalen, Burgunden, Anglen, Hunnen, Herulen, Franken und Bulgaren“ (ebd S 515) 187 Ebd S 514 f 188 Vgl Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit In: Sämtliche Werke, Bd 13 S 255 f Aus diesem Grund negiert Herder, dass es so etwas wie Rassen gebe, vgl ebd S 257 f 189 Vgl ebd S 265 f 190 Ebd S 270

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aufeinander ausüben und in welchem Zusammenhang der Mensch und das ihn umgebende Klima stehen,191 sodass eine „physiologisch-pathologische […] Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskräfte“192 noch unmöglich sei Daher kritisiert Herder beispielsweise die Erklärungen Montesquieus und Castilhons als allzu simpel, pauschalisierend und letzten Endes unbewiesen,193 sodass er als Gegner extremer klimatheoretischer Positionen mit stark abgrenzenden und kategorisierenden Einteilungen erscheint und rein klimatisch bedingte Varianzen für ihn nur in schwacher Form zum Tragen kommen Um dem Klima also nicht zu viel Übergewicht zu verleihen und nicht ebenfalls ein solches spekulatives, verkürztes Erklärungsmodell anzubieten, integriert er es in seine Kulturtheorie als lediglich einen relevanten Faktor in ein System verschiedener natürlicher und kultureller Kräfte194 und erweitert den Begriff des Klimas erheblich So gehören für ihn die Höhe oder die Tiefe eines Erdstrichs, die Beschaffenheit desselben und seiner Produkte, die Speisen und Getränke, die der Mensch genießt, die Lebensweise, der er folgt, die Arbeit, die er verrichtet, Kleidung, gewohnte Stellungen sogar, Vergnügen und Künste, nebst einem Heer andrer Umstände, die in ihrer lebendigen Verbindung viel wirken […] zum Gemählde des vielverändernden Klima,195

sodass Klima im weiteren Sinne hier die Gesamtheit aller beeinflussenden Faktoren, unter denen sich die Menschheit entwickelt, meint Die Wechselwirkungen in diesem „Chaos von Ursachen und Folgen“196 seien jedoch viel zu komplex, um gesicherte Kausalitäten herausstellen zu können Herder beschränkt sich daher auf einige wenige Merkmale, die sich direkt auf klimatische Bedingungen zurückführen lassen, wie etwa Haut- und Haarfarbe 197 Da solche körperlichen Merkmale auch unter anderen klimatischen Bedingungen gleich bleiben und sich nur durch Fortpflanzung verlieren, gelangt er zu dem Schluss, dass solche Veränderungen nur sehr langsam von statten gehen können und schließlich erblich beziehungsweise „genetisch“198

191 192 193 194

Vgl ebd S 267–269; 284 f Ebd S 269 Vgl ebd S 267 f Vgl eingehend dazu Reimar Müller: Zu Herders Auffassung von Wesen und Geschichte der Kultur In: Gerhard Ziegengeist (Hg ): Johann Gottfried Herder, Zur Herder-Rezeption in Ost- und Südosteuropa Berlin: 1978 S 29–46 195 Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit In: Sämtliche Werke, Bd 13 S 269 196 Ebd S 269 197 Vgl ebd S 279 198 Herder nimmt eine „genetische Kraft“ an und meint damit eine Art Bauplan, an den sich der Körper sein Leben lang hält, beziehungsweise spezifische Veranlagungen, die jeder Mensch ererbt hat – und kann damit als Vordenker der modernen Genetik gelten Die „Genesis“ (ebd S 284) leistet bei Herder äußeren Einflüssen prinzipiell Widerstand; er führt dafür körperliche Eingriffe zur Erreichung gewisser Schönheitsideale wie Schädeldeformationen und Hautdehnungen, die niemals an Nachkommen weitervererbt werden, aber auch die Unveränderlichkeit von Hautfarbe,

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werden 199 Um jedoch genau zu verstehen, wie sich der Mensch unter dem Klima verändert, müssten zuerst eingehende empirische Untersuchungen auf den Feldern der Geographie und Geschichte erfolgen; erst dann könne „eine physisch-geographische Geschichte der Abstammung und Verartung unsres Geschlechts nach Klimaten und Zeiten“200 erarbeitet werden 201 Bis dahin können alle klimatheoretischen Aussagen nur vorläufig und spekulativ sein Außerdem wirke sich das Klima auch auf das Denken und die Wahrnehmungen des Menschen aus So sei zum Beispiel neben anderen Bedingungen wie Ernährung und Gewohnheit auch die Umgebungstemperatur ausschlaggebend dafür, wie empfindlich die Sinne sind, wobei sehr große Hitze und Kälte eher unempfindlich machen und abhärten 202 Unter solchen härteren Bedingungen, wenn sie nicht zu extrem sind, könne dafür aber Kultur leichter entstehen, da das Leben insgesamt und vor allem die Nahrungsbeschaffung hier schwieriger sei und daher die Erfindung von Hilfsmitteln, also Handwerk, eher notwendig ist als in Gegenden, wo Natur und Klima auch ohne Jagd und Ackerbau genügend Nahrungsmittel zur Verfügung stellen 203 Zudem sei die Mythologie jedes Volks […] ein Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur ansah, insonderheit ob es seinem Klima und Genius nach, mehr Gutes oder Uebel in derselben fand und wie es sich etwa das Eine durch das Andre zu erklären suchte 204

Herder betont außerdem auch die Wechselwirkungen, die zwischen den natürlichen physischen Gegebenheiten und kulturschaffendem menschlichen Tun entstehen: So wie der Mensch durch das ihn umgebende Klima geprägt wird, beeinflusst er dieses auch selbst, indem er Kulturlandschaften schafft, damit weitreichend in seine Umwelt eingreift und dadurch auch das herrschende Klima verändert Somit erscheint das Klima bei Herder nicht mehr als eine gegebene unveränderliche Bedingung, sondern vielmehr als ein zugleich beeinflussender wie auch beeinflussbarer Faktor, der menschliches Tun prägt, seinerseits aber auch menschlichem Tun unterworfen ist 205 Unterscheidet sich Herders Interpretation der Klimatheorie auch nicht im Grundsatz von denen seiner Vorgänger, offenbart sich bei ihm doch ein ganz anderes Kultur- und Menschenbild, da er nun nicht mehr mit einer einseitig deterministischen Klimatheorie immer wieder auf lineare Zwangsläufigkeiten und Widersprüche stoßen musste, sondern dem Menschen als kulturschaffendem Wesen deutlich mehr Aktivität und

199 200 201 202 203 204 205

Wuchs und Gesicht als Belege an, vgl ebd S 278 f Doch könne das Klima über sehr lange Zeit diese „Genesis“ oder „lebendige Kraft“ (ebd S 284) beeinflussen Vgl ebd S 279 Ebd S 285 Vgl ebd S 284 f Vgl ebd S 292 f Vgl ebd S 311 f Ebd S 307 Vgl ebd S 272

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Verantwortlichkeit zuwies, die Wirkmächtigkeit des Klimas stark einschränkte206 und ihm seine frühere übergroße Relevanz absprach Es liefere lediglich die unmerkliche Disposition, die man bei eingewurzelten Völkern im ganzen Gemälde der Sitten und Lebensweise zwar bemerken, aber sehr schwer, insonderheit abgetrennt, zeichnen kann 207

Das Klima erscheint bei Herder so nur noch als einer von vielen gleichberechtigten Faktoren, wie Geografie, Vegetation, Nahrungsmittel, die Lebensweise der Menschen, die einzeln jeweils minimale Auswirkungen haben und in ihrer komplexen Gesamtheit darauf einwirken, in welcher Weise der Mensch die Kultur als eine „zweite Natur“208 schafft 209 Wurde das Klima also zuvor als determinierend für einen angenommenen Volkscharakter angesehen, erfuhr dieser Zusammenhang bei Herder eine Erweiterung um eine Vielzahl anderer ursächlicher Aspekte Kulturelle Entwicklung wird durch dieses „Chaos von Ursachen“ bei ihm so unüberschaubar komplex, dass sie kaum noch kausal erklärbar ist, sondern in ihrer bunten Vielfalt lediglich beschreibbar Er plädiert daher vehement für die Erhaltung der verschiedenen ursprünglichen Lebensweisen der verschiedenen Völker, da nur diese organisch gewachsen und damit natürlich sind Weil der Lebensraum die in ihm lebenden Menschen prägte, empfand er die Expansion der neuzeitlichen europäischen Lebensweise mit ihrer Abkopplung von den Gegebenheiten von Natur und Geschichte, die er im Zuge der einsetzenden Globalisierung beobachten konnte, als widernatürliche Entfremdung von den eigenen Ursprüngen Die Erkenntnis der Einmaligkeit der spezifischen Konstellation dieser sich wechselseitig beeinflussenden und bedingenden Faktoren sowie die Betonung der Prozesshaftigkeit der sich daraus ergebenden kulturellen Entwicklung führen Herder außerdem dazu, auch die Singularität eines kulturellen Entwicklungsstandes hervorzuheben: Die Blüte des antiken Griechenlands war Folge eines besonders günstigen Zusammenspiels verschiedenster Faktoren, das sich so nie wieder ergeben wird,210 und ist damit unwiederholbar, wodurch das Streben nach dem klassizistischen Kunstideal mit seiner starken Normativität obsolet wird Der Versuch, einen historisch bedingten Kunst- und Kulturzustand unter vollkommen anderen Bedingungen wiederherstellen zu wollen, könne nur zum Scheitern verurteilt sein,211 da das Streben nach dem antik-griechischen

206 207 208 209 210

211

Vgl ebd S 273 Herder schreibt hier: „das Klima zwinget nicht, sondern es neiget“ (ebd ) Ebd Ebd S 150 Vgl ebd S 269 Vgl Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 14 S 113 Herder schreibt zu diesem unlösbaren Problem: „die ganze genetische Art der griechischen Kunst aber werden wir nie erreichen: der Genius dieser Zeiten ist vorüber“ (ebd ) Vgl ebd S 149

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Ideal diesem nur eine „unnatürliche Ewigkeit“212 verleihen kann, mit der Konsequenz, „das Wesen der Zeit zu vernichten und die ganze Natur der Endlichkeit zu zerstören “213 Wie gezeigt wurde, konzentrierten sich Montesquieu und Winckelmann auf die Bereiche Gesetze und Normen beziehungsweise Kunst bei ihren Betrachtungen zur Klimatheorie, während sich diese bei Herder zu einer Umwelttheorie ausweitet: Dem Primat des Klimas wird hier ein Chaos von Ursachen entgegengestellt, das für die spezifischen Ausformungen von Kultur verantwortlich gemacht wird Ausgehend von einer grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen werden so kulturelle Unterschiede durch ein mehrdimensionales Erklärungsmodell gedeutet und Gesellschaften als einmalige Produkte äußerer Faktoren betrachtet 5 2 2 Heynes Haltung zur Klimatheorie In Kapitel 5 1 wurde herausgestellt, dass Heynes egalitäres Menschenbild ein entscheidender ermöglichender Faktor für seinen anthropologischen Blick auf den antiken Mythos war Nur indem er alle Menschen als gleichwertig einstufte, konnte er gleiche Denkmuster in primitiven Gesellschaften erkennen Doch wie erklärt Heyne die Ursachen für kulturelle Ausdifferenzierung und unterschiedliche Mythologien? Wie verhielt er sich zur Klimatheorie, dem zu seiner Zeit gängigsten Erklärungsmodell für kulturelle Vielfalt, und welche Rolle spielt sie in seinen Ausführungen zur Mythentheorie? Heyne selbst war mit der Klimatheorie seiner Zeit bestens vertraut Er kannte Montesquieus Klimatheorie und die Herder’schen Schriften, explizit auch die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit, nachweislich gut 214 Etwas ausführlicher rezensierte er jedoch nur die Ideen.215 Er lobt hier Herders Verstand und sprachliche Fähigkeiten sehr und erwähnt auch die von Herder hervorgehobenen „unverkennbaren mächtigen Einwirkungen des Clima“ 216 Er reflektiert außerdem ausführlich über Herders Kulturtheorie Emphatisch preist er: Herrlich ist es zum Anhören: Der Mensch ist zur Humanität geschaffen, Humanität ist der Zweck der Menschennatur, und das Ganze muß in Vervollkommnung der Humanität sich endigen 217 212 Ebd 213 Ebd 214 Dies belegt nicht nur seine enge Freundschaft zu Herder, die eine Kenntnis seiner Schriften allein schon wahrscheinlich macht – auch die Herausgeberschaft seines Gesamtwerks und darüber hinaus einige Rezensionen zeigen, dass er Herders Ansichten zur Klimatheorie kannte, vgl zum Beispiel [Christian Gottlob Heyne]: 131 St In: GGA 1806 S 1297–1310 215 [Christian Gottlob Heyne]: 60 St In: GGA 1807 S 593–599 216 Ebd S 594 217 Ebd S 596

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Doch will Heyne einschränken: der Mensch ist zur Ausbildung der Anlage zur Humanität geschaffen, so weit es die äussere Lage, Clima, physische, sittliche und politische Umstände und Verhältnisse gestatten; und noch näher: jeder zur möglichen Ausbildung seiner Humanität; nach seiner besondern Organisation, seiner genetischen Kraft, nach dem Clima, nach den erlernten Begriffen, Kenntnissen, Beyspielen seiner Eltern, Familie, Landes- und Volksart, Stufe der Cultur s w 218

Heyne hebt also besonders den individualistischen Aspekt in Herders Kulturtheorie hervor, betont, dass der Mensch unendlich fest in seine Gesellschaft, in sein persönliches Umfeld eingebettet und dementsprechend hochgradig durch äußere Faktoren geprägt ist Insgesamt äußert sich Heyne jedoch recht kritisch zu Herders Kulturtheorie, wenn er etwa nach Herders Kultur- und Humanitätsbegriff an sich fragt: Nun ferner, wie viel nehmen wir eigentlich in den Begriff der Humanität und der Cultur, die sie erfordert, auf? Immer denken wir insgemein nur an die wissenschaftliche Cultur, und nehmen sie als Maaßstab der Schätzung sowohl einzelner Menschen, als ganzer Völker, an: der aber wohl der unrichtigste Maaßstab ist; wir vergessen darüber die weit wichtigere sittliche Cultur, unterscheiden nicht die religiöse und politische Cultur, und beherzigen nicht, daß die Verbindung dieser beiden unter einander nicht so genau und enge ist, als man annimmt 219

Heyne war also der Ansicht, dass sich kulturelle Entwicklung auf verschiedenen Feldern in unterschiedlicher Weise vollzieht Er bemerkt folglich: „umfassende Humanität war niemahls, wird niemahls seyn“ 220 Der Mensch könne also maximal „partielle Humanität“221 erlangen, und dies auch nur dann, „wenn er sie durch seine Vernunft, durch die practische Vernunft, selbst bilden kann“ 222 Doch werde dies wiederum durch die Determination des Menschen durch äußere Faktoren, durch das, „was der Mensch in seiner Gewalt nicht hat, weil es wieder vom Aeussern abhängt“,223 also durch seine Umwelt, gehemmt Hinzu komme kultureller Rückschritt „durch Verwilderung des Krieges, und im Frieden durch Schwärmerey und Sittenverfall“,224 sodass jeder Schritt, der im Einzelnen vorwärts geschah, und doch nur eingeschränkt auf eine oder die andre Volksclasse, Volk, Landschaft, wie bald und wie weit […] wieder zurück [ging] 225

218 219 220 221 222 223 224 225

Ebd Ebd Ebd S 597 Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd

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Letztendlich konnte also „wenig […] bisher durch Künste und Wissenschaften, durch Religion und Völkerregierung, zur wahren Humanität gewirkt“226 werden Heynes aufklärerisches Weltbild führt also zu einer stark kulturpessimistischen Haltung und zu einem unüberbrückbaren Graben zwischen Realität und Herders Humanitätsutopie Er resümiert: nun bestimmen zu wollen, wie alles das so habe seyn müssen, und daß dieß alles, was das unverkenntliche Gepräge der nothwendigen Unvollkommenheit der Menschheit an sich trägt, sich auf der Erde noch in eine vollkommenere Humanität endigen soll, sollte kein Sterblicher über sich nehmen […] So lange das Menschengeschlecht, im Ganzen und im Einzelnen, vom allem, was es umgibt, abhängt, ist seine Perfectibilität auch vom Aeusserlichen abhängig, hat also seine engen Grenzen, die vom Zufall verengert und erweitert werden können; aber ein bloßes Vernunftwesen kann der Mensch nie werden; also ist auch an keine vollkommne Humanität, so wenig, als an eine vollkommne Tugend und Glückseligkeit, zu gedenken, welche der menschliche Verstand wohl träumen, aber nie erreichen kann 227

Trotz dieses Mangels solle man aber doch den „unschätzbaren Werth der Geschichte der Menschheit nicht verkennen“ 228 Dieser liege vor allem in den anthropologischen Erkenntnissen, die bei Herder in „gesundere Urtheile über des Menschen Natur, Culturfähigkeit, Kräfte, ihre Bedingungen und Grenzen“229 mündeten Klimatheoretische Ansichten begegneten Heyne darüber hinaus in sehr vielen anderen Werken, die er rezensierte 230 Seine Haltung dazu erscheint in seinen Rezensionen oft gespalten; er tritt weder als klarer Befürworter noch als Gegner der Klimatheorie auf, sondern scheint eine gemäßigte Ansicht zu vertreten So widerlegt er beispielsweise die Argumentation der Defense des Recherches philosophiques sur les Americains von Cornelius de Pauw,231 der die Annahme zugrunde liegt, 226 227 228 229 230

231

Ebd Ebd S 598 Ebd Ebd S 599 So vertritt beispielsweise Friedrich Gotthilf Findeisen in seiner Abhandlung über den Einfluß der Sitten auf die Sprache und den guten Geschmack von 1768 die These, dass unter Anderem „die Sitten […] sich durch […] Clima (d i durch etwas, woran das Clima Antheil hat), als, das feinere Gefühl der Schönheit, schnellere Gefühl der Ehre oder Schande, des Unrechts, Schimpfs s f [bilden]“ ([Christian Gottlob Heyne]: 26 St In: GGA 1769 S 253) Wie genau Heyne diese Ansicht wertete, geht aus der Rezension leider nicht hervor, jedoch fällt er über Findeisens Schrift insgesamt ein recht positives Urteil, vgl ebd S 254 Der Xantener Geistliche Cornelis de Pauw (1739–1799) hatte mit seinen Recherches philosophiques sur les Américains 1768 eine erregte Diskussion über den Charakter der amerikanischen Ureinwohner in Gang gesetzt Obwohl er die amerikanischen Kontinente selbst nie besucht hatte, beschrieb de Pauw die amerikanischen Ureinwohner hier als körperlich und geistig degeneriert, schwach und unterlegen, weshalb jeglicher Kontakt mit ihnen und somit auch die dortige Kolonisation unnatürlich und der europäischen Zivilisation schädlich sei Der Franzose Antoine Joseph Pernety

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America sey ein von der Natur verwahrloßter Welttheil, und die Americaner seyen eine durch ein ungütiges Clima ausgeartete kraft- und sinnlose Gattung Menschen; auch die Europäer, die sich in America niederlassen arten aus 232

De Pauw ist der Ansicht, dass dieses Phänomen der ‚Ausartung‘, wie Heyne hervorhebt, alle Völker – und sogar Tiere und Pflanzen233 – betreffe, die zwischen dem nördlichen und dem südlichen Wendezirkel einheimisch sind 234 Heyne äußert diesbezüglich, dass „seine Behauptung […] von einigen Gegenden unwidersprechlich richtig ist“;235 allerdings ließen sich auch einige Gegenbeispiele anführen, da auch „Völker, die zu einer gewissen Cultur gelanget waren, die Mexicaner und Peruaner, innerhalb dieser Cirkel und nicht außerhalb lagen“ 236 Er führt auch ins Feld, dass die Hochkulturen zwischen den beiden Wendekreisen – er führt hier die Kulturen Indiens an – „auch nicht so sehr weit von einander entfernt [sind], als die Mexicaner und Europäer der jetzigen Jahrhunderte“,237 dass der Unterschied zwischen Menschen, die innerhalb beziehungsweise außerhalb der Wendekreise leben, in Bezug auf ihren Entwicklungsstand überhaupt nicht generell groß sei und damit auch nicht pauschal durch das Klima begründet werden könne 238 Die Theorie, dass der Charakter von Menschen direkt durch klimatische Gegebenheiten determiniert sei und dies eine Entwicklung zur

konterte daraufhin 1769 mit seiner Dissertation sur l’Amérique et les Américains contre les Recherches philosophiques de Mr. de P***, was de Pauw wiederum mit einer Défense des Recherches philosophiques quittierte Zu de Pauws Recherches philosophiques sur les Américains, zum Streit zwischen ihm und Pernety sowie zu de Pauws Nachwirkungen in Europa vgl Susanne Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870) Berlin: 1999 (= Philologische Studien und Quellen, Hft 158) S 65–86 232 [Christian Gottlob Heyne]: 120 St In: GGA 1771 S 1036 233 Ebd S 1037 234 Vgl ebd S 1036 235 Ebd 236 Ebd Weitere Belegstellen ließen sich hier anschließen, beispielsweise [Christian Gottlob Heyne]: 124 St In: GGA 1771 S 1068 f : „Es giebt Völkerschaften, die unstreitig alles das sind, was Hr v P[auw] behauptet; aber sind sie es alle? […] Es giebt auch muntre, geschäftige, erfinderische, Völkerschaften, mit vielem Mutterwitz, Scharfsinn und Verstand, und das in jedem Himmelsstrich; aber freylich keine europäische Cultur und ihre Wirkungen und Folgen, muß man nicht verlangen Wer nach unsern leibeignen Bauern den Character der Europäer bestimmen wollte, würde dem Hrn v P[auw] ziemlich nahe kommen “ Vgl auch [Christian Gottlob Heyne]: 121 St In: GGA 1771 S 1047 f : „Der Anbau der Mexicaner in den grossen See, worinn die Hauptstadt Temixtikan lag, ist doch nicht das Werk eines ganz unwissenden Volkes “ 237 Ebd 238 Auch in seiner Rezension der Recherches philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois desselben Autors wendet sich Heyne deutlich gegen de Pauws extreme Ansichten und einseitige Begründungen durch die Klimatheorie Dieser vertritt hier die Ansicht, dass Griechenland eine eher orientalische Kunst entwickelt hätte, wenn es nur wenige Breitengrade südlicher läge, und beruft sich dabei darauf, dass Ionien die Tempelsäulen im Gegensatz zu denen auf dem etwas südlicher gelegenen Peloponnes schlichter seien – woran Heyne stark zweifelt, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 79 St In: GGA 1773 S 677

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Hochkultur unmöglich mache, kann also in Heynes Augen nur falsch sein Auch dem populären Erklärungsmodell, laut dem ein heißes, feuchtes Klima für die Entstehung despotischer Regierungen verantwortlich gemacht wird, während in Gebieten mit gemäßigtem Klima, wie in Europa, diese Gefahr geringer sei, da sich das Klima günstiger auf den Charakter der dort lebenden Menschen auswirke, tritt Heyne sehr skeptisch gegenüber Zu de Pauws Recherches philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois, in denen dieser ein starken klimatheoretischen Ansatz verfolgt, schreibt er etwa: Wir würden glauben, daß selbst zur allgemeinen Einführung des Despotismus im Orient das Klima wirke; wenn nicht die Geschichte eben so arge Despoten in Europa kennte Man denke nur an das einzige Rom und an Constantinopel; und offenbar stehen in Europa die Sachen auf dem Fuß, daß, wenn die willkührliche Gewalt so fort fährt Wurzel zu fassen, ehe noch drey Jahrhunderte vorbey sind, der Despotismus in Europa so gut herrschen wird, als in Asien Verdorbene Sitten, Schwelgerey der Reichen, und äusserst Elend der Armen, allgemeine Unwissenheit oder doch Ermangelung der nützlichen Kenntnisse, sind die wahren Stützen des wachsenden Despotismus 239

Auch mit Montesquieu und dessen Klimatheorie war Heyne gut vertraut – das belegt eine Rezension aus dem Jahr 1775240 sowie die Veröffentlichung seiner Programmschrift Nonnulla in vitae humanae initiis in den Opuscula academica 241 Möglicherweise hatte er Montesquieus De l’Esprit des lois bereits kurz nach dessen Veröffentlichung in seiner Dresdner Zeit zwischen 1752 und 1763 gelesen; laut seinem Biographen Heeren hatte er sich hier intensiv mit Montesquieu auseinandergesetzt 242 Jedenfalls stand er dessen Klimatheorie nicht nur kritisch gegenüber, sondern sah in ihr geradezu einen ebenso lächerlichen wie fatalen Irrweg Es war seiner Ansicht nach einer von den einseitigsten Sätzen, die sich vorbringen lassen, da man, dem Montesquieu zu folge, die ganze Cultur der Nationen auf Rechnung des Clima schreiben wolte 243

Er vermutete in Montesquieus Schriften eine Maske, hinter der dieser durch Wissenschaftlichkeit und Objektivität „Nationalvorurtheile“244 und einen daraus abgeleiteten Anspruch auf kulturelle und politische Hegemonie, die von Frankreich ausgehen sollte, verschleiern wollte Es schien ihm daher

239 Ebd S 678 f 240 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 114 St In: GGA 1775 S 983 241 In einem Nachsatz nennt er Montesquieus De l’Esprit des lois als eine wichtige Grundlage zu seiner Programmschrift über die frühesten Gesetzgeber, vgl Heyne: Nonnulla in vitae humanae initiis S 218 242 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 42 f 243 [Heyne]: 114 St In: GGA 1775 S 983 244 Ebd

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[a]m lächerlichsten […], wenn so nahe gelegene Länder, als Frankreich und Deutschland, den Einwohnern einen Vorzug oder Nachtheil, dem Clima nach, verschaffen sollten 245

Außerdem stimmt er Constantin François Volney in seiner Rezension zu dessen Reisebeschreibung Voyage en Syrie et en Egypte von 1787 zu, der hier Montesquieus „grundlose[…] Behauptung“,246 dass das warme Klima des Orients Apathie und Despotismus hervorbringe, widerlegt Heyne nennt die Montesquieu’sche These hier außerdem „einseitig“ und begründet ihre große Popularität mit der herrschenden Gewohnheit, „jedes Paradox eines Mannes von Ruf aufzufangen“ 247 Andererseits zeigt auch Heynes Serie von Programmschriften zur Gesetzgebung in den griechischen Kolonien Italiens zwischen 1767 und 1777, wie sehr er durch Montesquieu und sein De l’Esprit des lois beeinflusst war 248 Auch mit Winckelmanns Gedanken zur Klimatheorie muss Heyne bestens vertraut gewesen sein, rezensierte er doch mehrfach Winckelmanns Werke, darunter auch Ausgaben und Übersetzungen seiner Kunstgeschichte,249 zu der er auch selbst einen Aufsatz mit einigen Berichtigungen und Ergänzungen verfasste 250 Außerdem kannte er Winckelmann persönlich seit 1754 aus seiner Zeit als Kopist der Brühl’schen Bibliothek in Dresden, als Winckelmann für den Grafen Brünau in Schloss Nöthnitz bei Dresden seinerseits als Kopist an dessen Reichshistorie mitarbeitete und deshalb oft die Bibliothek des Grafen Brühl benutzte,251 und schrieb einen preisgekrönten, mehrfach veröffentlichten und übersetzten Nachruf auf ebendiesen 252 245 246 247 248

Ebd [Christian Gottlob Heyne]: 96 St In: GGA 1787 S 960 Ebd Heidenreich geht davon aus, dass Heyne diese Programmschriften verfasste, weil „[s]eit dem Erscheinen des Esprit des lois […] Probleme der Gesetzgebung zum Gegenstand allgemeinen Interesses geworden [sind]“ (Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 194) Zudem schreibt Heyne selbst in einer Rezension zu einem der Programme, dass er „von den caussis legum, dem Esprit des Loix“ ([Christian Gottlob Heyne]: 195 St In: GGA 1786 S 1957), dieser Kolonien schrieb Die Montesquieu’sche Klimatheorie adaptiert Heyne hier etwa insofern, als etwa der Luxus der Sybariten auf ein „wollüstiges Clima“ ([Christian Gottlob Heyne]: 120 St In: GGA 1771 S 1034) zurückgeführt wird 249 Vgl beispielsweise [Christian Gottlob Heyne]: 2 St In: Zugabe zu den GGA 1781 S 17–27; 35 St In: GGA 1806 S 350–352 250 Vgl Christian Gottlob Heyne: Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannschen Geschichte der Kunst des Alterthums In: Deutsche Schriften von der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen 1 (1771) S 204–266 251 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 44 f Heeren erwähnt hier nur eine lose Bekanntschaft Ob sich Winckelmann und Heyne bereits zu dieser Zeit gedanklich austauschten, ist unklar Erst ab 1763 kam es zu einem Briefwechsel zwischen Winckelmann und Heyne – bekannt sind lediglich zwölf erhaltene Briefe Da Winckelmann aber bereits 1768 ermordet wird, fällt dieser nur in die ersten Jahre nach Heynes Ankunft in Göttingen, vgl Walther Rehm (Hg ): Johann Joachim Winckelmann, Briefe, Bd 3, 1764–1768 Berlin: 1956 252 Vgl Christian Gottlob Heyne: Lobschrift auf Winkelmann, welche bey der Hessen Casselischen Gesellschaft der Alterthümer den ausgesetzten Preis erhalten hat Leipzig: 1778 Dabei war das per-

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Ein maßgeblicher Punkt, den Heyne an Winckelmanns Kunstgeschichte kritisierte, war, dass Winckelmann seine Epocheneinteilung auf Grundlage historischer und politischer Bewertungen erarbeitet habe Vor allem seine Verbindung des ‚Hohen‘ und ‚Schönen Stils‘ mit der freiheitlichen Verfassung in der Demokratie Athens und dessen geographischer Lage und damit auch ein Zusammenhang zwischen freiheitlichen politischen Ordnungssystemen, klimatischen Bedingungen und einer Blüte in der Kunst sei nicht belegbar Verantwortlich für kulturelle Hochzeiten seien keine Gesetzmäßigkeiten, „weder Freyheit noch Clima“,253 sondern vielmehr Zufall: „es ist immer etwas sehr Zufälliges, ein Hof, ein Fürst, eine Maitresse, ein Minister, ein Demagog “254 Zweifelhaft sei daher nicht nur Winckelmanns Epocheneinteilung überhaupt, sondern auch die Datierung einzelner Werke An anderer Stelle räumt Heyne aber auch ein, dass das Klima durchaus ein beeinflussender Faktor sei, etwa in der Rezension zum dritten Band von Alexander Dows The History of Hindostan from the Death of Akbar to the complete Settlement of the Empire under Aurungzebe über den Ursprung und die Natur des Despotismus in Indostan Dow setzt den Grund davon in das Klima, und in die Trägheit und Unthätigkeit, welche das Klima giebt; aber Stärke und tiefere Wurzel gab ihm die Mohamedische Religion 255

sönliche Verhältnis zwischen Heyne und Winckelmann durchaus ambivalent Winckelmann betonte in Briefen an Heyne mehr als überdeutlich, dass er in Rom durch seine Ämter, die ihm viele Freiheiten ließen, gegenüber dem von Ämtern überladenen Heyne klar im Vorteil sei, vgl Johann Joachim Winckelmann: 697, An Heyne In: Rehm (Hg ): Johann Joachim Winckelmann, Briefe, Bd 3, 1764–1768 S 91 Heyne hingegen wies immer wieder und noch nach Winckelmanns Tod darauf hin, dass dieser in Rom von den aktuellen Fachdiskussionen abgeschnitten war Dass sie Konkurrenten waren, wussten beide also genau Dennoch sorgte Heyne dafür, dass Winckelmann 1765 in die Societät der Wissenschaften aufgenommen wurde Winckelmann versorgte Heyne dafür mit Nachrichten über Statuenfunde und machte ihm die Handschriften der Vatikanischen Bibliothek zugänglich, vgl Daniel Graepler: Heyne und Winckelmann In: ders /Migl (Hg ): Das Studium des schönen Altertums S 18 f Als „ungetrübtes Freundschaftsverhältnis“ bezeichnet lediglich Berthold die Beziehung zwischen Winckelmann und Heyne, Berthold: Bewunderung und Kritik S 162 253 Heyne: Ueber die Künstlerepochen beym Plinius In: Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd 1 S 173 Doch muss sich Heyne dem Vorwurf, den er Winckelmann hier macht, auch selbst aussetzen In seiner Vorlesungsreihe zur byzantinischen Kunst, die er zwischen 1790 und 1795 vor der Societät präsentierte, leitet auch er aus der Despotie und moralischen Dekadenz der Kaiserzeit einen Verfall der Kunst ab, den er in unzähligen von ihm beschriebenen Objekten wiederzuerkennen glaubt, vgl dazu vor allem Christian Gottlob Heyne: Serioris artis opera quae sub imperatoribus Byzantinis facta memorantur In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 11 (1793), Commentationes Classis Historicae et Philologicae S 39–62; De interitu operum cum antiquae tum serioris artis quae Constantinopoli fuisse memorantur eiusque caussis ac temporibus, 2 Teile In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 12 (1796), Commentationes Classis Historicae et Philologicae S 273–308 Kaum anders als Winckelmann will er in Byzanz also die Kunst durch politische Strukturen determiniert sehen – was er jedoch bei Winckelmann heftig in Abrede gestellt hatte 254 Heyne: Ueber die Künstlerepochen beym Plinius S 173 255 [Christian Gottlob Heyne]: 94 St In: GGA 1772 S 803

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Heyne kritisiert hier: Nicht alle Ursachen sind vom Verf richtig genug bestimmt, […] Klima und Religion befördern vermuthlich nur den natürlichen Ausschlag des Uebergewichts 256

Ähnlich äußert er sich auch über William Tennants klimatheoretische Äußerungen in seinen Indian Recreations, einer Beschreibung des kolonisierten Indiens aus dem Jahr 1803 Tennant behauptet hier, „die meiste Schuld […] trage das Clima, durch die veranlaßte Schwäche des Körper und der Geisteskräfte“ daran, dass „die Orientalischen Völker so wenig Fortschritte in den Künsten machen“ 257 Heyne wendet hier ein: „Uns deucht, dawider ließe sich viel sagen; die Einflüsse des Clima würden sich durch ein besseres Gouvernement wohl verbessern lassen “258 Heyne erkennt hier also klar an, dass sich das Klima auf die Mentalität auswirkt, ist aber offensichtlich der Ansicht, dass dieser Einfluss relativ gering ist und durch andere Faktoren aufgehoben werden kann Andererseits stimmt er einigen Autoren, die einen klimatheoretischen Ansatz verfolgen, recht deutlich zu oder reproduziert ihre klimatheoretischen Aussagen unkommentiert 259 So pflichtet er etwa in der Rezension zu den Remarques d’un voyageur moderne au Levant dem unbekannten Verfasser bei: „Das Klima kann träg oder munter, weichlich oder hart, muthig oder muthlos machen“,260 allerdings mit der Einschränkung: „aber treulos, meineidig, stolz, unbeständig macht es fürwahr nicht“ 261 Doch immer wieder betont Heyne, der einseitige und allzu einfache Erklärungsmuster auch im Allgemeinen ablehnt, dass man insbesondere mit klimatheoretischen Begründungen für kulturelle Unterschiede vorsichtig und differenziert umgehen müsse, vor allem dann, wenn damit einige Kulturen vor andere gestellt und offenbar nur nationalistische Vorurteile gestützt werden sollen 262 Er fragt sich: 256 Ebd 257 [Christian Gottlob Heyne]: 19 St In: GGA 1805 S 190, im Original William Tennant: Indian Recreations, consisting chiefly of strictures on the domestic and rural economy of the Mahomeds & Hindoos, Bd 1 London: 1803 S 297: „Three causes have been assigned for the small progress made by the Oriental nations in the arts; the tyranny of their despotic governments; the enervating heat of the climate; and their attachment to ancient usages By a reflecting mind, however, these will be found easily reducible to the second; for if the energies of body and mind are injured by the effects of climate, despotism […] will of consequence arise“ 258 [Heyne]: 19 St In: GGA 1805 S 190 259 1787 wiederholt er beispielsweise in der Rezension zu Louis de Chéniers Recherches historiques sur les Maures et Histoire de l’Empire de Maroc folgende Erklärung: „Gern nahmen die Mauren die Araber auf, welche sich, bey dem Vordringen der Mohamedischen Araber, nach Westafrika flüchteten: Sitten und Religion kamen mit ihrem Klima mehr überein“ ([Christian Gottlob Heyne]: 196 St In: GGA 1787 S 1960) 260 [Christian Gottlob Heyne]: 94 St In: GGA 1773 S 805 261 Ebd 262 1775 stimmt Heyne dem Arzt und Botaniker Friedrich Casimir Medicus in seiner Rezension zu dessen Aufsatz Nicht das Clima, sondern eine glückliche bürgerliche Regierung, ist die Mutter der Wissenschaften zu, der sich darin vor allem gegen eine damals verbreitete radikale Spielart der Klimatheorie wendet, die „die ganze Cultur der Nationen auf Rechnung des Clima schreiben wolte“

5 2 Die Klimatheorie – Entwicklung und Zustand eines wissenschaftlichen Dogmas

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Bey so bewandten Sachen, welcher Sterblicher wird je bestimmten können, wie viel Natur, und wie viel gesellschaftliche Bildung vermag, und wie fern Laster oder Tugend, Schwäche oder Stärke einer Nation, unabänderlich Gepräge der Natur war? Gouvernement, Religion, Erziehung und Sitten, mit Zeit und Gewohnheit, können selbst das Entgegengesetzte hervorbringen 263

Das Erklärungsmodell der Klimatheorie stellt für Heyne somit letztlich ein berechtigtes, aber empirisch nicht verifizierbares Konstrukt dar, dem mit Vorsicht zu begegnen ist Dass sich das Klima auf den Menschen auswirkt, erkennt Heyne aber als grundsätzlich richtig an; es sei unläugbar […], daß das Clima und die Einwirkung der Sonne auf alle Elemente, auf die Naturproducte, die der Mensch genießt, und auf die Mischung der thierischen Säfte, die ganze thierische Natur, in verschiedenen Ländern auf verschiedene Weise bestimmen, und eigenthümliche Anlagen, Fähigkeiten und Dispositionen hervorbringen muß 264

wobei er jedoch „die Modifikationen, welche gesellschaftlicher, sittlicher und religiöser Zustand bewirkt“ und „die Verbesserung jener natürlichen Anlagen auf jeder bessern Stufe der Cultur“ betont, sodass man annehmen könne, dass „die Natur des Menschen unter jedem Clima und in jedem Stamm einer Perfectibilität fähig“265 sein kann – die Parallelen zu Herder sind also deutlich Wie gezeigt wurde, war die Klimatheorie zu Heynes Zeiten ein gängiges Modell für die Erklärung kultureller und physischer Unterschiede zwischen Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde Auch wenn Heyne selbst keineswegs Anhänger dieses Erklärungsmusters ist, sondern sich in der Regel kritisch mit ihm auseinandersetzt, stellt es doch einen wichtigen Bestandteil seiner Theorie zur Riten- und Mythenentstehung dar Für Heyne spielen bei der Entstehung von Riten und Mythen vor allem besondere, bedrohlich wirkende Landschaften wie Wüsten oder dichte Wälder und Naturereignisse, etwa Vulkanausbrüche, Erdbeben und Unwetter, also auch das Klima, eine ([Heyne]: 114 St In: GGA 1775 S 983) und sogar davon ausgeht, dass verschiedene klimatische Bedingungen unterschiedlich intelligente Menschen hervorbringe und damit auch für eine gedeihende Wissenschaft verantwortlich seien Heyne pflichtet dem Autor bei, dass lediglich klimatische Extreme überhaupt einen Einfluss auf die Entwicklung von Intelligenz haben könnten; es sei daher lächerlich anzunehmen, dass kulturelle Unterschiede innerhalb Europas klimatisch bedingt sein könnten Er unterstreicht deutlich, dass derlei Argumentationsmuster nur dazu dienen könnten, unbegründete Vorurteile zu rechtfertigen, vgl ebd 263 [Heyne]: 11 St In: GGA 1805 S 108, so Heyne in seiner Rezension zu Winterbottoms An Account of the native Africans in the neighbourhood of Sierra Leone, der hier eine klare klimatheoretische Position vertritt 264 [Heyne]: 128 St In: GGA 1790 S 1282 (= Rez zu Jacobi Bruces De primarum aetatum commerciis et nauigationibus) 265 Ebd

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ganz entscheidende Rolle Solche Dinge bewirken seiner Ansicht nach bei den rohen und wilden Menschen große Angst und starke Bewunderung, sodass sie diese Gefühle durch wiederholte Tänze und Gesänge ausdrücken und damit erste Riten erschaffen Diese Riten werden im Laufe der Zeit immer stärker mit Bedeutung aufgeladen: Hinter dem bewunderten oder gefürchteten Ding oder Ereignis wird ein unsichtbarer Urheber vermutet, der durch die Riten beeinflusst werden soll Die Eigenschaften dieses übernatürlichen Wesens werden durch primitive Spekulationen immer klarer und verdichten sich schließlich zu einer menschenähnlichen Gottheit, wodurch der erste Grundstein für die späteren Mythen geschaffen ist Der Auslöser für diesen Mechanismus ist daher in Heynes Mythentheorie in der Umgebung des Menschen, in der Natur und deren besonderen Bedingungen – somit also auch im Klima – zu suchen, da sie die möglichen Ursachen für die spezifischen Riten einer Gesellschaft vorgeben Wichtig ist dabei für Heyne, dass dieser Auslöser immer das Extreme und Außergewöhnliche ist; Alltägliches kann nie die Entstehung von Riten bewirken, da es nicht die Aufmerksamkeit des rohen Menschen auf sich ziehen und damit keine extreme Reaktion, die für den Ritus unabdingbar ist, hervorrufen kann Doch variiert das, was extrem ist oder als extrem empfunden wird, jeweils nach den vorhandenen Umweltbedingungen; und folglich ist „[d]as, was Eindruck auf die rohen Menschen machen kan, […] nach den Umständen, der Lage, dem Clima der Nationen, verschieden“,266 wobei Heyne den Begriff wie auch Herder in weiterem Sinne als die Gesamtlage verschiedener physischer Faktoren versteht und nicht nur Wetterphänomene einschließt Stellt ein Vulkanausbruch etwa in der einen Gesellschaft, wie beispielsweise der antik-griechischen, ein so außergewöhnliches und bedrohliches Ereignis dar, dass es zur Entstehung eines mächtigen Vulkangottes führt, kann vulkanische Aktivität in anderen Gebieten wie Chile oder Japan so normal sein, dass es sich auf Riten, Religion und Mythologie kaum auswirkt 267 Heyne beobachtet bei dieser Prägung von Mythologie und Religion durch das Klima folgende Grundtendenz: „je milder das Clima und das Menschengeschlecht ist, desto mehr achtet es […] auf sanftere Gegenstände“ 268 Es fungieren also in Gegenden mit gemäßigten klimatischen Bedingungen eher harmlose, ästhetische Dinge und Phänomene als Auslöser für die Riten der dort lebenden Menschen So konnten beispielsweise in dem milden Klima Ägyptens und Vorderasiens die Fruchtbarkeit des Bodens und der Umlauf von Sonne, Mond und Sternen den Grundstock aller Riten und Religion bilden; für den antiken Griechen stellten etwa „eine murmelnde Quelle, ein säuselnder Hayn; eine Grotte, Höhle“269 Besonderheiten dar, die in ihm heftige Gefühle auslösten; „nun setzt […] [er] seine Nymphen in diese

266 267 268 269

[Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 805 (= Rez zu Vita antiquissimorum hominum) Vgl ebd Ebd S 805 f Ebd S 806

5 2 Die Klimatheorie – Entwicklung und Zustand eines wissenschaftlichen Dogmas

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Plätze“ 270 Rauere Bedingungen wie in Nordamerika führten hingegen dazu, dass „hier ein starker Strom, ein Stromfall, ein grosser unübersehbarer See […]; dort Stürme, schwere Gewitter, Orcane, Erdbeben, Feuerausbrüche“271 Riten bewirkten Daher hätten beispielsweise die Erzählungen über den Olymp, Bacchus oder die Musen nirgendwo anders als in Griechenland entstehen können Auf diese Weise führt Heyne den stark voneinander abweichenden Charakter der finsteren und strengen Religion der Syrer und Phönizier und des fröhlich-heiteren griechischen Glaubens auf ein unterschiedliches Wesen dieser Völker zurück Den jeweiligen Charakter der Völker wiederum erklärt er durch die Lebensumstände derselben, die eng mit der geographischen Lage und dem Klima ihres Lebensumfeldes zusammenhängen So seien in Gegenden mit unfruchtbaren Böden und einem extremen Klima vorrangig grausame Gottheiten und Besänftigungsrituale, zum Teil auch mit Menschenopfern, erfunden worden Eine große Rolle spiele dabei auch, ob die Völker häufig von Seuchen, Hungersnöten und anderen Katastrophen heimgesucht oder von einem anderen Volk unterworfen wurden Auch dies habe zu einer strengen Religion geführt 272 Das Leben der Stämme, die in Gegenden mit einem gemäßigten Klima und einem fruchtbaren Boden lebten, musste also insgesamt leichter gewesen sein; diese konnten daher „mitiores sensus“,273 mildere Wahrnehmungen, als berg-, wald- oder wüstenbewohnende Stämme herausbilden, was in der Konsequenz dazu führte, dass auch ihre Sprache und, davon abhängig, auch ihre Mythen milder waren 274 Trotz dieser großen umweltlich bedingten Vielfalt, die Heyne in Mythen und Riten erkennt, gebe es aber auch grundlegende Ähnlichkeiten So handelten beispielsweise die ersten philosophischen Mythen bei allen Völkern von der Entstehung der Götter, deren Rangfolge und Versammlungsort 275 Diese Gemeinsamkeiten rechtfertigten es aber nicht, anzunehmen, dass alle Mythen denselben Ursprung haben, etwa ein erstes Volk, von dem alle Mythen ausgingen Die Ähnlichkeiten der Mythen wurzelten vielmehr darin, dass sie allesamt von Menschen erdacht wurden Da die geistigen Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen überall auf der Welt in ihren Grundprinzipien dieselben seien und auch die menschlichen Vorstellungen und Ansichten in erstaunlicher Weise übereinstimmten, resultiere daraus auch die Ähnlichkeit so vieler Mythen der verschiedenen Völker 276 Die Verschiedenheit der Mythen unterschiedlicher Kulturen hingegen ergebe sich, so Heyne, aus „locorum cert[ae] proprietates et natur[ae],

270 271 272 273 274 275 276

Ebd Ebd S 805 Vgl ebd ; Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 293 Ebd S 293 Vgl ebd ; Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 12 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 292 f Vgl ebd S 293; Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 7

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[…] situm et caelum“,277 aus bestimmten Eigenheiten und Beschaffenheiten der jeweiligen Gegenden, die die Völker bewohnten, der geographischen Lage und dem Klima Aus Heynes Ausführungen wird erkennbar, dass auch er in gewisser Weise ein Vertreter der im 18 Jahrhundert populären Klimatheorie war Seine klimatheoretischen Überlegungen dienten ihm jedoch lediglich zur Erklärung kultureller Unterschiede, ohne dabei vordergründig rassistische Bewertungen verschiedener Volksgruppen vorzunehmen,278 und sollten keine kulturelle Hegemonie legitimieren – gegen solche klimatheoretisch bedingten Implikationen wandte er sich deutlich Sein humanistisches Menschenbild bewahrte ihn wohl vor einer radikalen Auslegung der Klimatheorie, und nur dadurch wurde sein humaner Blick auf den primitiven Menschen innerund außerhalb Europas und sein anthropologisch orientierter Zugang zum Mythos ermöglicht, die wiederum die Voraussetzung für seine Mythentheorie darstellen Außerdem folgt Heyne nicht den klimatheoretischen Ansätzen, die einen klimatischen Determinismus annehmen, der sich bis auf die Regierungsform ausdehnt, und betont immer wieder, dass das Leben in primitiven Gesellschaften im Allgemeinen – also auch im antiken Griechenland – hart und beschwerlich war Vielmehr ist in seinen Schriften ähnlich wie bei Herder das Klima neben Geologie, Landschaftsstruktur, Flora und Fauna als ein bestimmendes Element in eine ganze Reihe von Umweltfaktoren eingebettet, die sich in den Eigenheiten einer Gesellschaft und damit auch in ihren Mythen, Riten und in ihrer Religion widerspiegeln Dementsprechend trug seiner Ansicht nach das Klima zwar zum Wesen des antiken Menschen und damit auch zu seinen Mythen bei, war aber bei weitem nicht der entscheidende Faktor; dieser war vielmehr deren Unwissenheit und Lebensweise geschuldet, die sich aus dem kulturellen Entwicklungsstand dieser Völker ergaben Bemerkenswert ist dabei, dass Heyne diese Gedanken bereits in seinen frühesten mythentheoretischen Schriften, den Abhandlungen Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata, Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis aus den Jahren 1763 beziehungsweise 1764 sowie in dem Text Vita antiquissimorum hominum von 1779 formulierte Eine Beeinflussung durch Herders Auslegung der Klimatheorie in den seit 1784 erscheinenden Ideen ist damit ausgeschlossen und dürfte wohl eher in umgekehrter Richtung gegeben sein

277 Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 204 278 Dass das antike Griechenland in Heynes Abhandlungen eine positivere Darstellung erfährt als beispielsweise die Syrer oder Phönizier, sollte aufgrund der im 18 Jahrhundert verbreiteten Bewunderung für die antike griechische Kultur nicht verwundern

Kapitel 6 „Der rohe Mensch“ Heynes Gedanken zu den Urhebern antiker Mythen 6.1 Heynes Charakterisierung des „rohen Menschen“ In der Zeit der Aufklärung war es populär, Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Völkern durch kulturellen Transfer zu erklären Man ging davon aus, dass Gottheiten, Mythen und Riten durch Wanderungen und Kontakt zwischen den Völkern übertragen wurden Heyne ist demgegenüber skeptisch: Für ihn ist es vielmehr wahrscheinlich, dass sich solche Ähnlichkeiten aus einer angeborenen Psychologie des Menschen ergeben haben, die überall gleich ist – eine Überlegung, für die er seinen eigenen Angaben nach Anstöße bei Montesquieu, Rousseau, Adam Ferguson, John Millar, Gilbert Stuart, Henry Home Kame, James Dunbar, Isaak Iselin, Jens Kraft und Claude Adrien Helvétius gefunden hat 1 Freilich räumt er ein, dass Gottheiten auch interkulturell adaptiert wurden; bei sehr weit voneinander entfernt lebenden Völkern scheint es ihm jedoch in vielen Fällen wahrscheinlicher zu sein, dass diese Übereinstimmungen eine andere Ursache haben:2 Er geht von einer grundlegenden Ähnlichkeit in den Denk1

2

Heyne: Nonnulla in vitae humanae initiis S 218 f Zur Rezeption von Montesquieu, Helvétius, Iselin und Ferguson bei Heyne vgl Fornaro: I Greci senza lumi S 117–120 Zur Bewertung der Schrift Die Sitten der Wilden von Jens Kraft in der Rezension Heynes vgl [Christian Gottlob Heyne]: 2 St In: Allgemeine deutsche Bibliothek 6/2 (1768) S 61–81; dazu weiterführend Gisi: Einbildungskraft und Mythologie S 145 f So äußert sich Heyne beispielsweise sehr skeptisch über die These von Charles Beatty über die von ihm beobachtete Ähnlichkeit zwischen den religiösen Bräuchen der Eingeborenenstämme Nordamerikas und der jüdischen Religion, die dieser auf eine Abstammung der indianischen Bevölkerung von einem der zehn jüdischen Stämme zurückführt, vgl Charles Beatty: Journal of a two Months Tour, With a View of Promoting Religion among the Frontier Inhabitants of Pensylvania and of Introducing Christianity among the Indians to the Westward of the Alech-ceny Mountains London: 1768 S 83–92 Heyne schreibt dazu: „In einem angehängten Brief findet auch er, der gute Missionar, eine starke Aehnlichkeit zwischen den Gebräuchen der Indianer und der Juden: so daß es ihm im Ernst wahrscheinlich wird, es können die ersten ein Rest von den zehen Jüdischen Stämmen seyn; Gleich als wenn nicht alle Völker, die dem rohen Stand der Natur noch nah sind, unter sich verwandte Sitten und Gebräuche haben müßten“ ([Christian Gottlob Heyne]: 136 St In: GGA 1769 S 1229 f )

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6 „Der rohe Mensch“

strukturen des Menschen aus, die in allen Kulturen zu analogen Ausdrucksweisen, religiösen Ansichten und Mythen geführt haben und dafür verantwortlich gemacht werden können, dass sich kulturelle Entwicklung überall auf der Welt nach vergleichbaren Mustern abspielen muss Die Zeit der Mythenentstehung ist dabei die Frühzeit einer Gesellschaft – Grundmuster dafür sind also hier, beim rohen Menschen, zu suchen Im Folgenden soll daher der Blick darauf gerichtet werden, wie Heyne diesen homo rudis charakterisiert In Bezug auf diese kulturellen Entwicklungsprozesse ist es Heynes Grundüberlegung, dass die Menschheit langsam und beständig in ihrer Entwicklung fortschreitet und nicht durch spontane Erweckungserlebnisse wie etwa den Kontakt mit anderen Kulturen oder durch göttliches Walten Anschübe erhält – ein Umstand, der seiner Ansicht nach nicht genügend beachtet wird, vor allem wenn man sich mit den literarischen Erzeugnissen der Antike oder überhaupt mit Kultur befasst Kulturausbildung wird damit bei Heyne zu einem stetigen, ungesteuerten und autonomen Prozess Wie Vico ging er davon aus, dass sich Kulturen ebenso wie Individuen in verschiedenen Altersstadien, also Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und so weiter, befinden, sodass sich Menschen schrittweise von einem Zustand tierischer Wildheit über ein rohes Barbarentum hin zu höherer Kultur und Zivilisation entwickeln Der antike Mensch sei dementsprechend auf einer Kindheitsstufe der menschlichen Entwicklung, der „infantia generis humani“,3 der „Kindheit des Menschengeschlechts“,4 zu lokalisieren, ebenso wie andere, vor allem außereuropäische Naturvölker der damaligen Zeit Die antiken Griechen, die die Mythen erfanden, befanden sich demnach für Heyne in einem Übergangsstadium – Sie „waren Wilde und wurden mit der Zeit Barbaren “5 Besonders charakteristisch für die Schriften von Menschen auf dieser Kindheitsstufe sei es, dass sie als Poesie, also gebundene Rede, überliefert sind Daraus leitet Heyne ab, dass „Poesie […] die Sprache des Menschengeschlechts in der Kindheit“6 sei Dieser Fakt müsse seiner Ansicht nach bei der Interpretation dieser ‚kindlichen‘ Literatur stärker einbezogen werden; ansonsten gelange man zwangsläufig zu falschen Urteilen über diese Schriften 7 Er betont außerdem die besondere Wichtigkeit von Musik in primitiven Gesellschaften Er schreibt bereits 1764: „Alle Wilden und Barbaren haben eine gar vorzügliche Neigung für Gesang, Musik und Tanz“ 8 Aus anfangs „rohen Tö-

3 4 5 6 7 8

Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 190; [Heyne]: 84 St In: GGA 1786 S 834 (= Rez zu Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae) [Heyne]: 13 St In: GGA 1786 S 124 (= Rez zu Demogorgon, seu Demiurgus, e disciplina magica repetitus) [Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 778 (= Rez zu De Theogonia ab Hesiodo condita) Ebd Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 108 St In: GGA 1772 S 923 [Heyne]: 116 St In: GGA 1764 S 938 (= Rez zu Nonnulla de efficaci ad disciplinam publicam privatamque vetustissimorum poëtarum doctrina morali) Vgl dazu auch [Heyne]: 84 St In: GGA 1786

6 1 Heynes Charakterisierung des „rohen Menschen“

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nen und Gebärden“ formte sich diese früheste Musik „auch unter den wildesten Völkern, gar bald zu einer Cadence und Melodie“ 9 So waren bereits die frühesten Gattungen von Gedichten […] bey den Griechen in den Versammlungen und bey den Festen gesungen, […] mit Musik, theils auch mit Tanz, und einer mimischen oder dramatischen Nachahmung der Handlung verbunden 10

In dieser infantia generis humani mangelt es den Menschen an den wesentlichen Dingen, die den modernen, durch Zivilisation geprägten Menschen auszeichnen: Er kann nicht auf vorhandenes, schriftlich fixiertes Wissen zurückgreifen, er kann sich selbst und seine Umwelt nicht reflektieren und vor allem kann er seine Gedanken durch eine unzureichende Sprache nicht angemessen ausdrücken Er ist daher vollkommen auf seine Sinne und Empfindungen zurückgeworfen und demnach nicht im Stande, sich von ihnen zu distanzieren oder sie einzuordnen 11 Wie bei kleinen Kindern ist für den homo rudis jede Erfahrung existenziell, traumatisch und zunächst unverständlich, also muss ihm alles furchterregend und monströs erscheinen Verarbeiten kann er dies, indem er sich anderen mitzuteilen versucht Dies scheitert jedoch zwangsläufig an sprachlichem Unvermögen Mythische Vorstellungen und mythisches Sprechen ergeben sich daher unweigerlich aus dem niedrigen kulturellen Entwicklungsstatus, der bei Heyne immer auch mit geringen kognitiven Fähigkeiten verbunden ist, und bilden damit universale Grundkonstanten beginnender kultureller Entwicklung Solche rohen Menschen konnten, so Heyne, nur einen ausgesprochen eingeschränkten Begriff „von dem, was wir Welt, Universum, nennen“12 haben Ihr Aktionsradius und damit auch ihr Erfahrungshorizont waren ungleich kleiner als der eines modernen Menschen Sie drangen nie weiter vor, als „so weit ihre Jäger gelangt waren“,13 also musste die Welt in ihrer Vorstellung auch viel kleiner sein, ja bereits „auf dem nächsten Berge lag der Himmel auf “ 14 Heynes Vorstellungen von menschlicher Kulturentwicklung sind demnach durch ein ausgeprägtes Fortschrittsdenken gekennzeichnet So entwickeln sich Gesellschaften für ihn stets aus einem tiefen Primitivismus hin zu moderner Zivilisation Die antiken Gesellschaften, auch die Griechen, können daher bei Heyne nicht als ein Idealbild kultureller Entwicklung gelten Sie sind bei ihm rohe, ungebildete Barbaren, die ein

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S 836 (= Rez zu Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae): „Nun ist […] die Aeusserung der Freude bey dem rohen und wilden Menschen keine andre, als Tanz und Gesang; hiezu Musik“ [Heyne]: 116 St In: GGA 1764 S 938 (= Rez zu Nonnulla de efficaci ad disciplinam publicam privatamque vetustissimorum poëtarum doctrina morali) Ebd S 939 Vgl Hartlich/Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft S 14 [Heyne]: 51 St In: GGA 1793 S 510 Ebd Ebd

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6 „Der rohe Mensch“

raues, hartes Leben führen, den ersten Primitivismus gerade erst abgelegt haben und langsam die Anfänge von Kunst, Literatur, Wissenschaft und Philosophie hervorbringen – sie passen damit so gar nicht in das verklärte Griechenbild der Klassik 15 Die eigene Gegenwart muss bei Heyne daher umso fortschrittlicher erscheinen Nicht nur das Überleben an sich ist durch technische Innovation um ein Vielfaches erleichtert, auch der Mensch selbst, sein Wissen, seine kognitiven Fähigkeiten und seine Sprache sind ungleich weiter entwickelt als in der Antike, auch wenn sich der menschliche Hang zu Aber- und Wunderglaube noch hin und wieder Bahn brechen mag 16 Der eigentliche Schritt dabei sei die Loslösung oder Befreiung von der alten symbolischen Sprache – so sei es der wahre Fortgang der Aufklärung, wenn immer mehr einfache, in eigentlichster Sprache ausgedrückte, Wahrheiten in Umlauf kommen, und dagegen symbolische, allegorische, bildliche Vorstellungsarten verdrängt werden Diese waren der Kindheit der menschlichen Vernunft angemessen; Erwachsene werfen das Spielzeug weg; oder sie bleiben Kinder 17

Antike Kunst und Literatur können daher für Heyne freilich als ästhetisches Beispiel dienen; die Antike selbst und ihr kultureller Zustand können hingegen nicht erstrebenswert sein 6.2 „Das Menschengeschlecht in seiner Kindheit“: antike und neuzeitliche „Wilde“ – Heyne und die Reise- und Entdeckerliteratur Die Zeit der Aufklärung ist auch eine Zeit der Sehnsucht nach dem Fremden Die neuentdeckte Unendlichkeit der Dinge, die scheinbar nur ihrer Erforschung harren, weckt geradezu das Bedürfnis nach einer Autopsie der Welt: Man will diese mit eigenen 15

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Vgl hingegen Fornaro: I Greci senza lumi S 68 Fornaro erkennt eine „idealizziazione dei Greci“ bei Heyne, da dieser betone, dass sich diese durch die Entwicklung von Kunst und Literatur über andere wilde Völker erheben konnten Heynes Interesse an der griechischen Antike ist jedoch eher aus der guten Quellenlage zu erklären; er schreibt selbst, man sei „von der Bildung der Griechen am beßten unterrichtet“ ([Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2010 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio)) Diese Bildung ist für Heyne „zugleich die Urform der später cultivirten Völker durch die abgeleitete und eigene Literatur geworden“ (ebd ), weshalb „der Gegenstand [= die Erklärung des antiken Mythos] aus ihrer frühen Geschichte und Literatur am beßten in sein Licht gestellt“ (ebd ) werde Die Griechen lebten also in einer rohen und wilden „Urform“ kultureller Entwicklung und nicht in einer idealen oder von Heyne idealisierten Blütezeit So Heyne in seiner Rezension zu einer Preisschrift über Magie Heyne merkt kritisch an, dass „in einem Zeitalter, wo jene Aufklärung weiter gediehen ist, als jemals, diese verderbliche Pflanze nicht nur ihre Wurzeln treibt, sondern auch in neue Aeste ausschlägt“ ([Christian Gottlob Heyne]: 40 St In: GGA 1788 S 395) [Heyne]: 84 St In: GGA 1786 S 839 f (= Rez zu Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae)

6 2 Heyne und die Reise- und Entdeckerliteratur

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Augen sehen, um das Unbekannte und Fremde begreifen zu können Nicht umsonst bricht daher in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhundert die Zeit an, „wo das Reisen zu einer Art Epidemie geworden ist“,18 wie ein ungenannter Verfasser im Teutschen Merkur feststellt Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, „daß bey so häufigen Reisen in unsern bücherreichen Zeiten der Reisebeschreibungen so viele verfertigt werden “19 Diese damals vollkommen neue Popularität der Reiseliteratur wird aber nicht nur subjektiv von den Zeitgenossen wahrgenommen Die große Beliebtheit der Reiseberichte lässt sich auch anhand unterschiedlicher objektiver Zeugnisse belegen: Das Allgemeine Bücherlexikon von Wilhelm Heinsius verzeichnet zwischen 1700 und 1810 unter dem Stichwort ‚Reise‘ und verwandten Begriffen 483 Titel, wovon 388 Werke, also über 80 %, allein zwischen 1780 und 1809 erschienen sind; während sich die gesamte Buchproduktion zwischen 1770 und 1800 ‚nur‘ verdoppelt, verfünffacht sich die Zahl der erscheinenden Reisewerke;20 die Ausleihbücher von Lesegesellschaften zeigen, dass Reiseliteratur von den Mitgliedern am häufigsten rezipiert wurde, und auch Bücherverzeichnisse und Messkataloge spiegeln diesen Trend eindeutig wider 21 Damit sind Werke, die das Reisen thematisieren, nach dem Roman das populärste literarische Genre der Aufklärung!22 Aber nicht nur auf dem Unterhaltungssektor gewinnt die Reiseliteratur in der Aufklärung sprunghaft an Bedeutung; auch und gerade in der Wissenschaft nimmt das Interesse an Beschreibungen ferner Länder zu Nicht umsonst werden also in der Zeit der Aufklärung wichtige Grundsteine für das spätere Entstehen der Volkskunde und Ethnologie gelegt Erfolgt die Gründung der volkskundlichen Wissenschaften als eigenständiges Fach auch erst etwa ein halbes Jahrhundert später, herrscht doch mittlerweile Konsens, dass die Reiseliteratur der Aufklärungszeit

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o V : Ueber das Reisen, und jemand der nach Anticyra reisen sollte In: Teutscher Merkur 4 Quartal (1784) S 151 Ebd S 152 Weitere Zeitgenossen bestätigen die starke Zunahme von Reiseberichten in dieser Zeit So klagt etwa ein anderer anonymer Verfasser im selben Jahr „Ueber die vielen Reisebeschreibungen in unsern Tagen“ in der Berlinischen Monatsschrift, dass „Unwissende und Unstudierte, Menschen ohne Kopf und Sinn und Kenntniß und Beobachtungsgeist, […] Reisebeschreibungen drukken [lassen]“ (o V : Ueber die vielen Reisebeschreibungen in unsern Tagen, Ein Schreiben eines auswärtigen Gelehrten an Herrn Oberkonsistorialrath Gedike In: Berlinische Monatsschrift 4 (1784) S 320) Weniger polemisch, sondern im Gegenteil sehr positiv äußert sich Heynes Schwiegersohn Georg Forster über „den herrschenden Geschmack an Reisebeschreibungen und Abenteuern“ (Georg Forster: Über historische Glaubwürdigkeit, Vorrede zu Benyowskys Memoiren In: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 7 S 37) Vgl Wolfgang Griep: Reiseliteratur im späten 18 Jahrhundert In: Rolf Grimminger (Hg ): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16 Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd 3, Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789 München: 1980 S 739 Vgl ebd Vgl ebd

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als wichtige[s] Medium der Wissenserweiterung im universalistischen Programm zur Welterfahrung in der Aufklärung […] v a die Einflüsse und die Bedeutung der Geographie, der Ethnographie und Ethnologie23

bereits widerspiegelt 24 Auch Heyne hat sich dem allgemeinen Trend, die weite Welt durch Reisebeschreibungen in die eigene Studierstube zu holen, nicht entzogen Unternahm er auch selbst kaum Reisen,25 befasste er sich doch viel mit der kontemporären Reise- und Entdeckerliteratur – hierin sind die Quellen für seine Erkenntnisse über den primitiven Menschen und damit auch über Gesellschaften, in denen Mythen entstehen, zu finden Die Analyse der Rezensionen, die Heyne im Laufe seines Lebens in den GGA veröffentlichte, zeigt, dass er sich seit 1763 – also seit seiner Ankunft in Göttingen und seinem Arbeiten für die GGA – mit mindestens 519 Reiseberichten und ähnlichen Werken auseinandergesetzt hat 26 Wie intensiv sich Heyne mit den rezensierten Reiseberichten befasste, lässt sich heute freilich nicht mehr exakt klären Betrachtet man jedoch seine Rezensionen insgesamt, wird deutlich, dass er die Werke dieses Themengebiets zum Teil sehr gründlich gelesen haben muss, sind doch die Inhaltsangaben 23 24

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Ingeborg Keller-Webermann u a : Einführung in die Volkskunde / Europäische Ethnologie, Eine Wissenschaftsgeschichte Stuttgart/Weimar: 32003 S 13 So taucht in dieser Zeit auch zum ersten Mal der Begriff Volkskunde auf, nämlich 1775 im Vorwort zum Abriß der Geographie des Göttinger Professors für Geschichte Johann Christoph Gatterer, also eines Kollegen Heynes, vgl Helmut Möller: Aus den Anfängen der Volkskunde als Wissenschaft, A, Volkskunde, Statistik, Völkerkunde 1787 In: Zeitschrift für Volkskunde 60 (1964) S 220 Ebenso hat das Wort Ethnologie in Göttingen seine Wurzeln, vgl Hans Fischer: Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin In: Bettina Beer / Hans Fischer (Hg ): Ethnologie, Einführung und Überblick Berlin: 62006 S 16 Heynes Biograph berichtet von zwei Reisen, die Heyne unternahm: 1785 an den Rhein, nach Heidelberg und Mannheim und 1788 in die Schweiz, also im Alter von bereits 56 beziehungsweise 59, jeweils für sechs Wochen, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 346 Das Motiv für diese Reisen war allerdings keineswegs beruflicher Art Im Jahr seiner ersten Reise war Heyne an einem lebensbedrohlichen Nervenfieber erkrankt; er trat sie daher zur Erholung an; und auch 1788 sollte ein Urlaub zur Stärkung seiner angeschlagenen Gesundheit dienen, vgl ebd Diese Reise soll „für ihn äußerst wohlthätig“ (ebd ) gewesen sein, so sehr, dass Heeren vermutet, Heyne „hätte […] ohne sie sein 83stes Jahr nicht erreicht“ (ebd ) Beschreibungen dieser beiden Reiseunternehmungen hat Heyne übrigens nicht veröffentlicht – dies wäre für die damalige Zeit keineswegs außergewöhnlich gewesen Jedoch hat sich Heeren dazu entschlossen, einen längeren Auszug aus dem Tagebuch von Heynes damaliger Ehefrau Georgine über die zweite Reise in seine Biographie aufzunehmen, sodass sich hier dennoch eine recht ausführliche Darstellung dieser Reise erhalten hat, vgl ebd S 346–376 In die Gruppe der Reisebeschreibungen wurden bei der Analyse der Rezensionen Heynes alle Werke aufgenommen, die das Reisen thematisieren beziehungsweise auf Reisen basieren, also authentische und (partiell) fiktive Reiseberichte, sogenannte Erdbeschreibungen, d h geographische und ethnographische Werke (auch Landkarten), sowie Reiseempfehlungen und -anregungen, wie etwa die damals populären Voyages pittoresques, die am ehesten modernen Bildbänden entsprechen, da sie zumeist Kupferstiche von besonders sehenswerten Landschaften, Gebäuden und Orten mit dazugehörigen Erläuterungen enthielten

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und Kritiken mitunter durchaus ausführlich 27 Aber selbst wenn man relativierend in Betracht zieht, dass Heyne einige Reiseberichte vielleicht nur überflogen haben mag,28 hat die Analyse der Rezensionen dennoch zweifelsfrei gezeigt: Wenn man davon ausgeht, dass Heyne die Schriften, die er rezensierte, interessengeleitet wählte,29 so belegt

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Als besonders umfangreiche Rezensionen wären hier zum Beispiel die Beschreibung der Reise von Constantin François Volney nach Syrien und Ägypten aus dem Jahr 1787 oder die Voyage à l’Ouest des monts Ailéghanys dans les Etats de l’Ohio, du Kentucky et du Tennessée et retour à Charleston par les Hautes-Carolines von André Michaux zu nennen, vgl [Heyne]: 96 St In: GGA 1787 S 953–960; 53 St In: GGA 1805 S 521–528 Besonderen Eindruck musste auch James Bruces Reisebericht Travels to discover the Source of the Nile in Egypt, Arabia and Nubia gemacht haben, ein monumentales, beinahe 3000 Seiten starkes Werk, dass der Schotte Bruce als Bericht über seine Forschungsreise zu den Nilquellen (1768–1773) 1790 veröffentlichte Nicht nur dass Heyne dieses Werk mit insgesamt 36 Seiten ausgesprochen ausführlich rezensierte, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 101 St In: GGA 1790 S 1009–1013; 105 St In: GGA 1790 S 1049–1056; 116 St In: GGA 1790 S 1161–1167; 119 St In: GGA 1790 S 1193–1200; 120 St In: GGA 1790 S 1201–1208, auch dass er ihm die Einladungsschrift Iacobi Bruce, clari per Abessiniam peregrinatoris, de primarum aetatum commerciis et nauigationibus in Indiam narratio proposita et excussa zum Prorektoratswechsel im Juli 1780 widmete, belegt sein großes Interesse an Bruces Reisebericht – es handelt sich hierbei um die einzige Programmschrift, in der Heyne ein zeitgenössisches Werk thematisiert, vgl Christian Gottlob Heyne: Iacobi Bruce, clari per Abessiniam peregrinatoris, de primarum aetatum commerciis et nauigationibus in Indiam narratio proposita et excussa In: Opuscula academica, Bd 4 S 194–210 und die dazugehörige Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 128 St In: GGA 1790 S 1281–1285 (beim Vornamen des Autors unterlief Heyne offensichtlich ein Fehler: Im Fließtext und Titel nennt er stets den Vornamen Jacob, gibt jedoch auch den korrekten Namen James in einer Anmerkung an, vgl Heyne: Iacobi Bruce, clari per Abessiniam peregrinatoris, de primarum aetatum commerciis et nauigationibus in Indiam narratio proposita et excussa S 196) Heyne interessierte sich jedoch nicht für die ethnographischen Teile des Buchs, sondern hebt vor allem althistorische Aspekte hervor Er berichtet in seiner Programmschrift ausführlich von Bruces These, dass das östliche Afrika im Gebiet des heutigen Äthiopiens und Eritreas nach der Sintflut durch das Volk der Kuschiten, die Nachfahren von Hams ältestem Sohn Kusch, besiedelt worden sei Diese sollen zunächst in Höhlen gewohnt haben, verbreiteten sich dann aber immer weiter entlang der Küste nach Norden und Süden bis nach Theben und ins heutige Mosambik Die Kuschiten machten schnell kulturelle Fortschritte, erfanden Schrift und Mathematik und fertigten Kunstwerke an Ein nomadisches Hirtenvolk, die Nachfahren Puts, handelten die Waren der Kuschiten nach Indien, zunächst auf dem Land, später auf dem Seeweg von Ostafrika aus, vgl James Bruce of Kinnaird: Travels to discover the Source of the Nile in the Years 1768–1773, Bd 2 Dublin: 1791 17–47 An Bruces These kritisiert Heyne, dass sie zu spekulativ sei und zu wenig durch Quellen gestützt werde Sie liefere aber immerhin „ein Beispiel, daß Neger durch Cultur sehr gesittete Menschen werden können“ ([Heyne]: 128 St In: GGA 1790 S 1285) Lediglich mit Titel und Autor werden etwa genannt: Johann Peter Willebrandts Freundschaftliche Nachrichten von einer Carlsbader Brunnenreise, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 39 St In: Zugabe zu den GGA 1780 S 624, Johann Jacob Volkmanns Neueste Reisen durch Frankreich, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 92 St In: GGA 1787 S 928, oder George Keates An Account of Pelew Islands, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 136 St In: GGA 1789 S 1368 Dies ist keineswegs unwahrscheinlich, war doch Heyne seit 1770 als Sekretär der GGA für die Koordination der Zeitschrift verantwortlich Ohnehin schien es üblich gewesen zu sein, dass die Mitarbeiter der GGA die von ihnen rezensierten Werke selbst wählten So schreibt Heeren über Heyne: „Als Mitarbeiter [der GGA] umfaßte Heyne zunächst sein Fach […] Bloße Abdrücke, und […] Uebersetzungen, überging er mit Stillschweigen […] Aber bloß auf sein Fach beschränken konnte er sich nicht immer Oft erforderten die Umstände die Anzeige eines Werkes, die er

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die damalige Reiseliteratur mit einem Anteil von etwa 8 % aller Rezensionen Heynes nach Werken der Klassischen Philologie (28 %) und Archäologie (10 %) den dritten Platz seiner Interessengebiete 30 Das Spektrum der Reiseliteratur, für die sich Heyne interessierte, war durchaus breit angelegt Er befasste sich sowohl mit authentischen als auch mit fiktionalen Reiseberichten wie etwa Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien von Sterne31 oder Franz Sternbalds Wanderungen von Tieck 32 Allerdings ist eine klare Abgrenzung zwischen fiktiven und ‚wahren‘ Reiseberichten ohnehin kaum möglich, da „in jede Reisebeschreibung, die nicht nur statistisch-objektiv sein will, Fiktion, zumindest aber Phantasie“33 einfließt, wodurch letztendlich jeder einzelne Reisebericht zum Grenzfall wird, wenn es sich nicht gerade um eine Ansammlung unkommentierter Fakten und Statistiken oder um einen Reiseroman wie Yoricks empfindsame Reise handelt 34 Schließlich geht es bei Reiseberichten zwangsläufig um Darstellungen sub-

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von Andern nicht so bald hätte erwarten dürfen In solchen Fällen übernahm er sie wohl selbst Aber doch nur in Fächern, die an das Seine grenzten: Geschichte, Reisebeschreibungen u dgl , worin er sich eine Stimme zutrauen durfte“ (Heeren: Christian Gottlob Heyne S 264 f ) Da die Gruppe der Mitteilungen mit einem Anteil von 8,6 % nicht auf Literatur basieren und Werke der Gruppen Zeitschriften, Vermischtes und neuere Philologie/Unterhaltungsliteratur mit 9 %, 12 % und 9 % keinen spezifischen wissenschaftlichen Themengebieten zuzuordnen sind, können sie die Reiseliteratur nicht auf den vierten Platz verdrängen Heyne teilt knapp sowohl das Erscheinen einer englischen Ausgabe 1792 in Basel, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 159 St In: GGA 1792 S 1592, als auch einer deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1802 mit, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 180 St In: GGA 1802 S 1799 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 134 St In: GGA 1799 S 1334–1336 Auch wenn Heyne in den GGA kaum Werke der Belletristik rezensierte, widmete er doch diesem Roman eine vergleichsweise hohe Ausführlichkeit Er gibt den Inhalt in groben Zügen wieder und bekennt am Ende der Rezension, dass zwar „den Rec […] mehr die Kunst, mahlerische Situationen, Aussichten, Kunst-Ideen, herbey zu ziehen, auf das Gefühl zu wirken, an sich [zog]“ (ebd , S 1335), allerdings spielte auch das Thema des Reisens an sich eine große Rolle bei Heynes Lektüre, da ihm „auch wohl die Gewandtheit, streitige Sätze u Meinungen in ihr volles Licht zu setzen, z B was sich für und wider die Reisen eines Mahlers nach Italien sahen läßt“ (ebd ), positiv auffielen Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt, Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung Frankfurt a M : 1980 S 12 Die beiden Kategorien fiktiv und authentisch werden im besonderen Fall der Reiseliteratur spätestens dann hinfällig, wenn man bedenkt, dass dieses literarische Genre nicht unbedingt anhand seiner Oberflächenstruktur in diese beiden Kategorien geschieden werden muss, sondern auch, wie Harro Segeberg zeigt, ganzheitlich als Literatur des Reisens zwischen den beiden Polen fiktional und authentisch betrachtet werden kann Aus dieser Perspektive gesehen liegen allen Werken dieser freilich heterogenen Gattung doch in ihrer Tiefenstruktur zwischen beiden Extremen auf Seiten des Autors wie auch des Lesers gleiche oder zumindest ähnliche Erfahrungs- und Weltaneignungsmuster zugrunde, vgl Harro Segeberg: Die literarisierte Reise im späten 18 Jahrhundert, Ein Beitrag zur Gattungstypologie In: Wolfgang Griep / Hans-Wolf Jäger (Hg ): Reise und soziale Realität am Ende des 18 Jahrhunderts Heidelberg: 1983 (= Neue Bremer Beiträge, Bd 1) S 14–31; insbes S 24 Für diese revidierte Gattungstypologie führt Segeberg in seinem Aufsatz folgende Argumente ins Feld: Erstens handele es sich bei Texten der Reiseliteratur im späten 18 Jahrhundert erstmals um mitgeteilte Produkte von individueller explorativer Realitätswahrnehmung, vgl ebd S 15–21 Die „realitätsaneignende Funktion“ (ebd S 21 ) des Reisens wird zum Motiv des Rei-

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jektiver Erlebnisse, die öffentlich gemacht werden, mithin auch des erlebenden Ichs Bewusste und unbewusste Einflussnahme auf diese Selbstdarstellungen durch den Autor, als eine Fiktionalisierung der eigenen Erlebnisse und des eigenen Selbst, ist der Gattung der Reiseliteratur folglich inhärent Die Unterscheidung zwischen ‚wahr‘ und ‚erfunden‘ wird damit hinfällig, da es sich jeglicher Überprüfbarkeit entziehen muss, in welchem Grad das wahrnehmende Subjekt im jeweiligen Reisebericht fiktiv oder authentisch ist Von diesem Problem abgesehen, kam es Heyne doch bei seiner Beschäftigung mit Reisebeschreibungen vor allem auf den Mehrwert an, den diese für seine Forschungen zur antiken Gesellschaft und Mythologie haben konnten Diesen Mehrwert sah er vor allem in solchen Reiseberichten, die Schilderungen über eingeborene Bevölkerung, die ‚Wilden‘, auf anderen Kontinenten enthielten Eine wichtige Hypothese Heynes war nämlich, dass es deutliche Parallelen zwischen der Lebensweise damaliger indigener Gesellschaften beispielsweise in Amerika und Afrika und der Lebensweise der antiken europäischen Bevölkerung gebe, da in beiden Fällen gewisse Grundeigenschaften des Menschen wie zum Beispiel das Anständige, das [der] Enthusiasmus der Dankbarkeit hat, […] in der menschlichen Natur, und dessen vorzüglichmerkliche Aeusserungen in rohen und von den Uebeln der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht verdorbenen Gemüthern35

nicht durch eine moderne Lebensweise überformt seien, wovon die ehemaligen Vergötterungen von Helden, Gesetzgebern, Erfindern und Wohlthätern des menschlichen Geschlechts bekannte Beyspiele sind, viele andere aber von ähnlicher Art in neuen Reisebeschreibern angeführet werden 36

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sens als Ausgangspunkt der Reiseliteratur Zweitens könne sich dieser subjektive Erkenntnisprozess nur in ebenso subjektiven Berichten manifestieren Dementsprechend finde eine solche Literatur des Reisens „nicht in einer systematisch-beschreibenden, sondern in einer poetischen Prosa ihr kongeniales Darstellungsmittel“ (ebd S 26) Drittens wolle der Reiseschriftsteller „den Eindruck erwecken, der Leser, der zuhause blieb, sei selber entdeckend unterwegs gewesen“ (ebd ), weshalb er gewisse Fiktionalisierungsstrategien, wie eine aufgelockerte, ungezwungene Briefform, vertrauliche Leseranreden, oder real existierende Briefpartner anwende Ohnehin sei der Reisebericht „die literarische Verdichtung [einer] von Anfang an fiktiven Kommunikationssituation“ (ebd S 27 f ), da sich der Reisende schon „beim Wahrnehmen und Reflektieren […] eine fiktive Gesprächssituation vorzustellen [versucht]“ (ebd S 27) Schlussendlich stelle sich aufgrund der starken Perspektiviertheit der Reisebeschreibung auch die Frage nicht mehr, inwiefern Realitätsbezüge fingiert sind, da von Anfang an transparent ist, dass nur individuelle Wahrnehmung, die sich naturgegeben nicht überprüfen lässt, mitgeteilt wird, und der Reisebericht daher im Zweifelsfall gar keinen Wahrheitsanspruch erheben kann, auch wenn innerhalb des Genres sehr oft das Gegenteil behauptet werden mag, vgl ebd S 28–31 [Heyne] 118 St In: GGA 1764 S 953 Ebd S 953 f

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Es scheint ihm nicht plausibel zu sein, dass „die ersten Wilden von der alten Welt, unter einerley Himmelsstriche, so gar verschieden von denen in der neuen Welt gewesen seyn [sollen]“ 37 Heyne weist hier explizit darauf hin, dass die Lebensweise der damals neu entdeckten Ureinwohner und die der antiken europäischen Bevölkerung, die jeweils nomadisch oder erst seit kurzem von einer primitiven Landwirtschaft und noch nicht in ständisch gegliederten Gesellschaften, sondern isoliert voneinander in Stammesgesellschaften lebten, die in beiden Fällen noch keine hochkulturellen Errungenschaften wie etwa Geldwesen, eine Spezialisierung auf unterschiedliche Berufe und vor allem noch keine Schrift entwickelt haben, durchaus miteinander vergleichbar und sogar sehr ähnlich sei So könnten „Trägheit, Unempfindlichkeit, Kälte in der Liebe […] wohl dem wilden, wie dem sklavischen Zustande der Menschheit überhaupt eigen sein “38 Solcherlei Äußerungen muten aus heutiger Sicht freilich stark rassistisch und kulturchauvinistisch an, waren in Heynes Zeit aber keineswegs anstößig oder negativ bewertet Sie spiegeln vielmehr Heynes Theorie der beständigen Fortentwicklung der Menschheit vom Rohen, Unkultivierten, Unmoralischen hin zum Vernünftigen, Kultivierten, Gesitteten wider Er folgert aus dieser Annahme, dass primitive Gesellschaften, ganz gleich in welcher Zeit sie auch lebten, ähnliche religiöse Denkmuster und Religionssysteme besessen haben müssen Folglich verweist Heyne in seinen Rezensionen oft besonders auf Passagen, in denen die Religion der eingeborenen Bevölkerung beschrieben wird 39 Eine besonders wichtige Reisebeschreibung für Heyne stellt William Robertsons The History of America dar, die er 1777 ausführlich rezensierte.40 Robertson verknüpft hier historische, geographische und ethnologische Aspekte miteinander; er behandelt Entdeckungsfahrten seit der Antike als Einleitung zur Entdeckung des Kontinents und die Entdeckung selbst, beschreibt die Sklaverei auf dem neuen Kontinent, die geographischen Besonderheiten und stellt Mutmaßungen über die Erstbesiedlung aus Nordasien an, was Heyne, wie er schreibt, „in einem historischen Werke nicht erwar-

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[Heyne]: 120 St In: GGA 1771 S 1036 Ebd So zum Beispiel in seiner Rezension über Edward Bancrofts Schrift An Essay on the natural History of Guiana in South America, in several Letters von 1769, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 84 St In: GGA 1769 S 754–757, insbes S 755 f , über Jakob Begerts Nachrichten von der Amerikanischen Halbinsel Californien von 1772, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 148 St In: GGA 1772 S 1255–1260, insbes S 1259, oder über Louis de Grandprés Voyage à la Côte occidentale d’Afrique fait dans les années 1786 et 1787 contenant la description des Etats du Congo von 1801, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 187 St In: GGA 1801 S 1858–1864, insbes S 1860 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 42 St In: Zugabe zu den GGA 1777 S 657–667; 44 St In: Zugabe zu den GGA 1777 S 689–699 Zu Heynes Rezeption von Robert Woods The History of America vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 443–445; Fornaro: I Greci senza lumi S 154–156

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tet“41 hätte Das, wie Heyne findet, „wichtigste Hauptstück“42 besteht jedoch in einer umfassenden ethnographischen Beschreibung der Ureinwohnerschaft, insbesondere auch ihrer religiösen Vorstellungen Robertsons Leistung besteht hier in einer methodischen Neuerung: Er betont, dass sich die Beurteilung fremder Völker in erster Linie aus der Perspektive ihrer Beobachter ergibt So erschienen die amerikanischen Ureinwohner aus Sicht der spanischen Eroberer als eine Masse primitiver Heiden Weil die Ureinwohner Nordamerikas aber nicht in einer großen organisierten Gesellschaft leben, sondern in kleinen Verbänden, plädiert Robertson dafür, sie nicht als geschlossene Gesellschaft, sondern als unabhängige Einzelindividuen zu betrachten 43 In Bezug auf die Glaubensvorstellungen weist Robertson genau wie Heyne darauf hin, dass die Menschen auf so einer niedrigen kulturellen Entwicklungsstufe wie die Ureinwohner Nordamerikas nicht zu tiefgreifender Kontemplation, abstrakten Gedanken und logischen Schlussfolgerungen fähig seien Eine Christianisierung sei daher nicht möglich, weil das Christentum mit seiner Gottesvorstellung abstraktes Denken voraussetze Junge Religionen müssten daher immer vom Konkreten ausgehen und sich in konkreten Handlungen niederschlagen Diese Gedanken Robertsons hebt auch Heyne in seiner Rezension hervor Er schreibt hierzu: R [obertson] setzt zwei Grundlehren: das Daseyn der Gottheit und die Unsterblichkeit der Seele, auf welche sich das ganze System der natürlichen Religion gründe Der ganz unthätige und unempfindliche Mensch denkt an keines von beyden Einen Schritt weiter vorwärts in der Cultur, merkt er auf ungewöhnliche Erscheinungen in der Natur und auf Uebel des Lebens; diese schreibt er höheren Wesen zu Nun sind Manitus und Okkis; und überhaupt schädliche Gottheiten zuerst 44

Heyne bewertet Robertsons Buch als außerordentlich gelungen und „so beschaffen, daß es mit einer allgemeinen Begierde gelesen werden muß“ 45 Besonders lobt er dessen Objektivität und Sachlichkeit, seine „Entfernung von aller der Hypothesensucht, von allem Kitzel durch Paradoxe, Antithesen und unhistorische Witzeley zu glänzen“46 und in Bezug auf seine ethnographischen Beschreibungen seine „prüfenden, unpartheyischen und von glänzenden Hypothesen entfernten gesunden Urtheile“ 47 Auch dass in Heynes zwei Jahre später erschienener Programmschrift Vita antiquissimorum hominum, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata zahlreiche Gedanken Robertsons auftauchen,48 zeigt den großen Einfluss, den Robertson auf Heyne ausübte 41 42 43 44 45 46 47 48

[Christian Gottlob Heyne]: 42 St In: GGA 1777 S 662 Ebd Vgl Fornaro: I Greci senza lumi S 155 [Heyne]: 42 St In: GGA 1777 S 664 Ebd S 658 Ebd S 658 Ebd S 663 S u S 184

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Neben den Ureinwohnern Nordamerikas interessierte sich Heyne auch für die südamerikanischen Stämme So unterzog er 1784 und 1785 Martin Dobrizhoffers Historia de Abiponibus Paraquariae einer ausgesprochen ausführlichen Rezension 49 Dobrizhoffer hatte fast 20 Jahre (1748–1768) als Jesuitenmissionar in Südamerika, hauptsächlich im heutigen Paraguay, zugebracht und veröffentlichte 1783/178450 eine ausführliche Beschreibung des Landes und seiner Einwohner Er bespricht darin die geographischen, zoologischen, botanischen, politischen, ökonomischen, historischen und ethnischen Besonderheiten Paraguays51 und „erfüllt in seiner systematischen Wissensausbreitung alle wichtigen Ansprüche der frühen Ethnographie“ 52 Heyne befürchtet, dass „man die freye unpartheyische Nachricht von einem von dort entlaßnen Exjesuiten wohl auch nicht leicht erwarten“53 könne, hält aber das meiste des Berichts für authentisch,54 auch wenn es freilich maßgeblich durch Dobrizhoffers christliche Perspektive bestimmt ist Besonders interessant für Heyne sind dessen Beschreibungen der Ureinwohner Paraguays, der Abiponer, da sie sich noch in einem sehr ursprünglichen kulturellen Status befinden; sie seien, so Heyne, „schon eher Barbaren zu nennen“ 55 Vor allem hebt er Dobrizhoffers Ausführungen zu den religiösen Vorstellungen der Abiponer hervor: Der gute Pater […] ward […] überzeugt, daß die Abiponer so wenig, als so viele andre Völker, jemals daran gedacht hatten ob ein Gott wäre; sie hatten durchaus kein Wort dafür […] Aber, fragte der Pater einen Caziken, bey einem schönen gestirnten Himmel, haben eure Vorfahren nicht einmal daran gedacht, daß doch ein Urheber von dem allen muß gewesen seyn? Mein Pater, antwortete der Cazike, einer ihrer verständigsten Leute, unsre Vorfahren pflegten sich nur unten auf der Erde umzusehen, wo Gras und Wasser für ihre Pferde anzutreffen wäre: was am Himmel vorging, war keine Sorge für sie […] dennoch kennen die Abiponer einen bösen Geist, und nennen ihn ihren Grosvater (Da die A die

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Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 182 St In: GGA 1784 S 1817–1822; 4 St In: GGA 1785 S 25–37; 40 St In: GGA 1785 S 392–399 Das Werk erschien etwa zeitgleich in lateinischer Sprache und deutscher Übersetzung Heyne lag nur die lateinische Version vor, er hatte aber von der deutschen Kenntnis, vgl [Heyne]: 4 St In: GGA 1785 S 25 Umfassend zu Dobrizhoffer Beschreibung Paraguays vgl Angelika Kitzmantel: Die Jesuitenmissionare Martin Dobrizhoffer und Florian Paucke und ihre Beiträge zur Ethnographie des Gran Chaco im 18 Jahrhundert Diss München: 2004 Ebd S 335 [Heyne]: 182 St In: GGA 1784 S 1818 Dobrizhoffer schreibt selbst in seiner Vorrede, dass er sich um größtmögliche Objektivität bemühe, da er sich „vielmals ärgerte […] über die Schmierereyen, welche dem Leser die ungereimtesten Märchen von Amerika für Geschichte, Erdichtungen für Thatsachen, Meinungen, Muthmassungen, und […] Träume für Wahrheit aufdringen“ (Martin Dobrizhoffer: Vorrede an den Leser In: Geschichte der Abiponer, einer berittenen und kriegerischen Nation in Paraguay, Bereichert mit einer Menge Beobachtungen über die wilden Völkerschaften, Städte, Flüsse, vierfüßigen Thiere, Amphibien, Insekten, merkwürdigen Schlangen, Fische, Vögel, Bäume, Pflanzen und andere Eigenschaften dieser Provinz, Übers v A Kreil, Bd 1 Wien: 1783 o S ) [Heyne]: 4 St In: GGA 1785 S 26

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Fortdauer der abgeschiedenen Seelen, ohne sich um das Wie? zu bekümmern, glauben, so ist nichts natürlicher, als daß der Geist ihres Stammvaters noch gefürchtet wird) 56

Die beschriebene Verehrung dieses Ahnengeistes bezeichnet Heyne jedoch als sonderbar: sie verehren das Siebengestirn: es sey das Bild ihres Grosvaters […] Die Verehrung bestehet aber in keiner Anbetung, sondern in einem Freudenfest im Mai beym Aufgang des Gestirns, und so ändert sich der ganze Begriff 57

Auch die Religionen der benachbarten Stämme beschreibt Dobrizhoffer grob, was Heyne ebenfalls in seiner Rezension wiedergibt: Den Glauben der Abiponer haben die benachbarten Völker auch; aber die südlichen haben eine Menge Geister, mit einem Oberhaupt El El Die Molucher verdanken alles der Sonne Die Patagonen sagen, statt Gott, Soychu, das unsichtbare Ding, und die Verstorbenen nennen sie daher Soychubet, (und dabey denken sie sich sicherlich nichts Metaphysisches) 58

Heyne geht in seiner Rezension davon aus, dass diese Beschreibungen vergleichsweise objektiv und authentisch sind Er räumt ein, nichts sei „schwerer, als wenn ein Europäer sich ganz in die Denkart eines Wilden hineindenken soll“59 und lobt besonders, dass es Dobrizhoffer schafft, christliche Dogmatik hier auszublenden und einzugestehen, „daß der Teufel mit allen den Zaubereyen nichts zu schaffen habe“ 60 „Diese Aufklärung“ rechnet Heyne ihm explizit „hoch an“ 61 Er sieht in Dobrizhoffers Historia de Abiponibus also ein ethnographisches Werk, das in diesem Bereich62 durchaus wissenschaftliche Ansprüche erfüllt, obwohl es von einem missionierenden Jesuiten verfasst wurde Neben den Beschreibungen finden sich in den Kapiteln über die Religion der Abiponer bei Dobrizhoffer auch komparatistische Elemente So verweist er auf die Ähnlichkeiten zwischen der Religion der Abiponer und antiken Religionen63 und schreibt

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Ebd S 28 f Im Original vgl Martin Dobrizhoffer: Historia de Abiponibus, equestri, bellicosaeque Paraquariae natione, locupletata copiosis barbarorum gentium, urbium, fluminum, ferarum, amphibiorum, insectorum, serpentium praecipuorum, piscium, avium, arborum, plantarum, aliarumque eiusdem provinciae proprietatum observationibus, Bd 2 Wien: 1784 S 70–72 [Heyne]: 4 St In: GGA 1785 S 29 Ebd Ebd Ebd Ebd Im physischen Teil des Werks sei hingegen „alles ohne wissenschaftliche Naturkunde“ ([Heyne]: 182 St In: GGA 1784 S 1821), im historischen sei Dobrizhoffer „ein wenig weitschweifig“ ([Heyne]: 40 St In: GGA 1785 S 392) Vgl zum Beispiel Dobrizhoffer: Historia de Abiponibus S 97–99 Dobrizhoffer weist hier darauf hin, dass die Ahnenverehrung der Abiponer im Prinzip nichts Anderes darstellten als die religiösen Praktiken im antiken Ägypten, Griechenland, Rom und Babylonien

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diese dem jeweils niedrigen kulturellen Entwicklungsstand zu: „Ast quis miretur, bestias à bestiis, stipites à stupidis coli?“64 In den von Dobrizhoffer beschriebenen religiösen Vorstellungen und Riten muss Heyne also nicht nur seine eigenen Ausführungen zu den Prinzipien junger Religionen wiedererkannt haben – sicherlich fand er seine Thesen über die Schlichtheit der Gottesvorstellungen und die Sinnlichkeit, die die entsprechenden Riten aufweisen, hier bestätigt – auch die Parallelen zwischen den Religionen kulturell wenig entwickelter Gesellschaften muss er bei Dobrizhoffer angedeutet gesehen haben, ähnlich wie er es fünf Jahre zuvor in seiner Doppelprogrammschrift De vita antiquissimorum hominum vorgeführt hatte Der Unterschied zwischen Heyne und Dobrizhoffer besteht jedoch darin, dass letzterer auf einer beschreibenden Ebene bleibt, Heyne jedoch aus der Feststellung der Ähnlichkeit Prinzipien der Religionsgenese deduziert Heyne befasste sich mit Vergleichen zwischen antiken und neuzeitlichen primitiven Gesellschaften wie die von Dobrizhoffer jedoch nicht nur rezeptiv und in seinen Rezensionen In der Vorrede zur dritten Auflage seiner Ausgabe der Bibliothek Apollodors schreibt er, dass er sich in all den Jahren der Beschäftigung mit antiker Mythologie immer wieder mit Reiseberichten, die die Lebensweise und die Sitten fremder Völker beinhalten, auseinandergesetzt habe, um über die Grenzen seines Fachgebietes hinauszukommen Auf diese Weise habe er das Denken, Fühlen und Sprechen dieser rohen und barbarischen Menschen begriffen und sie mit den antiken Europäern, die sich in einem ganz ähnlichen kulturellen Zustand befanden, verglichen 65 Auf Basis dieser Erkenntnisse verfasste er einen Text, der die Parallelen zwischen der antiken Bevölkerung Europas und der damals noch existierenden Ureinwohnerschaft außerhalb Europas sowie den Erkenntnisgewinn, der sich daraus ziehen lässt, zum Thema macht: den zweiteiligen Aufsatz Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, den er im Juli und September 1779 anlässlich des Prorektoratswechsels und des Universitätsjubiläums schrieb Darin rühmt Heyne zunächst wortreich die Verdienste derer, die in ferne Gegenden gereist sind und nun in ihren Berichten das Wissen über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und dadurch ein riesiges Forschungs- und Wissensgebiet eröffnet, das menschliche Denken von einer Unzahl tiefsitzender Irrtümer und Vorurteile befreit und die bisher engen Grenzen der Philosophie um eine ganze Dimension erweitert haben 66 64 65 66

Ebd S 98 Vgl Christian Gottlob Heyne: Praefatio In: ders (Hg ): Apollodori Atheniensis bibliothecae libri tres et fragmenta Göttingen: 21803 S VIII f Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 1–3 Der breit ausgeführte Dank an die Reisebeschreiber hat hier bei Heyne ausnahmsweise auch eine religiöse Dimension Er schreibt, dass nun endlich erkannt worden sei, dass nicht nur die physische Gestalt der Welt und der Tiere mitsamt ihrer scheinbar endlosen Mannigfaltigkeit von Gott erschaffen und gewollt sei, sondern auch die

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Doch ließe sich aus den Reisebeschreibungen auch allerhand für die Altertumswissenschaft ableiten, nämlich insofern, als sich viele Gemeinsamkeiten zwischen der Lebensweise der Urbevölkerung des antiken Griechenlands und des damaligen Amerikas ausmachen ließen 67 Zwar seien solche Vergleiche bereits von einigen Gelehrten angestellt worden,68 doch sei dabei „[h]istorische Kritik […] das, was man am meisten vermißt“ 69 Es sei dabei jeder bisher von seiner „Lieblingsmeynung“70 ausgegangen, habe sich also voreingenommen und subjektiv diesem Thema genähert Heyne hingegen will in seinem Aufsatz einen neutralen und sachlichen Blick auf die Naturvölker und antiken Griechen werfen und auf diese Weise erarbeiten, „wie viel oder wie wenig aus dem, was man wirklich in Händen, nicht in der blossen Vorstellung, hat, herauskömmt “71 Unterschiede zwischen den Kulturen, schreibt er, gebe es freilich endlos; vor allem variieren die spezifischen Lebensbedingungen nach den physischen Gegebenheiten der jeweils bewohnten Gebiete Jedoch mehren sich diese Unterschiede zwischen Gesellschaften hinsichtlich Ernährungsweise, Kleidung und Handwerk, je weiter eine Kultur vorangeschritten ist 72 Folglich müssen Gesellschaften, die sich noch am Beginn ihrer kulturellen Entwicklung befinden, untereinander sehr ähnlich sein Ein direkter Vergleich liegt daher nahe Doch seien die Differenzen hinsichtlich Ernährung und Handwerk immerhin durch gewisse Umweltbedingungen erklärbar, da sie auf den Ressourcen basieren, die den Kulturen zur Verfügung stehen Unterschiede im sozialen Bereich, schreibt Heyne weiter, scheinen jedoch vollkommen willkührlich und vom Zufall bestimmt zu sein Wie in einer Gesellschaft Familienleben, Erziehung und politische Strukturen organisiert und welche religiösen Überzeugungen verbreitet sind, entzieht sich einer offensichtlichen Kausalität, da sie nicht aus den natürlichen Ressourcen ableitbar sind; doch ist Heyne überzeugt, dass es für solche Ausdifferen-

67 68

69 70 71 72

Unterschiede menschlicher Eigenschaften, Sitten und Lebensweisen und folglich keine Gruppe oder Kultur eine besondere Liebe oder Bevorzugung durch Gott für sich geltend machen könne Daher gehe mit dieser Erkenntnis ein besseres und richtigeres Verständnis von Gott einher Heyne unterlässt solche stark ins Religiöse einschlagenden Äußerungen in der Regel in seinen Texten Er bleibt ansonsten eher sachlich auf seinen Untersuchungsgegenstand fixiert Es scheint ihm hier jedoch geboten zu sein, einer allgemeinen Erhöhung der Europäer über fremde Völker durch eine vermeintlich besondere qua rechten Glaubens legitimierte Gottesliebe entgegenzulenken Vgl ebd S 3 Vgl [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 801 Heyne erwähnt dies in der Rezension zum ersten Teil des Doppelaufsatzes Leider geht er jedoch nicht genauer darauf ein, wann und von wem solche Vergleiche ebenfalls vorgenommen wurden Möglicherweise spielt er hier auf Joseph-François Lafitaus Schrift Moeurs des sauvages américains comparés aux moeurs des premiers temps von 1724 an Ebd S 801 f Ebd S 802 Ebd Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 5

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zierungen im Sozialleben Ursachen geben müsse, auch wenn diese nicht offen zutage liegen 73 Einer der wichtigsten Gründe für diese Unterschiede, insbesondere in Bezug auf die Religion, ist seiner Auffassung nach die Lebensform einer Gesellschaft; daher weisen alle Jäger und Sammler, alle Nomaden, alle Menschen, die in Stämmen leben, alle Dorfbewohner und alle Menschen, die in Staaten leben, überall auf der Welt und zu jeder Zeit jeweils gewisse Ähnlichkeiten bezüglich ihrer sozialen Institutionen auf Dabei seien die kausalen Zusammenhänge jedoch so vielschichtig und komplex, dass eine genaue und globale Ursachenerforschung ausgesprochen schwierig ist, weshalb sich Heyne hier auf den konkreten Vergleich zwischen den Bewohnern des antiken Griechenlands und der Urbevölkerung Nordamerikas beschränken will 74 Dieser Vergleich ist möglich, weil nun durch Beobachtungen fremder Völker Erkenntnisse über die Grundtendenzen menschlichen Zusammenlebens, kultureller Entwicklung und menschlichen Denkens gewonnen wurden und „die Ursachen oft an mehrern Orten, in mehrern Zeiten, unter ähnlichen Umständen, zusammentreffen“,75 woraus Heyne folgert: „also lassen sich auch Griechen und Amerikaner vergleichen “76 Zunächst konzentriert sich Heyne auf den Bereich der Religion, insbesondere auf das erste Entstehen von Riten, und stellt fest, dass allen „populi […] siluestri ac belluina vita efferati“77 gemeinsam sei, dass sie an „naturae humana maiores“,78 Wesen mit Fähigkeiten, die die des Menschen übertreffen, glauben 79 Doch dürfe man nicht davon ausgehen, dass diese wilden Menschen durch Nachdenken über Ursachen und Wirkungen auf den Gedanken an solche übernatürlichen Wesen gekommen seien – dies wäre angesichts des noch rohen Verstandes viel zu subtil – vielmehr sei alles, was ihnen Angst oder Erstaunen einflößte, ein Anlass für religiöse Verehrung oder Furchtsamkeit gewesen, wobei bedacht werden müsse, dass diese Menschen angesichts der großen Unwissenheit auf dieser niedrigen Stufe menschlicher Entwicklung durch viel mehr Dinge in solche emotionalen Ausnahmezustände versetzt werden können als vorangeschrittenere Kulturen 80 Nicht die Betrachtung der Natur oder des Himmels führt diese wilden Menschen also zu der Einsicht, dass es einen Gott geben müsse, der all dies erschaffen hat; bei ihm sind „Ursache und Wirkung kein Gedanke“!81 Das Neue und Ungewöhnliche, vor allem das Schreckliche und Bedrohliche, wecken seine

73 74 75 76 77 78 79 80 81

Vgl ebd S 5 f Vgl ebd S 6 [Heyne]: 100 St In: GGA 1799 S 802 Ebd Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 7 Ebd Vgl ebd Vgl ebd [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 803

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Aufmerksamkeit und veranlassen ihn zu heftigen Reaktionen – Reflexion spielt damit beim ersten Entstehen von Religion überhaupt keine Rolle 82 Daher konnte beispielsweise ein sehr großes, besonderes oder ihm fremdes Tier, etwa eine Schlange, ein unbekannter oder extrem großer Baum, eine ungewöhnliche Steinformation oder ein Artefakt die Menschen zu ekstatischen Bekundungen ihrer Bewunderung veranlassen 83 Der „Begriff von der Gottheit und von göttlicher Verehrung“, so Heyne, ist dabei „bey beyden, den ältesten Griechen und den Wilden, ziemlich einerley“ 84 Sie werden von Furcht oder freudigem Erstaunen befallen und äußern diese Empfindungen durch wilde Tänze, Gesten und Gesänge „auf eine für uns bald wahnwitzige, bald lächerliche Art “85 Das Objekt der Bewunderung wird dabei direkt in die Handlungen einbezogen: Die erstaunten Menschen werfen sich vor ihm nieder, fassen es an Die anderen Angehörigen der Familie oder des Stammes ahmen dieses Verhalten nach; die Tänze um den Gegenstand werden dann von Zeit zu Zeit wiederholt, sodass sich ein regelmäßig oder unregelmäßig wiederkehrendes Fest etabliert 86 Auf diese Art und Weise wird bei Heyne aus einem einmaligen Ereignis ein Ritus Entwickeltere Völker, insbesondere die modernen Europäer, sähen nun in diesem wilden Springen und Sich-Niederwerfen eine Art Gottesdienst in Form von primitiver religiöser Verehrung, wie sie im Grunde ähnlich, nur viel elaborierter und kultivierter etwa auch im Christentum vollzogen wird, sodass man der Ansicht war, diese wilden Menschen hätten dieselben oder zumindest sehr ähnliche religiöse Gefühle wie ein moderner Christ und eine Vorstellung von einem göttlichen Wesen, das durch die Idole oder Lebewesen, die sie anbeten, symbolisiert werde 87 Doch sei diese Deutung falsch: Geht man von diesem Standpunkt aus, erscheine es freilich unbegreiflich, wie Menschen ein Stück Stein oder einen Pfahl anbeten können 88 Indem nämlich dieser frühen Art von Verehrung Begriffe moderner religiöser Praxis wie etwa Gottesdienst beigelegt werden, werden den antiken Europäern und anderen primitiven Kulturen Vorstellungen von göttlicher Macht und Verehrung unterstellt, die sie noch gar nicht haben konnten So sei es ein grundsätzlich falsches Verfahren, moderne Begrifflichkeiten auf diese kultischen Handlungen anzuwenden, da sie auf diese Weise von vornherein aus einer neuzeitlichen Perspektive betrachtet und damit vorinterpretiert würden 89 Die Mitglieder pri-

82 83 84 85 86 87 88 89

Vgl ebd Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 7 [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 802 Ebd S 803 Vgl ebd S 804 Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 7 f [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 803 Vgl ebd ; Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 8

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mitiver Kulturen haben nämlich, so Heyne, überhaupt keine Vorstellung von göttlichen Wesen und deren Verehrung, ähnlich wie Kinder, die zwar an christlichen Ritualen teilnehmen, dabei aber nicht über die entsprechenden Begriffe von Gott und Religion verfügen, daher nicht selbstständig über Religion nachdenken können und erst durch religiöse Erziehung und Unterricht in einer entwickelten Gesellschaft an solche Konzepte herangeführt werden müssen 90 Ähnlich können auch die Ureinwohner Afrikas und Amerikas, die ihre Freude und Bewunderung durch ekstatische Tänze und Gesänge zeigen, bis auf wenige Ausnahmen nicht über diese Handlungen reflektieren: Sie tanzen und rufen aus „Erstaunen, Schrecken, bald Freude, Lustigkeit“91 – und nichts anderes empfinden oder denken sie dabei Sie teilen lediglich ihre Freude mit den Angehörigen ihrer Familien oder Stämme, indem sie durch wilde Tänze und lautes Rufen und Singen ihren Gefühlen Ausdruck verleihen, und wiederholen diese Handlungen zu bestimmten oder zufälligen Anlässen 92 Selten komme es auch vor, dass weniger stumpfsinnige Menschen unter diesen Primitiven über die Gründe für diese Verehrung nachdenken, allerdings immer noch auf sehr niedrigem Niveau Die Erklärung, die sie finden, ist, dass das Phänomen oder der Gegenstand, den sie bewundern, auf ein verborgenes menschenähnliches Wesen zurückzuführen sein müsse, und das Rufen und Tanzen, das sie aufführen, gilt von nun an nicht mehr nur dem Gegenstand, sondern auch diesem angenommenen Urheber,93 der dem Gegenstand seine „Bewegung, Gestalt, Wirkung, überhaupt eben das, was bewundert wird, giebt“ 94 Nach und nach wird dieser von dem bewunderten Gegenstand oder Phänomen losgelöst, sodass „etwas ähnliches mit dem, was wir Geist nennen“95 entsteht Dieses geisterähnliche Wesen sei das, was laut den Reisebeschreibungen Nordamerikas unter dem Begriff Manitu zu verstehen sei Doch könne man hier nicht davon ausgehen, dass diese primitiven Menschen unter diesem Manitu hinter einer Sache dieselbe Vorstellung von Geist oder Gott haben wie ein Europäer, da man so die Vorstellungen dieser Menschen wieder mit einem modernen Begriff, der zwangsläufig von moderner christlicher philosophischer und theologischer Betrachtung geprägt sein muss, beschreiben würde 96 Sobald man gewöhnliche Worte wie Gott, Heiligtum, Anbetung oder Priester auf primitive Gesellschaften unkritisch anwendet, seien sie nun im antiken Europa oder in den europäischen Kolonien des 18 Jahrhunderts ansässig, müssen daher falsche Schlussfolgerungen über das Denken und Wahrnehmen dieser Menschen her90 91 92 93 94 95 96

Vgl ebd [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 804 Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 8 f Vgl ebd S 9 [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 804 Ebd S 805 Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 9

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auskommen, weil sie beim modernen Menschen Konnotationen und Nebenbedeutungen induzieren, die der vormoderne Mensch in keinem Fall mitdenken kann, denn seine religiösen Vorstellungen sind viel schlichter und sinnlicher; außerdem sind sie schwankend, ungenau und haben sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert 97 Das Problem, das Heyne hier darlegt und als eines der Grundirrtümer im Nachdenken über die Antike und primitive Kulturen überhaupt beschreibt, ist darin begründet, dass für Heyne Denken durch Sprache und die eigene Kultur stark geprägt ist Da man sich also beim Denken von der eigenen Sprache und mithin auch von den eigenen kulturell determinierten Begriffen und deren Bedeutungen schlecht lösen kann, projiziert man zwangsläufig die eigenen Konzepte auf den Gegenstand des Denkens – und gerade darin liegt beim Nachdenken über primitive Völker die Crux: Sobald ein moderner Mensch über primitive Völker nachdenkt und sie beschreibt, entstehen leicht Fehler, Interpretationen und Verschiebungen durch seine modernen Begriffe und Vorstellungen, die seinem Denken zugrunde liegen – und dies sei auf diesem Forschungsgebiet leider bislang eher die Regel als eine Ausnahme 98 Es gibt schlicht und ergreifend keine Begriffe in den europäischen Sprachen, die das Denken dieser Menschen hinlänglich fassen und beschreiben könnten 99 Um der Sache auf den Grund gehen zu können, muss man sich also von den eigenen Begriffen und deren Bedeutungen und damit auch ein Stück weit vom eigenen Denken lösen und einen neuen objektiven Blick auf die Primitivität des Menschen in seiner Kindheit werfen – und das kann durch Reisebeschreibungen gelingen Heyne führt daher als Beispiel Jonathan Carvers Reisebeschreibung Travels through the interior Parts of North America von 1778 an, das er eigenen Angaben zufolge gerade las, als er die Aufsätze Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata verfasste 100 Carver hatte in den Jahren 1766 bis 1768 Reisen zu einigen nordamerikanischen Stämmen, etwa den Naudowessie und den Winnebago, unternommen und gab

Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 32 Auch in der drei Monate früher geschriebenen Societätsabhandlung De Theogonia ab Hesiodo condita merkt er bereits an, „daß in diesen Theogonien das Wort θεος nicht unsern Begriff Gott hat, auch keinen philosophischen Begriff überhaupt nicht Es diente […] bloß zur Bezeichnung der personificirten Abstracte; […] da sie eingeführt wurden, oft ungewöhnliche, wunderbare, über menschliche Kraft hinausgehende Wirkungen hervorzubringen, so wurden sie θεοι, das ist, Wesen, die den Menschen ähnlich, aber ihnen an Kraft, Stärke und Macht überlegen sind Jede physische Kraft, sittliche Eigenschaft, jedes gedachte und personificirte Ding, ward ein θεος, und dadurch ein handelnd Wesen“ ([Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 784 (=Rez zu De Theogonia ab Hesiodo condita), vgl Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 137) 98 Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 35 99 Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 9 f ; Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 22 100 Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 10, Anm b) 97

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seine Erlebnisse 1778 tagebuchartig heraus 101 In der Rezension zu Carvers Reisebeschreibung, die er 1779 zusammen mit seinem Kollegen Johann Friedrich Gmelin verfasste, bewertet Heyne das Werk als „[a]ngenehm und lehrreich“102 und hebt vor allem Carvers Beschreibungen der Sitten und Religionen der verschiedenen Stämme hervor: „Von der Religion der Indier; vernünftiger, als wir es noch irgendwo angetroffen haben“ 103 Er betont besonders Carvers Ausführungen zu den religiösen Gebräuchen der nordamerikanischen Ureinwohner, in denen beispielsweise Otter- und Marderfelle oder zahme Schlangen eine Rolle spielen 104 Heyne weist hier sogleich darauf hin, dass Europäer keine Begriffe hätten, mit denen sie diese Riten korrekt beschreiben könnten, ohne Vorinterpretationen vorzunehmen, da schon allein der zentrale Begriff Manitu unklar sei und zuerst geklärt werden müsse, welche Vorstellung dahinterstecke 105 Folglich fordert er, dass die Beschreibung der religiösen Riten solcher fremder Kulturen „ad ipsorum mentem et intelligentiam accommodate“106 erfolgen müsse Begriffe wie Anbetung, Verehrung oder Gottesdienst können diese Handlungen nicht hinreichend fassen In diesem Punkt leiten die Reisebeschreibungen also in die Irre, wenn vieles den wilden Völkern von Reisenden als Gottesdienst angerechnet wird, wo sie bloß eine ihnen werthe und kostbare Sache zu gesetzten Zeiten aufstellen, und eine wilde Freude darüber an den Tag legen 107

Einen wichtigen Einfluss auf Heynes Gedanken in Vita antiquissimorum hominum muss aber auch Robertsons History of America von 1777 gehabt haben, zumindest legen dies offensichtliche Parallelen nahe Ebenso wie Robertson warnt Heyne davor, dass die Beurteilung indigener Völker zu sehr von der eigenen europäischen Perspektive abhängen kann, und betont Schlichtheit, Konkretheit und Undeutlichkeit als wichtige Merkmale früher Religionen 108 Wichtig wäre also eine möglichst neutrale Beschreibung der rituellen Handlungen der Naturvölker ohne christlich vorgeprägtes Vokabular Die oberste Maxime bei dieser Art des Arbeitens, beim Vergleich zwischen antiken und neuzeitlichen Wilden, wie auch bei der Auseinandersetzung mit Reisebeschreibungen überhaupt, sei daher ein skeptischer Umgang mit der allgemein gebräuchlichen Sprache, in der die Reisebeschreibungen verfasst sind und in der sie freilich auch verfasst werden müssen Die

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Vgl zu Carvers Reisebeschreibung Fornaro: I Greci senza lumi S 158 f Vgl [Christian Gottlob Heyne / Johann Friedrich Gmelin]: 88 St In: GGA 1779 S 706 Ebd S 710 Im englischen Original vgl Jonathan Carver: Travels through the interior Parts of North America, in the Years 1766, 1767, and 1768 London: 1778 S 43–45; 277 f ; 308 f 105 Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 9 f 106 Ebd S 10 107 [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 805 108 S o S 174 f

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größte Gefahr liegt hier nämlich in einem unkritischen Umgang mit Sprache: Man solle sich bloß nicht einbilden, dass der beschriebene Wilde über die gleichen sprachlichen Konzepte verfügt wie man selbst – dies ist aufgrund seiner vollkommen anderen Lebensweise unmöglich –, und die Ebenen des Beschreibens und des Beschriebenen besonders sorgfältig voneinander trennen Andernfalls sei jede Auseinandersetzung mit den Sitten, gesellschaftlichen Institutionen und mit der Psychologie solcher primitiven Menschen sinnlos 109 Um dies zu umgehen, muss der Blick, soweit dies nur irgendwie möglich ist, auf die Wahrnehmungen und Vorstellungen des primitiven Menschen gerichtet werden Aus den Reisebeschreibungen muss extrahiert werden, von welcher Art und Beschaffenheit diese unter ihren Lebensbedingungen und auf ihrer Stufe kultureller Entwicklung sind oder sein müssen, indem die Meinungen und Interpretation des Reisebeschreibers erkannt, getilgt und die darunter verborgenen Fakten zum Vorschein gebracht werden Und dies gilt nicht nur im Bereich früher Religionen, sondern bei der Forschung über jegliche Religion 110 Wichtig sei es hier, ohne vorgefasste Meinung und ergebnisoffen vorzugehen und vom Einzelnen und Konkreten das Allgemeine und Generelle abzuleiten 111 Um so vorgehen zu können, seien von dem Gelehrten, der sich mit diesem Themengebiet auseinandersetzt, gewisse charakterliche Voraussetzungen zu erfüllen und bestimmte Einstellungen mitzubringen: Sensu animi molli, ingenio versatili ac facili et sagacitate opus est; ab omni opinandi temeritate et arrogantia, tuendaeque opinionis semel conceptae pertinacia, alienus esse debet, qui in aliorum sensum, morem cogitandi et opinandi, tamquam subrepere vult et se insinuare 112

Man brauche einen bieg- und regsamen Verstand, viel Intelligenz; man dürfe nicht unbesonnen sein, die eigene Meinung nicht übermäßig selbstbewusst vertreten und man müsse sich von neuen Erkenntnissen zu immer wieder neuen Ergebnissen leiten lassen können Festzuhalten ist, dass für Heyne der Weg zum Verständnis antiker Religionen und deren Entstehung viel zu schwierig und voraussetzungsreich ist, um dahin direkt über die altsprachlichen Quellen gelangen zu können: Das Denken und die Lebensumstände der Menschen im Europa des 18 Jahrhunderts sind dem Altertum viel zu weit entrückt, um den antiken Menschen zu verstehen Es kann folglich kaum gelingen, sich in diese Zeit hineinzudenken Doch können Reisebeschreibungen hier als Ausweg dienen, denn: Man kann die indigenen Völker Amerikas und Afrikas direkt beobachten, mit ihnen in Kontakt treten und dadurch verstehen, wie primitive Menschen leben und denken Es muss nun also nicht mehr die eigene hochentwickelte Zivilisations109 110 111 112

Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 31 Ebd S 31 f Ebd S 32 Ebd S 33

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gesellschaft mit einer ganz anderen archaischen Naturgesellschaft verglichen werden, sondern es wird so möglich, Gesellschaften zu vergleichen, die sich ähneln Sie unterscheiden sich nur in ihrem Siedlungsgebiet, doch die Lebensumstände, der kulturelle Status, die Eindrücke und Empfindungen, die diese Menschen haben müssen und mussten, sind ähnlich und müssen daher ähnliche Sitten und Lebensweisen hervorgebracht haben 113 Heyne weist dabei auf zwei Bereiche hin, in denen sich Gemeinsamkeiten auf dieser Stufe kultureller Entwicklung feststellen ließen Einerseits gebe es Ähnlichkeiten in allem, was auf Materiellem basiert, also Ernährung, Kleidung, Behausung und Werkzeuge, weil primitive Menschen ähnliche basale handwerkliche Fertigkeiten ausbilden und auf bestimmte Ressourcen zurückgreifen können Andererseits gebe es auch Gemeinsamkeiten im Sozialen: Ehe, Erziehung, Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen müssen ebenfalls Ähnlichkeiten aufweisen 114 Den interessantesten Vergleichspunkt stellen Heynes Ansicht nach jedoch die religiösen Vorstellungen primitiver Völker dar, und dabei kann der Erkenntnisgewinn sogar in zwei Richtungen laufen Zum einen können durch den Vergleich die grundlegenden Prinzipien religiösen Denkens und erster Religionsgenese besser verstanden werden, da junge Religionen überall auf der Welt und zu allen Zeiten Gemeinsamkeiten aufweisen,115 mögen im einzelnen Fall auch bei den verschiedenen Völkern unterschiedliche konkrete Ursachen vorliegen 116 Andererseits sind die Erkenntnisse über die Vorstellungen wilder Völker von göttlichen Wesen und vom Ursprung der Welt, über ihren Aberglauben, über ihre Symbole und Mythen und über die Gedanken ihrer ersten Philosophen nützlich und ertragreich, weil auf diese Weise besser verstanden werden kann, wie das menschliche Denken allgemein funktioniert und wie es sich auf verschiedenen kulturellen Entwicklungsstufen darstellt und verändert 117 Freilich ist die Gefahr, durch moderne Begrifflichkeiten und Interpretationen zu falschen Urteilen zu gelangen, auch so nicht gebannt, doch ist sie ungleich geringer als ohne den Umweg über die Reisebeschreibungen Ethnogra113 114

115 116 117

Vgl ebd S 33 Vgl ebd S 33 f Um Genaueres über diese sozialen Gegebenheiten in der Antike zu erfahren, empfiehlt Heyne hier die Lektüre von Herodot, Diodor und Strabo, die dann mit den ethnographischen Beschreibungen von Amerika und Afrika verglichen werden sollen Er nennt hier punktuell einige Gemeinsamkeiten, zum Beispiel sei im antiken Griechenland die Zähmung wilder Tiere üblich gewesen; die Menschen schliefen gemeinsam in großen Räumen; Ehen wurden durch Kauf und Verkauf geschlossen; es gab aus Rache und Vergeltung kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Stämmen; Feuer wurde durch Reibung erzeugt; die Thraker tätowierten oder bemalten ihre Körper; die Skythen nahmen die Schädel oder die abgezogene Haut ihrer Feinde als Siegestrophäen mit; Begräbnisrituale waren bei vielen Völkern sehr ähnlich; Kronen wurde aus Pfeilen hergestellt All diese Dinge fänden sich auch bei Völkern Amerikas und Afrikas wieder Die Gründe dafür ergäben sich aus den Lebensumständen, die hier wie dort ähnlich sind Zu den Gemeinsamkeiten zwischen allen frühen Religionen zählen bei Heyne beispielsweise Polytheismus, Polydämonismus und Anthropomorphismus, vgl u S 191–194 Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 35 Vgl ebd

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phische Berichte liefern daher einen einfachen – oder einfacheren – Weg, um antike Religion und deren Ursprünge verstehen zu können Als wichtigstes Grundprinzip der Religionsgenese steht für Heyne fest, dass der Ausgangspunkt jeglicher religiöser Verehrung bei primitiven Völkern in den gewaltigen Naturphänomenen und der Angst davor zu suchen ist 118 Denn vor allem katastrophale Ereignisse wie Überschwemmungen, heftige Unwetter, Erdbeben und Vulkanausbrüche riefen so heftige Emotionen hervor, dass Menschen angesichts solcher existenzieller Erfahrungen diesen Gefühlen durch ekstatisches Tanzen und Schreien Ausdruck verliehen Zum Teil können heftige Naturereignisse wie Beben und Vulkanausbrüche aber auch so normal sein, dass sie nicht als besondere Ereignisse wahrgenommen werden und damit auch keine Ritenentstehung auslösen, wie etwa in Chile und Japan 119 Insofern ist die Entstehung von Riten eng mit der Umwelt und den Lebensbedingungen des Menschen verknüpft und „nach den Umständen, der Lage, dem Clima der Nationen, verschieden“ 120 Je nach Klima, Geologie, Landschaftsstruktur und den dort lebenden Tieren und Pflanzen fungieren unterschiedliche Dinge als auslösende Faktoren für die Entstehung von Riten: hier ein starker Strom, ein Stromfall, ein grosser unübersehbarer See, ein wunderbar gebildeter Fels, ein dichter Busch im Wald; dort Stürme, schwere Gewitter, Orcane, Erdbeben, Feuerausbrüche 121

Die Menschen machen sich bei solchen Naturkatastrophen jedoch zunächst keine Gedanken über Ursachen oder Urheber solcher Dinge oder Ereignisse Sie sind vollkommen von ihrer Angst beherrscht Erst mit einiger Distanz zum konkreten Ereignis können sich Gedanken an eine Ursache einstellen Die Vorstellungen von den Urhebern gehen dann von der eigenen Lebenswelt der Menschen aus; sie stellen sich ein mächtiges Wesen vor, das die Ereignisse auf irgendeine nicht näher bestimmte Weise bewirkt Eigenschaften wie Stärke und Schnelligkeit werden diesen Wesen erst später beigelegt, sodass die ersten Vorstellungen von diesen Urhebern nur sehr unbestimmt und verschwommen sein können 122 Wie genau man sich diese vorzustellen habe, müsse jedoch offen bleiben, weil es dem modernen Europäer schlussendlich unmöglich

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Er stimmt daher Statius zu, der im dritten Buch seiner Thebais schrieb: „Primus in orbe deos fecit timor“ (Stat Theb 3, 661), vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 11 119 Vgl [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 805 120 Ebd 121 Ebd 122 Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 10 f Als Beweis für diese These führt Heyne an, dass die Pelasger laut Herodots Aussage zunächst keine Götter und dann nur Gottheiten ohne Namen kannten, vgl Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 22

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sei, sich voll und ganz in den primitiven Menschen hineinzuversetzen – die jeweiligen Lebensumstände sind letztendlich doch zu unähnlich 123 In diesem Stadium spricht Heyne noch nicht von Religion In dem späteren Aufsatz Sermonis mythici seu symbolici interpretatio heißt es sogar ausdrücklich, dass diese entstehenden religiösen Handlungen weder Religion noch Götter- oder Dämonenverehrung genannt werden können Es handele sich hierbei um Riten, durch die böse Dinge abgewendet werden sollen 124 Religion entsteht für Heyne erst dann, wenn den vermuteten Wesen spezifische Eigenschaften wie Stärke, Größe und Macht zugeschrieben werden und wenn die Existenz des gedachten Urhebers von dem ritenauslösenden Gegenstand oder Phänomen losgelöst wird125 – erst wenn diese Wesen Eigenschaften erhalten, wenn sie vom konkreten Ereignis oder Gegenstand getrennt werden und ihnen damit eine vom Konkret-Räumlichen unabhängige Existenz in einer Götterwelt zugeschrieben wird, werden sie zu Göttern, und Religion als „eine Art gottesdienstlicher Verehrung und Gottesdienst“126 kann entstehen Bei dieser Vorform von Religion werden die scheinbar unerklärlichen Kräfte und Bewegungen von Sonne, Erde, Sternen, Feuer, Wasser und Luft personifiziert und durch Symbole ausgedrückt: Dadurch entstand laut Heyne zuerst „Bilderdienst und Abgötterey“ 127 Eine Verehrung und Anbetung, die mit christlicher religiöser Praxis vergleichbar wäre, kann, so Heyne, „nur bey cultivirten Völkern Statt finden“ 128 Aber auch solche höher entwickelten Völker haben nicht automatisch eine Religion in Heynes Sinn Auch sie haben immer noch die von ihren Vorfahren überlieferten Riten, die allein schon aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunft aus der Vergangenheit in Ehren gehalten werden 129 Die Riten werden lediglich immer weiter ausgearbeitet und mit zusätzlichen Bedeutungen aufgeladen, bleiben aber das, was sie sind: affektive und unreflektierte Reaktionen auf bestimmte Dinge und Phänomene Es können wie etwa bei den Griechen und Römern zwar sehr komplizierte Glaubenssysteme mit einer Unzahl göttlicher Wesen und verschiedensten Riten entstehen, die religiösen Vorstellungen bleiben in diesem vorreligiösen Stadium aber unsystematisch, chaotisch, ja zum Teil widersprüchlich130 und erfüllen damit nicht die Kriterien von Heynes Religionsbegriff Es handelt sich bei Riten und den Vorstellungen dahinter nur um erste unsystematische metaphysische Spekulationen und keineswegs um bewusste Reflexion, wie sie laut Heyne für eine Religion offensichtlich konstituierend wäre Zugrunde liegt hier ein tief empfundenes, aber unklares und unbewusstes Frömmigkeitsgefühl, das seiner Ansicht nach auch heute noch beim Anblick des sternenbedeckten Him123 124 125 126 127 128 129 130

Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 32 f Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 307 Vgl [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 806 Ebd Ebd S 807 Ebd Vgl [Heyne]: 121 St In: GGA 1779 S 978 Vgl [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 807

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mels nachvollziehbar werden kann: Auch beim modernen, durch christliche Theologie und Dogmatik vorgeprägten Menschen könne sich hier eine solche unbewusste Ahnung von höheren Wesen einstellen, die nicht mit dem Verstand fassbar oder mit Worten beschreibbar und auch nicht durch seine religiöse Prägung erklärbar ist Es handele sich hier eher um ein unklares Hochgefühl oder einen diffusen Eindruck von Erhabenheit und in keinem Fall um eine bewusste Reflexion, Offenbarung oder eine logische Ableitung der Existenz Gottes, sodass in dieser Situation leicht nachvollziehbar sei, mit welchen Empfindungen primitive Menschen den Keim der Religion schufen 131 Doch war die Wahrnehmung dieser primitiven Menschen noch recht stumpf und ungeschärft und es bedurfte stets besonderer Ereignisse, die ihre Aufmerksamkeit lenkten – die primitiven Völker richteten ihre Sinne beispielsweise nicht von sich aus auf die Himmelskörper und empfanden die beschriebene Art unbewusster religiöser Gefühle, sondern es musste zunächst ein konkretes Ereignis wie etwa eine Sonnenfinsternis geben, das ihnen Anlass zu stärkeren Emotionen als das bloße Wahrnehmen von Ästhetik gab Erst auf Basis solcher besonderer Phänomene, die die Aufmerksamkeit durch ihre Singularität auf sich lenkten, konnten die ersten Sonnenkulte entstehen Allerdings wurden solche frühen Formen von Sonnenanbetung anfangs noch nicht regelhaft und auch nicht im Bewusstsein eines bestimmten Zwecks durchgeführt Erst später, nachdem die Menschen nicht mehr nomadisch lebten, sondern begonnen hatten, Ackerbau zu betreiben und beobachten konnten, dass der Lauf der Sonne eng mit den Jahreszeiten und dem Pflanzenwachstum zusammenhängt, kamen Regeln für die Verehrung der Sonne auf, die dann auch auf den Mond und die Sterne übertragen werden konnten 132 Da in sehr fruchtbaren Gegenden besonders früh schon Ackerbau entstand und der Zusammenhang zwischen Astronomie und Landwirtschaft daher in den dort ansässigen Gesellschaften eine bedeutende Rolle spielte, müssen sich Sonnen-, Mond- und Sternenkulte Heynes Ansicht nach vor allem dort entwickelt haben Auf der Basis dieser Kulte wiederum ist in diesen wärmeren Gebieten schon früh die Vorstellung von (meist weiblichen) Fruchtbarkeitsgottheiten entstanden, die auf unterschiedliche Weise verehrt und durch verschiedene Zeichen und Gegenstände symbolisiert wurden, wobei diese Kulte noch sehr flexibel und großen Veränderungen 131

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Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 11 Von einem solchen Erlebnis berichtete Heyne sein Schwiegersohn Georg Forster Dieser schrieb im Februar 1789 in einem Brief: „Den Aufgang des Rheins habe ich gesehen […] Ein paar Tage hernach war das Wasser sehr hoch […] Wie trotzte da der Fluß allem, was Menschen vermögen! Mich dünkt, von dieser Betrachtung zur Anbetung der inwohnenden, über alle menschliche Gegenwehr erhobnen Macht ist ein so natürlicher Uebergang im Gemüthe eines ungebildeten Menschen, daß man sich doch nicht wundern sollte, woher die Religionsbegriffe entstanden sind und warum sie sich an allen Enden der Erde so ähnlich sind “ (Georg Forster: 142, An Christian Gottlob Heyne In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg ): Georg Forsters Werke, Bd 15 S 258) Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 11 f

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unterworfen waren 133 Auf ähnliche Weise formierten sich auch Kulte um die Elemente – ausgehend von einem konkreten Ereignis und der Erkenntnis der hohen Bedeutsamkeit wurden beispielsweise das Feuer, das Wasser oder die Luft verehrt, bis sich bestimmte religiöse Rituale, Symbole und Götter herausbildeten, die sich nach vielen Veränderungen schließlich zu einer Religion konstituierten 134 In anderen Gebieten mit anderen Lebensbedingungen, die für den Ackerbau weniger günstig waren, wurde die Urbevölkerung vielleicht eher durch die Größe und Undurchdringlichkeit eines Waldes, durch ein Gebirge, einen großen Fluss oder See beeindruckt In solchen Fällen waren diese konkreten Orte die Anlässe für die Entstehung von Gefühlen wie Angst und Staunen, die den Keim von lokalen Kulten um bestimmte Orte darstellten und die Grundlage für Religionen legten, die sich dementsprechend anders entwickelten und eher auf Kulte um Lebewesen oder andere Dinge, die mit dem verehrten Ort in Zusammenhang standen, verlegten In solchen Fällen entstanden eher Geister und Gottheiten, die speziell diesen Orten zugeschrieben und irgendwann rituell verehrt und besänftigt wurden 135 Insofern besteht Heynes Ansicht nach ein enger Zusammenhang zwischen den Riten einer Gesellschaft und den dortigen Umweltbedingungen und der Lebensweise Folglich kann man bestimmte kulturelle Eckpunkte aus den Riten eines Volkes ableiten, da Menschen immer das, was ihr Überleben sichert oder gefährdet, durch rituelle Handlungen beeinflussen wollen: So mussten etwa die Libyer, die nur einen Wassergott kannten, Fischer an einer Küste sein; verehrt eine Gesellschaft hingegen Sonne, Natur und Erde, muss sie Ackerbau betreiben 136 Die so entstandenen religiösen Riten waren zunächst der Lebensweise und den Eigenschaften ihrer primitiven Erfinder gemäß schlicht, wild und grausam, was die vielen überlieferten rituellen Menschenopferungen belegen 137 Da diese kulturell kaum entwickelten Menschen nur Erfahrungen von Gewalt, Grausamkeit, Härte, Unberechenbarkeit, Not und Leid kannten, konnten sie sich nur jähzornige, launische, grimmige und rachsüchtige Götter vorstellen, die wegen kleinster Vergehen und Fehler stets unbarmherzig Elend auf die Menschen niederschickten und damit für ihr hartes Leben verantwortlich waren, sich aber zugleich gelegentlich durch Opfer und Anbetung beschwichtigen ließen 138 Diese Vorstellung von grausamen Göttern ist Heynes Überzeugung nach außerordentlich stabil und überdauerte bis in Zeiten, zu denen sie

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Vgl ebd S 12 Heyne bezieht sich hier konkret auf die alten Ägypter, Chaldäer, Babylonier und andere Völker Vorderasiens, konstatiert aber auch explizit, dass diese Entwicklungen auch bei anderen Völkern zu beobachten seien und damit Allgemeingültigkeit hätten Vgl ebd Vgl ebd S 12 f Vgl [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 806 f Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 13 Vgl ebd Zu einer ähnlichen Aussage aus dem Jahr 1782 vgl Christian Gottlob Heyne: De febribus epidemicis Romae falso in pestium censum relatis In: Opuscula academica, Bd 3 S 114

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durch kulturelle Fortschritte eigentlich nicht mehr zur Lebensweise der Menschen passt, ja spielt sogar bis ins moderne Christentum eine Rolle 139 Sobald ein Volk einmal verschiedene Gottheiten erfunden hatte, übertrug es seine eigenen gesellschaftlichen Machtstrukturen und Hierarchien auf diese Vielzahl von göttlichen Wesen, das heißt, in Gesellschaften, die von einem König regiert wurden, entstanden Göttervaterfiguren, die über die anderen Götter herrschten; in eher demokratisch organisierten Kulturen waren die Götter hingegen gleichberechtigt und hielten Versammlungen ab 140 Folglich könne man aus der Religion eines Volkes auch auf dessen gesellschaftliche Strukturen schließen Bei seinen Untersuchungen antiker Religionen und deren Vergleich mit den Glaubensvorstellungen der neuentdeckten Urvölker seiner Zeit stellt Heyne drei hauptsächliche Gemeinsamkeiten fest, die er als Prinzipien jeder jungen Religion herausstellt, nämlich Polytheismus, Polydämonismus und Anthropomorphismus Er konstatiert, dass sämtliche frühen Religionen überall auf der Welt polytheistisch sind Folglich sind monotheistische Religionen stets ein Zeichen kulturellen Fortschritts, doch können die Mechanismen, die zu einem solchen radikalen Bruch im religiösen Denken führen, unterschiedlicher Natur sein Entweder ging mit der Konkurrenz zweier Völker auch eine Konkurrenz ihrer jeweiligen Religionen einher, sodass das eine Volk gegenüber dem anderen einen Überlegenheitsanspruch durchsetzte, indem es für einen seiner Götter den Vorrang vor allen anderen fremden Gottheiten postulierte Man stellte sich daher vor, dass der eigene Gott im Kampf gegen die anderen siegt und als einziger Gott übrigbleibt Oder aber die Philosophie und damit auch das Nachdenken über die Religion entwickelten sich durch zunehmenden kulturellen Fortschritt so weit, dass ein monotheistisches Religionssystem durch Reflexion als neue Idee entstand 141 Laut Heyne kann dieser kulturelle Schritt auch bei manchen Völkern Nordamerikas beobachtet werden: So werde in einigen Reiseberichten beschrieben, dass manche Völker dort monotheistische, andere bitheistische142 Religionen aufwiesen 143 Dabei müssen jedoch, so Heyne, auch diese anfänglichen monotheistischen Vorstellungen sehr sinnlich und konkret sein und können auf keinen Fall Dinge wie Allgegenwart, Ewigkeit oder Allmacht umfassen; in Bezug auf die Art und Weise der Gottesvorstellung können sich diese also nicht von den vorherigen polytheistischen unterschieden

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Vgl Heyne: Vita antiquissimorum hominum, Graeciae maxime, ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio I S 13 Heyne nennt die Vorstellung von zornigen, brutalen Göttern hier „diuina natura indigna“ (ebd ) Ein Zeichen einer fortschrittlichen Religion ist für ihn folglich die Vorstellung von einem gütigen, liebenden Gott 140 Vgl ebd S 14 141 Vgl ebd 142 Heyne erläutert, dass einige Völker an göttliche Zwillingspaare, von denen der eine Zwilling gut, der andere böse ist, glaubten und ihnen in gleichem Maße huldigten Vgl ebd S 15 143 Vgl ebd

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haben 144 Eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit zwischen den antiken Religionen und denen der neu entdeckten Ureinwohner sieht Heyne in dem Phänomen, dass überall auf der Welt und zu jeder Zeit besonderen Orten wie Bergen, Wäldern, Wiesen oder Flüssen eigene Götter zugeschrieben werden, weil diese Orte den Menschen oft Schrecken oder Staunen einflößen und sie daher zu Anbetung und schließlich zur Erfindung spezieller lokaler Gottheiten und Geister – im Falle Griechenlands der Nymphen, beispielsweise der Naiaden und Oreaden,145 – veranlassen konnten Die Mitglieder antiker wie späterer Stammesgesellschaften glaubten, dass sich die Gottheiten und Geister an diesen Orten aufhielten Eine der ältesten religiösen Gewohnheiten sei es daher, solche Orte den Göttern zu weihen und ihnen mitsamt den dort lebenden Tieren eine gewisse Heiligkeit zuzusprechen Solche Orte dürfen in frühen Religionen meist überhaupt nicht oder nur von wenigen betreten werden; oft gilt es auch als eine Sünde, etwas von dort zu entfernen Die in der Odyssee beschriebene Schlachtung der Rinder des Sonnengottes Helios ist, so Heyne, die Darstellung eines Verstoßes gegen ein solches wichtiges Gebot und zugleich der Beweis, dass die Heiligung gewisser Orte mitsamt den dort lebenden Tieren in Griechenland sehr verbreitet war 146 Ganz ähnlich sei der Glaube einiger nordamerikanischer Stämme zu erklären, bei denen einige der Inseln im Huronsee bestimmten Naturgeistern geweiht seien und daher diese Inseln niemals betreten werden durften 147 Zwischen diesen Naturgeistern in Nordamerika und den Nymphen in Griechenland bestehe kein Unterschied: Sie sind auf ähnliche Weise entstanden, haben ähnliche Funktionen und werden auf ähnliche Weise verehrt Solche Naturwesen und Dämonen existieren, so Heyne, überall auf der Welt in sämtlichen wenig entwickelten Kulturen; Polydämonismus ist damit ein wesentliches Merkmal früher Religionen 148 Ein drittes grundlegendes Prinzip von Religionsgenese sei schließlich ein sich schnell heranbildender Anthropomorphismus Die Entwicklung in Griechenland beschreibt Heyne dabei wie folgt: Die frühesten rituellen Anbetungen erfolgten dort wie überall unter Einbezug bestimmter Kultbilder- und -gegenstände, die als Symbole oder Wohnsitz der Gottheit in die Riten einbezogen wurden Diese Idole waren anfangs sehr schlichte Artefakte aus Holz oder Stein wie säulenförmig, konisch oder kubisch bearbeitete Felsen Diese Formen wurden den Idolen jedoch nur gegeben, weil die

144 Vgl ebd 145 In der Rezension zu Vita antiquissimorum hominum nennt Heyne als weitere Beispiele für solche Lokalgottheiten Taygete, eine der Plejaden und Nymphe des Bergs Amyklayos, Taygetes Schwiegertochter Sparte, Ehefrau Lakedaimons und Namensgeberin von Sparta, und die Nymphe Nemea, Tochter des Zeus und der Selene sowie Göttin der Nemeischen Spiele und des Orts Nemea, vgl [Heyne]: 121 St In: GGA 1779 S 979 146 Vgl Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 29 147 Vgl ebd Heyne zitiert hier wieder Carvers Travels through the interior Parts of North America 148 Vgl ebd S 23 f

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handwerklichen Fähigkeiten nur für solche einfachen Produkte ausreichten – sobald sich Handwerk und Kunst weiterentwickelt hatten, erhielten die Idole sofort menschliches Aussehen 149 Heyne nimmt als Ursache dafür ein psychologisches Grundprinzip an: Er glaubt, dass sich der primitive Mensch, egal welcher Herkunft, beim Gedanken an eine Gottheit nicht vom Konkreten und Stofflichen lösen kann Die Gottheit muss materiell existieren, ein anderes Aussehen als sein eigenes menschliches kann sich der Mensch auf dieser frühen Stufe geistiger Entwicklung aber noch nicht vorstellen 150 Daher versuchten und versuchen alle Urvölker auf der Welt bei der Darstellung ihrer Götter menschliches Aussehen nachzubilden, selbst wenn ihnen dabei kaum Mittel und Fähigkeiten zur Verfügung stehen 151 Das Phänomen des Zoomorphismus, das beispielsweise in der altägyptischen Religion eine sehr große Rolle spielt, schreibt Heyne Gesellschaften zu, die eine hieroglyphische Schrift entwickelten Die ohnehin unklaren Vorstellungen von der Gottheit wurden in diesen Kulturen durch irgendein Zeichen, häufig ein Tier, dargestellt, sodass „obscura […] per multo etiam obscuriora“152 ausgedrückt wurde Zeichen und Bezeichnetes wurden nun aber nicht arbiträr, sondern das Bezeichnete – in diesem Fall die Gottheit – wurde an sein Symbol ange-

149 Vgl ebd S 24 f Vgl dazu auch Christian Gottlob Heyne: Ueber den Thron des Amycläus, ein altes Kunstwerk zu Amyclä im Laconischen Gebiete, nach dem Pausanias In: Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd 1 S 71 f : „Ursprünglich begnügte sich der rohe Grieche, wie andere rohe Völker mit ihren Fetischen, mit einem Klotze, Steine, Säule, die vermuthlich der Klügere als Symbol von irgend etwas anders ansah, wobey aber der größere Haufe sicherlich eben so weniges dachte, als in andern Zeiten der Pöbel unter ähnlichen Umständen Doch die eigentliche Vorstellung, welche man hierbey hatte, können wir, bey unsern übrigen so ganz verschiedenen Begriffen, wohl schwerlich errathen Soviel sieht man, daß jene rohen Heiligthümer gemeiniglich in Gestalt, Farbe, Aussicht, etwas besonderes und für ihre Einsichten wunderbares an sich enthielten Bald gieng man einen Schritt weiter und setzte einem Klotz oder einem Stein einen Kopf auf; man formte an einer Säule Kopf, Hände und Füsse Dieß ist der natürliche Anfang zu Verfertigung der Bildwerke, den man fast überall in der alten Welt antrifft “ Zu einer ähnlichen Aussage aus den Jahren 1773 und 1787 vgl Heyne: De fabularum religionumque Graecarum ab Etrusca arte frequentatarum naturis et caussis S 48; De auctoribus formarum quibus dii in priscae artis operibus efficti sunt S XIX 150 Vgl Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 25 151 Vgl ebd Vgl dazu auch Heyne: De vestigiis domesticae religionis patriique ritus in artis Etruscae operibus S 40 In dieser fünf Jahre früher verfassten Societätsabhandlung weist Heyne darauf hin, dass solche frühen Idole in Menschengestalt anfangs vollkommen ohne Attribute oder andere unterscheidende Merkmale und sogar ohne Namen waren: „Est quoque is communis fere barbarorum populorum mos, ut numen rudi aliqua humana forma pro suo quisque genio adumbrare satis habeat, de certis autem attributis nominibusve parum laboret, quibus deum suum a diis, seu popularium suorum ceteris, seu vicinorum populorum, discernere possit“ (ebd ) Die Gottheiten wurden lediglich „durch eine rohe ungestalte Menschenfigur, in Stein oder Holz vorgestellt“ ([Heyne]: 115 St In: GGA 1775 S 986 (Rez zu De vestigiis domesticae religionis patriique ritus in artis Etruscae operibus)) Vgl weiterhin Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 307 f 152 Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 25

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passt: Das Zeichen für den Gott wurde mit dem Gott gleichgesetzt, sodass dieser in der Vorstellung tierisches Aussehen erlangte 153 Neben den drei Hauptprinzipien früher Religionen, Polytheismus, Polydämonismus und Anthropomorphismus, entdeckte Heyne noch weitere Elemente, die in beinahe allen primitiven Kulturen zu finden seien Dazu gehört etwa die Mantik So basiere die Existenz der antiken Orakel auf ebendenselben psychologischen Prinzipien und menschlichen Bedürfnissen wie die in Asien und Amerika verbreitete Praxis des Wahrsagens mittels Trancen Zurückzuführen sei sie auf das dem Menschen überall eigene Bedürfnis, die Zukunft vorhersehen zu können 154 Dieser Wunsch sei so tief im Menschen verwurzelt, dass jede Gesellschaft ihre Methoden entwickelte, mit denen zukünftige Ereignisse vorhergesagt oder Fragen, die sich dem menschlichen Verstand entziehen, beantwortet werden sollten Die Mantik sei damit ein „morbus […] per omne humanum genus vulgatus“,155 der überall in primitiven Kulturen als Teil ihrer Religionen angetroffen wird 156 Dass Heyne hier den Begriff Krankheit verwendet, liegt neben einer wohl intendierten Abwertung des Phänomens als irrationalen Aberglauben auch daran, dass seit der Antike psychische und neurologische Erkrankungen wie Epilepsie157 oder Schizophrenie als Heilige Krankheiten bezeichnet werden Meist galten die Erkrankten als Besessene oder Medien mit einer besonderen Verbindung zu Dämonen oder Göttern Das ungewöhnliche Verhalten solcher „homines […] furore percussi“,158 so Heyne, habe die anderen Stammesangehörigen sehr erschreckt, weil sie den Auslöser nicht erkennen konnten Die Erklärung, die sie fanden, war, dass diese Menschen von Geistern und Dämonen besessen sein mussten und dadurch in die Zukunft sehen und diese vorhersagen könnten Zum Teil seien Trancen aber auch absichtlich herbeigeführt worden, zum Beispiel durch Rauschmittel oder Tänze Durch

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Vgl ebd 1793 hebt Heyne die Auswirkungen des schriftlichen Systems auf das religiöse Denken des Menschen noch stärker hervor In seiner Rezension zu Vogels Versuch über die Religion der alten Aegypter und Griechen schreibt er, dass „es doch eben so psychologisch als historisch erweislich ist, daß diese [= ägyptische Hieroglyphen] zur Bildung der ganzen Denkart, der Religionsvorstellungen, des Ansehens der Priester, und der ganzen Eigenheit der Aegypter so vieles beygetragen haben; denn Menschen, deren Begriffe an so sinnliche und bildliche Zeichen gebunden sind, die ohne durch ein Bild keinen Gedanken fassen und ausdrücken können, müssen natürlicher Weise anders denken und sich ausdrücken, als wir und andre Menschen Natürlicher Weise führt dieses in der Religion zum Bildlichen, zum vermeynten Geheimnißvollen, zur Schau und zu bloßen Gebräuchen“ ([Heyne]: 51 St In: GGA 1793 S 514 f ) Vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 36 Ebd Tatsächlich wurde mittlerweile nachgewiesen, dass Trancen in über 90 % aller archaischen Gesellschaften eine wichtige spirituelle Rolle spielen, vgl Peter K Schneider: Wahnsinn und Kultur oder „Die heilige Krankheit“, Die Entdeckung eines menschlichen Talents Würzburg: 2001 S 113 Die Bezeichnung der Epilepsie als Heilige Krankheit geht bereits auf Hippokrates zurück, der unter diesem Titel ein Traktat über diese Erkrankung verfasste Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 36

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die „somniorum ludibria“159 – gemeint sind Halluzinationen, die in solchen krankheitsbedingten oder künstlich erzeugten Trancezuständen auftraten – wurden die Angehörigen der populi barbari stark verwirrt und erregt; sie verstanden nicht, was mit ihnen geschah Um daran glauben zu können, dass es sich bei solchen Träumen und Halluzinationen um bloße Einbildung handeln könne, verstanden sie zu wenig, und fanden eine für sie plausible Erklärung dafür, indem sie sie als Visionen deuteten, durch die ihnen ein göttliches Wesen die Zukunft zeigen wollte Auf diese Weise glaubten sie sehen zu können, was sie sich zu sehen wünschten: die Zukunft Vor allem in sehr archaischen Gesellschaften sei Mantik verbreitet und erstrecke sich zum Teil sogar auf die Wahrsagung alltäglichster Dinge, da hier der Glaube an die Vorhersehbarkeit der Zukunft noch besonders stark sei 160 Einen etwas anderen Erklärungsansatz für antike Mantik verfolgte Heyne in der etwas späteren zweiteiligen Programmschrift Historiae naturalis fragmenta ex ostentis, prodigiis et monstris aus den Jahren 1784/85,161 in der er die Prozesse erklärt, die vor allem im antiken Italien zu den dort verbreiteten Divinationen führten: Kam es zu ungewöhnlichen Naturereignissen wie heftigen Gewittern, ungewöhnlichen Regenfällen, Meteoren, Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Dürren oder Missbildungen, vermuteten die antiken Menschen dahinter „schreckende Zornäusserungen einer beleidigten Gottheit“,162 die durch Opferrituale wieder besänftigt werden sollte Ausgehend von diesem einmal gefundenen Erklärungsmuster entwickelte sich vor allem in Italien ein umfängliches Divinationssystem, wobei sich auch eine Gruppe spezieller Priester herausbildete, die ungewöhnliche Phänomene anstatt sie aus der Naturlehre zu erklären, nach kindischen Aehnlichkeiten, willkührlichen Scheingründen und Träumereyen deuteten, und daraus vorspiegelten, was jene verkündigten, und nun erwartete man natürlicher Weise von ihnen auch, sie sollten die Mittel angeben, durch welche die angekündigten Folgen könnten gehoben oder vermindert werden 163

Phänomene, die also eigentlich durch Naturwissenschaften hätten erklärt werden sollen, wurden damit zu einem Gegenstand der Religion In Rom entwickelte sich die Divination zu einer mächtigen Instanz, die eng mit der Politik verflochten war und nicht mehr hinterfragt wurde Zum Teil zur Festigung der dadurch erlangten Machtposition der Auguren und Haruspices, zum Teil aber auch aus bloßer Angst, wurde den Vorzeichen immer mehr Bedeutsamkeit beigemessen, sodass die beobachteten Phänomene „oft bis zum Unmöglichen, oder doch bis zum Unwahrscheinlichen und Unglaublichen“164 übertrieben wurden Auch wenn es aus heutiger Sicht 159 Ebd 160 Vgl ebd S 36 f 161 Vgl Heyne: Historiae naturalis fragmenta ex ostentis, prodigiis et monstris und die entsprechenden Rezensionen [Heyne]: 191 St In: GGA 1784; 111 St In: GGA 1785 162 [Heyne]: 191 St In: GGA 1784 S 1908 163 Ebd S 1098 f 164 [Heyne]: 111 St In: GGA 1785 S 1107

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unbegreiflich scheint, daß er [= der Mensch] in der Natur lieber zu seiner Qual, zum Schrecken und zu immerwährender Furcht vor einer erzürnten Gottheit, auf das Ungewöhnliche achtet, und dagegen den gewöhnlichen Lauf der Natur, und die tausendfältigen Beweise von Güte der Gottheit, die ihm überall vor Augen liegen, übersieht,165

war doch zumindest die Aufmerksamkeit auf solche Phänomene gelenkt,166 wodurch Mantik hier nicht mehr als menschliche Schwäche und Krankheit erscheinen, sondern nun „die Kindheit der Naturgeschichte darstellen“167 konnte, der „so viele der erhabensten Wissenschaften […] ihren Anfang zu danken [haben]: Sternkunde, Kräuterkunde, Heilkunde s w so fast die ganze Naturlehre“ 168 Heyne glaubte auch, dass der weit verbreitete Glaube an ein Leben der Seele nach dem Tod eng mit durch Trance oder Krankheit hervorgerufenen Halluzinationen in Verbindung stand Dieser Glaube konnte nicht von philosophischer oder theologischer Kontemplation herrühren, weil primitive Menschen dazu nicht in der Lage seien Zugrunde liegen müsse also eine konkrete sinnliche Erfahrung, die sie zu diesem Glauben veranlasste Die naheliegendste Erklärung ist Heynes Ansicht nach, dass ihnen im Rausch oder Traum Verstorbene erschienen Dies erklärte man sich dadurch, dass Tote oder deren Geister auf der Erde oder an einem anderen Ort existieren müssten 169 Die Entwicklungsstufe des Menschen, auf der laut Heyne Religionen entstehen, ist das Nomadentum in kleinen Familienverbänden Jede dieser Familien hatte ihre eigene Religion mit einem eigenen Schutzgott und eigenen Riten Im Laufe der Zeit schlossen sich diese Kleingruppen zu größeren Stämmen aus mehreren Familien zusammen Die Familien, die durch besonders viel Besitz zu den Oberhäuptern dieser Stämme wurden, setzten auch ihre familieneigene Religion in großen Teilen im ganzen Stammesverband durch, sodass die Religion eines Volkes bei Heyne im Grunde genommen

165 Ebd S 1108 166 Die Naturwissenschaften können daher versuchen aus den Überlieferungen über Wunder und Vorzeichen Rückschlüsse auf stattgefundene Erdbeben, Vulkanausbrüche oder klimatische Bedingungen zu ziehen, vgl Heyne: Historiae naturalis fragmenta ex ostentis, prodigiis et monstris, Teil 1 S 208, zum Beispiel dass es im antiken Italien, vor allem in Etrurien, Umbrien und Latium besonders viele Beben und Vulkanausbrüche gegeben haben müsse, da dies zahlreiche Berichte von unterirdischem Lärm, Himmelsverdunkelungen, Bränden, Stein- und Ascheregen, verrückten Statuen und aufspringenden Tempeltüren nahelegen, vgl ebd S 258–263 167 Vgl [Heyne]: 115 St In: GGA 1775 S 988 (= Rez zu De vestigiis domesticae religionis patriique ritus in artis Etruscae operibus) Heyne wundert sich hier, dass auf den von ihm untersuchten vermeintlich etruskischen Vasen keine Darstellungen mantischer Praktiken zu finden sind 168 Ebd S 988 f 169 Ein Beispiel dafür finde sich auch in der Ilias: Achill sah – wie Heyne vermutet, im Rausch oder Traum – den Schatten seines Freundes Patroklos, nachdem dieser getötet worden war Folglich müsse sein Schatten, seine Seele oder etwas Ähnliches auch nach dem Tod noch vorhanden sein, vgl Heyne: Epimetrum [zu Vita antiquissimorum hominum] S 36 f

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auf der einer einzelnen kleinen Familie basiert 170 Schließlich vereinigten sich die Menschen zu immer größeren Gruppen, bis sie schließlich in Dörfern, Städten und Staaten sesshaft wurden Aus den Stammesreligionen wurden einzelne Gottheiten, Riten und Symbole übernommen,171 andere gerieten in Vergessenheit,172 zum Teil verschmolzen verschiedene Gottheiten zu einer einzigen; tendenziell wurden die Religionen eines ganzen Volkes, die sich auf diese Art und Weise herausbildeten, immer umfassender und komplexer 173 Die Entwicklungen im antiken Griechenland beschreibt Heyne dabei als einen besonderen Fall, insofern als Kulturtransfer dort stärker als andernorts als Motor für kulturellen Fortschritt fungierte und Griechenland zu einer frühen Blütezeit verhalf Durch die Einwanderung kulturell weiter entwickelter Völker gelangten Riten und religiöse Vorstellungen hierher, die zwar im Grunde ähnlich, aber bereits stärker elaboriert und durch philosophisch-spekulative Elemente erweitert waren So wurden einige Neuerungen aufgenommen und mit der älteren, roheren Religion vermischt 174 Möglich war dies nur, weil die kulturelle Kluft zwischen den eingewanderten und den ansässigen Völkern noch relativ gering und damit die importierten religiö170 Vgl Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 22 f 171 Als Beweis für diese Übernahme eines Gottes führt Heyne hier die Beinamen der Gottheiten wie Jovis Lycaeus, Juno Argiva und Apollo Amyclaeus an So könne die lokale Herkunft des Gottes aus dem Beinamen erschlossen werden, vgl ebd S 23 172 Als Beispiel für das Verschwinden kleinerer Familienreligionen nennt Heyne den Laren- und Penatenkult in Italien: Dieser sei mit seinen unzähligen lokalen Schutz- und Hausgöttern für jede Familie ein Überbleibsel aus frühesten Zeiten, als jede Familie noch ihre eigenen Gottheiten anbetete Die Laren und Penaten wurden dann spätestens zur Zeit der Römischen Republik endgültig durch die Volksreligion verdrängt, vgl ebd S 23 173 So seien die Götter der antiken griechischen Religion ursprünglich teilweise aus den Göttern pelasgischer Familien, teilweise auch aus lokalen Schutzgeistern entstanden, durch spätere Erfindungen erweitert und durch ständige wechselnde Lebensbedingungen im Laufe der Zeit immer weiter verändert worden, vgl ebd S 24 Ähnliches schrieb er bereits in der drei Monate zuvor verfassten Societätsabhandlung De Theogonia ab Hesiodo condita, vgl Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 128 f , und in der dazugehörigen Rezension, [Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 778: „Jedes Haus, jede Familie, hatte […] ihre Gottheit; Fetische kan man sie nennen, wenn man glaubt, daß damit mehr gesagt ist; die Gottheit einer mächtigen, endlich herrschenden Familie ward die Gottheit eines Stammes, des Volks, endlich des Königreichs; die andern Gottheiten giengen zu grossen Theil ein, oder blieben in einer Familie, auf einem Dorfe, in einem Tempel “ Auch 1787 beschrieb er diese Prozesse in ähnlicher Weise, vgl Heyne: De auctoribus formarum quibus dii in priscae artis operibus efficti sunt S XIX 174 Vgl Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 25 f Ähnlich auch in Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 128 und in der dazugehörigen Rezension [Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 778 f : „Nachher kamen Ausländer, welche fremde Religionsgebräuche und Gottheiten mit sich brachten […] Theils wurden die fremden Gottheiten aufgenommen, theils ihre Namen auf die einheimischen übertragen, theils Vermischungen auf mehr als eine Art gemacht Unter den Namen der griechischen Gottheiten müssen also verschiedene fremde seyn; so wie viele der Gottheiten selbst nach ausländischen copirt sind; aber nicht alle, und nicht nach Aegyptischen allein, […] sondern eben sowohl nach Phönicischen, Thracischen, Phrygischen Nichts blieb rein altgriechisch; alles ward vermischt und aus gar verschiedenen ungleichartigen Begriffen und Gebräuchen zusammengesetzt “

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sen Begriffe ebenso wie die in Griechenland entstandenen hauptsächlich durch Riten geprägt waren, sich also immer noch in einem vorreligiösen Zustand befanden, auch wenn sie sich bereits etwas weiter entwickelt hatten Da einheimische und mitgebrachte Religion zumindest nach demselben Prinzip funktionierten, konnten sich die neuen Glaubensvorstellungen an die alten anschließen und sich mit ihnen vermischen Das Christentum hingegen sei in seinen religiösen Vorstellungen so weit vorangeschritten, dass es schon längst über die polytheistische und stark rituell geprägte religiöse Phase der Stammesgesellschaften hinaus sei und sich nicht mehr an deren archaische Riten anschließen lasse Die Aufnahme des Christentums in den außereuropäischen Kolonien gelinge daher nur schlecht, wenn es „den Heiden in Indien, den Schwarzen auf der Küste von Afrika und den Wilden in Amerika gepredigt wird“,175 weil es primär aus Glaubensvorschriften besteht und nicht wie ältere Religionen hauptsächlich aus „Gebräuchen, von deren Entstehung und Veranlassung überlieferte Erzählungen vorhanden waren, die mit der Volksgeschichte zusammenflossen “176 Eine natürliche Verflechtung des stark dogmatischen, lokal ungebundenen Christentums mit den rituellen lokal und historisch gebundenen Religionen der indigenen Bevölkerung der Kolonien muss also scheitern, während eine Vermischung der Religionen im antiken Griechenland aufgrund größerer Ähnlichkeit und prinzipiell gleicher Denkmuster noch möglich war 177 Die vielfach veränderte und erweiterte Religion in Griechenland wurde schließlich zur Basis für frühe antike Dichtung, die noch auf eine sehr schlichte Sprache zurückgreifen musste und sowohl Symptom als auch Impuls für die beginnende griechische Hochkultur war Barden machten die antike Götterwelt zum Thema ihrer Gesänge und „so bildete sich der historische Theil der Religion selbst ins Poetische “178 Die religiöse Literatur Griechenlands bestand daher nicht aus heiligen Schriften, sondern aus unterhaltsamen Geschichten und Dramen, die immer wieder verändert und ausgebaut wurden Es gab hier keine „Glaubensbücher, Vorschriften, Lehrbegriffe […]; also konnte es auch nie in der Religion zu etwas Einförmigen kommen “179 Das Entstehen einer hoch entwickelten griechischen Literatur sei in diesem Maße nur möglich gewesen, weil es hier eine alphabetische und keine hieroglyphische Schrift gab, die für die Ausbildung einer komplexen Literatur Heynes Auffassung nach unabdingbar ist,180 und weil in Griechenland zwar fremdes Wissen aufgenommen wurde, nicht aber wie zum Beispiel in Rom fremde Literatur oder eine fremde Sprache 181 175 176 177 178 179 180 181

Vgl [Heyne]: 121 St In: GGA 1779 S 979 Ebd Vgl ebd Ebd Ebd S 980 Wegen ihrer Symbolschriften seien Ägypten und China daher nie zu einer so hoch entwickelten Schriftsprache wie in Griechenland gelangt, vgl Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 27 Vgl ebd S 26 f

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Durch eine fremde Sprache wäre das ursprünglich Griechische verfälscht worden, da die Sprache eines jeden Volkes nämlich nur an die eigenen spezifischen Lebensbedingungen und Eigenheiten angepasst ist Heyne war der Ansicht: „Sprache und Schrift entscheidet hier mehr, als vermeynte Organisation und Clima “182 Ab einem gewissen Punkt nahmen die Griechen nichts Fremdes mehr in ihre Riten und Glaubensvorstellungen auf, sodass eine gewisse Basis der griechischen Religion durch die Literatur immer weiter verfeinert und ausgebaut wurde Auf diese Art und Weise – durch die Entwicklung einer Literatur, durch die die griechische Religion in poetischen Texten fixiert und stabil weitergegeben werden konnte, und durch die Wahrung der griechischen Wurzeln trotz aller Vermischung – konnte die antike griechische Kultur immer weiter fortschreiten, während andere Völker über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg auf einer sehr niedrigen Kulturstufe verharren mussten 183 Doch die einmal entstandene griechische Poesie trug nicht nur dazu bei, dass die Glaubensvorstellungen der Griechen in ihren Grundzügen relativ unverändert weitervermittelt werden konnten; sie ist auch für zahlreiche zusätzliche Erweiterungen verantwortlich, da Literatur zur Unterhaltung konsumiert wurde und ein Bedürfnis nach immer mehr neuen Erzählungen entstand Der Anthropomorphismus der antiken Götter lieferte dafür eine äußerst geeignete Grundlage, da die antiken Dichter teils aufbauend auf vorhandene Göttererzählungen, teils schöpfend aus der eigenen Lebenswelt zahlreiche Analogiebildungen und Neuerfindungen schaffen konnten, die lediglich an die Vorstellungen und Prinzipien der griechischen Religion angepasst sein mussten Zudem war es nun leichter, unerklärliche Phänomene scheinbar logisch zu begründen: Man konnte auf eine Unzahl übernatürlicher Wesen zurückgreifen, die für jedes Ereignis verantwortlich gemacht werden konnten 184 Durch diesen Einfluss der Literatur auf die Religion hat sich in Griechenland schließlich für Heyne der Parallelismus zwischen Menschenund Götterwelt endgültig etabliert, der für die antike Mythologie und überhaupt jede Religion kulturell wenig entwickelter Menschen so charakteristisch ist: Die Götter haben die gleichen guten wie schlechten Eigenschaften, Tugenden und Laster wie die Menschen, die in solchen Gesellschaften leben, nur dass bei den Göttern alles extremer, größer, stärker ist 185 Damit verbunden sei auch der Glaube bei den Griechen und auch bei den meisten anderen Urvölkern, dass die Götter Teil der Menschenwelt sind, sich also zeigen und mit den Menschen interagieren, und den Menschen aus Zorn allerlei Arten von Schaden zufügen, etwa in Form von Missernten und Krankheiten 186

182

[Heyne]: 121 St In: GGA 1779 S 980 Zur Beeinflussung der Religion durch das Klima vgl Kap 6 2 S 161–164 183 Vgl Heyne: Vita antiquioris Graeciae ex ferorum et barbarorum populorum comparatione illustrata, Commentatio II S 27 184 Vgl ebd S 27 185 Vgl ebd S 27 f 186 Vgl ebd S 28 f

200

6 „Der rohe Mensch“

Wie gezeigt wurde, sah Heyne deutliche Parallelen zwischen antiken und neuzeitlichen primitiven Gesellschaften wie der indigenen Urbevölkerung Afrikas und Amerikas In dieser Ähnlichkeit erkannte er eine gewinnbringende Möglichkeit, die Genese und die ursprüngliche Bedeutung von Mythen und Religion zu begreifen und auch in der Gegenwart zumindest in Ansätzen beobachten und nachvollziehen zu können Ausführlich zeigte er in seinem Doppelaufsatz Vita antiquissimorum hominum, wie die Altertumswissenschaft durch die Ethnologie befruchtet werden kann Aber auch in seinen mythentheoretischen Schriften deutet er gelegentlich an einigen Stellen den Nutzen des Vergleichs zwischen frühen Bewohnern des europäischen Mittelmeerraumes und indigener Bevölkerung an Bereits 1764, also ganz am Anfang seiner Beschäftigung mit dem Mythos, schreibt er in dem Aufsatz Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, dass man nicht die eigene modern-europäische Sprache und Denkweise anwenden könne, wenn man den antiken Menschen verstehen will, sondern sich zunächst einmal mit den Reisebeschreibungen über die Ureinwohner Nordamerikas beschäftigen solle, um primitives Denken und Sprechen zu verstehen 187 Und auch in dem späten Aufsatz Sermonis mythici seu symbolici interpretatio vergleicht er den Einbezug bildlicher kultischer Gegenstände in Riten während des Altertums mit dem in Afrika verbreiteten religiösen Fetischismus, da die Funktion dieselbe sei: Die Idole dienten damals wie heute zur direkten Kontaktaufnahme mit den angebeteten Gottheiten, da in allen archaischen Gesellschaften die Gottesvorstellungen mit Gegenständen oder Lebewesen, denen die Götter innewohnen, verknüpft sind Daher könne man davon ausgehen, dass afrikanische Volksstämme auf genau die gleiche Art und Weise ihre Talismane und Idole verehren, wie die antiken Pelasger ihre heiligen Felsen und Pfähle anbeteten 188 Mit solchen und ähnlichen Beobachtungen und Feststellungen führte Heyne endgültig den Komparatismus ins Feld der Auseinandersetzung mit antiker Mythologie ein Vor Heyne hatte bereits Joseph-François Lafitau in seinem Buch Moeurs des sauvages américains comparés aux moeurs des premiers temps von 1724 Erklärungen für die Religionen und Vorstellungen antiker Gesellschaften durch indigene Stämme des 18 Jahrhunderts gegeben, ein Werk, das Heyne kannte und in seiner Materialfülle bewunderte, in seinen Grundaussagen jedoch als problematisch einstufte,189 da Lafitau

187 188 189

Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 192 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 307 f ; 318 Vgl [Heyne]: 2 St In: Allgemeine deutsche Bibliothek 6/2 (1768) S 81 (= Rez zu Jens Krafts Die Sitten der Wilden): „Es scheint nicht, daß der V[erfasser] [= Kraft] viel Reisebeschreibungen selbst gelesen habe; die Anführungen sind zu allgemein und unbestimmt, und selten richtig Er scheint ganz dem Lafitau gefolgt zu haben, und dieser hat wirklich schöne Nachrichten gesammlet, von denen er selbst einen elenden Gebrauch macht“ Graf vermutete bereits eine Rezeption Lafitaus durch Heyne, vgl Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne S 291, und anscheinend geht auch Fornaro davon aus, reiht sie Lafitau doch in die Reihe der Vorläufer

6 2 Heyne und die Reise- und Entdeckerliteratur

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von den Fakten „einen elenden Gebrauch macht“ 190 Vermutlich meint er hier Lafitaus Intention, in den Sitten und Religionen primitiver Völker die Überreste einer universellen christlichen Religion nachzuweisen Den vergleichenden Ansatz Lafitaus griff Heyne jedoch erneut auf und war damit einer der ersten, der anhand methodisch fundierter Überlegungen nachwies, dass man durch die Beobachtung von Naturvölkern Einblicke in die Lebensweise und Denkstrukturen der frühesten Bewohner Europas gewinnen könne, da die indigene Bevölkerung Afrikas und Amerikas zu Heynes Zeiten noch ein urzeitliches naturnahes Leben führte, das Wesen des Menschen seiner Ansicht nach im Grunde unveränderlich und überall auf der Welt gleich ist und sich vor allem kulturell wenig entwickelte Gesellschaften in ihren Überlebensstrategien und Denkmustern ähneln müssen 191 Es werde daher durch die Erkenntnisse der Ethnologie deutlich, dass alle Völker der Erde auf ähnlich Weise erst Riten und dann Religionen ausbilden Sie könne außerdem zeigen, auf welche Weise die Prozesse natürlicher Religionsgenese und -vermischung vonstattengehen Insofern könne die Ethnologie immens zu altertumswissenschaftlichen Fragestellungen beitragen und den sicheren Beweis liefern, dass die Vorstellungen und Überzeugungen der urzeitlichen europäischen barbari genau wie die der zeitgenössischen afrikanischen und amerikanischen von aufgeklärtem modern-europäischem Denken radikal unterschieden werden müssen 192 Neu ist bei Heyne also nicht der Komparatismus an sich193 – diesen findet man bereits etwa bei Lafitau und Fontenelle 194 Dass Erkenntnisse aus ethnographischen Berichten aber mit einer Mythentheorie, die antikes Denken und antikes Sprechen als besondere Formen von Realitätsverarbeitung hervorhebt, verbunden werden, ist bei ihm ein absolutes Novum Heynes Schrift Vita antiquissimorum hominum kann damit als eine der wichtigsten Vorläuferschriften der vergleichenden Religionswissenschaft und Kulturanthropologie gelten und muss als elementarer Bestandteil zum Verständnis seiner Mythentheorie betrachtet werden

Heynes ein, vgl Fornaro: I Greci senza lumi S 121 f Ein erster Nachweis, dass Heyne Lafitaus Werk kannte, findet sich bei Gisi, vgl Gisi: Einbildungskraft und Mythologie S 145 f 190 Vgl [Heyne]: 2 St In: Allgemeine deutsche Bibliothek 6/2 (1768) S 81 191 Vgl [Heyne]: 100 St In: GGA 1779 S 802 192 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 200 f 193 Zu einem Überblick über Gelehrte, die bis in Heynes Gegenwart neuzeitliche und antike Naturvölker verglichen, etwa M de la Créquinière, Joseph-François Lafitau und Antoine-Yves Goguet, vgl Gisi: Einbildungskraft und Mythologie S 114–149 194 Vgl weiterführend zu solchen komparatistischen Aspekten bei Lafitau und Fontenelle ebd S 118– 125; 131–133; Fornaro: I Greci senza lumi S 121 f

Kapitel 7 Heynes Mythentheorie 7.1 Mythos und Fabel 7 1 1 Begriffe im Wandel – Die Verwendung der Begriffe Mythos und Fabel im 17 , 18 und 19 Jahrhundert Heyne postulierte in seinen Schriften immer wieder eine Umbenennung der antiken Erzählstoffe von dem gebräuchlichen Wort Fabel hin zu dem neuen Terminus Mythos, da seiner Ansicht nach der alte Begriff durch seine zahlreichen Konnotationen und Implikationen den objektiven Blick auf die Mythen verstellt Ob diese Forderung schon zeitnah Wirkung zeigte, soll zunächst anhand einiger deutschsprachiger Wörterbücher, Grammatiken und Poetiken exemplarisch untersucht werden Hier ist zunächst der Frage nachzugehen, wann die Begriffe Mythos und Fabel darin vorkommen und wie sie erklärt werden Anschließend soll betrachtet werden, wie Heyne selbst zwischen Mythen und Fabeln differenzierte Bevor Heyne seine Schriften zur Mythentheorie verfasste, wurde das, was wir heute Mythos nennen, im deutschsprachigen Raum in der Regel mit dem Begriff Fabel bezeichnet Vor Heyne erscheinen das Wort Mythos beziehungsweise Mythus oder dessen Derivate kaum im Deutschen Soweit bekannt, taucht es erstmals 1536 im Dictionarium Germanico-Latinum des Schweizer Theologen Dasypodius auf 1 In den nächsten zweihundert Jahren ist es jedoch nicht mehr nachweisbar2 und erscheint

1

2

Vgl Werner Betz: Vom ‚Götterwort‘ zum ‚Massentraumbild‘, Zur Wortgeschichte von ‚Mythos‘ In: Helmut Koopmann (Hg ): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19 Jahrhunderts Frankfurt a M : 1979 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd 36) S 12 Bei Dasypodius steht: „Mythos, latiné Fabula, Ein erdichtet märe Mythologia, ein erdichtete erzälung“ (Petrus Dasypodius: Dictionarium latinogermanicum Straßburg: 1536 S 143) Zwar erscheint Mythos hier nicht als deutsches, sondern fremdsprachliches Wort, doch immerhin erstmals in einem deutschsprachigen Wörterbuch Vgl Betz: Vom ‚Götterwort‘ zum ‚Massentraumbild‘ S 13

7 1 Mythos und Fabel

203

erst wieder in der ersten Hälfte des 18 Jahrhunderts, etwa 1740 bei Jacob Koch,3 1744 bei Beck und Buxtorff,4 1746 bei Johann Bödiker5 und 1754 bei Johann Christoph Kind;6 weitaus häufiger lassen sich lateinische, meist wissenschaftliche Texte finden, in denen der Begriff verwendet wird Zum Teil werden in diesen Gelehrtentexten in lateinischer Sprache die Begriffe fabula und mythus beziehungsweise mythos synonym benutzt So verwendeten beispielsweise 1580 Lilius Gregorius Gyraldus,7 1716 Johannes Jönsen,8 1723 Cornelius a Lapide9 und 1752 Johann Christoph Gottsched10 die Substantive mythus und fabula sowie die zugehörigen Adjektive mythicus und fabulosus in gleicher Bedeutung In der ersten Hälfte des 18 Jahrhunderts gibt es aber auch schon lateinische Texte von Gelehrten, die eine differenzierte Vorstellung von antiken Stoffen etablieren und auf den Begriff mythus zurückgreifen So verwendet beispielsweise der Theologe Johann Christoph Harenberg (1696–1774) in einem Text über den antiken Geographen Pausanias aus dem Jahr 1729 den lateinischen Begriff mythus und die entsprechenden Derivate 11 Das Adjektiv mythicus wird hier einmal auf das Wort aevum, hier im Sinne 3 4 5 6 7

8 9

10 11

Vgl Jacob Koch: Charos, Das ist: Unverhofft aufblickendes Licht in denen dicken Finsternissen der ältesten Ägyptischen Historie Lemgo: 1740 S 92 Koch verwendet hier den Begriff mythische Zeit und referiert damit auf den Entstehungszeitraum vorschriftlicher Geschichtsüberlieferung Vgl Jacob Christoff Beck / August Johann Buxtorff: Neu-vermehrtes Historisch- und Geographisches Allgemeines Lexicon, Bd 6, Ru-Z Basel: 31744 Art Troy, Franciscus de, S 809 In diesem Wörterbuch wird eine Erzählung mythischen Inhalts eine mythologische Erfindung genannt Johann Bödiker: Grundsäze der Teutschen Sprache, Mit Dessen eigenen und Johann Leonhard Frischens vollständigen Anmerkungen, durch neue Zusäze vermehret von Johann Jacob Wippel Berlin: 1746 S 469 f , s u S 204 Vgl Johann Christoph Kind (Übers ): Plutarchs Lebens-Beschreibungen der berühmtesten Griechen und Römer mit ihren Vergleichungen, Achter und letzter Theil Leipzig: 1754 S 50 Die Begriffe Mythos und Fabel werden hier synonym verwendet Lilius Gregorius Gyraldus (= Giglio Gregorio Giraldi): Historiae poetarum tam Graecorum quam Latinorum dialogi decem In: Operum quae extant omnium Tomi duo, Bd 2 Basel: 1580 S 33 Gyraldus verwendet hier sowohl das Substantiv Mythus als auch das dazugehörige Adjektiv mythicus Als Synonym für Mythus tritt hier auch fabula auf Johannes Jönsen: De Spartis aliisque nonnullis epistola In: Collectio dissertationum rarissimarum historico-philologicarum Utrecht: 1716 S 218 Die Adjektive mythicus und fabulosus werden hier synonym verwendet Cornelius a Lapide (= Cornelis Cornelissen van den Steen): Commentaria in ecclesiasticum indicibus necessariis illustrata Antwerpen: 1723 S 315 Die Metamorphosen Ovids werden hier als mythi beziehungsweise fabulae bezeichnet; Aesop habe als der wichtigste mythologus seiner Zeit fabulae verfasst Johann Christoph Gottsched: De temporibus Teutonicorum vatum mythicis quaedam Leipzig: 1752 S 4 Die Zeiten der Mythenentstehung nennt Gottsched fabulosus beziehungsweise mythicus Vgl Johann Christoph Harenberg: Pausanias, Graecus scriptor, interpres Sacri Codicis, Pars prima In: Bibliotheca Lubecensis 8 (1729) S 598–639 Ob Heyne Harenbergs Werk über Pausanias gelesen hat, lässt sich heute leider nicht mehr mit Sicherheit bestimmen Fest steht aber, dass er Harenberg als Person und auch einige seiner Schriften sehr gut kannte So rezensierte er im Jahr 1772 Harenbergs Aufsatz De primis Tatarorum vestigiis victricibus orbem Christianum terrentibus atque adfligentibus über die Geschichte der Tataren sowie das zu diesem Aufsatz gehörende Sendschreiben Epistola Io. Christoph. Harenbergii ad editorem de Tatarorum origine et Genghis-Khani

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7 Heynes Mythentheorie

von Zeit oder Zeitalter, bezogen,12 womit hier die Zeit gemeint ist, in der sich nach antiker Vorstellung die Taten des Herkules, das Unternehmen der Argonauten, Ilias, Odyssee und Ähnliches abspielten 13 Die Begriffe mythicus und mythus werden hier auch im Sinne einer Textsorte und einer bestimmten Erzählweise verwendet Harenberg schreibt, dass es in der Antike ein „genus scripturae mythicum ac hieroglyphicum […] per symbolorum mythorumque inuolucra“,14 eine gewisse Art mythischen und hieroglyphischen – also symbolischen – Schreibens, gegeben habe Es handelt sich hier also um ein spezifisches nichtwörtliches Erzählen, sozusagen um einen mythischen Überbau über der eigentlichen intendierten Textaussage In deutschsprachigen Wörterbüchern, Grammatiken und Poetiken erscheint der Begriff Mythos beziehungsweise Mythus ebenfalls bereits vor 1750 So definiert Johann Jacob Wippel in Johann Bödikers Grammatik Grundsäze der Teutschen Sprache von 1746 Mythus folgendermaßen:15 Mythus, ein Gedicht, ist eine iede erdichtete Erzälung; sowol von dem, was sein kann, als auch von dem, was einen Widerspruch enthält, oder nicht sein kann; um dadurch gleichfalls etwas anders, das wirklich sein kann, anzudeuten Man nennet ein solches Gedicht auch eine Fabel Mythus und Fabel aber bedeuten zuweilen eine iede Erzälung, auch von marhaften Begebenheiten Einige heißen nur die wiedersprechenden Erzälungen Fabeln […] Nach dem Sprachgebrauche aber muß man dem Worte Fabel und Mythus denienigen Begriff beilegen, welchen wir hier gesezet haben 16

Mythus bezeichnet nach Wippel eine literarische Gattung, wobei der Begriff so weit gefasst ist, dass „eine iede erdichtete Erzälung“17 als Mythos bezeichnet wird, also jeder

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16 17

factis gloriosis atque posteris eius bellicosis, über die er sich jeweils recht anerkennend äußert, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 84 St In: GGA 1772 S 706, und teilt 1774 in den GGA Harenbergs Tod mit, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 142 St In: GGA 1774 S 1224 Wenn sich also auch keine sicheren Hinweise ausmachen lassen, dass Heyne von Harenbergs Pausanias Kenntnis hatte, so steht doch ohne Zweifel fest, dass er diesen namentlich und auch einige seiner Schriften kannte Dass er auch mit dieser Schrift vertraut war, wird dadurch folglich keineswegs ausgeschlossen, sondern im Gegenteil sogar sehr wahrscheinlich Vgl Harenberg: Pausanias S 600 Harenberg fährt fort, indem er erläutert, Pausanias habe sein geographisches Wissen zum Teil den Erzählungen ebendieses aevum mythicum entnommen Vgl ebd Ebd S 602 Da in der Überarbeitung durch Johann Leonhard Frisch von 1723 der Begriff Mythus noch nicht verwendet und erklärt wird, muss es sich hier um einen Zusatz von Wippel aus dem Jahr 1746 handeln, vgl Johann Bödiker: Grund-Sätze der Teutschen Sprache, Verbessert und vermehrt von Johann Leonhard Frisch Berlin: 1723 S 324 f ; Bödiker: Grundsäze der Teutschen Sprache (1746) S 464–477 Ebd S 469 f Ebd S 469

7 1 Mythos und Fabel

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fiktionale Text, sowohl „ein Gedicht“18 als auch eine „Erzälung“,19 das heißt Lyrik und Prosa, wobei Mythus und Fabel offenbar synonym verwendet werden In Johann Leonhard Frischs (1666–1743) deutsch-lateinischen Wörterbuch von 1741 erscheint unter dem Lemma Fabel folgendes: Vom Lateinischen fabula / Fabel, eine erdichtete Erzehlung der heidnischen Theologie, Sitten- und Natur-Lehr Mythos, figmentum Poetarum Darunter sie die Wahrheiten als unter einem schönen Kleid verdeckt die Lehre von solchen heidnischen Fabeln, mythologia, einer der solche Fabeln erklärt, mythologus / Fabel, als des Æsopi Gespräche zwischen Thieren, Apologus; logi Æsopei / Fabel, Mährlein, fabula; figmentum anicularum; mendacium nurricum; logi; nugae ein artiges und lustiges Gedicht, festiva & delectabilis fabula Das man den Kindern erzehlt ihnen die Zeit zu kürzen 20

Inhaltlich ist der Begriff hier schon enger gefasst als später bei Wippel und in drei unterschiedliche Bedeutungen unterteilt Eine Fabel kann zum einen in der Bedeutung des Märchens gebraucht werden, zum anderen wird als Fabel auch die äsopische Fabel bezeichnet, also in dem Sinne der Gattung verwendet, die wir auch heute noch als Fabel bezeichnen An erster Stelle gibt Frisch an, dass eine Fabel „eine erdichtete Erzehlung der heidnischen Theologie, Sitten- und Natur-Lehr“21 sei Im Gegensatz zu den beiden anderen Bedeutungen des Fabelbegriffs erscheint nur hier als lateinische Übersetzung der Begriff Mythos Dabei weicht Frisch durch die Verwendung der griechischen Endung von der sonst in dieser Zeit konventionellen latinisierten Form Mythus ab Vorherrschend ist jedoch in der ersten Hälfte des 18 Jahrhunderts die Verwendung des Begriffs Fabel und nicht Mythos oder Mythus Durch einen Blick auf Johann Jakob Breitingers (1701–1776) Critische Dichtkunst, eine Poetik aus dem Jahr 1740, wird der Fabelbegriff dieser Zeit noch deutlicher Allgemein zeichnet sich, so Breitinger, eine Fabel durch ihre didaktische Intention aus22 und erreicht ihre belehrende Funktion vor allem, wenn im erzählenden Teil der Fabel „wunderbare Handlungen“23 dargestellt werden Aus diesem Grund sind irreale Erzählelemente für Fabeln prägend Breitinger erläutert dazu: da hingegen die meisten gewöhnlichen Handlungen gar nichts ungemeines oder merckwürdiges an sich haben; so sah man sich gemüssiget, damit die Erzehlung […] nicht verächtlich

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Ebd Ebd Johann Leonhard Frisch: Teutsch-Lateinisches Wörter-Buch, 2 Theile Berlin: 1741 S 236 Ebd Vgl Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst Zürich/Leipzig: 1740 S 166 Eine Fabel sei ihrem Wesen nach nichts Anderes als „ein lehrreiches Wunderbares“ (ebd ) Sie sei erfunden worden, um Lesern moralische Hinweise subtil und auf eine angenehme Weise zu vermitteln Ebd S 184

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7 Heynes Mythentheorie

würde, derselben durch die Veränderung und Verwandlung der Personen einen angenehmen Schein des Wunderbaren zuzutheilen Da nun die Menschen bey aller ihrer Verschiedenheit, dennoch […] in einer wesentlichen Gleichheit und Verwandtschaft stehen, so besann man sich, Wesen von einer höhern Natur, die man würcklich zu seyn glaubte, als Götter und Genios; oder solche, die man durch die Freyheit der Dichtung zu Wesen erschuf, als die Tugenden, die Kräfte der Seele, das Glück, die Gelegenheit, u a in die Erzehlung einzuführen; vornehmlich aber nahm man sich die Freyheit heraus, die Thiere, die Pflanzen, und noch geringere Wesen, nemlich die leblosen Geschöpfe, zu der höhern Natur der vernünftigen Wesen zu erheben, indem man ihnen menschliche Vernunft und Rede mittheilete, damit sie also fähig würden, uns ihren Zustand und ihre Begegnisse in einer uns vernehmlichen Sprache zu erklären, und durch ihr Exempel von ähnlichen moralischen Handlungen unsre Lehrer abzugeben 24

Indem Breitinger den didaktischen Kern als das wesentliche Merkmal einer Fabel bestimmt und davon ausgeht, dass ein fantastischer und irrealer Inhalt zu einem größeren Interesse an der Fabel und damit auch zu einer höheren Wirksamkeit derselben führe, kann er sowohl antike Götter- und Heldenerzählungen als auch Tierfabeln gemeinsam unter dem Begriff Fabel subsumieren Diese Annahmen führen aber auch dazu, dass Breitinger voraussetzen muss, antike Fabeln seien bewusst erdichtet und intentional auf Belehrung ausgerichtet Die Gattung Fabel unterteilt er in zwei Untergattungen Diese Einteilung erfolgt bei ihm nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern nach der Realitätsnähe der handelnden Figuren Fabeln mit menschlichem Personal und realistischen Handlungen nennt Breitinger „wahrscheinliche […] oder menschliche Fabeln“;25 da für Breitinger eine erzieherische Absicht und eine fiktive Handlung notwendige und hinreichende Merkmale einer Fabel sind, können also auch realistische Erzählungen zur Gattung Fabel gezählt werden, sofern sie eine didaktische Intention verfolgen 26 Die zweite Gruppe der Fabeln zeichnet sich dadurch aus, dass die handelnden Figuren keine Menschen sind: Ein mehrerer Grad des Wunderbaren äussert sich in derjenigen Classe der Fabeln, in welcher ganz andere als menschliche Personen aufgeführet werden, hiemit solche Personen, die ganz ausserordentlich und für sich selbst wunderbar sind […] einige sind von einer vortrefflichen und höhern Natur, als die menschliche ist, z Ex die heidnischen Gottheiten, und alle andern fantastischen Wesen, die in Personen verwandelt werden; Andere sind zwar in Ansehung ihres Ursprungs und ihrer natürlichen Geschicklichkeit von einem geringern Rang als die Menschen, als z Ex die Thiere, Pflanzen und leblosen Dinge, denen aber die Fabel das Leben, die Vernunft und die Rede freygebig schencket, und

24 25 26

Ebd S 184 f Ebd S 188 Vgl ebd S 187

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sie beynahe zu der menschlichen Würde erhebet Weil in diesen Fabeln das Wunderbare über das Wahrscheinliche nach verschiedenen Graden herrschet und überwiegt, werden sie […] wunderbare, und in Absicht auf die Personen entweder göttliche oder thierische Fabeln genennet 27

Bei Breitinger bilden mythische Stoffe und Tierfabeln zusammen eine Gruppe von Fabeln, deren verbindendes Merkmal das Vorhandensein fantastischer Elemente ist Seine Vorstellung von mythologischen Stoffen ist demnach dadurch geprägt, dass ihnen ein religiöser Gehalt tendenziell abgesprochen wird „Göttliche Fabeln“28 sind nach Breitinger vielmehr Dichtungen, die im Bewusstsein, dass es sich bei den Inhalten um Fiktion handelt, erschaffen wurden Dies wird an zwei Beispielen, die Breitinger anführt, offensichtlich: Homer habe durch die Verwandlung der Gefährten des Odysseus in Schweine verdeutlichen wollen, dass sich der Mensch nicht seinen Trieben ergeben und sich dadurch auf eine Stufe mit den Tieren erniedrigen lassen solle; der Dichter der Prometheus-Fabel habe dadurch, dass er Prometheus bei der Erschaffung des Menschen von jedem Tier seine auffallendste Eigenschaft nehmen und den Menschen geben ließ, die triebhafte Natur des Menschen darstellen wollen 29 Allerdings war sich Breitinger bewusst, dass Religion die Basis dieser Erzählungen bildet; er schreibt: Was […] die heidnischen Gottheiten und fantastischen Wesen, die zuweilen als Personen in einer Fabel aufgeführet werden, noch absonderlich berühret, so gründet sich ihre Wahrscheinlichkeit auf einem ehemals in der Welt angenommenen Glauben, nach welchem auch solche Dinge, die für sich selbst nicht bestehen, als die Tugenden, die Laster, die Affecten, die Zeit, in Personen sind verwandelt, und so gar unter die Zahl der Götter aufgenommen worden 30

Dass die Stoffe, auf die sich die „göttlichen Fabeln“ stützen, aus der antiken Religion gespeist sind, hindert Breitinger jedoch nicht daran, die Erzählungen über diese Stoffe als Dichtung, also bewusst geschaffene Fiktion, zu klassifizieren Dass er die Ansicht vertritt, „göttliche“ und „thierische“ Fabeln unterschieden sich nicht in ihren Entstehungsbedingungen, wird an seiner Einordnung der mythischen Epen deutlich Er erklärt hier: Denn gleich wie das Helden-Gedicht eine prächtige und ausführliche Fabel ist, so ist hergegen […] die Fabel ein kleines und ins Kurze gefaßtes episches Gedicht Beyde gehören unter ein Geschlecht und haben ein gleiches Wesen, die oben gegebene Erklärung schliesset darum auch beyde ein In beyden muß die Handlung, die erzehlet wird, nur einfach seyn, und eine Haupt-Lehre zur Absicht haben 31 27 28 29 30 31

Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd

S 187 f S 188 S 204 f S 195 f

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7 Heynes Mythentheorie

Da Breitinger sowohl mythischen Epen wie Odyssee und Ilias als auch den Fabeln Aesops eine moralisch belehrende Wirkung als Absicht unterstellt, kann er beide zur Gattung Fabel zählen 32 Epen und Tierfabeln unterscheiden sich, so Breitinger, dennoch in einem Punkt, und zwar in Bezug auf ihre Adressaten Die „epische Fabel“ habe „eine grosse und wichtige, meistens politische Wahrheit, an deren Beobachtung […] das Heil ganzer Völcker hängt, zur Haupt-Absicht“ 33 Dementsprechend sind die handelnden Figuren Menschen „von hohem Gemüthe und Character“ und die Handlung „groß und wichtig“ 34 Die handelnden Gottheiten sind eingefügt, damit die „Würdigkeit der menschlichen Personen nicht wenig erhoben wird“ 35 Die „esopische Fabel“ orientiere sich hingegen in erster Linie nach dem „gemeine[n] bürgerliche[n] Leben der Menschen“ 36 Handlung und Personal sind daher aus der Lebenswelt einfacher Menschen gegriffen und in kürzeren Texten dargestellt 37 Breitinger verwendet in seiner sehr breit angelegten Poetik an keiner Stelle den Begriff Mythos, sondern nur das Wort Fabel Umso erstaunlicher ist es, dass Johann Jacob Wippel nur sechs Jahre später scheinbar ganz selbstverständlich über Mythen schreiben kann Man könnte nun annehmen, dass die Anfänge der Entlehnung des Wortes Mythos beziehungsweise Mythus etwa in den vierziger Jahren des 18 Jahrhunderts anzusiedeln sind 38 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich die abweichende Terminologie der beiden Autoren aus dem unterschiedlichen Adressatenkreis ihrer Werke ergibt Werke der im 18 Jahrhundert noch jungen Gattung deutscher und deutschsprachiger Grammatiken wurden in erster Linie für Gelehrte geschrieben, während sich Poetiken 32

33 34 35 36 37 38

Dass beide Textsorten zu den Fabeln gehören, formuliert Breitinger auch an anderer Stelle ausdrücklich: „Nun ist noch niemandem in den Sinn gekommen, der epischen Erzehlung darum weilen die Haupt-Personen, die darinne aufgeführet werden, Menschen sind, und weilen die Geschichte zum Theil auf die historische Wahrheit gegründet, und gröstentheils möglich und wahrscheinlich ist, den Titel einer Fabel abzusprechen: Da doch eine epische Fabel in ihrem Grundriß und erstern Entwurff von einer menschlichen esopischen Fabel wesentlich nicht unterschieden ist“ (ebd S 197) Ebd Ebd Ebd S 198 Ebd Vgl ebd Bei dieser Überlegung muss jedoch auch die Haltung von Breitinger und Bödiker gegenüber Fremdwörtern einbezogen werden In der Bödiker’schen Grammatik treten Fremdwörter, vor allem solche lateinischen und griechischen Ursprungs, sehr häufig auf Die Fremdwörter erscheinen dabei stets in ihren lateinischen oder griechischen Schreibweisen und Flexionsformen Fremdwörter in der deutschen Sprache werden von den Autoren dieser Grammatik folglich nicht kategorisch abgelehnt Wichtig sei es nur, dass Orthographie, Aussprache und Flexion an das Deutsche angepasst werden, vgl Bödiker: Grundsäze der Teutschen Sprache (1746) S 118–124 Breitinger hingegen verhielt sich neuen Fremdwörtern gegenüber eher kritisch und ablehnend: „Aus diesem allem ziehe ich nun den Schluß, daß man mit Recht kein Wort als alt und verlegen verwerffen kann, so lange man in einer Sprache nicht ein anderes gleichgültiges aufweisen kann, welches dienet, den Begriff desselben in einem gleichen Lichte vollkommen auszudrücken“ ( Johann Jakob Breitinger: Fortsetzung der Critischen Dichtkunst Zürich: 1740 S 211)

7 1 Mythos und Fabel

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mit ihrer längeren Tradition zwar auch an Gelehrte richteten, aber ein wesentlich größeres Publikum bedienten als Grammatiken Man kann also annehmen, dass das Wort Mythos beziehungsweise Mythus zum Wortschatz des Gelehrtenjargons gehörte, deswegen in Texten, die wie Poetiken an ein breiteres Publikum als den kleinen Kreis der Wissenschaftler gerichtet waren, vermieden wurde und man stattdessen eher auf den geläufigeren Begriff Fabel zurückgriff Dementsprechend erscheint in den frühen deutschen Wörterbüchern das Lemma Mythos nie, sondern nur Fabel So ist beispielsweise weder in Matthias Kramers (um 1640–1727/1730) Wörterbuch Das herrlich-Grosse Teutsch-Italiänische Dictionarium39 von 1700/1702 noch in Christoph Ernst Steinbachs (1698–1741) Vollständigem Deutschen Wörter-Buch40 aus dem Jahr 1734 Mythus oder Mythos, auch nicht als Synonym, Fremdwort oder lateinisch-griechische Übersetzung, jedoch in beiden Fabel verzeichnet Am Ende des 18 und zu Beginn des 19 Jahrhunderts, also im Wesentlichen nachdem Heyne seine Schriften zur Mythentheorie veröffentlicht hatte, tauchen die Begriffe Mythos und Mythologie dann aber bereits als eigene Lemmata in Wörterbüchern auf Johann Christoph Adelung (1732–1806) verzeichnet in seinem Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart zwar schon das Wort Mythologie als „Lehre von den erdichteten Gottheiten der Alten“,41 nicht aber Mythos als eigenes Lemma Unter dem Eintrag Fabel führt Adelung jedoch vier Bedeutungen an: 1) Ein jedes allgemeines Gespräch und der Gegenstand desselben; eine im Hochdeutschen veraltete Bedeutung […] 2) In engerer Bedeutung, eine jede erdichtete Erzählung, ein Märchen 3) In noch engerem Verstande, eine erdichtete Erzählung, mit welcher der Dichter eine sittliche Absicht verbindet, zum Unterschiede von einem Mährchen, welches keine moralische Absicht hat […] In diesem Verstande gehören die Lustspiele, die Trauerspiele, Heldengedichte, Romanen u s f zur Fabel 4) In der engsten Bedeutung, begreift man unter diesem Nahmen die Erzählung einer allegorischen Handlung, welche Thieren und geringen Dingen beygeleget wird; […] Diese Fabeln im engsten Verstande werden auch Äsopische Fabeln genannt 42

Vergleicht man Adelungs Eintrag zum Lemma Fabel mit dem rund 50 Jahre älteren aus Frischs Wörterbuch, wird deutlich, dass sich die Bedeutung des Fabelbegriffs in diesem Zeitraum gewandelt hat In der ersten Hälfte des 17 Jahrhunderts war Fabel noch 39 40 41 42

Vgl Matthias Kramer: Das herrlich-Grosse Teutsch-Italiänische Dictionarium, Bd 1 Nürnberg: 1700 S 317; Das herrlich-Grosse Teutsch-Italiänische Dictionarium, Bd 2 S 90 Vgl Christoph Ernst Steinbach: Vollständiges Deutsches Wörter-Buch, Vel Lexicon Germanico-Latinum, Bd 1 Breslau: 1734 S 360; Vollständiges Deutsches Wörterbuch, Bd 2 S 95 Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, Bd 3 Leipzig: 21798 Sp 352 Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, Bd 2 Sp 4

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7 Heynes Mythentheorie

fest mit der „heidnischen Theologie, Sitten- und Natur-Lehr“43 verknüpft, umfasste also neben den oben genannten anderen Bedeutungen auch mythologische Erzählungen und Inhalte Dass Frisch diese Bedeutung als erste auflistet, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich dabei nicht um eine Neben-, sondern eher um eine Hauptbedeutung gehandelt hat Ein halbes Jahrhundert später führt Adelung diese Bedeutung nicht mehr auf Zwar hat das Wort Fabel immer noch ein recht breites semantisches Spektrum, doch werden mythologische Erzählungen nicht als Spezialbedeutung aufgeführt Fabeln sind nun nur noch in einem sehr weiten Sinn fiktive Erzählungen jeglicher Art oder Tierfabeln Dass zwar nicht Mythos, wohl aber Mythologie einen eigenen Eintrag erhalten hat, könnte darauf hindeuten, dass die nun bei dem Wort Fabel fehlende Bedeutung der mythischen Stoffe nach und nach durch das Wort Mythos ersetzt wird und dieses in den allgemeinen Sprachgebrauch einwandert In Joachim Heinrich Campes (1746–1818) Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke von 1813 erhalten sowohl Mythologie als auch Mythos schließlich ein eigenes Lemma Campe definiert einen Mythos als „eine heilige (die Götterlehre betreffende) Sage aus der Vorzeit, welche den Dichtern Stoff zu ihren Dichtungen gab“44 und ist damit unmittelbar nach Heynes Schaffenszeit bereits erstaunlich nahe an der Erklärung des Mythosbegriffs, die im aktuellen Duden-Fremdwörterbuch zu finden ist 45 7 1 2 Mythos und Fabel bei Heyne Bevor Heyne seine Schriften zur Mythentheorie veröffentlichte, wurde das, was wir heute Mythen nennen, im allgemeinen Sprachgebrauch, wie gezeigt, mit dem Begriff Fabel bezeichnet Heyne führt die Bezeichnung Mythos in seiner lateinischen Variante mythus als wissenschaftlichen Terminus neu in die Forschung ein, da der zu seiner Zeit übliche Begriff Fabel seiner Ansicht nach das Gemeinte nicht hinlänglich fassen kann und durch seine Konnotation als dichterische Erfindung herabsetzt 46 Er bemängelt die damals verbreiteten Vorstellungen von Mythen und stellt fest, dass es für eine ertragreiche Beschäftigung mit der Geschichte, Philosophie und Religion der Antike und deren Beurteilung von äußerster Wichtigkeit sei, wahre, elaborierte und differen43 44 45

46

Frisch: Teutsch-Lateinisches Wörter-Buch S 236 Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke Braunschweig: 1813 S 430 Hier wird das Wort Mythos als eine „1 überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung o Ä aus der Vorzeit eines Volkes (die sich bes mit Göttern, Dämonen, der Entstehung der Welt, der Erschaffung des Menschen befasst) 2 Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären Charakter hat 3 falsche Vorstellung“ (Dudenredaktion: Duden, Bd 5, Das Fremdwörterbuch Mannheim u a : 92007 S 689) erklärt Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 3

7 1 Mythos und Fabel

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zierte Vorstellungen über Mythen zu besitzen, die nicht zuletzt auch durch die vorherrschende Terminologie verhindert werden Heyne wundert sich daher nicht darüber, dass man das Wesen der Mythen zu seiner Zeit nicht verstand, da sie als bedeutungslose Fabeln, als Dichterfiktion und Märchen betrachtet wurden, die sich hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Ursachen, ihres Gebrauchs und Alters vermeintlich kaum voneinander unterschieden 47 Zwar sei die Bedeutung der antiken Erzählstoffe, so Heyne, für das Verständnis literarischer Texte zweifelsfrei immens, doch dies lässt für ihn keineswegs den Schluss zu, dass sie darüber hinaus keine andere Funktion als eben diese künstlerisch-literarische aufwiesen 48 Für Heyne ist es daher an der Zeit, diese antiken Stoffe umzubenennen Er schlägt aus diesem Grund vor: „Mythen wollen wir sie mit einem weniger anstößigen Worte, als Fabeln, nennen“ 49 Für Heyne scheint es passender zu sein, sich des griechischen anstatt des lateinischen Fremdwortes zu bedienen, und er greift damit auf einen Terminus zurück, den bereits Platon zur Bezeichnung antiker religiöser Vorstellungen heranzog 50 Die Etablierung des Nomens Mythologie hatte sich im Deutschen bereits vor dem Erscheinen von Heynes mythentheoretischen Schriften vollzogen So ist der Terminus bereits in der zweiten Hälfte des 17 Jahrhunderts im Deutschen nachweisbar;51 sein Auftreten nimmt dann in der ersten Hälfte des 18 Jahrhunderts stark zu 52 Daher konnte Heyne bereits 1763 feststellen: „In vsum […] receptum est vocabulum mythologiae“,53 doch auch die Einheiten der Mythologie, die damals noch sogenannten Fa-

47 48 49 50 51 52

53

Vgl Heyne: Praefatio In: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae S 4 Vgl ebd S 4 f Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a3r Ähnlich vgl Heyne: Commentatio de Apollodori bibliotheca novaque eius recensione simulque universe de litteratura mythica In: Ad Apollodori bibliothecam notae, Bd 3 S 914 Vgl Kap 3 1 S 51 Vgl Balthasar Kindermann: Der Deutsche Poët Wittenberg: 1664 S 120 Vgl zum Beispiel das Auftreten in Johann Gottfried Zeidler: Pantomysterium, Oder das Neue vom Jahre in der Wündschelruthe Magdeburg: 1700 S 419; Magnus Daniel Omeis: Teutsche Mythologie In: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst Nürnberg: 1704; [Nikolaus Hieronymus Gundling]: Auserlesene Anmerckungen uber allerhand wichtige Materien und Schriften, Anderer Theil Frankfurt/Leipzig: 1705 S 375; o V : Von Italien In: Die Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket 32 (1706) S 526 f ; Benjamin Hederich: Anleitung zu den fürnehmsten Historischen Wissenschaften, bekanntlich der Geographie, Chronologie, Genealogie, und Heraldica, Der Historia Vniversali, Notitia Auctorum, Den Römischen Antiquitäten, und der Mythologie Berlin/Zerbst: 1709; Johann Leonhard Martini: Brieffe oder Send-Schreiben, Vornehmer Gelehrter Leute, Welche Die Verspottung Der Wünschel-Ruthe Vorstellen, Und deren Systemata Oder Grund-Sätze Über einen Hauffen werffen Frankfurt a M : 1709 S 183; Benjamin Hederich: Gründliches Lexicon mythologicum Leipzig: 1724; Charles Sorel: Erleichterte Mythologie oder deutliche Fabel-Lehre von den erdichteten Heidnischen Göttern und Göttinnen Dresden: 1724; Breitinger: Critische Dichtkunst S 46; 292; 339; 345 Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich hier anschließen Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 3

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7 Heynes Mythentheorie

beln, verlangen seiner Ansicht nach eine Umbenennung Rund 50 Jahre vor Heynes wissenschaftlichen Abhandlungen hatte zwar auch Hermann von der Hardt bereits die Abschaffung des Wortes Fabel für die Götter- und Heldenerzählungen des Altertums und die Umbenennung durch die Bezeichnung Mythus gefordert 54 Jedoch blieb er mit seinem Postulat wirkungslos und Heyne konnte stattdessen als erster den neuen Terminus Mythos sowohl in universitären als auch außeruniversitären Kreisen durchsetzen 55 In seiner letzten Abhandlung zur Mythentheorie, dem Aufsatz Sermonis mythici seu symbolici interpretatio von 1807, zieht Heyne – noch zu Lebzeiten – ein erstes Resümee über seine Bemühungen zu diesem Begriffswandel Er schreibt hier, dass das Wort mythus im Allgemeinen recht ungenau und zur Bezeichnung fiktiver Dichtungen, jeder Art von Aberglauben, der Vorstellungen aller Völker und Zeiten, zum Teil sogar der Lehrsätze der antiken und neueren Philosophen verwendet werde Problematisch sei jedoch, dass weit verbreitet die Ansicht herrsche, dass mythus und fabula fast synonyme Begriffe seien 56 Das Wort Mythos ist offensichtlich nach circa 40 Jahren, in denen Heyne immer wieder dessen Verwendung forderte, in den wissenschaftlichen Diskurs über die Antike eingegangen, hat aber den alten Begriff fabula wohl noch nicht vollständig verdrängen können Heyne ist somit – von von der Hardts ergebnisloser Bemühung abgesehen – der erste Gelehrte, der eine Unterscheidung zwischen mythi und fabulae einfordert Im Folgenden soll eine quantitative Analyse von Heynes Rezensionen hinsichtlich der darin verwendeten Terminologie Aufschlüsse darüber geben, wie Heyne die Begriffe Fabel, Mythos und Mythologie in seinen deutschen Texten verwendete und inwiefern daraus ein einsetzender Sprachwandel abgeleitet werden kann Diese zeigt, dass Heyne selbst die Trennung der Begriffe Fabel und Mythos erstaunlicherweise nicht immer streng einhält In insgesamt 357 Rezensionen, in denen Heyne die Begriffe Mythos (in den Varianten Mythus oder Mythe)57 und Fabel mitsamt ihrer Komposita verwendete, erscheint der Begriff Fabel und Wörter, die den Stamm Fabel enthalten, 54 55

56 57

Vgl Kap 3 2 5 S 75; 79 Auch wenn Wolf ihm dieses Verdienst gern absprechen will, indem er van Swinden als den ersten bezeichnete, der dieses Wort in einem wissenschaftlichen Kontext zur Benennung antiker Erzählstoffe verwendete, vgl Friedrich August Wolf: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft In: Museum der Alterthums-Wissenschaft 1 (1807) S 59, muss doch Heyne als der erste gelten, der den Begriff nachhaltig durchsetzte Zwar sprach van Swinden in seinem Specimen novae editionis Apollodori & Commentarii ad eum tatsächlich bereits 1741 von Mythen, vgl Gerard Jacob van Swinden: Specimen novae editionis Apollodori & Commentarii ad eum In: Miscellaneae observationes criticae novae in auctores veteres et recentiores 3 (1741) S 37–40, jedoch verwendete er den Begriff synonym mit dem Wort Fabel und forderte keine Umbenennung Im Übrigen läge Wolf mit seiner Behauptung auch dann falsch, wenn sie auf Heyne zutreffen würde, denn wie beschrieben verwendete bereits vor van Swinden von der Hardt den Begriff, vgl Kap 3 2 5 S 75; 79 Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 289 Heyne verwendet den heutigen Begriff Mythos in den damals üblichen Varianten Mythus und Mythe, wobei die Form mit der lateinischen Endung mit 42 Nennungen etwas häufiger auftaucht als der oder (seltener) die Mythe mit 33 Erwähnungen Am häufigsten tritt das Wort in seiner deut-

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insgesamt 802-mal und Mythos sowie daraus gebildete Komposita 804-mal, also fast gleich oft Mehrfach treten Adjektivbildungen aus beiden Wortstämmen auf, wobei die Adjektivableitungen von dem Wort Mythos, mythisch und mythologisch, deutlich häufiger anzutreffen sind als das Adjektiv fabelhaft: So erscheint diese Adjektivableitung nur 39-mal, wohingegen mythisch und mythologisch 118- beziehungsweise 81-mal genannt werden Häufige Substantivkomposita, die das Wort Fabel beinhalten, sind etwa Fabellehre (16), Dichterfabel (14) und Künstlerfabel (8) Mehrfach auftretende Komposita mit dem Wortstamm Mythos sind beispielsweise Mythograph (9), Mythik (7), Dichtermythos (7) und Mythologe (6) Einen Sonderfall stellt das Kompositum Mythologie dar Dieses erscheint in den untersuchten Rezensionen 271-mal und tritt damit sogar häufiger als sein Stamm Mythos mit 252 Nennungen auf Somit kommt das Wort Mythos in den untersuchten Rezensionen Heynes mit 252 Nennungen nur weniger als halb so häufig als in seinen Komposita mit 552 vor Das Wort Fabel hingegen erscheint mit 636 Nennungen fast viermal öfter als daraus gebildete Komposita mit 165 Erwähnungen Heyne verwendet das Wort Fabel damit also deutlicher häufiger als daraus gebildete Komposita; das Wort Mythos hingegen erscheint als einfaches Substantiv relativ selten, viel häufiger jedoch als Teil eines Kompositums, vor allem in der Bildung Mythologie Dass vor allem dieses Kompositum besonders häufig auftritt, ist nicht verwunderlich, da der Begriff bereits vor dem Wort Mythos in den deutschen Sprachgebrauch aufgenommen wurde Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass Heyne in seinen Rezensionen auf antike Götter- und Heldenstoffe deutlich häufiger mit dem Wort Fabel referiert, als dass er den von ihm selbst geforderten Begriff Mythos verwendet Den Gesamtkomplex mythischer Stoffe beziehungsweise die Wissenschaft von den Mythen nennt er allerdings relativ konsequent Mythologie – der Begriff Fabellehre und ähnliche Begriffe58 erscheinen lediglich 18-mal; die Anzahl der Nennungen anderer Begriffe, an deren Stelle Heyne auch Mythologie hätte setzen können,59 beschränkt sich auf lediglich 14 Das etwas ältere Wort Mythologie und das dazugehörige Adjektiv mythologisch erscheinen relativ zueinander dennoch nicht häufiger als der neuere Begriff Mythos und sein Adjektivkompositum mythisch, ja sogar im Gegenteil: mit 434 Nennungen erscheinen das Wort Mythos und davon abgeleitete Wörter um einiges häufiger als Mythologie und dessen Komposita mit 370 Nennungen Im Verhältnis zueinander verwendet Heyne den neueren Begriff also mindestens genauso selbstverständlich wie das ältere Wort Mythologie Andere Nomen mit ähnlichen Bedeutungen wie Mythos und Fabel kommen in den untersuchten Rezensionen Heynes deutlich seltener vor So verwendet Heyne als Synonym für Fabel und Mythos an einigen Stellen

58 59

schen Pluralbildung als Mythen (178-mal) auf, seltener (nur 15-mal) belässt es Heyne bei der lateinischen Pluralendung als Mythi Je einmal verwendet Heyne die Begriffe Fabelkunde und Fabelstudium Heyne verwendet sechsmal das Wort Fabelsystem, viermal Fabelcyclus, zweimal Fabelkreis und je einmal Fabelheer und Fabel-Aggregat

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7 Heynes Mythentheorie

den Begriff Sage – dieser kommt in den Rezensionen insgesamt 194-mal vor Viel seltener treten in ähnlichen Kontexten die Wörter Legende (17 Nennungen) und Märchen (20 Nennungen) auf 60 Nimmt man die Rezensionen Heynes eigener Schriften aus, da man davon ausgehen könnte, dass Heyne den von ihm selbst geforderten Mythosbegriff in diesen eventuell häufiger und konsequenter als den älteren Fabelbegriff verwendet haben könnte, stellt sich die Verteilung der Nennungen von Fabel und Mythos erstaunlicherweise kaum anders dar: 586 Nennungen von Fabel und dazugehörigen Komposita stehen 589 Erwähnungen von Mythos und daraus abgeleiteten Wörtern in insgesamt 286 untersuchten Rezensionen gegenüber In Rezensionen eigener Werke beträgt das Verhältnis sogar 216 Nennungen von Fabel zu 215 Nennungen von Mythos Die Häufigkeit der Begriffe ist also in etwa gleich hoch und Mythos erscheint nicht – wie zu erwarten wäre – in Rezensionen eigener Schriften häufiger als das Wort Fabel Heyne verwendete also beide Begriffe sowohl in Rezensionen eigener als auch fremder Schriften ungefähr gleich oft Dabei treten häufig beide Begrifflichkeiten innerhalb einer einzelnen Rezension auf – in 152 der untersuchten Rezensionen erscheinen beide Begriffe, meist als Synonyme Etwas seltener – in 116 Rezensionen – wird nur von Fabeln gesprochen, in 91 Texten ist nur von Mythen die Rede Bei Rezensionen eigener Schriften – man könnte vermuten, dass sich Heyne in diesen Texten konsequenter auf einen Terminus beschränkt – ist das Verhältnis jedoch noch dramatischer: 29-mal verwendet Heyne beide Begriffe, während er in 27 Fällen nur Fabel und in lediglich 17 nur Mythos verwendet

60

Scheer kritisiert Heynes Inkonsequenz in der Benennung von Mythen mit den unterschiedlichen Bezeichnungen Mythus, Mythe, Sage, Legende oder Märchen in seinen deutschsprachigen Texten und will daraus ableiten, dass Heyne „den Mythosbegriff […] nicht eigentlich systematisch erforscht, definiert und propagiert“ (Scheer: Heyne und der griechische Mythos S 26) habe und stattdessen „vielmehr ein Kunstwort, das lateinische mythus [benutzt], um das Bezeichnete vom geläufigen fabula abzugrenzen“ (ebd S 27), sodass in der Vergangenheit oft eine nur vermeintliche Einheitlichkeit in Heynes Mythosbegriff suggeriert wurde Scheer lässt dabei jedoch außer Acht, dass für Heyne weder Deutsch die maßgebliche Wissenschaftssprache noch die GGA das vorrangige Organ zur Verbreitung seiner Theorien waren Diese geschah selbstverständlich in allererster Linie in seinen lateinischsprachigen Abhandlungen, für die die Selbstrezensionen wohl eher als eine knappe Zusammenfassung und Werbung zum Zwecke einer öffentlichkeitswirksamen Bekanntmachung anzusehen sind Eine Durchsetzung des neuen Begriffs im Deutschen hatte für Heyne vermutlich gar nicht die höchste Priorität, galt es doch zunächst, den Begriffswandel im Kreise der Gelehrten und damit in der Wissenschaftssprache Latein zu vollziehen Schließlich konnten Heynes lateinische Abhandlungen potenziell eine europäische Leserschaft erreichen und somit im Gegensatz zu den GGA über die Grenzen des deutschsprachigen Raums hinaus wirken Scheers Urteil, Heyne habe den neuen Begriff in Wirklichkeit nicht systematisch propagiert, resultiert nicht zuletzt daraus, dass sie Heyne offenbar als einen deutschsprachigen Wissenschaftler betrachtet, der er gar nicht war – seine erste Schrift- und Wissenschaftssprache war das Lateinische Vgl auch die Einschätzung von Heynes Biographen Heeren, der ihn ja persönlich sehr gut gekannt hatte, Heeren: Christian Gottlob Heyne S 234: „Heyne schrieb das Latein mit eben so vieler Leichtigkeit als Correctheit; correcter wie selbst seine Muttersprache […] Er hatte diese Sprache, die Prosa wie die Dichtersprache, auf das vollkommenste in seiner Gewalt “

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Der Befund mag zunächst verwundern, wäre doch zu erwarten, dass Heyne einer konsequenten Trennung der Begriffe selbst nachkommt, da er sie doch stets forderte Das recht häufige Vorkommen des Fabelbegriffs lässt sich in der hier rein quantitativen Analyse jedoch auch nicht dadurch erklären, dass sich Heyne etwa häufig gegen die übliche Wortverwendung wandte und daher zwangsläufig auch oft den Fabelbegriff gebrauchte – dies tat er in seinen Rezensionen nicht Bedacht werden muss hier vielmehr die Textgattung Der Zweck von Besprechungen war damals stärker als heute die Bekanntmachung der Werke: Überblicke über die aktuelle Forschungsliteratur konnten kaum anders als über Rezensionsorgane gewonnen werden – ihr Zweck konnte daher aus Rezensentensicht nicht vorrangig die Verbreitung eigener Arbeitsergebnisse und Theorien sein Die Rezensionen sind für Heyne also nicht der ‚Kampfplatz‘, um seine Forderung nach dem Begriffswandel offensiv zu propagieren Er greift daher in der Regel die Terminologie der besprochenen Werke auf, stellt dem aus seiner Sicht veralteten, aber immer noch gebräuchlichen Begriff Fabel jedoch immerhin schon das neue Wort Mythos gegenüber und verbreitet es damit unterschwellig Zeigen können die Rezensionen hingegen den einsetzenden Sprachwandel, der als Entwicklungsprozess freilich langsam vonstattengeht Aufschlussreich ist es deswegen nun auch, die zeitliche Dimension in die Analyse einzubeziehen Heyne arbeitete insgesamt 51 Jahre lang für die GGA; in den ersten 27 Jahren dieser Zeit erschien das Wort Fabel und seine Komposita in den untersuchten Rezensionen 416-mal, während Mythos und seine Ableitungen nur etwa halb so oft auftauchen, nämlich 229-mal In der zweiten Hälfte seines Arbeitens für das Göttinger Rezensionsjournal, zwischen 1790 und 1812, ist das Verhältnis genau umgedreht: Von Fabeln wird hier 386-mal gesprochen, während das Wort Mythos und seine Varianten 575-mal erscheinen An einer unterschiedlichen Anzahl an Rezensionen liegt dies nicht: Aus dem späteren Zeitraum wurden mit 184 in etwa genauso viele Rezensionen untersucht wie aus dem früheren mit 173 Die genaue Aufschlüsselung der Anzahl der Nennungen nach Jahrzehnten geordnet zeigen Diagramm 12 und 13 61 Aus den Diagrammen geht hervor, dass Heyne in den ersten Jahrzehnten seines Arbeitens für die GGA das Wort Mythos deutlich seltener in seinen Rezensionen verwendet als den Begriff Fabel, doch ab den 1790er Jahren kehrt sich dies um: In den letzten 25 Jahren seiner Tätigkeit als Rezensent taucht Mythos deutlich häufiger als Fabel in Heynes Kritiken auf Auffällig ist weiterhin eine Ballung beider Begriffe in den 1770er Jahren, was darauf hinweist, dass sich Heyne in diesem Jahrzehnt besonders intensiv mit Mythologie befasst hat Dabei ist zu dieser Zeit in Heynes Rezensionen besonders häufig von

61

Vgl Anh S 344 f Diagramm 12 zeigt die Häufigkeit der Begriffe Mythos und Fabel mitsamt ihrer jeweiligen Komposita in absoluten Zahlen an; in Diagramm 13 ist die Anzahl der Nennungen in Relation zur Anzahl der untersuchten Rezensionen des jeweiligen Zeitraums gestellt, um das Ergebnis von eventuellen Effekten zu bereinigen, die sich aus der Häufigkeit der Nennungen und der Anzahl der untersuchten Rezensionen ergeben könnten

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7 Heynes Mythentheorie

Fabeln die Rede, während der Begriff Mythos sehr viel seltener auftritt, im Verhältnis sogar sehr viel seltener als noch in den 1760er Jahren Eine mögliche Erklärung für diese scheinbar unlogische Umkehr des Mehrheitsverhältnisses könnte sein, dass Heyne vielleicht unmittelbar, nachdem er den Begriffswandel in seinen frühen mythentheoretischen Schriften der 60er Jahre postuliert hatte, seiner Forderung noch konsequenter nachkam, sich davon später aber löste und wieder mehr auf das gängigere und in seiner Verwendung ja immer noch bedeutungsgleiche Wort Fabel zurückgriff Ein deutliches Übergewicht erhält der Begriff Mythos dann in den letzten 12 Jahren der Rezensententätigkeit Heynes Fabel nimmt nach dem Peak in den Siebzigern nach einem leichten Anstieg bis zum Ende der Rezensententätigkeit Heynes kontinuierlich ab, wohingegen die Häufigkeit des Begriffs Mythos stetig anwächst, was klar darauf hindeutet, dass der Begriff Mythos am Ende des 18 und zu Beginn des 19 Jahrhunderts bei Heyne immer gebräuchlicher wird Weitere interessante Aspekte offenbart es, die Verhältnisse der Frequenz beider Begriffe nach Rezensionen eigener und fremder Schriften aufzuschlüsseln, was die Diagramme 14 bis 1762 zeigen Dabei wird deutlich, dass die relative Häufigkeit der Nennung von Fabel in Rezensionen anderer Autoren seit Heynes Ankunft in Göttingen ansteigt und zu Beginn des 19 Jahrhunderts leicht absinkt, im Großen und Ganzen aber auf dem gleichen Niveau bleibt, während Mythos bis in die 1780er Jahre vergleichsweise selten gebraucht wird, dann dramatisch ansteigt und in den neunziger Jahren des 18 Jahrhunderts den Begriff Fabel überholt,63 sodass davon auszugehen ist, dass der Begriff allgemein in der Literatur häufiger gebraucht wird Das Bild für die Rezensionen eigener Schriften stellt sich hingegen ganz anders dar: In diesen Rezensionen spricht Heyne zu Beginn seiner Tätigkeit für die GGA um ein Vielfaches häufiger von Fabeln als von Mythen; doch schon mit Beginn der achtziger Jahre geht diese enorme Häufigkeit der Verwendung von Fabel dramatisch zurück und bleibt auf vergleichsweise niedrigem Niveau, während Heyne noch in den siebziger Jahren des 18 Jahrhunderts von Mythen recht selten spricht, den Begriff in den Achtzigern etwa genauso oft wie Fabel verwendet und seit den Neunzigern deutlich häufiger das Wort Mythos gebraucht 64 Ebenfalls interessant ist die Frage, ob das ältere Wort Mythologie in früheren Rezensionen häufiger als der Begriff Mythos vorkommt als in späteren, da auch dies ein Indiz für die zunehmende Verbreitung der von Heyne angestoßenen neuen Begrifflichkeit wäre, zumal er ja wie gezeigt auf den Mythologiebegriff schon zurückgreifen konnte Die Auswertung – dargestellt in den Diagrammen 18 bis 23 – bestätigt diese Vermutung Die Verwendung des Wortes Mythologie verzeichnet im Verlauf des Rezensionserscheinens einen stetigen Anstieg in seiner absoluten Menge;65 ins Verhältnis zu den untersuchten Texten gesetzt verbleibt sie im Lauf der Jahre 62 63 64 65

Vgl Vgl Vgl Vgl

Anh S 345–347 Diagramm 15, Anh S 346 Diagramm 18, Anh S 347 ebd

7 1 Mythos und Fabel

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auf etwa ähnlichem Niveau 66 Der Anstieg der Verwendungshäufigkeit von Mythos ist in absoluten Zahlen jedoch noch viel drastischer67 und so deutlich, dass er sich auch ins Verhältnis gesetzt klar abzeichnet68 – seit den achtziger Jahren des 18 Jahrhunderts erscheint das Wort Mythos in Heynes Rezensionen häufiger als sein älteres Kompositum Mythologie Unterteilt nach Rezensionen von Schriften aus eigener und fremder Feder ist diese Grundtendenz gleich, allerdings zeitlich leicht verschoben Bei Rezensionen anderer Autoren bleibt die absolute Anzahl der Nennungen des Wortes Mythologie nach einem Anstieg in den siebziger Jahren bis zum Beginn des 19 Jahrhunderts auf etwa gleichem Niveau und steigt dann bis zu Heynes Tod an;69 im Verhältnis zur Anzahl der verfassten Rezensionen verbleibt sie aber auf ungefähr gleicher Höhe 70 Vor 1800 steigt auch die Zahl der Nennungen des Wortes Mythos und seiner Komposita leicht an, bleibt aber bis 1800 unter der Anzahl der Nennungen von Mythologie; danach erscheint dieses Wort auch häufiger in Rezensionen anderer Autoren als das ältere Mythologie 71 Bei Rezensionen seiner eigenen Schriften hingegen erfolgt beim Wort Mythologie weder in absoluten Nennungen noch ins Verhältnis gesetzt ein nennenswerter Anstieg 72 Das Wort Mythos und seine Komposita nennt Heyne jedoch bereits seit 1770 immer öfter und schon seit 1780 häufiger als das Wort Mythologie und seine Komposita 73 Zusammenfassend zur Verwendung der Begriffe Mythos, Mythologie und Fabel in Heynes Rezensionen bleibt festzuhalten, dass Heyne seiner Forderung nach einer Umbenennung von Fabeln in Mythen selbst nicht konsequent nachkam, was auch daran liegt, dass er in den meisten Fällen die Terminologie der rezensierten Werke aufgriff – auch in Selbstrezensionen gebrauchte er noch häufig den älteren Begriff, auch wenn er hier offensichtlich eher und konsequenter das neuere Wort verwendete Im Laufe seiner Rezensententätigkeit nimmt die Verwendung des neueren Begriffs jedoch in Rezensionen sowohl eigener als auch fremder Schriften kontinuierlich zu, während das Wort Fabel immer seltener auftritt Die Wirksamkeit von Heynes Forderung nach einer Umbenennung ist hier also klar ablesbar: Nicht nur er selbst, auch viele andere Gelehrte verwendeten seit dem Ende des 18 Jahrhunderts zunehmend das neue Wort Mythos, um auf antike Erzählstoffe zu referieren Deutlich präziser und konsequenter geht Heyne mit den beiden Termini Mythos und Fabel in seinen lateinischsprachigen mythentheoretischen Schriften um Einer Anzahl von 412 Verwendungen des Begriffs mythus und seiner Komposita steht hier 66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl

Diagramm 19, Anh S 348 Diagramm 18, Anh S 347 Diagramm 19, Anh S 348 Diagramm 20, Anh S 348 Diagramm 21, Anh S 349 Diagramm 20 u 21, Anh S 348 f Diagramm 22 u 23, Anh S 349 f ebd

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7 Heynes Mythentheorie

ein Auftreten des Wortes fabula und davon abgeleiteter Wörter in nur 140 Fällen gegenüber; in den dazugehörigen deutschen Rezensionen stellt sich das Verhältnis ähnlich dar: 103-mal erscheint Mythos und seine Derivate, Fabel und fabelhaft jedoch nur 43-mal Nach dieser quantitativen Analyse sollen Heynes mythentheoretische Texte im Folgenden im Hinblick auf die Verwendung beider Begriffe und deren Definitionen untersucht werden Achtet man auf diese, wird der Unterschied zwischen Mythos und Fabel bei Heyne deutlich Von fabulae spricht er häufig, wenn er über den Stand und das verbreitete Bild von den antiken Erzähltexten reflektiert, sich also imitierend der in seinen Augen unpassenden Terminologie anderer Gelehrter und des allgemeinen Sprachgebrauchs bedient,74 vor allem aber wenn es um überlieferte Erzählungen geht, die in der Regel von antiken Dichtern als fiktiver literarischer Text erschaffen wurden,75 weshalb er für diese antiken literarischen Texte an einigen Stellen die Bezeichnung narratio, Erzählung, in synonymer Bedeutung verwendet 76 Eine Fabel ist „veterum poëtarum mos ac studium, symbolice ea, quae vellent, et per mythos declarandi“77 und „war Sage, entweder historischer oder religiöser Art“ 78 Mythen hingegen sind Heynes Ansicht nach das Stoffgebiet, aus dem die antiken Dichter die Inhalte ihrer Dichtungen beziehungsweise Fabeln oder Elemente für deren rhetorische Ausschmückung schöpften 79 Heyne verwendet außerdem die Begriffe Sage und Mythus in den Vorreden zu Hermanns Handbuch der Mythologie an einigen Stellen synonym, legt sich aber auch hier auf die Bezeichnung Mythus fest Er schreibt ausdrücklich: „jene alten Sagen, Mythen wollen wir sie […] nennen“ 80 Zudem weist er 1798 in der Rezension zu seiner Societätsabhandlung De fide historica aetatis mythicae auf die Synonymie von Mythos und Sage hin: Man denkt sich unter Mythus nicht mehr bloß eine Dichtung, Dichterfabel; sondern Mythen sind im allgemeinen Sinn alles, was die alte Welt bis auf die Zeit der Aufzeichnung in ihrer alten Sprache und Vorstellungsart erzählt und gedacht hat; die Deutsche Sprache hat ein Wort, die Sage, womit sich alles besser, als durch Fabel, bezeichnen läßt 81

74 75 76 77 78 79 80 81

Vgl Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a2v; Praefatio In: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae S 4; Historiae scribendae inter Graecos primordia S 121 Vgl Heyne: Praefatio In: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae S 4; 6; Praefatio In: Apollodori Atheniensis bibliothecae libri tres et fragmenta S IV Vgl z B Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 143 Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 49 Die Begriffe fabula und „veterum poëtarum mos ac studium, symbolice ea, quae vellent, et per mythos declarandi“ werden hier synonym verwendet Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 2 S III Vgl Heyne: Praefatio In: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae S 7 Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a3r [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 465 f

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Die Fabel ist also selbst kein Mythos bei Heyne, war es aber ursprünglich, bevor er durch die Überarbeitung antiker oder späterer Dichter zu einer Fabel wurde,82 er wurde „von verschiedenartigem Gebrauch der Dichter […] verändert und umgestaltet, […] so daß Mythen nichts, als bloße Fabeln und witzige Dichtung wurden“83 und folglich „Mythe und Fabel […] ganz verschiedene Begriffe sind“ 84 Zu diesem Umwandlungsprozess, durch den Mythen in Fabeln verwandelt wurden, schreibt Heyne, dass die erste Geschichtsschreibung in Griechenland, wie etwa das Werk Herodots, auf Mythen basierte Später sei jedoch die Gewohnheit aufgekommen, Geschichtswerken einen mythologischen Teil voranzustellen, in dem die Entstehung der Welt und Ähnliches abgehandelt wurden Auf diese Weise seien die Mythen realen historischen Ereignissen gleichgestellt, wie wahre Berichte behandelt und, da sie nicht zum Rest des Werkes passten, an den Habitus realistischer Geschichtsschreibung angepasst worden, wodurch sich bei den ältesten Geschichtsschreibern wie zum Beispiel Kadmos von Milet „mythische Geschichte und mythische Physik finden“ 85 Doch ist, so Heyne, „keines von beiden […] das, was wir Fabel, Erdichtung und Lüge nennen“ 86 Insofern entwickelten sich die ursprünglichen Mythen durch das „poetarum studium mythos illos in poeticas fabulas mutandi“87 zur Basis einer Kunstform, indem „Mythen in Dichterfabel übergegangen“ sind 88 Die Grundlage der Mythen wiederum sei „aut rei gestae vel euenti fam[a], aut hominum antiquorum opini[o] aliqua de re, priscarum aetatum sermone express[a]“,89 also entweder ein historisches Ereignis oder „iudicia et opiniones de rebus, quae sensui hominum rudium occurrerant“ 90 Mythen sind, wie er 1799 schreibt, theils die älteste Geschichtssage, theils älteste Vorstellungsart von natürlichen und sittlichen Dingen […], welche in der rohen bildlichen Sprache zuerst gefaßt, mündlich wiederhohlt,

82

83 84 85 86 87 88 89 90

Vgl Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia S 140 An eigen Stellen hält Heyne diese Begriffsunterscheidung, jedoch selbst nicht ein, vgl zum Beispiel [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 471 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae): „Die Fabel, der Mythus, muß so verstanden werden, wie ihn der erste, der ihn vortrug, nach dem Geiste seines Zeitalters, und der Natur seiner Sprache, verstehen konnte, und mußte“ Fabel und Mythus erscheinen hier also vollkommen synonym, obwohl er weiter oben im gleichen Text selbst darauf hinweist, dass sich durch den Begriff „Sage […] alles besser, als durch Fabel, bezeichnen läßt“ (ebd S 465 f ), dass die antiken Überlieferungen „unmöglich geradezu für Fabel und Lüge erklärt werden“ (ebd S 469) können, und ansonsten in der Rezension nur die Begriffe Sage und Mythus synonym und in etwa gleich häufig (30-mal Mythus und 28-mal Sage sowie deren Komposita) verwendet [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2015 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) Ebd S 2016 [Heyne]: 46 St In: GGA 1799 S 451 (= Rez zu Historiae scribendae inter Graecos primordia) Ebd Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 148 Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a4r Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 143 Ebd S 147

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7 Heynes Mythentheorie

weiter hin in Dichtersprache auf vielfältige Weise bearbeitet, und endlich als bloßer Dichterstoff betrachtet worden ist,91

beziehungsweise, laut seiner letzten Mythosdefinition aus dem Jahr 1807, als alte Sagen, als die ersten Quellen und Anfänge der Völkergeschichte, zu betrachten, andere als die ersten Versuche der Kinderwelt zu philosophiren; in ihnen versuchte sich das Genie zur Poesie; durch sie bildete sich der Geschichtsstyl; von ihnen ging überhaupt die Bildung der Schrift, Sprache, zunächst die Dichtersprache, aus; aus welcher die Redekunst mit ihrem Schmucke, den Vergleichungen, Figuren und Tropen hervorging; die Kunst aber mit ihren Idealen, vermittelst der Götternaturen, und des Göttersystems, hatte ihre ganze erste Anlage in den Mythen und mythischen Bildern 92

Mythen sind damit bei Heyne ein elementarer, wenn nicht der elementare Teil einer vorzivilisatorischen Weltsicht und der Schlüssel zu aller nachfolgenden kulturellen Entwicklung Insofern ließen sich, so Heyne, aus den mythischen Erzählungen die weltanschaulichen Vorstellungen und Ansichten der antiken Menschen rekonstruieren93 und Rückschlüsse auf Ereignisse der Frühgeschichte ziehen 94 Daher sei Mythologie „an und für sich die älteste Geschichte und die älteste Philosophie; der Inbegriff der alten Volks- und Stammsagen, ausgedrückt in der alten rohen Sprache“ 95 Zu beachten sei dabei aber, dass in den antiken Mythen aufgrund der damaligen harten und einfachen Lebensweise keine tiefgreifenden philosophischen Reflexionen und detailgetreuen Berichte von großen, politisch bedeutsamen Ereignissen erwartet werden können Bevor die Menschen in größeren Gemeinschaften sesshaft wurden und Synergieeffekte durch Arbeitsteilung genutzt werden konnten, war alles Tun auf das tägliche Überleben ausgerichtet, und daher waren auch die Gedanken dieser Menschen nur auf Nahrungsbeschaffung und Kampf fokussiert; für Kontemplation gab es schlicht und ergreifend keine Gelegenheiten Ihre Vorstellungen von den Göttern und physikalischen Vorgängen mussten also sehr einfach, undeutlich und bildhaft sein, wenn sie überhaupt vorhanden waren 96 Ein Mythos ist in Heynes Mythentheorie also eine primitive metaphysische Spekulation oder die Erinnerung an ein weit zurückliegendes Ereignis, deren verwischte Spuren in den Fabeln erhalten sind Insofern ist der Mythos der Ausgangspunkt oder die Quelle der Fabel, aus der sie ihren Stoff schöpft Somit ist eine Fabel gewissermaßen der Phänotyp oder das Symptom eines Mythos, anhand dessen, so Heyne, die 91 92 93 94 95 96

[Heyne]: 46 St In: GGA 1799 S 450 (= Rez zu Historiae scribendae inter Graecos primordia) [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2009 f (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 143 Somit bezieht Heyne sowohl euhemeristische als auch ätiologische Deutungsansätze in seine Mythentheorie ein, vgl Kap 7 2 S 221–231 Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a3r Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 9

7 1 Mythos und Fabel

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Geschichte und Philosophie einer urzeitlichen Menschheit, die Mythen, rekonstruiert werden können Jedoch kann sich ein einzelner Mythos im Laufe der Zeit zu verschiedenen Fabeln entwickelt haben und daher in verschiedenen Formen vorliegen 97 Die Gesamtheit der mythischen Erzählungen, die während des Altertums entstanden sind, sei daher von überaus großer Heterogenität geprägt So gebe es unter ihnen einiges, das sehr einfach und schlicht ist, anderes sei wiederum sehr ausgeschmückt; wieder anderes sei absurd, kindisch oder abstoßend Die ausgesprochen große Diversität sei allerdings nicht verwunderlich, da man bedenken müsse, dass sich in den Mythen die ersten Anfänge des menschlichen Verstandes widerspiegeln, dass sich die Menschheit erst später zu Höherem aufgeschwungen habe und dass in den frühen Kosmogonien und Theogonien keineswegs die Verstandesschärfe späterer Philosophen erwartet werden könne 98 Die Entstehung der Mythen reicht dabei in eine Zeit zurück, die noch weit vor dem Wirken Homers und Hesiods liegt Die nachhomerische griechische Hochkultur ist damit keine Zeit, zu der Mythen entstanden; die alten Griechen griffen vielmehr auf ein schon längst vorhandenes Repertoire mythischer Erzählungen zurück Wenn von Antike und antiken Menschen bei Heyne die Rede ist, handelt es sich also immer um Urvölker, die bar jeder Schriftlichkeit ihre Erzählungen stets mündlich tradierten 7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum Heyne unterscheidet innerhalb seiner Mythentheorie drei Mythenarten, die genera mythorum, und unterteilt diese nach der Art ihrer jeweiligen Entstehung Es gibt zwei primäre Arten von Mythen, die beide seit den Anfängen der menschlichen Kulturgeschichte greifbar seien, zum einen die Mythen des genus philosophicum, die uralte Anschauungen über Natur und Moral enthalten, zum anderen die Mythen des genus historicum, die sich aus Berichten über historische Ereignisse entwickelten 99 Auf Basis dieser beiden Gruppen von Mythen entstand später eine dritte sekundäre Art von Mythen, das genus poeticum, das die Mythen umfasst, die nicht langsam über Jahrhunderte hinweg durch ein Stammeskollektiv entwickelt, sondern von einer Einzelperson, einem Autor, als Dichtungen erschaffen wurden Heyne lokalisiert die Antike in der „infantia generis humani“,100 in der Verstand und Vorstellungskraft noch nicht zu klugen Überlegungen herangebildet waren 101 Durch

97 98 99 100 101

Vgl Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a3r Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 6 Vgl ebd S 4; De opinionibus per mythos traditis S 144 Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 190 Vgl ebd

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7 Heynes Mythentheorie

die Mythen der ersten Gruppe, die philosophischen Mythen,102 sei in dieser Zeit der Grundstein für alle späteren Betrachtungen gelegt worden, weshalb in diesen Mythen die Anfänge alles menschlichen Wissens und aller menschlichen Weisheit enthalten seien 103 Zu diesem genus gehören alle Mythen, deren Inhalt die Funktionen und die Herkunft der Götter, deren Beziehungen untereinander und so weiter umfasst Ihnen weist Heyne folglich den frühesten Entstehungszeitpunkt zu 104 Philosophische Mythen dienten Heynes Ansicht nach der Verarbeitung der Lebenswirklichkeit und erklärten auf ungebildete Weise105 Naturphänomene, den Ursprung der Welt und Ähnliches Somit ist es für Heyne keineswegs ein „cerebri insani somnium“,106 die Traumerscheinung eines wahnsinnigen Verstandes, gewesen, der die Menschen der Antike dazu veranlasste, sich gegenseitig Geschichten wie die vom Goldenen Vlies zu erzählen Er konstatiert vielmehr: „adesse debuit aliquid, quod ad hoc figmentum deduceret“ 107 Dieses „aliquid“, das Heyne für die antike Mythenentstehung verantwortlich macht, ist schlicht das Bedürfnis der antiken Menschen, ihre Lebenswelt plausibel zu deuten Dabei neigten sie dazu, vor allem für sehr beeindruckende, unberechenbare und beängstigende Phänomene Erklärungen zu suchen Eine zentrale Bedeutung für die Entstehung der Mythen haben daher unbekannte Dinge, vor allem Sinnestäuschungen, angsteinflößende Naturereignisse wie Blitze, Stürme, Erdbeben und Fluten sowie intensive Emotionen wie Zorn, Liebe oder Rachegelüste,108 Extremund Notsituationen wie Hitze- oder Kältewellen, Hungersnöte und Epidemien,109 in der Regel jedoch negative Erlebnisse, wohingegen das Gewohnte, Alltägliche und Normale erst später, als subtilere philosophische Betrachtungen aufkamen, emotionale Bedeutung für die Menschen gewonnen habe 110 Bei ihren Beobachtungen konzentrierten sich diese Menschen sehr stark auf das wahrgenommene Phänomen, wodurch sich ihnen das Erlebnis tief einprägte, und je öfter sie sich später zurückerinnerten, desto beeindruckender wurde es in ihrer Vorstellung So erschienen die Beobachtungen schon allein in der Vorstellung derjenigen, die sie selbst wahrgenommen hatten, übertrieben und ins Unrealistische verschoben, noch bevor sie an andere weitergegeben wurden, wodurch die Berichte von Naturphänomenen bereits bei der allerersten 102

103 104 105 106 107 108 109 110

In der Rezension zu seiner Societätsabhandlung De fide historica aetatis mythicae nennt Heyne einige Alternativen zur Bezeichnung dieses Mythentyps Er könne außerdem auch „Gedanken-, Vorstellungs- oder Urtheilsmythus […], oder, mit einem von Vielen gebilligten und angenommenen Nahmen, ein Philosophem“ ([Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 466) genannt werden Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 4 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 147 Heyne verwendet die Vokabel rudis (ungebildet, roh, kunstlos) Ebd S 143 Ebd S 143 f Vgl ebd S 146 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 193 Vgl ebd S 202

7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum

223

mündlichen Weitergabe zu unrealistischen, schrecklichen Wundern wurden 111 Je intensiver eine Wahrnehmung war, desto eher versuchten sie die Ursachen für das beobachtete Phänomen aufzuspüren und ihre Vermutungen durch Erzählungen an andere weiterzugeben 112 Da die Menschen der Antike aber von elektrischen Ladungen, Druckunterschieden in der Atmosphäre oder Plattentektonik noch nichts wissen konnten und derartige naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle für Unwetter und Erdbeben deswegen nicht verfügbar waren, mussten sie auf Erklärungen zurückgreifen, die mit ihren Erfahrungen übereinstimmten und zu ihren Wahrnehmungen passten Heyne betont dabei vor allem die außerordentlich große Bedeutung der Sinne 113 Jede Vorstellung, die sich die antiken Menschen von den Ursachen irgendeines Phänomens machten, habe vom Aussehen, von der Bewegung oder den Auswirkungen der Bewegung ausgehen müssen 114 Gab es keine offensichtlichen Ursachen, glaubten sie, es müsse ein unsichtbares Wesen geben, das für das Ereignis verantwortlich ist, da ihnen dies am wahrscheinlichsten erschien 115 Dabei leiteten sie ihre subjektiven Theorien vor allem aus ihren eigenen Erfahrungen und ihrer Lebenswirklichkeit ab, das heißt, sie glaubten zum Beispiel, dass die Götter fliegen könnten, weil sie Flügel wie Vögel hätten;116 eine andere Art, zu fliegen, kannten sie nicht und konnten sie daher auch nicht als Erklärung heranziehen Aufgrund dieser Theoriebildung, die sich auf Analogien stützte, schrieben die Menschen der Antike den Göttern auch ihre menschlichen Eigenschaften zu 117 Heyne nennt diese Art von primitiven Erklärungsversuchen für Naturphänomene phantasmata,118 also trügerische Vorstellungen oder Einbildungen In Bezug auf diese Vorstellungen blieben die Menschen allerdings in sehr allgemeinen Kategorien verhaftet; sie erfanden einen Gott, der für alle Phänomene des Wassers verantwortlich ist, einen für das Wetter und so weiter, denn es sei für sie einfacher gewesen, allgemein über das Wesen und den Ursprung der Dinge zu sprechen, da sie keine gründliche Erforschung der einzelnen Teilphänomene, ihrer Ursachen und Auswirkungen vornahmen, sondern sich ganzheitlich mit ihnen auseinandersetzten 119 So wurden nach und nach für verschiedene Phänomene unterschiedliche übermächtige Urheber erfunden; diesen wurden im Laufe der Zeit verschiedene Eigenschaften und Attribute beigelegt und man glaubte, dass sie durch bestimmte Rituale beeinflusst werden könnten, so-

111 112 113 114 115 116 117 118 119

Vgl ebd S 190 f Vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 50 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 190 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 147 Vgl ebd S 145 f Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 154 Vgl ebd S 152; Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 203 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 146 Vgl ebd S 147

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7 Heynes Mythentheorie

dass die Vorstellungen von diesen Göttern immer klarere Züge annahmen Im Grunde liege daher in dieser Art von Mythen „rudis aliqua sapientia, phantasiae accommodata“,120 eine primitive, phantasiegeleitete Weisheit Nachdem sich solche Erklärungen durchgesetzt hatten, vermieden es die frühen Menschen, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen Sie hielten diese phantasmata für wahrscheinlich und glaubwürdig, dachten deshalb nicht mehr über andere mögliche physikalische Ursachen nach, selbst wenn sie mit Dingen, die sie anderswoher kannten, im Widerspruch standen 121 So seien beispielsweise infolge beeindruckender Naturereignisse die Titanen, Giganten, der Riese Typhon und ähnliche Wesen entstanden 122 Durch die Erfindung solcher Wesen mussten die Menschen die Natur nun nicht mehr als ausschließlich feindlich empfinden Indem sie an Wesen glaubten, die ihnen ähnlich, jedoch viel mächtiger waren, konnten sie ihre Angst bewältigen, da sie sich nicht mehr ausgeliefert sahen, sondern versuchen konnten, die in ihrer Vorstellung vernunftbegabte Natur etwa durch Opfer und Anbetung zu versöhnen oder zu besänftigen, wodurch schließlich der Grundstein für die Religion gelegt war 123 Einen wichtigen Beitrag zu solchen Übertreibungen leistete Heynes Auffassung nach die stark affektiv geprägte antike Wahrnehmung der Welt Die Emotionen dieser ungebildeten Menschen seien stärker als die moderner Menschen gewesen124 und daher waren deren Abneigung, Bewunderung, Liebe und Ehrfurcht immer extrem 125 Dass reale Beobachtungen in Wunder verwandelt wurden, wurde außerdem durch die Kommunikation über sie und die Beschaffenheit der Sprache der antiken Menschen befördert Diese Sprache sei, so Heyne, nicht geeignet gewesen, Vorstellungen und Erlebnisse auszudrücken Die Menschen der Antike bemühten sich daher, neue Zeichen zu erfinden Da jedoch Worte nicht ausreichten, ihre äußerst heftigen Emotionen zu beschreiben, nahmen sie Gebärden, Mimik und Laute zu Hilfe, was dazu führte, dass die Zuhörer tief bewegt waren, weil ihnen die Wahrnehmungen nicht nur akustisch, sondern auch optisch vermittelt wurden 126 Später als solche Erklärungsversuche für Sinneswahrnehmungen entstand Heynes Ansicht nach noch ein anderer philosophischer Mythentyp Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass durch ihn letztendlich auch die Welt erklärt werden soll, doch sind die Anlässe hier keine bestimmbaren Ereignisse oder Erlebnisse, die nach einer Erklärung verlangen, sondern vielmehr Überlegungen über die Herkunft und die Beschaffenheit 120 Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 565 121 Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 153 f 122 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 193 123 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 295 f 124 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 191 f 125 Vgl ebd S 191 126 Vgl ebd S 191 f

7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum

225

aller Dinge im Allgemeinen Durch die mangelhafte antike Sprache konnten die Menschen, so Heyne, solche Vermutungen, beispielsweise über die Herkunft des Feuers, nicht als solche ausdrücken, das heißt, sie waren nicht im Stande zu verdeutlichen, dass es sich um Spekulationen handelt, und mussten ihre Gedanken daher als Tatsachen oder Berichte über reale Ereignisse darstellen So konnten sie beispielsweise nicht formulieren, dass es möglich sei, dass jemand das Feuer von den Göttern gestohlen und den Menschen gebracht habe Um diesen Gedanken dennoch auszudrücken, erzählten sie sich den Mythos von Prometheus Heyne nennt diese Art antiker philosophischer Spekulationen, die wie Tatsachen und Ereignisse behandelt wurden, philosophemata Zu diesen gehören die Kosmogonien und Theogonien, die Mythen über die Herkunft der Künste und kulturellen Errungenschaften, des Ackerbaus und Ähnliches 127 Da den antiken Menschen ihre subjektiven Theorien plausibel erschienen, hatten sie keinen Grund, deren Richtigkeit anzuzweifeln, und gaben sie nach bestem Wissen und Gewissen an andere weiter Auf diese Weise wurde die Anwesenheit der Götter eine alltägliche Vorstellung, sodass schließlich alle Ereignisse auf göttliches Walten zurückgeführt wurden 128 Die Mythologie beziehungsweise das Denken der Menschen in mythologischen Kategorien wurde so zur Grundlage der Dichtung und konnte in diese eingeflochten werden 129 Jedoch sei diese mythologische Grundlage der Dichtung nicht als bewusst fiktiv zu verstehen Heyne stellt zwar fest, dass sich die ursprüngliche Art primitiven Philosophierens an Analogien orientiere, dass also die antiken Menschen ihre Erklärungskonstrukte und damit ihre Mythen an der Wirklichkeit ausrichteten Jedoch seien die daraus resultierenden Mythen keine Allegorien Zwar würden Mythen häufig als Symbolik und Allegorie gedeutet130 – auch Heyne räumt ein, dass einige Mythen deutlich symbolischen Charakter haben und auch bewusst als Symbolik erdacht worden waren,131 – aber eine absichtliche symbolische oder allegorische Verwendung während des Altertums schließt er aus, da Allegorie und Symbolik zwangsläufig eine bewusste Verwendung und Reflexion voraussetzen 132 So könne auch der Götterapparat und die damit verbundenen mythischen Erzählungen über die griechischen Götter in den Homerischen Epen nicht als Allegorie fungiert haben, da Homer entsprechend der mythisch geprägten Weltdeutung seiner Zeit selbst an die griechischen Götter geglaubt haben muss und die religiösen Elemente in den Epen 127 128 129 130 131

132

Vgl Heyne De fide historica aetatis mythicae S 114 f Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 16 Vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 46 Vgl ebd S 35 Vgl ebd S 43 Heyne weist hier darauf hin, dass der Mythos über die Geburt Vulkans durch Juno darauf zurückzuführen sei, dass ein Dichter die Abhängigkeit des Feuers von der Luft verdeutlichen wollte, vgl außerdem ebd S 40 Heyne äußert an dieser Stelle, dass das Chaos und der Kampf der Elemente durch die Streitgöttin Eris symbolisiert werden sollte Vgl ebd S 38

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7 Heynes Mythentheorie

aufgrund deren vordergründig unterhaltender Funktion bei der Rezeption auch nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben können 133 Deutungsversuche, die aus solchen Erzählungen verborgene Weisheit, geheime Theologie oder einen tieferen Sinn zu extrahieren versuchen, können also nur fehlschlagen, weil nichts dergleichen enthalten sein kann 134 Eine ursprüngliche allegorische Bedeutung muss deswegen ausgeschlossen werden, da sie nie beabsichtigt war Erst später wurden die Elemente der mythischen Erzählungen des Altertums allegorisch verwendet Dementsprechend geht Heyne davon aus, dass die antike epische Dichtung Anspruch auf Realismus erhebt, weil eine allegorische Darstellungsweise im Widerspruch zu dem eigentlichen Charakter des Epos, der Tradierung von Geschichte, stehe 135 Der Ursprung dieses ersten Mythentyps fußt also Heynes Ansicht nach auf der Unkenntnis der wahren Ursachen von Phänomenen unterschiedlicher Art136 und den antiken Versuchen, diese durch primitive Hypothesenbildung plausibel zu erklären Dadurch dass die philosophischen Mythen der sinnlichen Wahrnehmung und starken Emotionen entsprangen, sind sie Zeugnis der stark affektiven Weltbewältigung der alten Menschen Sie gingen zunächst in Aberglauben über und bildeten die Grundlage für alle späteren religiösen und theologischen Mythen 137 Allerdings weist Heyne darauf hin, dass die modernen Vorstellungen von Begriffen wie Religion, Gott, Gottheit und göttliche Natur aufgegeben werden müssen, wenn man die antike Religion und Religiosität verstehen will, da der Verstand der antiken Menschen vollkommen auf Konkretes und sinnlich Erfahrbares fixiert war, keine Gedanken über Metaphysik fassen konnte und dementsprechend auch nicht zu einer abstrakten Vorstellung von Göttlichkeit fähig war 138 Heyne behauptet vielmehr, dass die antiken Menschen nur in Verbindung mit etwas Konkretem oder Materiellem, zum Beispiel mit dem Himmel

133 134

135 136 137 138

Heyne merkt dies bereits 1777 an: „Alles dieß war Gang des Dichterwitzes, ohne alle Absicht auf Religion, die eigentlich hierbey gar nicht ins Spiel kam“ ([Christian Gottlob Heyne]: 40 St In: GGA 1777 S 630 (= Rez zu De origine et caussis fabularum Homericarum) Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 569; 572–574 Ganz ähnlich bezeichnet Heyne es bereits 1777 als einen „Abweg, durch Allegorien den Dichter zu erklären“ ([Heyne]: 40 St In: GGA 1777 S 627) Vielmehr „widerstehet das ganze Wesen der Epopöe der Allegorie: es wäre nicht möglich, auf dem Wege so zu erzählen, daß man die Leser, oder was Homer hatte, Zuhörer und Zuschauer, in Bewunderung über grosse Handlungen und Begebenheiten setzen könnte“ (ebd ) Zudem flössen in den Epen Erzählungen unterschiedlichster Art und Herkunft zusammen: Teils sind historische Mythen enthalten, teils philosophische; manche Handlungen übernahm Homer der Überlieferung, anderes erfand er selbst Die Interpretation kann daher „nec uno consilio“ (Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 574), nicht nach einem einheitlichen Prinzip oder System erfolgen Vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 35 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 190 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 148 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 197

7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum

227

oder Feuer, eine Vorstellung von einem Gott haben konnten, der dann anhand dieser sinnlich erfahrbaren Dinge personifiziert wurde Die antike Vorstellung von einem göttlichen Wesen musste daher so beschaffen sein, dass sie zumindest in Gedanken und bildlichen Darstellungen sinnlich fassbar war, das heißt, sie stellten sich die Götter als körperlich und stofflich tatsächlich existierende Wesen vor 139 Nachdem nun die erste primäre Mythenart in Heynes Theorie erläutert wurde, soll es im Folgenden um die zweite, das genus historicum, gehen Unter diesen Typus fallen alle Mythen, deren Ursprung ein vor jeder Schriftlichkeit zurückliegendes historisches Ereignis ist Die Zeiten, aus denen diese Mythen stammen, nennt Heyne „tempora mythica“,140 die mythischen Zeiten Die Ursache für die Entstehung dieser Art von Mythen liegt dabei in dem menschlichen Bedürfnis, die Erinnerung an bedeutendes Geschehen für die Nachwelt zu erhalten, wobei die berichteten Ereignisse nur in den Verhältnissen ihrer Zeit bedeutsam sein konnten Sie begaben sich in primitiven Stammesgesellschaften mit einfacher Lebensweise; folglich konnten die konkreten historischen Vorfälle „nach unserer Vorstellung unbedeutend seyn; aber sie konnte[n] Wichtigkeit für jene Zeiten haben“ 141 Solche subjektiv bedeutsamen Ereignisse gaben die älteren Stammesangehörigen in mündlichen Erzählungen an die jüngeren weiter In der nächsten Generation konnte jedoch schon nicht mehr aus eigenem Erleben berichtet werden, weshalb es schon nach kurzer Zeit zu Verschiebungen kommen konnte, nicht zuletzt auch weil die Geschichten nicht nur einmal, sondern immer wieder mit verschiedenen Worten berichtet wurden Hinzu kommt, dass das Berichtete für die Berichtenden von großer emotionaler Bedeutung war, weil sie entweder selbst in das Geschehene eingebunden waren oder sich zumindest über ihre Vorfahren stark damit identifizierten, da in der Regel das für überlieferungswürdig erachtet wurde, was für die Identität und Geschichte des eigenen Stammes wichtig war, in Heynes Worten: „Stammgeschichten mußten für Stammverwandte wichtig seyn“ 142 Durch diese emotionale Bindung an den Inhalt der Erzählungen war keine objektive Erzählhaltung mehr möglich Es wurde dementsprechend „cum studio“143 berichtet, man wollte sowohl die eigene Bewunderung als auch die der Zuhörer steigern und übertrieb daher bei den Berichten Zudem wurden diese historischen Mythen wie die des genus philosophicum in der typisch antiken Sprache weitergegeben, in der es für viele Dinge noch keine passenden Worte gab Analogien und Vergleiche mussten daher auch hier eine große Rolle spielen, was dazu führte, dass die Begebenheiten nicht exakt weitergegeben wurden, sondern eher durch annähernde Beschreibungen 144 Zudem befolgte man die

139 140 141 142 143 144

Vgl ebd S 198 Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 109 [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 472 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae) Ebd Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia S 123 Vgl Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 113 f

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7 Heynes Mythentheorie

Reihenfolge der Ereignisse nicht strikt; man griff vielmehr einzelne Erlebnisse und deren Folgen heraus und erzählte ansonsten eher summarisch die Hauptereignisse oder das, was unmittelbar mit den Erzählenden oder ihrem Stamm in Verbindung stand Absichten, Gründe, Motive und Ursachen spielten nur eine untergeordnete Rolle oder wurden später ergänzt Aus diesem Grund musste die Erinnerung an solche weit zurückliegenden Ereignisse bald unvollständig und verzerrt sein, die Erzählung könne aber, so Heyne, deswegen noch lange nicht als erfunden gelten 145 Die bedeutendste Gelegenheit zur Weitergabe dieser Geschichten waren jährlich stattfindende Feste Die Ereignisse wurden hier immer wieder berichtet, wobei diese durch die ständige Wiederholung nicht genau gleich, sondern lediglich ähnlich waren Daher sei es wahrscheinlich, meint Heyne, dass die Erzählungen ständig variierten und einiges ausgelassen wurde, während anderes hinzukam Je weiter ein Ereignis also zurücklag, desto häufiger wurde es berichtet und dementsprechend auch verändert Dies sei letztlich der Grund, warum ein einziges Ereignis zum Teil in mehreren Varianten überliefert wurde, ohne dass dabei zwischen wahren und falschen Versionen unterschieden werden könnte Immerhin gab es ein reales Ereignis, das eben nach einigen Jahren schlicht unterschiedlich tradiert wurde 146 Außerdem sei die Stammesgeschichte bei diesen feierlichen Anlässen schon bald schauspielerisch und in Versen dargeboten worden In diesem frühen Stadium des Dramas habe es zunächst kaum Regeln für dessen Gestaltung gegeben, jedoch kamen diese bald auf, was dazu führte, dass einige Elemente zur Steigerung der Ästhetik ausgeschieden und andere hinzugekommen sind So nahm man beispielsweise einige bedeutende Vorfahren und die Ahnherren des Stammes als Heroen in die Erzählungen auf; die Verehrung der Götter, denen die Feste gewidmet waren, fand nun auch zunehmend während der Darstellungen der alten Ereignisse statt, indem man diese darin einflocht und ihnen so huldigte So verschmolzen allmählich historische Mythen in Form überlieferter Stammesgeschichte und philosophische durch den hinzugekommenen Götterapparat zu den epischen Stoffen, die die Taten von Heroen und Göttern beschrieben Nach und nach verloren die dramatischen Darstellungen dieser Stoffe an Bedeutung, weil stattdessen wieder verstärkt narrativ tradiert wurde Doch die sprachliche Gestaltung der ursprünglich dramatischen Darbietungsform, die Verse, blieb als kulturelle Leistung erhalten 147 Ein weiteres wichtiges

145

Vgl Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia S 123 f Vgl auch [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 575 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae): „Wahr ist […] nur der Kern; nur das Haupt-Factum, summarisch erhalten; denn die Nebenumstände, die Art und Weise, wie Etwas geschehen ist, kennt weder der Mythus noch der Annalist Nur scheint der Mythus oft Umstände anzugeben, welche doch eigentlich nichts, als Einkleidung in der alten Sprache, der geschmückten Sage mit der spätern poetischen Dichtung ist “ 146 Vgl Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia S 123 S 125 f 147 Vgl ebd S 126 Eine prägnante Zusammenfassung dieser Prozesse findet sich in Heynes Rezension zu De fide historica aetatis mythicae: „[I]n der ganzen Zeit gingen die alten, in einer bildervollen Sprache erzählten Sagen, also Mythen, durch den Mund vieler Zeitalter; Enkel, durch die Bewun-

7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum

229

Element der mündlichen Überlieferung historischer Ereignisse war Heynes Ansicht nach der Drang frühantiker Menschen, sich bei der Geschichtsüberlieferung auf eine Autorität zu stützen, und die größte Autorität waren stets die eigenen Vorfahren Je weiter die Protagonisten der Erzählungen in der Generationenfolge zurücklagen, desto glaubhafter schien den Rezipienten, was berichtet wurde; je unwahrscheinlicher es war, desto eher glaubten es die Nachkommen, weil diese der Meinung waren, dass ihren Ahnen das Göttliche innewohnte 148 Eine besondere Art der Mythen des genus historicum sind die Mythen, die sich aus der Verehrung von Herrschern oder anderen bedeutenden Persönlichkeit entwickelten Diese Mythen seien dadurch entstanden, dass die Menschen der Antike für große Vorteile, die sie durch andere erfuhren, sehr dankbar waren und ihre Dankbarkeit durch Verehrung ausdrückten, sodass ihre Wohltäter eine Apotheose erfuhren Sie waren von der Klugheit oder Tugendhaftigkeit ihrer Könige oder anderer außergewöhnlicher Menschen so beeindruckt, dass sie den Wunsch verspürten, ihre Verehrung auch sprachlich auszudrücken Da die Sprache jedoch keine geeigneten Worte zur Schilderung von Größe und Bedeutung bereithielt, verwendeten sie Vergleiche und Allegorien, bedienten sich einer erhabenen und feierlichen Ausdrucksweise, idealisierten die zu preisenden Personen auf diese Weise und schufen so Mythen, selbst wenn die beschriebenen Ereignisse unter einem objektiven Blickwinkel gar nicht außergewöhnlich waren 149 Durch Übertreibungen, Hinzudichtungen und Auslassungen bei der Überlieferung wurden realistische Erzählungen über historische Ereignisse und Personen ins Unrealistische verzerrt, da sie nicht schriftlich fixiert und damit in ihrer ursprünglichen Form nicht stabilisiert werden konnten 150 Folglich hat früheste griechische Stammgeschichte […] ihre eigene Einkleidung von der Vorstellung und der Sprache der frühesten Zeiten her, und dadurch erhält sie ihren eigenen Charakter, der sie zum Mythus macht 151

Die ältesten Zeugnisse griechischer Geschichte sind daher Mythen, die den Ausgangspunkt der griechischen Geschichtsschreibung darstellen 152 Als dann die ältesten

derung ihrer Ahnherren und Vorfahren begeistert, wiederhohlten sie, oft auf feyerliche Weise, in Berathschlagungen, Volksversammlungen, Gedächtnißfesten; endlich in Gesängen, mit Tänzen, und dramatisch vorgetragen Der Stoff blieb, was er war; aber wie oft ganz durch Einkleidung und Zusätze verändert und ins Wunderbare übergearbeitet!“ ([Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 472 f (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae)) 148 Vgl Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 110 f 149 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 187 f 150 Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 4 151 [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 472 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae) 152 Vgl Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia S 138

230

7 Heynes Mythentheorie

Prosaisten anfingen, „die epische poetische Sprache in ihre Glieder aufzulösen und Prosa zu schreiben“,153 konnten die Geschichtsschreiber unter ihnen daher, wenn sie Historisches niederschreiben wollten, nur auf größtenteils mündlich überlieferte Texte in poetischer Form zurückgreifen, die eher Dichtungen als historischen Berichten glichen Schon längst hatten sich hier historische und philosophische, genuin griechische und aufgenommene fremde, frühere und spätere Mythen untrennbar in verschiedenen Theogonien, Kosmogonien und Heldenepen vermischt 154 Dennoch mussten die ersten Geschichtsschreiber diese in ihre Annalen aufnehmen, wollten sie zum Ursprung der Historie vorstoßen 155 Dies sei letztlich auch der Grund, warum die frühe antike Geschichtsschreibung teils noch in Versen verfasst ist und so viel Mythisches enthält:156 Was vorher in der epischen Sprache gesungen worden war, ward in aufgelöseter Poesie, in Prosa, geschrieben Können wir uns nun wundern, daß alles noch Mythe, mythische Vorstellung, mythische Einkleidung war [?]157

Die Entstehung der griechischen Geschichtsschreibung stellt Heyne dabei in der Societätsabhandlung Historiae scribendae inter Graecos primordia als einen Sonderfall dar 158 Zwar habe Geschichtsschreibung auch bei anderen antiken Völkern ihre Wurzeln in mündlicher Überlieferung, doch sei diese bei den Ägyptiern, Phöniciern, Juden Babyloniern, Persern, Indern […] früh gleich von Männern aus einem Orden oder einer Kaste schriftlich aufgefaßt, und in heiligen und öffentlichen Plätzen aufbewahrt […], also weniger Veränderungen ausgesetzt159

worden, während bei den Griechen ein Medium […], welches allem eine andere Gestalt gab: ihre Volksfeste, ihre Gesänge mit mimischer Darstellung des Gesungenen, welche man Tanz nennt, mit Musik verbunden,160

[Heyne]: 46 St In: GGA 1799 S 450 (= Rez zu Historiae scribendae inter Graecos primordia) Vgl ebd S 473; 46 St In: GGA 1799 S 452; 456 (= Rez zu Historiae scribendae inter Graecos primordia) 155 Heyne schreibt dazu: „Daß er [= der Geschichtsschreiber der Antike] forschte und darauf zurückging, wie eigentlich die frühe Sage gelautet hatte, und daß er sie vom Dichterschmucke befreyete, ließ sich von ihm nicht erwarten, auch vielleicht nicht leisten; sondern er sammelte sie aus vorhandenen Gedichten; daher ist alle Geschichte theils Cosmogonie und Theogonie, theils Heldengeschichte“ (ebd S 453) 156 Vgl Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia S 127 157 [Heyne]: 46 St In: GGA 1799 S 451 (= Rez zu Historiae scribendae inter Graecos primordia) 158 Ein Jahr zuvor hatte er jedoch in der Rezension zu der thematisch sehr ähnlichen Abhandlung De fide historica aetatis mythicae noch geschrieben: „Wie es bey den Griechen zuging, ist es, allem Ansehen nach, bey Andern auch ergangen“ ([Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 473) 159 [Heyne]: 46 St In: GGA 1799 S 451 (= Rez zu Historiae scribendae inter Graecos primordia) 160 Ebd S 451 f 153 154

7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum

231

die Geschichtsschreibung in eine andere Stoßrichtung leitete Die historischen Ereignisse wurden hier durch die ständig wiederholten primitiven dramatischen Darstellungen zwar viel stärker als andernorts verzerrt und verändert, dafür bildete sich diese Art der Geschichtstradierung aber „zur epischen, zur lyrischen und dramatischen Kunst“,161 die für Heyne den „Inbegriff der frühen Cultur Griechenlands, ein Fortschreiten und Aufsteigen, als noch kein anderes Volk für seine Cultur gehabt hat“,162 ausmachen Somit geht die Entstehung der griechischen Geschichtsschreibung besonders stark „von der Fabel“ aus – nur ist Fabel hier ein ganz anderes Wort und eine ganz andere Sache; sie ist die älteste Geschichte, aus Sagen geschöpft, später erst aufgezeichnet, aber […] nicht nach den Sagen selbst, sondern so, wie die Sage in den ältesten Gesängen behandelt, und durch Dichter zunächst überliefert war 163

Heyne räumt durchaus ein, dass nicht bewiesen werden kann, dass die Ereignisse, die den historischen Mythen zugrunde liegen, tatsächlich stattgefunden haben Aber auch das Gegenteil sei nicht nachzuweisen, weshalb er selbst den Kern der historischen Mythen mangels Gegenbeweisen grundsätzlich für glaubwürdig halten will 164 Man könne daher annehmen, dass es zum Beispiel den Thebanischen Krieg gegeben hat, dass die Argiver diesen verloren und dass Theben nach einiger Zeit von einer Gruppe, die sich Epigoner nannte, zerstört wurde 165 Ebenso habe der Trojanische Krieg wirklich stattgefunden, in dem die Griechen über die Ägäis nach Troja segeln mussten, weil sie durch einen Vertrag gebunden waren, und Troja zerstört wurde Wie genau dieser Krieg verlaufen sei, ließe sich nun aber freilich nicht mehr rekonstruieren; diese Frage stelle sich allerdings auch gar nicht,166 da man das Wahre und das Erfundene schon in der Antike nicht mehr voneinander unterscheiden konnte und daher eine Trennung des wahren historischen Kerns des Mythos von den Ausschmückungen und Übertreibungen heute erst recht nicht mehr möglich sei 167 Einen weiteren Aspekt der Entstehung und Verbreitung von Mythen stellt in Heynes Theorie der kulturelle Austausch unter den verschiedenen antiken Völkern dar So nahmen die Griechen beispielsweise die Erzählung über den Raub der Europa aus Phönizien in den Kanon ihrer eigenen Mythen auf Außerdem seien meist philoso-

161 162 163 164

Ebd S 452 Ebd Ebd S 456 Vgl Christian Gottlob Heyne: Epimetrum [zu De fide historica aetatis mythicae] In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 14 (1800), Commentationes historicae et philologicae S 118; Homer In: ders / Heinrich Wilhelm Tischbein: Homer nach Antiken gezeichnet Göttingen: 1801 S 5; Odyssee In: ebd S 5 165 Vgl Heyne: Epimetrum [zu De fide historica aetatis mythicae] S 118 166 Vgl ebd S 119 167 Vgl ebd

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7 Heynes Mythentheorie

phische, zum Teil aber auch historische Mythen aus Ägypten, Thrakien, Phrygien und möglicherweise auch aus Libyen ins antike Griechenland exportiert worden 168 So wurden zum Teil Vorstellungen und Namen von den Göttern der Vorfahren mit denen fremder Gottheiten vermischt Die religiösen Ansichten wurden dadurch auf verschiedene Art und Weise vermehrt und verändert, sodass die griechische Mythologie Erzählungen unterschiedlichster Herkunft umfasst 169 Veränderungen von Mythen waren Heynes Ansicht nach aber nicht nur durch den Import fremder mythischer Stoffe bedingt, sondern konnten sich auch durch eine Weiterentwicklung religiöser Vorstellungen oder nur durch die bloße Übertragung des Namens eines Gottes auf etwas anderes innerhalb der jeweiligen Mythologie ergeben Einmal gefundene Namen seien, so Heyne, sehr stabil gewesen und blieben auch dann erhalten, wenn sich die Sache, die sie bezeichneten, vollkommen verändert hatte So wurde beispielsweise bei den Griechen der Name Jupiter seit den frühesten Zeiten des Stammes für eine alte pelasgische Gottheit unter vielen, später aber auch zur Benennung des Himmels verwendet Dann wurde der Name auf die Göttervaterfigur übertragen und bezeichnete schließlich den Inbegriff des Göttlichen Symbolisch wurde der Begriff Jupiter weiterhin auch für alle Dinge, die durch irgendeinen Wechsel geprägt sind, zum Beispiel die Jahreszeiten, gebraucht und kristallisierte sich so im Laufe der Zeit immer mehr zu einer klar umrissenen Götterfigur heraus 170 Schon von Anfang an wurden die Mythen in Form von Erzählungen weitergegeben und durch diese mündliche Vortragsweise aufgrund von Übertreibungen, Auslassungen und Erweiterungen verändert, sodass die wenigsten von ihnen in ihrer ursprünglichen Form, sondern meist verdorben, ausgeschmückt und für verschiedene Zwecke verändert an die Nachwelt überliefert sind 171 Auch die Art des Vortragens und die Vortragssituationen waren einem ständigen Wandel unterworfen Zunächst wurden die Mythen, so Heyne, als Erzählungen von den Älteren der Stämme in privaten oder öffentlichen Kontexten an die Jüngeren weitergegeben, zum Teil aber auch schon in Form von einfachen Liedern Eine besondere Rolle spielten dabei von Anfang an die religiösen Feste, wo die mythischen Stoffe kollektiv als Schauspiel mit starken Bezügen zu Musik und Tanz vorgetragen wurden Später war nicht mehr die ganze Gemeinschaft am Vortrag der Mythen beteiligt, sondern nur noch eine bestimmte Gruppe, die ἀοιδοὶ (Sänger), gab die Erzählungen als Lieder bei den Festen wieder Indem sich dieser frühe dichterische Berufsstand entwickelte, gingen die mythischen Erzählungen in künstlerische Formen über, weil die Überlieferung der Mythen nun nicht mehr kollektiv-produktiv, sondern vielmehr individualisiert, dadurch auch artifiziert und

168 Vgl Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 115 169 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 205 170 Vgl ebd S 205 f 171 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 144

7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum

233

somit rezeptiv wurde Auf diese Weise entstand eine vormoderne Literatur, die allerdings immer noch eng mit religiösen Kontexten verknüpft war 172 Mit der einsetzenden Professionalisierung des Vortrags und einem Zunehmen von Vortragssituationen erhöhte sich auch der Bedarf an Erzählungen Deshalb kamen nun Dichter auf, die aus den bereits vorhandenen Mythen neue Erzählungen mit abgewandeltem, erweitertem oder abgeleitetem Plot schöpften 173 Heyne nennt jene jüngere Form mythischer Erzähltexte mythi poetici 174 Diese dritte Mythenart entsteht also durch die Entdeckung der poetischen Verwendbarkeit der überlieferten mythischen Stoffe der beiden bereits ausgeprägten älteren genera mythorum, auf deren Basis die Menschen der Antike neue Mythen entwickelten Charakteristisch für diese poetischen Mythen ist, dass sie nicht vollkommen neu erfunden sind Sie knüpfen stofflich, motivisch und sprachlich an die alten Mythen und deren Erzählweise an, weil die Gemüther schon durch die ältesten Gesänge daran gewöhnet waren; und weil sie [= die Dichter der Antike] erst empfanden, und hernach auch in der Theorie einsahen, daß eben diese Sprache die größten Eindrücke auf das menschliche Gemüth mache 175

Dieses Anknüpfen an vorhandene Erzählmuster hält Heyne für deutlich wahrscheinlicher, als daß ein Genie, durch einen Schwung, der unglaublich wird, dergleichen Bilder sollte erdacht, und diese unter Menschen, die nicht schon an selbige gewöhnt gewesen, Beyfall gefunden haben 176

Mythisches Erzählen entspricht für Heyne also einer uralten Erzählweise, die tief im Menschen verwurzelt sein muss, weil sie sich über Jahrtausende hielt und bis in die Gegenwart erstreckt, weshalb dergleichen Maschienen von mythischen und magischen Fabeln, in einem Heldengedichte zu unserer Zeit, sich einen Erfolg und Beyfall versprechen können 177

Der Urheber dieser poetischen Mythen ist jetzt kein unbestimmbares Kollektiv mehr; sie werden vielmehr von Einzelpersonen, den antiken Dichtern, erfunden,178 und dadurch ändern sich nun auch Funktion und Zweck der Mythen, denn der Zweck ist in erster Linie kaum noch die Erklärung rätselhafter Erscheinungen oder mündliche

172 173 174 175 176 177 178

Vgl ebd Vgl ebd S 145 Vgl ebd [ Johann Philipp Murray]: 156 St In: GGA 1763 S 1259 (= Rez zu Temporum mythicorum memoria) Die Rezension zu dieser frühesten mythentheoretischen Schrift verfasste Heyne nicht selbst, sondern sein Kollege Murray Er fasst hier Heynes wichtigste Aussagen zusammen Ebd Ebd Offensichtlich spielt Murray hier auf Klopstocks Messias an und verbleibt noch in der alten Terminologie Fabel. Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 150

234

7 Heynes Mythentheorie

Geschichtsüberlieferung, sondern vielmehr Unterhaltung 179 Mythen werden von den Dichtern nun nicht mehr „ad animi iudicium exprimendum“180 verwendet, sondern „vt [poeta] suauitatem affundat, et narratione delectet“,181 das heißt, die Dichter gestalten die Mythen nun nach ihren eigenen Bedürfnissen und Absichten um182 und geben die ursprünglichen Mythen in teils stark veränderter Form weiter Aus diesem Grund ist bei den poetischen Mythen die ursprüngliche Funktion der mythischen Stoffe, aus denen sie sich speisten, zunehmend verloren gegangen und daher kaum noch klar bestimmbar Häufig wurden sowohl philosophische als auch historische Mythen in einen dichterischen Mythos eingebaut 183 Durch diese Vermischung beider Mythengenera entstanden die epischen Erzählungen, in denen sowohl Götter als Reste philosophischer Mythen sowie Menschen und deren Taten als Residuen historischer Mythen eine Rolle spielen Aufgrund der zunehmenden dichterischen Freiheit, die sich mit der Zeit entwickelte, fügten die Dichter eigene Erfindungen hinzu So entstanden verschiedene Erzählungen über Perseus, Herakles und Theseus, über Troja, die Fahrt der Argonauten, den Thebanischen Krieg und Ähnliches 184 Zudem spielt nun bei der Entstehung der mythi poetici oder fabulae auch bewusst eingesetzte Symbolik und Allegorie eine Rolle 185 Jedoch wurden nicht nur die Mythen philosophischer und historischer Art, sondern auch diese jüngeren dichterischen Mythen durch mündliche Weitergabe immer wieder erweitert, verkürzt oder anderweitig verändert, sodass hier eine sehr große Vielfalt an fabulae, also Dichtungen, entstanden ist, die sogar das Werk eines einzelnen Autors oder eine einzige Dichtung prägen kann 186 Aufgrund dieser Annahmen gelangt Heyne zu dem Schluss, dass letztendlich die gesamte antike Literatur von Mythen ausgegangen sein muss, weil diese das Fundament von Geschichtsschreibung, Philosophie, Theologie und Religion darstellen, die wiederum die Grundlage der Literatur bilden 187 Es stellt sich nun aber die Frage, wo Heyne die Grenze zwischen dem zieht, was noch genuin mythisch ist, und den fabulae, den Dichtungen, die ihren künstlerischen Anspruch durch eine symbolische oder allegorische Verwendung antiker Stoffe offenbaren Heyne konstatiert selbst, dass es unangebracht sei, auch die Auslegungen von Mythen oder poetische Experimente, die

179 180 181 182 183 184 185 186 187

Vgl ebd S 149 Ebd S 150 Ebd Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 17 Vgl Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 116 Vgl ebd S 116 Vgl beispielsweise Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 51 Heyne äußert hier die Ansicht, dass der Circe-Mythos in der Odyssee erfunden wurde, um die Triebhaftigkeit des Menschen, die ihn Tieren ähnlich macht, zu verdeutlichen Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 151 Vgl Heyne: Historiae scribendae inter Graecos primordia S 138

7.2 Mythengenese und die drei genera mythorum

235

Mythen imitieren, ebenfalls Mythen zu nennen und sie nicht nominell und konzeptuell abzugrenzen Eine bessere Bezeichnung für solche Texte sei das Wort Allegorie, denn sie verschleierten ihren eigentlichen Gehalt nicht aus einer äußeren Notwendigkeit heraus, wie dies bei den Mythen der Fall ist, sondern seien absichtlich so gestaltet, dass der Inhalt und der Sinn nicht offen zutage liegen Diese neu erfundenen Erzählungen wurden zum Zwecke eines höheren Unterhaltungswertes „mythico more“,188 also durch intertextuelle Bezüge zu den alten mythischen Texten, hergestellt 189 Eine präzisere Unterscheidung zwischen solchen fiktiven fabulae und den Mythen nahm Heyne allerdings erst in seinen späteren Schriften vor In dem früheren Aufsatz Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis aus dem Jahr 1764 unterscheidet Heyne noch nicht zwischen fabula und mythus Nicht nur im Titel, auch an einer anderen Stelle des Textes190 verbindet er die beiden Begriffe mit einem seu, das etwa dem deutschen beziehungsweise entspricht In der späteren Abhandlung De mythorum poeticorum natura, origine et caussis scheint er zwischen Fabeln und dichterischen Mythen jedoch bereits implizit zu unterscheiden So schreibt er: Interpretari autem dico hoc ipsum, vt naturam, originem et caussas mythi declarare possis Non itaque licet subsistere in eo fabulae habitu, qualis in eo poeta, in quo forte versaris, occurrit; comparandae sunt aliae narrationes; redeundumque est ad antiquiores, et videndu[m], quae sit antiquior ratio mythi traditi 191

Aus der Verwendungsweise der Begriffe mythus, fabula und narratio geht hervor, dass eine fabula eine bestimmte Art narratio, also ein Erzähltext, ist Diese Form der narratio scheint aber nicht der mythus zu sein – Heyne schreibt schließlich nicht ‚qui sit antiquior mythus traditus‘ Er empfiehlt hier vielmehr, dass man durch das Betrachten älterer narrationes die ältere „ratio mythi traditi“ ableiten kann Die Begriffe fabula und narratio scheinen sich also eher auf verschiedene Varianten eines inhaltlich im Wesentlichen konstant bleibenden Mythos zu beziehen Eine fabula ist offenbar vor allem die äußere Form eines Mythos, also der Wortlaut, der Grad der Ausführlichkeit, die Reihenfolge der beschriebenen Ereignisse und Ähnliches, wohingegen der Begriff mythus vor allem das stoffliche Grundgerüst, also den Inhalt der fabula, zu benennen scheint Dazu passt auch Heynes Annahme, dass durch die Überlieferung der mythi generis poetici eine große „fabularum“ und nicht etwa mythorum poeticorum „diuersitas“192 entstanden sei, sprich eine Vielzahl textlicher Varianten eines Stoffs

188 Ebd Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 290 189 Vgl ebd S 290 190 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 189 191 Heyne : De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 152 f 192 Ebd S 151

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7 Heynes Mythentheorie

Indem Heyne die Mythen des genus philosophicum von denen des genus historicum unterscheidet,193 bezieht er sowohl ätiologische als auch euhemeristische Mythenausdeutung in seine Theorie ein Mythen des genus philosophicum werden ätiologisch ausgedeutet, Mythen des genus historicum hingegen euhemeristisch, wobei Göttermythen häufig als philosophische und Heroenmythen als historische Mythen zu klassifizieren seien 194 Die dritte Mythenart, die dichterischen Mythen, deutet Heyne aber weder konsequent ätiologisch noch euhemeristisch Er legt hier vielmehr verschiedene Ursachen für die Mythenentstehung zugrunde, da ein Mythos dieses Typs seiner Ansicht nach auf den beiden älteren Mythentypen basiere und dementsprechend oft Elemente philosophischer und historischer Mythen enthalte 195 Laut Heyne trugen zur Entstehung eines dichterischen Mythos verschiedene Ursachen bei Zum Teil lieferten wahre Tatsachen oder Begebenheiten, die von einem Dichter in übertriebener Weise dargestellt wurden, den Anlass für einen solchen Mythos So deutet er beispielsweise die Figur Admet euhemeristisch, da er annimmt, es habe tatsächlich eine Person mit diesem Namen gegeben Die Schönheit dieses Admet wollte ein Dichter dadurch ausdrücken, dass er schrieb, seine Schönheit sei so groß gewesen, dass sich sogar Apoll in ihn verliebte, und erst später habe sich diese Erzählung dann zu einem Symbol für sehr starke Liebe entwickelt, das mit der historischen Person Admet nicht mehr in Verbindung stand 196 Auch die Entstehung des Mythos über den Sturz Vulkans auf die Insel Lemnos erfährt bei Heyne eine euhemeristische Ausdeutung, indem er erklärt, hinter dieser Erzählung verberge sich ein Vulkanausbruch oder ein heftiger Blitzschlag auf dieser Insel 197 Konsequent euhemeristisch könne dieser Mythos aber nicht gedeutet werden, da einige Aspekte nach einer ätiologischen Deutung verlangten So sei die Gebrechlichkeit und das Hinken Vulkans als Folge des Sturzes ein Symbol für den Charakter des Feuers, das vergänglich ist und nur existieren kann, wenn es genährt wird 198 Dichterische Mythen müssen also in Bezug auf ihren Ursprung Heynes Ansicht nach besonders differenziert betrachtet werden 7.3 Der sermo mythicus Den entscheidenden Schritt für die Entstehung eines jeden Mythos stellt Heynes Ansicht nach die sprachliche Artikulation eines Gedanken oder einer Vorstellung dar Eine adäquate Wiedergabe von Ideen habe aber in der Frühzeit der Menschen

193 194 195 196 197 198

Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl

Kap 7 2 S 221–231 Heyne: Commentatio de Apollodori bibliotheca S 912–914 Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 116 Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 48, Anm s) ebd S 43 ebd

7.3 Der sermo mythicus

237

scheitern müssen, weil die Sprache, über die sie verfügten, „sich nicht weiter erstrecken [konnte], als die Anzahl der Gegenstände gieng, für welche Zeichen zu erfinden waren: deren Anzahl […] nicht groß seyn mußte“ 199 Sie war daher nicht geeignet Spekulationen, Hypothesen und abstrakte Zusammenhänge als solche wiederzugeben, weshalb alle hohe Begriffe […] von dem Göttlichen Wesen, der Unsterblichkeit der Seele, und dem Zustande nach dem Tode, die man in den mythischen Zeiten anzutreffen meynt, […] unmöglich statt gefunden haben [können] 200

Diesen Menschen hätten daher die scharfsinnigsten Erkenntnisse oder selbst eine Offenbarung Gottes nichts genützt, da sie solche Gedanken nicht hätten ausdrücken können,201 weil sie „blos zu sinnlichen Begriffen und Bildern Worte hatten, und deswegen zu abstracten nicht fähig waren “202 Um solche Dinge dennoch artikulieren zu können, mussten sie sich mit den Mitteln ihrer Sprache behelfen Durch den Gebrauch einer Sprache, die zum Ausdrücken des Intendierten ungenügend war, sei, so Heyne, der sermo mythicus beziehungsweise symbolicus, die mythische Sprache entstanden Dieser zentrale Begriff innerhalb der Mythentheorie Heynes203 bezeichnet die sprachliche Ausdrucksweise, in der die Menschen der Antike ihre Mythen formulierten Diese habe laut Heyne überhaupt nichts mit der Erzählweise moderner Literatur gemein und sei vor allem daran erkennbar, dass alles, was berichtet wird, ins Wunderbare erhöht und verschoben ist 204 Es handele sich um eine sehr bildhafte Symbolsprache, die sich aber nicht auf das Prinzip der Steigerung der Ästhetik zurückführen ließe, sondern sich vielmehr aus der Beschaffenheit der antiken Sprache ergebe, die keinen anderen Ausweg als ebendiese mythische Sprache aus dem Dilemma zuließ, Überlegungen über physikalische Prozesse, historische Begebenheiten und Moral ausdrücken zu wollen und zu müssen, die mit der vorhandenen Sprache nicht ausgedrückt werden konnten 205 Insofern sei für die Mythengenese im Altertum neben der „vetustissimarum aetatum necessitas“206 vor allem die „egestas sermonis“,207 die Armut der damaligen Sprache, verantwortlich 208 Die überlieferten Texte, die auf der Grundlage

199 200 201 202 203 204 205 206 207 208

[Murray]: 156 St In: GGA 1763 S 1257 (= Rez zu Temporum mythicorum memoria) Ebd S 1257 f Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 9 f [Murray]: 156 St In: GGA 1763 S 1258 (= Rez zu Temporum mythicorum memoria) Heyne verwendet ihn erstmals 1777 in der Form oratio mythica, vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 48 In der Form sermo mythicus erscheint er erstmals 1783, vgl Heyne: Commentatio de Apollodori bibliotheca S 919 u ö Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 4 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 291 Ebd S 290 Ebd Vgl ebd S 290; 294

238

7 Heynes Mythentheorie

dieser „unbehülflichen“209 mythischen Sprache entstanden sind, erscheinen nun für die späteren Menschen, die nicht mehr auf diese uneigentliche und nichtwörtliche Art des Sprechens angewiesen sind, wie Berichte über Wunder und Ungeheuer, ohne dass dies ursprünglich intendiert war 210 Die mythische Sprache gebe den Texten „das, was wir fabelhaft nennen“211 – dies sei „aber nur die Hülle, nicht der Körper selbst“ 212 Heyne behauptet, dass die älteste menschliche Sprache über sehr wenige Wörter verfügte, an die einfache Lebensweise angepasst und daher sehr schlicht war Da die Menschen dieser Zeit ihre Aufmerksamkeit nur auf Dinge richteten, die sie sehr erschütterten, musste auch ihre Sprache so beschaffen sein, dass sie in erster Linie ihre Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühle über solcherlei Dinge ausdrücken konnten 213 Weil sie nicht zu Überlegungen über die Ursachen oder zu einer Einordnung der beobachteten Phänomene in der Lage waren, gab es dafür auch keine Worte Auf dieser frühen menschlichen Entwicklungsstufe habe die Sprache daher lediglich über Zeichen verfügt, mit denen man Sinneswahrnehmungen und Gefühle wie Begehren und Abneigung, Schmerz, Freude und andere intensive Emotionen ausdrücken konnte 214 Sie war aufgrund des schwach entwickelten Verstandes der Menschen kaum mit Wörtern ausgestattet, die für die Beschreibung und Erklärung physikalischer Vorgänge notwendig sind 215 Da sich aber mit der Zeit auch abstrakte Vorstellungen bildeten, neue Dinge und Ereignisse vorkamen, die sprachlich artikuliert werden mussten, und das Bedürfnis entstand, auch Absichten, Meinungen und Spekulationen auszudrücken, die Sprache aber nach wie vor ein äußerst eingeschränktes Vokabular bereitstellte und nur über Begriffe verfügte, die sinnlich Erfahrbares bezeichneten, mussten die Menschen diese vorhandenen Begriffe auf das, was ausgedrückt werden sollte, übertragen, das heißt, sie verwendeten sie wie sprachliche Bilder, die vom Konkreten abgeleitet waren Sie formulierten dadurch Symbole und Vergleiche, verwendeten also gewissermaßen einen sermo pantomimicus,216 indem Abstraktes geradezu zwangsläufig personifiziert wurde217 und die Überlegungen als eine Art sprachliche Schauspielerei dargelegt wurden Die Vergleiche, die die antiken Menschen anstellten, erfolgten jedoch nicht systematisch und orientierten sich auch nicht unbedingt an gemeinsamen Hauptmerkmalen zwischen Ziel- und Senderbereich Die Auswahl der Kategorien des tertium comparationis erfolgte eher zufällig und ohne Überlegungen, da die antiken

209 210 211 212 213 214 215 216 217

[Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 471 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae) Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 11 [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 471 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae) Ebd Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 146 Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 10 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 146 Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 10 f Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 291; De opinionibus per mythos traditis S 146

7.3 Der sermo mythicus

239

Menschen die Dinge, über die sie sprechen wollten, und deren Merkmale kaum erfassen und verstehen konnten Sie wählten daher spontan und vollkommen subjektiv irgendeine Ähnlichkeit aus Ihre Ausführungen waren also durchaus nicht klar und eindeutig, sondern verwirrt, verschlungen und missverständlich 218 Statt ihre Gedanken klar ausdrücken und Mutmaßungen als solche kennzeichnen zu können, mussten sie „omnis natura, elementa, elementorum vires, corpora, phaenomena, vicissitudines, effecta“219 in „in res gestas, in facta, in personas“,220 in Geschichten, Fakten und Personen – die Götter – verwandeln Die antiken Menschen bemühten sich, neue Wörter für ihre Vorstellungen zu erfinden, und unterstützten ihre Beschreibungen außerdem mit Gebärden, einer veränderten Intonation und Mimik, sie verwendeten sozusagen ihren ganzen Körper als Mittel der sprachlichen Äußerung Dabei bewirkte, so Heyne, diese mythische Darstellungsweise von Gedanken beim Publikum eine viel tiefere und intensivere Anteilnahme als Formulierungen in einer jüngeren Sprache, da die Informationen sowohl akustisch als auch visuell dargeboten wurden 221 So berichteten die antiken Menschen, wenn sie über Ursachen und Auswirkungen sprechen wollten, von Zeugung222 und Geburt; wenn es um einen Gegensatz oder eine Verschiedenheit ging, sprach man von Schlachten und Krieg; wollten sie etwas Neues oder eine Sache, die einer anderen nachfolgte, erklären, beschrieben sie wiederum Geburt; ging etwas zu Ende, schilderte man Alter und Tod 223 Es habe also bereits auf dieser frühen Stufe der kulturellen Entwicklung eine Vorform poetischen Sprechens gegeben, die dringend von bewusster Kunstsprache, dem sermo allegoricus, unterschieden werden muss 224 Aus den Elementen der mythischen Sprache seien später die Allegorien, Tropen, Metaphern und andere Stilfiguren, Parabeln und Tierfabeln entstanden, nachdem die Lebensweise und damit auch die Sprache weiterentwickelt worden waren 225 Diese wur218 219 220 221

Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 289 f Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 565 Ebd Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 191 f 222 Vgl zur Verwendung des Begriffs der Zeugung in der mythischen Sprache Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 136 Er schreibt hier, dass es in den frühesten Zeiten noch keinen Begriff für Ursache gab Stattdessen wurde der Begriff Zeugung verwendet Folglich wurde die Ursache personifiziert; diese konnte dann die ebenfalls personifizierte Wirkung ‚zeugen‘ Doch war auch diese Verwendung von Zeugen nicht allein auf kausale Zusammenhänge beschränkt Zum Teil wurden auch chronologische Abfolgen, Hierarchien oder räumliche Nähe mit dem Begriff belegt, wobei sich der antike Mensch die „Bestimmung […] schwerl selbst genau zu entwickeln wußte“ ([Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 784 (= Rez zu De Theogonia ab Hesiodo condita)) So ‚zeugte‘ etwa die Erde den Himmel und das Meer, da diese der Kosmogonie zufolge zuerst da war, vgl ebd Dementsprechend wird in der mythischen Sprache der Begriff Zeugung auf alles angewandt, „was subordinirte Kräfte, Eigenschaften, Attribute hat“ (ebd ) 223 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 292 224 Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 563 225 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 192

240

7 Heynes Mythentheorie

den bewusst eingesetzt, um mündliche oder schriftliche Texte zu ästhetisieren oder um den Gestus der überlieferten Mythen nachzuahmen Es liegt hier mit dem sermo allegoricus also bereits eine kultivierte Kunstsprache vor Der sermo mythicus oder symbolicus hingegen ergibt sich aus einer „necessitas inter homines rudes ex eorum infantia, notionum et verborum proprium inopia“,226 und das ist ein ganz wesentlicher Unterschied: Die ursprünglichen Mythen, also historische und philosophische Mythen, entspringen in wesentlichen Teilen dem sermo mythicus Insofern geben nicht nur die Spekulationen und historischen Berichte der homines rudes den Mythen ihren Inhalt, sondern auch die Sprache selbst, indem sie die Menschen zu symbolischem Sprechen zwingt Dieses symbolische Sprechen kann jedoch auf dieser Stufe noch nicht als solches erkannt und reflektiert werden, weshalb das Gesagte als Fakt und Wahrheit interpretiert wird; von Literatur und Poesie kann hier also keine Rede sein – im Gegensatz zu späteren Texten, den mythi poetici, die in allegorischer Sprache formuliert werden Erst eine weiterentwickelte Sprache ermöglicht bewusstes nichtwörtliches Sprechen, das nun auch durchschaut werden kann Erst jetzt kann damit Dichtung, zunächst in Form dichterischer Mythen, einsetzen Um diese primitive Vorstufe der Dichtersprache von der gebildeteren Dichtersprache selbst unterscheiden zu können, könne sie daher nicht – wie bei Vico – sermo poeticus genannt werden 227 Heyne schlägt folglich den Terminus sermo mythicus oder symbolicus vor 228 Der sermo poeticus oder auch allegoricus ist dagegen etwas vollkommen anderes,229 denn Allegorie und Poesie gehören 226 Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 563 227 Ob Heyne an dieser Stelle implizit auf Vico referiert, der die antiken Menschen als Dichter und deren Sprache als poetisch bezeichnet, vgl Kap 3 2 4 S 67–69, bleibt leider unklar Als sicher kann jedoch gelten, dass Heyne in diesem Punkt nicht mit Vicos Terminologie übereinstimmen würde 228 Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 146 Ähnlich äußert sich Heyne auch 1798 in der Rezension zu seiner Societätsabhandlung De fide historica aetatis mythicae Er schreibt hier: „[I]n so fern […] alte Vorstellungsart nicht anders als sinnlich, und die Sprache bildlich seyn kann, so ist es wieder ein Mißgriff oder absichtliche Verdrehung, dieß für Eines mit allegorischer Erklärung zu halten oder auszugeben Bildersprache ist die Folge des Unvermögens, deutliche Verstandesbegriffe zu fassen und in Worten auszudrücken; sinnliche und bildliche Ausdrücke begleiten ähnliche Vorstellungen; Allegorie ist Sache des Scharfsinnes, des Witzes und der Kunst; und einen Gedanken allegorisch einkleiden, oder einen Mythus allegorisch erklären, ist etwas ganz anderes, als das, was in bildlicher Sprache roher Menschen ausgedrückt seyn kann, aufzufinden und mit unserer jetzigen Sprache auszudrücken Weil die bildliche Sprache in den Mythen herrscht, so ist der Ausdruck mythische Sprache gar nicht übel gewählt, wenn man sie gehörig bestimmt Von dem, was in dieser Sprache überliefert war, gehet alle Mythologie aus, ist aber nicht ganz darin eingeschlossen; sondern es entsteht aus der alten Sage beiderley Gattung eine dritte Gattung, der poetische Mythus Erzähltes und Gedachtes ward weiter hin bloß Gegenstand der Einbildungskraft und des Witzes; und das Vehikel von beidem, alte bildliche Denkart und Sprache, ward nun zum Hauptstoff der Dichtung […]; so daß endlich an alte Sage oder Philosophem gar nicht weiter zu denken war; alles war bloß Spiel der Phantasie und des Dichterwitzes; diesen deuten zu wollen, wäre wirklich eine Operation der Allegorisirung“ ([Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 566 f ) 229 Zum Teil ist Heyne jedoch in der Verwendung seiner Terminologie inkonsequent So bezeichnet er in seiner Rezension zur Programmschrift Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis das Sprechen, bei dem sich „heftig bewegte und erhitzte, bey der Armuth

7.3 Der sermo mythicus

241

in eine spätere Zeit, konnten sie doch bereits auf die älteren Mythen und Symbole zurückgreifen Die Sprache, in der die Mythen artikuliert wurden, ergab sich dabei spontan und unreflektiert Heyne beschreibt, dass die Armut der Sprache den Geist des antiken Menschen, der hervorbrechen wollte, einengte und dieser daher die Dinge wie durch göttliche Eingebung in einer Art Taumel und Ekstase bildhaft und schauspielerisch darzustellen und den anderen zu vergegenwärtigen versuchte Der antike Sprecher schien daher wie von einem Feuer durchglüht und in Trance zu sprechen, sodass ihm und allen anderen das Gesprochene nicht aus ihm selbst heraus, sondern aus einer übernatürlichen Eingebung zu entspringen schien;230 Gedanken wurden dadurch in Erzählungen über Tatsachen und Ereignisse verwandelt 231 Dies führte dazu, dass Gedanken wie Berichte von wahren Begebenheiten erschienen, da diese ja auf dieselbe Weise dargestellt wurden, sodass die Menschen der Antike bald nicht mehr zwischen spekulativen Überlegungen und historischen Ereignissen unterscheiden konnten 232 Sie vermochten den symbolischen Charakter ihres Sprechens nicht zu durchschauen; die Sprache selbst gab ihnen damit immer wieder neue Rätsel auf, die sie durch die Erfindung neuer Mythen zu lösen versuchten So habe man etwa bald den alten symbolischen Beinamen für Pelops, ἐλεφάντινος ὤμους, der an den Schultern Elfenbeinerne, mit dem man aus Mangel an einem passenden Wort lediglich auf seine Schönheit verweisen wollte, nicht mehr verstanden und in der Erfindung des Mythos von Tantalos und Pelops eine plausible Erklärung für den Beinamen gefunden 233 Die größten Schwierigkeiten und Hindernisse eines deutlichen Ausdrucks bereiteten den antiken Menschen jedoch laut Heyne ihre Vorstellungen über die Religion und die Götter, weil es für jene ungebildeten Menschen der Antike natürlich problematisch gewesen sei, religiöse Gedanken in Worten zu formulieren, da für sie schon allein das Fassen solcher Gedanken äußerst schwierig war Schließlich konnten diese unerfahrenen Menschen selbst das, was sie wahrnahmen, kaum verstehen und in Worte fassen, noch viel weniger mussten sie also zu Überlegungen fähig gewesen sein, die auf nicht sinnlich wahrnehmbaren und beobachtbaren Dingen basierten 234 Die spontanen, im sermo mythicus formulierten Erzählungen beeindruckten die homines rudes so sehr, dass sie immer wieder wiederholt und dadurch an die Nachkommen des Stammes mündlich weitergegeben wurden, wobei es zu vielen Veränderungen und Ausschmückungen kam Sie reichten dadurch immer weiter in die Vergangenheit zurück und gewannen einer rohen und sich erst bildenden Sprache aber des Ausdrucks nicht recht mächtige, Gemüther sich durch Bilder, Vergleichungen, Beyspiele, Allegorien ausdrücken mußten“, als „die poetische Sprache“ ([Heyne]: 118 St In: GGA 1764 S 954) 230 Vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 38 231 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 291 232 Vgl ebd 233 Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 567 234 Vgl Heyne : Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 295

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7 Heynes Mythentheorie

somit auch an Autorität, wurden aber immer noch auf ihre symbolische und gebärdenreiche Art und Weise dargestellt, etwa bei Stammesversammlungen, Festen oder Gelagen Durch diese ritualisierten Wiederholungen festigten sich Formulierungen immer mehr; nach und nach kristallisierten sich feste Abläufe und gesangsartige Partien heraus Aus diesem Grund, und weil sich die Darbietungsform durch besonders großen Gebärdenreichtum auszeichnete, spricht Heyne hier bereits von einer frühen Form des Dramas 235 Noch später seien diese Berichte tatsächlich als Dramen mit mehreren Personen und unter Einbezug des ganzen Stammes aufgeführt worden 236 Abläufe und Formulierungen stabilisierten sich dadurch noch mehr und ein größerer Bedarf an Unterhaltung durch Texte entstand; so kamen erste Sänger auf, die die überlieferten mythischen Stoffe aufgriffen, veränderten und historische und philosophische Mythen miteinander vermischten und sie dadurch nach und nach zu einer „materiam aliquam poeticam“237 und „commenta poetica“238 verwandelten Zweck der Erzählungen war nun nicht mehr die Weitergabe historischer Ereignisse, besonderer Erfahrungen oder primitiver Spekulationen, auch waren sie nicht mehr Bestandteil religiöser Riten, sondern sie dienten nun der Unterhaltung Mit diesem fundamentalen Funktionswandel änderte sich zugleich auch der Charakter der mythischen Sprache Der sermo mythicus beschränkte sich nicht mehr nur auf Berichte von Dingen, die aufgrund eines sprachlichen Defizits nicht anders hätten ausgedrückt werden können, sondern wurde auch bei dem eingesetzt, was einfacher und realistischer hätte dargestellt werden können, weil die Sprache nun schon weiterentwickelt war und über deutlich mehr, zunehmend auch abstrakte Begriffe verfügte, sodass Spekulation durchaus bereits sprachlich gekennzeichnet werden konnte Da das mythische Sprechen jedoch durch die ständig wiederholten Darstellungen ein wesentlicher Teil der griechischen Kultur geworden war und derart formulierte Texte durch ihren traditionellen sprachlichen Gestus bedeutend wirkten, behielten die erste Dichter den sermo mythicus bei So wurde diese alte Art, Gedanken symbolisch auszudrücken, bewahrt und der sermo mythicus zu einem sermo poeticus erweitert,239 weil das Sprechen anhand von Analogien und Symbolen nun nicht mehr aufgrund einer Notwendigkeit und eines Mangels an Alternativen, sondern jetzt bewusst eingesetzt wurde, nicht zuletzt auch da die Dichter erkannten, dass die alte mythische Ausdrucksweise besonders gut geeignet war, die Aufmerksamkeit des Publikums zu binden Im Laufe der Zeit wurde dieses nichtwörtliche Sprechen durch einen dichterisch-künstlerischen Gebrauch immer mehr verfeinert und an nun gesteigerte ästhetische Ansprüche angepasst Es traten erstmals allegorische und

235 Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 565 236 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 291 Die kollektive Aufführungspraxis sei dabei heute noch am Chor im griechischen Drama erkennbar 237 Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 566 238 Ebd 239 Vgl Heyne : Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 292

7.4 Mythus, ritus und religio

243

metaphorische Sprechweisen auf und eine erste literarische Sprache entwickelte sich, die sich äußerlich zwar nicht vom alten sermo mythicus unterschied, aber vollkommen anders motiviert war Beide – sermo mythicus und sermo poeticus – zeichnen sich durch bildhafte Rede, uneigentliches Sprechen aus; aber es gibt einen gewaltigen Unterschied: erster entsteht unabsichtlich und unbewusst in Folge einer Zwangslage, während zweiter absichtlich zur Erzeugung sprachlicher Ästhetik eingesetzt wird 240 Dieser Umwandlungsprozess des sermo mythicus in einen sermo poeticus fand Heynes Ansicht nach bereits lange vor Homer statt, denn auch Homer habe seine Epen mit einer poetischen Sprache ausstatten können, weil es zu seiner Zeit offensichtlich schon zahlreiche „poëtices praesidia“,241 also dichterische Ausdrucksmittel, und eine reich ausgestattete Sprache gab 242 Der neu gewonnene künstlerisch-literarische Charakter der Sprache beschränkte sich später dann nicht mehr nur auf die Dichtung, sondern wurde auch in andere Lebensbereiche exportiert So fand im Bereich der Religion das symbolische Sprechen Anwendung, Philosophen und Grammatiker verwendeten Allegorien und die Rhetorik eignete sich die Tropen an 243 Dementsprechend ist in Heynes Theorie jede Form von ästhetischem und nichtwörtlichem Sprachgebrauch auf eine Ur- oder Vorform, nämlich den sermo mythicus, rückführbar Mythisches Denken und Sprechen sind somit ein fester Bestandteil der allgemeinen menschlichen Entwicklung und erscheinen damit als eine universelle Strategie, Lebenswirklichkeit mit primitiven Mitteln greifbar zu machen und anderen mitzuteilen 7.4 Mythus, ritus und religio Da Mythen, Riten und Religion in engem Zusammenhang stehen, blieben letztgenannte in Heynes Schriften nicht außen vor – im Gegenteil; in verschiedenen Texten beschäftigte er sich mit einzelnen antiken Bräuchen und den Prinzipien junger Religionen Im Folgenden soll daher Heynes Sicht auf diese Themen in den Blick genommen werden Hinsichtlich der Mythen- und Religionsgenese spielt in Heynes Mythentheorie Angst eine besondere Rolle Die antiken Menschen fürchteten sich vor ihrer Umgebung, vor allem angesichts dramatischer Naturereignisse Sie versuchten sich solche bedrohlichen Ereignisse zu erklären, indem sie annahmen, dass sie durch übermächtige menschenähnliche Wesen verursacht werden, die durch bestimmte Maßnahmen, die Riten, beschwichtigt werden können Insofern konnten Riten überhaupt nur entstehen, weil die antiken Menschen überzeugt waren, dass es eine enge Verbindung 240 241 242 243

Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 150 f Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 39 Vgl ebd Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 151

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7 Heynes Mythentheorie

zwischen Menschen- und Götterwelt gibt, dass die Götter auf die Erde hinabsteigen, ins Geschehen eingreifen können, und wie sie selbst emotionsgeleitet handeln, was sie durch allerlei unerklärliche Phänomene beobachten zu können glaubten Auf diese Weise bildete sich ein ausgeprägter Anthropomorphismus und Ritualismus heraus 244 Für die konkrete Ausformung der Riten interessierte sich Heyne eher wenig 245 Ihm kam es vielmehr auf Tendenzen, psychologische Verarbeitungsmechanismen und Prozesse der Religionsgenese an; wie sich die involvierten Riten genau abspielten, war für ihn nur von sekundärem Belang, da es sich dabei nur um Äußerlichkeiten und nicht um den Kern von Religion – antiker wie moderner246 – handelt Er interessierte sich 244 Möglicherweise lehnte sich Heyne hierin an David Hume an Auch dieser weist in seinem Essay The natural History of Religion der Angst des antiken Menschen eine große Bedeutsamkeit zu Bei Hume empfindet der primitive Mensch seine Umgebung als bedrohlich und angsteinflößend und kann diese negativen Emotionen überwinden, indem er sich menschenähnliche Wesen als Urheber vorstellt, sodass Angst bei Hume zu Anthropomorphismus und Polytheismus in jungen Religionen führen muss, durch die der Umwelt ihre Bedrohlichkeit genommen wird Ganz ähnlich wie Heyne konstatiert Hume: „the first ideas of religion arose not from a contemplation of the works of nature, but from a concern with regard to the events of life, and from incessant hopes and fears, which actuate the human mind“ (David Hume: The natural History of Religion In: Four Essays London: 1757 S 12 f Ähnlich ebd S 94 f ), vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 295 f Außerdem erscheinen sowohl bei Heyne als auch bei Hume die Prozesse von Religionsgenese universal, und auch ihre Aussagen über frühe Gottesvorstellungen ähneln sich stark: Heyne merkt an, dass die frühen Vorstellungen von Gottheiten sehr unpräzise und verschwommen gewesen sein müssen, vgl Kap 6 2 S 187 f Ähnliches formulierte auch Hume: „It appears certain, that, tho the original notions of the vulgar represent the Divinity as a very limited being, and consider him only as the particular cause of health or sickness; plenty or want; prosperty or adversity“ (Hume: The natural History of Religion S 51) Auf die Ähnlichkeiten zwischen Davids Humes Ansichten zur Religionsgenese und Heynes Mythentheorie weisen auch Heidenreich und Fornaro hin, vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 442 f ; Fornaro: I Greci senza lumi S 148–151, bleiben konkrete Nachweise jedoch schuldig Zwar zitiert Heyne Humes The Natural History of Religion an keiner Stelle, doch ist durchaus davon auszugehen, dass er den Essay kannte Er bezieht sich auf Humes Abhandlung Of the Populousness of Ancient Nations (1752) in seiner Programmschrift De publicis privatae frugalitatis utilitatibus inprimis ad maiorem civium frequentiam über die Bevölkerungsdichte in der Antike, vgl Christian Gottlob Heyne: De publicis privatae frugalitatis utilitatibus, inprimis ad maiorem civium frequentiam, Prolusio prior In: Opuscula academica, Bd 1 S 221 f ; 227 und die entsprechende Rezension [Christian Gottlob Heyne]: 85 St In: GGA 1765 S 682 Dass Heyne also auch andere Schriften kannte, ist wahrscheinlich Er meldete zudem dreimal das Erscheinen neuer Bände von Humes History of England, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 178 St In: GGA 1789 S 1792; 208 St In: GGA 1789 S 2088; 73 St In: GGA 1790 S 736 und rezensierte eine Aufsatzsammlung, in der auch The natural History of Religion enthalten war, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 136 St In: GGA 1794 S 1368 Heyne nennt die Sammlung hier lediglich kurz als Neuerscheinung Die Rezension kann daher nicht als sicherer Beweis dafür gelten, dass Heyne Humes Schrift zur Religionsgenese kannte, auch wenn die genannten Ähnlichkeiten sicher ein starkes Indiz dafür sind 245 So auch Horstmann: Mythologie und Altertumswissenschaft S 82 246 Durch seine Beschäftigung mit alter Religion im Besonderen und Religiosität im Allgemeinen sowie durch seinen nüchternen, ‚unchristlichen‘ Blick auf die Anfänge von Religion galt er selbst als wenig religiös, wohl nicht zuletzt auch weil er nur selten zur Kirche ging, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 417 f Heeren schreibt hier, dass Heyne bei weitem nicht jeden Sonntag den Gottesdienst besuchte Er schränkte seine Kirchenbesuche auf einige wenige Male im Jahr ein

7.4 Mythus, ritus und religio

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daher nicht nur für Schriften, die antike Religion behandeln, sondern verfolgte auch aufmerksam Neuerscheinungen über die Religionen und religiösen Schriften Indiens247 und Skandinaviens 248 Der Anlass für die frühen philosophischen Mythen und damit auch für ein religiöses Bewusstsein musste für Heyne immer etwas sein, das die antiken ungebildeten Menschen wahrnehmen konnten und bei ihnen Bewunderung oder Schrecken hervorrief,249 sodass die dementsprechend oft grausamen und brutalen Riten ursprünglich aus subjektiv lebensbedrohlichen Grenzerfahrungen hervorgingen Dies konnten, wie beschrieben, besondere natürliche Phänomene oder Ereignisse sein, aber auch Artefakte stellten zuweilen einen Anlass für die Entstehung von Mythen und Riten dar, wenn diesen beispielsweise zunächst nur von ihren Besitzern und durch Nachahmung schließlich von einer größeren Gruppe oder dem ganzen Stamm Wertschätzung entgegengebracht wurde Eine solche Hochachtung für Gegenstände, die sich beispielsweise in der Darbringung von Opfergaben äußern konnte, ist Heynes Ansicht nach jedoch noch nicht mit religiöser Verehrung oder Anbetung des Gegenstandes gleichzusetzen Die antiken Menschen wollten durch solche Handlungen vielmehr ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen und bekunden, dass es sich bei dem betreffenden Gegenstand um etwas Heiliges handelt Die Opferhandlungen, bei denen besondere Gegenstände eine Rolle spielten, seien also eher eine Art antiker Reliquienverehrung und Gottesdienst, in den die Gegenstände involviert waren, aber nicht unbedingt Idolatrie, die sich auf die Gegenstände an sich richtete 250 Solche antiken Riten und Bräuche basierten in erster Linie auf Nachahmung und Überlieferung, sie setzten daher

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Religion war für ihn weder „Sache des äußern Scheins […] [noch] Sache des dogmatischen Glaubens“, sondern „desto mehr Sache des Herzens“ (ebd S 418 f ) So rezensierte er beispielsweise eine Übersetzung der hinduistischen heiligen Schrift Bhagavatapurana, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 96 St In: GGA 1788 S 962–966, und eine umfassende zweibändige Darstellung der indischen Religion und Mythologie von 1809, bearbeitet von Marie Elisabeth de Polier, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 105 u 106 St In: GGA 1810 S 1041–1055, sowie Friedrich Schlegels Schrift Ueber die Sprache und Weisheit der Indier, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 98 St In: GGA 1808 S 969–979 Er interessierte sich etwa für den Versuch einer Geschichte der Religion, Staatsverfassung und Cultur der alten Scandinavier, veröffentlicht 1801, von Friedrich Rühs (1781–1820), vgl [Christian Gottlob Heyne]: 85 St In: GGA 1801 S 841–847 Heyne schreibt dazu: „Processit itaque omnis priscorum hominum religiosus sensus a miratione, quae si ad res magna nocendi et officiendi vi instructas conuersa erat, in metum abire debuit“ (Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 202) Vgl ebd S 199 Inwiefern Heyne hier an Charles de Brosses 1760 erschienenes Buch Du cultes des dieux fétiches anknüpft, ist leider unklar – er nennt de Brosses in keiner seiner Schriften als Quelle – doch ist davon auszugehen, dass ihm de Brosses Werk bekannt war, schließlich nennt er diesen als Impulsgeber für die Beschäftigung mit Fetisch-Kulten in seiner Rezension zu de Sainte-Croixs Memoires pour servir à l’histoire de la Religion secrete des anciens Peuples, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 111 St In: GGA 1784 S 1113 Von einer Beschäftigung mit und Beeinflussung durch de Brosses Werk bei Heyne geht Fornaro aus, vgl Fornaro: I Greci senza lumi S 165–169, sie geht über Hinweise auf gedankliche und terminologische Parallelen jedoch nicht hinaus

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7 Heynes Mythentheorie

Heynes Ansicht nach kein tieferes religiöses Bewusstsein voraus 251 Selbst wenn Riten ursprünglich auf theologischen Begründungen und metaphysischen Spekulationen fußten, seien sie bald zu Ritualen geworden, da die Nachkommen, die das Brauchtum übernahmen, nur die sakralen Handlungen vollführten und über deren theologisch-philosophische Gründe nicht mehr nachdachten Die Vorstellungen, durch die die Mythen ursprünglich motiviert waren, können daher nicht aus den Riten abgeleitet werden, da diese viel älter seien 252 Insgesamt blieb laut Heyne die Religion der antiken Menschen auf rituelle Handlungen beschränkt; diese dienten lediglich dazu, das Böse abzuwenden und das Gute zu begünstigen, ohne dass den Menschen ein theologischer Hintergrund bewusst gewesen wäre 253 Für „rohe Menschen“ bestehe daher der Gottesdienst in äusserlichen Geberden, Stellungen und Handlungen, welche an und für sich symbolisch sind und Unterwerfung, Verehrung, Bitten, Flehen, ausdrücken sollen, aber von den Meisten ohne Sinn ausgeübt werden, und bloße mechanisch beobachtete Formen bleiben 254

Der Kern der antiken Religion bestand folglich nicht in einer „doctrina“,255 sondern in eher bedeutungsarmen Riten; es handelte sich also nicht um eine Schrift- und Gelehrtenreligion mit ausgeprägter Theologie und Dogmatik, sondern vielmehr um Rituale, mit denen die antiken Menschen ihre primitiven mythischen Vorstellungen kundtaten Zwischen Mythos und Ritus muss daher Heynes Ansicht nach strikt unterschieden werden: Mythos ist immer Sprache, Erklärung und Vorstellung, Ritus ist immer Handlung256 und kann auf die mythische Erklärung Bezug nehmen; er kann aber auch losgelöst davon sein Mythos und Ritus sind daher bei Heyne als zwei grundsätzlich verschiedene Entwicklungen zu verstehen, auch wenn es zu Wechselwirkungen und gegenseitigen Beeinflussungen kommen konnte Die ausgeführten Riten hatten ursprünglich ausnahmslos einen symbolischen Hintergrund, da nicht die religiöse Handlung an sich, sondern der Zweck der Handlung, die Besänftigung der Gottheit, im Vordergrund stand, während Symbolismus bei den Mythen keine Rolle spielte Die Zeremonien wurden gemeinsam mit den dazugehörigen Mythen aus den primitiven Zeiten über viele Jahrhunderte hinweg weitergegeben So differenzierten sich Riten und Mythen im Laufe der Zeit immer weiter aus und wurden nicht zuletzt auch durch frühe Dichter erweitert, sodass verschiedene 251

Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 199 f 252 Vgl ebd S 202 f ; Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 16 f 253 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 296 254 [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2013 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) 255 Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 311 256 Vgl Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne S 293

7.4 Mythus, ritus und religio

247

Ausformungen wie die alten Hymnen und in verschiedenen Regionen spezielle Kulte wie die Mysterien entstehen konnten 257 Abhängigkeiten zwischen Mythen und Riten bestanden dabei in verschiedenen Richtungen Einerseits bildeten Mythen die Grundlage für Riten insofern, als sie das gedankliche Konstrukt, die Gottheit, bereitstellten; durch Riten sollte auf diese durch den Mythos geschaffene Macht Einfluss genommen werden Doch auch Riten konnten die Basis neuer Mythen bilden: Während der rituellen Handlungen waren die Teilnehmenden jedes Mal tief beeindruckt, wenn die Mythen ritualisiert erzählt oder nachgestellt wurden, vor allem wenn sich diese Darstellungen durch Musik und Tänze intensivierten Nicht zuletzt auch weil die Stoffe schon allein aufgrund ihres hohen Alters als ehrwürdig und heilig galten, konnten die religiösen Handlungen und Zeremonien zur Basis von Mythen werden, da auch hier für den primitiven Menschen ein beeindruckendes und emotional bedeutsames Ereignis stattfand 258 Da man die ursprünglichen Bedeutungen der religiösen Handlungen vergessen hatte, erfand man neue Gründe und Erklärungen für die Existenz der Riten, um die entstandene Wissenslücke erneut durch Theoriebildung zu schließen Wieder entstanden neue Mythen, weil den antiken Menschen – wie auch bei der Entstehung anderer philosophischer Mythen – Beeindruckendes widerfuhr: hier eben das Miterleben religiöser Praktiken, deren Ursachen ihnen unerklärlich erschienen 259 Die zuvor bedeutungslosen Handlungen erhielten dadurch eine neue symbolische Aufladung und können daher in Heynes Terminologie als „rit[us] allegoric[i]“260 bezeichnet werden Die Ritenentstehung ist bei Heyne also als ungelenkter autonomer Prozess durch Nachahmung und Tradition zu verstehen, ohne dass bestimmte Überlegungen oder Vorstellungen von den angebeteten Gottheiten und den ihnen gewidmeten Handlungen eine Rolle spielen mussten Religionsgenese ist damit bei Heyne kein spontanes Entstehen, keine Offenbarung und auch keine philosophische Idee Es handelt sich hier vielmehr um lange Tradierungsprozesse, eine langsame Systematisierung einer ursprünglich diffusen Empfindung des Sakralen, die sich über Jahrhunderte hinweg festigt und sich in verschiedenen Sakralisierungsprozessen äußert Ein religiosus sensus, instinctus religiosus beziehungsweise eine notio dei sei dabei schon bei den rohesten Völkern anzutreffen; eine Disposition zur Ausbildung von Religion ist dem Menschen aufgrund seiner psychologischen Voraussetzungen Heynes Ansicht nach also angeboren,261 ein 257 Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 568 258 Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 188 259 Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 310 f 260 Ebd S 311 261 Vgl ebd S 296 Hier ist der „sensus religiosus […] toti humano generi communis et naturae humanae tanquam proprius et ingenitus“; ähnlich auch 1806, also ein Jahr zuvor, in Heyne: De sacerdotio Comanensi S 142: „Alterum, quod tenendum esse dixi, habeo, omnem […] et superstitionem rituum et animi religionem cum opinione alicuius naturae superioris […] prima elementa

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7 Heynes Mythentheorie

Gedanke, der, so de Vries, „unmittelbar aus dem Deismus der Aufklärung hervorgegangen ist“ 262 Ein viel diskutiertes Thema waren im 18 Jahrhundert auch die antiken Mysterien Es handelt sich dabei um vornehmlich in Vorderasien verbreitete Kulte etwa um die Gottheiten Kybele und Bacchus, die der Überlieferung zufolge von mythischen Figuren wie Orpheus oder Eumolpus gestiftet worden sein sollen Es waren geheime Kulte, die von sektenartigen, exklusiven Personenkreisen durchgeführt wurden, in die man durch spezielle Initiationsriten aufgenommen werden musste Über ihre Inhalte ist jedoch nicht viel bekannt Im 18 Jahrhundert sah man in ihnen häufig Kulte, bei denen geheimes Wissen und moralische Lehren weitergegeben wurden,263 oder heidnische Spektakel;264 zum Teil glaubte man auch, in ihnen die Reste einer Offenbarung des duxisse ab insito naturae humanae sensu aliquo, quem instinctum appelles religiosum“, und bereits 1785 in Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 198: „In rudibus populis dei notionem aliquam insidere hominum animis dicere licebit“ Das Zitat entstammt der für die Veröffentlichung angefügten Erweiterung und ist daher nicht auf 1764 zu datieren Vgl hingegen Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 447 Heidenreich schreibt hier, dass Heyne erst „in seinen späteren Texten den ‚religiösen Sinn‘ (sensus religiosus), den er nicht mehr, wie in den frühen Texten, als entstehend betrachtet, sondern als eine anthropologische Konstante“ (ebd ) bestimme Auf welche früheren Texte Heidenreich hier anspielt, bleibt allerdings unklar Fest steht nur, dass Heyne spätestens seit 1785 eine bereits im rohen Menschen fest verankerte notio dei annimmt 262 De Vries: Forschungsgeschichte der Mythologie S 143 263 Dies glaubte Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison (1750/53–1805) Er behauptete in seiner De triplici Theologia Mysteriisque Veterum Commentatio, dass in den Mysterien eine durch Philosophen entwickelte physische Theologie, das heißt tiefsinnige religiöse, metaphysische Spekulationen über Gott, die Natur und die Welt, eine Art esoterische Philosophie, wie etwa Heraklits Feuer-Theorie, Pythagoras mathematische Lehren oder Epikurs Atomlehre, in den Mysterien gelehrt worden sei, vgl Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison: De triplici Theologia Mysteriisque Veterum Commentatio In: Guillaume de Sainte-Croix: Mémoires pour servir à l’histoire de la religion secrète des anciens peuples ou Recherches et critiques sur les Mystères du paganisme Paris: 1784 S 221–229 Heyne entgegnet darauf in seiner Rezension: „Hier geht nun manche Täuschung vor: […] theils in der Voraussetzung, die Mysterien in der ersten Zeit seyen nicht blos, wie wir gern zugeben, mit einigem gesunden Menschenverstand und populärer Philosophie, sondern mit philosophischer Aufklärung und reinen Theismus angefüllt gewesen, und nur späthin verdorben worden: bald wird zu viel, bald zu wenig erwiesen, […] bald übersieht man folgenden alles entwickelnden Hauptumstand: die mythische [= der Dichtung zugrundliegende Religion] sowohl als die Volksreligion enthielten in ihrer ersten Anlage bereits einiges physisches: denn daß z E Isis, Cybele, Ceres, Venus, Dionysus u a vom Begriff der Mutter Natur ausgegangen waren, […] wußte und sah wohl jeder Mensch, der seinen Verstand nur ein wenig gebrauchte Dieses Physische war allerdings einer Entwickelung fähig, die ihm das aufgeklärte Zeitalter geben konnte“ ([Heyne]: 111 St In: GGA 1784 S 1117) D’Ansse de Villoison legt den Mysterien, so Heyne, viel zu subtile Inhalte bei Philosophische und moralische Lehren wie „die esoterische Philosophie des Pythagoras, und die Orphische Lehre, […] von Gott, göttlichen Dingen, der Natur, der Materie, der Seele, dem Zustand nach dem Tode, […] Theologie, Cosmologie, Physiologie, Metaphysik“ (ebd S 1118) hätten dabei aber ursprünglich keine Rolle gespielt, sondern seien den Mysterien erst durch spätere Philosophen zugeschrieben worden 264 Dies glaubte beispielsweise der anonyme Verfasser der Schrift Characteristick der Alten Mysterien von 1787 Aus christlicher Perspektive argumentiert er, die Mysterien seien ein gotteslästerliches

7.4 Mythus, ritus und religio

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christlichen Gottes erkennen zu können 265 Heyne war demgegenüber jedoch skeptisch, er schreibt: in den ältesten [Mysterien] findet man entweder nichts, was einen Begriff giebt, oder nichts, was einen sehr vortheilhaften geben könnte Wie können auch gottesdienstliche Handlungen, die mit einer wilden Begeisterung gefeyert wurden, (Orgia) grosse Erleuchtung gegeben haben?266

Für Heyne stellen die antiken Mysterien eines der schwierigsten Felder antiker Religionen dar, da sehr unterschiedliche Riten, Gebräuche und religiöse Vorstellungen unter diesem Begriff subsumiert würden und sich diese über sehr lange Zeiträume hinweg sehr unterschiedlich entwickelt hätten Die frühen Mysterien bestanden für Heyne lediglich in wilden Tänzen und Gesängen, wobei auch Trance von Relevanz ist; erst später spielten auch „Belehrung und ein gesuchter Aufschluß von Gebräuchen, welche noch das ganze Gepräge roher Zeitalter hatten“,267 also gewisse Botschaften und ein religiöser Überbau für diese Bräuche, eine Rolle; oft seien sie aber blos Opfer, Aufzüge und gottesdienstliche Feyerlichkeiten mit gewissen geheimen symbolischen bald vom gemeinsten Aberglauben erzeugt, bald mißverstanden, bald gar nicht verstanden 268

Dennoch sieht Heyne in den Mysterien den ersten Schritt zu echter religiöser Verehrung, da Riten hier nicht als konkrete Opfer an vermeintlich konkret vorhandene

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266 267 268

Schauspiel gewesen, ohne dass darin „auf Moral und natürliche Religion Bezug habende Lehren vorgetragen worden“ (o V : Characteristick der Alten Mysterien für Gelehrte und Ungelehrte, Freymäurer und Fremde Frankfurt/Leipzig: 1787 S 378) wären Heyne bemängelt, dass die Mysterien hier „auf ein bloßes Schauspiel von Gauckelpossen“ ([Christian Gottlob Heyne]: 68 St In: GGA 1788 S 683) herabgesetzt werden, „weil es doch keine Christusreligion war“ (ebd S 686), und kritisiert, dass die „Begriffe der höhern Zeitalter […] nach christlicher Dogmatik geschätzt werden“ (ebd S 685) Diesen Standpunkt vertrat etwa Sergei Semjonowitsch Uwarow, korrespondierendes Mitglied der Societät der Wissenschaften zu Göttingen, in seinem Essai sur les Mystères d’Éleusis von 1812 Dieser glaubte, eine früheste in Indien stattgefundene Offenbarung des christlichen Gottes habe sich in einigen Bräuchen und religiösen Vorstellungen von Gott und dem Leben nach dem Tod erhalten und gelangte von dort nach Ägypten, Vorderasien und Griechenland, wo sie in die Eleusinischen Mysterien eingearbeitet und schließlich durch eine erneute Offenbarung obsolet wurde Im August 1812, gut einen Monat nach Heynes Tod, erschien dessen Rezension zu Uwarows Aufsatz Er schrieb hier, dass es „eine angenehme Vorstellung“ ([Heyne]: 137 St In: GGA 1812 S 1366) wäre, alle Religion auf einen Gott und dessen Offenbarungen zurückführen zu können, „unter allen den ungleichen Menschengeschlechtern doch noch Ein Band, noch Eine Spur des, sonst so ganz verloschenen, Ebenbildes Gottes durchschimmern zu sehen“ (ebd ) Könnte man dies nur beweisen, „so wäre ungemein viel gewonnen“ (ebd ), doch sei dies leider unmöglich [Christian Gottlob Heyne]: 136 St In: GGA 1782 S 1099 Heyne schreibt dies zu der anonym veröffentlichten Schrift Ueber die alten und neuen Mysterien von Johann August Starck [Heyne]: 136 St In: GGA 1782 S 1099 Ebd S 1100

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7 Heynes Mythentheorie

Gottheiten zu verstehen sind, sondern erstmals reflektierter Symbolismus zum Tragen kommt, wodurch die Riten der Mysterien eine primitive theologische Bedeutung erhalten hätten und erstmals mit einem religiösen Bewusstsein vollzogen worden seien In diesen ersten symbolischen Riten seien die Taten von Göttern nachgespielt worden; durch die so erzeugte Nähe zur Gottheit sollten die Handlungen jedoch nur wenigen Auserwählten vorbehalten bleiben: da, wo alles von symbolischer Sprache und Vorstellungsart ausgieng, wo alles Gottesdienstliche symbolisch war, und gewisse, oft physische, Sätze in dramatische Vorstellung verwandelt und endlich zu Götterthaten gemacht wurden z E die Zerstückelung des Bacchus, die Geburt der Venus, die Entmannung Saturns, […] war nichts natürlicher als daß auch Gebräuche entstanden, an denen erst nur wenige Antheil nahmen, bald andere gar davon abgehalten wurden 269

Auf Basis älterer, ursprünglich nicht symbolischer Riten wurden diese „Priestermythen“270 daher vollkommen „gedrehet und verdrehet“,271 sodass Heyne nur noch resigniert feststellen kann: Mythen dieser Classe zu erklären, fehlt uns gemeiniglich an allen dazu nöthigen Bedingungen, und man muß eigene Schwärmerey hinzu bringen, um in jene Schwärmerey einen passenden Sinn zu legen 272

Kann eine Deutung dieser Priestermythen also auch nur scheitern, ist die Beschäftigung mit den Mysterien für Heyne dennoch ertragreich, da sie einen wichtigen Schritt der Religionsgenese darstellen Er widmete sich ihnen daher in den beiden Abhandlungen Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae273 von 1786 und De sacerdotio Comanensi omninoque de religionum cis et trans Taurum consensione274 aus dem Jahr 1806 Ziel der früheren Abhandlung war es, „gewisse allgemeine Grundsätze über die Religion alter und neuerer wilder Völker“275 und damit die Prozesse allgemeiner Religionsgenese nachzuzeichnen Er unterscheidet hier zunächst zwei Arten von Religionen: Diese „gehen entweder von Gebräuchen, oder von Meinungen und Lehrsätzen aus“276 – es gebe also einerseits Religionen, die sich durch Riten auszeichnen, 269 270 271 272 273

Ebd S 1101 [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2014 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) Ebd S 2015 Ebd Heyne: Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae und die dazugehörige Rezension [Heyne]: 84 St In: GGA 1786 274 Vgl Heyne: De sacerdotio Comanensi und die dazugehörige Rezension [Heyne]: 55 St In: GGA 1806 275 [Heyne]: 84 St In: GGA 1786 S 834 (= Rez zu Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae) 276 Ebd Das Juden- und Christentum nimmt er als Offenbarungsreligion aus, da er diese nicht als Produkte von Prozessen versteht, vgl ebd

7.4 Mythus, ritus und religio

251

und andererseits welche, die eine Dogmatik und Theologie aufweisen Beide stünden jedoch nicht isoliert nebeneinander; vielmehr bilden sich letztere mit fortschreitender kultureller Entwicklung aus den älteren ausschließlich durch Riten geprägten Religionen, den Religionen der Kindheit des Menschengeschlechts, sowohl überhaupt, als der Völker, Geschlechter und Stämme, die noch dem Kinderverstande sich nähern, noch auf der ersten Stuffe der Cultur stehen 277

Die Mysterienkulte stellten dabei ein wichtiges Glied in der Religionsgenese dar, wobei die Verehrungsrituale der Mysterien als ein wichtiges Durchgangsstadium zwischen frühen Ritual- und späteren Schriftreligionen klassifiziert werden – man erkenne dies daran, dass „eine Menge wilder und barbarischer Völker noch keine andre Art Gottesdienst kennt“ 278 Charakteristisch für sie ist laut Heyne, dass „die Anbetung und Verehrung mit einem heiligen Wahnsinn“, einem Zustand, wenn man durch eine heftige Anstrengung und Ueberspannung seiner Geistesund Körperkraft ausser sich gesetzt ist; eine[r] erhöhte[n] Einbildungskraft bis zur Entzückung, Begeisterung und Schwärmerey279

– also Trance – verbunden ist Diese Riten gingen aus ursprünglich nicht religiös motivierten Festen „über frohe Vorfälle“280 hervor, bei denen Musik eine wesentliche Rolle spielte, da „die Aeusserung der Freude bey dem rohen und wilden Menschen keine andre, als Tanz und Gesang“281 sei Diese Musik sei „wild und rauh“282 und wie bei anderen Naturvölkern vor allem rhythmisch und nur wenig melodisch gewesen Bei den schnellen Rhythmen war dementsprechend „der Tanz heftig, und dabey mit Gesticulation und Contorsion, bis zur Wuth“ 283 Diese Feste und die darin involvierten Gegenstände der Bewunderung wurden nach und nach mit religiöser Bedeutung aufgeladen und sakralisiert, hervorgerufen etwa durch Verwunderung und Erstaunen über einen ungewöhnlichen Gegenstand, […] eine ausserordentliche Naturbegebenheit, […] die Täuschung eines Gaucklers, auch wohl mehr nicht als ein Gegenstand, ein Baum, ein Quell, ein Berg, ein Stein, um und bey welchem das Freudenfest gehalten ward,284

277 278 279 280 281 282 283 284

Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd

S S S S S

834 833 835 835 f 836

S 835

252

7 Heynes Mythentheorie

„und so“, schreibt Heyne, „entstand etwas, was religiöser Sinn heissen kann, Ehrerbietung für etwas Geheiligtes, in dunklem Bild und Vorstellung“ 285 Der ekstatische Tanz blieb jedoch fester Bestandteil der nun auch religiösen Feste, sodass sich Tanz und Gesang zu eigenen Riten formierten, zumal Tanz und Gesang das liebste Geschäft roher Menschen ausmacht, und weil Wilden und Barbaren es ein so behaglicher Zustand ist, des Bewußtseyns beraubt zu seyn 286

Grundsätzlich sei dabei eine größere Neigung zu Trancen und ekstatischen Tänzen zu beobachten, je geringer die jeweilige Gesellschaft kulturell entwickelt ist 287 Ausgehend von diesem Zustand verlief die Entwicklung im antiken Griechenland in zwei Richtungen Zum Teil „verminderte der Fortgang der Cultur in den Volksfesten die alte wilde religiöse Wuth“,288 sodass die Musik melodischer, ernster und feierlicher wurde und daraus ein gesetzter Chortanz und schließlich das antike Drama entstanden Doch blieb die Musik auch hier „bey allen gottesdienstlichen Anstalten ein Haupttheil des Ritus“ 289 In anderen Teilen Griechenlands, vor allem dort, wo Thraker und Phrygier siedelten, blieb „der heilige Tanz mit der alten wilden Wuth“290 erhalten, wurde zum Teil sogar „als das Wesentliche des Gottesdienstes“291 betrachtet und daher verstärkt und verbreitet Genau dadurch entstanden die antiken Mysterien, „worinn der heilige Wuthtanz den geheimen Ritus ausmachte“ 292 Als sich Griechenland schließlich kulturell weiter entwickelte, wurden die Mysterien zum Teil gesetzlich abgeschafft, zum Teil gingen sie auch von selbst wieder ein, weil sich hier nun erstmals Wissenschaft und Religion voneinander trennten und man daher begann, „über Religion und Gottesdienst nachzudenken und zu philosophiren“ 293 Die Griechen versuchten nun den Riten das Ungereimte abzustreifen […], indem sie ihnen einen geheimen Sinn beylegten, und selbst die Gegenstände derselben dem vernünftigen Begriff von Gottheit näher brachten 294

Die überlieferten Mythen, „worinn alles symbolisch und bildlich ausgedrückt war“,295 erfuhren im Rahmen dessen eine neue Ausdeutung Durch sie erklärte man die Ri-

285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295

Ebd Ebd S 836 Vgl ebd Ebd Ebd S 837 Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd S 839 Ebd

7.4 Mythus, ritus und religio

253

ten und legte ihnen Bedeutung bei Bei den Mysterien scheiterte dies jedoch Zwar versuchten einige wenige, „schöne philosophische Begriffe selbst in einen ungereimten mystischen Ritus“296 zu legen, doch waren die begeisterten Anhänger der Mysterien immun gegen solche vergleichsweise vernünftigen Erklärungsversuche, da durch Vernunft unerklärbarer Trance den Kern der Mysterien darstellt Die Entwicklung, die zu den Mysterien führte, ist für Heyne damit also eine Sackgasse, da diese keiner theologischen Umdeutung fähig sind, und damit charakteristisch für eine bestimmte vergleichsweise frühe Stufe der Religionsgenese Folglich konnte nur auf dem anderen Zweig der antiken griechischen Religion, auf dem frühe Philosophie bereits auf die Religion angewandt wurde, die „größte Veränderung und Revolution, die je unter dem Menschengeschlecht entstehen konnte“, „die gänzliche Umänderung der Religion vom Ritus, und damit zugleich von symbolischer Darstellung, zur Contemplation, Betrachtung, Nachdenken, Lehre“297 von statten gehen Zwar kannte die Antike keine „Religion, die von einem Lehrbegriff ausgehet“,298 also keine abstrakte Theologie, sondern nur Ritualreligionen, der Prozess jedoch, dass „Lehren […] nach und nach an den Ritus angereiht wurden“,299 setzte hier durch die beginnende „Aufklärung des Menschenverstandes“300 ein In der Societätsabhandlung De sacerdotio Comanensi setzte sich Heyne speziell mit den in Kappadokien verbreiteten Mysterien und der Verbreitung verschiedener Religionen in Vorderasien und Griechenland auseinander Wie bereits 1786 in der Abhandlung Religionum et sacrorum cum furore peractorum origines et caussae geht Heyne auch hier davon aus, dass die antike Religion „bloß in Gebräuchen und Ceremonien, bey denen der große Haufe nichts dachte, indem jene bloß durch sinnliche Handlungen ausgeübt wurden“,301 bestand – öffentliche stattliche Feyerlichkeiten, Opfer, Tänze, Gesänge, Opfermahlzeiten, einige Formeln von Anrufungen und Gebeten einbegriffen, machten den ganzen Cultus aus 302

In Comana seien nun diese Feste wie bei den anderen Mysterien in Orgien ausgeartet, bei denen sich einige Teilnehmer, die „Fanatiker“,303 durch „heftige convulsivische Tänze, Verdrehungen des Körpers und Selbstverwundungen“ in Trance, „in heilige Wuth zu setzen wußten“,304 wodurch, wie Heyne vermutet, eine unbekannte Natur-, Fruchtbarkeits- oder Liebesgöttin verehrt werden sollte, die der assyrisch-persischen 296 297 298 299 300 301 302 303 304

Ebd S 840 Ebd S 842 Ebd Ebd Ebd [Heyne]: 55 St In: GGA 1806 S 539 (= Rez zu De sacerdotio Comanensi) Ebd Ebd S 540 Ebd

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7 Heynes Mythentheorie

Mylitta, der syrisch-phönizischen Astarte oder der phrygischen Kybele entsprochen habe oder aus einer von ihnen entstanden sein könnte Kulte um solche Naturgöttinnen, die oft in Verbindung mit männlichen Sonnengöttern standen, hätten sich von Vorderasien aus nach Griechenland und Rom verbreitet Sie seien überall durch ähnliche Riten verehrt worden, die schließlich in die verschiedenen Mysterien mündeten Häufig spielten hier allgemein Fruchtbarkeit, aber auch die Jahreszeiten, der Himmel, die Sterne, Sonne und Mond eine wichtige Rolle; die Mysterien müssten daher in Gesellschaften entstanden sein, in denen Ackerbau eine große Bedeutung hatte 305 Diese Art religiöser Verehrung der Natur in Form einer mächtigen Natur- oder Fruchtbarkeitsgottheit stellt Heyne hier als einen von drei Hauptzweigen antiker Religionen dar Ein zweiter sei der in der Antike stark verbreitete Polydämonismus gewesen, der aus der Beobachtung verschiedenster günstiger, schädlicher oder erstaunlicher Naturphänomene resultierte und verschiedene gute und böse Dämonen und Naturgeister hervorbrachte, die durch Rituale, meist unter Einbeziehung von Idolen, beeinflusst werden sollten In einem solchen „Fetissorum cultus“,306 einem Fetischen-Dienst […], der […] sich […] aus dem einzelnen Haus-Götzendienst zu einer weit umgreifenden Völkerreligion ausbildete, indem die von rohen Stammvätern zum Cultus angenommenen sinnlichen leblosen Gegenstände zu einer väterlichen Religion […], zur Stamms-, Volks-, Landesreligion erhoben wurden, die man bey fortschreitender Cultur durch Phantasie, Raisonnement und bildende Kunst verfeinerte, schmückte und veredelte, aber doch nie bis zum Jehova erhob, der Himmel und Erde gemacht hat,307

habe die ursprüngliche Religion der Pelasger bestanden Aus den verschiedenen Naturgeistern und Schutzgöttern entwickelte sich nach und nach die stark polytheistische griechisch-römische Religion mit ihrer Vielzahl an unterschiedlichen Göttern und Halbgöttern mit diversen Eigenschaften und Aufgabenbereichen 308 Der dritte Hauptzweig ist schließlich „die Verehrung der großen Weltkörper, welche sich nach und nach zum symbolischen Ausdruck für ein höheres Wesen durch Licht und Feuer bildete“,309 also Sonnen- und Sternkulte, die etwa in Ägypten verbreitet waren und sich aus der Erkenntnis ergaben, dass die Jahreszeiten und Ernteerträge mit der Konstellation von Himmelskörpern korrelieren Voraussetzung für die Herausbildung solcher Religionen sei ein besonders mildes Klima und ein gewisser Fortschritt in Wissenschaft und Philosophie, da die Verehrung von Himmelskörpern ein bestimmtes astronomisches Grundverständnis verlange 310 Alle drei Formen religiöser Verehrung

305 306 307 308 309 310

Vgl Heyne: De sacerdotio Comanensi S 141 Ebd S 143 [Heyne]: 55 St In: GGA 1806 S 539 (= Rez zu De sacerdotio Comanensi) S 547 Vgl Heyne: De sacerdotio Comanensi S 143 f [Heyne]: 55 St In: GGA 1806 S 539 (= Rez zu De sacerdotio Comanensi) S 547 Heyne: De sacerdotio Comanensi S 144 f

7 5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen

255

fanden nach und nach Eingang in die antike griechische Religion, sodass diese nun als ein Gemisch verschiedener religiöser Verehrungsprinzipien betrachtet werden muss, in dem sich deutliche Spuren fremder Religionen aus Persien, Babylonien, Arabien, Thrakien, Phrygien und Ägypten finden ließen Ähnlich wie Literatur und Kunst formierte sich bei Heyne also auch die Religion der Griechen langsam und auf verschlungenen Wegen Die frühesten Vorstellungen von den Göttern waren sehr unklar und unpräzise Zunächst hatte jede Familie und jeder Stamm nur einige wenige Schutzgottheiten Diese wiesen noch keine spezifischen Eigenschaften oder Attribute und auch keine Namen auf 311 Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Gottheiten hinzu; Attribute und Eigenschaften wurden immer klarer umrissen; es wurden genealogische Beziehungen unter ihnen konstruiert, bis die griechische Mythologie durch Homer und Hesiod schließlich schriftlich fixiert und in dieser Form bis heute überliefert wurde 7.5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen Heyne stellt in seinen Abhandlungen fest, dass die antiken Mythen nicht in ihrer ursprünglichen Form überliefert sind, sondern nur in stark veränderter Gestalt in den antiken Quellen ihre Spuren hinterlassen haben Daher seien lediglich anhand dieser Texte Rückschlüsse auf die älteren zugrundeliegenden Mythen möglich Diese müssten nur freigelegt und gedeutet werden; erst dann könne man die antiken historischen Ereignisse und philosophisch-religiösen Vorstellungen, die zu den Mythen geführt haben, daraus ableiten 312 Aber wie kann eine Rückführung und Interpretation, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, aussehen? Für die Beschäftigung mit Mythen erteilt Heyne in seinen Abhandlungen immer wieder Ratschläge, Hinweise und Regeln 313 Hinweise, die speziell auf dichterische My311

312 313

Vgl [Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 778 (= Rez zu De Theogonia ab Hesiodo condita): „Jedes Haus, jede Familie, hatte […] ihre Gottheit […] Anfangs brauchte es also keinen Namen, jedes Haus kannte die seinige “ Ähnlich äußerte sich Heyne bereits zwei Jahre zuvor in der Abhandlung De origine et caussis fabularum Homericarum: „Noch hatten diese Gottheiten keine eigne Namen indem niemand daran dachte, und überhaupt ohne angestellte Vergleichung mehrerer Gottheiten gegeneinander, oder ohne entstandene Streitigkeiten benachbarter Oerter oder ähnliche Umstände, keine Veranlassung zu Unterscheidung durch besondere Namen statt fand“ (Christian Gottlob Heyne: Ueber den Ursprung und die Veranlassung der Homerischen Fabeln In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1/32 (1779) S 11 (= dt Übersetzung von De origine et caussis fabularum Homericarum) Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 144 So weist er beispielsweise in der Abhandlung De opinionibus per mythos traditis darauf hin, dass Mythen in erster Linie durch antike Texte überliefert sind und die antike Sprache deswegen genau untersucht werden müsse Dazu seien Wortbedeutungen exakt zu entschlüsseln und Etymologien heranzuziehen oder abzuleiten Daher sei die Rekonstruktion eines Mythos in erster Linie ein philologisches Problem und eine genaue Kenntnis der alten Sprache dafür unerlässlich, vgl ebd

256

7 Heynes Mythentheorie

then zugeschnitten sind, gibt er in der Abhandlung De mythorum poeticorum natura, origine et caussis 314 Historische Mythen behandelt er eingehend in dem Text De fide historica aetatis mythicae 315 In seiner Schrift Sermonis mythici seu symbolici interpretatio erläutert er schließlich besonders detailliert und ausführlich, was bei der Rekonstruktion und Interpretation antiker Mythen im Allgemeinen beachtet werden muss Er for-

314

315

So beruft sich Heyne bei seinen Mythendeutungen auch selbst häufig auf Etymologie, vgl z B Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 42, Anm p) Heyne mutmaßt hier, dass die Namen der Göttinnen Thetis und Hera vom Griechischen τίθεσθαι beziehungsweise ἀήρ abgeleitet seien Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 152 f Bei Mythen des genus poeticum müsse besonders auf den Vergleich mit anderen Texten geachtet werden Es reiche hier nicht, nur einen einzigen Text zur Rekonstruktion eines Mythos heranzuziehen; vielmehr müssten alle antiken Texte dahingehend untersucht werden, ob irgendwo eine andere, möglichst alte Version des zu untersuchenden Stoffes auftaucht Wenn die älteste Fassung bestimmt ist, müsse entschieden werden, welche Teile der Erzählung zum ursprünglichen Mythos gehören und was später hinzugedichtet oder verändert wurde Wenn spätere Erweiterungen getilgt wurden, entstehe so ein Archetyp der Erzählung, der Mythos Nun könne weiter untersucht werden, ob es sich um einen philosophischen, historischen oder schon von Anfang an um einen frei erfundenen dichterischen Mythos handelt und welchen Zweck dieser erfüllen sollte Dann solle der Mythos gänzlich von der dichterischen Sprache befreit werden, sodass eine Art Rohbau oder mythisches Gerüst freigelegt wird Der Mythos werde sich nun so darstellen, wie es für die Antike erwartbar ist, nämlich kunstlos und schlicht Auf der Basis dieses mythischen corpus könnten nun sehr leicht die Gedanken und Gefühle der antiken Menschen abgeleitet werden, weil diese in sehr einfachen symbolischen Zusammenhängen dachten So könne aus der antiken griechischen Mythologie beispielsweise abgeleitet werden, dass die Griechen der Luft den ersten Rang unter den Elementen und nicht etwa dem Wasser einräumten, weil Zeus, der Wettergott, über alle anderen Götter herrscht und nicht etwa der Wasser- oder Sonnengott Vgl Heyne: De fide historica aetatis mythicae S 110, 117 f Bei historischen Mythen müsse zuerst nach den Autoren gefragt werden, die den Mythos zuerst schriftlich fixierten, wobei es wichtig sei, nicht bei den Schriftstellern aufzuhören, die allgemein für die Verfasser der Texte gehalten werden Sind die ältesten ermittelbaren Autoren ausfindig gemacht, stellt sich die Frage, ob diese ihre inhaltliche Textgrundlage aus einer fama, einer vielfach veränderten Volkserzählung, oder einer Dichtung entnahmen, ob sie sich also auf Volksüberlieferung oder einen anderen Autor stützten, und, wenn es sich um mündliche Geschichtsüberlieferung handelt, wie alt diese ist Bei diesen mythisch überlieferten historischen Ereignissen müsse man jedoch sehr vorsichtig und differenziert vorgehen, da sich unter ihnen Berichte verschiedenster Ereignisse verbergen Wichtig sei jedoch zu erkennen, dass diesen Dingen nicht generell ihre historische Glaubwürdigkeit abgesprochen werden kann, denn der Wahrheitsgehalt eines Mythos müsse nach seiner Beschaffenheit bestimmt werden und nicht nach den geschilderten Ereignissen, die freilich unrealistisch sind Man müsse daher sein Augenmerk auf die Art und Weise, wie Geschichte tradiert wurde, richten Wurde sie nur mündlich überliefert, müsse man sich bewusst sein, dass fast gar nichts außer die wesentlichen Hauptpunkte der Begebenheiten erhalten geblieben sein können und einiges hinzugefügt wurde, das die Erzählungen unglaubwürdig und unrealistisch macht Diese Übertreibungen und erfundenen Zusätze müssten nun aus den Erzählungen entfernt werden; der Rest sei nun als der wahre historische Kern zu betrachten Basieren die überlieferten Texte auf Dichtungen, müssten alle Erweiterungen und Ausschmückungen, die die Autoren vornahmen, ausgesondert werden, sodass die zugrundeliegenden Ereignisse und Fakten freiliegen So leitet Heyne aus antiken mythischen Erzählungen historische Fakten ab, wie etwa dass es einst irgendeinen Theseus, Herakles oder Perseus gab

7 5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen

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muliert hier vierzehn Schritte und Regeln, die dabei eingehalten werden müssen und nun im Folgenden erläutert werden sollen Die erste Regel Heynes bezieht sich auf einen vorsichtigen Umgang mit der Sprache, in der die mythischen Erzählungen des Altertums verfasst sind Man müsse vor allem verstehen, dass alles, was auf mythische Weise dargestellt wurde, auf keinen Fall aus einer gegenwärtigen, modernen Perspektive bewertet werden darf Vielmehr müsse der Text in seiner ursprünglichen Form vorgenommen und daraus ersehen werden, was sich aus den antiken Worten über die Wahrnehmungen und Absichten der Verfasser und den damaligen Sprachgebrauch erschließen lässt, da man ansonsten die Intentionen des Schreibers nicht erfassen kann Weiterhin müsse erkannt werden, dass die mythische Sprache nicht durch logische Verknüpfungen und eine nachvollziehbare Systematik gekennzeichnet ist, sondern auf zufälligen, unabsichtlichen und daher unreflektierten Vergleichen und Analogiebildungen basiert, sodass selbst das antike Publikum Schwierigkeiten hatte, den Sinn der Äußerungen zu begreifen, und der sermo mythicus sich deshalb zu einer Art religiösen Geheimsprache entwickelt habe Es sei aufgrund der kaum vorstellbaren Distanz, die sich zwischen den Mythos und den Wissenschaftler schiebt, gar nicht möglich, den intendierten Sinn der Mythen genau zu extrahieren; das meiste könne nur sehr allgemein erfasst und grob klassifiziert werden 316 Heynes zweite Regel mahnt zu einem vorsichtigen Umgang mit dem vermeintlichen Alter der überlieferten Texte Es sei wichtig, sich bewusst zu werden, dass die überlieferten antiken Texte nicht in der Form vorliegen, wie sie von ihren Verfassern oder deren Zeitgenossen hinterlassen wurden, sondern viel später von anderen Autoren, abgewandelt nach deren Vorstellungen, überliefert sind Man müsse daher nach einem älteren Zustand der Erzählungen suchen, indem man unterscheidet, ob die Erzählungen aus einer früheren oder späteren Zeit stammen, ob eine einfache und rohe oder eine ausgeschmückte und kunstvolle Vorstellung vorliegt, ob der Mythos von fremder Herkunft ist, was seine ursprüngliche Form ist und was später hinzuerfunden oder umgestaltet wurde Ferner müsse die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des Textverfassers und seiner Vorlagen überprüft werden Schließlich müsse man entscheiden, ob es sich um einen Mythos des genus historicum oder des genus philosophicum handelt 317 Bei der Unterscheidung zwischen einheimischen und importierten Mythen dürfe man sich jedoch nicht auf äußerliche Übereinstimmungen verlassen, da sich einige Mythen 316

317

Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 300 Einen ähnlichen Hinweis gibt er bereits neun Jahre zuvor in der Rezension zur Societätsabhandlung De fide historica aetatis mythicae, die sich vornehmlich auf Mythen des genus historicum konzentriert Er schreibt hier: „Die Fabel, der Mythus, muß so verstanden werden, wie ihn der erste, der ihn vortrug, nach dem Geiste seines Zeitalters, und der Natur seiner Sprache, verstehen konnte, und mußte; also keine Spitzfindigkeit, keine tiefe Weisheit; auch keine kritische noch zusammenhängende pragmatische Geschichte, sondern bloß summarische Erzählung einzelner Begebenheiten, ausgedrückt durch die bildliche Sprache, deren er sich aus Noth bediente“ ([Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 471) Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 301

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aufgrund der ähnlichen Lebensumstände ihrer Schöpfer zwangsläufig überall gleichen müssen, sondern man müsse nach „historica monumenta“,318 also etwa Sakralbauten, suchen, durch deren Übereinstimmung eine tatsächliche gemeinsame Herkunft zweier Mythen bewiesen werden kann und nicht nur Vermutung bleiben muss 319 Heynes dritte Regel besagt, dass eine Deutung der antiken Mythen nur erfolgen könne, wenn diese von den Sinneswahrnehmungen und dem Charakter der antiken Menschen hergeleitet wird Heyne gibt zu, dass die Einhaltung dieser Regel, gerade in Bezug auf die religiösen Mythen, besonders schwierig ist, da die Wahrnehmungen und Vorfälle, die den Anlass dieser Mythen darstellten, im Dunkeln liegen 320 So sei zwar bekannt, dass die Pelasger Felsen und Baumstämme verehrt und als heilig erachtet hatten, man solle sich aber davor hüten, leichtfertig über die Gedanken und Gefühle, mit denen sie dies taten, zu entscheiden Es genüge vielmehr zu verstehen, dass anfangs die einzelnen Familien ihre eigenen Götter anbeteten, dass sich die Verehrung einiger Gottheiten durchsetzte und dass später die Griechen die Erzählungen über diese Götter verfeinerten und zu einer gefälligeren Form brachten Nach und nach verschwanden somit Elemente der alten Mythen, während anderes hinzugefügt, umgestaltet, verbessert oder verdorben wurde,321 und gerade durch diese vielen kaum mehr nachvollziehbaren Modifikationen, denen die Mythen unterlagen, sei deren ursprünglicher Sinn nur schwer und selten klar zu bestimmen Laut der vierten Regel Heynes sei es wichtig, dass man die Elemente der jüngeren poetischen Sprache, die sich aus der alten mythischen entwickelt hatte, aus den mythischen Texten aussondert, um die ältere Gestalt der Mythen freilegen zu können 322 Doch auch die poetische Sprache solle zu einer umfassenden Betrachtung der antiken Mythologie beitragen, da es wahrscheinlich sei, dass die Inhalte alter Mythen und zum Teil wenigstens auch deren Sprache in jüngeren Texten erhalten blieben Der poetische „Ausdruck“ dieser Texte, „der ins Uebertriebene fällt und in das Wunderbare übergeht“ müsse daher „für unsere Denk- und Sprechart auf das Gemäßigte und Einfache herabgestimmt werden“ 323 Mit seiner fünften Regel fordert Heyne daher, den sermo poeticus in seinen spezifischen Formen, nämlich der epischen, lyrischen und dramatischen, und deren jeweiligen Funktionen genau zu unterscheiden und zu verstehen, da man anhand dessen die unterschiedlichen Verwendungsweisen und Entwicklungsstufen eines mythischen Stoffes nachvollziehen und für dessen Interpretation nutzbar machen könne 324 Nachdem ein differenzierter Umgang mit dem sermo poeticus durch die fünfte Regel sichergestellt wurde, bezieht sich die folgende Regel auf die inhaltliche Behandlung 318 319 320 321 322 323 324

Ebd S 302 Vgl ebd S 301 f Vgl ebd S 306 Vgl ebd S 307 f Vgl ebd S 308 [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2012 f (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 309

7 5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen

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der Mythen des genus poeticum Da die ursprünglichen historischen und philosophischen Mythen zum Teil so stark verändert wurden, dass man ihre Spuren kaum noch identifizieren und die ursprünglichen historischen und philosophischen Elemente meist nicht von den jüngeren hinzugedichteten Teilen unterscheiden kann, und zum Teil auch die Mythen des genus poeticum immer wieder abgewandelt wurden, genüge es bei der Beschäftigung mit ihnen, zu verstehen, dass diese Mythen die intendierten Produkte von Schriftstellern sind und dass man bei ihnen nicht nach irgendeinem tiefgründigen Sinn zu suchen braucht, es sei denn, dieser zeige sich deutlich 325 Außerdem müssten von diesen antiken dichterischen Mythen spätere Dichtungen unterschieden werden, die die antiken Mythen imitieren, wie zum Beispiel die Suasorien der Rhetoriker oder astrologische und philosophische Texte 326 Mit seiner siebten Regel postuliert Heyne einen vorsichtigen Umgang mit philosophischen Mythen, denn hier gelte es zu beachten, dass sich die antiken Menschen in ihrem Denken weiterentwickelten und präzisere philosophische Vorstellungen ausbildeten Da jedoch auch später die alte mythische Sprache und die überlieferten mythischen Stoffe für die Darstellung von Gedanken verwendet wurden, entstand ein neuer Mythentyp, bei dem schon recht elaborierte Vorstellungen enthalten sein konnten, die jedoch noch immer in primitiver Form ausgedrückt wurden, so zum Beispiel philosophische Dichtungen, die sich mit dem Wesen der Welt und der Götter auseinandersetzen 327 Mit der achten seiner Regeln weist Heyne auf die notwendige Beachtung der unterschiedlichen Arten religiöser Mythen hin Er merkt an, dass die antiken religiösen Zeremonien einem starken Wandel unterworfen waren Von Anfang an hatten die Riten eine symbolische Bedeutung, das heißt, die frühen Völker deuteten ihre religiösen Ansichten durch rituelle Handlungen an Später habe man jedoch die Bedeutungen der Riten vergessen, die Riten an sich seien aber erhalten geblieben, sodass sich die Menschen nach den Ursachen für so beeindruckende Erlebnisse, wie Zeremonien es für sie waren, fragten Als Erklärung habe man die überlieferten Mythen herangezogen und den alten Riten Sinn gegeben, indem man sie mit den Mythen in Verbindung brachte und teils auch neue Erklärungen in Mythenform erfand Für den Mythendeuter sei es nun von Belang, dass er die religiösen Mythen nach ihren jeweiligen Arten unterscheiden und ihre Ursachen erkennen könne Dabei reiche es aber, nach dem Wahrscheinlichen zu suchen 328 Heynes neunte Regel handelt von den Wechselwirkungen zwischen religiösen und dichterischen Mythen Es müsse beachtet werden, heißt es hier, dass sich die antiken Hymnen zum größten Teil nur aus den Anrufungen und Beinamen der Götter zusammensetzten, weil die Äußerungen der antiken Menschen, wenn sie ihre Wahrnehmungen zum Ausdruck bringen wollten, anfangs nur aus wirren Worten und 325 326 327 328

Vgl Vgl Vgl Vgl

ebd ebd S 309 f ebd S 310 ebd S 311

260

7 Heynes Mythentheorie

unartikulierten Lauten bestanden, aus denen sich die Namen der Götter und später die Gebete entwickelten Die frühen Gebete waren daher nichts weiter als Ausrufungen, Töne, sinnlose, oft von Barbaren entlehnte, Worte, welche sich weiter hin auch unter den gebildeten Völkern […] mit andern rohen Gebräuchen und Ceremonien erhielten, deren Sinn niemand errathen konnte, ihnen aber doch eine Heiligkeit beylegte 329

Schließlich wurden den Gottheiten Namen beigelegt und diese fanden gemeinsam mit den unartikulierten Rufen und bedeutungslosen Silben Eingang in die Hymnen Die religiösen Hymnen flossen dann in die Mythen, die sich um die Riten rankten, die „Priestermythen“,330 und in die epischen Dichtungen ein Aus den rituellen Tänzen und Gesängen schöpften spätere Dichter neues Material, und auch die Entwicklung der Tragödie habe aus den sakralen Chorgesängen wesentliche Impulse erhalten Es sei daher offensichtlich, dass Mythen, die sich auf so unterschiedliche Art und Weise entwickelten, auch nach jeweils unterschiedlichen Interpretationen verlangen Die dichterischen Mythen, die sich aus religiösen entwickelten, beeinflussten hingegen ihrerseits auch die Entwicklung neuer religiöser Zeremonien, sodass durch die Verknüpfungen zwischen Mythen verschiedener Herkunft die antike Mythologie vollkommen umgestaltet wurde Auf diese Wechselwirkungen habe man bei der Deutung von Mythen zu achten 331 Auch in der zehnten Regel formuliert Heyne, dass man mit den antiken Religionen bei der Deutung der Mythen vorsichtig umgehen müsse Er schreibt, dass die antiken Religionen, allen voran die Mysterien- und Geheimkulte, sehr instabil waren Sie wurden ständig verändert, indem zum Beispiel religiöse Kulte aus Ägypten und dem Orient nach Griechenland gelangten und durch diese Austauschprozesse stark abgewandelt wurden In Griechenland angekommen, versuchte man „das bereits Uebliche mit neuen Vorstellungsarten zu verbinden und umzuändern“,332 weshalb man alten Mythen einen neuen Sinn gab, theils ganz neue Mythen, eigentlich Fabeln, erfand, zu verschiedenen Absichten und aus verschiedenen Veranlassungen, nach den verschiedenen Zeitaltern, und auf die verschiedenste Weise 333

Einzelne religiöse Richtungen verbreiteten sich durch solche kulturellen Transferprozesse und genau dies habe spätere Gelehrte zu dem Irrtum verleitet, in den Religionen die Spuren fremder Glaubensrichtungen finden und gegenseitige Abhängigkeiten zeigen zu wollen 334 Es sei aber zu beachten, dass sich manchmal der Glaube

329 330 331 332 333 334

[Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2014 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) Ebd Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 312 [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2014 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio) Ebd Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 314

7 5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen

261

einiger kleiner religiöser Splittergruppen plötzlich auf das ganze Volk, zum Teil auch auf mehrere Völker ausdehnte, ohne dass ein erkennbarer Anlass vorhanden wäre, so wie sich beispielsweise Geheimkulte aus Thrakien und Phrygien sowie andere religiöse Vorstellungen aus Samothrakien, Phönizien und Ägypten zu den Pelasgern und schließlich zu den Griechen ausgebreitet hätten Da sich jedoch schon kaum etwas Sicheres über diese fremden Kulte ausmachen ließe, sei es noch viel weniger seriös, über die nach Griechenland übertragenen Teile dieser Religionen zu urteilen, zumal diese von den Reisenden, die sie dorthin brachten, erweitert und von den Priestern unzuverlässig weitergegeben worden sein können Vor allem die Sprachbarriere und die in Griechenland bereits vorhandenen Bräuche und Riten müssten bedacht werden, mit denen sie sich ja vermischten Es sei daher ausreichend, zu verstehen, dass Geheimkulte in verschiedenen Gebieten einen gemeinsamen Ursprung haben können 335 Falsch wäre es dementsprechend, alle Religionen auf eine Grundlage zurückzuführen, nach einer universellen Regel auslegen zu wollen, die antike Mythologie undifferenziert zu betrachten und pauschal irgendeinem mythischen Zeitalter zuzuschreiben, da eine Unzahl an späteren Fabeln aus den Riten, Hymnen, Dichtungen, Zeremonien und Geheimkulten hervorgegangen sei 336 Mit seiner elften Regel mahnt Heyne nochmals, eine streng historistische Perspektive einzunehmen Auch wenn vom sermo mythicus Fragmente wie die Tropen, Metaphern, Figuren und Epitheta in der späteren Sprache erhalten blieben, solle man sich bewusst sein, dass eine Interpretation antiker Stoffe nicht unter Hinzunahme des modernen Wahrnehmens, Denkens und Sprechens, moderner theologischer und philosophischer Lehrsätze sowie moderner Moralvorstellungen gelingen kann Man müsse sich von solchen Dingen befreien und sich an die Wahrnehmungen und Vorstellungen gewöhnen, mit denen die Verfasser der Mythen aufwuchsen und vertraut waren 337 Da Mythen in der Regel nicht in der ursprünglichen und ersten Variante der eigentlichen Verfasser auf uns gekommen sind, ist, so Heyne, [a]lle unsere Kenntniß von den alten Mythen […] bloß fragmentarisch; sie sind zerstreut und verwickelt mit fremdem Stoff von Meinung und Deutung verschiedener Zeitalter, von verschiedenartigem Gebrauch der Dichter, weiterhin auch der Künstler, verändert und umgestaltet, der endlich zu bloßen lusibus ingenii herabgestimmt ward, so daß Mythen nichts, als bloße Fabeln und witzige Dichtung wurden 338

Daher müsse man laut Regel zwölf im Zuge einer klugen und nüchternen Mytheninterpretation bei undeutlichen und unklaren Stellen zumindest nach Ähnlichkeiten mit anderen mythischen Erzählungen suchen, um aus den Überlieferungen verschie335 336 337 338

Vgl ebd S 315 f Vgl ebd S 319 Vgl ebd S 320 [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2015 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio)

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7 Heynes Mythentheorie

dener Völker, aus deren Vergleich, den unterschiedlichen Verwendungsweisen der mythischen Stoffe, allgemeinmenschlichen Verhaltens- und Denkweisen sowie aus den Besonderheiten der Völker, ihrer Umgebung und kulturellen Entwicklungsstufe übereinstimmende Muster und denkbare Hypothesen ableiten Dabei dürfe allerdings nicht vergessen werden, dass die Menschen zu vielen ihrer Vermutungen zufällig, durch irgendein Vorbild, einen Aberglauben oder eine religiöse Begeisterung gelangt sind, deren Ursachen nicht ergründet werden könnten, weshalb Aussagen über Mythen stets Vermutungen bleiben müssten 339 Dieser intensive Mythenvergleich könne aber erst der zweite Schritt nach einer isolierten Betrachtung der Mythen sein Vor dem Vergleich von Mythen verschiedener Völker, Epochen und genera mythorum müsse man zunächst die historischen Hintergründe genau abwägen und sich zuerst nur auf die Mythen eines Volkes konzentrieren, ansonsten könne man durch die zahlreichen Ähnlichkeiten und Parallelen leicht auf übereilte Vorurteile verfallen 340 Mit vorschnellen und übereifrigen Behauptungen, vor denen Heyne bereits in Regel zwölf warnt, befasst er sich in seiner dreizehnten Regel noch intensiver Er weist hier darauf hin, dass Mythen nie ganzheitlich, sondern nur als Fragmente und Spuren in anderen Texten überliefert worden seien, weshalb Vollständigkeit und Richtigkeit nie erreicht werden könnten Da es weiterhin unter so vielen Vorstellungen keine Übereinstimmung, keine gegenseitigen Abhängigkeiten und kein allgemeingültiges Prinzip geben könne und die mythischen Stoffe von den antiken Dichtern und Mythenkompilatoren mit sehr unterschiedlichen Absichten zusammengestellt worden seien, sei es gefährlich, daraus irgendein System einer mythischen Philosophie, Geschichte oder Geographie erarbeiten zu wollen, da man auf diese Weise suggeriere, dass in Bezug auf die antike Mythologie sichere, belastbare oder allgemeingültige Aussagen getroffen werden könnten Man solle sich also lieber auf die Betrachtung und den Vergleich von Einzelheiten konzentrieren, statt nach einem universellen mythologischen System zu suchen, denn bei der Suche nach Differenzen und Äquivalenzen zwischen einzelnen Erzählungen und Autoren könne man sich zumindest dem Wahrscheinlichen annähern, wobei auch bedacht werden müsse, dass in solche Untersuchungen zwangsläufig die Bewertungen des Deuters einfließen und Mytheninterpretation dementsprechend immer subjektiv bleiben muss 341 Folglich ist für Heyne in keiner Gattung von gelehrten Discussionen […] dreistes Absprechen und Entscheiden weniger an der Stelle, als in der Interpretation mythischer Gegenstände 342

Mit seiner vierzehnten und letzten Regel fasst Heyne die wichtigsten Schritte zur Deutung eines antiken Mythos zusammen: Zu beachten sei dabei an erster Stelle, 339 340 341 342

Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 320 f Vgl ebd S 287 Vgl ebd S 321 f [Heyne]: 202 St In: GGA 1807 S 2016 (= Rez zu Sermonis mythici seu symbolici interpretatio)

7 5 Heynes Regeln zur Rekonstruktion und Interpretation von Mythen

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ob irgendetwas über den Verfasser des Textes bekannt ist, dann, wenn dieser nicht identifizierbar ist, ob etwas über das erste Auftreten des Mythos, über die Zeit, zu der er entstanden ist, oder über die Menschen und Umstände, zu denen die Äußerungen passen könnten, zu ermitteln ist oder ob es Texte gibt, in denen Ähnliches formuliert wird Weiterhin müsse man erarbeiten, auf welche Art und Weise und mit welchen Worten die Inhalte in älteren Texten ausgedrückt werden, um zu erkennen, unter welchen Aspekten aus dem Älteren ausgewählt wurde und wie der frühere Inhalt durch Weitergabe und Übertragung verändert wurde 343 Mit den umfangreichen Regeln, die Heyne am Ende seines Lebens in seiner letzten mythentheoretischen Schrift stolz präsentierte, konnte er dennoch einige ernsthafte Probleme bei der Rekonstruktion und Interpretation antiker Mythen nicht beheben So müssen laut seiner eigenen Kritik bei allem Pochen auf Wissenschaftlichkeit, Objektivität und Vorsicht auch mit Heynes Regelwerk sämtliche Aussagen über die antike Mythologie unbeweisbar bleiben Jeder Rückschluss auf das Denken und die Sprache der antiken Menschen beruht damit auf Annahmen und Wahrscheinlichkeit Heyne ist durchaus bewusst, dass seine Vorgehensweise bei der Mythenauslegung nicht auf greifbaren Fakten und unantastbaren Beweisen, sondern auf Spekulation beruht Im Wissen um dieses Problem konstatiert er in der Vorrede zum zweiten Band des Handbuchs der Mythologie: „Über das Wahrscheinliche hinaus läßt sich hier nicht gehen“,344 und auch, was seine eigenen Interpretationen betrifft, bekennt er, dass er seine Thesen nicht belasten würde 345 Fest steht nur, dass sich die antiken Mythen über Jahrhunderte hinweg unter dem Einfluss verschiedenster Menschen entwickelt haben, bis sie ihre heutige Gestalt annahmen Ihre ursprüngliche und erste Form ist heute nicht mehr rekonstruierbar – und das wusste auch Heyne 346 Ein weiteres ernsthaftes Problem beim Rekonstruieren und Deuten von Mythen liegt von Anfang an in der Sache selbst: Da außer den schriftlich überlieferten Spuren der Mythen nichts über die antike Sprache und das antike Weltbild erhalten ist und damit keine Vergleichspunkte außerhalb des mythologischen Systems gegeben sind, könne man nur auf systemimmanente Vergleichskategorien zurückgreifen und systemintern argumentieren; doch schon allein durch die Auswahl der Kategorien, nach denen Mythen untersucht werden, werde das, was die antiken Menschen äußerten, nach modernen Gesichtspunkten beurteilt, obwohl antikes Denken modernen Denkweisen vollkommen fremd sei 347 Damit im Zusammenhang steht auch die Problematik, dass Heynes Rekonstruktionsweise sehr von persönlicher Intuition bestimmt und somit schon von Anfang an einer individuellen Interpretation unterwor-

343 344 345 346 347

Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 322 Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 2 S VI Vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 42, Anm p) Vgl Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 303 Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 5

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7 Heynes Mythentheorie

fen ist – eine Schwierigkeit, die auch Heyne selbst bemerkt So gebe es, schreibt er, so viele Möglichkeiten der Mythenauslegung, wie es Menschen gibt, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen 348 Neben aller Objektivität, was seine Theorien über die Entstehung, Überlieferung und Systematik der Mythen betrifft, ist also gerade einer der elementaren Punkte seiner Mythentheorie, nämlich die Rekonstruktion der Mythen, zwangsläufig – wie jeder Interpretationsprozess – von Subjektivität geprägt Doch Heyne ist sich dessen bewusst und rät daher lieber allgemeine und elementare Aussagen zu treffen als sich in Details zu verlieren, die immer spekulativ und unsicher sein müssen Letztlich bleiben Heynes Handlungsanweisungen konsequenterweise sehr allgemein Wie genau Mythen konkret und sicher freizulegen und zu interpretieren sind, lässt sich auch nicht aus seiner regelwerkartigen Schrift Sermonis mythici seu symbolici interpretatio ableiten, eine sichere Methodik bleibt er also hier schuldig, weil es eine solche nicht geben kann Er verweist den Mythenforscher letztlich auf sein persönliches Gefühl, auf Intention und gesunden Menschenverstand, wenn er schreibt: Ist man auf die Quellen der Mythen zurückgegangen, hat man dasjenige abgestreift, was ihnen die alte, rohe Sprache lieh: so wird man freylich nicht alles aufs Reine und Zuverlässige bringen; aber es zeigt sich eine gewisse Analogie, ein gewisser Charakter verschiedener Classen und Arten; es erwächset ein Tact, ein Gefühl, endlich ein Sinn und eine Fertigkeit, wahrzunehmen, zu vergleichen und zu urtheilen 349

Das Manko der Subjektivität, „wenn Jeder von dem Seinigen etwas beymischt, nachdem sein Blick verschiedentlich fällt oder gerichtet ist“,350 findet Heyne jedoch „verzeihlich“ 351 Letztlich könne man auch durch sehr vorsichtiges und eher subjektives Vorgehen nur zu unsicheren Ergebnissen, mehr oder weniger wahrscheinlichen Deutungen oder sehr groben Tendenzen gelangen – mehr sei hier nicht zu erwarten 352

348 349 350 351 352

Vgl Heyne: De mythorum poeticorum natura, origine et caussis S 151 [Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 475 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae) Ebd S 476 Ebd Scheer sieht in diesem Punkt ein erhebliches Defizit in Heynes Regeln zur Mythenauslegung Sie schreibt, seine „vierzehn Statements“ gingen „von unbeweisbaren Vorannahmen aus“, seien „von Zirkelschlüssen geprägt“ und könnten „sich letztlich nur auf das ‚Gefühl‘ des Gelehrten als Methode berufen“ (Scheer: Heyne und der griechische Mythos S 27), weshalb man sie „keinem Studierenden der Altertumswissenschaften […] als Anleitung zur Interpretation von Mythen an die Hand geben“ (ebd ) könne Darauf erhob Heyne jedoch, soweit ich erkennen kann, nie Anspruch – im Gegenteil: systematische Methoden bei der Mythenauslegung sah er sogar sehr kritisch, vgl Kap 4 S 83–110 Seine Regeln sollten wohl eher als Impulse dienen, die als solche auch durchaus von Scheer gewürdigt werden, vgl Scheer: Heyne und der griechische Mythos S 27 f

7 6 Homer, die Homerischen Epen und die Homerische Frage

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7.6 Homer, die Homerischen Epen und die Homerische Frage Wie gezeigt wurde, ist für Heyne Mythengenese ein kollektiver, mündlicher Prozess Auf die antiken griechischen Mythen kann jedoch nur in ihrer von Individuen fixierten Gestalt in den überlieferten Quellen der Blick gerichtet werden Die frühesten literarischen Quellen werden damit zur Schnittstelle zwischen mündlicher Volksdichtung in Form der mythi poetici und schriftlicher Kunstdichtung als erster Literatur Die Homerischen Epen müssen daher für Heyne der Punkt sein, an dem der Mythos aus mündlicher Narration in Poesie übergeht und für uns erstmals greifbar wird Doch stellt sich hier die Frage, wie dieser Übergangsprozess zu bewerten ist: Inwiefern sind die Epen als kollektiv entstandenes Produkt einzustufen? Und welchen Anteil hatte ‚Homer‘? Heynes Beschäftigung mit dieser zentralen Gestalt soll abschließend als prominentes Beispiel für seine Auseinandersetzung mit Mythen in Textquellen und für seinen Beitrag zur Kontroverse um die Dichterfigur Homer betrachtet werden Seit seiner Berufung nach Göttingen 1763 verfolgte Heyne äußerst aufmerksam die aktuelle Homerforschung Besonderen Eindruck auf Heyne machte das Projekt Robert Woods Dieser rekonstruierte die Schauplätze von Ilias und Odyssee, bereiste diese in Südeuropa und veröffentlichte in An Essay on the Original Genius of Homer 1769 einen Bericht über diese Unternehmung, den Heyne 1770 in den GGA mit einer sehr ausführlichen, „fast begeisterte[n] Anzeige“353 würdigte,354 die eine 1773 publizierte deutsche Übersetzung noch vor dem Erscheinen der auflagenstärkeren und erweiterten Neuauflage des englischen Originals von 1775 veranlasste 355 Das Bemerkenswerte an diesem „Adlerflug eines Genies, das die Spur eines Genies aus dem Alterthums ausspäht“,356 bestand für Heyne darin, dass hier erstmals ganzheitlich auf die Entstehungsumstände der Homerischen Epen eingegangen werde und dass die Maxime, sich in den antiken Dichter und in seine Lebenswelt hineinzuversetzen, um seine Werke 353 Heeren: Christian Gottlob Heyne S 210 354 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 32 St In: GGA 1770 S 257–270 Dass Heyne dieses Werk stark bewunderte, zeigt allein schon der Umfang, den er diesem widmete Mit 14 Seiten gehört dessen Rezension zu den 20 längsten Kritiken von Monographien, die Heyne als Einzelrezension verfasste Genauso lang oder länger sind nur 16 andere Rezensionen von ihm Dass die Länge einer Rezension bei Heyne tatsächlich auch ein Indikator für sein Interesse am rezensierten Werk ist, lässt sich dadurch belegen, dass seine längsten Rezensionen hauptsächlich Themen und Gebiete beinhalten, die für ihn von außerordentlichem Interesse waren, etwa antike Mythologie, Alte Geschichte, Archäologie, Homer, Völkerkunde und Reisebeschreibungen Zudem werden diese sehr ausführlich rezensierten Werke in der Regel von Heyne als sehr gelungen klassifiziert Und auch Heynes Biograph Heeren schreibt, Woods Essay sei „ein Buch, welches, wenn irgend ein anderes, auf Heyne mächtig gewirkt hat; […] nicht bloß für die Geschichte seiner Homerischen Studien, sondern seines Geistes überhaupt“ (Heeren: Christian Gottlob Heyne S 210) 355 Dass Heynes Rezension das Bedürfnis zu einer Übersetzung überhaupt erst erzeugte, geht aus deren Vorwort explizit hervor, vgl o V : Vorrede In: Robert Wood: Versuch über das Originalgenie des Homers Frankfurt a M : 1773 S 4 356 [Heyne]: 32 St In: GGA 1770 S 257

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7 Heynes Mythentheorie

nach über 2000 Jahren verstehen zu können – worauf auch Heyne immer wieder hinwies – schon allein in seiner Grundanlage verwirklicht sei Diese antike Wirklichkeit ist, so Heyne, in keiner Weise mit der des 18 Jahrhunderts vergleichbar; ein Vergleich dieser beiden Realitäten sei daher ein grundlegender Fehler […], den die neuern noch häufig begehen, da sie nicht bedenken, daß Homer ein Dichter aus einem ganz andern Welttheil, andern Clima, ist, der eine ganz andre Natur vor sich hatte, und sie folglich auch anders schildern, anders empfinden mußte 357

Indem Wood also zumindest den Ort der Entstehung selbst besuchte und direkt den Eindrücken, die der (oder die) Verfasser von Ilias und Odyssee gehabt haben könnten, nachzuspüren versuchte, leistete er Heynes Ansicht nach einen enormen Beitrag für die damalige Homerforschung 358 Freilich befand sich Griechenland gesellschaftlich im 18 Jahrhundert nicht mehr in dem Zustand wie zu Zeiten Homers; dennoch war die Lebensweise der Griechen des 18 Jahrhunderts der der homerischen Gesellschaft, wie Heyne glaubte, noch verhältnismäßig ähnlich, da die menschliche Gesellschaft, in ihrer politischen, bürgerlichen und häuslichen Verfassung […] in Jonien erst unlängst, und in einigen Gegenden Griechenlands nur kürzlich, oder kaum, aus dem ersten rohen Zustand der Natur hervorgetreten [war], […] und in der Cultur nur die ersten Schritte gethan [hatte] 359

Um antike Gesellschaften und antikes Denken besser verstehen zu können, könne man daher [a]us Reise- und Länderbeschreibungen der Wilden und anderer Völker, die in einer noch ungebildeten Gesellschaft und Staatsverfassung leben, […] das meiste für den Homer [lernen],360

da die Homerischen Epen zu einer Zeit verfasst wurden, als die Gesellschaft in Griechenland auf ebenderselben kulturellen Stufe zu verorten ist wie die einiger anderer Völker noch im 18 Jahrhundert Um also Homers Eindrücke von der Natur – landschaftlich wie klimatisch – zu verstehen, ist Woods Arbeit, so Heyne, elementar, da dieser [m]it diesem Himmel von Jonien, mit der Natur auf der Küste, wo unser griechischer Barde der Sänger der reinen, der unverstellten Natur ward, […] genauer als jemand, bekannt [ist], da er in eben dieser Absicht jene Gegenden durchreiset hat 361

357 358

Ebd S 259 Wood rekonstruiert dabei, dass Homer ursprünglich aus Smyrna stammen und enorme Kenntnisse über die Geographie Südeuropas besessen haben, folglich viel gereist sein musste, vgl ebd S 261 359 Ebd S 258 360 Ebd S 258 f 361 Ebd S 259

7 6 Homer, die Homerischen Epen und die Homerische Frage

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Wood konstatiert diesbezüglich eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen der Gesellschaft Homers und nomadisch lebenden arabischen Stämmen, da diese unter ähnlichen klimatischen und geographischen Bedingungen, in ähnlichen gesellschaftlichen Strukturen lebten und dementsprechend auch eine ähnliche Lebensweise haben mussten, während sich etwa die Ureinwohner Nordamerikas noch eine Entwicklungsstufe unter der homerischen Gesellschaft befänden Ein genaueres Studium der arabischen Stämme müsse daher einige Aufschlüsse über die antiken Griechen liefern, da, wie auch Heyne zustimmt, „nichts den Sitten dieser Heldenzeit näher [kömmt] als die der heutigen Araber“ 362 Aus diesem Grund stellt Wood einen Vergleich zwischen den antiken griechischen und den zeitgenössischen arabischen Stämmen an, was Heyne als „ein lesenswürdiges Stück“363 deklariert 364 Laut Heynes Biograph Heeren war Woods Werk ein Meilenstein in Heynes Forschungen zu Homer; „manches, was ihm vorher nur geahndet hatte, ward ihm jetzt plötzlich klar “365 Heeren veranschlagt die Wirkung Woods auf Heyne so hoch, dass 362 Ebd 363 Ebd 364 Die gemeinsamen Eigenschaften, die Heyne hervorhebt, bestehen dabei in folgenden: „1 übertriebnes Mißtrauen und Verstellung […] 2 Grausamkeit, Gewaltthätigkeit und Ungerechtigkeit […] 3 Recht der Gastfreyheit […] 4 Die gänzliche Absonderung beyder Geschlechter von einander […]; Rauhigkeit und Wildheit an den Männern […] 5 Einförmigkeit der Sitten unter den Vornehmsten und Geringsten, weil Rang und Stand noch nicht seine so mannigfaltigen Abstände und Schattirungen erhalten hat, sondern alles ist Herr oder Sklav […] 6 Endlich Witz und Scherz, grob und abgeschmackt, oder unanständig und beleidigend“ (ebd S 266 f ) Für diesen Vergleich der antiken Griechen mit den arabischen Völkern des 18 Jahrhunderts erntete Wood allerdings auch Kritik So behauptet beispielsweise der unbekannte Verfasser einer Rezension zu Woods Werk, dass die arabischen Stämme keineswegs mit den antiken Griechen zu vergleichen seien, da sie „zu sehr Hirten oder Räuber“ (o V : Schluß der Recension von Robert Woods Versuch über das Original-Genie des Homers In: Philologische Bibliothek 2 (1773), 4 St S 284) seien In der Folge spricht er einigen der Beobachtungen und Ansichten Woods ihre Richtigkeit ab, vgl ebd S 284–290 In Heynes Rezension dieser Rezension verteidigt er Woods Entscheidung für diesen Vergleich Er ist der Ansicht, dass es kaum möglich sei, ein Volk zu finden, das in jeder Hinsicht mit den alten Griechen identisch ist; es sei also legitim, die arabische Kultur heranzuziehen – zumal Wood sich in dieser bestens auskannte Heyne räumt aber ein, dass Wood hier in seiner Begeisterung zu weit gegangen sein könnte, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 148 St In: GGA 1773 S 1266 Der Verfasser der Rezension fragt zudem skeptisch, ob es überhaupt grundsätzlich möglich sei, sich in das Homerische Zeitalter und vor allem in dessen Moralvorstellungen hineinzuversetzen und ob der Nutzen des Verfahrens die Nachteile aufwiege – er geht dabei davon aus, dass das Hineinversetzen in eine so fremde Kultur ein Verleugnen der eigenen mit sich brächte, weil man die eigenen moralischen Wertvorstellungen ablegen müsse, um die fremden zu verstehen, vgl o V : Schluß der Recension von Robert Woods Versuch über das Original-Genie des Homers S 279– 283 Heyne findet diese Bemerkung offenbar absurd, auch wenn er sich dazu recht undeutlich äußert: „daß wir Handlungen im Widerspruche zu unserm sittlichen Gefühle einen Werth beylegen sollen, kann niemand verlangen (Wunderlich genug, wenn jemand dies verlangt hat; oder lief etwa eigentlich die Streitfrage so: können Stellen im Dichter, welche unsittliche Handlung beschreiben, nicht immer noch einen poetischen Werth und Dichterschönheit haben?)“ ([Heyne]: 148 St In: GGA 1773 S 1266) 365 Heeren: Christian Gottlob Heyne S 211

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er gar zweifelt, „ob irgend etwas sonst eine ähnliche Revolution in Heyne’s Ansicht und Studium des griechischen Alterthums gemacht hat, als jenes Werk des Britten “366 Nicht nur, dass Heyne begriff, „was es heiße und was dazu gehöre, einen alten Dichter in dem Geist seiner Zeit und seines Volks zu lesen“,367 Woods Schrift machte ihm auch „deutlich, wie das Studium der Völker- und Länderkunde, das eben damals so große Fortschritte machte, auf den Dichter anzuwenden sey “368 Später legte sich Heynes Begeisterung für Woods Homerforschung wieder Er bemängelt 1792 in seinem Vorwort zu LeChevaliers Beschreibung der Ebene von Troja an Woods Suche nach dem antiken Troja in dem Kapitel A comparative view of the ancient and present State of the Troade:369 Wood’s Schrift ward nun überpriesen Auf meiner Seite setzte sich der Enthusiasmus bald zu kälterm Blut um; ich kam nach und nach so weit, daß mir Wood’s Spitzfindigkeiten in der Interpretation seine ganzen Beobachtungen und Bemerkungen verdächtig machten Ich ließ ihn liegen, und gieng meinen Weg für mich fort 370

Auf Grundlage dieser Schrift hatte Heyne 1783 die Abhandlung De acie Homerica et de oppugnatione castrorum a Troianis facta371 präsentiert Einen leichten Ärger über sein „Vertrauen auf einen Mann, wie Wood ist, der die Gegend selbst, mit dem Homer in der Hand bereist hatte“,372 kann er nun nicht unterdrücken: „Wäre ich beym Homer geblieben, so hätte ich in weniger Fehler fallen können “373 Und auch seinen Essay on the original Genius of Homer betrachtet er nun nüchterner: sein [= Woods] umständlicher Beweis, daß Ionien, oder eine der Inseln an der Küste, Homer’s Vaterland sey, erschöpft die Sache nicht; […] nur dieß danken wir ihm, daß er beym

366 367 368 369

Ebd S 212 Ebd Ebd Wood fügte diesen Aufsatz einer Neuauflage seines Essay on the Original Genius of Homer von 1775 bei 370 Christian Gottlob Heyne: Vorrede In: Jean Baptiste LeChevalier: Beschreibung der Ebene von Troja mit einer auf der Stelle aufgenommenen Charte Leipzig: 1792 S XIV 371 Vgl Christian Gottlob Heyne: De acie Homerica et de oppugnatione castrorum a Troianis facta In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis 6 (1785), Commentationes Historicae et Philologicae Classis S 137–163 Heyne beschreibt hier die Kriegshandlungen in der Ilias an den von Wood bestimmten Schauplätzen Unstimmigkeiten zwischen der von Wood angegebenen Gegend und den Beschreibungen in der Ilias fallen Heyne bereits hier auf, er gibt sich jedoch mit Woods Erklärung, dass sich die Flussläufe und das Profil der Landschaft verändert hätten, zufrieden 372 Heyne: Vorrede In: LeChevalier: Beschreibung der Ebene von Troja S XXIV 373 Ebd Der Fehler geht auf Woods falsche Lokalisierung Trojas zurück Dieser identifizierte den falschen Fluss als Skamander und versetzt Troja daher viel zu tief ins Ida-Gebirge Auf Grundlage der neuen Lokalisierung durch LeChevalier revidierte er die Abhandlung und veröffentlichte sie erneut in der Übersetzung LeChevaliers Beschreibung der Ebene von Troja.

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Lesen und Erklären des Dichters mehr, als andre thaten, darauf aufmerksam macht; daß er bey einzelnen Stellen auf Ioniens Lage, Natur, Clima, hinweißt 374

Heyne nennt noch weitere Kritikpunkte Er bemängelt die Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt: „Ueber das Originalgenie Homer’s hat Wood das wenigste gesagt“ 375 Und auch das „Hauptstück, Homer als Geschichtschreiber“ ist seiner Ansicht nach „nicht gut gefaßt“ 376 Woods Versuch, die Chronologie der beschriebenen Ereignisse zu rekonstruieren, sei unsinnig, da Homer Mythen verarbeitete, die per se keine Datierung zulassen 377 Neben Woods Beitrag interessierte sich Heyne sehr für Fragen antiker Topographie,378 insbesondere auch im Hinblick auf die Homerischen Epen Vor allem spielte dabei für ihn die im 18 Jahrhundert aufgeflammte Diskussion um die geographische Lage von Troja eine wichtige Rolle Wood hatte durch seine Reisen nach Griechenland und Kleinasien und durch die neu gewonnenen ethnographischen Erkenntnisse bereits neue Impulse für die Rekonstruktion der homerischen Lebenswelt geliefert und versuchte durch Textinterpretation das antike Troja im Ida-Gebirge zu lokalisieren 379 Heyne stimmte Woods Trojaverortung zunächst zu, äußerte jedoch auch Zweifel 380 Mitte der 1780er Jahre unternahm der Franzose Jean Baptiste LeChevalier, ein korrespondierendes Mitglied der Societät, einen erneuten Versuch, Troja ausfindig zu machen Dieses machte er dabei nahe dem Dorf Bunarbaschi am Rand der Ebene von Troas aus – an dieser Stelle blieb Troja bis Schliemann 381 Wie die meisten anderen Gelehrten bevorzugte Heyne die Bunarbaschi-These LeChevaliers eindeutig382 und ließ dessen Ergebnisse sofort ins Deutsche übertragen Woods Lokalisierung schied für 374 375 376 377 378

Ebd S XVI f Ebd XVI Ebd XIX Vgl ebd S XXI f Davon zeugen seine Rezensionen Hier zeigte er beispielsweise mehrfach Werke des französischen Kartographen Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville an, darunter seine Geographie ancienne abregée, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 44 St In: GGA 1769 S 412–414, oder Conrad Mannerts Geographie der Griechen und Römer, [Christian Gottlob Heyne]: 133 St In: GGA 1788 S 1329–1333 Viele weitere Beispiele ließen sich hier anschließen 379 Dieser Lokalisierungsversuch erschien erst in der umgearbeiteten Neuauflage von 1775, vgl Robert Wood: An Essay on the Original Genius and Writings of Homer with a Comparative View of the Ancient and Present State of the Troade London: 1775 S 307–342 380 „Wenn die Charte zuverläßig genug ist, so begreifen wir kaum, wo das alte Troja hat stehen und die Gefechte haben vorfallen können: so schmal sind die großen gerühmten Ebenen“ ([Christian Gottlob Heyne]: 143 St In: GGA 1775 S 1227 f ) 381 Zehn Jahre nach Heynes Tod lokalisiert der Schotte Charles MacLaren Troja auf dem Hügel von Hissarlik zehn Kilometer nördlich von Bunarbaschi, wo Schliemann und Calvert bei ihren Ausgrabungen auf Ruinen stießen, die sie für Troja hielten 382 Heyne legt sich in dieser Angelegenheit ganz eindeutig fest: „die Quellen des Skamander finden sich bey Bunarbaschi, und in der Nähe dabey die Stelle von Troja“ (Heyne: Vorrede In: LeChevalier: Beschreibung der Ebene von Troja S XXXII)

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7 Heynes Mythentheorie

ihn nun aus, weil dieser den falschen Fluss als Skamander identifiziert habe 383 Doch nur auf Zustimmung traf LeChevaliers These freilich nicht Der englische Philologe Jacob Bryant etwa lehnte die Existenz Trojas und des Trojanischen Krieges rundweg ab und wandte sich damit öffentlich gegen den Franzosen 384 Den Streit zwischen Bryant und LeChevalier verfolgte Heyne aufmerksam – er rezensierte nahezu alle Publikationen, die um diese Kontroverse kreisten, in den GGA 385 Als die Debatte hitziger wurde, zog sich Heyne zurück und betonte stattdessen den fiktiv-literarischen Charakter der Homerischen Epen: Man muß […] unterscheiden Dichterbehandlung und Dichterstoff Der Stoff ist eine alte Sage […] Dichterbehandlung muß von der Sage gesondert und nach ganz andern Principien beurtheilt werden: sie hat zur Grundlage, alte sinnliche, bildliche Vorstellung und alte Bildersprache aus mehrern Jahrhunderten; […] also: Stoff und Behandlung sind jedes einzeln zu betrachten 386

Was erdichtete Erfindung und was historische und geographische Realität in den Homerischen Epen ist, lässt sich also Heynes Ansicht nach nicht mit absoluter Sicherheit feststellen Der „Streit über die Troas und Ilium“ könne daher, so Heyne, leicht so gut zehn Jahre dauern […], als der alte Krieg, und bey dem es wohl auch einmahl blutige Köpfe setzen könnte, wenn so ein Rex sum auftreten sollte (nur mit dem Unter-

383 Vgl ebd S XXIV f 384 Heyne glaubte an einen wahren Kern in den Homerischen Epen Er meint daher zu Bryants Trojaleugnung: „[O]b je ein Troja gewesen sey, nicht nur bezweifeln, sondern sogar läugnen wollen, geht über alle Grenzen einer erlaubten Skeptik hinaus, und verliert sich ins Willkührliche“ ([Heyne]: 48 St In: GGA 1798 S 476 (= Rez zu De fide historica aetatis mythicae)) 385 Zum Beispiel zu Bryants Reaktion auf LeChevaliers Observations upon a Treatise entitled a Description of the Plan of Troy by Mr. leChevalier, in der er sich hauptsächlich an Entfernungsangaben abarbeitet und einen anderen Ort für Troja postuliert, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 57 St In: GGA 1796 S 562–568 1796 legte Bryant mit A dissertation concerning the War of Troy nach und bestritt hier die Existenz Trojas; Heyne rezensierte die deutsche Übersetzung, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 204 St In: GGA 1797 S 2028 Heyne äußerte sich hier nicht zu Bryants These – dies tat er in der Societätsvorlesung De fide historica aetatis mythicae, in der er Bryants These als unwahrscheinlich darstellt und ihr sein Konzept historischer Mythen entgegenstellt –, sondern will es seinen Lesern anheimstellen, über das Werk zu urteilen Auf Bryant wiederum reagiert der britische Gelehrte John Bacon Sawrey Morritt mit der Abhandlung A Vindication of Homer and of the ancient Poets and Historians, who have recorded the Siege and Fall of Troy, in answer to two late Publications of Mr. Bryant. Darin versucht er nach einer eigenen Reise in die Troas ausführlich Bryants Argumente gegen Troja zu widerlegen und plädiert für LeChevalier Heyne rezensierte auch dieses Werk ausführlich, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 186 St In: GGA 1798 S 1849–1856 Weitere Rezensionen Heynes zu diesem Thema sind [Christian Gottlob Heyne]: 138 St In: GGA 1792 S 1377–1382; 189 St In: GGA 1797 S 1881–1888; 131 St In: GGA 1799 S 1306 f ; 132 St In: GGA 1799 S 1317–1320; 180 St In: GGA 1800 S 1797–1800; 95 St In: GGA 1802 S 946–949; 98 St In: GGA 1803 S 969–971; 15 St In: GGA 1805 S 137–146 386 [Heyne]: 186 St In: GGA 1798 S 1849 f

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schiede, dort stritt man um Troja, das noch war, und jetzt über Troja, das nicht mehr ist; und der Preis ist nicht mehr Helena, sondern berichtigte Begriffe von Homer’s Fabel) 387

Neben seinen Rezensionen aktueller Beiträge zur Homer-Debatte hielt Heyne bereits seit 1766 Vorlesungen über Homer388 und befasste sich darüber hinaus in der Societätsabhandlung De origine et caussis fabularum Homericarum,389 gehalten am 6 September 1777, mit der Entstehung der Epen Er schreibt hier, dass Homer „nicht alles erdichtet, noch weniger zuerst aufgebracht, sondern das meiste anders woher übernommen [hat]“390 und es „schon vor ihm Dichter und dichterische Werke [gab], die er vor Augen hatte, und aus denen er seine Phantasie und seine Gedichte bereicherte“,391 dass es also schon vor dem Homer […] Kosmogonien gegeben [habe], das heißt, Gedichte, in welchen der Ursprung der Welt in der Denkungsart und Sprache des Alterthums vorgetragen war, und daß Homer also hier etwas vor sich fand, woher er manches entlehnen, und durch neue Behandlung sich eigen machen konnte 392

Es sei schließlich selbstverständlich, daß eine so ausgearbeitete Dichtart, ein solcher Reichthum dichterischen Stoffs, ein so wohlklingender und abgemessener Redefall, eine so biegsame und jeder dichterischen Schönheit und Verzierung empfängliche Sprache, als dem Homer zu Gebote stund, sich gar nicht denken läßt, wenn nicht wiederholte Versuche verschiedener poetischer Köpfe hier schon zu einem hohen Grade von Ausbildung und Feinheit vorgearbeitet hätten 393

Darüber hinaus werden in den Epen selbst Rhapsoden erwähnt Heyne schlussfolgert daher: „Es mußte also schon zu seiner [= Homers] Zeit alte und neuere Gedichte geben, die nach einander erschienen waren“;394 es steht für Heyne also bereits hier, 1777, außer Frage, daß Homer Vorgänger hatte, in deren Fußstapfen er trat, besonders da er so manche Fabeln, als allgemein bekannt und von andern schon weitläufig erzählt, nur im Vorbeygehen und obenhin berührt, vorzüglich die Thaten des Herkules, so daß man nothwendig

387 [Christian Gottlob Heyne]: 184 St In: GGA 1798 S 1832 f 388 Vgl Heinz-Günther Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage In: Bäbler/Nesselrath (Hg ): Christian Gottlob Heyne S 37 389 Eine deutsche Version der Abhandlung erschien 1779 in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und Künste, vgl Heyne: Ueber den Ursprung und die Veranlassung der Homerischen Fabeln S 5–53 390 Ebd S 8 391 Ebd S 8 f 392 Ebd S 10 393 Ebd S 9 394 Ebd

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voraussetzen muß, daß sie schon durch älterer Dichter Gesänge bekannt und berühmt waren 395

Gerade in den Erzählungen um Herakles sieht Heyne einen wichtigen Punkt, der für Homers Zurückgreifen auf Vorlagen spricht: Da bereits in den Homerischen Epen Herakles erwähnt wird, können die Erzählungen über ihn nicht von späteren Dichtern, in deren Schriften diese überliefert sind, erfunden, sondern nur zusammengestellt und erweitert worden sein – ähnlich könne es also auch um die Homerischen Epen bestellt sein 396 Im Folgenden erläutert Heyne einige Textstellen der Epen, in denen er Verarbeitungen von Motiven und Erzählungen aus älteren Theo- und Kosmogonien, mythisch überformten Berichten von Erdbeben oder bereits poetischen Mythen mit moralischen Botschaften vermutet, wobei Homer als kluger und ausgesprochen begabter Kompilator dieser älteren Dichtungen erscheint, der die vorhandenen philosophischen und historischen mythischen Stoffe bewusst für seine poetischen Mythen auswählte, dabei vieles umarbeitete und an seine Dichtungen anpasste; er „erzählte, was er, als wirklich geschehen, überliefert bekommen, in dem Geschmack und der Denkungsart des Zeitalters, das vor ihm war“,397 so daß er sie seinem Gegenstande selbst auf solche Art einwebt, daß sie gleichsam die ganze Natur und Beschaffenheit der übrigen Begebenheiten, die er behandeln wollte, tragen, und daß sie so gar einen Theil der Erzählung des Trojanischen Kriegs ausmachen 398

Nesselrath sieht in dieser Abhandlung bereits eine These entwickelt, die fast schon die Neo-Analyse des 20 Jh s vorwegnimmt: dass Homer eine Reihe von Vorgängergedichten verwendete und für seine Zwecke dem Duktus seines Epos anpasste 399

Mit einer solchen Abhandlung war Heyne natürlich nicht der einzige, sondern im Gegenteil, einer von vielen, die sich an der Diskussion um Homer und seine Werke im 18 Jahrhundert beteiligten Diese erreichte einen ihrer Höhepunkte zu Heynes Lebzeiten in der Homerischen Frage: Sind Ilias und Odyssee die Werke eines einzelnen Dichters oder mehrerer? Gab es einen Homer oder gehört er genau wie die Figuren seiner Epen in den Bereich des Mythischen? Wenn es mehrere ‚Homeroi‘ gab, erfanden sie die Epen dann bewusst als Fiktion oder gehen sie auf mündliche Volksüberlieferung zurück und wurden später nur niedergeschrieben? Entstanden sie in kurzer Zeit und in einem Guss oder sind sie aus Fragmenten verschiedener Epochen zusammenge-

395 396 397 398 399

Ebd S 41 Vgl ebd S 47–52 Ebd S 29 f Ebd S 47 Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage S 38

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setzt?400 Eng verbunden waren die Antworten auf diese Fragen mit der ästhetischen Bewertung der Epen und ihrem Status als Kunstwerke: Wenn sie das Produkt von Volksdichtung sind, können sie nicht von einem Dichterindividuum komponiert worden sein und verlieren damit ihren Status als geniale Kunstwerke 401 Bis weit ins 18 Jahrhundert war es Konsens unter Gelehrten, dass die Homerischen Epen Neuschöpfungen eines Einzelautors sind und dass es einen selbsttätigen Schriftsteller mit dem Namen Homer gegeben habe, der die Epen Ilias und Odyssee in einem schöpferisch-künstlerischen Akt, mit reflektierter Absicht und in dem Wissen, dass es sich bei dem Inhalt seiner Schriften um Fiktion handelt, erfand Heute jedoch geht man davon aus, dass die Homerischen Dichtungen Ilias und Odyssee über sehr große Zeiträume hinweg entstanden sind und keineswegs die Schöpfung eines einzigen Individuums gewesen sein können 402 Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Schritt von der alten Vorstellung von Homer als bewusst schaffendem Einzeldichter hin zu einer Figur, auf die die ursprünglich kollektive Entstehung und Verbreitung der Homerischen Epen lediglich projiziert wird, vollzieht sich am Ende des 18 Jahrhunderts in der Diskussion um die Homerische Frage, in der sich Heyne und Friedrich August Wolf als die wichtigsten Protagonisten gegenüberstehen 403 1802 erschien endlich Heynes

400 Diese Fragen stellte sich auch Heyne Er fragt sich: „vtrum vnus aliquis omnes rhapsodias condiderit? num sigillatim, omnes, an plures, per diuersa tempora? num ipse eas in corpus redegerit? num iam sparsim a se editas et vulgatas? num ab initio statim totum carmen sit meditatus, illudque totum an per partes decantauerit? an vero plures rhapsodiarum auctores fuerint? num in his princeps Homerus? […] fueritne eorum [= carminum] auctor vnus an plures, Homerusne aliquis vere dictus, an nomen appellatiuum plurium poetarum“ (Christian Gottlob Heyne: Excursus III de Homero, Iliadis auctore In: Homeri Carmina, Bd 8 S 819–22) 401 Heyne ist in diesem Punkt jedoch anderer Ansicht Er schreibt in seiner Rezension zur Societätsabhandlung De antiqua Homeri lectione indaganda, diiudicanda et restituenda, seiner Reaktion auf Wolfs Prolegomena ad Homerum: „Die Homerischen Gedichte selbst und ihr Werth verlieren und gewinnen nichts dabey, man mag eine Meinung annehmen, welche man will“ ([Heyne]: 203 St In: GGA 1795 S 2026 f ) 402 So wurde beispielsweise anhand der Beschreibung von Waffen und bestimmten Kampftechniken sowie durch sprachliche und metrische Analysen nachgewiesen, dass einige Teile der Epen schon viel früher entstanden sein müssen als andere Die Datierung der Ilias schwankt dabei zwischen dem zwölften oder dreizehnten und dem siebten Jahrhundert v Chr Die Epen sind also das Produkt mehrerer fahrender Rhapsoden, hauptsächlich aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert, die aber selbst die Inhalte nicht erfunden hatten, sondern größtenteils Stoffe weitergaben, die viel früher, in mykenischer Zeit, den sogenannten Dark Ages, entstanden sind, und einige Teile hinzudichteten Ilias und Odyssee können damit höchstens von einem Schreiber mit dem Namen Homer aufgezeichnet worden sein Zum modernen Homerverständnis vgl Joachim Latacz: Zu Umfang und Art der Vergangenheitsbewahrung in der mündlichen Überlieferungsphase des griechischen Heldenepos In: Jürgen von Ungern-Sternberg / Hansjörg Reinau (Hg ): Vergangenheit in mündlicher Überlieferung Stuttgart: 1988 S 153–183; Joachim Latacz: Homer, Der erste Dichter des Abendlandes München/Zürich: 1989; Antonios Rengakos / Bernhard Zimmermann (Hg ): Homer-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung Stuttgart: 2011 403 Vgl Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage S 29

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Homer-Ausgabe, an der er seit 1787404 gearbeitet hatte 405 Nur wenige Jahre zuvor, seit 1794, hatte Friedrich August Wolf angefangen ebenfalls Homers Werke in einer großen Ausgabe zu veröffentlichen 406 Wolf war seit 1777 am Philologischen Seminar in Göttingen eingeschrieben und damit Heynes Schüler; er muss also viele Veranstaltungen bei Heyne gehört haben – auch seine Homer-Vorlesung!407 Aus der späteren Konkurrenzsituation, ausgelöst durch die fast zeitgleich publizierten Homer-Ausgaben, entspinnt sich in den folgenden Jahren eine Rivalität, die schließlich im Gelehrtenstreit um die Homerische Frage gipfelt Den eigentlichen Punkt, an dem sich der Konflikt entzündet, stellen Wolfs Prolegomena dar Diese erschienen 1795 und waren als Vorwort zu seiner ein Jahr zuvor veröffentlichten Ilias-Ausgabe gedacht – laut Nesselrath „die eigentliche Initialzündung der ‚Homerischen Frage‘“ 408 Die eigentlichen Textausgaben sind nur bedingt miteinander vergleichbar: Beide Ausgaben entstanden offenbar unabhängig voneinander und mit verschiedenen Zielsetzungen – zumindest behaupteten Heyne und Wolf, von den Homerausgaben des anderen nichts gewusst zu haben 409 Der Originaltext unterscheidet sich kaum; kriti404 Vgl ebd S 38 405 Christian Gottlob Heyne (Hg ): Homeri Carmina cum brevi annotatione, accedunt variae lectiones et observationes veterum grammaticorum cum nostrae aetatis critica, 8 Bde Leipzig/London: 1802 Etwa zeitgleich setzte er sich im Übrigen auch noch auf eine ganz andere Art und Weise mit den Homerischen Epen auseinander Gemeinsam mit dem gerade aus Italien zurückgekehrten Johann Heinrich Wilhelm Tischbein ließ er unter dem Titel Homer nach Antiken gezeichnet Zeichnungen von Szenen der Homerischen Epen erscheinen, die zusammen mit seinen Erläuterungen vor allem eine bildliche Darstellung der Epen zeigen Der Ton, den Heyne hier anschlägt, erscheint ausnahmsweise nur wenig gelehrt; er erzählt die Episoden in ungewohnt poetischer Manier mit starken Bezügen zu Tischbeins Illustrationen nach Davon zeugt schon allein der erste Satz: „Homer, du Unsterblicher, Dichter der Natur, Zögling der Phantasie, treuer Nachbilder menschlicher unverkünstelter Gefühle; erscheine meinem Blicke, wie dich die bildende Kunst sieht, sie, deine in der vertrauten Umarmung der Phantasie erzeugte Tochter, welche von deinem göttlichen Feuer beseelt, die sichtbare Natur im Grossen auffasst, und deine nach ihr gebildeten Ideale, in schönen Formen, als lebend darstellt“ (Heyne: Homer In: ders /Tischbein: Homer nach Antiken gezeichnet Göttingen: S 1 f ) 406 Friedrich August Wolf (Hg ): Homeri et Homeridarum opera et reliquae, 3 Bde Halle: 1794/1795 Später wurde die Wolf ’sche Homer-Ausgabe in erweiterter Form nochmals aufgelegt: Friedrich August Wolf (Hg ): Ὁμήρου ἔπη, Homeri et Homeridarum opera et reliquae, 4 Bde Leipzig: 1804–1807 407 Wolf schreibt selbst, dass er Heynes Homer-Veranstaltung besuchte, vgl Friedrich August Wolf: Briefe an Herrn Hofrath Heyne, Eine Beilage zu den neuesten Untersuchungen über den Homer Berlin: 1797 S 97, versieht dies aber mit dem Adverb „leider“ (ebd ) 408 Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage S 29 409 Vgl [Christian Gottlob Heyne]: 186 St In: GGA 1795 S 1858 (= Rez zu Wolfs Homerausgabe) Heyne bedauert hier, „daß Hr Prof W[olf], der wohl weiß, wie hoch der Rec seine Gelehrsamkeit schätzt, ihn nicht mit Offenheit davon benachrichtiget hat “ Wolf schrieb in einem Brief an Heyne: „Dass Sie selbst sich mit einer kritischen Arbeit am Homer beschäftigten, wusste und glaubte ich nie“ (Wolf: Briefe an Herrn Hofrath Heyne S 62) Heyne behauptet in der angegebenen Rezension jedoch, dass „der Rec [= Heyne], wie Hr Prof W[olf] selbst weiß, sich seit mehrern zwanzig Jahren […] mit einer neuen Recension Homers beschäftiget“ ([Heyne]: 186 St In: GGA 1795 S 1858)

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sche und interpretatorische Anmerkungen fügte nur Heyne hinzu – diese waren sein Hauptanliegen 410 Dabei kam es Heyne darauf an, die Homerischen Epen in ihre antike Kultur einzubetten Es war daher sein Bestreben, die Klassische Philologie nicht immer mehr auf die grammatische und textkritische Analyse zurückzuwerfen und dieses Feld zu vertiefen, sondern um Realien zu erweitern, auf diese Weise die Überwindung ihrer engen Fachgrenzen und ihrer Gleichsetzung mit Altertumskunde voranzutreiben und dazu beizutragen, dass altphilologische Sprachgelehrsamkeit nicht mehr nur um ihrer selbst willen betrieben, sondern auch den in ihnen verborgenen Realien Beachtung geschenkt wird 411 Die angrenzenden Fachgebiete sollten dabei helfen, den Text in seinen historischen Entstehungsbedingungen und damit auch die Antike selbst besser zu verstehen Diese neuhumanistische Ausrichtung der Altertumswissenschaft mit dem Ziel einer Ausbildung von Urteil und Geschmack hatte bereits Heynes Vorgänger Gesner in Göttingen vorangetrieben Dem fühlte sich auch Heyne verpflichtet und modernisierte die Lehre am Philologischen Seminar weiter 412 Seine Maxime war dabei, dass die Inhalte antiker Quellen für die Gegenwart nutzbar werden sollten und die antike Lebenswelt erfasst werden müsse, und dies konnte seiner Meinung nach keinesfalls durch eine rein philologische Ausrichtung des Faches mit Schwerpunkten auf Textkritik und -rekonstruktion erreicht werden Auf die grammatische Analyse musste daher für ihn immer eine sachliche und historische folgen, in die die angrenzenden Disziplinen Staats-, Wirtschafts-, Technik- und Kulturgeschichte, Religionswissenschaft, Archäologie und Mythologie einbezogen werden sollten,413 um den Text und seinen Inhalt durchdringen zu können; andernfalls

410 Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 216 f 411 Man müsse seiner Ansicht nach die Klassische Philologie so verstehen, „daß die gelehrten Sprachen nicht blos als Sprachen, sondern mit ihnen zugleich Sachen begriffen und die gemeinen Kenntnisse, die unser erstes Nachdenken erwecken und schärfen können, beygebracht werden; daß recht vorgetragne und recht gefaßte Grammatik […] zugleich Vorgeschmack der Logik ist; […] und daß wir in den Alten […] zugleich mannigfaltige Einsichten, Urtheile, Materialien historischer und philosophischer Art, Grundsätze der Moral und der Weltklugheit, und selbst eine Art von Erfahrung, einsammeln“ (Christian Gottlob Heyne: Nachricht von der gegenwärtigen Einrichtung des Königl Pädagogii zu Ilfeld Göttingen: 1780 S 45) Diese Ausrichtung der Heyne’schen Lehre hob später auch sein Schüler Friedrich Schlegel in dessen Rezension zu Heerens Heyne-Biographie hervor Die breite realienkundliche Ausrichtung habe jedoch, so Schlegel, zu einer Ungenauigkeit und Oberflächlichkeit im Einzelnen geführt, vgl Friedrich Schlegel: Heyne, biographisch dargestellt von Heeren Göttingen 1813 In: Ernst Behler (Hg ): Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken (1802–1829) Paderborn u a : 1975 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd 3) S 294–301; weiterführend: Martin Vöhler: Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland In: Glenn W Most (Hg ): Disciplining Classics, Altertumswissenschaft als Beruf Göttingen: 2002 (= Aporemata, Kritische Studien zur Philologiegeschichte, Bd 6) S 40 f 412 Vgl zu diesem Modernisierungsprozess des Philologischen Seminars und der Altertumswissenschaft in Göttingen Michael C Legaspi: The Death of Scripture and the Rise of Biblical Studies Oxford: 2010 S 53–78 413 Vgl Heyne: Lobschrift auf Winkelmann S 6

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könne das Leben in der Antike nie in seiner Gänze verstanden werden Philologische Hermeneutik ist bei ihm ein integraler Bestandteil der Beschäftigung mit antiken Texten und ein Schlüssel zu historischen Kulturen – Heyne muss daher ebenso wie Wolf zuerkannt werden, dass er zum Wandel der epistemologischen Überzeugungen in der Klassischen Philologie von einem Selbstverständnis als bloße Sprachgelehrsamkeit hin zu einer historischen Wissenschaft beitrug 414 Er gilt daher heute auch als der „Schöpfer der Sachphilologie“415 und wirkte damit ähnlich wie in der Archäologie auf die Weiterentwicklung der Universitätsdisziplin der modernen Klassischen Philologie, und das in erster Linie als Lehrer im Philologischen Seminar416 und als Schulreformer 417 Aus diesem Grund lautete der Grundsatz seiner Homer-Ausgabe, „grammaticam interpretationem cum rerum et sententiarum declaratione“,418 die grammatische mit Realienkunde und inhaltlichen Interpretationen zu verbinden Seine Exkurse drehen sich daher um religionsgeschichtliche,419 mythentheoretische,420 mythologische,421

414 In der Vergangenheit wurde oftmals Friedrich August Wolf als alleiniger oder hauptsächlicher Begründer dieser neuen Ausrichtung der Fachphilosophie dargestellt, vgl Anthony Grafton: Prolegomena to Friedrich August Wolf In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 44 (1981) S 101–129; Erika Hültenschmidt: Tendenzen und Entwicklungen der Sprachwissenschaft um 1800, Ein Vergleich zwischen Frankreich und Preußen In: Bernard Cerquiglini / Hans Ulrich Gumbrecht (Hg ): Der Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie, Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe Frankfurt a M : 1993 S 146 Heynes wichtige Rolle betonen hingegen Harloe und Robert Scott Leventhal, vgl Harloe: Ingenium et doctrina S 20–27; Robert Scott Leventhal: The disciplines of interpretation, Lessing, Herder, Schlegel and hermeneutics in Germany, 1750–1800 Berlin/New York: 1994 (= European cultures, Bd 5) S 235–257 415 Johannes Irmscher: Christian Gottlob Heyne – Altertumsforscher, Wissenschaftsorganisator, Winckelmannverehrer In: ders (Hg ): Winckelmanns Wirkung auf seine Zeit S 115 416 Die Wichtigkeit, die dieses Institut für Heyne hatte, hebt Heeren deutlich hervor, wenn er schreibt: „Hier war es, wo die künftigen Lehrer von Schulen, Gymnasien, zum Theil von Akademien gebildet wurden; hier war es, wo seine Kenntnisse, seine Methode praktisch, wo er sie sich selber überleben machen konnte“ (Heeren: Christian Gottlob Heyne S 217) Dort legte er vor allem auf die Schulung seiner Studenten in Textkritik und -interpretation Wert Diese mussten Aufsätze zu verschiedenen Themen verfassen, in den Veranstaltungen verlesen und diskutieren 417 Heyne wurde unter anderem damit beauftragt, das Pädagogium in Ilfeld zu reformieren Er wirkte auf die philologische Ausbildung der Schüler nach seinen Vorstellungen, indem er Studenten seines Seminars dort platzierte und sein Verständnis von Klassischer Philologie fest im Leitbild dieser Schule verankerte, vgl Heyne: Nachricht von der gegenwärtigen Einrichtung des Königl Pädagogii zu Ilfeld S 45 418 Heyne (Hg ): Homeri carmina, Bd 1 S XXIX 419 In Excursus I de interuentu deorum in Homero geht er der Frage nach dem Göttersystem in den Homerischen Epen nach, vgl Heyne: Excursus I de interuentu deorum in Homero In: Homeri carmina, Bd 4 S 168–173 Dieses sei nicht „felix aliquod inuentum“ (ebd S 168), keine Dichtererfindung, sondern basiere auf dem Volksglauben 420 Einen kurzen Abriss seiner Mythentheorie liefert Heyne in einem Exkurs in Band 5, vgl Heyne: Excursus I ad Il Θ, 18 sqq de mythis Homericis In: Homeri carmina, Bd 5 S 517–521 421 Vgl den Exkurs über Harpyen, Heyne: Excursus I de Harpyiis In: Homeri carmina, Bd 7 S 281– 183

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archäologische,422 inhaltliche,423 geographische,424 kalendarische,425 militärgeschichtliche,426 sprachgeschichtliche,427 metrische428 und grammatische429 Aspekte Wolfs Methode hingegen orientiert sich deutlich mehr am eigentlichen Text Er forderte noch mehr als Heyne eine stärkere Orientierung an den Fakten, betont vor allem die Distanz, die zwischen dem Forscher und dem antiken Text liegt, und ist daher jeglicher Form der Konjektur gegenüber ausgesprochen skeptisch, da durch Phantasie und Vorstellungskraft – also unwissenschaftliche Methoden – Lücken geschlossen werden sollen, die nicht geschlossen werden können 430 Der originale Text, so Wolf, kann also nicht rekonstruiert werden 431 Dennoch scheut er sich nicht, selbst den Versuch einer gewaltigen Konjektur zu unternehmen: Er will die Entstehung von Ilias und Odyssee bis ins zehnte vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen und damit die Lücke zwischen ihrer Entstehung und dem Beginn ihrer Überlieferung schließen Zwar könne so nicht der eigentliche Text wieder freigelegt werden, wohl aber seine Geschichte 432 Seit etwa 950 v Chr seien verschiedene mündlich tradierte Texte durch fahrende Rhapsoden verbreitet worden, die die Basis für die Homerischen Epen bilden Möglicherweise könnten die Epen also nicht ein und denselben Verfasser, sondern mehrere haben,433

422 Über verschiedene Darstellungen des Gürtels der Venus vgl Heyne: Excursus de cesto Veneris In: Homeri carmina, Bd 6 S 620–622 423 Heyne trägt in den Exkursen beispielsweise die Beschreibung des Olymps oder der Ambrosia in den Homerischen Epen zusammen, vgl Heyne: Excursus VIII ad A, 494 sqq de Olympo Homerico; Excursus IX de Ambrosia In: Homeri carmina, Bd 4 S 187–193 424 Ein Exkurs handelt etwa die vermutete geographische Lage Trojas ab, vgl Heyne: De locis, in quibus ante Troiam inter Troianos et Achiuos est pugnatum In: Homeri carmina, Bd 5 S 298–309 425 Vgl Heyne: Excursus I de computatione dierum in Iliade et pugnarum per eos distributione In: Homeri carmina, Bd 7 S 571–578 426 So etwa in zwei Exkursen zu in der Ilias beschriebenen Kampftaktiken und Waffen, vgl Heyne: Excursus I De acie Homerica et tactica Achiuorum et Troianorum; Excursus II de primo ex quatuor praeliis inter Achiuos et Troianos commissis In: Homeri carmina, Bd 4 S 654–665 427 Vgl beispielsweise zum Digamma Heyne: Excursus II ad A, 55 et al In: Homeri carmina, Bd 4 S 173 f ; Excursus II de digammo placita, quae in Homero probanda esse videntur In: Homeri carmina, Bd 7 S 708–726 428 Vgl Heyne: Excursus I Diphthongus elisa ante vocalem, cum aliis obseruationibus prosodicis ad Homerica In: Homeri carmina, Bd 7 S 400–416 429 Zu einigen grammatischen Besonderheiten in den Homerischen Epen vgl Heyne: Excursus III, ad A, 66 In: Homeri carmina, Bd 4 S 174–177 430 Den Problemen von Textkritik und Konjekturen widmet sich Wolf ausführlich in den sieben Kapiteln seiner Prolegomena, vgl Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi Halle: 1795 S III–XXIV 431 Vgl ebd S VII 432 Dazu teilt er die Textgeschichte der Epen in sechs Phasen ein, vgl ebd XXII f In den Prolegomena widmet sich Wolf vornehmlich der frühesten Phase, der Entstehung der Epen, und ihrer ersten schriftlichen Fixierung Offensichtlich war ein zweiter Teil geplant – zumindest sind die Prolegomena auf dem Titelblatt als „Volumen I“ deklariert, ein zweiter Band erschien jedoch nicht 433 Vgl ebd S XXXXIX; CXXXIV–CXXXVIII Wolf verweist darauf, dass im Proömium der Ilias der Zorn Achills als Inhalt des Epos angegeben werde Diese umfasse jedoch nur die Bücher 1 bis 18

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von denen er Homer eine herausragende Stellung zuweist, da von diesem „maior pars et priorum rhapsodiarum series“,434 die meisten und die ältesten Teile, sind Heyne entgegnet in seiner Rezension zu Wolfs Prolegomena vom 21 November 1795 auf Wolfs starke Betonung einer kollektiven Entstehung und Tradierung der Epen, ihm scheine „die Sache sehr einfach zu seyn; und er trug sie immer so vor“ 435 Er habe sich nur deshalb nicht entschieden dazu geäußert, weil „[h]istorische Beweise […] für Ja und Nein“436 fehlen, und nennt Wolfs Beweisführung zu der „Unwahrscheinlichkeit, daß Homer bereits ein episches Ganzes zusammen gestellt habe, umständlich“ 437 Tatsächlich wies Heyne bereits 1777 darauf hin, dass der Stoff der Homerischen Epen nicht von Homer erfunden worden sein könne: Sich vorzustellen, Homer habe alle seine Fabeln aus seinem Kopfe genommen, giebt dem ganzen Gedichte ein Ansehen der Frivolität, etwas so Läppisches und Possenhaftes, daß ein gesetzter Kopf sich schwerlich überwinden wird, die Dinge mit Theilnehmung und Aufmerksamkeit zu lesen 438

Es müssen vielmehr „zuverlässig eine Menge alte Gesänge und Gedichte bereits vorhanden“439 gewesen sein Er habe damit auf verschiedene Kosmogonien440 zurückgreifen können, durch die die handelnden Götter bei Homer schon feste Eigenschaften, Attribute und Genealogien erhalten hatten So habe bereits in diesen älteren Kosmogonien gestanden, dass der Wettergott Zeus und die Luftgöttin Hera zugleich Geschwister und ein Paar waren, wodurch ihr zugleich harmonisches und konfliktreiches Verhältnis begründet wurde Hera galt schon lange vor Homer als stolz, herrisch und zänkisch Solche charakterlich klar umrissenen Figuren seien für die Einflechtung in ein Epos ideal gewesen 441 Homer habe nun diese personificirten Abstracta, und dadurch gewordenen Dichterwesen, die, um philosophische Ideen in der Welt- und Naturlehre auszudrücken, erfunden waren […], als wirkliche Wesen442

434 435 436 437 438 439 440 441 442

Die letzten sechs Bücher müssen daher in jedem Fall von einem anderen Rhapsoden verfasst worden sein, vgl ebd S CXVII–CXX Ebenso sei die Odyssee aus mehreren Gedichten verschiedener Rhapsoden zusammengesetzt, vgl ebd S CXX–CXXIII Zudem gebe es in den Epen mehrere Verbindungsstücke, die sich vom Rest deutlich unterscheiden, und etliche Widersprüche, vgl ebd S CXXIV–CXXXIII Ebd S CXXXV [Heyne]: 186 St In: GGA 1795 S 1862 Ebd Ebd S 1861 f [Heyne]: 40 St In: GGA 1777 S 626 (= Rez zu De origine et caussis fabularum Homericarum) Ebd Vgl ebd S 628: „Dergleichen Gedichte scheinen mehrere vorhanden gewesen zu seyn“ Vgl ebd S 627 f Ebd S 628

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in seine Epen aufgenommen, ließ sie handeln, modellirte sie nach dem Menschen, […] verwandelte philosophische Theorien in Handlung und Begebenheit, und brauchte nun jene alte Dichterfabel, theils als Anlage für seine Dichtermaschine, theils als Fäden, an welche er seine eigene Erzählung anknüpfte, theils als Episoden, um sie hie und da zur Mannichfaltigkeit einzuweben 443

Zudem habe Homer Erzählungen über „grosse Naturbegebenheiten oder merkwürdige Erscheinungen“, die „andere Barden vor dem Homer […] beschrieben“444 hatten, aufgenommen Genau hierin liege nun Homers ungeheurer Erfolg in seiner Zeit begründet: Er schuf etwas vollkommen Neues, knüpfte aber an Vorhandenes und Bekanntes an 445 Die These, dass Homer auf ältere Dichtungen zurückgriff und daraus – wie möglicherweise andere mittlerweile vergessene Dichter auch446 – neue Epen schuf, erscheint bei Heyne also bereits 1777 schon recht deutlich Der Unterschied zu Wolf liegt allerdings in der Bewertung des Kompilationsprozesses Heyne geht davon aus, dass Homer auf einer vorhandenen stofflichen Grundlage einen neuen Text formulierte: Was es bereits gab, [a]lles das nutzt Homer und erzählt es als wirkliche Geschichte, und noch mehr, er knüpft die Fabel an wirkliche Begebenheiten an; für ihn war eine wirkliche Circe, zu welcher Ulyß kam; so wie eine Calypso, statt daß er in guter Prose mehr nicht sagen konnte, als daß Ulyß auf einer wüsten Insel mehrere Jahre zubrachte 447

Wolf ging jedoch weiter Für ihn bestand Homers Grundlage nicht nur in Stoffen, sondern in bereits formulierten Texten, die ohne größere Eingriffe aneinandergefügt wurden Dennoch verstand Wolf Heynes Einwand, ihm scheine „die Sache sehr einfach zu seyn; und er trug sie immer so vor“,448 als vollkommen unbegründeten Plagiatsvorwurf, der ihn ausgesprochen verärgerte Er reagierte darauf mit mehreren Briefen, die er Heyne jedoch nicht persönlich zusandte, sondern stattdessen in der Schrift Briefe an 443 Ebd S 628 f 444 Ebd S 630, darunter etwa „Erderschütterungen, durch unterirdische Feuer und Wasser bewirkt, […] ein Werk des Vulcans oder Neptuns: Verwüstungen, die daher entstanden, Folgen eines Streits von Giganten, oder von einem Typhon: die Seuche, eine Folge von Pfeilen des Apolls“ (ebd ) 445 Vgl ebd S 629 446 Vgl ebd S 631 f : „Nun behauptet Hr H[eyne], daß Homer nicht einmal der erste gewesen seyn könne, der von den alten cosmogonischen und andern physischen oder sittlichen Fabeln einen solchen historischen Gebrauch gemacht habe Es sey dieß aus so vielen Fällen offenbar, wo der Dichter solche angewandte Fabeln als bekannt annimmt, und nur beyläufig berührt […] Am deutlichsten werde es aus den Stellen, wo er Stücke aus der Geschichte des Hercules völlig in jenem alten Dichtergeschmacke behandelt, anführt, als, das Aufhängen der Juno, die Ate, das Schleudern des Vulcans vom Olymp […], kommen alle in Gedichten vor, welche die Fabel vom Hercules zum Gegenstand hatten“ 447 Ebd S 631 448 [Heyne]: 186 St In: GGA 1795 S 1862

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Herrn Hofrath Heyne veröffentlichte 449 Er erregte sich hier besonders über Heynes Rezension seiner Societätsabhandlung De antiqua Homeri lectione indaganda, diiudicanda et restituenda vom 19 Dezember 1795,450 mit der dieser auf Wolfs Prolegomena bereits in der Societätsversammlung am 1 August 1795 reagiert hatte 451 Er weist hier nochmals Wolfs Anspruch, zuerst auf die These einer kollektiven Autorenschaft der Epen gestoßen zu sein, zurück: An der gemeinen Meinung von einem Homer und von seinen Epopöen ist von je her so viel gezweifelt worden, […] daß der Hr Hofr [= Heyne] nie glaubte, seine davon abgehende Meinung werde ein großes Aufsehen erwecken können; und darin sieht er sich auch dadurch bestätiget, daß sie mit demjenigen, was Hr Prof Wolf in seinen […] Prolegomenen ausführlich vorgetragen hat, in Vielem übereinstimmt 452

449 Vgl Wolf: Briefe an Herrn Hofrath Heyne S VII Die Missstimmung zwischen Heyne und Wolf hatte sich jedoch bereits zuvor angebahnt In einem Brief wirft Wolf Heyne vor, er habe in Heyne wegen seiner „abweichenden Ideen über den Homer“ (ebd S 5), die er ihm 1779 in Form eines Aufsatzes vorlegte, „[n]iemals […] einen beharrlichern Widersacher […] [seiner] Ideen gefunden, oder vielmehr einen, der […] [ihn] peremtorischer abgewiesen“ (ebd S 6) habe Vor dem Brief gab es zwischen Heyne und Wolf kaum Kontakte Anfang 1795 hatte Heyne jedoch in einem Brief an Wolf dessen „wunderliches geheimes Misstrauen“ (zit in Wilhelm Körte: Leben und Studien Friedrich August Wolfs, des Philologen, Bd 1 Essen: 1833 S 289) und „grämlichen bittern Sinn“ (ebd S 290) als unbegründet ausräumen und einer „Rivalität“ (ebd ) wegen ihrer Arbeiten am Homer vorbeugen wollen, vgl Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage S 34 Im letzten Brief, den Wolf in seinen Briefen an Herrn Hofrath Heyne veröffentlichte, seiner ‚Abrechnung‘ vom 9 Januar 1796, trägt er Heyne jedoch noch weitere Vorfälle aus seiner Studienzeit, die er als unfreundliche Zurückweisungen empfunden hatte, nach, vgl Wolf: Briefe an Herrn Hofrath Heyne S 98; 100 450 [Heyne]: 203 St In: GGA 1795 S 2025–2035 451 Vgl Heyne: De antiqua Homeri lectione indaganda, diiudicanda et restituenda in der Societätszeitschrift des Jahrgangs 1799 Die Abhandlung erschien also erst vier Jahre später im Druck 452 [Heyne]: 203 St In: GGA 1795 S 2026 Dass Wolfs Ideen tatsächlich nicht neu waren und bereits bei früheren Autoren des 18 und 17 Jahrhunderts zu finden sind, untermauert Nesselrath durch zwei Beispiele: Der Gedanke, dass die langen Homerischen Epen nicht ohne Schrift konzipiert und tradiert werden konnten und daher in ihrer vorliegenden Form später aus unterschiedlichen Gedichten verschiedenen Alters kompiliert worden sein mussten, ist bereits bei Abbé d’Aubignac in seinen Conjectures académiques ou Dissertation sur l’Iliade von 1715 zu finden Nesselrath geht jedoch davon aus, dass Wolf den Text nicht kannte Auf die Bedeutung der Verbreitung von Schriftlichkeit im antiken Griechenland im sechsten Jahrhundert v Chr , die das Abfassen der Epen überhaupt erst ermöglichte, wies darüber hinaus auch Robert Wood in seinem Essay on the original Genius of Homer 1769 hin Homer und nach ihm die Rhapsoden müssen laut Wood die Epen also mündlich weitergegeben haben, was er aufgrund der außerordentlichen Gedächtnisleistungen schriftloser Völker durchaus für möglich hält, vgl Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage S 32 f Darüber hinaus wären noch Samuel Clarke, Angelo Maria Ricci und Vico zu nennen, zu Vicos Homerbild vgl Kap 3 2 4 S 70 Clarke wies in den Anmerkungen zu seiner Ilias-Ausgabe an verschiedenen Stellen darauf hin, dass das Epos auf älteren Schriften aufbauen muss, zum Beispiel zu Hom Il α, 399: „Veri simillimum est haec non ab Homero conficta, sed ab antiquis fuisse desumpta Philosophis, qui elementorum mutationes, rerumq[ue] naturalium formandarum rationem, sub hujusmodi fabulis soliti sunt docere“ (Samuel Clarke (Hg ): Homeri Ilias graece et latine, Bd 1 London: 1729 S 27) Ricci vermutet bereits in seinen Dissertationes

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Anschließend geht Heyne in der Abhandlung neben Fragen der Überlieferungsgeschichte und Textkritik hauptsächlich folgender Frage nach: hat gleich im Anfang ein alter Barde ein Gedicht von einem solchen Umfange gefaßt, entworfen und ausgeführt? oder waren die Theile, mehrere oder wenigere, früher vorhanden, und kam erst späterhin ein Genie dazu, welches sie zu einem Ganzen verband?453

Antike Quellen über Homer und seine Epen können, so Heyne, nicht als Beweise herangezogen werden, da diese „auf Glaube, auf Sage gegründet“ seien und „keine historische Autorität oder Geschichtsnachricht“454 darstellen können Daher gebe es hier „keine zulängliche historische Entscheidung“, sodass man „alles bloß nach Gründen der Wahrscheinlichkeit beurtheilen“455 könne Die „gemeine Meinung“, die Einzeldichterthese, erscheint ihm dabei als „die unwahrscheinlichste“,456 da es nicht plausibel sei, daß Ein Mann in einer so frühen Zeit gleich zwey so große Gedichte aufs Kunstmäßigste entwarf, in welche er so viel einzelne Handlungen, subordinirt, als Episoden, eintrug […], daß Kunst vor der Einfachheit vorausgegangen seyn soll! daß zuerst eine künstliche Epopöe zum Vorschein kam, und nun Jahrhunderte über cyclische Gedichte, welche den ganzen Inbegriff von Thaten Eines Helden hererzählten 457

Hingegen fänden sich deutlich mehr Argumente für die „Hypothese, daß das große Gedicht, die Iliade, aus einzelnen Gesängen erst später erwachsen sey“ 458 Heyne stellt sich dafür zwei Möglichkeiten vor Einerseits könnte ein Gedicht gewesen seyn, welches den Zorn Achills besang; in welches andere verwandte Gedichte eingewebt und zu dem großen Plan der Iliade erhoben worden sind 459

453 454 455 456 457 458 459

Homericae, veröffentlicht in den Jahren 1740/41, dass frühere mündlich tradierte Theo- und Kosmogonien die stoffliche Grundlage für die Homerischen Epen darstellen Er deutet diese daher nicht als fiktive Dichtung, sondern will in ihnen eine antike Theologie erkennen, vgl Angelo Maria Ricci: Dissertationes Homericae habitae in Florentino Lyceo, Bd 1 Florenz: 1740 S 5–7 Dass es Homer gab und dass dieser die Homerischen Epen kunstvoll zusammenstellte, zweifelt Ricci aber nicht an Heyne kannte Riccis Disserationes übrigens nachweislich; er erwähnt sie im Vorwort seiner Homer-Ausgabe, vgl Heyne: Praefatio In: Homeri carmina S XXVIII Wolfs Thesen an sich sind damit also nicht vollkommen neu Die Bedeutung seiner Prolegomena liegt daher eher in dem Versuch, diese Thesen argumentativ und textkritisch stringent zu belegen, vgl Stefan Matuschek: Homer als ‚unentbehrliches Kunstwort‘, Von Wolf „Prolegomena ad Homerum“ zur ‚Neuen Mythologie‘ In: Burdorf/Schweickard (Hg ): Die schöne Verwirrung der Phantasie S 16 [Heyne]: 203 St In: GGA 1795 S 2028 Ebd S 2027 Ebd S 2028 Ebd Ebd S 2028 f Ebd S 2030 Heyne weist jedoch sofort darauf hin, dass es „[m]ehr als Hypothese […] aber doch nicht [ist], nur hat sie einen höhern Grad der Wahrscheinlichkeit, als die gemeine Meinung“ (ebd ) Ebd S 2029

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Diese Annahme einer durch einen Dichter namens Homer geschaffenen Ur-Ilias würde gut erklären, warum die Handlung der Ilias mehr umfasst, als im Proömium angekündigt wird Andererseits können mehrere verschiedene kleinere Epen ähnlichen Inhalts zu einem Ganzen zusammengefügt worden sein, zu dem später vielleicht auch noch einiges hinzukam 460 Letztere Variante dürfte Heyne vorgezogen haben; zumindest deckt sie sich deutlich stärker mit seiner früheren Abhandlung De origine et caussis fabularum Homericarum sowie mit späteren Äußerungen Die vermeintliche Einheitlichkeit der Ilias könne hier nicht als Gegenargument geltend gemacht werden, da „gewaltige Einschränkungen und Ausnahmen“461 zu beobachten seien: Die Ankündigung im Proömium stimmt mit der Handlung nur teilweise überein, vieles gehört nicht zur Haupthandlung und verschiedene Episoden lassen sich zu Gruppen zusammenfügen, was dafür spricht, dass diese Gruppen ursprünglich eigene Erzählungen ausmachten 462 Die einheitliche Sprache und Motivik gehe stattdessen eher auf Rechnung der alten epischen aus Ionien abgeleiteten Dichtersprache überhaupt, die sich überall ähnlich ist, und auch in spätern epischen Gedichten sich immer noch ähnlich bleibt 463

So, wie Heyne die Entstehung der Epen hier darstellt, zeigt sie deutliche Parallelen zu Wolfs Ausführungen Hier wie da werden die mündliche Entstehung und eine erste mündliche Überlieferungsphase betont Nach dieser Rezension ist Wolf so erbost, dass er Heyne fragt, ob er ihn ernsthaft des Plagiats bezichtigen wolle,464 wirft ihm selbiges nun seinerseits vor465 und behauptet, dass Heynes Ausführungen geradezu lächerlich simpel seien 466 Wolf schreckt nun nicht einmal mehr vor persönlichen Angriffen zurück Er wirft Heyne „Malignität“467 und Hinterhältigkeit468 vor und versucht aus älteren Schriften Heynes nachzuweisen, dass dieser früher eine andere Meinung –

460 Vgl ebd Als Beleg führt Heyne hier den zu seiner Zeit noch für authentisch befundenen Ossian an, dessen Gedichte wie möglicherweise auch Homers „in einzelnen Gesängen und Stellen unter einem rohen Volke seit Jahrhunderten vorhanden waren, und erst in unsern Zeiten von einem Genie in ein episches Ganzes verbunden“ (ebd ) worden seien 461 Ebd 462 Vgl ebd S 2029 f 463 Ebd S 2029 464 Vgl Wolf: Briefe an Herrn Hofrath Heyne S 92; 106 465 Vgl ebd S 91 f 466 Wolf schreibt in überaus polemischem Ton, dass Heynes Darstellung gerade einmal „dergleichen, was ich etwa einem Neugierigen aus einem Dutzend Abschnitten des Buches kurz vor Schlafengehen, höchstens auf einem Spazierritte erzählen könnte, wo sich bei einem mittelmässigen Reuter die Aufmerksamkeit zwischen das Pferd und den Homer theilen müsste“ (ebd S 90 f ), enthalte 467 Ebd S 106 468 Vgl ebd S 108

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die Einzeldichterthese – vertrat 469 Schlussendlich distanziert sich Wolf von seinem ehemaligen Lehrer und will nichts mehr mit ihm zu tun haben 470 Hatte Wolf mit seinen Anschuldigungen nun Recht? Betrachtet man Heynes Abhandlung De origine et caussis fabularum Homericarum von 1777, also 18 Jahre vor dem Erscheinen der Wolf ’schen Prolegomena, muss dies verneint werden Eine noch frühere Aussage Heynes zur kollektiven Entstehung der Epen ist gar auf das Jahr 1772 zu datieren Er schrieb hier in der Societätsabhandlung De fabularum religionumque Graecarum ab Etrusca arte frequentatarum naturis et caussis: Homeri verum ingenium spectatum est in hoc, quod ea, quae in theogoniis et cosmogoniis ante eum tradita fuerant doctrinae caussa et philosophica ratione, ea in suum carmen ita transtulit, ut rerum gestarum faciem et indolem induerent 471

Mag bei Heyne die These, dass ein Dichter namens Homer seine Epen aus früheren Stoffen kompilierte und die Epen damit Produkte eines deutlich längeren Entstehungszeitraumes sein müssen, auch nicht so deutlich wie bei Wolf hervortreten, kann doch nicht geleugnet werden, dass diese schon vorweggenommen und bei Wolf tatsächlich nicht vollkommen neu war Außerdem konnte Nesselrath zeigen, dass Heyne ein mündliches Entstehen der Epen in Einzelgesängen und das erst spätere Einsetzen von Verschriftlichung nach einer mündlichen Überlieferungsphase auch in seinen Homer-Vorlesungen lehrte 472 Nesselrath resümiert: „Auf jeden Fall brauchte er dazu also nicht erst Wolfs Prolegomena zu lesen “473 1802 erschien schließlich Heynes Homer-Ausgabe mit ihren zahlreichen Exkursen Erfolgten auch keine persönlichen Angriffe mehr zwischen Heyne und Wolf, wurde die Konkurrenzsituation nun durch verschiedene kritische Blätter vertieft, die in den meisten Fällen die Wolf ’sche Ausgabe lobten und die Heyne’sche verrissen; Heyne er-

469 Vgl ebd S 110–128 470 Vgl ebd S 140; S 148 f 471 Heyne De fabularum religionumque Graecarum ab Etrusca arte frequentatarum naturis et caussis S 49 Vgl zu ähnlichen Aussagen aus dem Jahr 1783 Heyne: Ad Apollodori bibliothecam notae, Bd 1 S 5; Commentatio de Apollodori bibliotheca S 914 472 Nesselraths schlagender Beweis ist die Mitschrift einer Ilias-Vorlesung aus dem Sommersemester 1789, verfasst von Wilhelm von Humboldt deutlich vor dem Erscheinen von Wolfs Prolegomena Dieser schreibt hier: „Schon vor dem Homer lebten andre dichter […] Homers hauptwerke: Iliade, Odyssee Von Homer nie aufgeschrieben, die schreibekunst war noch zu wenig cultivirt, als dass man mehr als zum öffentlichen denkmal bestimmte dinge aufgeschrieben hätte […] Vorzüglich wurden gedichte gesungen, oft wiederholt, endlich gelernt […] Lange erhielten sich Homers gedichte nur in gesängen der Rhapsoden […] In der früheren zeit waren nur immer einzelne stükke aus der Iliade und Odyssee, Rhapsodien Diese wurden einzeln abgesungen […] Gesammelt und aufgezeichnet wurden Homers gedichte erst spät; von wem ist zweifelhaft“ (Wilhelm von Humboldt: Briefe an Friedrich August Wolf, Im Anhang: Humboldts Mitschrift der Ilias-Vorlesung Christian Gottlob Heynes aus dem Sommersemester 1789, Hg v Philip Mattson Berlin/ New York: 1990 S 334–336) 473 Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage S 39

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schien mit seiner Ausgabe mehrfach als rückständig und zweitklassig 474 Negative Beurteilungen der Homerausgabe Heynes hielten sich noch lange bis nach dessen Tod So bemängelt etwa Bursian noch 1883, dass die Exkurse „ohne rechte Schärfe behandelt sind“475 und klassifiziert das gesamte Werk als seine „am wenigsten bedeutende Leistung“,476 die weit hinter der Wolfs zurückstehe, weil nur dieser seine Annahmen „zuerst und weit schärfer und bestimmter ausgesprochen und wissenschaftlich begründet“477 habe Im umfangreichsten seiner Exkurse, dem im letzten Band enthaltenen Excursus II de Iliade uniuerse, et de eius partibus, rhapsodiarumque compage, geht Heyne dem Kernpunkt der Homerischen Frage nach Da jeglicher beweiskräftige Anhaltspunkt über die tatsächliche Entstehung der Homerischen Epen fehlt, sucht er hier nach verschiedenen Möglichkeiten ihrer Entstehung und zieht dabei drei Optionen in Betracht: Sie könnten einerseits von einem Autor in einem Guss in der erhaltenen Form als freie

474 Am schlechtesten war wohl die Rezension der Heyne’schen Ausgabe in der Allgemeinen Literatur-Zeitung (ALZ), vgl [ Johann Heinrich Voß u a ]: Num 123–126; 128–131; 133–136; 138–141 In: ALZ 2/1803 Sp 241–272; Sp 281–312; Sp 321–352; Sp 361–390 Die Kritik wurde von Johann Heinrich Voß, Heinrich Karl Abraham Eichstädt, Christian Gottfried Schütz, Johann Jakob Griesbach und Wolf selbst verfasst, vgl René Sternke: Kabale und Kritik, Die Ilias malorum gegen Christian Gottlob Heyne im Mai 1803 In: Martin Mulsow (Hg ): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten, Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit Köln u a : 2014 S 597–616, und war so schlecht, dass sie Heynes Kompetenz als Philologe vollkommen in Frage stellte und für großen Aufruhr sorgte Voß leugnete zunächst die (Mit-)Autorenschaft an der Rezension ab, vgl Johann Heinrich Voß: Num 121 In: Intelligenzblatt der ALZ 1803 Sp 993, räumte später aber in seiner Antisymbolik sein Mitwirken ein, vgl Johann Heinrich Voß: Antisymbolik, Bd 2 Stuttgart: 1826 S 97–100 Heyne nahm die Rezension enttäuscht hin An Böttiger schreibt er dazu: „Daß ich unter diesen Umständen noch weniger als sonst, Notitz nehme von dem // Meisterstücke von Chicane und Boßheit der beiden Fabricanten von der Recension in der Allgemeinen Literatur Zeitung [= Voß und Wolf] können Sie wohl glauben Aber die Verdorbenheit der beyden Menschen, die Satanische Verdrehung von allem, u Vorbeygehung alles dessen, was zu Bestimmung des Gesichtspunkts meiner Arbeit gesagt war, eine solche verächtliche Anwendung von Talent, Witz u Scharfsinn erweckt Mitleiden u Bedauern; noch mehr aber der Schaden für die Studien“ (Christian Gottlob Heyne: 146 Heyne an Böttiger, Göttingen, 30 Mai 1803 In: René Sternke / Klaus Gerlach (Hg ): Karl August Böttiger, Briefwechsel mit Christian Gottlob Heyne (= Ausgewählte Briefwechsel aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger, Bd 2) Berlin u a : 2015 S 164 f ) Die Rolle der Rezensionszeitschriften hebt insbesondere auch Heeren hervor, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 215 f , der hier vor allem die ALZ tadelt, da sie sich als „ein sonst mit Recht geachtetes critisches Blatt […] dazu her [gab], das Organ einer erbosten Parthey zu werden“ und „die Beurtheilung […] dem erklärten Gegner des Verfassers überließ“ (ebd S 218) Vgl außerdem o V : Num 43/44 In: Ergänzungsblätter zur ALZ 3/1 (1803) Sp 337–349 (= Rez zu Wolfs Briefen an Herrn Hofrath Heyne) Eine gemäßigtere Kritik erschien in der Neuen Leipziger Literaturzeitung, vgl [Gottfried Johann Jakob Hermann]: 1 –4 St In: Neue Leipziger Literaturzeitung 1803 Sp 7–12; Sp 23–29; Sp 37–48; Sp 53–58 Deutlich sachlicher, im Duktus aber durchaus kritisch lässt Hermann Heynes Ilias-Ausgabe hier als zweitrangig hinter der Wolfs erscheinen 475 Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart S 480 f 476 Ebd S 481 477 Ebd

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Erfindung abgefasst worden sein, andererseits könne der Autor nach einem kompositorischen Plan ein Grundgerüst für die Epen abgefasst haben, das später durch andere Episoden erweitert wurde, und drittens könnten verschiedene mündlich weitergegebene Texte ähnlichen Inhalts im Umlauf gewesen sein, die „felix aliquod ingenium“478 – Heyne verwendet hier also nicht den Begriff poeta – zusammenfügte Möglichkeit eins, die radikal unitarische Lösung, obwohl die am meisten verbreitete, scheide als unwahrscheinlich aus, weil die uneinheitlichen und teils sogar widersprüchlichen Teile der Epen nicht in diese These integriert werden können und so angenommen werden müsste, dass ein hochgradig durchkomponiertes Werk wie aus dem Nichts von einem genialen Autor geschaffen wurde Außerdem müsse davon ausgegangen werden, dass die Götter, die darin vorkommen, Teil der antiken Religion waren und nicht von Homer erfunden wurden, sodass dieser zwangsläufig auf eine stoffliche Basis zurückgreifen musste 479 Die gemäßigt unitarische zweite Variante würde die äußere und innere Geschlossenheit der Ilias erklären, jedoch die Möglichkeit offenlassen, dass einzelne Teile später hinzugefügt wurden So könnte sich das ursprüngliche Werk nach der Intention des Autors nur auf die Niederlage der Achiver wegen der Abwesenheit Achills und nur auf Achills Zorn konzentriert haben und durch den Rest später ergänzt worden sein Problematisch sei nur, dass in dem Fall das ursprünglich kürzere Werk über längere Zeit in relativ unveränderter Form weitergegeben worden sein muss Dass es dabei nicht zu gravierenden Veränderungen kam, hält Heyne für fast ausgeschlossen 480 Für die dritte, die analytische Möglichkeit, dass die Ilias aus verschiedenen unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeitpunkten entstandenen Erzählungen ähnlichen Inhalts in ein Ganzes kompiliert wurde, spreche, dass es mit der Verbreitung literarischer Stoffe durch fahrende Rhapsoden übereinstimmt, die jeweils verschiedene Versionen weitergaben Weiterhin entspräche es genau jener von Heyne vermuteten Praxis langer mündlicher Überlieferung, durch die historische Ereignisse, die sich in den Epen verbergen, ins Unrealistische verzerrt und zu phantastischen Stoffen, also Mythen, ausgebaut worden seien 481 Heyne resümiert: „Hoc itaque fieri potuit, et factum esse probabile sit“,482 er plädiert somit eindeutig für Möglichkeit drei, weil „temporum rationibus, famae antiquae, antiquorum hominum usui et mori, exemplis similibus, naturae ingenii humani res convenit“ 483 Das antike Epos erscheint hier also als die älteste Schicht, in der die durch Rhapsoden tradierten, aber bereits durch lange Überlieferung transformierten Mythen der schriftlosen Vorzeit auf uns gekommen sind 478 Heyne: Excursus II de Iliade uniuerse, et de eius partibus, rhapsodiarumque compage In: Homeri carmina, Bd 8 S 802 479 Vgl ebd S 803 f 480 Vgl ebd S 804 f 481 Vgl ebd S 805 482 Ebd 483 Ebd S 806

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Heynes Vorstellungen von der Entstehung der Homerischen Epen um 1802 lassen sich entsprechend der logischen Ableitung aus seiner Mythentheorie folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst entwickelten die einzelnen Stämme ihre spezifischen philosophischen und historischen Mythen Diese wurden aufgrund des gestiegenen Bedarfs an Unterhaltung und der nun nicht mehr ausschließlich rituellen Funktion der Texte durch fahrende Rhapsoden verbreitet In dieser Phase wurden sie noch in der einfachen antiken Sprache tradiert, müssen aber bereits metrisch abgefasst gewesen sein, da sie als Volksdichtung auswendig memoriert wurden Homer fand zu seiner Zeit also vermutlich bereits verschiedene unabhängig voneinander entstandene, stark divergierende und mündlich überlieferte Kosmogonien und Theogonien vor Doch während Hesiod daraus eine scheinbar systematische Gesamtschau der Götterwelt484 erarbeitete, bettet Homer sie kunstvoll in einen packenden Plot ein und schafft so das erste Epos 485 Einem Dichter mit dem Namen Homer lagen also vielleicht um

484 Vgl bereits [Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 780 f (= Rez zu De Theogonia ab Hesiodo condita) Hesiods Theogonie beschreibt Heyne hier als „eine Compilation von ganz verschiedenartigen Stücken und Theilen, die schon vorhin in alten Gedichten einzeln ausgeführt oder enthalten waren, und welche Hesiod gar nicht systematisch, mit keiner philos Rücksicht, allem Ansehen nach nicht einmal mit philos und historischer Einsicht, sondern bloß als Dichter […] zusammengestellt hat“ (ebd ) Die darin enthaltenen Erzählungen „sind daher ganz verschiedner Art: einige sind physischen Inhalts, und enthalten die Begriffe der ältesten Weisen über die Entstehung der Dinge, den Streit der Elemente und die Entwickelung der Welt aus denselben […] Andere Fabeln enthalten das Andenken oder die Vorstellung von Naturbegebenheiten und Veränderungen durch Erderschütterungen, Feuerausbrüche u Sturmwinde, oder bezeichnen merkwürdige Naturerscheinungen […] Einige sind moral Inhalts und eigentl Allegorien“ (ebd S 781) 485 Solche älteren Theogonien könnten möglicherweise als Gedichte von Orpheus, Musaios, Linus und Eumolpus kursiert haben, vgl Heyne: De Theogonia ab Hesiodo condita S 131 f In der dazugehörigen Rezension bringt Heyne außerdem die Verdienste Homers und Hesiods nochmals prägnant auf den Punkt: „[S]ie [= Homer und Hesiod] haben die Entstehung, Abstammung und Geschlechtsfolge der Götter in Versen abgefaßt; dieß geht auf den Hesiod; sie haben die Gestalt der Götter festgesetzt, ingleichen die Namen, eigenthüml Vorzüge und Geschäfte der Götter; an den beyden letztern hat Homer so gut Antheil als Hesiod, aber so, daß er mythische Wesen in epische, handelnde, verwandelt hat […] Alles war vor ihnen schon vorhanden; aber das, was vorher einzeln zerstreuet war, haben sie gesammlet, gestellt, ins Reine gebracht, und auf den Fuß gesetzt, auf welchem die Fabel seitdem überhaupt geblieben ist“ ([Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 779) Ähnlich äußert sich Heyne auch 1801: „Die Übersicht aller der Abentheuer des Ulysses ergiebt es überhaupt deutlich: der Dichter setzte sie aus einer Menge bereits bekannter Erzählungen zusammen; alte Mährchen, alte Sagen und Dichtungen, die vielleicht schon in Gesänge verfasst waren, Schiffererzählungen, in welchen Wahres und Falsches vermischt war, verband er unter einander, verlegte alles in ein fabelhaftes Local, das der Dichtung Spielraum liess, und so bewirkte er, dass das Ganze, bey einem Schimmer von einigem Wirklichen, sich in eine Nacht von Erdichtetem verliert […] Sehr wohl konnten […] die Dichter ihre Fabeln in dieses westliche unbekannte Meer […] verlegen; der eine dichtete so, der andre anders; ohne allen Zusammenhang unter sich und mit andern So dichteten die Alten die Abentheuer des Perseus, der Hesperiden, des Hercules, die Insel Erythia, die Rückkehr der Argonauten So erdichtete sich auch der Dichter der Odyssee aus den Schiffererzählungen eine Insel, ein festes Land, eine Küste mit vorliegenden Inseln“ (Christian Gottlob Heyne: Über die Fabel vom Cyclopen Polyphem In: ders /Tischbein: Homer nach Antiken gezeichnet S 3 f )

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900 v Chr 486 solche verschiedenen Rhapsodien vor; dieser erkannte den stofflichen Zusammenhang zwischen den Gesängen und fügte sie „mirabili cum arte“487 zu geschlossenen Epen zusammen,488 weshalb einige inhaltliche Brüche erkennbar sind 489 Sprachliche Brüche sind deswegen relativ geringfügig, weil sich die Erzählweise und die sprachliche Form der antiken Rhapsodien aufgrund ihres Vortrags aus dem Gedächtnis ähneln mussten 490 Wie auch bei Wolf spielt bei Heyne – er selbst verweist dabei auf Wolf491 – die Frage nach Schriftlichkeit eine wesentliche Rolle für die Beurteilung der Homerischen Epen Im Gegensatz zu Wolf ist Heyne jedoch in der Frage, ob die Epen ursprünglich nur mündlich weitergegeben wurden oder bereits schriftlich fixiert waren, unentschieden, tendiert aber eher zu einer zunächst ausschließlich mündlichen Tradierung,492 486 Heynes Terminus ante quem ist die Erwähnung der Epen bei Herodot Er glaubt jedoch nicht, dass sie weit vor den Olympiaden entstanden sind, da die griechische Kultur bis dahin noch sehr primitiv gewesen sein muss, vgl Heyne: Excursus II de Iliade uniuerse, et de eius partibus, rhapsodiarumque compage S 807 Da Homer mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Ionien stamme, liefere einen weiteren Hinweis die Besiedlung Kleinasiens durch die Ionier Diese habe im zehnten und elften Jahrhundert vor Christus stattgefunden Homer muss dementsprechend später gelebt haben, vgl ebd S 826 487 Ebd S 806 488 Heyne zieht auch in Betracht, dass es ähnliche, jedoch weniger gelungene Kompilationen auch schon vor den Homerischen Epen gegeben haben könnte Unter dieser Voraussetzung würden die Epen nicht mehr als ein Wunderwerk erscheinen, das ohne Vorläufer plötzlich aus dem Nichts auftaucht Die Epen ließen sich so besser in einen längeren Entstehungsprozess einfügen, was zu der Natur kultureller Entwicklungsprozesse insgesamt eher passen würde, vgl ebd S 806 489 Vgl ebd S 817 f 490 Vgl ebd S 816 f 491 Vgl ebd S 812 f 492 Vgl bereits [Heyne]: 186 St In: GGA 1795 S 1861 Heynes Unentschiedenheit in dieser Frage geht deutlich aus seiner Rezension zu Johann Leonhard Hugs (1765–1846) Schrift Die Erfindung der Buchstabenschrift hervor Hug versuchte hier nachzuweisen, dass die Homerischen Epen von Anfang schriftlich fixiert worden sein mussten, da es bereits Schrift gab, die Epen ohne Schrift bei ihrer enormen Länge nicht hätten memoriert werden können und vor allem die Ilias äußerlich und innerlich so einheitlich und geschlossen sei, dass sie in einem Guss abgefasst worden sein musste, was mündlich nicht möglich gewesen wäre, vgl Johann Leonhard Hug: Die Erfindung der Buchstabenschrift, ihr Zustand und frühester Gebrauch im Alterthum, mit Hinsicht auf die neuesten Untersuchungen über den Homer Ulm: 1801 Heyne schreibt dazu, dass er „weder für, noch wider die Behauptung gestimmt ist, sondern sich an einen völligen Scepticismus hält, weil er […] für keinen Theil zulängliche Entscheidungsgründe sieht“ ([Christian Gottlob Heyne]: 175 St In: GGA 1801 S 1738) Da es „an sichern historischen Beweis fehlt“ (ebd ), müssten beide Varianten als möglich in Betracht gezogen werden, nur stelle sich die Frage nach der größeren Wahrscheinlichkeit Jedoch lasse sich einerseits „wahrscheinlich machen, daß Homer’s Gedichte gleich anfangs geschrieben worden sind“, andererseits gebe es „wieder andere Gründe, die wahrscheinlich machen, daß sie nicht geschrieben worden sind“ (ebd ) Endgültig entschieden werden könne in dieser Frage aber nicht, zumal „für beide Behauptungen Schwierigkeiten [bleiben], die sich durch keine Kunst heben und entfernen lassen“ (ebd S 1739) Heyne argumentiert gegen die Schriftlichkeitshypothese Hugs, dass in diesem Fall keine Rhapsoden notwendig gewesen wären, die allerdings in vielen Quellen erwähnt werden – von frühen schriftlichen Exemplaren wird jedoch nichts berichtet, vgl ebd S 1745 Außerdem stellt er die von Hug behauptete Geschlossenheit der Ilias in

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während sich Wolf sicher ist, dass die Epen in ihrer überlieferten Form Schriftlichkeit wegen ihrer Länge zwangsläufig voraussetzen 493 In den Exkursen schreibt Heyne, dass reisende Rhapsoden in der Antike, also sowohl vor als auch nach Homer, ihre Epen mündlich und auswendig vortrugen Über die Verschriftlichung der Homerischen Epen können jedoch nicht viele Aussagen getroffen werden, da kaum Referenztexte aus dieser Zeit erhalten sind Fest stehe nur, dass Schrift bereits einige Jahrhunderte, bevor sie für längere Texte gebräuchlich wurde, erfunden worden sein muss, es aber zunächst kein geeignetes Schreibmaterial gab und Schrift daher nur mühsam auf Metall oder Stein aufgebracht werden konnte 494 Für eine Fixierung langer Epen waren diese Materialien jedoch gänzlich ungeeignet Genau in dieser Phase der Schriftentwicklung sei die stoffliche Grundlage der Homerischen Epen entstanden, weil zwar Schrift darin erwähnt wird, jedoch keine anderen Schreibmaterialien als Stein und Metall 495 Also müssen die Homerischen Epen ohne Hilfsmittel memoriert worden sein Den Einwurf, dass diese dafür viel zu lang sind, lässt auch Heyne gelten; die Sänger können also nicht allein gereist sein, sondern müssen sich in Gruppen zusammengeschlossen haben, wobei jeder einen Teil auswendig vortrug, woraus sich auch die Geschlossenheit der einzelnen Episoden erkläre 496 In der überlieferten Form seien die einzelnen Teile der Homerischen Epen jedoch so kunstvoll miteinander verbunden, dass man davon ausgehen müsse, dass sie wenigstens von einer einzelnen Person überarbeitet und zusammengefügt worden sind, auch wenn Einzelnes nicht recht zur Gesamtkomposition passen mag 497 Heyne verweist hier auf Wolf, der die Fugen in den Homerischen Epen in seinen Prolegomena herausgearbeitet habe und auf dieser Grundlage das Kompilatorische der vorliegenden Form viel stärker betone 498

493

494 495 496 497 498

Abrede – heutige Geschlossenheit sei noch kein Argument dafür, dass sie von einem Einzelautor abgefasst wurde –, sodass dies als Argument für ein schriftliches Abfassen unzulässig werde, vgl ebd S 1745 f Darüber hinaus sei es nicht plausibel, „wie ein Gedicht von der Länge, zu einer Zeit, wo ein so unvollkommenes Alphabet, so unbequeme Materialien, so wenig Gebrauch und Übung im Schreiben war, geschrieben und gelesen hat werden können“ (ebd S 1746) Wolf geht davon aus, dass in der Entstehungsphase der Epen um 950 v Chr Schriftlichkeit noch kaum verbreitet war Auch die nachfolgenden Rhapsoden gaben die Epen ausschließlich mündlich weiter, vgl Wolf: Prolegomena ad Homerum S XL–CVIII (Kap 12-25) Für eine ausschließliche mündliche Tradierung seien die Epen jedoch in ihrer heutigen Länge deutlich zu umfangreich Wolf glaubte, es sei unmöglich, so viel Text auswendig vorzutragen Die Epen hätten also von Anfang an schriftlich fixiert sein müssen, wenn man davon ausgeht, dass sie in ihrer bekannten Länge von einer Einzelperson abgefasst wurden, vgl ebd S CIX–CXIII (Kap 26) Heyne moniert, dass es dazu „[a]n historischen Beweisen“ ([Heyne]: 186 St In: GGA 1795 S 1861) bei Wolf fehle Vgl Heyne: Excursus II de Iliade uniuerse, et de eius partibus, rhapsodiarumque compage S 796 f ; 812 Vgl ebd Ebd S 797 Vgl ebd S 799 f Vgl ebd S 800

7 6 Homer, die Homerischen Epen und die Homerische Frage

289

Heynes und Wolfs Ansichten zur Homerischen Frage unterscheiden sich damit sowohl vor als auch nach dem Erscheinen von Wolfs Prolegomena nicht prinzipiell, sondern lediglich graduell: Bei beiden stellen frühere mündlich tradierte Texte die Grundlage für die spätere Form der Epen dar, doch während Heyne viel stärker die Geschlossenheit der Epen, den „tenor […] totius carminis“,499 betont und die kompositorischen Eingriffe Homers als so elementar wertet, dass er bei ihm Verfasserstatus erhält, sieht Wolf in ihnen einen bunten Teppich aus Volksdichtungen verschiedenster Zeiten, die ohne größere Modifikationen zusammengestellt wurden Für Heyne ist Homer ein „ingenium […] praeclarum“ 500 Heyne glaubte, Homer habe lediglich auf die Stoffe zurückgegriffen, Wolf hingegen war der Ansicht, dass es sich bei der überlieferten Form der Epen um eine bloße Kompilation ausformulierter Erzählungen handelt Dass es einen Dichter mit dem Namen Homer gab und dass dieser die Epen in einem bewussten Schöpfungsprozess zusammensetzte, zweifelt Heyne nie an Er schreibt 1777, Homer habe die Epen „scite“,501 also bewusst, komponiert,502 und auch 1802 in seinen Exkursen in der Homer-Ausgabe bezeichnet er den Kompilator der Epen konsequent als den Dichter Homer; es ist nie die Rede von einer kollektiven Entstehung auf der konkreten Formulierungsebene; nie zweifelt er an der Existenz Homers – allerdings nicht aus Naivität: Er zieht hier bereits in Betracht, dass Homer seine Dichtungen vielleicht auf Basis einer „fama accepta, aut a poeta inuenta, aut mutata et ornata“503 verfasst haben könnte, sodass er lediglich die Gesänge „superiorum vatum“,504 früherer Sänger, verarbeitete und nun, nachdem diese vergessen wurden, als der älteste Verfasser gilt – dass es solche Dichter oder Sänger bereits vor Homer gegeben haben muss, geht, wie Heyne betont, aus den Homerischen Epen selbst hervor: In der Ilias könnten wohl kaum Dichter auftreten, wenn Homer selbst der erste gewesen wäre 505 Ein weiteres Argument dafür sei auch, dass die Homerischen Epen episodenhaft aufgebaut und stark untergliedert sind 506 Man könne daher vermuten, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten von verschiedenen Autoren formuliert wurden und erst später in ein Ganzes zusammengefügt wurden 507 Das Problem sei nur, dass es dafür keinerlei Belege, „nihil certa fide de Homero Homericisque carminibus traditum“508

499 500 501 502 503 504 505 506

Ebd S 802 Ebd S 806 Vgl Heyne: De origine et caussis fabularum Homericarum S 46 Vgl ebd Heyne: Excursus I ad Il Θ, 18 sqq de mythis Homericis S 169 Ebd Vgl Heyne: Excursus II de Iliade uniuerse, et de eius partibus, rhapsodiarumque compage S 777 Eine sehr ausführliche Beschreibung der Gliederung der Ilias nimmt Heyne in einem der letzten Exkurse in Band acht vor, vgl ebd S 780–788 507 Vgl Heyne: Excursus I ad Il Θ, 18 sqq de mythis Homericis S S 171 508 Heyne: Excursus III de Homero, Iliadis auctore S 820

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7 Heynes Mythentheorie

gibt Er hält solcherlei Spekulationen dementsprechend für vollkommen vergeblich und handelt damit in gewisser Weise sogar konsequenter als Wolf Er sah sich in diesem Punkt viel stärker jeglicher Vermeidung von Spekulation verpflichtet und will sich daher „ad ipsum carmen“,509 einzig und allein auf den Quelltext, und nicht auf den Autor, „de quo nihil scitur“,510 konzentrieren Aussagen über Homer liegen folglich für Heyne mangels vorhandener Beweise außerhalb jeder Erkenntnismöglichkeit; er muss sich daher der damals üblichen Einzeldichterthese anschließen Erst später löst er sich stärker von diesem Standpunkt So stellt er in der späteren Abhandlung Sermonis mythici seu symbolici interpretatio von 1807 fest, dass die homerischen Mythen, also die Erzählstoffe der später überlieferten homerischen Versionen, bereits vor der homerischen Zeit „non a poeta“,511 also entweder von mehreren Dichtern oder einem Stammeskollektiv, erfunden wurden 512 Wie gezeigt wurde, steht Heyne in der Debatte um die Homerische Frage trotz aller Rivalität auf der Seite Wolfs, wenn er auch letztendlich als Verlierer des Streits dastand und, wie er an Böttiger schreibt, „mit Koth und Steinen beworfen davon nach Hause gieng“ 513 Auch für ihn sind sie letzten Endes Volksdichtung, wenn auch nicht mit der Konsequenz wie bei Wolf, wodurch er, wie Nesselrath glaubt, dem Kompilator der Epen „erheblich mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen [dürfte] als Wolf “ 514 Seine „insgesamt hohe Schätzung des Schöpfers der Gesamt-Ilias“515 ließe sich darüber hinaus durchaus in Einklang bringen mit heutigen (deutlich unitarisch geprägten) Ansichten, die zu Recht die kompositorische Gesamtleistung des Ilias-Dichters hervorheben 516

Doch bleibt der künstlerische Wert der Epen bei Heyne unangetastet Für ihn ist die Ilias nach wie vor ein „carmen antiquissimum, ac praestantissimum“,517 ihr Autor oder ihre Autoren „ingeniosissim[i]“ 518 Bei aller kritischen Auseinandersetzung mit der Autorenschaft der Epen bleibt der Begriff Homer bei ihm ein „sanctum […] ac venerabile nomen, quod per omnia saecula manebit“ 519

509 Heyne: Excursus I ad Il Θ, 18 sqq de mythis Homericis S 170 f 510 Ebd Die antiken Homerviten verwirft Heyne als unzuverlässig, vgl Heyne: Excursus III de Homero, Iliadis auctore S S 822–825 511 Heyne: Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 302 512 Vgl ebd 513 Christian Gottlob Heyne: 155 Heyne an Böttiger, Göttingen, 26 August 1803 In: Sternke/Gerlach (Hg ): Karl August Böttiger S 173 514 Nesselrath: Heyne und die Homerische Frage S 41 515 Ebd S 42 516 Ebd 517 Heyne: Excursus III de Homero, Iliadis auctore 8 S 820 518 Ebd 519 Ebd An anderer Stelle äußert er sich jedoch in deutlich weniger panegyrischem Tonfall über Homer und schreibt die Entstehung der Epen eher äußeren Umständen zu So formuliert er 1792 –

7 6 Homer, die Homerischen Epen und die Homerische Frage

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Heynes Ausführungen zu Homer und den Homerischen Epen machen deutlich, wie seine Theorie über die Entstehung und Tradierung von Mythen im konkreten Fall, nämlich hinsichtlich ihrer Überlieferung in Ilias und Odyssee, zum Tragen kommt Allein aus seiner Überzeugung heraus, dass die Genese von Mythen über Volksdichtung verlief und sich diese erst später im Epos, der heutigen Textquelle, niederschlugen, musste er den Standpunkt vertreten, dass die Epen nicht von einem Dichtergenie vollkommen neu geschöpft wurden: Mythen entstehen für ihn gemeinschaftlich Mythisches ist ganz klar in den Homerischen Epen enthalten Ergo muss Homer auf kollektiv geschaffene Vorlagen zurückgegriffen haben Andernfalls wären alle mythischen Stoffe aus Ilias und Odyssee traditionslose Kunstprodukte aus der Zeit des Homer Die Epen enthielten dann gar keine Mythen, sondern wären ein Fantasy-Epos – eine Sichtweise, die ihnen in Heynes Augen „ein Ansehen der Frivolität, etwas […] Läppisches und Possenhaftes“520 verliehe Diese Annahme hätte Heynes übrigen mythentheoretischen Schriften daher vollkommen widersprochen Er kann damit auch vor dem Erscheinen der Prolegomena Wolfs nicht mehr, wie von diesem unterstellt, der gängigen ‚Einzeltätertheorie‘ angehangen haben – sein Homerbild geht vielmehr folgerichtig schon aus seinen frühen mythentheoretischen Schriften hervor Den ausführlichen philologischen Nachweis Wolfs brauchte er dafür nicht, weil für ihn das kollektiv entstandene Grundgerüst vollkommen logisch vorausgesetzt werden musste

also zehn Jahre vor dem Erscheinen der Homer-Ausgabe – folgendes: „Vieles war mehr sein Glück: daß er in Ionien lebte, daß er in einem Zeitalter lebte, wo alles noch der epischen Poesie so günstig war; die Einfalt des Lebens, die starken Ausdrücke der Gefühle und Leidenschaften, die schöne Bildersprache; und daß er der Erste war, der von allem die Blüte pflückte“ (Heyne: Vorrede In: LeChevalier: Die Beschreibung der Ebene von Troja S XIX) 520 [Heyne]: 40 St In: GGA 1777 S 626 (= Rez zu De origine et caussis fabularum Homericarum)

Kapitel 8 Der wissenschaftliche Nutzen der antiken Mythologie und Heynes Antikebild Heyne beschreibt in seinen Abhandlungen zur Mythentheorie sehr detailreich und präzise, wie Mythen entstanden sind und was sie über die Menschen der Antike offenbaren können Generell stellt sich jedoch die Frage, welchen Stellenwert er der antiken Mythologie innerhalb der Wissenschaften einräu Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vo mt, wozu die Beschäftigung mit Mythologie und die Rekonstruktion von Mythen seiner Ansicht nach letztlich dienen können Heyne weist der Mythenforschung nicht nur innerhalb der Altertumswissenschaften eine tragende Rolle zu, sondern ist der Auffassung, dass Mythen – wobei nicht nur die griechischen und römischen Götter- und Heldenerzählungen des klassischen Altertums im Mittelmeerraum, sondern die Mythen aller Völker und Zeiten gemeint sind – für jeden, der sich mit den Anfängen von Geschichte, Philosophie, Religion, Kunst, sprich mit menschlicher Kultur, beschäftigt, ein unumgängliches Gebiet sind, da Mythen für den Geschichtsforscher und für den Philosophen, der die ersten Keime menschlicher Begriffe und Vorstellungsarten, insonderheit sittlicher und religiöser Art, aufsuchet, […] schätzbare Ueberbleibsel aus einer Sündfluth, welche sonst alle Spuren der alten Menschenkunde vertilget hat,1

sind Er wird daher nicht müde, immer wieder zu betonen, wie wichtig und gewinnbringend es für die Beschäftigung mit antiker Geschichtsschreibung und Philosophie ist, von den Mythen dieser Zeit auszugehen und immer wieder auf sie zurückzukommen 2 Heyne schreibt, dass er selbst durch seine Beschäftigung mit Alter Geschichte unweigerlich auf alte Mythologie stoßen musste, dass beide Gebiete zum Teil ineinander überfließende Grenzen hätten und so eng miteinander verflochten seien, dass sie zuweilen nicht voneinander unterschieden werden könnten Er habe außerdem 1 2

Heyne: Vorrede In: Hermann: Handbuch der Mythologie, Bd 1 S a3v Vgl Heyne: Praefatio In: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae S 3 f ; 5 f ; Sermonis mythici seu symbolici interpretatio S 288

8 Der wissenschaftliche Nutzen der antiken Mythologie und Heynes Antikebild

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erkannt, dass in den alten Mythen ein wesentlicher Teil der Ursprünge der Völker, die Denkweisen, Wahrnehmungen und das Wissen der antiken Menschen an den Anfängen der menschlichen Kulturgeschichte enthalten sind, dass dadurch die ersten philosophischen Reflexionen und die Entwicklung der heidnischen Religionen nachvollziehbar sind und dass von der Sprache, in der die Mythen einst formuliert waren, die spätere Dichtersprache ausgegangen ist 3 Sich mit Mythologie auseinanderzusetzen heißt daher, den Blick auf den Anfang und Ursprung menschlicher Kulturgeschichte zu richten Eine primitive, kindliche, kaum entwickelte Menschheit wird damit zum Ausgangspunkt jeder Zivilisation Man dürfe deswegen die Mythen in ihrer Bedeutung keinesfalls unterschätzen oder als einer wissenschaftlichen Beschäftigung unwürdig disqualifizieren Ein Nutzen zum Zweck neuer Erkenntnis könne aber nur durch richtige Vorstellungen von der Bedeutung und dem Wesen der antiken Mythologie gewonnen werden Will man also nach dem Wesen, den Fähigkeiten und den Gesetzen des menschlichen Verstandes suchen und gewissermaßen die Annalen des menschlichen Denkens verfassen, sei ein wissenschaftliches Durchdringen antiker Denkstrukturen unerlässlich, auch wenn die Wissenschaft mittlerweile nach Genauigkeit und Wahrheit strebe,4 die bei antiken Mythen jedoch nicht erwartet werden könne 5 Auch für eine allgemeinere Beschäftigung mit Religion und gerade für die Erforschung der Frage, wie und warum Religion entsteht, habe es sehr großen Nutzen, die Entstehung von Mythen zu ergründen, da Heynes Ansicht nach Religionen in Mythen ihren Ursprung haben 6 Dabei entsprach diese Haltung keineswegs dem gängigen Paradigma Mythologie gehörte als Schulwissen bis weit ins 18 Jahrhundert nicht in die höhere Ausbildung und damit auch nicht an die Universität Sie wurde maximal als Teil des altphilologischen Studiums für relevant erachtet Erst nach und nach änderte sich diese Auffassung gegen Ende des 18 Jahrhunderts Mythologie gewann durch die neuen Disziplinen Archäologie, Religionswissenschaft und Anthropologie eine neue Relevanz und verlangte daher nach einer Neuinterpretation, in die religionswissenschaftliche und anthropologische Fragestellungen integriert wurden Nicht umsonst glaubte Heyne wohl daher noch 1782, den „Vorwurf, daß er sich mit etwas wichtigerm hätte beschäftigen können“,7 anstatt sich einer neuen Apollodor-Ausgabe und damit einem mythologischen Gegenstand zuzuwenden, explizit abwehren zu müssen Heyne nahm also deutlich wahr, dass die Frage im Raum schwebte, „wozu gelehrte Forschungen dieser Art nützen sollen“,8 3 4 5 6 7 8

Vgl Heyne: Praefatio In: Apollodori Atheniensis bibliothecae libri tres et fragmenta S VI Vgl Heyne: Nonnulla ad quaestionem de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis S 189 Vgl Kap 7 5 S 263 f Vgl Heyne: De opinionibus per mythos traditis S 148 [Christian Gottlob Heyne]: 98 St In: GGA 1782 S 785 [Christian Gottlob Heyne]: 116 St In: GGA 1786 S 1156, so Heyne in seiner Rezension zu Johann Wilhelm Ludwig Mellmanns (1764–1795) Commentatio de caussis et auctoribus narrationum de

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8 Der wissenschaftliche Nutzen der antiken Mythologie und Heynes Antikebild

denn: „Wären Fabeln nie in die Welt gekommen, so wäre es für den Menschenverstand besser“ 9 Dem setzt er aber ein kulturhistorisches Argument entgegen: Nun aber hat es der Himmel einmal gewollt, daß wir unsere Seelenkräfte üben und unsern Geschmack nach Mustern, die vor uns gewesen sind, bilden sollen; diese behandeln solche Fabeln: und nun ist es nicht gleichgültig, ob wir von diesen richtige, oder falsche, oder gar keine Vorstellung haben Alles hängt zusammen bis in den Religionsbegriff hinein 10

Der Mensch habe also aufgrund seines Bewusstseins um die eigene Historistizität die Pflicht, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, da ihn diese zu dem macht, was er ist Eine Abwendung von antiken Mythen sei daher nur dann legitim, wenn wir ein neu Menschengeschlecht schaffen können, das ganz neu aus dem Schooß der Natur hervorgehet, und seine Cultur ganz für sich, ohne fremdes Muster, anfängt 11

Nur dann wären „wenige reine physische und sittliche Kenntnisse […] hinlänglich […], es glücklich zu machen“;12 nur dann bräuchte man „weder Griechisch noch Latein, eben so wenig als Mosen oder die Propheten“ 13 In der Realität stütze sich jedoch unser ganzer gesellschaftlicher Zustand auf das Vorhergehende und Vergangene […], und unsere Religion, Gesetzgebung, Moral, [beruhet] auf so vielem […], was eigentlich historisch ist;14

es gebe keinen einzigen Staat, dessen Verfassung nicht auf die ersten rohen Vorstellungsarten von Vorfahren, welche Barbaren waren, auf alte celtische, gothische, slavische, tatarische Gebräuche und Sitten sich gründete 15

Bereits im Januar 1765 schreibt er in seiner Programmschrift Nonnulla in vitae humanae initiis a primis Graeciae legumlatoribus ad morum mansuetudinem sapienter instituta, dass es elementar sei, den „ortus […] et progressus humanitatis“,16 den Anbeginn der Menschheit zu verstehen, um „omne literarum genus“,17 also Kultur, die „cum nostra

9 10 11 12 13 14 15 16 17

mutatis formis ad illustrandum maxime et diiudicandum opus Metamorphosium Ovidianum von 1786 Er schließt hier eine Reflexion darüber an, welchen Sinn das Nachdenken über die Ursprünge der überlieferten Schriften mythischen Inhalts haben kann [Heyne]: 116 St In: GGA 1786 S 1156 Ebd [Heyne]: 139 St In: GGA 1787 S 1387 (= Rez zu des Hermanns Handbuch der Mythologie, Bd 1). Ebd Ebd S 1388 Ebd Ebd Heyne: Nonnulla in vitae humanae initiis S 208 Ebd

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natura“18 aufs Engste verbunden sei, begreifen zu können Im Kontrast und Beispiel früherer Muster, in den Mythen, finde sich also der Schlüssel zur Geschichte des eigenen Denkens und Glaubens und damit auch zur eigenen Identität Niemand könne sich in der Konsequenz ernsthaft mit dem Menschen, seinem Denken, seiner Sprache und seinem Verhalten auseinandersetzen, ohne deren Anfänge verstanden zu haben 19 Heyne führt damit den wissenschaftlichen Umgang mit Mythen nicht nur in das Feld der Altertums- und Literaturwissenschaft neu ein Er betont in seinen Darlegungen über Mythentheorie und insbesondere in seinen Erkenntnissen über die Erzählund Denkweise primitiver Menschen, den sermo mythicus oder symbolicus, auch den Nutzen für die christliche Theologie, Bibelexegese und Religionswissenschaft 20 Wie in Kapitel 6 2 gezeigt werden konnte, sah Heyne in der Befruchtung der Altertumswissenschaften durch die Ethnologie eine gewinnbringende Möglichkeit, Religions- und Mythenentstehung in der Gegenwart nachvollziehen zu können In dem Doppelaufsatz Vita antiquissimorum hominum leitet er die Grundmuster der Entstehung von Religionen exemplarisch aus den religiösen Denkschemata und Handlungen der antiken Griechen und der indianischen Völker Nordamerikas ab Indem Heyne in diesem Essay nicht nur behauptet, sondern auch zeigt, dass ethnographische Erkenntnisse für die Altertumswissenschaften gewinnbringend herangezogen werden können, offenbart sich hier ein fundamentales Element für das Verständnis seines Antikebildes Seine Methode, sich dem Altertum und seinem besonderen Interessenschwerpunkt, der antiken Kunst und Poesie, zu nähern, ist die sinnlich-anschauliche Vergegenwärtigung, das Hineinversetzen in den antiken Menschen mit seinen Wahrnehmungen und Gedanken Schon allein dass Heyne es für notwendig erachtet, durch drei seiner vierzehn Regeln aus der Schrift Sermonis mythici seu symbolici interpretatio darauf hinzuweisen, bei der Deutung antiker Mythen eine moderne Perspektive aufzugeben und stattdessen die antike einzunehmen, zeigt, dass dies seine erste und wichtigste Maxime beim Umgang mit Mythologie war So weist Heyne auch in anderen Abhandlungen darauf hin, dass bei der Untersuchung eines Mythos beachtet werden müsse, dass das Denken und die Sprache der antiken Menschen nicht nach heutigen Maßstäben betrachtet werden dürfen, sondern dass in erster Linie immer der antike Entstehungshorizont bei jeder Untersuchung einbezogen werden muss 21 Dazu diente ihm einerseits die antike Literatur, allem voran Homer Durch die Homerischen Epen fühlte sich Heyne 18 19

20 21

Ebd Vgl ebd S 208–210 Heyne betont hier insbesondere die Wichtigkeit von Kenntnissen über primitive Gesellschaften für die Beschäftigung mit antiker Literatur, vor allem den Homerischen Epen Die antiken Texte können, so Heyne, nur unverständlich sein, wenn man die Gesellschaft, in der sie entstanden, nicht begreife Vgl Heyne: Praefatio In: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae S 6; Vgl Heyne: Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata S 13; De opinionibus per mythos traditis S 144; Praefatio In: Apollodori Atheniensis bibliothecae libri tres et fragmenta S VII; De origine et caussis fabularum Homericarum S 34; 40, Anm d)

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in die antike Welt ein, er glaubte, unter dem Schleier poetischer Ausschmückung und Fiktion das harte Leben des antiken Menschen erkennen zu können, das seine Wahrnehmungen lenkte und sein Denken formte Andererseits näherte er sich auch über die gegenständlichen Relikte des Altertums der damaligen Lebenswelt Es muss daher Folgendes „[d]ie erste Regel der Hermeneutik der Antike“22 sein: Jedes alte Kunstwerk muß mit den Begriffen und in dem Geiste betrachtet werden und beurtheilt werden, mit welchen Begriffen und in welchem Geiste der alte Künstler es verfertigte Man muß sich also in sein Zeitalter, unter seine Zeitverwandten versetzen, diejenigen Kenntnisse und Begriffe zu erreichen suchen, von denen der Künstler ausging; die Absicht seiner Arbeiten so viel möglich aufsuchen 23

Und schließlich verhalfen ihm die Reisebeschreibungen seiner Zeit und die damals entstehende Völkerkunde zu neuen Erkenntnissen in der Altertumswissenschaft: Durch Beschreibungen von Völkern, die auf einer ähnlichen kulturellen Entwicklungsstufe stehen wie die Griechen zur Zeit der Entstehung der Homerischen Epen, konnte er die Ansichten, die er aus der Lektüre von Ilias und Odyssee gewann, vervollständigen und erweitern, da ihm so das Leben in Urgesellschaften und die Denkweise kulturell wenig entwickelter Menschen noch klarer wurde – die „erweiterten ethnographischen Kenntnisse vergegenwärtigten die Homerische Welt“,24 weil er davon ausging, dass das menschliche Denken und davon abhängig auch kulturelle Entwicklung überall und zu jeder Zeit nach gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Mustern verlaufen und damit die Übertragbarkeit von Erkenntnissen aus der Ethnographie auf die Altertumswissenschaft gegeben ist Die damals populären Beschreibungen von Völkern des Orients zeigten ihm die Bedingungen und Eigenheiten eines naturnahen nomadischen Lebens in Stämmen, das seiner Ansicht nach auch die Urbevölkerung Griechenlands zur Zeit der Entstehung ihrer Religionen geführt haben muss Aus den frühen ethnographischen Schriften, die sich mit den indigenen Bevölkerungen Afrikas und der Südsee auseinandersetzen, extrahierte er dies ebenso wie die Charakteristika junger polytheistischer Religionen, weil „Griechenland […] in seinen ältesten Zeiten in keinem andern Zustande [war], als die meisten jetzigen wilden Nationen“,25 wie etwa die 22 23 24 25

Heyne: Lobschrift auf Winkelmann S 13 Ebd S 13 f Heeren: Christian Gottlob Heyne S 208 [Heyne]: 3 St In: GGA 1765 S 17 Heyne schreibt dies in der Rezension zu seinem Aufsatz Nonnulla in vitae humanae initiis a primis Graeciae legumlatoribus ad morum mansuetudinem sapienter instituta, in dem es um die Entstehung von Gesetzgebung in primitiven Gesellschaften geht, im lateinischen Original vgl Heyne: Nonnulla in vitae humanae initiis S 208 f Den Unterschied zwischen antiken und neuzeitlichen primitiven Gesellschaften macht laut Heyne lediglich „vielleicht ein gelinderes Clima“ ([Heyne]: 3 St In: GGA 1765 S 17) in Griechenland aus und der Umstand, dass „[s]tatt der Spanier und Holländer […] Leute von Genie und wahre Weltweise“ (ebd ) dort anlandeten und ihnen kulturelle Errungenschaften brachten Aus diesem Grunde hatten Griechenlands „Einwohner […] ein besser Glück als unsere heutigen Indianer“ (ebd )

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Ureinwohner der Karibik und Brasiliens 26 Mittels Vergleich und Übertragung, Ableitung und Analogiebildung gewann er durch diese Gesellschaften, die wie auch die alten Griechen von jeglicher neuzeitlicher europäischer Kultur und monotheistischen Religionen noch vollkommen unberührt und in ihrer Entwicklung unbeeinflusst waren, neue Einsichten in das Leben des antiken Menschen und untermauerte seine Schlussfolgerungen, die er bereits aus der antiken Literatur gezogen hatte Auf diese Weise wandte er ethnographische Erkenntnisse auf die Altertumswissenschaften an und trieb damit sein „Studium der Geschichte der Menschen in ihrem ersten Zustand und in den verschiedenen Stuffen ihres Uebergangs zum gesitteten Leben“27 voran, das seiner Ansicht nach nicht allein viel Annehmlichkeit, sondern auch großen Nutzen zur richtigen Kenntniß des Menschen und des gesellschaftlichen Lebens, folglich des wichtigsten Theils der Weltweisheit, theils zum wahren Verständniß der alten Schriftsteller, besonders des Homers28

hatte Damit war er der Erste, der noch vor der Ausdifferenzierung der Kulturwissenschaften in ihre Teildisziplinen durch interdisziplinäres Arbeiten Texte schuf, die heute in die Alltags-, Sozial- und Kulturgeschichte einschlagen würden 29 Mit Heyne vollzieht sich damit ein elementarer Schritt für die Entdeckung des kultur- und religionswissenschaftlichen Wertes antiker Mythologie, die hier erstmals aus dem Feld der Philologie in die Anthropologie überführt wird und damit eine Neuinterpretation als Schlüssel zum Verständnis menschlichen Denkens erfährt Interdisziplinarität war Heyne also sehr wichtig, obwohl die meisten der von ihm herangezogenen Disziplinen noch gar nicht als solche etabliert waren So spielten etwa seine mythologischen Studien auch für seine archäologischen Forschungen eine entscheidende Rolle, indem er die Ikonographie der antiken Götter und die Darstellungsweisen mythologischer Inhalte behandelte 30 Folglich wurde Heyne als Gelehr26 27 28

29

30

Vgl Heyne: Nonnulla in vitae humanae initiis S 211 [Heyne]: 3 St In: GGA 1765 S 17 Ebd So sei beispielsweise das monarchische System der Achiver zu Zeit der Entstehung der Homerischen Epen mit dem der amerikanischen Ureinwohner vergleichbar Agamemnon habe also nicht wie ein König im 18 Jahrhundert geherrscht, sondern eher wie ein Stammeshäuptling Folglich könnte auch der gesamte Trojanische Krieg in ähnlicher Weise wie die Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen Nord- und Südamerikas geführt worden sein, vgl Heyne: Nonnullae in vitae humanae initiis S 210 f Diese Vorreiterrolle hebt insbesondere auch Heynes Biograph Heeren hervor, wenn er schreibt: „Allerdings kam Heyne’n hier sein Zeitalter zu Hülfe Die großen Entdeckungen der Völkerkunde, die Bekanntschaft mit Völkern, die noch jetzt in dem Kreise ihrer Mythen leben, führten zu neuen und richtigen Begriffen über diese überhaupt Aber es bleibt doch das Verdienst von Heyne, die zuerst aufgefaßt, und auf das Altertum angewandt zu haben“ (Heeren: Christian Gottlob Heyne S 194), vgl außerdem ebd S 208 So untersuchte er beispielsweise in der Societätsabhandlung De auctoribus formarum quibus artis operibus efficti sunt von 1786 die Entwicklung der antiken Götterdarstellungen, wobei die antike Dichtung wesentlich zur Ausdifferenzierung des Aussehens, der Eigenschaften und Attribute der

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ter „wohl ziemlich allgemein als einer der ersten in Rücksicht des Umfanges und des Reichthums seiner Kenntnisse betrachtet“ 31 Dabei beschränkte er sich keineswegs nur auf den Kern seines eigentlichen Fachgebiets, die Klassische Philologie, sondern befasste sich auch mit allen angrenzenden Fächern Dennoch war die classische Litteratur […] doch stets bey ihm jener Mittelpunkt, von dem Alles ausging, auf den Alles zurückführte […] Sie war bey ihm das Mittel zu jener edlern Ausbildung für das Wahre, das Gute, das Schöne 32

Dementsprechend sah er sich selbst als Humanisten, allerdings keineswegs mit ausschließlichem Schwerpunkt auf der Philologie Er ging in seinem Verständnis der Altertumswissenschaften weiter, sah nicht die antike Sprache als den einzigen Sinn und Zweck der Beschäftigung mit der Antike an und auch nicht, „[d]as zu erläutern, was wir unter dem Nahmen von Alterthümern begreifen“,33 war sein eigentliches Ziel Er war bestrebt die Antike ganzheitlich zu fassen und den Geist dieser Zeit, den er vor allem aus den damaligen poetischen Schriften zu extrahieren versuchte, aufzudecken Aus diesem Grund nennt Heeren Heynes „ganze Ansicht des Alterthums eine poetische Ansicht“,34 das heißt, daß es nicht bloß auf Sprachgelehrsamkeit, daß es vielmehr auf Bildung des Geschmacks, auf Veredlung des Gefühls, auf Vervollkommnung unserer ganzen moralischen Natur bey diesem Studio abgesehen sey 35

Moral und Wissenschaft sind damit für Heyne eng miteinander verbunden Er selbst erklärt dies bereits 1763 in seiner ersten Programmschrift für die Universität De morum vi ad sensum pulchritudinis quam artes sectantur und drei Jahre später in einer weiteren Rede De elegantiorum artium ac studiorum usu et fructu ad disciplinam academiarum publicam, in der er den Nutzen der schönen Wissenschaften und Künste für das Universitätsleben und die Gesellschaft überhaupt beschreibt Die Beschäftigung mit der Kunst und Poesie der Antike, schreibt er hier, bringen „dem Gemüthe überhaupt ein Gefühl

31 32 33 34 35

Götter beigetragen habe, vgl Heyne: De auctoribus formarum quibus dii in priscae artis operibus efficti sunt Auch Winckelmann hatte sich in seinen letzten Jahren im Rahmen seiner Monumenti inediti spiegati ed illustrati von 1767 intensiv mit Ikonographie beschäftigt Heyne kritisierte Winckelmann jedoch auch hier, indem er ihm Unwissenschaftlichkeit vorwarf Er habe Dinge erklären wollen, die (noch) nicht erklärt werden konnten, musste sie folglich erraten und hat damit „die Krankheit der Zeichendeuterey und Wahrsagerkunst in die Alterthumskunde“ (Heyne: Lobschrift auf Winkelmann S 24) gebracht Heyne hingegen forderte, dass zunächst nur Fakten berücksichtigt werden dürften Dazu sei zuerst eine umfassende Zusammenstellung aller Überlieferungsvarianten eines Mythos in Literatur und Kunst ohne Interpretationen notwendig Heeren: Christian Gottlob Heyne S 184 Ebd S 185 Ebd S 186 Ebd Ebd S 187

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und einen Geschmack an allem, was schön, edel, groß, fein, rühmlich, ist, bey“ 36 In den Wissenschaften, die sich mit dem Altertum auseinandersetzen, sei also Schönheit ihr Hauptgegenstand; sie setzen alle feinere Empfindungskräfte in Bewegung, die auserdem Zeitlebens unthätig bleiben, oder wenigstens von den blos thierischen Trieben und Begierden unterdrückt werden; sie läutern unsre Neigungen und Affekten, und bringen eine Weichlichkeit in das Herz, welche […] nie üble Folgen haben kan 37

Doch den Sinn für diese Schönheit kann für Heyne nur ein ganzheitlicher, umfassender Blick auf die Antike gewährleisten, da einzig und allein auf diese Weise die Ästhetik dieser Zeit begriffen werden kann 38 Er schreibt: subtile Schlüsse, Eintheilungen, Absonderungen, und selbst das feinste Gewebe der Systemen, alles dienet vortrefflich zu Aufklärung des Verstandes, aber auf das Herz treffen alle diese Dinge nie; sie müssen erst sinnlich gemacht und für die Empfindung und Einbildung umgearbeitet worden seyn 39

Wenn Erkenntnisse aus den besten Schriftstellern aller Nationen und Zeiten erlernt werden, welche von den edelsten Handlungen, von uneigennützigem Betragen, allgemeiner Menschen- und Vaterlandsliebe, mit den schönsten Grundsätzen, Sentenzen, Gedanken und Maximen angefüllt sind,40

kann und muss sich Wissenschaft, insbesondere die Altertumswissenschaften, auf die Humanisierung der Gesellschaft erstrecken, indem jungen Menschen an Universitäten mit solchen Autoren in Berührung gebracht werden und durch den Eindruck des 36 37 38

39 40

[Christian Gottlob Heyne]: 119 St In: GGA 1766 S 946 (= Rez zu De elegantiorum artium ac studiorum usu et fructu ad disciplinam academicarum rerum, Programmschrift zum Gründungsjubiläum der Universität am 17 09 1766) Ebd Nicht zuletzt dieser ganzheitliche Ansatz Heynes mag Goethe dazu bewogen haben, sich ein Studium in Göttingen bei Heyne und Michaelis zu wünschen, vgl Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit Berlin/Weimar: 1976 (= Goethe, Berliner Ausgabe, Bd 13, Poetische Werke, Autobiographische Schriften I) S 262 Im selben Werk zitiert Goethe auch eine längere Passage aus Heynes Rezension über Johann Gottlieb Lindners Buch Lehrreicher Zeitvertreib Ovidianischer Verwandlungen, die 1765 im ersten Band der Allgemeinen deutschen Bibliothek erschien – jedoch ohne zu wissen, dass es sich bei dem Rezensenten um Heyne handelte Heyne schrieb hier, dass durch antike Literatur die „Seelenkräfte, welchen man ihre gehörige Kultur, und zwar in den ersten Jahren gleich, zu geben nicht verabsäumen muß und die man doch weder mit Logik und Metaphysik, Latein oder Griechisch kultivieren kann“ (zit in ebd S 383) geschärft werden müssen Der „Einbildungskraft“ müsse daher „die schicklichsten und schönsten Bilder“ – in Form antiker Poesie wie zum Beispiel Ovids Metamorphosen – vorgelegt werden, um „das Schöne überall und in der Natur selbst unter seinen bestimmten, wahren und auch in den feineren Zügen zu erkennen und zu lieben“ (zit in ebd ) [Heyne]: 119 St In: GGA 1766 S 946 Ebd S 947

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8 Der wissenschaftliche Nutzen der antiken Mythologie und Heynes Antikebild

Schönen und Edlen durch der Antike auch eine Erziehung in Moral und Ethik erhalten Der Sinn der Beschäftigung mit der Antike und ihren Mythen, ja mit Wissenschaft überhaupt, ist bei Heyne damit die Überwindung von „Wildheit und Brutalität“,41 die Schulung des Geschmacks und letzten Endes die Vervollkommnung von Ethik und Moral durch Ästhetik 42

41 42

Ebd Ähnliche Gedanken tauchen Jahre später deutlich komplexer auch bei Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und in den Schriften der Philosophen des deutschen Idealismus auf Fornaro urteilt daher, dass „die akademischen Reden Heynes in mancher Hinsicht Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795 vorweg[nehmen]“ (Sotera Fornaro: Das Studium der Antike von Heyne bis Boeckh In: Christian Hackel / Sabine Seifert (Hg ): August Boeckh, Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik Berlin: 2013 S 202)

Kapitel 9 Heynes Verdienst und Bedeutung für das moderne Mythenverständnis Bis weit ins 18 Jahrhundert galten die antiken Götter- und Heldenerzählungen als fabulae, als reine Fiktion ohne verbindlichen Sinn und fernab der Realität, als unerschöpfliche Motiv- und Stoffquelle für Dichter, Musiker und bildende Künstler oder aber als Blasphemie und heidnischer Irrglaube Nur unter diesen Gesichtspunkten erschienen sie meist überhaupt einer Beschäftigung wert Nicht zuletzt dienten sie auch als ein geeignetes Beispiel, um die Überlegenheit der eigenen Kultur zu demonstrieren Diesem kulturchauvinistischen Verständnis von Mythologie stellte Christian Gottlob Heyne ein neues Mythenkonzept entgegen: Mythen sind nun keine Fabeln mehr, keine literarischen Texte der Urzeit von mehr oder minder achtbarem künstlerischem Wert; Mythen sind bei ihm die erste und daher – im wörtlichen Sinne – primitive nichtwörtliche Denk- und Ausdrucksform der Menschheit in ihrem Kindheitsstadium, resultierend aus dem urmenschlichen sprachlichen Unvermögen, und gehen somit jedem dichterischen nichtwörtlichen Sprechen, jedem bewussten künstlerischen Schaffen voraus Mythen können insofern keine absichtlich geschaffenen Artefakte bewusst konzipierender Dichter sein, sondern sind unwillkürliche und unintendierte Produkte eines ersten ungebildeten und daher – auch dies im wörtlichen Sinne – unkultivierten Sprechens über die Wahrnehmungen, Überlegungen und Erinnerungen der frühesten Menschen Die Entstehung der Mythen rückt damit in eine prähistorische Zeit vor jeder Schriftlichkeit, noch lange vor Homer und Hesiod, die sich der modernen Perspektive nahezu vollkommen entzieht Eine Ausdeutung der Mythen, die in ihnen Symbole und Allegorien wie in moderner Literatur sucht, ist deshalb in Heynes Augen unmöglich 1 Das heißt aber nicht, dass antike Mythen nicht interpretierbar wären Man müsse sich nur der Entstehungsbedingungen antiker Mythen, ihres Charakters und ihrer Funktion für die damaligen Menschen bewusst sein, dann könne man sich auch ihrer inhaltlichen Bedeutung selbst zuwenden So ist es besonders Heyne zu verdanken, dass Mythen nicht mehr mit Dichtung und Fabel gleichgesetzt, sondern als

1

Vgl Heyne: Excursus III de Allegoria Homerica S 573 f

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das basale Denkmuster der Antike angesehen werden, auf dem antike Dichtung fußt, und dass erkannt wurde, „daß richtige Ansicht der Mythologie auch der einzige wahre Schlüssel zur Kunde des höhern Alterthums sey “2 Mit diesem Mythenverständnis setzte Heyne vollkommen neue Akzente Mythen sind für ihn nun nicht mehr nur ein Teil der Klassischen Philologie und der höheren Bildung, sondern eine Frage der noch jungen Disziplinen Anthropologie und Religionswissenschaft Mit dieser umfassenden und fundamentalen Neuinterpretation des antiken Mythos ist Heyne bis dato ein Solitär in der Reihe derjenigen Gelehrten, die sich mit antiken Mythen befassten, und fand in den Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie von Karl Otfried Müller3 aus dem Jahr 1825 und den mythentheoretischen Arbeiten von Claude Lévi-Strauss in unserer Gegenwart seine Nachfolger 4 In welchem Ausmaß sich Heyne bei seinen Arbeiten von anderen anregen ließ, lässt sich heute nicht mehr mit vollständiger Sicherheit bestimmen; dazu liefern Heynes Texte zu wenige konkrete Anhaltspunkte Doch konnte in Kapitel 3 gezeigt werden, dass bereits vor Heyne Gelehrte teils ähnliche Gedanken formulierten und Heyne all diese Autoren kannte Die Bedeutung solcher Vorläufer für Heynes Mythentheorie wurde in letzter Zeit immer wieder stark hervorgehoben, sodass Heyne zuletzt eher als geschickter Kompilator denn als innovativer Neudenker erschien 5 Doch wirft man einen genauen Blick auf jene Vorläufer und Heynes eigene Theoriebildung, wird deutlich, dass trotz einzelner Übereinstimmungen erst bei Heyne eine konsequente Neuinterpretation des antiken Mythos stattfindet So ist den behandelten früheren Mythentheorien gemeinsam, dass sie in ihrer Zeit zwar als sehr anspruchsvoll, teils wissenschaftlich, ja als hochgebildet galten und zum Teil überaus populär, aber eben nicht nachhaltig wirksam waren Letztendlich konnte sich Heyne mit seinem Mythosbegriff als Begründer der wissenschaftlichen Mythentheorie durchsetzen Wie ist dies nun zu erklären? Was hebt Heynes Mythentheorie konkret von denen seiner Vorgänger ab? An dieser Stelle sei nochmals an die eingangs formulierte These erinnert, nach der in Heynes Mythentheorie vier Elemente ineinandergreifen, die diese in ihrem Zusammenspiel zu einer wissenschaftlichen Innovation werden lassen: 1 ) ein anthropologischer Zugang, die Forderungen 2 ) größtmöglicher

2 3

4 5

Heeren: Christian Gottlob Heyne S 194 Karl Otfried Müller: Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, Mit einer antikritischen Zugabe Göttingen: 1825 Müller verwendet in diesem Werk ganz selbstverständlich den Terminus Mythus und muss sich nicht mehr mit der Frage nach einer geeigneten Terminologie befassen Dass Müllers Darlegungen unter dem Einfluss der Schriften Heynes entstanden sind, ist klar erkennbar So unterscheidet beispielsweise auch er historische und philosophische Mythen, zitiert an vielen Stellen aus Heynes Schriften und widmet ihm ein Kapitel seines Buches, in dem er dessen Mythentheorie zusammenfasst, vgl ebd S 317–321 Vgl Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne S 288 f Vgl Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 429–475; 484–496; Fornaro: I Greci senza lumi; Scheer: Heyne und der Griechische Mythos

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Objektivität und 3 ) multikausaler Erklärungsmuster sowie schließlich 4 ) einer terminologischen Differenzierung Zunächst ist festzuhalten, dass die genannten Aspekte in den Mythentheorien der in Kapitel 3 2 behandelten Vorgänger teilweise schon anklingen So betonen beispielsweise Pomey, Fontenelle und Vico bereits die Psychologie und die Lebensumstände der antiken Menschen als relevante Bedingungen für die Mythengenese im Altertum Bei Fontenelle treten gar schon komparatistische Elemente auf, wenn er explizit auf die Ähnlichkeit zwischen den antiken und den indianischen Glaubensvorstellungen hinweist Einen Zugang, der weitgehend schon von der herrschenden christlichen Orthodoxie befreit ist, findet man auch bei Fontenelle und von der Hardt Eine Einteilung der Mythen in verschiedene Gruppen, die sich hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen unterscheiden, ist bereits bei Pomey, Banier und Fontenelle erkennbar – auch Multikausalität ist damit in Heynes Theorie nicht neu Stark an Heynes Einteilung der Mythen in die drei von ihm erarbeiteten genera erinnern dabei die drei von Fontenelle herausgestellten Gruppen, je nachdem ob die Mythen auf antiker Geschichtsüberlieferung, Philosophie oder Poesie basieren, auch wenn diese Gruppenbildung nur aus seinem Text ableitbar und nicht explizit formuliert ist Und auch die Forderung nach einem terminologischen Wandel gab es schon vor Heyne in von der Hardts Schriften Doch nicht nur methodisch, auch inhaltlich sind Parallelen zwischen Heyne und seinen Vorläufern klar erkennbar So wurden etwa Mythen vor ihm von Banier, Vico und von der Hardt bereits als eine antike Form nichtwörtlichen, also allegorischen oder symbolischen Erzählens gedeutet, allerdings mit sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen Wie Heyne vermuteten auch Fontenelle und Vico hinter Mythen naive Erklärungsversuche scheinbar unerklärlicher Phänomene und eine spekulative Philosophie im Rahmen der geistigen Möglichkeiten der alten Menschen, die sich an der damaligen Lebenswirklichkeit orientierte, wobei Heyne Fontenelles Annahmen näher kommt als denen Vicos Bemerkenswert ist nun aber, dass die vier genannten Elemente, die in Heynes Mythentheorie aufeinandertreffen, vor ihm noch nie in ihrem Zusammenspiel zu finden waren So deutet Pomey antike Mythen zwar nach verschiedenen Gesichtspunkten und geht dementsprechend von unterschiedlichen Prinzipien der Mythenentstehung aus, nähert sich ihr aber aus eindeutig christlich-moderner Perspektive, zieht nicht die antike Gesellschaft und deren Lebensbedingungen in Betracht und verwendet nach wie vor den alten Fabelbegriff Ebenso ist zwar bei Banier Multikausalität bei der Mythendeutung erkennbar, nimmt er doch als einziger der behandelten Autoren eine explizite Unterteilung in verschiedene Mythenarten vor; jedoch verfolgt er diese nicht konsequent und konzentriert sich ausschließlich auf historische Mythen Zudem spielt christliche Orthodoxie hier eine große Rolle, wenn er auch bereits einen rationalistischen Zugang wählt Auch eine Begriffsdifferenzierung und der anthropologische Blick auf die Antike fehlen bei ihm Letztgenanntes sowie ein multikausaler Erklärungsansatz sind bei Fontenelle gegeben, auch eine vergleichsweise objektive

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Perspektive nimmt dieser ein, wenn heidnische und christliche Stoffe hier nicht mehr kategorisch voneinander unterschieden werden, mag sich diese Vergleichbarkeit auch nur auf einige wenige Inhalte und nicht auf die Fundamente des Christentums beziehen Jedoch wird sein aus religiöser Sicht objektiver Zugang hier durch eine Herabsetzung der Antike aus einer modernen Perspektive überblendet Ähnlich wie Fontenelle erklärt Vico Mythengenese durch psychologisch-anthropologische Grundmuster, würdigt die Mythen antiker Menschen jedoch noch stärker als Fontenelle durch seine christlich-moderne Haltung zu lächerlichen Hirngespinsten stumpfsinniger Kreaturen herab Das Postulat einer Umbenennung der Fabeln in Mythen ist einzig bei von der Hardt zu finden Bei ihm ist auch bereits Heynes Forderung nach Objektivität zu erkennen – von einer einseitig christlich-orthodoxen Sichtweise kann hier keine Rede sein Im Gegensatz zu Fontenelle und Vico erscheint der antike Mythos aber zu kunstvoll und bewusst, weil die Lebensbedingungen einer primitiven Gesellschaft unberücksichtigt bleiben Mythen werden so recht eindimensional als hochentwickelte poetische Produkte beschrieben, die sich in nichts von moderner politischer Satire unterscheiden lassen Heyne hatte also unbestritten Vorläufer – einige seiner Ideen lassen sich in ähnlicher Form schon vor ihm wiederfinden Doch hat keiner seiner Vorgänger sie in einer Weise verschmolzen, dass sie Heynes Mythentheorie gleichkämen Noch viel klarer hingegen tritt Heynes eigene Auseinandersetzung mit der Mythendiskussion seiner Zeit hervor 6 Von Vorbildern kann hier überhaupt keine Rede sein – Heyne grenzte sich zum Teil sehr deutlich von anderen Mythentheoretikern ab Offenbar entwickelte er seine Mythentheorie also im Kontrast zu Beispielen, wie man mit antiken mythischen Stoffen nicht umgehen dürfe, um diesen eine Alternative entgegenzusetzen Er hob die antike Mythologie – und diese Leistung gilt es hervorzuheben – aus dem Feld der Klassischen Philologie in die Anthropologie – für ihn war sie nun nicht mehr nur als Punkt, an dem Textkommentare ansetzen können, als Stoff antiker Texte oder bildlicher Darstellungen interessant, sondern auch und vor allem als Überrest einer primitiven Weltwahrnehmung Er konnte ihr dadurch eine neue Funktion verleihen, nämlich als Schlüssel zu den Anfängen menschlichen Denkens und Sprechens, und initiierte damit die anthropologische Wende im Nachdenken über den Mythos an der Epochenschwelle zwischen Früher Neuzeit und Moderne, der „wichtigste[n] Phase eines neu definierten künstlerischen und wissenschaftlichen Umgangs mit der antiken Mythologie“ 7 Dabei kam es ihm darauf an, Mythen als komplexes und heterogenes kulturelles Phänomen zu beschreiben sowie Mechanismen und Prinzipien ihrer Entstehung aufzuzeigen Besonders wichtig war es ihm in diesem Zusammenhang auch, 6 7

Vgl Kap 4 S 83–110 Dieter Burdorf / Wolfgang Schweickard: ‚Die schöne Verwirrung der Phantasie‘ und das ‚bunte Gewimmel der alten Götter‘, Zur Einleitung In: dies (Hg ): Die schöne Verwirrung der Phantasie S VII

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ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was Mythen sind und wie mit ihnen umgegangen werden muss Er wurde nicht müde, immer wieder zu betonen, dass die eigene Sprache und die damit verbundenen Konzepte die Forschung negativ beeinflussen, gerade im Hinblick auf die Beschäftigung mit fremden Kulturen und deren Mythen, Riten und Religionen Folglich war es eine seiner Leistungen, das Problem der Perspektiviertheit neuzeitlicher Mythenauslegung aufzuzeigen Umgangen werden kann dies nur durch ein Verlassen des neuzeitlichen, eurozentrischen, christlichen Standpunktes: Man muss die Mythen in ihrem historischen und kulturellen Kontext verstehen Das kann nur durch eine möglichst weitgehende Perspektivenübernahme, durch eine historistische8 Betrachtungsweise gelingen und nicht durch eine perspektivistische Ein vorsichtiger und kritischer Umgang mit der Terminologie und ein Bewusstsein für fremde Kulturen und deren Lebensweise waren daher die beiden wichtigsten Themenbereiche, um die seine Abhandlungen immer wieder kreisten Auf diese Weise trugen seine wissenschaftlichen Untersuchungen zur Mythologie und zum antiken Menschen fundamental dazu bei, dass Mythen nicht mehr nur als unterhaltsame Literatur oder als

8

Tritt der Begriff Historismus bei Heyne auch nicht auf, entsprechen doch seine Betonung der Verankerung des Menschen in seiner Kultur und seiner Zeit und seine Forderungen nach einem Verlassen der modernen europäischen Perspektive den Grundsätzen dieser späteren geschichtswissenschaftlichen Strömung Bei dieser steht das Verständnis für die Einmaligkeit historischer Epochen im Vordergrund Trotz der Gemeinsamkeiten gibt es aber doch auch einen eklatanten Unterschied zwischen Heynes Geschichtsbild und dem des Historismus Im Historismus werden philosophisch-spekulative Zugänge zur Geschichte, schematische Theorien, die historische Prozesse erklären sollen, wie etwa Kulturstufenmodelle, die einen stetigen Fortschritt von archaischer Primitivität hin zu kultureller Blüte postulieren, oder das Denken in historischen Zyklen, wie es etwa durch Herder und Heyne und später durch Hegel und Marx verbreitet wurde, kategorisch abgelehnt Zwar glaubte Heyne nicht an Zwangsläufigkeiten oder göttliche Fügung im Ablauf von Geschichte, aber die Vorstellung, dass sich Gesellschaften von einem Kindheitsstadium stetig zu immer höherer Kultur und Zivilisation weiterentwickeln, war fester Bestandteil seines historischen Denkens Insofern ist Heyne nur eingeschränkt ein Vorläufer des Historismus zu nennen Bezeichnend ist jedoch, dass das Wort Historismus in Deutschland erstmals bei Friedrich Schlegel, seinem Studenten in Göttingen, auftaucht Im ersten seiner Hefte Zur Philologie hebt er 1797 „Winkelmanns Historismus“ (Friedrich Schlegel: Zur Philologie, I In: Hans Eichner (Hg ): Friedrich Schlegel, Fragmente zur Poesie und Literatur, Erster Teil Paderborn u a : 1981 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd 16) S 35) hervor Dieser habe „den unermeßlichen Unterschied eingesehn, die ganz eigne Natur des Alterthums“ (ebd ) Schlegel meint mit Historismus also die Eigenständigkeit der Antike; sie habe nichts mit der Gegenwart zu tun und müsse daher nach ihren eigenen Maßstäben beurteilt werden Um die Antike verstehen zu können, müsse daher „[w]eit mehr […] insistirt werden auf den Historismus“ (ebd ); dazu gehöre auch, dass eine „Universalität der Ansicht“ (ebd S 39) statthaben müsse, also umfassende Kenntnis des Altertums Dass er hinter diese „Universalität“ die Namen Heynes und Herders setzt, macht deutlich, dass er in dieser Hinsicht eindeutig durch seinen Lehrer Heyne beeinflusst ist Dieser sei „durch Vereinigung und Verbreitung von φσ [= Philosophie] der Historie und der Kunst nützlich geworden“ (ebd S 55) Ausführlich zur Geschichte des Historismus vgl Annette Wittkau: Historismus, Zur Geschichte des Begriffs und des Problems Göttingen: 1992; Otto Gerhard Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Studien zur Problemgeschichte des Historismus Göttingen: 1996 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 116)

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Teil einer höheren Bildung bewertet wurden, sondern dass nun auch ihrem erkenntnisschaffenden Wert Aufmerksamkeit geschenkt wurde Doch kann dies für Heyne nur durch eine Näherung anhand des Quellenmaterials gelingen Deutungsansätze, die von Hypothesen ausgehen, müssen daher in seinen Augen fehlschlagen Vielmehr müsse man die Mythen als individuelle Einzelphänomene betrachten, die nach unterschiedlichen Erklärungen verlangen Ein zu festes theoretisches Konstrukt muss daher den Blick auf die antike Mythologie verstellen, da so wichtige Erkenntnisse ausgefiltert werden – eine Kritik, mit der Heyne erkenntnistheoretisch nahe bei Forster liegt und die heute noch Bestand hat Schließlich trug Heyne auch einen entscheidenden Teil dazu bei, dass das griechische Wort μῦθος zu einem zentralen Begriff des durch seine Forschung angestoßenen wissenschaftlichen Diskurses wurde und aus dem akademischen Wissenschaftsjargon auch in den allgemeinen Sprachgebrauch überging – das immer häufigere Auftreten des Wortes in seinen Rezensionen belegt dies klar Mit diesen Forderungen und Herangehensweisen ist es Heyne gelungen, die dichterischen Stoffe des Altertums ihrer Verbannung in die Unterhaltungsliteratur zu entreißen, sie wissenschaftlich aufzubereiten und fruchtbar zu machen sowie die Begriffe fabula und mythus explizit voneinander abzugrenzen Erst in dem Moment, wenn Heyne den Gegenstand anthropologisch, objektiv und differenziert betrachtet und mit einem neuen Terminus versieht, ist der Blick auf den antiken Mythos frei Dementsprechend ist der Dreh- und Angelpunkt des Umbruchs von einem naiven vorwissenschaftlichen Verständnis vom antiken Mythos hin zu einem rationalen wissenschaftlichen Umgang mit demselben in seinen Schriften zu suchen, die ihm einen festen Platz in der „Revision des traditionellen Mythenbegriffs“9 im 18 Jahrhundert verleihen Dass es ihm als Ersten gelang, eine wirkungsvolle Mythentheorie zu formulieren, dürfte indes noch weitere Ursachen haben Ein Grund mag sein, dass seine Vorläufer ihre Theorien mit deutlich weniger Vehemenz verbreiteten So sind Fontenelle und Banier die einzigen unter ihnen, die Schriften verfassten, die sich ausschließlich und explizit nur mit Mythenentstehung und -deutung auseinandersetzten Bei den anderen Autoren stellt die Beschäftigung mit antiken Mythen eher ein Rand- oder Teilgebiet enger oder weiter gefasster Themen und weniger einen zentralen Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit dar Für Heyne hingegen war die antike Mythologie einer seiner zentralen Forschungsschwerpunkte Studien auf diesem Gebiet, schreibt Heeren, gehörte[n] zu denen, die ihn am frühesten und am längsten beschäftigten; es ward gleichsam die Grundlage seiner ganzen Ansicht des Alterthums, es erweiterte und bildete am meisten den Kreis seiner Ideen 10

9 10

Jamme: Mythos als Aufklärung S 168 Heeren: Christian Gottlob Heyne S 193

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Andere Gründe liegen möglicherweise darin, dass die entstandenen Theorien wie die von der Hardts den zeitgenössischen Rezipienten zum Teil unwahrscheinlich und abstrus erschienen oder kaum systematisch ausgearbeitet waren Ein entscheidender Grund dafür, dass sich deren Ideen nicht durchsetzen konnten, dürfte aber vor allem auch in der geringen Bedeutung liegen, die der antiken Mythologie im Allgemeinen häufig beigemessen wurde Bis auf von der Hardt11 und Banier sprechen alle behandelten Mythentheoretiker vor Heyne den alten Erzählstoffen selbst jegliche wissenschaftliche Relevanz und Aktualität ab Diese Haltung, die den Mythen alle Theoriefähigkeit verweigert und sie wie etwa bei Fontenelle und Vico nur zu Produkten der Dummheit antiker Menschen abqualifiziert, konnte der tatsächlichen kulturellen Bedeutung antiker Mythologie im 18 Jahrhundert, die sich in unzähligen Werken der bildenden Künste, Literatur und Musik widerspiegelte, kaum gerecht werden Vermutlich war es nicht zuletzt diese Diskrepanz zwischen kultureller Relevanz und mangelnder wissenschaftlicher Anerkennung, die dazu führte, dass sich weder Vico noch Fontenelle, sondern erst Christian Gottlob Heyne als Begründer einer wissenschaftlichen Mythologie durchsetzen konnte, da er als erster den alten Mythen einen hohen wissenschaftlichen Wert einräumte Denn dass Tausende graecophiler deutscher Künstler des 18 und 19 Jahrhunderts ihr Leben den nichtigen Narrenpossen primitiver Wilder verschrieben haben sollten, konnte und wollte wohl keiner von diesen glauben Man könnte sagen, dass die Zeit reif war für eine Mythentheorie, die das Missverhältnis zwischen gesellschaftlicher und akademischer Relevanz aufheben und zugleich als wissenschaftlich, objektiv und differenziert gelten konnte Diesem Status Heynes wurde in letzter Zeit entgegengehalten, dass dieser in seinen mythentheoretischen Schriften meist bei Warnungen und sehr allgemeinen Betrachtungen, die er durch einige wenige Beispiele stützt, stehen geblieben, und seine Mythentheorie daher eher starr und kaum anwendungsbezogen sei 12 Doch Heyne ging 11

12

Dass sich von der Hardt durch seine zum Teil abwegigen Thesen und auch aufgrund anderer Veröffentlichungen als ernstzunehmender Wissenschaftler unmöglich gemacht hatte und sich wohl deswegen mit seiner Theorie nicht durchsetzen konnte, wurde bereits angesprochen, vgl Kap 3 2 5 S 74–80 Vgl Graf: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne S 293: „In der Praxis hat er [= Heyne] kaum Konsequenzen gezogen: er hat den Mythos nicht anders als die Allegoriker reduziert auf geschichtliche und Naturereignisse“; Fornaro: I Greci senza lumi S 116: „se però chiediamo quale fu l’applicazione concreta di questa teoria da parte di Heyne allo studio dei testi antichi restiamo in certo modo delusi Nei commenti ad Omero, Virgilio, Pindaro la comparazione tra miti greci e forme mitiche ‚altre‘, documentate dalla letteratura di viaggi, non c’è, o c’è sporadicamente; non c’è interpretatione dei miti, perché manca ogni tentativo di sistematizzazione dei miti per genere, ed una comparazione […] dei tipi di mito […] Si apre così una discrepanza tra teoria e studio dei testi“; ebd S 129: „Tuttavia nel commento [= Exkurse in Heynes Ilias-Ausgabe] l’uso della ‚comparazione‘ etnografica attraverso la quale Heyne aveva dichiarato che si poteva comprendere la civiltà omerica è sporadico e in fondo superficiale“; Heidenreich: Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte S 492: „Heyne zieht nur sehr wenige Schlüsse aus den Mythen auf die Lebensart, die Vorstellungen oder den Geist ihrer Schöpfer“; Bremmer: A Brief

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bewusst nicht weiter: Es genügte ihm ganz offensichtlich, den Mythos als Artikulationsmuster primitiver Menschen, als die älteste Geschichte und als Inbegriff der Denk- und Vorstellungsart der ältesten Völker, und als Grundlage aller poetischen und artistischen Darstellungen,13

zu beschreiben, weil alles, was über diese Grundsätzlichkeiten hinausgeht, für ihn unwissenschaftliche Spekulation war Als Philologe befasste er sich daher freilich mit der textlichen Gestalt antiker Mythen 14 Als Mythentheoretiker hingegen musste es ihm gar nicht auf ihre konkrete sprachliche Ausformung und Interpretation ankommen Hier galt es eher, sie als Denkmuster zu begreifen und ihre Grundprinzipien aufzuzeigen „Alle die Fabeln einzeln deuten zu wollen“, kann sich aus Heynes Sicht daher „kein vernünftiger Mensch vornehmen“, da von den meisten „schon zu Hesiods Zeiten der Sinn, und zu dem Sinn der Schlüssel verlohren gegangen seyn“15 musste Es müsse also reichen, „nur überhaupt den Geist der Fabel, den verschiedenen Charakter, das Alter, den Gebrauch davon zu fassen“ 16 Auch wenn er selbst häufig betonte, wie viele Schlüsse aus dem Vergleich verschiedener antiker und nichtantiker primitiver Gesellschaften gewonnen werden können, leitet er freilich aus den Reisebeschreibungen nur sehr Weniges und ausgesprochen Allgemeines für die antiken Europäer ab Diese Lücke zwischen Theorie und praktischer Anwendung ergibt sich aber bei Heyne aus seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler Er wollte anderen Gelehrten Impulse und der Mythenforschung somit eine neue Richtung geben – dass eindimensionale systematische Theorien zu wenig brauchbaren Ergebnissen führen, hatten aus seiner Sicht andere Mythentheoretiker hinreichend bestätigt Auf Spekulationen, die sich aufgrund des Fehlens sicherer historischer Beweise zwangsläufig durch eine nähere

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History of the Study of Greek Mythology S 533: „He [= Heyne] wrote much about the origin of mythic thought, but in the end he made not much progress with the interpretation of individual myths“; Scheer: Heyne und der griechische Mythos S 26: „Die praktische Anwendung seiner Thesen in Bezug auf das mythologische Material der Griechen hat Heyne […] nicht vertieft in Angriff genommen“ [Christian Gottlob Heyne]: 140 St In: GGA 1803 S 1395 (= Rez zur Neuauflage der Apollodor-Ausgabe Heynes) Eine intensive Beschäftigung mit Texten mythischen Inhalts erfolgte hier besonders durch seine Veröffentlichung des Apollodor von Athen zugeschriebenen antiken Mythenkompendiums, der Bibliothek des Apollodor, im Jahr 1782, vgl Heyne (Hg ): Apollodori Atheniensis bibliothecae libri tres, zu der er auch einen ausgesprochen umfangreichen Kommentar verfasste, vgl Heyne: Ad Apollodori Atheniensis bibliothecam notae Beides, Textausgabe und Kommentar, wurden 1803 erneut aufgelegt Diese ausgiebige Auseinandersetzung mit den Textquellen antiker Mythen war seiner eigenen Aussage zufolge ausgesprochen wichtig für sein Verständnis der antiken Mythologie – in dieser Form sei sie sogar ertragreicher als ein mythologisches Handbuch oder Lexikon, da auf diese Weise nur die Quellen präsentiert werden und keine Interpretationen, vgl [Christian Gottlob Heyne]: 98 St In: GGA 1782 S 785 f ; 164 St In: GGA 1783 S 1641 f ; 1643 [Heyne]: 97 St In: GGA 1779 S 783 (= Rez zu De Theogonia ab Hesiodo condita) Ebd

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Beschäftigung mit antiker Mythologie und Religion ergeben müssen, wollte er sich aber nicht einlassen, da dies in seinen Augen nur unwissenschaftlich sein konnte Dass Heyne und seine Mythentheorie mittlerweile aber trotz ihrer enormen geistes- und ideengeschichtlichen Bedeutsamkeit leider nur wenig rezipiert werden, liegt offensichtlich auch nicht zuletzt an der Form, wie sich diese sowie seine Forschungsergebnisse insgesamt heute darbieten 17 Nicht nur dass seine mythentheoretischen Schriften ausschließlich in lateinischer Sprache verfasst sind, sie erschienen auch mit teils großen zeitlichen Abständen und beziehen sich nur wenig direkt aufeinander Eine elaborierte, zusammenhängende und umfassende Mythentheorie veröffentlichte er nie Dies ist offenbar nicht zuletzt seiner Arbeitsweise geschuldet Als Professor der Beredsamkeit war es seine Aufgabe, Einladungsschriften zu öffentlichen Anlässen zu verfassen Außerdem hielt er als festes Mitglied der Akademie der Wissenschaften etwa einmal im Jahr einen Vortrag, in dem er Arbeits- und Forschungsergebnisse mitteilte, sodass seine Forschungen immer im Kontext offizieller Veranstaltungen der Universität und der Akademie der Wissenschaften vorgestellt wurden Er verfolgte dabei stets parallel verschiedene Forschungsstränge: Mal befasste er sich in seinen Abhandlungen mehr mit Alter Geschichte, mal mit Archäologie, mal mit Klassischer Philologie, sodass sich im Heyne’schen Werk kaum längere stringente Texte, sondern vor allem Reihen thematisch verknüpfter kurzer Abhandlungen ausmachen lassen 18 Oft lagen jedoch mehrere Monate, teils Jahre zwischen den verschiedenen Teilen einer Vortragsreihe; durch große Stringenz und Kohärenz zeichnet sich Heynes Werk folglich nicht aus Er war weniger jemand, der sich konsequent und intensiv mit nur einem Thema befasste, sondern forschte parallel in teils großen zeitlichen Abständen an mehreren Gegenständen Dementsprechend arbeitete er auch an seiner Mythentheorie eher sporadisch und präsentierte sie vor unterschiedlichem Publikum, weshalb sich in seinen Programmschriften und Abhandlungen zum antiken Mythos zahlreiche Redundanzen finden, da er ja nicht davon ausgehen konnte, dass allen Hörern bezie17

18

Dass Heyne, obwohl er doch zu den bekanntesten und wichtigsten Gelehrten seiner Zeit gehörte, heute nur vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wird, trifft nicht nur auf seine Leistungen auf dem Gebiet der Mythentheorie zu Auch seine Verdienste um die Archäologie und die Alte Geschichte sind nur wenigen bekannt Dafür dürfte noch stärker als im Bereich mythentheoretischer Forschung sein Selbstverständnis als akademischer Lehrer eine Rolle spielen Bei der Vermittlung der Altertumswissenschaften strebte Heyne nach umfassenden Überblicken; er wollte hier einen universellen und interdisziplinären Zugang zur Antike vermitteln und hatte daher mit seinen archäologischen Vorlesungen nicht etwa die Ausbildung spezialisierter Fachgelehrter im Sinn, sondern wollte seine Studenten dadurch in ein wichtiges altertumskundliches Teilgebiet einführen Als Forscher hingegen ging er erstaunlicherweise ausgesprochen spezialistisch vor Er befasste sich in seinen Abhandlungen mit sehr speziellen und engen Themen, die zugleich aber sehr weit auseinanderlagen Durch seine Forschung beleuchtete daher immer nur winzige Punkte auf einem riesigen, im Falle der Archäologie noch nahezu vollkommen dunklen Feld; vieles wurde erst weit nach seiner Zeit erneut aufgegriffen Vermutlich trug auch das dazu bei, dass er als bedeutender Gelehrter in Vergessenheit geriet Zur Verteilung seiner Arbeitsphasen vgl Kap 2 1 S 20–29

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hungsweise Lesern die bisherigen Erkenntnisse schon bekannt waren Die Stoffauswahl zu den Programmschriften war so zu treffen, dass das behandelte Thema dabei nicht zu umfangreich, zugleich von wissenschaftlichem Wert, aber dennoch auch von allgemeinem Interesse war,19 da seine Zuhörer und Leser in erster Linie die Studenten und Professoren aller Fächer und Fakultäten waren Es kam ihm hier darauf an, neue Einsichten und Aussichten, neue Arten der Darstellung, einzelne Bemerkungen, die nicht erst ein ganzes Buch zur Ausführung erfordern, Behauptungen, […] eine Lieblings-Hypothese, […] ein täuschendes Paradoxum […] auf wenig Blättern20

abzuhandeln, anstatt „diesen allemahl ganze Phalangen von Alphabeten entgegen“21 zu stellen Er glaubte, dass dies ein guter Weg sei, „wissenschaftliches Interesse innerhalb einer Universität [zu] verbreiten“,22 dass nämlich „aus kleinen Schriften […] die Resultate ins große Publicum [kommen], und auf diesem Wege endlich in das System der Wissenschaft selbst “23 In den Vorträgen vor der Societät, vor der die Mehrzahl seiner mythentheoretischen Abhandlungen präsentiert wurden, musste er weniger Wert auf allgemeine Verständlichkeit legen; doch auch hier entstammten seine Zuhörer unterschiedlichen Disziplinen, sodass er nicht bei jedem seiner Zuhörer auf umfassendes Vorwissen bauen konnte Sein Adressatenkreis war damit also kein Fach-, sondern vielmehr ein gebildetes Laienpublikum Seine Ausführungen zur Mythentheorie unterlagen aufgrund ihrer Publikationsform und ihrer Adressaten von vornherein gewissen Grenzen Zu spezifisch konnten seine mythentheoretischen Abhandlungen also nicht sein und mussten daher bis zu einem gewissen Grad skizzenhaft bleiben Hinzu kommt sein extrem hohes Arbeitspensum aufgrund der Vielzahl seiner Ämter und Funktionen 24 Er musste daher ausgesprochen schnell und effizient

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Vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 237 [Heyne]: 16 St In: GGA 1796 S 154 (= Rez zu Opuscula academica, Bd 4) Ebd Ebd Ebd S 154 f In Anbetracht seiner vielen Verpflichtungen war sein Tagesablauf entsprechend arbeitsreich Er stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und setzte sich sogleich an seinen Schreibtisch Erst um neun Uhr frühstückte er Danach kleidete er sich an und widmete sich bis zwölf Uhr seinen Geschäften und Lehrveranstaltungen Nach dem Mittagessen gönnte er sich eine halbe Stunde Mittagsruhe; danach hielt er bis 15 Uhr wieder Lehrveranstaltungen Bis 18 Uhr las er und widmete sich seiner Korrespondenz Anschließend verbrachte er eine Viertelstunde mit seiner Familie zum Tee Bis 22:30 Uhr arbeitete er wieder, dann meist an seinen Rezensionen, unterbrochen nur durch ein kurzes Abendessen Danach ging er zu Bett, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 325–327 Überhaupt bildete die Arbeit Zentrum und Inhalt seines Lebens Nicht nur dass er kaum Freizeit hatte, auch räumlich wurde er von Arbeit beherrscht So war sein Arbeitszimmer der mit Abstand größte Raum seines Hauses Darin standen zwölf Tische, auf denen seine Arbeitsmaterialien verteilt lagen Es gab einen Tisch für seine Rezensionen, einen für seine Homer-Ausgabe und so weiter Außerdem lagerte er wichtige Papiere und laufende Korrespondenz in einer Vielzahl verschiedener Pappkästen In seinem Arbeitszimmer befanden sich außerdem sein Bett und ein Schrank

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arbeiten Für seine Programme, die in der Regel anderthalb bis zwei Bögen umfassten, – also teils auch für seine mythentheoretischen und religionswissenschaftlichen Schriften – blieb ihm nur wenig Zeit, und er erarbeitete sie normalerweise innerhalb eines Tages 25 Eine zusammenhängende Systematik und Einheit seiner Mythentheorie blieb folglich auf der Strecke und muss nun im Nachhinein extrahiert und rekonstruiert werden Vor allem diesen Punkt kritisierte der Althistoriker Barthold Georg Niebuhr an Heyne Nur 15 Jahre nach dessen Tod schreibt er über diesen, dass er wegen seiner vielen Aufgaben und Geschäfte seine Arbeiten viel zu eilig geschrieben habe und „Manches über’s Knie brechen“26 musste, weshalb das meiste seiner Ansicht nach nur mittelmäßig und unvollkommen bleiben konnte 27 Daher sei sein Andenken „für die Nachwelt verloren, denn diese fragt nicht: wie groß ist die Menge der Arbeiten, sondern was sind sie?“28 Doch war Niebuhr nicht der Einzige, der nicht sonderlich positiv über Heyne urteilte So wird er etwa bei Bursian und Hettner als verdienstvoller und bedeutender Gelehrter seiner Zeit eingestuft, allerdings nur zweiten Ranges: Er sei „kein eigentlich schöpferischer Geist“,29 kein guter Philologe30 gewesen, gehöre zu den „[s]trenge[n] und zunftstolze[n] Fachgelehrte[n]“,31 habe etwas „Selbstisches und Herrschsüchtiges“32 an sich, sei „gegen Lessing und Winckelmann […] nicht frei von neidischer Ver-

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mit seiner Kleidung, sodass er es außer zum Essen und zu Lehrveranstaltungen kaum verließ und praktisch darin lebte, vgl ebd S 323–325 Vgl ebd S 236 Heyne stand früh am Morgen auf und arbeitete dann bis zum Abend an seiner Abhandlung Diese gab er dann sogleich in die Druckerei und musste die Druckfahnen kaum noch korrigieren Den Stoff hatte er allerdings normalerweise schon vorher gesammelt Doch nicht nur auf die Erarbeitung seiner Programmschriften verwendete er nur wenig Zeit, auch auf seine Lehrveranstaltungen bereitete er sich nur kurz vor, oft nur wenige Minuten Dies war nur möglich, weil er über eine Unmenge an Exzerpten und Ausarbeitungen verfügte, die er ständig ansammelte, und sich die Themen seiner Veranstaltungen semesterweise wiederholten, vgl ebd S 242 Folglich wirkten seine Veranstaltungen chaotisch Er nahm dorthin lediglich Textausgaben mit, in die er Notizen eingetragen oder Zettel mit Bemerkungen hineingelegt hatte In seinen Vorlesungen verwendete er einzelne Blätter, die er lose in Mappen ordnete, vgl ebd S 240 Barthold Georg Niebuhr: Historische und philologische Vorträge, an der Universität zu Bonn gehalten, Bd 3, Alte Länder- und Völkerkunde Berlin: 1851 S 359 Vgl ebd S 518 Ebd Niebuhr kritisiert weiterhin an Heyne, dass seine „Abhandlungen unangenehm zu lesen [sind]; wer mit der Sache vertraut ist, sieht einen Mann, der sich nicht die Mühe gibt zu prüfen, sich in dunklen Vorstellungen begnügt, die größte Gleichgültigkeit zeigt über das, was sein könnte und was nicht; nur von Zeit zu Zeit erinnert einmal eine geistreiche Ansicht an das ursprüngliche Talent“ (ebd ) Dennoch seien – so Niebuhrs überraschendes Schlussurteil – „die Heyne’schen Arbeiten nicht ungelesen zu lassen“ (ebd ) Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart S 479 Vgl Wilhelm Herbst: Johann Heinrich Voss, Bd 1 Leipzig: 1872 S 72 Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Bd 1 Berlin/ Weimar: 1979 S 472 Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Bd 2 S 569

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kleinerung, gegen junge aufstrebende Kräfte […] nicht ohne Stolz und Mißgunst“,33 sein Urteil habe „nur zu häufig zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Erklärung hin und her geschwankt“ 34 Ein solches Bild von Heyne als ein ewig an Details kritisierender Pedant ohne Blick für das große Ganze, ohne einen Funken der Genialität Herders35 oder Winckelmanns36 hielt sich hartnäckig und wurde wohl nicht zuletzt durch seine Kritik an Winckelmann auch von ihm selbst befördert 37 Häufig erschien 33 34 35

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Ebd Ganz ähnlich urteilt Winckelmanns Biograph über Heyne, vgl Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen, Bd 3 Köln: 1898 S 259–262 Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart S 480 So schreibt etwa Herders Biograph Haym, dass Heynes Lobschrift auf Winckelmann im Grunde „doch mehr ein Schulmeister- als ein Meisterwerk […], bis zur Dürftigkeit nüchtern, bis zur Armseligkeit matt im Vergleich mit der schönen und warmen Herderschen Lobrede“ (Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd 2 Berlin: 1885 S 76) sei Seine Leistungen auf dem Gebiet der Mythentheorie stellt Otto Gruppe hinter denen Herders zurück – Heyne sei hierin Herders – wenn auch wichtiger – Nachfolger und habe vieles erst durch dessen Anregungen ausgearbeitet, vgl Gruppe: Geschichte der klassischen Mythologie und Religionswissenschaft S 107–111 Gruppe übersieht dabei jedoch, dass Heyne seine ersten mythentheoretischen Schriften bereits Mitte der 1760er Jahre – also vor Herder – verfasste und zu diesem Zeitpunkt noch nicht durch Herder inspiriert sein konnte So schreibt Herder selbst: „Ein Programm des Hrn Prof Heine, de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, hat mir mehr Gnüge gethan, als die ganze Philosophie des Banier“ ( Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder, Oder Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, Erstes Wäldchen In: Suphan (Hg ): Herder, Sämtliche Werke, Bd 3 S 55, Anm a) Zu einem ähnlichen Urteil wie Gruppe gelangt auch Gockel Auch er sieht Heynes Mythentheorie maßgeblich durch Herder beeinflusst, vgl Gockel: Mythos und Poesie S 34 Laut Bursian fehlten ihm beispielsweise „sowohl die schwungvolle Begeisterung und das tiefe Verständniß für die Kunst, welche Winckelmann, als auch die Schärfe des philosophischen Denkens und die Combinationsgabe, welche Lessing auszeichneten“ (Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart S 493) Durch Winckelmann war die Auseinandersetzung mit antiker Kunst zu einem maßgeblichen Forschungsthema des 18 Jahrhunderts geworden; aufgrund seiner Überbetonung antiker Ästhetik erhielt die damalige Graecophilie enormen Anschub Heyne kannte Winckelmann und seine Schriften bestens; er griff dessen Ideen auf, prüfte sie, kritisierte einiges und formte aus ihnen die Grundsätze einer neuen Universitätsdisziplin, der Archäologie Somit wirkte Heyne in beträchtlichem Maß auch auf die Entwicklung dieses Fachs, wenn auch in der Rückschau scheinbar nicht in dem Umfang wie Winckelmann Während sich Winckelmann aus dem Universitätsbetrieb fernhielt und ausschließlich durch seine Schriften, insbesondere seine Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 nachwirkte, gründen sich Heynes Hauptverdienste um die Archäologie Heerens Einschätzung nach auf seine Lehrtätigkeit, vgl Heeren: Christian Gottlob Heyne S 224 Heyne respektierte und bewunderte Winckelmanns Hauptwerk, scheute sich aber auch nicht, es zu kritisieren, obwohl es von vielen Zeitgenossen als nahezu sakrosankt und unhinterfragbar betrachtet wurde, vgl Heyne: Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannschen Geschichte der Kunst des Alterthums So soll er sich etwa in seinen archäologischen Vorlesungen folgendermaßen geäußert haben: „Der historische Theil des Werkes ist schlecht, allein das Übrige wirklich vortrefflich“ (Christian Gottlob Heyne: Akademische Vorlesungen über die Archäologie der Kunst des Alterthums, insbesondere der Griechen und Römer Braunschweig: 1922 S 31) Und weiter unten: „Eine Geschichte der Kunst mangelt noch ganz Winckelmann hat zu sehr in der alten Kunstgeschichte geirret“ (ebd S 36) Außerdem störte er sich daran, dass Winckelmann bei seinen Beschreibungen zu sehr „seine Begeisterung“ einmischte, „wo kalte Betrachtung, Erwägung

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er neben Herder mit dessen poetisch-kraftvollen Sprache und dem begeisterten Winckelmann als trockener, emotionsloser Pragmatiker In einer Zeit des Geniekultes konnte er damit nur als langweilig und mittelmäßig gelten, stößt aber mit seiner kritischen Sachlichkeit, seinem vorsichtigen, nüchternen Vorgehen und seinen ständigen Warnungen vor vorschnellen Schlüssen – gerade im Bereich der Frühgeschichte – aus heutiger Sicht zielstrebig in die Richtung eines modernen wissenschaftlichen Selbstverständnisses vor Können sich seine Überlegungen zum Mythos also heute freilich nicht mit modernen Mythentheorien messen lassen, so hat doch die Art und Weise, wie er sich der Antike und ihren Mythen näherte, – der anthropologische Blick – immer noch Gültigkeit Die Wirksamkeit seiner Abhandlungen, Vorlesungen und Vorträge muss dabei hoch veranschlagt werden, denn viele von denen, die zu den berühmten Gelehrten des 19 Jahrhunderts zählen, besuchten die Vorlesungen dieses, wie von Wilamowitz-Moellendorff formulierte, „Praeceptor Germaniae“:38 die Gebrüder Schlegel

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und Prüfung erfordert ward“ (Heyne: Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd 1 S VII) und „mit seiner hitzigen Einbildungskraft“ (Heyne: Lobschrift auf Winkelmann S 25) viel zu emotional an einen Gegenstand ging, der eigentlich nüchterne Objektivität, „kaltes Blut und ruhiges Nachdenken“ (ebd ) erforderte Solche Äußerungen brachten ihm von vielen Seiten den Vorwurf ein, er habe Winckelmann nur seinen Erfolg geneidet und ihm durch kleinliche Kritiken in Misskredit bringen wollen Heynes Anliegen war es jedoch, durch konstruktive Kritik Winckelmanns Ideen zu den Fundamenten einer strengen universitären Disziplin zu erheben Damit spielte Heyne in dem Prozess, die überschwängliche Begeisterung für antike Relikte seit der Renaissance in die Bahnen einer strengen Wissenschaft im modernen Sinne zu kanalisieren, eine entscheidende Rolle Unterdessen erkannte schon Heyne die beiden Linien in der Klassischen Archäologie, auf der einen Seite die historisch-anthropologische Ausrichtung auf die materiellen Überbleibsel antiker Kultur in der Tradition Schliemanns und die speziell kunstgeschichtlich ausgelegte Teildisziplin in der Tradition Winckelmanns So dient antike Kunst Heynes Ansicht nach einerseits dazu, „die alten Sitten, Gebräuche, Vorstellungsarten, religiösen und mythischen Begriffe, oder auch historischen Umstände und Facta, daraus zu erläutern, und die dahin gehörigen Schriftstellen der Alten zu erklären“ (Christian Gottlob Heyne: Einleitung in das Studium der Antike, oder Grundriß einer Anführung zur Kenntniß der alten Kunstwerke Göttingen/Gotha: 1772 S 7) Dies sei „das antiquarische Studium, Studium der Alterthümer, Archäologie“ (ebd ) In erster Linie aber ließen sich „diese Werke der Alten […] auf eine weit edlere Art betrachten, in sofern sie Werke der Kunst und zwar der schönen Kunst, sind, und in sofern Ausdruck und Vorstellung sinnlicher Vollkommenheit die Absicht des Meisters gewesen ist In diesem Gesichtspunkt wird es das Studium des schönen Alterthums, der Antike der schönen Kunstwerke“ (ebd S 8) – also Kunstgeschichte Oberstes Ziel der Beschäftigung mit antiker Kunst ist für Heyne letzteres, die Voraussetzung dafür ersteres, wozu vor allem ein intensives Studium der Schriftquellen nötig sei Dieses sah er jedoch bei Winckelmann stark vernachlässigt; und das war der Grund seiner Kritik Vgl dazu Daniel Graepler: Einleitung, Christian Gottlob Heyne und die Archäologie In: ders /Migl (Hg ): Das Studium des schönen Altertums S 12–14 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie Stuttgart: 31998 S 46 Wilamowitz-Moellendorffs Urteil zu Heyne ist jedoch durchaus ambivalent Einerseits nennt er ihn „Praeceptor Germaniae“ und konstatiert: „Es lohnt sich, bei ihm anzufragen“ (ebd ) Andererseits schränkt er seine Bedeutsamkeit nur auf seine Zeit ein: „Seiner Zeit genügte er, ward aber dann schon zu Lebzeiten überholt und hatte das Unglück, von undankbaren Schülern pietätlos beiseite geschoben zu werden“ (ebd )

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und Humboldt,39 der Archäologe Zoëga, die Philologen Thiersch, Friedrich Tieck, Clemens Brentano, Johann Heinrich Voß und Friedrich August Wolf, aber auch die Söhne König Georgs III und der spätere König Ludwig I von Bayern Auch wenn sie ihren Lehrer später – wie Voß und Wolf40 – zum Teil heftig kritisierten, übernahmen sie doch seinen Mythosbegriff und trugen ihn dadurch bis in unsere Zeit weiter Doch war es Heyne, der als erster ausführlich und explizit formulierte, was unsere heutigen Vorstellungen von antiken Mythen charakterisiert: ein Mythos entsteht kollektiv und hat keinen Erfinder; er ist eine universale Strategie zur Realitätsbewältigung und eine spezifische Denkform, die in allen Gesellschaften auftritt; er ist der sinnstiftende Reflex einer affektiven Weltbewältigungshaltung Ist die Idee vor Heyne auch nicht neu gewesen, in Mythen einen gewissen wissenschaftlichen Wert finden zu wollen, so wird doch erst durch Heynes neue Sicht auf das Phänomen Mythos und seine revolutionäre Forderung, Mythen als Quellen für verschiedenste Bereiche nutzbar zu machen, aus den Ideen der Vordenker eine erkenntnisschaffende Theorie und geisteswissenschaftliche Innovation

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Ausführlich zum Verhältnis zwischen Wilhelm von Humboldt und Heyne vgl Clemens Menze: Wilhelm von Humboldt und Christian Gottlob Heyne Ratingen: 1966 Vgl Kap 7 6 S 273–290 Zahllose Kritiken an Heyne durch Voß finden sich in dessen Mythologischen Briefen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann Vgl insbes Johann Heinrich Voß: Heynianismus, Nach Erfahrungen von Johann Heinrich Voss In: Antisymbolik, Bd 2 S 1–220 Vgl zu Voß’ kritischer Haltung gegenüber seinem Lehrer Fornaro: I Greci senza lumi S 112–114

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Anhang 30 25

20

Klassische Philologie

15

Alte Geschichte

10

Archäologie und Kunstgeschichte Mythentheorie und antike Religion

5 0

Diagramm 1 Übersicht über die Werkphasen Heynes, eigene Darstellung 18 16 14 12

Klassische Philologie

10

Alte Geschichte

8

Archäologie und Kunstgeschichte

6

Mythentheorie und antike Religion

4 2 0

1763-1769 1770-1779 1780-1789 1790-1799 1800-1812

Diagramm 2 thematische Verteilung der Programmschriften, eigene Darstellung

340

Anhang

8 7 6 5

Alte Geschichte

4

Archäologie und Kunstgeschichte

3

Mythentheorie und antike Religion

2 1 0

1763-1769 1770-1779 1780-1789 1790-1799 1800-1812

Diagramm 3 thematische Verteilung der Abhandlungen vor der Societät der Wissenschaften, eigene Darstellung 1000 900 800 700 600 500 400 300

Rezensionen Mitteilungen

200 100 0

Diagramm 4 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen und Mitteilungen, eigene Darstellung

341

Anhang

350 300 250 200

150

Klassische Philologie

100 50 0

Diagramm 5 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen im Fachgebiet Klassische Philologie, eigene Darstellung 90 80 70

60 50 40 30

Philologie/ Literaturwissenschaft/ Belletristik

20 10 0

Diagramm 6 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen im Fachgebiet Philologie/ Literaturwissenschaft/Belletristik, eigene Darstellung

342

Anhang

70 60 50 40

30

Alte Geschichte

20 10 0

Diagramm 7 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen im Fachgebiet Alte Geschichte, eigene Darstellung

90 80 70

60 50 40 30

Geschichte

20 10 0

Diagramm 8 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen im Fachgebiet Geschichte, eigene Darstellung

343

Anhang

120 100

80 60 40

Archäologie/ Kunstgeschichte

20 0

Diagramm 9 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen im Fachgebiet Archäologie/ Kunstgeschichte, eigene Darstellung

60 50

40 30 20

Religionswissenschaft/ Theologie

10 0

Diagramm 10 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen im Fachgebiet Religionswissenschaft/Theologie, eigene Darstellung

344

Anhang

120 100

80 60 Reiseberichte/Ethnographie/ Geographie

40 20 0

Diagramm 11 Entwicklung der Anzahl von Rezensionen im Fachgebiet Reiseberichte/ Ethnographie/Geographie, eigene Darstellung

450 400 350 300 250

Fabel

200

Mythos

150 100 50 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 12 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Fabel‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in allen untersuchten Rezensionen absolut, eigene Darstellung

345

Anhang

40 35 30 25 Fabel

20

Mythos

15 10 5 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 13 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Fabel‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in Relation zu den untersuchten Rezensionen hochgerechnet auf die Anzahl von Nennungen je 10 Rezensionen, eigene Darstellung 400 350 300 250 Fabel

200

Mythos

150 100 50 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 14 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Fabel‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in den untersuchten Rezensionen fremder Werke absolut, eigene Darstellung

346

Anhang

35 30 25 20 Fabel Mythos

15 10 5 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 15 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Fabel‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in Relation zu den untersuchten Rezensionen fremder Werke hochgerechnet auf die Anzahl von Nennungen je 10 Rezensionen, eigene Darstellung 120

100 80 Fabel

60

Mythos 40

20 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 16 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Fabel‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in den untersuchten Rezensionen eigener Werke absolut, eigene Darstellung

347

Anhang

70 60 50 40 Fabel Mythos

30 20 10 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 17 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Fabel‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in Relation zu allen untersuchten Rezensionen eigener Werke hochgerechnet auf die Anzahl von Nennungen je 10 Rezensionen, eigene Darstellung 300

250 200 Mythos

150

Mythologie 100

50 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 18 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Mythologie‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in allen untersuchten Rezensionen absolut, eigene Darstellung

348

Anhang

30

25 20 Mythos

15

Mythologie 10

5 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 19 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Mythologie‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in Relation zu allen untersuchten Rezensionen hochgerechnet auf die Anzahl von Nennungen je 10 Rezensionen, eigene Darstellung 250

200

150 Mythos Mythologie

100

50

0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 20 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Mythologie‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in den untersuchten Rezensionen fremder Werke absolut, eigene Darstellung

349

Anhang

25

20

15 Mythos Mythologie

10

5

0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 21 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Mythologie‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in Relation zu den untersuchten Rezensionen fremder Werke hochgerechnet auf die Anzahl von Nennungen je 10 Rezensionen, eigene Darstellung 70 60 50 40 Mythos Mythologie

30 20 10 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 22 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Mythologie‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in den untersuchten Rezensionen eigener Werke absolut, eigene Darstellung

350

Anhang

100 90 80 70 60 Mythos

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Mythologie

40 30 20 10 0

1763-1769

1770-1779

1780-1789

1790-1799

1800-1812

Diagramm 23 Anzahl der Erwähnungen der Begriffe ‚Mythologie‘ und ‚Mythos‘ sowie entsprechender Komposita in Relation zu den untersuchten Rezensionen eigener Werke hochgerechnet auf die Anzahl von Nennungen je 10 Rezensionen, eigene Darstellung

a lt e rt u m s w i s s e n s c h a f t l i c h e s ko l l o q u i u m Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben Herausgegeben von Rainer Thiel und Meinolf Vielberg. Wissenschaftlicher Beirat: Walter Ameling (Köln), Susanne Daub (Jena), Michael Erler (Würzburg), Angelika Geyer (Jena), Jürgen Hammerstaedt (Köln), Jan Dirk Harke (Jena), Gerlinde Huber-Rebenich (Bern), Elisabeth Koch (Jena), Christoph Markschies (Berlin), Norbert Nebes (Jena), Tilman Seidensticker (Jena), Dietrich Simon (Marburg), Timo Stickler (Jena), Christian Tornau (Würzburg) und Helmut G. Walther (Jena).

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1438–0552

Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder der Spätantike – Eliten und Leitbilder 1999. 133 S. und 8 Taf. mit 15 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-07547-3 Detlef Lotze Bürger und Unfreie im vorhellenistischen Griechenland Ausgewählte Aufsätze. Hg. von Walter Ameling und Klaus Zimmermann 2000. 318 S., geb. ISBN 978-3-515-07673-9 Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder in der Diskussion 2001. 120 S., kt. ISBN 978-3-515-07852-8 Claudia Sode Jerusalem – Konstantinopel – Rom Die Viten des Michael Synkellos und der Brüder Theodoros und Theophanes Graptoi 2001. 316 S., kt. ISBN 978-3-515-07711-8 Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder aus Kunst und Literatur 2002. 164 S. mit 32 Farb- und 12 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-08046-0 Walter Ameling (Hg.) Märtyrer und Märtyrerakten 2002. 148 S. und 12 Taf. mit 19 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08234-1 Günther Schörner Votive im römischen Griechenland Untersuchungen zur späthellenistischen und kaiserzeitlichen Kunst und Religionsgeschichte 2003. XVIII, 638 S. und 100 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07688-3

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Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbild Wissenschaft? 2003. 216 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08348-5 9. Oliver Ehlen Leitbilder und romanhafte Züge in apokryphen Evangelientexten Untersuchungen zur Motivik und Erzählstruktur (anhand des Protevangelium Jacobi und der Acta Pilati Graec. B) 2004. 312 S., kt. ISBN 978-3-515-08470-3 10. Stefano Conti Die Inschriften Kaiser Julians 2004. 224 S. und 13 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08443-7 11. Sabine Anselm Struktur und Transparenz Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Feldherrnviten des Cornelius Nepos 2004. 204 S. mit 25 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08478-9 12. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg Der Fremde – Freund oder Feind? Überlegungen zu dem Bild des Fremden als Leitbild 2004. 168 S., kt. ISBN 978-3-515-08577-9 13. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Zwischen Historiographie und Hagiographie Ausgewählte Beiträge zur Erforschung der Spätantike 2005. 107 S. und 2 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08661-5 14. Judith Steiniger P. Papinius Statius, Thebais Kommentar zu Buch 4, 1–344

2005. 181 S., kt. ISBN 978-3-515-08683-7 15. Sabine Hübner Der Klerus in der Gesellschaft des spätantiken Kleinasiens 2005. 318 S. mit 3 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08727-8 16. Jürgen Dummer Philologia sacra et profana Ausgewählte Beiträge zur Antike und zu ihrer Wirkungsgeschichte. In Verb. mit Roderich Kirchner und Claudia Sode hg. von Meinolf Vielberg 2006. 408 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08663-9 17. Johannes Hahn / Meinolf Vielberg (Hg.) Formen und Funktionen von Leitbildern 2007. 321 S. mit 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08998-2 18. Dagmar Hofmann Suizid in der Spätantike Seine Bewertung in der lateinischen Literatur 2007. 250 S., kt. ISBN 978-3-515-09139-8 19. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder im Spannungsfeld von Orthodoxie und Heterodoxie 2008. 178 S., kt. ISBN 978-3-515-09241-8 20. Stefan Freund / Meinolf Vielberg (Hg.) Vergil und das antike Epos Festschrift für Hans Jürgen Tschiedel. Hg. in Verbindung mit Volker Michael Strocka und Raban von Haehling

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2008. XV, 565 S. mit 18 Abb., 4 Diagr., 5 Tab. und 1 farb. Falttaf., geb. ISBN 978-3-515-09160-2 Walter Ameling (Hg.) Topographie des Jenseits Studien zur Geschichte des Todes in Kaiserzeit und Spätantike 2011. 193 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09882-3 Oliver Ehlen Venantius-Interpretationen Rhetorische und generische Transgressionen beim „neuen Orpheus“ 2011. 479 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09872-4 Meinolf Vielberg (Hg.) Die klassische Altertumswissenschaft an der Friedrich-SchillerUniversität Jena Eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte 2011. 256 S. mit 23 Abb. und 1 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09865-6 Peter Kritzinger Ursprung und Ausgestaltung bischöflicher Repräsentation 2016. 340 S. mit 16 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11499-8 Judith Hagen Die Tränen der Mächtigen und die Macht der Tränen Eine emotionsgeschichtliche Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie 2017. 356 S., kt. ISBN 978-3-515-11852-1

In Mythen haben die ältesten Vorstellungen und frühesten historischen Ereignisse der Menschheit ihre Spuren hinterlassen. Diese Feststellung mag heute wenig Furore machen; noch im 18. Jahrhundert jedoch war das anders: Man erhob antike Mythen teilweise zu verschlüsselten Geheimbotschaften, in denen sich uralte Weisheit verbirgt, teils verteufelte man sie als gottlose Ketzerei, teils sah man in ihnen nichts weiter als schöne Geschichten aus einer anderen Welt. Auf keinen Fall jedoch erachtete man sie als einen Gegenstand, welcher der wissenschaftlichen Betrachtung wert

ISBN 978-3-515-12489-8

9 783515 124898

gewesen wäre. Dieser Bewertung des antiken Mythos arbeitete der Göttinger Professor Christian Gottlob Heyne Zeit seines Lebens entgegen. Er betonte immer wieder, dass sich im Mythos die Grundmuster menschlichen Denkens erkennen lassen, und schuf die erste wissenschaftliche Mythentheorie. Lydia Merkel zeigt in dieser Studie, wie es Heyne gelang, die eigentliche Bedeutung des Mythos für die Geisteswissenschaften zu erschließen und damit den entscheidenden Schritt zum modernen Mythosbegriff zu gehen.

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