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German Pages 342 [352] Year 1973
HEINZ LÖWE · VON CASSIODOR ZU DANTE
W G DE
VON CASSIODOR ZU DANTE Ausgewählte Aufsätze zur Geschichtschreibung und politischen Ideenwelt des Mittelalters
VON H E I N Z LÖWE
WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1973
ISBN 3 11 003739 4 Library of Congress Catalog Card Number: 73-75491 © 1973 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit 8c Comp., Berlin 30 Printed in Germany Ohne ausdrüdtliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen Satz und Drude: Saladruck, 1 Berlin 36
MEINER FRAU
Inhalt Einleitung
1
Cassiodor
11
Von Theoderith dem Großen zu Karl dem Großen. Das Werden des Abendlandes im Geschichtsbild des frühen Mittelalters
33
Arbeo von Freising. Eine Studie zu Religiosität und Bildung im 8. Jahrhundert
75
Liudger als Zeitkritiker
111
Das Karlsbuch Notkers von St. Gallen und sein zeitgeschichtlicher Hintergrund
123
Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit
149
Gesdiiditschreibung der ausgehenden Karolingerzeit
180
Von den Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit
206
Kaisertum und Abendland in ottonischer und frühsalischer Zeit
231
Petrus Damiani. Ein italienischer Reformer am Vorabend des Investiturstreites
260
Dante und die Staufer
277
Dante und das Kaisertum
298
Abkürzungsverzeichnis
329
Register (bearbeitet von Immo Eberl)
331
Einleitung Die hier vorgelegte Sammlung 1 ) von Arbeiten aus den Jahren 1948 bis 1970 bietet nicht einfach einen Band thematisch zusammenhangloser „Gesammelter Aufsätze", sondern eine Auswahl nach gleichartigen inhaltlichen und methodischen Gesichtspunkten. Ein Wort zur Einführung mag daher gestattet sein. Ein Element der Ubereinstimmung liegt zunächst darin, daß die ausgewählten Arbeiten zwar bis auf wenige Ausnahmen aus Vorträgen hervorgingen und dementsprechend Gestalten und Probleme von allgemeinhistorischer Bedeutung ins Auge faßten, daß sie aber durchweg die Form der Einzeluntersuchung wählten und versuchten, das Allgemeine im Einzelnen zu finden, die Welt sich im Tautropfen spiegeln zu lassen. Inhaltlich gesehen bilden Geschichtschreibung und politische Ideenwelt des Mittelalters den gemeinsamen Nenner, wobei das Wort Ideenwelt im weitesten Sinne als politische Vorstellungswelt verstanden werden möchte, also nicht als politische Theorie, von der im präzisen Sinne im Rahmen dieser Aufsätze erst bei Dante gesprochen werden könnte, an dem hier aber nicht so sehr die strenge Theorie seiner „Monarchia" interessiert als die ihr zugrunde liegende, durch Lebenserfahrung und Geschichtskenntnis geprägte Vorstellungswelt. Andererseits ist nidit an ein einfaches Nebeneinander von Geschichtschreibung und politischer Ideenwelt gedacht; quellenkritisdie Untersuchungen historiographischer Quellen sind in die Auswahl nicht aufgenommen worden. Vielmehr liegt den ') Die einzelnen Beiträge werden im wesentlichen unverändert abgedruckt. Irrtümer, soweit sie mir aufgefallen oder freundlicherweise mitgeteilt worden waren, wurden beseitigt; bei älteren Arbeiten wurde an zentralen Stellen neuere Literatur nachgetragen und inhaltlich berücksichtigt; doch war nicht beabsichtigt, eine neue Bibliographie aller nur berührten Gegenstände zu geben. Auch mußte ich gelegentlich der Tatsache Rechnung tragen, daß ich in einer späteren Arbeit zu abweichenden Ergebnissen gekommen w a r ; das war unvermeidbar, wenn der Band eine Einheit sein sollte. Im übrigen aber habe ich die Aufsätze nach Wort und Inhalt so belassen, wie sie seinerzeit niedergeschrieben worden waren; es konnte nicht meine Absicht sein, jede Formulierung zu überarbeiten und damit zu verdecken, daß auch der Autor sich vielleicht im Laufe eines Vierteljahrhunderts gewandelt haben könnte. Für Mithilfe bei den Korrekturen sowie für die Anfertigung des Registers habe ich Herrn Immo Eberl zu danken.
Einleitung
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meisten der folgenden Arbeiten auch ein gemeinsames methodisches Prinzip zugrunde; es geht um die Erfassung der Geschichtschreibung als Ausdruck der politischen Ideenwelt des Mittelalters. Also wird Geschichtschreibung nicht so quellenkundlich gesehen, wie es im 19. Jahrhundert fast ausschließlich geschah, als Wilhelm Wattenbach sein Buch über „Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter" anstelle einer Geschichte der mittelalterlichen Geschichtschreibung schrieb (1858); sie wird nicht in ihrem unmittelbaren Aussagewert für Ereignisse, Personen und Tatsachen betrachtet, sondern als „Überrest" der Geschichte selbst, als Überrest des Wollens, Fühlens und Denkens der Autoren und dieser wieder als Repräsentanten einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Schicht. Das war möglich, weil die Geschichtschreiber sich nicht immer darauf beschränkten, Fakten annalistisch aneinanderzureihen, sondern sich die Freiheit nahmen, Beziehungen herzustellen, Wertungen auszusprechen und, falls es sidi um zurückblickende Weltgeschichte handelte, den Stoff in einer Weise auszuwählen und zu ordnen, die ihren Standpunkt in ihrer Welt widerspiegelt. Indem sie so eine Beziehung zwischen sich selbst und den von ihnen geschilderten Fakten herstellten, entbehrten sie freilich der Hilfsmittel moderner Quellenkritik; sie konnten — noch weniger als moderne Historiker — die ihnen durch Umwelt und Zeitgeist gezogenen Grenzen überschreiten, hatten aber auch gar nicht die Absicht, dies zu tun. Sie sahen und schilderten die Dinge auf ihre Weise. Nicht alle Ereignisse dieser Zeit hinterließen bei den Zeitgenossen einen so starken Eindruck, wie der moderne Betrachter erwarten möchte, und man darf sich nicht wundern, daß es ζ. B. im Mittelalter Geschichtschreiber gegeben hat, die vom Kaisertum Karls des Großen nichts wußten oder wissen wollten. Die Menschen dieser Zeit lebten in einer ganz anderen Welt als wir. Man hat daher längst eingesehen, daß es verfehlt wäre, über solche „Mängel" der Geschichtschreibung pharisäisch die Nase zu rümpfen, sondern hat erkannt, daß gerade an ihnen die Eigenheit des Autors und seiner Zeit, für die er doch mindestens in gewissem Umfang repräsentativ ist, dem Betrachter deutlich wird, sofern dieser nur gesonnen ist, die Vergangenheit und ihre Quellen ernst zu nehmen. Hier spricht im Mittelalter auch beim geistlichen Verfasser die Stimme der adligen Schicht, aus der er hervorgegangen ist und die der Kirche des Mittelalters ihr Gepräge gegeben hat. Diese Stimme aber klingt in der Geschichtschreibung deutlicher und realitätsgebundener als etwa in der geistlichen Theorie der Fürstenspiegel, die über dem Ideal des christlichen Herrschertums die Realität politischer Aufgaben oder Tatbestände nur allzu häufig vergaßen. Das bedeutet: In der Geschichtschreibung wird etwas von dem faßbar, was man heute gern als die „Mentalität" einer Zeit bezeichnet 2 ); dabei ist klar, daß es sich nur um die Mentalität der adligen Führungsschicht handeln kann, da die Unterschicht in dem Zeitraum, den diese 2
) Vgl. G. D u b y , Histoire des mentalitis, in: Lliistoire et ses mithodes, hg. von Ch. Samaran (1961).
Einleitung
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Auswahl umfaßt, literarisdi im wesentlichen noch stumm war, so wenig zu übersehen ist, daß sie indirekt in den Werken der Adligen zu Worte kommen konnte. So gesehen, ist die Untersuchung mittelalterlicher Geschichtschreiber durchaus in der Lage, einen Beitrag zur Sozial- oder Strukturgeschidite und insbesondere zu der von der neueren französischen Forschung programmatisch vertretenen „Histoire de la mentalite" zu geben. Als Quellengattung ist die mittelalterliche Historiographie daher insofern neu ins Blickfeld gerückt, als man zwar ihren Aussagewert als „Tradition" für die Feststellung von Tatsachen seit längerem mit Vorsicht zu betrachten begonnen hat, ihr als „Überrest" vergangener Strukturen oder Mentalitäten jedoch ganz unmittelbaren Erkenntniswert zumessen muß. Die Forschung hat diesen Fragen in den letzten Jahrzehnten zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet, wenn auch noch keine Rede davon sein kann, daß die hier liegenden Möglichkeiten bereits ausgeschöpft seien. Freilich ist der Zugang zu ihnen nicht immer ganz einfach, und eine Methode mit Patentrezepten ist bisher weder gefunden, noch kann sie gefunden werden. Ein großes Hindernis ist gewiß darin zu sehen, daß die Autoren nicht in ihrer Muttersprache, sondern lateinisch schrieben und so die „Sachen" der mittelalterlichen Jahrhunderte mit „Wörtern" bezeichneten, die einst in einer völlig anderen Kultur ihre ganz besondere Bedeutung besessen hatten. Dazu kam der durch die antik-literarische und religiös-kirchliche Bildung der Verfasser gegebene Formzwang; die Schulung im Gebrauch der rhetorischen Kunstmittel sowie der ständige Umgang mit Bibel, Liturgie und theologischer Literatur prägten den sprachlichen Ausdruck bis hinein in den Wortschatz und die Sehweise. Ganz besonders deutlich geschah dies in der Gattung der Hagiographie, der das Heiligenideal mit seinen typischen Legendenzügen ein seinerseits dem geschichtlichen Wandel unterliegendes Gepräge gab. So bildete sich eine Schale des traditionell Weitergegebenen, die man durchstoßen muß, um zum Kern zu gelangen, zur Person des Autors als Repräsentanten seiner Welt. Der Weg dahin kann nicht eindeutig definiert werden; in den Untersuchungen dieses Bandes ist er durchaus auf verschiedene Weise beschritten worden. Zu Arbeo von Freising führte er, indem die Abweichungen vom Kanon hagiographischer Gemeinplätze herausgearbeitet wurden; Liudger wurde als „Zeitkritiker" erkannt, als der gelegentlich etwas spöttisch abgetane „gewöhnliche Legendenstil" ernst genommen und als Träger einer ganz bestimmten kritischen Funktion erkannt wurde. Dabei ergab sich volle Übereinstimmung mit der Auffassung, daß Topos und Zitat der mittelalterlichen Schriftsteller legitimer Ausdruck eigener Gedanken sein konnten 3 ). Dieses, im einzelnen durchaus verschiedene Wege gehende Bemühen, die historiographischen Quellen als „Überreste" vergangenen Lebens zu würdigen, ist den hier vorliegenden Arbeiten gemeinsam. Es versteht sich von selbst, daß J
) Vgl. unten S. 54 Anm. 99.
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Einleitung
dieser Quellengattung damit keine Vorzugs- oder gar Ausschließlichkeitsrechte eingeräumt werden sollten; sie ist eher, wie es scheint, anderen Quellengruppen gegenüber in der Defensive, verdient es aber — und das ist wohl audi die Meinung anderer Autoren — im Hinblick auf den in ihr liegenden Erkenntniswert auch heute nicht, vernachlässigt zu werden. Ganz abgesehen davon greifen die Arbeiten über Cassiodor, Petrus Damiani und Dante über die Geschichtschreibung hinaus auf ganz andere Quellengruppen zurück, um jeweils den Menschen in einer bestimmten Situation zu erfassen. Mit den hier genannten Persönlichkeiten sind zugleich die zeitlichen Grenzen des Bandes abgesteckt. Am Anfang steht Cassiodor, der Mann am Ende der alten Kulturwelt, der bei dem Versuch scheiterte, das Römerreich und seine Kultur mit Hilfe der Ostgoten Theoderichs zu erhalten; am Ende steht Dante, der aus der Welt der italienischen Städte und ihrer frühkapitalistischen Wirtschaft kam, freilich noch ganz in mittelalterlich adligen Vorstellungen lebte, der den Versuch einer Erneuerung des Kaisertums durch Heinrich VII. unterstützte und das Scheitern dieses Versuches überlebte. Dabei war er so weit von Cassiodor entfernt, daß er diesen, bei dem er den ihm so wichtigen Begriff der civilitas hätte wiederfinden können, historisch nicht mehr sah und ihn in der großen Galerie von Namen in seiner Göttlichen Komödie nicht einmal erwähnte. So schwebt die Frage nach dem „Vergeblichen in der Geschichte", wie sie Wolfram von den Steinen 4 ) vor Jahren gestellt hat, über den Gestalten Cassiodors und Dantes, und in ihr könnte eine Erinnerung daran liegen, daß Männer durchaus nicht immer Geschichte machen, sondern auch unter ihr leiden können und daß gerade deshalb auch einzelmenschliches Schicksal vom Historiker nicht vergessen werden sollte. Innerhalb dieses Zeitraums stehen hauptsächlich zwei Fragenbereiche im Vordergrund. Der eine ist, wie man nachträglich sagen darf, unmittelbar sozialgeschichtlicher, oder wenn man will, strukturgeschichtlicher Art. Gewiß ging die Fragestellung nicht von vornherein präzis in diese Richtung; an Cassiodor reizte das Bild eines Menschen am Rande einer untergehenden Welt, und noch in der Untersuchung über Regino von Prüm spielte die Vorstellung von dem den Menschen überrollenden Strom der Geschichte eine Rolle. Aber auch damit war über das Individuelle hinaus nach einem Allgemeinen gefragt, und Regino selbst wurde ausdrücklich als Repräsentant der adligen Welt des beginnenden 10. Jahrhunderts gesehen. Bei Arbeo von Freising ging es grundsätzlich um „Religiosität und Bildung im 8. Jahrhundert". Diese Arbeit entstand im Zusammenhang mit Studien über die Christianisierung der Germanen, für welche die Geschichte der Historiographie zunächst durchaus von sekundärem Interesse gewesen war; sie setzte sich das Ziel, an einen in seinen Werken greifbaren Menschen dieser Zeit — und sei es auch einen Angehörigen der Oberschicht — die Frage zu stellen, wieweit oder wie wenig das Christen4
) W. v o n d e n S t e i n e n , Das Vergebliche in der Geschichte, in: Geschichte und Politik, hg. von H . G. Dahms 9, o. J .
Einleitung
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tum seit der ersten Mission bereits in den Gemütern Fuß gefaßt hatte. Es ging also um eine Momentaufnahme aus jenem langen Prozeß der „inneren Christianisierung", den die moderne Forschung zwar sieht, aber noch keineswegs voll zur Darstellung gebracht hat. Auch diese Fragestellung besaß in einem weiteren Sinne sozialgeschichtliche Bedeutung. Daher konnte es geschehen, daß gerade die intensivierte gesellschaftsgeschichtliche Forschung der letzten Jahre die Eigenheiten Arbeos, die hier vor allem als Restbestände vorchristlicher Haltung gesehen worden waren, als Ausdruck seiner adligen Weltauffassung interpretierte 5 ), wobei die eine Interpretation mit der anderen insofern durchaus zu vereinbaren ist, als das Archaische gerade beim traditionsstolzen Adel weitergelebt hatte. In den Bereich der Sozialgeschichte führte auch die Frage nach „Liudger als Zeitkritiker". Die Untersuchung ging aus zunächst ganz anderen Fragestellungen hervor. Bei dem Bemühen, einen Beitrag für eine Festschrift über den fränkischen Bonifatius-Schüler Gregor von Utrecht zu schreiben, wurde klar, daß die Vita Gregorii aus der Feder des Friesen Liudger erst voll zum Sprechen zu bringen sei, wenn man sie nicht so sehr nach ihren Aussagen über Gregor als vielmehr nach ihrem Wert als Selbstzeugnis Liudgers befragte. Denn hier übte dieser in der Schule der angelsächsischen Mission ausgebildete Friese scharfe Kritik an dem mangelnden Missionseifer und dem weltlichen Lebensstil der adligen Bischöfe in der fränkischen Reichskirche, indem er ihnen den Bonifatius und die Männer seines Kreises als wahrhaft apostolische Idealgestalten entgegenstellte. Die Problematik der Adelsmacht in der Kirche, wie sie neuerdings in größerem Zusammenhang wieder behandelt worden ist 6 ), schien hier auf, weil ein Außenseiter den Finger auf die vorhandenen Wunden legte. Schon vor dieser Analyse der Vita Gregorii war am Beispiel der am Ende der Karolingerzeit entstandenen Weltchronik Reginos von Prüm aufgezeigt worden, wie sehr dieser Kirchenmann, der an der „inneren Christianisierung" seiner Umwelt arbeitete, seinerseits geprägt war von archaischen, adligen Wertbegriffen, und es erwies sich als möglich, die von ihm gebrauchten, aus christlichen und heidnischen Schriftstellern der Antike entnommenen Begriffe, wie ζ. B. den der „magnanimitas", als die lateinische Umschreibung dieser frühmittelalterlichen adligen Lebensauffassung zu sehen. Die Gesta Karoli Notkers von St. Gallen, einmal nicht als Quellen zur Geschichte Karls des Großen betrachtet, erwiesen sich als Zeugnis nicht nur politischer Überlegungen in der Zeit der Reichskrise kurz vor dem Sturz Kaiser Karls III. (887), sondern waren auch insofern aufschlußreich, als Notker und der Kreis seiner Freunde hier als Angehörige einer bestimmten Adelsgruppe, des kleinen grundherrlichen Adels, sprachen, der in fühlbarem Gegensatz zu dem im Königsdienst bereits aufgestiegenen „arrivierten" Reichs5)
K. B o s l , Der „Adelsheilige", in: Speculum historiale. Festschrift f. J . Spörl (1965) S. 167—187. ' ) F. Ρ r i η ζ , Klerus und Krieg im früheren Mittelalter (1971).
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Einleitung
adel stand. Hier wurde die Möglichkeit genutzt, audi innerhalb des Adels zu differenzieren. Der zusammenfassende Aufsatz über die „Geschichtschreibung der ausgehenden Karolingerzeit" versuchte die strukturell verschiedenartige Entwicklung im Ost- und Westfrankenreich auch auf dem Felde der Geschichtschreibung herauszuarbeiten. Die Rolle des Adels trat bei den Geschichtschreibern — und das entspricht den Gegebenheiten der Verfassungs- und Sozialgeschichte — im Westen klarer hervor als im Osten; andererseits fanden sich insbesondere in der Hagiographie Hinweise darauf, daß es hier wie dort Adelskritik gab und daß die geistlichen Verfasser das Schicksal der Unterschichten durchaus nicht nur mit adligen Augen betrachteten. Grundsätzlich wird man nach den Ergebnissen dieser Arbeiten wohl zugestehen dürfen, daß die Beschäftigung mit mittelalterlicher Historiographie nicht nur zur Literaturgeschichte und zur Quellenkunde älteren Stils beiträgt, sondern unmittelbar zur Geschichte selbst, sei es nun die Geschichte der politischen und sozialen Ordnung oder der politischen Ideen. Mit der politischen Ideenwelt ist bereits das zweite zentrale Thema dieses Bandes bezeichnet. Im Vordergrund steht dabei die Kaiseridee im abendländischen Mittelalter und insbesondere die Wirkungskraft, die dem Kaisergedanken in den Gebieten außerhalb des mittelalterlichen Reiches zukam. Die Formulierung im Titel einer dieser Arbeiten sagt, was sie alle erstrebten, nämlich die „Grenzen des Kaisergedankens" aufzuzeigen. Dabei war weder an die alte Kontroverse gedacht, ob das mittelalterliche Kaisertum einen Weltherrschaftsanspruch gekannt habe oder nicht, noch an den billigen Nachweis, daß das Kaisertum sich gegenüber der politischen Wirklichkeit selbständiger Völker und Staaten nicht hätte durchsetzen können. Vielmehr wurde die gelegentlich zu findende Auffassung in Frage gestellt, daß man sich zwar gegen Oberhoheit und Oberherrschaft des Imperiums zur Wehr gesetzt habe, aber letztlich nur schlechten Gewissens, weil man im Grunde doch an den göttlichen Auftrag des Imperiums glaubte, der ein Postulat der römischen Reichsidee war. Daß dies nicht zutraf, daß man vielmehr beim Widerstand gegen das Imperium und seinen etwaigen Weltherrschafts- oder Weltgeltungsanspruch durchaus guten Gewissens war und sich seinerseits im Einklang mit der göttlichen Weltordnung glaubte, konnte gerade auf Grund historiographischer Quellen gezeigt werden. So ist diese Gruppe von Untersuchungen mit der ersten dadurch verbunden, daß sie überwiegend auf Zeugnissen von Geschichtschreibern aufbaute. Den Ausgangspunkt bildete die Untersuchung „Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen", die „das Werden des Abendlandes im Geschichtsbild des frühen Mittelalters" darzustellen suchte. Das Kaisertum, um das es hier ging, war das römische der Kaiser in Byzanz, und es sollte auf Grund historiographischer und geschichtstheologischer Werke des lateinischen Westens gezeigt werden, daß die traditionelle Auffassung des römisch-byzantinischen Reiches als der vierten und letzten, bis ans Ende der Zeiten dauernden Welt-
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monarchic im Westen weithin nicht mehr als selbstverständlich galt, daß man diese Weltmonarchie abgelöst sah durch die Gemeinschaft der gläubigen Völker und Könige in der Christenheit und daß man dem römisch-byzantinischen Kaiser zwar einen Ehrenvorrang, aber keine Führungsrechte mehr zubilligte. Es war eine willkommene Ergänzung dieser Erwägungen, wenn später der Gedanke der „imitatio imperii" 7) als eine wesentliche Triebkraft der Politik der germanischen Könige des Westens herausgearbeitet wurde und schließlich sogar die Bezeichnung „Klein-Kaisertümer" für die Herrschaften des Westens 8 ) geprägt werden konnte. Wenn andererseits hervorgehoben worden ist, daß vor dem Jahre 800 eine „gemeinabendländische Abneigung gegen den Osten" — ein „Antibyzantinismus" — nicht nachzuweisen sei 9), dann berührt das diese Ergebnisse insofern nicht, als es nicht um „Abneigung gegen den Osten", sondern um die Nichtgeltung seines Führungsanspruches im Westen ging und derselbe Autor auch für die Zeit vor 800 „Ansätze zu einem neuen politischen Weltbild" zugibt, die er allerdings für schwach hält, die aufzuzeigen aber gerade das Ziel der abgedruckten Untersuchung gewesen war. Die Betrachtung des neuen, im Jahre 800 entstandenen karolingischen Kaisertums ist unter diesem Gesichtspunkt insofern nicht einfach, als sich die Zeitgenossen schon vor der Kaiserkrönung der imperialen universalen Terminologie bedienten, um die Bedeutung des Karlsreiches zu würdigen, während Karl selbst bereits vor 800 als gleichberechtigter „König des Westens" neben den „König des Ostens" trat und bei dem endgültigen Ausgleich mit Byzanz sich unter Verzicht auf die römische Bezeichnung seines Kaisertums mit der „brüderlichen" Gleichstellung der Kaiser des Orientale atque occidentale Imperium begnügte. Der byzantinische Kaiser freilich erhob den vorher nur gelegentlich angewandten Titel des „römischen" Kaisers zu ständigem Gebrauch, um damit zu bezeugen, daß der universale römische Reichsanspruch weiterhin von Konstantinopel aufrechterhalten wurde. Doch darf hier vielleicht ergänzend auf ein Zeugnis hingewiesen werden, das erkennen läßt, wie die Errichtung eines zweiten Kaisertums, d. h. die Entstehung des Zweikaiserproblems, und die Festlegung des römischen Kaisertitels in Byzanz auf Außenstehende wirkten; dieses Zeugnis findet sich bei dem arabischen Historiker al-Mas'udi (ca. 890—956), der die neue Lage zwar aus weitem zeitlichen Abstand und im Detail unrichtig, aber im Grundsätzlichen sehr aufschlußreich geschildert hat 10 ): Kaiser Nikephoros Phokas (802—811) habe den bis dahin gültigen Titel „Kaiser der Christen" abgeändert, indem er sich damit begnügte (!), „Kaiser 7
) Vgl. den unten S. 217, 219, Anm. 70, 77 genannten Aufsatz von E. E w i g . ) Κ. Η a u c k , Von einer spätantiken Randkultur zum karolingisdien Europa, Frühmittelalterliche Studien 1 (1967) S. 3—93; ders., Politische und asketische Aspekte der Christianisierung, in: Festgabe für K. von Raumer (1966) S. 45—61. e ) F. H a e n s s l e r , Byzanz und Byzantiner. Ihr Bild im Spiegel der Überlieferung der germanischen Reidie im früheren Mittelalter, Diss. Bern 1960. 10 ) E. H o n i g m a n n , Notes sur trois passages d'al Mas'oudi, in: Annuaire de l'Institut de Philol. et d'Hist. Orientale et Slave 12 (1953) S. 182—184. β
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Einleitung
der Römer (Rum)" genannt zu werden; denn er sei nicht Kaiser der Christen, sondern der Römer, und die Herrscher dürften nur sagen, was recht sei. Daraus geht eindeutig hervor, daß al-Mas'udi den Wechsel des Titels — natürlich durchaus im Widerspruch zu den eigentlichen Motiven — als Verzicht auf den christlich-universalen Herrschaftsanspruch und als Beschränkung der kaiserlichen Herrschaft auf das Reichsvolk der „Römer (Rum)" betrachtete. Von den Franken und Karl dem Großen sprach er in diesem Zusammenhang nicht; aber es war letztlich die durch Karls Kaiserkrönung besiegelte Situation im Westen, d. h. die endgültige Verselbständigung der westlichen Christenheit, die es dem arabischen Historiker ermöglichte, die byzantinische Titeländerung als den Verzicht auf christlich-universale Herrschaft zu sehen. Es war jedoch nidit die Absicht, die Geschichte des Zweikaiserproblems, d. h. des Rivalisierens zweier wenigstens theoretisch universaler Ansprüche, weiter zu verfolgen. Zur Frage stand die Geltung des Kaisertums im Westen selbst, außerhalb des eigentlichen Reichsgebietes. Dabei ergab sich, daß der Kaisergedanke im 9. Jahrhundert außerhalb des Reiches keine Wurzeln schlagen konnte. Im christlichen Spanien, d. h. im Königreich Asturien, das bewußt die Tradition der Westgoten weiterführte, erkannte man einen Führungsanspruch des karolingisdien Kaisertums nicht an; das Königtum nahm anknüpfend an die westgotische „imitatio imperii" selbst imperiale Züge an, und schon Alfons III. erwarb eine karolingische Krone aus dem Kirchenschatz von St. Martin zu Tours und errang damit einen Platz in der Vorgeschichte des vieldiskutierten spanischen Kaisertums, das allerdings keinen dauernden Bestand hatte. Im England des 9. Jahrhunderts ignorierte man ganz bewußt — trotz Kenntnis der Vita Karoli Magni Einhards — das Kaisertum Karls des Großen; im langobardischen Herzogtum Benevent widersetzte man sich der Herrschaft der Franken auch durch die Tat und sah das wahre römische Kaisertum nicht bei ihnen, sondern in Byzanz. Was so von den „Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit" zu sagen war, galt und gilt aber auch für das Verhältnis von „Kaisertum und Abendland in ottonischer und frühsalischer Zeit". Das nicht mehr, wie zur Zeit Karls des Großen, fast die ganze westliche Welt umfassende, sondern auf Deutschland, Italien und Burgund eingegrenzte Imperium der Ottonen und Salier stieß nach wie vor auf Vorbehalte in Spanien und England, welche die Formen des imperialen Königtums weiter ausbildeten, so daß es kein Zufall war, wenn gerade spanische und englische Kanonisten als erste den Grundsatz „rex est imperator in regno suo" formulierten 11). Aber auch in Frankreich war man nicht geneigt, eine kaiserliche Oberhoheit, und sei es auch nur im Sinne einer höheren kaiserlichen „auctoritas", anzuerkennen. Dabei unterschied sich die französische Haltung
n
)
M. V o r h o l z e r , Kaisertum, imperiales Königtum und Souveränität in der englisdien Geschichtschreibung, Diss. Erlangen 1962, hat für England die Entstehungsgeschichte der Formel rex est imperator in regno suo von der Geschichtschreibung her zu verdeutlichen gesucht.
Einleitung
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gegenüber dem Kaisertum von der englischen und spanischen, da England und Spanien dem Karolingerreich nicht angehört hatten, während in Frankreich zunächst noch Karolinger regierten, die sich ihrerseits als die eigentlichen Träger der karolingischen Kaisertradition fühlen durften und gerade dadurdi die französischen Geschichtschreiber in der Auffassung bestärken konnten, der König von Frankreich sei dem Kaiser nicht unterstellt. Diese Untersuchungen sind dann im Hinblick auf Frankreich von anderer Seite 12) noch weiter vertieft und präzisiert sowie über den Investiturstreit hinaus bis in die Stauferzeit weitergeführt worden. Der den Anfängen des Investiturstreits gewidmete Aufsatz über Petrus Damiani ist früher entstanden als die beiden letztgenannten Arbeiten und faßte in erster Linie den „italienischen Reformer am Vorabend des Investiturstreits" ins Auge, der sich von der gewaltsamen revolutionären Politik Gregors VII., des „heiligen Satans", unverkennbar distanzierte; aber er ordnet sich in den Zusammenhang dieses Bandes gut ein, weil er erkennen läßt, wie selbst Petrus Damiani dem Papsttum eine quasi-imperiale Stellung in der Welt zubilligte, neben der es dem Kaisertum nicht leichtfallen konnte, einen eigenständigen Platz zu behaupten. Stand Petrus Damiani noch am Anfang einer Bewegung, die schließlich nicht mehr bereit war, die geistlich-weltliche Zuständigkeit des ottonischsalisdien König- und Kaisertums im Sinne des frühmittelalterlichen Zusammenwirkens beider Gewalten innerlich anzuerkennen, so setzte Dantes Auffassung des Kaisertums die vom Investiturstreit erzwungene Trennung des geistlichen und weltlichen Bereichs bereits als selbstverständlich voraus. Hier konnte die Untersuchung über „Dante und das Kaisertum" anknüpfen, welche die historischen Voraussetzungen seiner Kaiseridee herauszuarbeiten suchte und gegenüber allzu harmonisierenden Sehweisen hervorhob, daß Dante nicht einfach in die Tradition des Kaisertums der Ottonen, Salier und Staufer zu stellen ist, dem er mit deutlicher Kritik gegenübertrat. Daran knüpfte der spätere Aufsatz über „Dante und die Staufer" an, der zeigte, daß Dantes Bild der Herrscher dieses Hauses auf Geschichtsquellen aus dem päpstlichen und italienisch-städtischen Lager beruhte und daß er daher trotz aller Sympathie für Herrscher wie Friedrich II. oder Manfred in den Staufern nicht die Repräsentanten des von ihm erstrebten idealen Kaisertums sehen konnte. Auch bei diesem Verfechter der Kaiseridee wirkte sich die Tatsache aus, daß die Welt der italienischen Stadtgemeinde, die ihn geprägt hatte, im Kampf mit den Staufern emporgekommen war. So ergeben sich gerade bei Dante als leidenschaftlichem Verfechter des Kaisergedankens Hinweise auf Grenzen und Widerstände, die dem mittelalterlichen Kaisertum gesetzt waren. Dieses Kaisertum, das sich schließlich ein „römisches" nannte, war dem römischen Reich nicht vergleichbar; es umfaßte nicht die ganze christliche, nicht 1!!
) K. F. W e r η e r , Das hochmittelalterlidie Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs (10.—12. Jahrhundert), HZ. 200 (1965) S. 1—60.
Löwe, Cassiodof
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Einleitung
einmal die lateinische Welt, und weder seine reale Macht noch seine ideelle Ausstrahlung reichten über die Grenzen des eigentlichen Reichsgebietes wirksam hinaus, da dort nicht die vermeintlichen oder wirklichen Führungsansprüche des Kaisers, sondern nur seine höhere Würde anerkannt wurden. Eine andere Besonderheit dieses Kaisertums ist in den Arbeiten dieses Bandes nur am Rande berührt worden, der Tatbestand nämlich, daß der Kaiser nicht einmal die Stadt Rom selbst, nach der er sich nannte, wirklich beherrschte, und daß nur vorübergehend Kaiser wie Ludwig II. 1 S ) und Otto III. daran denken konnten, ihre Residenz in Rom zu errichten. Jedenfalls war den hier zusammengefaßten Arbeiten gemeinsam, daß sie eine in der populären Anschauung und selbst in manchen Handbüchern „herrschende Meinung" in Frage stellten und durch ein realistisches Bild zu ersetzen suchten. Die Aufsätze zum Kaisertum waren einmal als Vorarbeiten zu einem Buch über den mittelalterlichen Kaisergedanken gedacht; auch hinter den Arbeiten zu einzelnen Geschieh tschreibern begann der Plan eines umfassenden Werkes sich abzuzeichnen. Ob ich das eine oder das andere oder keines von beiden werde abschließen können, vermag ich angesichts der Zeitumstände nicht zu sagen. So schien es mir richtiger, Anregungen aus dem Kreise meiner Schüler zu folgen und die vorhandenen Teile für das unvollendete Ganze zeugen zu lassen.
t3)
Einige Andeutungen zur römischen Politik Ludwigs II. gibt H. L ö w e , Hinkmar von Reims und der Apokrisiar, in: Festschrift f ü r H. Heimpel 3 ( = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/3), Göttingen 1973.
Cassiodor W e r immer den Übergang v o n der A n t i k e zum M i t t e l a l t e r und das Ende der antiken K u l t u r R o m s sich vergegenwärtigen w i l l , dem w i r d Cassiodor v o r A u g e n stehen als der M a n n , in dessen Seele diese welthistorische K r i s e ihren deutlichsten Ausdruck f a n d . Es ist nun allerdings nicht so, als habe v o n einem bestimmten Augenblick seines Lebens ab der „letzte R ö m e r " in ihm die Bühne der geschichtlichen W i r k s a m k e i t verlassen und der „erste mittelalterliche Mensch" seinen P l a t z eingenommen. Diese Ansicht stellt sich den W a n d e l im Menschen Cassiodor als einen durch die Ereignisse erzwungenen Bruch v o r 2 ) und zieht zwischen den beiden Lebensabschnitten dieses Mannes einen deutlichen Trennungsstrich; sie ist aber — mag sie auch ihre literarischen V o r l ä u f e r schon im 8. J a h r h u n d e r t haben 3 ) — nicht durchaus stichhaltig. Die Gestalt Cassiodors v e r t r ä g t nicht die Zeidinung so scharfer Umrisse und starker Linien; sie erschließt sich n u r dem G r i f f e l des Zeichners, der den Sinn f ü r die Romanische Forschungen 60 (1948) S. 420—446; Antrittsvorlesung an der Universität Köln am 11. 12. 1947. ') Aus der zahlreichen Literatur über Cassiodor sei unter Umgehung der zusammenfassenden Darstellungen in den Literaturgeschichten genannt: A. T h o r b e c k e , Cassiodorus Senator. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerwanderung, Heidelberg 1867; A. F r a η ζ , Magnus Aurelius Cassiodorius Senator, Breslau 1872; Th. H o d g k i n , The Letters of Cassiodorus, London 1886; P. L e h m a n n , Cassiodor-Studien, Philologus 71—74 (1912/13, 1916/17); F. S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke im Mittelalter, München 1926, S. 82 ff.; A. v a n d e V y v e r , Cassiodore et son ceuvre, Speculum 6 (1931), S. 244 ff.; Η. Τ h i e 1 e , Cassiodor, seine Klostergründung Vivarium und sein Nachwirken im Mittelalter, Studien u. Mitt. zur Gesch. des Benediktinerordens 50 (1932), S. 378 ff.; A. v a n d e V y v e r , Les Institutiones de Cassiodore et sa fondation 1 Vivarium, Revue Benedictine 53 (1941), S. 59 ff.; [ J . J. van den B e s s e l a a r , Cassiodorus Senator, Antwerpen 1949; H.-D. K a h l , Der Ubergang von der Antike zum Mittelalter im Lebensgang des Cassiodorus Senator, Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 34 (1965) S. 247 ff.; zu C. als Geschichtschreiber vgl. unten Anm. 13; L. T e u t s c h , Cassiodorus Senator, Gründer der Klosterbibliothek von Vivarium, Libri 9 (1959) S. 215—239]. ') Das gilt insbesondere von der Auffassung F. Schneiders, der S. 92 den Gegensatz der beiden Lebensabschnitte dadurch wieder ausgleicht, daß er das Mittelalterliche und Christliche an Cassiodor nur als „Tarnung" des Römisch-Literarischen darstellt. ' ) Paulus Diaconus, Hist. Langobardorum, I 25; über Cassiodor: Hie primitus consul, deinde senator, ad postremum vero monachus exstitit.
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Nuance, zerfließende Konturen und für die Ubergänge zwischen Schwarz und Weiß entwickelt hat. Das Leben dieses Mannes liegt wahrlich nicht im Zwielicht der Geschichte, und in zahlreichen Werken seiner eigenen Hand steht er vor uns als ein Interpret seiner Taten. Aber wenn auch über sein Wirken als Staatsmann, über die geistesgeschichtliche Stellung und Bedeutung der literarischen Arbeiten seiner zweiten Lebenshälfte Untersuchungen in beträchtlicher Zahl vorliegen, das Verbindende, Menschliche seiner Persönlichkeit ist bisher — von Einzelzügen abgesehen 4) — kaum der Betrachtung gewürdigt worden. Die Familie Cassiodors stammte aus Syrien 5 ), war aber schon lange in Italien ansässig und reich begütert und hatte sich hier völlig eingewurzelt. Ihre Geschichte ist mit der des weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert eng verbunden 6 ). Der Urgroßvater Cassiodors hatte Bruttien und Sizilien gegen die Wandalen Geiserichs verteidigt; der Großvater war ein enger Freund des Aetius, des Mannes, der den letzten Versuch unternahm, das Eindringen der Germanen in den Staatsapparat aufzuhalten und die Römer wieder zu Herren ihrer Geschicke zu machen. Den Vater Cassiodors jedoch finden wir — ein Zeichen des Wandels der Dinge — als einen der höchsten Verwaltungsbeamten Odowakars wieder. Bald nach dem Einmarsch Theoderichs in Italien Schloß er sich diesem an und wurde nach der Begründung der ostgotischen Herrschaft durch weitere Verwendung in hohen Staatsstellen, schließlich durch die Ernennung zum praefectus praetorio, zum Chef der Zivilverwaltung, belohnt. Theoderichs Herrschaft gab dem durch äußere Einfälle und innere Auseinandersetzungen zerrissenen Italien nach einem Jahrhundert der Wirren die Sicherheit der Grenzen zurück und suchte im Innern einen Zustand der Rechtssicherheit gegen die Übergriffe von Römern und Goten gleichmäßig wiederherzustellen. Es ist bekannt, mit welcher Vorsicht Theoderich sich davor hütete, die nationalen Empfindlichkeiten der Römer zu reizen, und mit welcher Achtung er der Kultur und Tradition dieses Volkes entgegentrat. Wie hätte dies audi anders sein können. Kam Theoderich doch als Beauftragter des Kaisers nach Italien und war die Einheit des römischen Reiches unter dem Herrscher von Ostrom die nie angetastete staatsrechtliche Grundlage seiner Herrschaft über Italien und Rom! Der im Jahre 490 — oder wenig zuvor 7) — geborene Cassiodor hatte die langsame Auflösung des weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert nicht mehr 4
) Einen Ansatz dazu macht die in Anm. 1 zitierte Arbeit von T h i e l e . ) So schon H. U s e η e r , Anecdoton Holderi, Festschrift zur Begrüßung der 32. Versammlung deutscher Philologen und Sdiulmänner zu Wiesbaden, Bonn 1877, S. 67. e ) Vgl. dazu den Stammbaum des Geschlechts in Cassiodors Variae I 4, MG. Auct. ant. 12 S. 15, dazu Μ ο m m s e η ebd. S. VII ff. Zur Karriere des Vaters Cassiodors: v a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 245 ff.; J. S u n d w a l l , Abhandlungen zur Geschichte des ausgehenden Römertums, Helsingfors 1919, S. 106 f. *) Über das Geburtsjahr Cassiodors vgl. Μ ο m m s e η , Auct. ant. 12 S. X (für 490 oder kurz vorher), v a n d e V y v e r , Speculum 6 S. 290 (480—485), Sundwall, 5
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erlebt; das germanische Königtum in Italien war ihm bereits eine gegebene Tatsache; und in den aufgeschlossensten und bildungsfähigsten Jugendjahren umgab ihn das Friedensregiment des Gotenkönigs, das mit aller Kraft eine Versöhnung von Römern und Germanen anzubahnen suchte. Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß der junge Cassiodor mit ehrlicher Überzeugung und allem Enthusiasmus der Jugend sprach, als er im Jahre 507 seine Lobrede auf Theoderich hielt 8 ). Der König scheint das gespürt zu haben, denn er verlieh dem Zwanzigjährigen sofort eines der höchsten Staatsämter, die Quästur. Die Bedeutung dieses Amtes war groß, wenn es seinem Träger auch keinen unmittelbaren politischen Einfluß verschaffte 9 ). Aufgabe des Quästors war die Abfassung der königlichen Schriftstücke; es war aber eine Tätigkeit, die über das rein Stilistische weit hinausging: galt es doch, den Römern die königlichen Absichten und Entscheidungen in möglichst ansprechender und überzeugender Form darzulegen. Nach Cassiodors eigenem Anspruch hatte sich der Quästor als Sprachrohr des Königs zu fühlen, und sein eigenes Gutdünken hatte ganz hinter dieser Pflicht zurückzutreten 1 0 ). Cassiodor scheint zur Erfüllung dieser Aufgabe eine besondere Veranlagung mitgebracht zu haben. Es war die geistige Kraft eines genialen Jünglings, dem für die Fassung selbständiger politischer Entschlüsse noch die innere Reife fehlte, der aber in der Interpretation und Durchführung der Beschlüsse des Verantwortlichen die Schule zur eigenen Selbständigkeit fand. Dazu kam aber eine Begabung für wohlabgewogene diplomatische Formulierung und eine besondere Neigung zu dieser Tätigkeit, die Cassiodor noch in späteren Jahren, als er schon ganz andere Staatsämter innehatte, immer wieder in die Funktionen des Quästors hinübergreifen ließen « ) . Auch als Schriftsteller hat Cassiodor die Ideale vertreten, denen seine Amtstätigkeit diente. Seine Chronik 1 2 ) und die — leider nur in dem dürftigen
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S. 154 (um 487). Für das Detail der Ämterlaufbahn Cassiodors sei grundsätzlich auf diese und die in Anm. 1 zitierten Arbeiten verwiesen, da im folgenden nur die wichtigsten, für die Darstellung der inneren Entwicklung Cassiodors unerläßlichen Fakten herausgehoben werden. Der Zweifel S u η d w a 11 s , a. a. O. S. 154, an der Tatsächlichkeit dieser vom Anecdoton Holderi, ed. Usener S. 4 (vgl. dens. S. 68), bezeugten Lobrede hat wohl zu Recht keinen weiteren Nachhall gefunden. Uber den Einfluß des Quästors vgl. Th. Μ ο m m s e η , Ostgotisdie Studien, in: N A . 14 (1889), S. 459 ( = Gesammelte Schriften 6, Berlin 1910, S. 393 f.). Die Überschätzung des politischen Einflusses Cassiodors durch S c h n e i d e r , a. a. O. S. 82 ff., hat durch Κ . Η a m ρ e , Herrschergestalten des deutschen Mittelalters, Leipzig o. J. 5 , S. 11 f., und L . S c h m i d t , H J b . 47 (1927), S. 727 ff., die nötige Korrektur erfahren. Variae V I 5, S. 178 f.; dazu schon T h o r b e c k e S. 15. Dem widerspricht nicht, daß die Einzelausführung der Staatsschreiben durchaus das Werk Cassiodors ist. Vgl. etwa Variae I X 25, S. 292. 1 1 : Reperimus eum quidem magistrum, sed implevit nobis quaestoris officium; dazu Μ ο m m s e η , Ostgotische Studien S. 456 (390 f.). Hrsg. von Th. M o m m s e n , MG. Auct. ant. 11, S. 111 ff.; vgl. dens. in: Abh. der Kgl. Sächsischen Ges. d. Wiss., Philol.-hist. Kl. 3 ( 1 8 6 1 ) ; zur Uberlieferungsgeschichte der Chronik P. L e h m a n n , Philologus 71, S. 278 ff.
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Auszug des Jordanis 13 ) erhaltene — Gotengeschichte suchten das Verhältnisvon Römern und Goten in seinem historischen Ablauf von vornherein unter den Gesichtspunkt der Versöhnungspolitik Theoderichs zu stellen 14 ) und schilderten die Goten als ein altes vornehmes Volk, um den Römern die Herrschaft der Fremden erträglich zu machen. Mit allen Merkmalen einer politischen Geschichtschreibung beladen, ist besonders die Gotengeschichte weniger als historiographisches Denkmal denn als Ausdruck der politischen Ziele Cassiodors zu werten. Dabei machten sich die ersten Äußerungen eines italienischen Heimatgefühls und stadtrömisch geprägten Nationalbewußtseins geltend; sie boten die Grundlage für das Bekenntnis zum Reiche Theoderichs, das Italien Frieden und Recht gebracht hatte. Das Wort Italien begann bei Cassiodor einen politischen Gehalt zu bekommen, der ihm bis dahin nicht eigen war 15 ). Mitbeteiligt an dieser Erscheinung war die unter dem Papst Gelasius I. (492—496) zum vollen Ausbruch kommende kirchliche Spaltung zwischen Rom und Byzanz 1β ). Diese konnte auf die Haltung Cassiodors, der an allen kirchlichen Fragen seiner Zeit lebhaften Anteil nahm 17 ), nicht ohne Einfluß bleiben. Von hier aus müssen die in den Briefen der Päpste und bei Cassiodor auftretenden Gegenüberstellungen des „Imperium Orientale" und „Imperium occidentale", der „utraque respublica", verstanden werden 18 ). Diese Formulierungen waren staatsrechtlich völlig korrekt, solange ein ost- und weströmisches Reich nebeneinander existierten; nach der Wiederherstellung des einen römischen Reiches 13
) Hrsg. von M o m m s e n , Auct. ant. 5, S. 53 fF.; zur Tendenz der Gotengesdiidite vgl. die Variae I X 25, S. 291 f.; vgl. audi L. S c h m i d t , Die Ostgermanen, München 1934s, S. 26 ff. [Über Cassiodors Anteil vgl. A. M o m i g l i a n o , Cassiodorus and Italian Culture of his Time, Proceedings of the Brit. Acad. 41 (1955) S. 207 ff.; ders., Gli Anicii e la storiografia latina del VI sec. D. C., Atti della Accad. naz. dei Lincei, ser. 8 Rendiconti 11 (1956) S.279ff.; dazu N . W a g n e r , Getica, Berlin 1967, S. 30 ff.; R . H a c h m a n n , Die Goten und Skandinavien, Berlin 1970, S. 35 ff., 475 ff.] 14 ) Nodi aus Jordanis ist ersichtlich, daß diese Tendenz Cassiodors oft zur Verzeichnung der historischen Tatsachen führte; vgl. etwa S c h m i d t a. a. O. S. 448. 15 ) Vgl. Auct. ant. 12, Register s. v. Italia; dazu Cassiodori Senatoris Institutiones, Lib. I, Praef. ed. R. Α. Β. Μ y η ο r s , Oxford 1937, S. 3. 14. Cassiodor stand mit dieser Auffassung nicht allein; audi für Ennodius war Italien ein politischer Begriff; vgl. das Register zu seinen Werken (Auct. ant. 7) s. v. Italia. 1β ) Ε. C a s ρ a r , Geschichte des Papsttums 2, Tübingen 1933, S. 10 ff. " ) Vgl. die Eintragung in seiner Chronik zum Jahre 514, Auct. ant. 11, S. 160; dazu unten Anm. 107. 18 ) Caspar, Geschichte des Papsttums 2, S. 36 Anm. 2, 159. Die Formulierungen Cassiodors „utraeque res publicae" bzw. „utraque res publica" (Variae I 1, S. 10. 22; II 1, S. 46. 21; X 32, S. 320. 4) schließen die kaiserliche Oberhoheit nidit aus; in I 1 wird das „Römische Reich" als gemeinsamer Oberbegriff der beiden res publicae gebraucht, S. 10. 24: „Romani regni unum velle, una semper opinio sit." Es ist wahrscheinlich Spradigebraudi Cassiodors, wenn Jordanis in seinen Geschichtswerken (Auct. ant. 5, 1) für den Zustand nach der Reichsteilung von 395 folgende Ausdrücke gebraudit: utraque res publica (S. 121. 3), Imperium Occidentale (S. 118. 9), Imperium Orientale (S. 44. 1, 121. 2) und imperia utraque Romani Orbis (S. 124. 15), und wenn er den Kaiser Justinian Imperator orientalis nennt (136. 24). Diese retrospektiven Formulierungen waren staatsrechtlich unbedenklich,
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unter d e n K a i s e r n in K o n s t a n t i n o p e l , die ja die theoretische staatsrechtliche G r u n d l a g e f ü r die Machtstellung O d o w a k a r s 19) u n d Theoderichs in Italien a b g a b , e r h i e l t e n sie d e n B e i g e s c h m a c k e i n e r g e g e n d i e a l l z u s t a r k e B e t o n u n g der Einheit m i t B y z a n z gerichteten Sonderpolitik römischer Kreise. A u d i kult u r e l l h a t t e n sich d e r l a t e i n i s c h e W e s t e n u n d d e r griechische O s t e n s c h o n a u s e i n anderzuleben b e g o n n e n 20). M a n w i r d sagen dürfen, d a ß Cassiodor zur Zeit Theoderichs in seinen Schreiben bis a n die G r e n z e dessen ging, w a s staatsrechtlich m ö g l i c h w a r . U b e r s c h r i t t e n a b e r w u r d e d i e s e G r e n z e , a l s er i n L o b e s w o r ten auf A m a l a s w i n t h a , die römerfreundliche Tochter Theoderichs, der G o t e n k ö n i g i n d e n princeps Orientis a l s „socialis princeps" zur Seite stellte u n d d e n Begriff „römisch" unter A b g r e n z u n g gegen B y z a n z auf das Gebiet A m a l a s w i n t h a s einschränkte. D a s stand i m Gegensatz z u seinen Ä u ß e r u n g e n aus der Z e i t T h e o d e r i c h s , d a er d e n „Orbis Romanus* noch als die g e m e i n s a m e k u l turelle G r u n d l a g e der b e i d e n Reiche angesehen h a t t e 21). und selbst in Byzanz spradi zur Zeit Justinians der Historiker Marcellinus Comes davon, er habe nur das Ostreich schildern wollen: Orientale tantum secutus Imperium (Auct. ant. 11, S. 60). D a ß diese nadi der Reichsteilung aus Bequemlichkeitsgründen allmählich eingebürgerten Formulierungen zunächst dem Empfinden der Zeitgenossen widersprochen hatten, ergibt sich daraus, daß z . B . Orosius derartige Ausdrücke noch vermied: Arcadius Augustus, cuius nunc filius Tbeodosius Orientem regit, et Honorius Augustus jrater eins, cui nunc respublica innititur, ..., commune imperium, diuisis tantum s e dibus tenere coeperunt (Historiae adversus paganos VII 36, 1, CSEL. 5, S. 532). 1 ®) Daran ändert nichts, daß O d o w a k a r im Augenblick des Bruches mit Byzanz seinen Sohn Thela zum Cäsar ausrufen ließ; vgl. S u n d w a l l , Abhandlungen S. 187. 20 ) Das äußert sich gerade in der Übersetzungstätigkeit, durch die Boethius die philosophische Literatur der Griedien dem Westen zugänglich machte (darüber Cassiodor, Variae I 45, S. 40), und in den von Cassiodor angeregten Übersetzungen, die auf dem Gebiet der christlichen Literatur lagen. Aus den zahlreichen Übersetzungsfehlern des Epiphanius in der Historia tripartita, die Cassiodor nicht korrigierte, hat schon Hodgkin a. a. O. S. 61 mit Recht geschlossen, daß Cassiodors eigene Kenntnisse im Griechischen nur unvollkommen waren. Die Stelle der Institutiones divinarum litterarum, Praef. c. 4, ed. Μ y η ο r s S. 5: Sed nos potius Latinos scriptores Domino iuvante sectamur, ut quoniam I talis scribimus, Romanos quoque expositores commodissime indicasse videamur. Dulcius enim ab unoquoque suscipitur, quod patrio sermone narratur. . steht parallel neben den Worten Cassiodors über die Übersetzungen des Boethius und bestätigt ihrerseits das Vorwiegen des italienisch-römischen Elements in der Gedankenwelt Cassiodors. Irrig die Interpretation von T h i e l e a. a. O. S. 392; vgl. C a s p a r 2, S. 313 Anm. 4. !1 ) Mit Anm. 18 vgl. Variae X I 1, S. 329. 6: In ipsis quoque primordiis, quando semper novitas incerta temptatur, contra Orientis principis votum Romanum fecit esse Danuvium. Notum est quae pertulerint invasores: quae ideo praetermittenda diiudico, ne genius socialis principis verecundiam sustineat perditoris. — Nicht mit solcher Ausschließlichkeit hatte Cassiodor schon früher gelegentlich das Herrschaftsgebiet Theoderichs als res publica Romana bezeichnet, vgl. die Variae, Auct. ant. 12, Register s. v. res publica. Nicht der Ausdruck einer bewußten politischen Distanzierung vom byzantinischen Osten, sondern des praktischen Auseinanderlebens der beiden Welten ist die Tatsache, daß der Begriff des orbis Romanus eine ähnliche Entwicklung erfährt wie der des imperium oder der res publica; Cassiodor nennt (Variae I 4, S. 15. 34) sein Geschlecht: genus in utroque orbe praeclarum (vgl. auch S. 16. 2: in utroque orbe). In VI 23, S. 195. 24 spricht Cassiodor vom orbis noster; im Gegensatz dazu spricht I V 50, S. 137. 17 von „orbis alia pars" und meint damit das Ostreich.
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Diese Verschärfung der nationalrömischen und progotischen Haltung waf aber bereits eine Folge davon, daß die Versöhnungspolitik Cassiodors, die er als das Vermächtnis seines verstorbenen Königs weiterzuführen suchte, in ihren Grundlagen erschüttert war. Im Jahre 519 hatte der oströmische Kaiser Justinus auf den Rat seines Neffen Justinian das Steuer seiner Kirchenpolitik herumgeworfen und war zur friedlichen Beilegung des Kirchenstreits mit dem Papst gelangt. Diese Kursänderung, mit der sich wohl von vornherein politische Nebenabsichten verbanden, hatte die gewünschte Folge, daß die legitimistischen Kreise im römischen Adel aus ihrer Gesinnung kaum noch ein Hehl machten und in ihrem Verkehr mit Byzanz für ostgotische Begriffe des Hochverrats schuldig wurden. Die Zuspitzung der Gegensätze führte schließlich dahin, daß sich ein Mann wie Boethius im wirklichkeitsfremden Idealismus des Gelehrten dem nicht ganz unbegründeten Verdacht des Hochverrats aussetzte und sich offenkundig der Nichterfüllung seiner Amtspflicht schuldig machte; mit dem Urteil über Boethius und seinen Schwiegervater Symmachus kam dann das kunstvolle Gebäude der Versöhnungspolitik Theoderichs zum Einsturz 22). In dieser Zeit begann, zehn Jahre nach dem Ausscheiden aus der Quästur, eine neue Zeit des Hofdienstes für Cassiodor, der im Herbst 523 als Nachfolger des abgesetzten Boethius zum magister officiorum ernannt wurde 2S). Bis 527 in dieser Stellung und seit 533 als praefectus praetorio hat Cassiodor unter den unfähigen Nachfolgern das Werk des großen Königs zu erhalten gesucht. Als Exponent einer vermittelnden Richtung im Senat stand er dabei in doppelter Abwehrstellung einerseits gegen die Legitimisten, die vom Einmarsch der Byzantiner eine neue große Epoche des Römertums erhofften, und andererseits gegen die radikal gotenfreundliche Nationalpartei, auf deren Treiben letzten Endes das Vorgehen Theoderichs gegen Boethius zurückzuführen war 2 4 ). Von der Würdelosigkeit der letzteren, die sich einer glänzenden Karriere halber dem gotischen System bedenkenlos auslieferte, war Cassiodor ebenso weit entfernt wie von der Wirklichkeitsfremdheit der legitimistischen Ideologen 25). Mit Sorge beobachtete er das Heraufkommen des Krieges zwischen Goten und Byzanz, von dem er das Ende der nationalen Kultur Roms befürchtete. Dem Kaiser und den römischen Legitimisten hielt er entgegen 26), daß die ost22
) Grundlegend S u n d w a l l , Abhandlungen S. 230 ff.; W. E n ß l i n , Theoderidi der Große, München 1947, S. 316 ff. [Zu Symmachus und der politischen Ideenwelt seines Kreises vgl. jetzt Μ. A. W e s , Das Ende des Kaisertums im Westen des Römisdien Reiches (Ardieol. Studien van het Nederlands Hist. Instituut te Rome 2, 1967).] 23 ) V a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 249. 24 ) S u η d w a 11 a. a. Ο. S. 245. 25 ) Über Cassiodors Parteistellung S u η d w a 11 S. 259 ff. 2e ) Variae X I 13, S. 342; dieses Schreiben des Senates an Justinian ist durch den König dem Senat aufgezwungen und von Cassiodor konzipiert worden; S u n d w a l l S. 288 f., F. G r e g o r o v i u s , Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter I s , Stuttgart 1875, S. 335 ff.
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gotische Herrschaft ein Segen für Rom gewesen sei; er erinnerte daran, daß Roms Kulturerbe durch die ostgotischen Könige sorgfältige Pflege erfahren und daß die katholische Religion stets volle Freiheit genossen habe. Er sah voraus, daß Rom nach einem byzantinischen Siege nur eine Provinz des Ostens sein und seine alte Freiheit endgültig verlieren würde. Doch die Stimme der Vernunft verhallte ungehört in einer Atmosphäre, in der sich gotischer und römischer Nationalismus gegenseitig immer mehr ins Extreme trieben und in der der oströmische Kaiser nur auf die beste Gelegenheit zum Eingreifen wartete. Klarsichtig und realistisch, hat Cassiodor die Widerstände erkannt, die sich von allen Seiten her gegen sein Werk türmten 2 7 ); er sah auch die inneren Konflikte, in die er auf seinem Weg durch das Verhältnis zu den ihm nah befreundeten Führern der Legitimisten kommen mußte. Das Schweigen seiner Briefe über den Prozeß gegen Symmachus ist ein beredtes Zeugnis für das Problem, das dem Menschen Cassiodor hier erwuchs 28 ). Aber er hielt auf seinem Posten aus, in der Uberzeugung, daß auf ihm allein die Kontinuität des Staates beruhte 2 9 ). Die Aufgaben, die ihm dieser Posten stellte, waren in immer geringerem Maße die des Diplomaten oder Rhetors. J e stärker der Krieg in Italien um sich griff, um so mehr beschränkte sich seine Tätigkeit darauf, in dem allgemeinen Wirrwarr als Sachwalter der bedrängten und hungernden Bevölkerung für die Sicherung der Ernährung zu sorgen 3 0 ). Der „Nutzen der Allgemeinheit" stand als Motto nicht nur über seinen amtlichen Schreiben, sondern beherrschte als verpflichtendes Gebot den ganzen Umkreis seiner Tätigkeit 3 1 ). Bei aller Loyalität gegenüber dem Ostgotenkönig ist ihm so auch die Verbindung zu der legitimistischen Partei unter den Römern nicht verlorengegangen. Mit dem kaiserfreundlichen Papst Agapet hat er gute Beziehungen gepflegt 3 2 ). Im Jahre 538 wahrscheinlich, nachdem der kaiserliche Feldherr Beiisar in Rom einen neuen praefectus praetorio ernannt hatte 3 3 ), beendete Cassiodor seine öffentliche Laufbahn. Zwei Jahre später, im Jahre 540, kapitulierte König Witiges in Ravenna. Und auch der Endkampf der Goten unter Totila und Teja konnte das Schicksal des Reiches nicht mehr wenden. Das Ende des Ostgotenreiches bedeutete nicht nur den Zusammenbruch einer politischen Ordnung, in deren Dienst Cassiodor sein Leben verbracht ") 28
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) ) 32) 33) 30 31
Von Widerständen gegen seine Ernennung zum praefectus praetorio spridit er Variae X I 1, S. 330. 13. Über die Verwandtschaft Cassiodors mit Symmadius vgl. U s e η e r , Anecdoton Holderi S. 10, S u η d w a 11 S. 161 f. Schreiben Athalarichs (von Cassiodor konzipiert) an den Senat, Variae I X 25, S. 292. 9 : Erat solus ad universa sufficiens: ipsum dictatio publica, ipsurn consilia nostra poscebant, et labore huius actum est, ne laboraret Imperium. Mindestens die subjektive Überzeugung ist diesen Worten nicht abzusprechen. V a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 252. Vgl. das Vorwort zu den Variae S. 4. 5, 4. 2 3 ; vgl. auch das Register s. v. utilitas. V a n d e V y v e r a. a. O. S. 2 5 2 ; vgl. allerdings C a s p a r 2, S. 200. S u n d w a l l S. 297.
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hatte, sondern das Ende Roms, seiner politischen Freiheit wie seiner kulturellen Führerrolle. Grenzenlos war die Enttäuschung der legitimistischen Senatskreise, die gehofft hatten, unter der Oberhoheit und der Garantie des Kaisers von Ostrom selbst Italien beherrschen zu können, und die nun sehen mußten, daß der Römer im byzantinischen Reich allenfalls in Ägypten, nicht aber in Italien politische Karriere machen konnte. Sehr bald stellte sich heraus, daß das drückende Militärregiment der Byzantiner der freien Entfaltung römischer Kultur nicht einmal soviel Platz ließ wie einst die Goten. Cassiodor hatte diese Entwicklung vorausgesehen; von einer Enttäuschung konnte bei ihm ebensowenig die Rede sein wie von Selbstvorwürfen über begangene Fehler. Er hatte einen Kurs steuern wollen, der sich gerade der rückschauenden Betrachtung als der richtige darstellen mußte; doch war es ihm nicht gelungen, durchzusetzen, daß dieser Kurs gesteuert würde. Und so durfte er sich angesichts des Zusammenbruchs wenigstens nach den Gründen fragen, die dazu führten, daß sein so geistvoll angesetztes politisches Spiel nicht gelungen war. Der Staatsmann und Literat Cassiodor ist sich nie im unklaren darüber gewesen, daß er der Sprößling einer Spätkultur war. Zu deutlich zeigten ihm dies die Bauten Roms, die schon zu seiner Zeit die ersten Spuren des Verfalls aufwiesen, der staatlichen Denkmalspflege bedurften und sich damit nicht mehr als natürlichen Besitz einer lebendigen Kultur, sondern als Museumsstücke dokumentierten 3 4 ). Angesichts des vom Einsturz bedrohten Theaters des Pompeius rief Cassiodor aus: „Was lösest du n i c h t auf, ο Alter, da du so Gewaltiges zu erschüttern vermochtest!" 35 ). Mit allem Nachdruck empfand er die Gefährdung dieses Erbes und die Pflicht zu seiner Erhaltung, die den Nachfahren auferlegt war. Aber er hat nicht unter dem Eindruck eines allmächtigen Schicksals, eines zwangsläufigen Endes der römischen Kultur gestanden. Ihrer äußeren Bedrohung war ja durch die ostgotische Herrschaft auf ein Menschenalter hin mit Erfolg Einhalt geboten, und gerade die Nachfolger Theoderichs haben noch mehr als dieser die literarische Kultur Roms audi materiell gefördert 3 6 ). Das Bewußtsein jedoch, daß die eigene Gegenwart an geistiger Bedeutung und ursprünglicher Schöpferkraft hinter der großen Vergangenheit zurückstand, klang zwar gelegentlich in seinen Worten an 3 7 ), kam aber aus zwei ) G r e g o r o v i u s , Gesdiidite der Stadt R o m im Mittelalter 1, S. 273. ) Et ideo theatri fabricam magna se mole solventem consilio vestro credimus esse roborandam, ut quod ab auctoribus vestris in ornatum patriae constat esse concessum, non videatur sub melioribus posteris imminutum. Quid non solvas, senectus, quae tarn robusta quassasti? montes facilius cedere putarentur, quam soliditas illa quateretur; Variae I V 51, S. 138. 10. Vgl. V I I 6, S. 205. 2 3 : et opus illud veterum non destruitur, si industria suffragante servetur. 3 «) Vgl. etwa Variae I X 21, S. 286 f. " ) Variae I V 51, S. 138. 8 über Symmadius: antiquorum diligentissimus imitator, modernorum nobilissimus institutor. Vielleicht ist auch I X 21, S. 286. 15 hier zu nennen: Grammatica magistra verborum, ..quae per exercitationem ^pulcherrimae lectionis antiquorum 34 35
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Gründen nicht zur Entfaltung. Zunächst wurde schon durch die staunende Bewunderung, mit der die Germanen der römischen Kultur und Zivilisation sich beugten, immer wieder deutlich, daß Rom noch etwas zu geben hatte 3 8 ); nicht Altersschwäche, sondern Altersreife war es, was Cassiodor als Träger der Kulturtradition Roms vor Augen stehen mußte. Und andererseits war es das Christentum, das ihm — bei aller Anerkennung der literarischen Vorbildlichkeit der Antike — die Kraft gab, sich im Besitz des wahren Glaubens auf einer höheren Stufe der Entwicklung zu fühlen als die Vorfahren 39 ). Von einem Dekadenz b e w u ß t s e i n konnte bei dem Cassiodor der Ostgotenzeit keine Rede sein. Wenn die These von der „Verkrankung" der Menschheit am Ausgang der spätantiken Welt zutrifft, wenn das Wesen dieser Verkrankung darin besteht, daß der Zweifel des Menschen an seiner Fähigkeit zur Gestaltung dieser Welt um sich griff 40 ), so gehörte Cassiodor zu denen, die die Krankheit der Zeit noch nicht befallen hatte 41 ). Und doch waren gerade die sprachlichen und stilistischen Künsteleien, in denen diese Zeit, in denen Cassiodor zu glänzen suchten, Ausdruck einer Erstarrung, die die Übersteigerung der sprachlichen Form als Ersatz für den schwindenden geistigen Gehalt nahm. Und wie er sich dieser Tatsache kaum bewußt wurde, so nahm Cassiodor das, was an offenkundigen Dekadenzerscheinungen in seiner Umwelt in reichlichem Maße ans Licht trat, mit einer erschreckenden Resignation hin, als wäre es nicht zu ändern. Er erkannte, welcher Nihilismus nicht nur die breite Masse, sondern auch vornehme Senatorenfamilien ergriffen hatte, die in den Aufregungen und Sensationen der nos cognoscitur iuvare consiliis. Ein Eingeständnis der Überlegenheit des Altertums ist wohl audi der Satz (Variae V I I 6, S. 205. 17): Traiani forum vel sub assiduitate videre miraculum est: Capitolia celsa conscendere hoc est humana ingenia superata vidisse. Die moderatrix antiquitas nahm er in V I I 10, S. 209. 3 als Vorbild für die Staatsverwaltung seiner Zeit; vgl. auch unten Anm. 43. 3e ) Variae I X 21, S. 286. 17: Hac (seil. Grammatica) non utuntur barbari reges: apud legales dominos manere cognoscitur singularis. arma enim et reliqua gentes habent: sola reperitur eloquentia, quae Romanorum dominis obsecundat. An Boethius, der für den Burgunderkönig eine Wasser- und eine Sonnenuhr besorgen sollte, schrieb Cassiodor im Namen Theoderichs: Agnoscant per te exterae gentes tales nos habere nobiles, quales leguntur auetores. Quotiens non sunt credituri quae viderint? Quotiens banc veritatem lusoria somnia putabunt? Et quando fuerint ab stupore conversi, non audebunt se aequales nobis dicere, apud quos sciunt sapientes talia cogitasse; Variae I 45, S. 41. 30. M ) Charakteristisch dafür Cassiodors Äußerungen über Boethius und Symmachus im Anecdoton Holderi, ed. U s e η e r S. 4. 8, 4. 18, Auct. ant. 12, S. V. 7, VI. 14. Dazu Variae IV 51 (zitiert oben Anm. 35). 40 )
So die Hauptthese des anregenden, aber Einseitigkeiten nicht vermeidenden Buches von F. Κ a ρ h a η , Zwischen Antike und Mittelalter, München o. J., S. 33 ff. 41 ) Wie optimistisch Cassiodor über die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis und Beherrschung der Natur dachte, ergibt sich aus Variae I 45, S. 41. 20: universae diseiplinae, cunctus prudentium labor naturae potentiam, ut tantum possint, nosse perquirunt: mechanisma solum est, quod illam ex contrariis appetit imitari et, si fas est dicere, in quibusdam etiam nititur velle superare. Haec enim fecisse dinoscitur Daedalum volare: . . . Mechanicus, si fas est dicere, paene socius est naturae.
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Circusspiele und der Wagenrennen Zerstreuung und Betäubung suchten, statt die Aufgaben des Tages anzupacken 42 ). Er verurteilte die Ausschreitungen der Schauspiele, die sich aus ehrwürdigen Anfängen zu unsittlichen Zerrbildern entwickelt hatten 43 ), sowie der Darbietungen des Circus 44 ), die dem Nervenkitzel der Zuschauer zuliebe ein Spiel mit Menschenleben waren. Er beklagte es, daß in den leidenschaftlichen Kämpfen der Circusparteien Energien nutzlos vergeudet wurden, die man dem Einsatz für das öffentliche Wohl versagte. Aber er wußte gegenüber diesen Ausbrüchen sinnloser Leidenschaft und hemmungslosen Taumels keinen Ausweg und ließ sie gewähren 45 ). Mochte er sich in geistigem Hochmut darüber mit dem Gedanken trösten, daß der wahrhaft Gebildete diese Erregungen des Augenblicks verabscheute 46 ), mochte er angesichts der dem Tode geopferten Tierkämpfer an die „humanitas" appellieren 47 ) — er spürte wahrscheinlich kaum, daß es sich hier nicht um einzelne Exzesse der Ungebildeten, sondern um Symptome einer Krise des Menschen handelte. Er wollte dem Problem seiner Zeit mit einem kunstvoll ausgedachten diplomatischen System begegnen und ahnte nichts davon, daß man den Menschen in seinem innersten Kern anpacken, daß man ihn neu bilden müßte, um die Krankheit der Zeit zu heilen. Noch in den letzten Jahren seiner Amtstätigkeit, als er fürwahr reichlich mit der Sorge wenigstens für die physischen Bedürfnisse der hungernden Italiener beschäftigt war, da beklagte er sich, daß die Sorge für diese Menge, die mehr auf den Bauch bedacht sei als auf die Ohren, also keinen Sinn für klingende Rhetorik hatte, ihn an der sorgfältigen Durchfeilung seiner Briefe hindere 48 ). Und wenn er gleichzeitig darauf hin weis, daß man seinen Briefstil jeweils dem Bildungsniveau des Empfängers anpassen müsse und daß es bisweilen die höchste Kunst sei, einen unkorrekten Stil zu schreiben, so war dies nicht der Versuch, den Weg zum Herzen des einzelnen Menschen zu gehen, sondern jene letzte Verfeinerung, die oft der Gipfelpunkt der gebildeten Dekadenz ist. Im Hinblick auf diese Bilanz seiner öffentlichen Wirksamkeit hatte audi Cassiodor Grund genug, bei sich selbst die Ursache für das Scheitern seines Programmes zu suchen. Schon in den letzten Jahren seiner Amtstätigkeit offenbarte er die Resignation eines Mannes, der die Fragwürdigkeit der mit so viel Ehrgeiz erstrebten Machtstellung erkannte und sich mitten im Treiben der ) Vgl. dazu Variae I 27, 32, S. 29, 32; bes. I I I 51, S. 106. 29: ad inanes contentiones sie disceditur, tamquam de statu periclitantis patriae laboretur; dazu S. 107. 1. 43 ) I I I 51, S. 105. 21: quod vetustas quidern habuit sacrum, sed contentiosa posteritas fecit esse ludibrium; dazu I V 51, S. 139. 14: Übt aetas subsequens miscens lubrica priscorum inventa traxit ad vitia. 44 ) V 42, S. 168 ff. 45 ) I I I 51, S. 107. 4 : expedit interdum desipere, ut populi possimus desiderata gaudia corttinere. 4β ) I 27, S. 29. 22: Mores autem graves in spectaculis quis requiratf Ad circum nesciunt convenire Catones. " ) V 42, S. 169. 7: Itur ergo ad talia, quae refugere deberet humanitas. 48 ) Var. Praef. S. 3. 42
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großen Politik nach der idyllisdien Ruhe seiner schönen süditalienischen Heimat sehnte, wie nach den „Wohnungen der Seligen" 49 ). Noch in Ravenna begann für Cassiodor eine Zeit ernstester Selbstprüfung. Das Ergebnis dieser Revision seiner Stellung zur Welt und zum Menschen war das Buch „Über die Seele", das nur verständlich wird, wenn man es als eine Station der inneren Entwicklung Cassiodors, nicht aber als gelehrtes Quellenwerk auffaßt, mag sich Cassiodor audi weitgehend die Gedanken Augustins und anderer christlicher Schriftsteller zu eigen gemacht haben 50 ). Es hatte einen tieferen Sinn, wenn sich dieses Werk unmittelbar der Briefsammlung Cassiodors, den Variae, anschloß 51 ). Der Titel „Variae" war gewählt, weil diese Zusammenstellung eine ungeheure, verschiedenartige Fülle von Schriftstücken enthielt, die jeweils in ihrem Stil dem Aufgabenkreis, dem sie dienten, und den Persönlichkeiten, an die sie sich wandten, angepaßt waren. Den ganzen Umfang des äußeren menschlichen Lebens hatten diese Staatsschreiben zu ordnen versucht; nun galt es, den Menschen in seinem innersten Kern zu erfassen und damit das Gemälde der menschlichen Existenz zu einem Ganzen abzurunden. Cassiodor hatte die Lücke seines bisherigen Systems erkannt. So erfolgte, noch zur Zeit seiner amtlichen Tätigkeit, die Wandlung Cassiodors zum psychologischen — und das hieß, seit Augustin die Seele als Abbild Gottes zu sehen gelehrt hatte, zum theologischen — Schriftsteller. Diese Entwicklung hat nichts eigentlich Uberraschendes; schon in den Briefen früherer Jahre hatte sich Cassiodor als überzeugter Christ gezeigt, der sidi in allem Tun und Lassen vom Willen seines Gottes abhängig wußte 52 ). Wenn er jetzt in der Lektüre der Psalmen K r a f t zu schöpfen suchte nach der Bitternis des politischen Lebens 53 ), so gebrauchte er ein Heilmittel, dessen Wirksamkeit er schon als junger Mann gerühmt hatte 54 ). Um das „innere Gesicht" hatte er bereits im Jahre 533 gebetet 5S ), und in den Lobesworten, die König Athalarich (d. h. aber wiederum Cassiodor selbst) im gleichen Jahre über den neuernannten praefectus praetorio Cassiodor an den Senat richtete 56 ), fand sich auch der 4β)
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51) 52)
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X I I 15, S. 373. 8: Pascit homo delicias suas et dum habet in potestate quod capiat, frequenter evenit, ut repletus omnia derelinquat. V g l . S. 373. 24. Migne, Patrologia latina ( = P L . ) 70, S. 1279 f f . ; dazu Fr. Zimmermann, Cassiodors Schrift „ Ü b e r die Seele", Jb. f. Philosophie u. spekulative Theologie 25 (1911), S. 414 f f . ; A . S c h n e i d e r , D i e Erkenntnislehre bei Beginn der Scholastik, in: Philos. Jb. d. Görres-Ges. 34 (1921), S. 227 f f . V g l . Variae X I , Praef. S. 327. 4; D e anima, Praef., Μ i g η e , P L . 70, S. 1279. Ober die schon in den Variae mit der Häufigkeit eines Topos auftretende Floskel Deo praestante v g l . schon T h o r b e c k e , a . a . O . S. 57, L e h m a n n , Philologus 72, S. 509 f. V o r w o r t zum Psalmenkommentar, M i g η e , P L . 70, S. 9. D e r Kommentar entstand nach v a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 254, etwa in der ersten H ä l f t e der vierziger Jahre. Variae I I 40, S. 71. 30 ff. Variae X I 3, S. 332. 14. Variae I X 25, S. 292. 31: Hos igitur mores lectio divina solidavit. Dazu v a n d e V y v e r a . a . O . S. 280.
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Satz, daß Gottesfurcht und Lektüre der heiligen Schriften die Grundlage aller seiner Tugenden seien. So viel Selbstlob in diesen Äußerungen lag — klar ist der Wertakzent, der mit ihnen gesetzt wurde: das religiöse Element war schon damals eine — wenn auch vielleicht noch nicht tief erlebte, so doch rational nachempfundene Komponente im Wesen Cassiodors. Es ist nun aber entscheidend, daß diese Komponente sich in dem Augenblick nur noch verstärkte, in dem der Mensch Cassiodor sich und sein Werk auf die Waagschale gelegt sah. Dies war keineswegs selbstverständlich. Der Römer Boethius hatte das von seinen Vorfahren nach langem Widerstand aus kühler Überlegung angenommene Christentum als eine Konvention auf den Lippen getragen und hatte sich sogar so weit mit den dogmatischen Problemen des christlichen Glaubens vertraut gemacht, daß er die von den Päpsten verteidigten christologischen Glaubenssätze mit den Mitteln seiner geliebten aristotelischen Philosophie begründete; als er aber im Kerker der Vollstreckung des Todesurteils entgegensah, da zeigte sich, daß dies nur kühles, unverbindliches Spiel der Gedanken war. Die christliche Lehre fiel von ihm, der sich zum Tode rüstete, ab wie ein lästiges Gewand, und es blieben die Weisheiten der alten Denker, die ihm den „Trost der Philosophie" gaben 57). Mit ihm starb der „letzte Römer". Für Cassiodor aber war das Christentum nicht bloße Hülle, sondern innere Substanz. In seinem Buch „Über die Seele" vermeint man die Erschütterung des Kulturmenschen nachhallen zu hören, dem alles fragwürdig wurde, was gestern nodi eine Welt bedeutete 58 ). Nicht umsonst distanzierte er sich hier von den „Meistern der weltlichen Wissenschaften" und bezog sich ihnen gegenüber auf die Autorität der „wahren Lehrer", der Theologen 59 ): das menschliche Erkennen überhaupt war ihm jetzt problematisch. Sucht doch, so sagte er, der Mensch in kühnem Schwünge die Weite der Natur zu erkennen und kennt nicht einmal die Seele, die Trägerin des menschlichen Erkenntnisvermögens 60). Es macht den besonderen Reiz des Buches aus, daß es kein Werk gelehrter Spekulation ist — scharfe dialektische Begriffsbildung ist nicht seine Stärke —, sondern getragen wird von den reichen psychologischen Kenntnissen, die Cassiodor im Laufe seines bewegten Lebens gesammelt hatte 6 1 ). Es war die 67
) Über das Verhältnis des Boethius zum Christentum vgl. U s e η e r , Anecdoton Holderi S. 50 ff.; M. G r a b m a n n , Geschichte der scholastischen Methode 1, Freiburg i. B. 1909, S. 160 ff.; S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke, S. 84 f. Vgl. audi unten Anm. 67. 58 ) De anima, M i g n e , PL. 70, S. 1308: Tibi (seil. Deo) denique nobilius est servire quam mundi regna capessere; ebd.: 1307: Vere, Domine, qui sic misericorditer fecisti, potens es! Nullus regum egentibus tuis par est; nullae purpurae piscatorum tuorum retibus adaequantur; quando illae in mundanas tempestates impellunt, haec ad littus aeternae securitatis addueunt. M ) De anima, Praef., M i g n e , PL. 70, S. 1280; ebd. c. 2, S. 1283, 1285. «») Ebd. S. 1280 f. el ) Zur Charakteristik des Werkes vgl. Z i m m e r m a n n , Jb. f. Philosophie u. spekulative Theologie 25, S. 441 f.
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Summe seiner Lebenserfahrung, wenn er schrieb, nicht immer sei die Klugheit die Begleiterin des Menschen, und die Leidenschaft, die komme und gehe, sei ein unsicherer Führer 62). Hier sprach die Erkenntnis eines Politikers, der aus der Welt der ratio eine Versöhnungspolitik gestalten wollte, die an der nationalen Leidenschaft zweier Völker und dem elementaren Machttrieb eines Justinian gescheitert war. Bedeutsam ist es, wie der über die convertibilitas, die Beeinflußbarkeit der allen Stimmungen unterworfenen menschlichen Seele entsetzte Cassiodor 63 ) sich der christlichen Seelenlehre, insbesondere Augustins, hingab. Ohne Einschränkung vertrat er die Lehre von der Erbsünde, durch die der Mensch die natürliche Schönheit seiner Existenz, die Macht des freien Willens und der vollen Erkenntnis verloren habe 64). Im Anschluß an Augustin hat er noch in späteren Jahren die Lehre des Pelagius vom freien Willen und selbst die abgeschwächte Form dieser Lehrmeinung bei Johannes Cassianus 65) bekämpft. So stark war sein Zutrauen in die menschliche Kraft zum Guten erschüttert, so völlig wußte er den menschlichen Willen von der Gnade Gottes abhängig 66), daß er in den Lehren des Pelagius die Gefahr einer philosophischen Verflachung des christlichen Glaubensinhaltes zu erkennen meinte. Stärker konnte der Gegensatz in der ethischen Haltung zu einem Mann wie Boethius gar nicht zum Ausdruck kommen; denn dieser fußte mit seinen Gedanken über den freien Willen auf der antiken philosophischen Tradition, und gerade im Kerker bot die Lehre von der Willensfreiheit ihm den letzten Halt 6 7 ). Noch einen zweiten Gedanken Augustins hat Cassiodor mit der gleichen Intensität aufgegriffen. Es war die Lehre, daß die menschliche Seele in ihrem vernünftigen Teil ein Abbild Gottes sei 68). Von Gott mit Vernunft begabt, hat sie mit Künsten und Erfindungen den Erdkreis erfüllt und unterworfen 69). °2) •s) •4) ®5)
De anima c. 2. Μ i g η e , PL. 70, S. 1287 A. Ebd. S. 1286 D , 1287 C. Ebd. c. 7 S. 1292 C; c. 8 S. 1294 C, D . Cassiodori Institutiones I 8, 1, S. 28 f.; I 29 2, S. 74. 7; über die philosophische Beeinflussung des Pelagius durch Cicero vgl. Th. Ζ i e 1 i η s k i , Cicero im Wandel der Jahrhunderte (1908), S. 153 ff.; daß für den späten Augustin die Gnade primär und der freie Wille nur sekundär war, betont auch E. D i n k i e r , Die Anthropologie Augustins, Stuttgart 1934, S. 184. Durchaus augustinisch sind die Sätze in De anima c. 9, S. 1297 D . " ) Vgl. das Gebet am Schlüsse von De anima, S. 1307: Meritum nostrum indulgentia tua est: .. . Vince in nobis invidi potestatem, qui sic decipit, ut delectet: sic delectat, ut perimat. Dazu S. 1308: Domine, quia in nobis non est quod remunereris, sed in te semper est quod largiaris, eripe me a me, et conserva me in te. Impugna quod feci, et vindica quod fecisti; tunc er ο mens, cum fuero tuus. .. Dona noxia odisse, et profutura diligere. . . . Quia nihil sum sine te sapiam: qualis vero tecum possim esse cognoscam. • 7 ) Die antiken Grundlagen für die Gedankengänge des Boethius hat im einzelnen nachgewiesen H . R. P a t c h , Necessity in Boethius and the Platonists, Speculum 10 (1935), S. 393 ff. Vgl. ferner K. B r u d e r , Die philosophischen Elemente in den Opuscula Sacra des Boethius, Leipzig 1928. • 8 ) De anima c. 2, 3, 8, Μ i g η e , PL. 70, S. 1285 D, 1288 A, 1295 A ; dazu D i n k i e r , Die Anthropologie Augustins, S. 66 ff.; A. S c h η e i d e r a. a. O. S. 242 f. «») De anima c. 2, S. 1285 B.
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Und während von ferne der augustinische Gedanke des Streites von Gottesreich und Reich der Welt anklingt 70 ), findet Cassiodor an den Lehren Augustins auch wieder den Ausweg aus den Nöten und Zweifeln, in die er gestürzt war. Nur mit der unverdienten und unverdienbaren Gnade Gottes war der Mensch fähig, die Welt zu erkennen und zu ordnen 71). Nun gab er sich auch die Antwort auf die Frage nach den Gründen für das Scheitern seines politischen Ideals. Auf ihn hatte der Ausbruch elementarer politischer Leidenschaften, an dem sein System scheiterte, einen so gewaltigen Eindruck gemacht, daß ihm die menschliche Vernunft demgegenüber als machtlos erschien. Und wie ihm die eigener Willenskraft bare menschliche Seele nur das Streitobjekt von Gott und Teufel war, so hat er den Zusammenbruch des von ihm vertretenen gotisch-römischen Dualismus als das Werk des Teufels angesehen 72). Das bedeutete aber, daß Cassiodor, von der Gerechtigkeit der einst von ihm vertretenen Sache überzeugt, die Ursachen für das Scheitern seiner Idee nicht in sich selbst, sondern außerhalb der eigenen Persönlichkeit suchte. Die Wandlung, die er erlebte, berührte nicht den Kern seines Wesens. Er zog sich zwar aus dem öffentlichen Leben zurück und führte in der Stille seiner Heimat ein religiösen und wissenschaftlichen Idealen gewidmetes Leben. Auf seinem Familienbesitz Vivarium bei Squillace gründete er ein Kloster. Aber er selbst wurde nicht Mönch. Der letzten, entscheidenden Bindung hat er sich versagt 73 ). Für die Mönche seines Klosters schrieb er sein reifstes Werk, die „Institutiones divinarum et saecularium litterarum" 74). Der erste Teil, das „Lehrbuch der göttlichen Wissenschaften", war eine Anleitung zum wissenschaftlichen Studium der Theologie und zum korrekten Abschreiben biblischer und theologischer Handschriften. Zu diesem Zwecke gab Cassiodor eine Bibliographie und kurzgefaßte Literaturgeschichte der Theologie, die durch die beständigen Hinweise auf die in der Klosterbibliothek vorhandenen Bücher eine lebensvolle Anleitung zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit wurde. Besonderen Wert 7
°) D e anima c. 12, S. 1303 D . ) De anima c. 8, S. 1294 f.: Modo enim (seil, anima) signis aut conjecturis sapit aliqua, quae sine labore scire potuit universa. lllud tarnen saneta conversatione purgata, Divinitatis auxilio reeipit, quod insidiis deeipientis amisit. Vgl. auch Anm. 69. S c h n e i d e r , Die Erkenntnislehre bei Beginn der Scholastik, S. 245, sieht in Cassiodors Gedanken den „mystisch gefärbten Rationalismus" Augustins nachwirken. 72 ) De anima S. 1307 C: Invidit (seil, diabolus) pro dolor tarn magnis populis, cum duo essent. Die Stelle wird sowohl von v a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 253, als auch von Μ ο m m s e η , Auct. ant 12, S. X X X I , auf den ostgotisch-römischen Dualismus bezogen. 73 ) Die im Text vorgetragene Auffassung ist durch die Arbeiten von v a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 244 ff., und Revue Benedictine 53, S. 59 ff., gegenüber dem Einspruch von T h i e l e in: Studien und Mitt. z. Gesch. des Benediktinerordens 50, S. 378 ff., sichergestellt worden. 74 ) Gegenüber der Wertung der Institutiones durch S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke, S. 92 ff., ist auf die Arbeiten von v a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 278 ff., T h i e l e a . a . O . S. 378 ff., Ε. K. R a η d , The new Cassiodorus, Speculum 13 (1938), S. 434, C a s p a r , Geschichte des Papsttums 2, S. 312 ff., zu verweisen. 71
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legte er auf die Ausbildung der Schreiber, denen er die philologischen Grundsätze konservativer Textbehandlung als unumgängliche Voraussetzung für die Herstellung neuer Abschriften einschärfte. Von viel geringerer Bedeutung als diese Methodik einer philologisch begründeten christlichen Wissenschaft war der zweite Teil des Werkes, der für den in den weltlichen Wissenschaften ungenügend vorgebildeten Teil der Mönche ein kurzes, übrigens weitgehend unselbständiges Schulbuch bereitstellte. Auch hier war es die Absicht Cassiodors, den Mönchen die geistige Ausrüstung zu vermitteln, deren sie bedurften, um die ihnen im ersten Teil des Werkes gestellte Aufgabe der Büchervervielfältigung erfüllen zu können. Nicht eigentlich aber trat Cassiodor hier als der Mann auf, dem es in erster Linie darauf angekommen wäre, die antike römische Literatur vor dem drohenden Untergang hinter Klostermauern zu retten. Im Gegenteil: den Anstoß zur Abfassung der Institutiones gab nach seinen eigenen Worten die Tatsache, daß zwar die weltlichen Wissenschaften allerorts eifrig studiert wurden, für die litterae divinae aber ein wissenschaftlicher Lehrbetrieb nicht vorhanden war 75 ). Die weltlichen Wissenschaften hatten in dem Studienprogramm Vivariums durchaus eine dienende Funktion. Diese Lösung des schon so lange umstrittenen Problems von Christentum und antiker Kultur bot nichts grundsätzlich Neues. Schon Augustin hatte das Programm einer auf das Studium der weltlichen Autoren gegründeten christlichen Wissenschaft formuliert 76 ); Hieronymus und viele andere hatten diese Gedanken, wenn auch unter manchen Gewissensbedenken, in ihrem Leben verwirklicht 77 ). Das Neue an Vivarium war, daß hier die wissenschaftliche Arbeit grundsätzlich den Insassen des Klosters zur Pflicht gemacht wurde. Ganz das geistige Eigentum Cassiodors ist die Art, wie er seine Mönche zu selbständiger theologischer und textkritischer Arbeit anleitete. Gerade der erste Teil der Institutiones mit seiner Methodik wissenschaftlicher Arbeit hat aber relativ wenig Beachtung gefunden. Isidor von Sevilla hat ihn nicht gekannt, und weder Iren und Angelsachsen noch die karolingische Renaissance haben seine Anregungen voll auszuwerten gewußt 78 ). Das Wissenschaftsideal, dem Cassiodor diente, war bereits das des mittelalterlich-christlichen Traditionalismus. Die Weisheit der heidnischen Philo) Cassiodori Institutiones I, Praef. 1, ed. Μ y η ο r s S. 3. Es ist kaum angängig, Cassiodors Operieren mit den artes liberales als Hilfswissenschaften der Theologie nach dem Vorgang von S c h n e i d e r , a. a. O. S. 92, als ein „verdecktes Spiel mit seinen letzten Zielen" hinzustellen. Das Kirchlich-Traditionalistische sitzt zu tief, als daß es bloße Tarnung sein könnte (vgl. Anm. 79, 80, 81). 7β ) M. G r a b m a η η , Mittelalterliches Geistesleben 2, München 1936, S. 1 ff. Über die Bedeutung der philologischen Bildung bei Augustin vgl. ferner D i n k i e r , Anthropologie Augustins, S. 57. 77 ) Vgl. etwa den Bericht über die Vision des Hieronymus, M i g n e , PL. 22, S. 416 f. Gerade Hieronymus erfreute sich der besonderen Schätzung Cassiodors, vgl. Institutiones I 21, S. 59 f. 78 ) Vgl. die Nachweise von L e h m a n n , Philologus 72, S. 504 ff., 517; 73, S. 253 f.; 74, S. 357 ff., 383.
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sophen war ihm nur ein später Abglanz der am Anfang stehenden göttlichen "Wissenschaft79), und die Dogmen der Kirche sowie die Lehren der Väter galten ihm als unveränderliche Grundlage 80 ). Doch bewegte er sich innerhalb dieses festgefügten Rahmens mit der ganzen Freiheit und Weisheit eines Menschen, der wußte, daß auch bei ketzerischen Autoren noch wertvolle Belehrung geschöpft werden konnte 81 ). Die Fähigkeit der Unterscheidung, die ihn als Politiker unbeirrt den Weg zwischen den Parteien hatte gehen lassen, fand hier den Ort, sich aufs neue zu bewähren. Nicht das Eingehen formaler Elemente in ein christliches Kulturprogramm ist das Wesentliche an Vivarium: die Eleganz des Stiles war für den alten Cassiodor längst nicht mehr das Entscheidende 82 ). Das wesentliche Element haben wir zu erkennen in der von Cassiodor verwirklichten Vereinigung christlicher Gebundenheit mit einem Geist der Wissenschaft und der inneren Freiheit 83 ). Es war die Eigenart und Stärke der Institutiones Cassiodors, daß sie die Hausordnung eines Klosters darstellten, welches ganz in diesen Ideen aufging und in der von ihm zusammengetragenen Bibliothek auch das Mittel zu ihrer Verwirklichung besaß. Die Stärke Vivariums aber war auch seine Schwäche. War das, was der Zeit nottat, wirklich der aristokratische Wissenschaftsbetrieb, den Cassiodor in Vivarium errichtete? Der einstige Staatsmann Theoderichs, der mit der politischen Wissenschaft seiner Gotengeschichte den Bedürfnissen der Zeit zu dienen versucht hatte, dürfte sich eine andere Frage vorgelegt 79
)
Institutiones I, Praef. c. 6, S. 6 ; Psalmenkommentar, Vorwort c. 15, M i g n e , P L . 70, S. 20 C, D. Vgl. dazu E . R. C u r t i u s , Zur Literarästhetik des Mittelalters, Zs. f. Roman. Philologie 58 (1938), S. 463 ff. 8(>) Institutiones I 24, 1, S. 6 4 : si quid dissonum aut discordans Patrum regulis contigerit inveniri, vitandum esse iudicemus. Vgl. audi I 27 1, S. 68, I 11, 1, S. 35. 81
) Vgl. etwa die Äußerung in den Institutiones I 9, 3, S. 33, über den Donatisten Ticonius; ferner I 24, 1, S. 64 f.; I 29, 2, S. 7 4 ; I 1, 8, S. 14 f.; an der letztgenannten Stelle wird besonders klar, daß diese Haltung Cassiodors keineswegs Allgemeingut w a r : posteriores autem in toto dicunt eum (seil. Originem) esse fugiendum, propterea quia subtiliter deeipit innocentes; sed si adiutorio Domini adhibeatur cautela, nequeunt eius nocere venenosa. Anscheinend hat Cassiodor sich nicht nur mit Pelagius auseinandergesetzt (vgl. dazu oben Anm. 6 5 ; L e h m a n n , Philologus 74, S. 354 ff.; O. DobiacheR o j d e s t v e n s k y , Le codex Q. v. I 6 — 1 0 de la Bibliotheque publique de Leningrad, Speculum 5, 1930, S. 21 ff.), sondern auch mit dem Arianismus. D . G. Μ ο r i η hat eine unter dem Namen des Augustin überlieferte antiarianische Kompilation auf den Kreis um Cassiodor zurückführen wollen; vgl. dens., Une compilation antiarienne sous le nom de S. Augustin issue du milieu de Cassiodore, Revue Binedictine 31 (1914), S. 237 ff.
) Vgl. Cassiodors W o r t über seine Institutiones I, Praef. 1, S. 3 : minus fortasse disertos, quoniam in eis non affectata eloquentia sed relatio necessaria reperitur; utilitas vero inesse magna cognoscitur.. . Vgl. dazu das ähnliche Urteil in: De orthographia, Praef. M i g n e , P L . 70, S. 1240 C : ubi plus utilitatis invenies quam decoris. e3) In dem mittelalterlichen Streit von Altem und Neuem (dazu J . S ρ ö r 1, Das Alte und das Neue im Mittelalter, H J b . 50, 1930, S. 297 ff., 498 ff.) nimmt Cassiodor keineswegs eine starre Haltung ein; vgl. Institutiones I 8, 16, S. 3 2 : quoniam accessu temporum multis noviter gratia divinitatis infunditur, quae forsitan priscis doctoribus celata monstratur. 82
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haben. Ihm erschien es als das Gebot des Augenblicks, dem wissenschaftlichen Geiste eine Zuflucht zu schaffen, in der er die Wirren des Jahrhunderts überdauern könnte. Dies ist jedenfalls die Stimmung, die über seinem Vorwort zu den Institutiones liegt 84 ). Das entscheidende Anliegen Cassiodors war also nicht die seelische und geistige Not des Menschen seiner Zeit, sondern ein abstraktes Ideal wissenschaftlicher Kultur, das ihm allerdings zum Lebenselement geworden war. Er spürte es nicht, daß er damit eine Größe in den Mittelpunkt der menschlichen Existenz rückte, die im Grunde doch nur eine — wenn auch bedeutende — Komponente derselben darstellte. Anders als Cassiodor dachte und handelte sein älterer Zeitgenosse, Benedikt von Nursia 85 ), der ihn mit seiner weltumspannenden Ordensgründung nicht nur an historischer Fernwirkung weit übertraf, sondern auch dem Jahrhundert selbst mit kräftigen Strichen die religiöse Signatur gab, neben der die feine Silberstiftzeichnung der rationalen Welt Cassiodors in Farblosigkeit zerfließen mußte. Benedikt, der Sproß einer samnitischen Landadelsfamilie, hatte von der inneren Problematik der Spätlingskultur seiner Zeit wohl noch nicht allzuviel gespürt, als er sein Studium an der Hochschule zu Rom aufgab und sich — „scienter nescius, sapienter indoctus" 86 ) — in die Abgeschiedenheit eines rein religiösen Lebens zurückzog. Nicht aus dieser kulturpessimistischen Richtung kamen seine Bedenken. Ihn bewogen zu seinem Schritt die sittlichen Gefahren, die für einen jungen, noch nicht gefestigten Menschen mit dem Studium im damaligen Rom verbunden sein konnten. Die Intransigenz, mit der hier die wissenschaftliche Bildung dem sittlichen und religiösen Element zum Opfer gebracht wurde, war das Gegenbild zu Cassiodor. Und wenn Benedikt im Bewußtsein des pneumatischen Charakters seiner Stellung als Abt 87 ) von seinen Mönchen unbedingten Gehorsam heischte, wenn er sie als Soldaten Christi ansprach 88 ), um diese Gehorsamspflicht noch deutlicher zu betonen, und wenn er ihnen schließlich ein Gesetz gab, das die Ganzheit des monastischen Lebens in eine ebenso elastische wie feste Form goß, dann waren das
84 )
Mynors S. 3 Z. 13 ff. Über Benedikt vgl.: Benedictus. Der Vater des Abendlandes, 547. 1947. Weihegabe der Erzabtei St. Ottilien, hrsg. von H. S. B r e c h t e r , München 1947; I. H e r w e g e n , Sinn und Geist der Benediktinerregel, Einsiedeln/Köln 1944; ders., Der hl. Benedikt, Düsseldorf 1917; C a s p a r , Geschichte des Papsttums 2, S. 320 ff. Daß Cassiodors Vivarium nicht der Benediktinerregel unterstand, ergibt sich aus D. G. Μ ο r i η , L'ordre des heures canoniales dans les monasteres de Cassiodore, Revue Benedictine 43 (1931), S. 145 ff. 8e ) So Gregor d. Gr. in der Vita Benedict! der Dialogi, Prolog, Migne 66, S. 126; dazu C a s p a r 2, S. 401 f. Vgl. H. S. B r e c h t e r , St. Benedikt und die Antike, in der Anm. 85 zitierten Festschrift S. 139 ff. 87 ) H e r w e g e n , Sinn und Geist der Benediktinerregel, S. 66 ff. ββ ) S. Benedict! Regula Monachorum, ed. D. C. B u t l e r , Freiburg i. Br. 1912, Prolog S. 1; dazu H e r w e g e n a. a. O. S. 24, 37 f. Zu dem „Obsculta, ο fili", mit dem Benedikt seine Regel einleitete, vgl. L. T r a u b e , Zur Textgeschichte der Regula S. Benedict!, Abh. Ak. München, 3. KL, 21 (1898), S. 606 f.
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Wege, auf denen ihm Cassiodor seinem innersten Wesen nach nicht folgen konnte. Ihm fehlte die Unbedingtheit der religiösen und asketischen Haltung Benedikts; deutlich sprach aus seinem Werk die Freude an wissenschaftlicher Arbeit und dem verfeinerten geistigen Genuß, den sie vermittelte 8 9 ). Wo Benedikt befahl, da suchte er — mit Argumenten, die zum Teil nicht im Wesen der monastischen Sache lagen — zu überreden und zu gewinnen 90 ). Um wie Benedikt mit dem Anspruch des Gebietenden auftreten zu können, entbehrte er, der weder Abt noch selbst Mönch war, nicht nur der jurisdiktionellen, sondern audi der moralischen Qualifikation. Es charakterisiert die kluge Hellsichtigkeit dieses Mannes, der sich selbst mit Abstand zu betrachten gelernt hatte, daß er diesen Tatbestand selbst erkannte. Schon in dem Buch „Über die Seele" hatte er einmal gesagt, es zeuge von besonderer Größe, die eigene Kleinheit zu erkennen 91 ); diese Größe bewies er, als er die Charaktereigenschaften eines Freundes, des Mönches Dionysius Exiguus, lobte und betonte, daß dieser alles das in sich vereinigte, was ihm selbst fehlte 9 2 ). Jener vereinte, so sagte Cassiodor, mit der Weisheit große Einfalt (simplicitas), mit der Gelehrsamkeit Demut (humilitas) 93 ), mit der Beredsamkeit die Knappheit der Ausdrucksweise, und er habe sich selbst den einfachsten Dienern nicht voranstellen wollen, obwohl er doch des Umgangs von Königen würdig gewesen sei. Zweifellos traf diese Selbsterkenntnis das Richtige. Simplicitas und humilitas aber wären die Eigenschaften gewesen, die ihm den Weg dazu geöffnet hätten, auf die Herzen, nicht nur auf den Geist der Menschen zu wirken. Cassiodor blieb auch in Vivarium der Rationalist, der vor der geisterfüllten, inspiratorischen Haltung, wie sie Benedikt verkörperte, einen akademischen Respekt bezeugen konnte, für sich selbst und seine Mönche jedoch an dem wissenschaftlichen Studium als dem sichersten Weg zu Gott festhielt 94 ). " ) Besonders deutlich Institutiones I 25, 2, S. 66: Tum st vos notitiae nobilis cura flammaverit, habetis Ptolomei codicem, . . . eoque fiat ut uno loco positi, sicut monachos decet, animo percurratis quod aliquorum peregrinatio plurimo labore collegit. Diese geistige Umgehung des Gebotes der stabilitas loci sdieint der mittelalterlichen Auffassung nicht unanstößig gewesen zu sein. Ein in einer beneventanisdien Handschrift des 11. Jahrhunderts erhaltener Extrakt aus den Institutiones divinarum litterarum hat bei sonst sehr engem Anschluß an c. 25 diese Worte über die Freuden des geographischen Studiums ausgelassen; vgl. die Ausgabe von L e h m a n n , Philologus 73, S. 270. 90 ) Institutiones I 29, 1, S. 73. ei ) De anima c. 11, Μ i g η e , PL. 70, S. 1299 C. ®2) Institutiones I 23, 2, S. 62: pudet me de consorte dicere, quod in me nequeo reperire. fuit enim in illo cum sapientia magna simplicitas, cum doctrina humilitas, cum facundia loquendi parcitas, ut in nullo se vel extremis famulis anteferret, cum dignus esset regum sine dubitatione colloquiis. M ) Ober die Bedeutung der humilitas hatte sich Cassiodor in De anima c. 12, S. 1306 C im Anschluß an Augustin geäußert: Ad te enim, sancte Domine, nemo se erigendo pervenit: quin potius humiliatus ascendit. . .. Ipsa (seil, humilitas) est enim vitae nostrae mater, germana charitatis, aestuantis animae singulare praesidium, contraria debellatrixque superbiae. M ) Institutiones I 7, S. 6 f.
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So rückt Cassiodor neben eine andere Gelehrtengestalt der christlichen Geistesgeschichte, Erasmus von Rotterdam 95). Wie Cassiodor rang Erasmus um das Problem einer auf die Philologie gegründeten christlichen Wissenschaft; mit ihm teilte er daher die Verehrung für den geistesverwandten Hieronymus 96) und die Vielseitigkeit der gelehrten Interessen; es war fast eine Selbstkritik an seiner eigenen umfangreichen, aber oft übereilten und oberflächlichen Produktion, wenn Erasmus mit leisem Tadel monierte, daß Cassiodor alle geistlichen und weltlichen Wissenschaften gleichzeitig zu umfangen suchte 97). Einen Protheus hat Luther den ewig wandelbaren, vielseitigen und nuancenreichen Erasmus genannt 98 ), und mit Protheus hat sich Cassiodor selber verglichen. Aber er gab dem Protheusvergleich eine andere Nuance, die nicht minder ihn selbst wie den Erasmus charakterisiert. Nicht aus eigenem Antrieb — so schrieb er — habe er das Werk „Über die Seele" verfaßt, sondern gedrängt von den Freunden, wie Protheus, der seine Prophezeiungen nidit freiwillig, sondern nur gezwungen und in Fesseln ausgesprochen habe " ) . Immer wieder findet man in Cassiodors Werken den Hinweis auf die Gründe, die ihn bewegten, oder die Freunde, die ihn drängten 10°). Das war mehr als äußerlicher Briefstil; es war ein Charakteristikum cassiodorischer Geistesart. Nicht wie Benedikt eine integral-religiöse Natur, die in ihrem religiösen Erleben wie aus einem inneren Zwange heraus handelt und schreibt, stand er — darin ganz wie Erasmus im Unterschied zu Luther — nicht in einem so unmittelbaren Verhältnis zu seinem Gott, daß seine Werke aus dieser Wesensmitte in ungehemmtem Strom hätten herausbrechen können. Er bedurfte des äußeren Anstoßes, um schöpferisch zu werden. Und dieses Werk war dann nicht die Schöpfung eines seiner selbst in Gott sicheren religiösen Genius, sondern die Sublimierung einer aus allen Quellen der ratio und der Tradition gespeisten Religiosität. Eine letzte, entscheidende Nuance hebt diese Haltung von der des Erasmus ab. Während Erasmus gegen Luther, der auf den Bahnen Augustins die Freiheit des menschlichen Willens radikal geleugnet hatte, die Freiheit philoso-
,5
) J. H u i z i n g a , Erasmus, Basel 1928; J. J. M a n g a n , Desiderius Erasmus of Rotterdam, 2 Bde., London 1928. »·) Vgl. H u i z i n g a a. a. O. S. 95 ff. und oben Anm. 77. 97 ) Ep. 2143, Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, ed. P. S. A 1 1 e η und Η . Μ. A 11 e η , 8, O x f o r d 1934, S. 128. e8 ) D e servo arbitrio, Weimarer Ausgabe 18, S. 602; H u i z i n g a S. 173. ··) D e anima, Praef., Μ i g η e , PL. 70, S. 1281 D . 10 °) Variae, Praef. S. 3, X I Praef. S. 326; charakteristisch die Ausführungen über seine Arbeitsweise ebd. S. 327. 12 ff. Zur Abfassung von D e orthographia drängen die Möndie von Vivarium, Migne 70, S. 1239 C ; audi w o nicht Freunde zur Abfassung des Werkes drängen, kommt der Anstoß v o n außen durch die Zeitverhältnisse, so bei den Institutiones (vgl. Praef. zu Buch I, ed. Μ y η ο r s S. 3) und dem Psalmenkommentar, in dessen Abfassung allerdings eine alte Neigung (vgl. oben Anm. 54) zum Ausdruck kam: avidus me perscrutator immersi, ut dicta salutaria suaviter· imbiberem post amarissimas actiones, M i g n e , PL. 70, S. 9 A .
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phisch zu retten suchte 101), stand Cassiodor auf der Gegenseite. Ferner: Cassiodor hatte seine wissenschaftlichen Bestrebungen dem mittelalterlichen Ideal des Traditionalismus untergeordnet; die ratio seiner Philosophie diente der auctoritas der rechtgläubigen Theologie 102 ). Bei Erasmus aber begann die philologische Textkritik der Bibel bereits die Instanz zu werden, an der die Autorität der kirchlichen Glaubenslehren gemessen wurde. Die Nuance ist klar, auch wenn Erasmus die letzte entscheidende Konsequenz dieser Haltung noch nicht zog 103 ). Hier tritt mit aller Deutlichkeit hervor, daß Cassiodor und Erasmus vergleichbar nur sind, weil sie von entgegengesetzten historischen Ausgangspunkten zu einer Haltung kamen, die im Endergebnis ähnlich war. Cassiodor stieß von einer untergehenden Geisteskultur zum christlichen Gelehrtentum vor mit der Resignation eines Menschen, der den Untergang erlebt hat. Insofern hat man mit Recht von dem „Zwiespältigen und Gebrochenen" in Cassiodor sprechen können 104 ). Bei Erasmus hingegen kam es zur Vermählung von christlichem und wissenschaftlichem Geist im Laufe einer Geistesbewegung, die mit sieghaftem Optimismus die Kräfte eines sich seiner selbst bewußt werdenden Geistes entband. Aber bei Cassiodor wie bei Erasmus wirkte der gleiche, „zu allen Zeiten mächtige moralisierende Intellektualismus" 105), der audi sein religiöses Erlebnis nur auf dem Wege der Wissenschaft zu gestalten vermag. Das aus Kulturbewußtsein und Tradition gespeiste Christentum des Cassiodor und des Erasmus hat merkwürdig gleiche Aufgaben zur Bewältigung vorgefunden. In der durch Luther hervorgerufenen Kirchenspaltung stand Erasmus den integralen Vertretern des Alten und Neuen gleich kritisch gegenüber und war, über den Parteien stehend, von beiden Parteien beargwöhnt und befragt, um die Rettung der Einheit bemüht 106 ). Ganz ähnlich hat Cassiodor in den kirchlichen Spaltungen seiner Zeit um die Einheit des Ganzen gerungen. Als Kaiser Justinian in den Kämpfen über die Abgrenzung der göttlichen und menschlichen Natur Christi den Papst Vigilius zu einer Stellungnahme zwang, die im Widerspruch zur bisherigen Haltung des Papsttums stand und scharfe Opposition in der abendländischen Kirche hervorrief, hat Cassiodor zwischen dem Papst und seinen Gegnern auf der vom Kaiser vorgezeichneten Linie zu 101)
102) 103 ) 104) 105 ) loe)
H u i z i n g a S. 172 ff.; vgl. ferner W . D i l t h e y , Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Leipzig 1921 2 , S. 74 ff.; R. H. M u r r a y , Erasmus and Luther, London 1920. Daß Erasmus bei seiner stärkeren Betonung menschlicher Eigentätigkeit an die spätmittelalterliche Religiosität der devotio moderna anknüpfte, ergibt sich aus P. M e s t w e r d t , Die Anfänge des Erasmus, Leipzig 1917, S. 78 ff.; vgl. auch Α . Η y m a , The youth of Erasmus, University of Midiigan Press 1930, S. 21 ff. Vgl. etwa Institutiones I 15, S. 41 ff., und dazu C a s p a r , Geschichte des Papsttums 2, S. 3 1 4 Anm. 2. H u i z i n g a S. 1 1 8 f. C a s p a r , Geschichte des Papsttums 2, S. 314. P. R a s s o w , Die politische Welt Karls V., München o. J., S. 65. R a s s ο w a. a. O. S. 40 ff.
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vermitteln gesucht 107 ). Insofern Cassiodor sich zum Träger der kaiserlichen Ausgleichsbestrebungen machte, die den religiösen Anliegen der beiden streitenden Parteien doch nicht gerecht werden konnten, trat auch bei ihm jene kühle akademische Art hervor, die Protestanten und Katholiken an Erasmus tadelten. So blieb den Ausgleichsversuchen Cassiodors wie denen des Kaisers der Erfolg versagt. Über Cassiodors Leben steht die Tragik des wissenschaftlichen Menschen, der auf der Ebene der Politik von den elementaren Ausbrüchen der Parteileidenschaft überspielt wurde und im Kampf um die religiöse und sittliche Erneuerung der integralen Gestalt eines Benedikt den Vorrang lassen mußte. Denn Benedikt fand in seiner Gottgebundenheit den Weg zum Menschen und zum Menschlichen, während Cassiodor in den rationalen Bereich des Geistes gebannt blieb. Es zeugt für die Größe und die innere Weite von Benedikts Werk, daß es schließlich das Erbe Cassiodors in sich aufzunehmen fähig war; und es erweist die Größe Cassiodors, daß die Söhne Benedikts nicht ohne ihn auskamen. Die gewaltige wissenschaftliche Leistung des mittelalterlichen Benediktinertums war letzten Endes eine Bestätigung Cassiodors, auch in den Fällen, wo sein Vorbild nicht unmittelbar wirksam war. Cassiodors Werk ging nicht verloren. Manches wäre über seine Nachwirkung im Mittelalter zu sagen. Doch nur ein Hinweis sei hier gegeben, der gerade den deutschen Historiker angehen mag. In den kriegerischen Wirren, die nach dem Tode Cassiodors Italien erfüllten, ist die kostbare Bibliothek Vivariums untergegangen. Die These, daß sie damals nach Norditalien in das Kloster Bobbio verschlagen worden 108 ) sei, ist nicht mehr zu halten. Doch dürften Cassiodors Institutiones beim Aufbau der Bibliothek von Bobbio als bibliographisches Hilfsmittel gedient haben. Cassiodors Erbe selbständiger wissenschaftlicher Arbeit ging zwar auch hier verloren 109 ). Aber es entstand ) Zu erschließen ist diese Tätigkeit des Cassiodor aus einem Brief des Papstes Vigilius aus dem Jahre 550 ( J K . 927, M i g n e , PL. 69, S. 49 A B ) ; über die Rolle Cassiodors vgl. v a n d e V y v e r , Speculum 6, S. 255 ff.; zur Sadie C a s p a r 2, S. 255 f. Über Cassiodors Anteilnahme am Symmachusstreit vgl. oben Anm. 17. 108 ) Gegen R. B e e r , Bemerkungen über den ältesten Handsdiriftenbestand des Klosters Bobbio, Anzeiger d. Akad. Wien, Phil.-hist. Kl. 48 (1911), S. 78 ff., und: Monumenta palaeographica Vindobonensia, 2. Lieferung (1913), dem L e h m a n n , Philologus 74, S. 351, und H . G o m o l l , Zu Cassiodors Bibliothek und ihrem Verhältnis zu Bobbio, Zentralblatt f. Bibliothekswesen 53 (1936), S. 185 ff., zugestimmt haben, vgl. Kardinal Μ e r c a t i , M. Tulli Ciceronis De re publica libri e codice rescripto Vaticano latino 5757 phototypice expressi, in: Codices e Vaticanis selecti 23 (1934), S. 14 ff., und Ε. K . R a n d , The new Cassiodorus, Speculum 13 (1938), S. 437; [vgl. T e u t s c h (s. oben Anm. 1) S. 239]. 109 ) Vgl. etwa G. H . H ö r l e , Frühmittelalterliche Mönchs- und Klerikerbildung in Italien, Diss, theol. Freiburg 1914, S. 43 f., 57 f., 88. Über Columban vgl. etwa H ö r l e S. 55 ff.; M. R o g e r , L'enseignement des lettres classiques d'Ausone L· Alcuin, Paris 1914, S. 227 ff.; S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke S. 95; daß man in dieser norditalienischen Bildungssphäre audi eine gute Kenntnis antiker Literatur und ein inneres Verhältnis zu ihr erarbeiten konnte, beweist das Beispiel des Paulus Diaconus; vgl. Κ. Ν e f f , Die Gedichte des Paulus Diaconus (1908), und H ö r l e a. a. O. S. 44 f. 107
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im Zusammentreffen eines letzten Auslebens der spätrömischen Rhetorenschule mit dem gelehrten irischen Mönchtum Columbans eine Atmosphäre, die derjenigen Cassiodors insofern verwandt war, als auf die Pflege der Grammatik und der weltlichen Studien als Hilfswissenschaft der Theologie sehr viel Wert gelegt wurde. Es war möglich, hier ein inneres Verhältnis zu den Schätzen der antiken Literatur zu gewinnen. In diese Atmosphäre geriet um die Mitte des 8. Jahrhunderts ein bayerischer Kleriker, Arbeo, der spätere Bischof von Freising und der erste uns namentlich bekannte deutsche Schriftsteller in lateinischer Sprache 110 ). Kenntnis der römischen Literatur hat er allerdings nicht erworben. D a f ü r ergriff ihn der Zauber der spätantiken und irischen Stilkünste so sehr, daß er die Synonymenwörterbücher, die den Zeitgenossen als Fundgrube möglichst seltener lateinischer Vokabeln dienten, mit nach Freising nahm, wo später seine Kleriker mit ihrer Hilfe Latein lernen sollten. Zu Unterrichtszwecken übersetzte er eines dieser Wörterbücher in seine bajuwarische Sprache und leitete so, vor Karl dem Großen und unabhängig von der karolingischen Geistesbewegung, die Geschichte der althochdeutschen Schriftsprache ein m ) . Schmal und dünn ist das Rinnsal, das diese Neuschöpfung mit der Welt Cassiodors verbindet, und weder Arbeo noch Cassiodor sind sich jemals solcher Nachwirkung bewußt gewesen. Uns aber in unserer zerrissenen Welt, die die Glaubensfähigkeit eines Benedikt verloren hat und der die K r a f t der Stille und die Klarheit der Selbsterkenntnis fehlt, um mit Cassiodor in der „kastalischen Provinz" seines Vivarium zu leben, mag diese unerwartetste Nachwirkung Cassiodors ein tröstlicher Hinweis sein darauf, daß ein ehrliches Ringen des Geistes — selbst unter den widrigsten Verhältnissen — nicht verlorengeht, sondern seine Wirkung hat, wenn auch vielleicht erst nach Jahrhunderten und in ganz anderer Weise als je vorauszusehen war. Dies ist der „Trost der Geschichte", den die Gestalt Cassiodors auch noch der Gegenwart zu geben vermag.
110
) Uber ihn vgl. Β. Κ r u s c h , Vitae Sanctorum Haimhrammi et Corbiniani, MG. Schulausgabe (1920), S. 123 ff., 146 ff.; K. L a n g o s c h , Arbeo, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon 1 (1933), S. 99 ff.; unten S. 75 ff. U1 ) G. B a e s e c k e , Der altdeutsche Abrogans und die Herkunft des deutschen Schrifttums (1930), S. 117 ff., 135, 148 ff.
Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen Das Werden des Abendlandes im Geschichtsbild des frühen Mittelalters Die Frage, wieweit das Werden des mittelalterlichen Abendlandes im Geschichtsbild des frühen Mittelalters einen Niederschlag gefunden hat, gilt letztlich dem historischen Selbstverständnis dieser Zeit überhaupt und führt in so weite Gebiete, daß eine Begrenzung der Fragestellung erforderlich zu sein scheint. Es wird erlaubt sein, zu diesem Zwecke die Gestalten Theoderichs und Karls des Großen herauszustellen, nicht nur, weil wohl — bei allen Differenzen im einzelnen — in der Forschung Einigkeit darüber besteht, daß sich in der Zeit zwischen diesen beiden Männern der entscheidende Wandel vom Orbis Romanus zum mittelalterlichen Abendland vollzogen hat, sondern auch, weil Karl mit der Uberführung der Reiterstatue des großen Ostgoten von Ravenna nach Aachen selbst eine Beziehung zwischen sich und Theoderich hergestellt hat. Man hat zwar der Aufstellung der Theoderich-Statue in Aachen die politische Bedeutung abgesprochen und betont, daß Karl nur „dem Helden so vieler Lieder eine Ehrung erweisen" wollte, daß er jedoch in Theoderich nicht den „Vorgänger im Reich" habe sehen können 1 ). Das trifft für den historischen Theoderich zu: der Mann, der anerkennend den Gedanken weitergab, daß die Erhebung eines Arianers und Germanen zur Kaiserwürde untunlich sei 2 ), weil keine neue Gewohnheit im Reich aufkommen dürfe, und der selbst an der Zugehörigkeit seines Staates zum römischen Reich unbeirrt festgehalten hat, konnte für den K a i s e r Karl kein Vorbild sein. Aber man wird zweifeln
Vortrag vor dem 21. Deutschen Historikertag in Marburg am 1 3 . 9 . 1 9 5 1 ; Erstdruck: D A . 9 (1952) S. 3 5 3 — 4 0 1 ; ergänzter Neudruck in: Libelli (der Wissenschaftlichen Budigesellschaft), Darmstadt 1956, 1958; hier liegt der Neudruck zugrunde. !) W . Ε η s s I i η , Theoderich der Große (1947) S. 354. 2 ) MG. Auct. ant. ( = A A ) . 12, S. 425, 23 ff.; E n s s l i n S. 29 f.; zu A . S c h e n k G r a f v o n S t a u f f e n b e r g , Theoderich und Chlodwig, jetzt in: Das Imperium und die Völkerwanderung (o. J.) S. 148, und: Theoderich der Große und seine römische Sendung, ebd. S. 139, vgl. E n s s l i n S. 352.
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dürfen, ob die Zeit Karls das Bild Theoderichs so sah, wie es die moderne Geschichtsforschung aus den Quellen hergestellt hat. Um hier Klarheit zu gewinnen, fragen wir die Geschichtschreibung des frühen Mittelalters 1. nach dem Wandel des historisch-politischen Weltbildes in den Jahrhunderten zwischen Theoderidi und Karl; 2. aber fragen wir, ob die Weltgeschichtschreibung der karolingischen Zeit etwas von dem vorangegangenen Werden einer neuen Welt erfaßt hat. In diesem Zusammenhang wird sich auch die Frage klären, was Theoderich für Karl bedeutet hat. I.
Das historisch-politische Weltbild der Geschichtschreiber der Ostgoten, Cassiodor und Jordanis, zeigt sich durchaus noch bestimmt von der Zugehörigkeit zum römischen Weltreich, von der inneren Annäherung und gar Identifizierung des römischen und christlichen Reichsgedankens, die sich besonders seit den Tagen des großen Konstantin vollzogen hatte 3 ). Wenn die Christen schon früh daran gewöhnt waren, im römischen Reich das vierte Weltreich der Prophezeiungen Daniels zu sehen, das dauern würde bis an der Welt Ende 4), so hatte freilich Augustin grundsätzlich die Frage des Unterganges Roms aus soldier eschatologisch-heilsgeschichtlichen Perspektive in eine realistisch-profane zurückzuholen und den Christen klarzumachen gesucht, daß dem römischen Reiche keine heilsgeschichtliche Bedeutung zukomme, daß sein Untergang nicht den der Welt bedeuten müsse 5 ). Der Glaube an das römische Endreich hat trotz Augustin weitergelebt. Das Fortbestehen der östlichen Reichshälfte auch nach 476, das ja geradezu die politische Voraussetzung für die Herrschaft Odowakars und Theoderichs in Italien darstellte, schuf audi die äußeren Bedingungen für ein Fortleben des Endreichsglaubens e ). Er knüpfte sich in Zukunft an Byzanz, das als Erbin des christlichen Imperium Romanum die Res publica christiana schlechthin zu sein s
) Vgl. besonders E. P e t e r s o n , Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum (1935). *) Als Materialsammlung nützlich J. A d a m e k , Vom römischen Endreich der ma. Bibelerklärung, Diss. München 1938. 5 ) E. L e w a l t e r , Esdiatologie und Weltgeschichte in der Gedankenwelt Augustins, Zs. f. KiG. 53 (1934), S. 1—51; H . F u c h s , Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt (1938) S. 23 f.; H . v. C a m ρ e η h a u s e η , Augustin und der Fall Roms, Universitas 2 (1947) S. 257—268; J. F i s c h e r , Die Völkerwanderung im Urteil der zeitgenössischen Schriftsteller Galliens unter Einbeziehung des hl. Augustinus, Diss, theol. Würzburg 1948, S. 97; O. H e r d i n g , Augustin, in: Große Geschichtsdenker, hg. v. R. S t a d e l m a n n (1949) S. 57 ff., 72 f.; J. S t r a u b , Christliche Geschichtsapologetik in der Krisis des Römischen Reiches, Historia 1 (1950) S. 65 ff. ·) N . R e i t t e r , Der Glaube an die Fortdauer des römischen Reiches im Abendlande während des 5. und 6. Jh.s, Diss. Münster 1900.
V o n Theoderich dem Großen zu K a r l dem Großen
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beanspruchte und wegen der geistigen Nähe, in die es damit zur Kirche als dem Corpus Christi mysticum rückte, mit Recht als Corpus politicum mysticum bezeichnet worden ist 7 ). Hier lebte die „politische Theologie" fort, die in dem einen Kaiser die Entsprechung des einen Gottes sah und deren innere Schwäche durch die Formulierung des christlichen Trinitätsdogmas gegenüber dem Arianismus längst ebenso enthüllt worden war wie durch die Kritik Augustins an der pax Romana und an dem „Romaberglauben" seiner christlichen Zeitgenossen 8 ). Dieses Reich besaß in Konstantinopel, seiner Hauptstadt, das n e u e Rom, nicht nur, wie es anfänglich hieß, ein z w e i t e s Rom. Schon im 6. Jahrhundert stellte man der vergehenden alten Roma die weiterblühende neue am Bosporus entgegen, und man behauptete, Konstantin der Große habe hierhin den ganzen Senat und die ganze Beamtenhierarchie des römischen Reiches überführt 9 ). Auf Konstantinopel übertrug man die einst für das alte Rom geprägten Vorstellungen ewiger Dauer, wenn auch in der christlichen Form einer Dauer bis zum Jüngsten Gericht 10 ). Andreas von Caesarea wiederholte schon zu Anfang des 7. Jahrhunderts die Deutung des apokalyptischen Weibes auf das alte Rom, nach dessen Fall die Herrschaft des christlichen Kaisers nach dem neuen Rom überführt worden sei, das nun die Welt bis zum Ende beherrschen werde 11). Standen diese Entwicklungen zur Zeit Theoderichs noch durchaus in den Anfängen, so war der Endreichsglaube Cassiodors 12), dessen ganze Politik nur aus der auch in der neuen Situation noch lebendigen weströmischen politischen Tradition verstanden werden kann, noch durchaus von der Hingabe an die alte Roma getragen. Mag nun diese für den auf dem Boden des Ostreiches schreibenden Germanen Jordanis weniger bedeutet haben, so hat er, der in seiner römischen Geschichte sich weitgehend
7)
O . T r e i t i n g e r , D i e oströmische Kaiser- und Reichsidee nadi ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Diss. München 1938, bes. S. 158 ff.
8)
Peterson, Der Monotheismus, S. 93 f f . ; H . F u c h s , Augustin und der antike Friedensgedanke (1926). 8 ) F. D ö 1 g e r , R o m in der Gedankenwelt der Byzantiner, Zs. f. K i G . 56 (1937) S. 1—42. 10 ) Ch. D i e h l , B y z . Zs. 30 (1929/30) S. 192—196; ferner die Zusammenstellungen v o n A d a m e k , V o m römischen Endreich S. 50 f. ")
M i g n e , P G . 106, S. 380 f.; dazu H . S c h a e d e r , Moskau das dritte R o m (1929) S. 12; D ö 1 g e r , Zs. f. K i G . 56, S. 25; zu Pseudo-Methodius v g l . unten S. 60 A n m . 124. lä) In den Complexiones in A p o c . c. 1 7 , 7 , M i g n e , P L . 70, S. 1413 D , 1414 A , referiert Cassiodor nur über die Auffassung derer, die in der meretrix. . . sedentem supra bestiam R o m sehen wollten, ohne sie sich zu eigen zu madien. D i e aus einer durchaus romfeindlichen Haltung erwachsene Apokalypse ( v g l . dazu A d a m e k S. 34, über die jüdische A p o k a l y p t i k ebd. S. 30 f . ; F u c h s , D e r geistige Widerstand gegen R o m S. 20 ff.) wies die Auffassung des römischen Endreiches in Bahnen, die ein Mann mit dem römischen Staatsbewußtsein Cassiodors (vgl. H . L ö w e , Cassiodor, Roman. Forsch. 60 [1948] 420—446; oben S. 11 ff.) nidit ohne weiteres betreten konnte. Dagegen vertrat er die R o m exegese des 2. Thessalonicherbriefes, in der das römische Reich als die Ordnungsmacht der W e l t bis zum Erscheinen des Antichrist gedeutet wurde (in ep. I I . ad Thess. c. 2, ebd. S. 1351 A ) . D e m entspricht auch die Cassiodor zugeschriebene Überarbeitung des PaulusKommentars des Pelagius ( v g l . A d a m e k S. 57 A n m . 7, 8).
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dem — heute verlorenen — Geschichtswerk des Symmachus ansdiloß 1 3 ), von diesem wohl auch die römische Deutung der Weissagung Daniels übernommen. Verwurzelt im gemeinsamen Reichsgedanken, hielt auch Jordanis an der Lehre vom römischen Endreich fest, obwohl er sah, daß die Welt nur noch scheinbar der römischen Herrschaft unterstand 14 ). Im Westen, außerhalb des Reichsgebietes, mußte sidi die römische Endreichsidee in den folgenden Zeiten des Übergangs, namentlich nach dem Scheitern der Restaurationspolitik Justinians, andersartige, der neuen politischen Wirklichkeit angepaßte Deutungsmöglichkeiten erschließen. Schon vor der endgültigen Entscheidung hatte hier Salvian von Marseille vom römischen Reiche sagen können, es sei entweder schon tot oder liege doch in den letzten Zügen 1 5 ), und nach dem Verzicht des Imperiums auf Gallien hatte gerade ein Hauptträger des Widerstandes gegen die Westgoten wie Apollinaris Sidonius 1β ) sich resigniert mit den neuen Tatsachen abgefunden, ohne jede Hoffnung auf eine Wiederherstellung des alten Zustandes. Mochten sich auch manche Vertreter römischer Tradition an die Bindung zum oströmisdien Kaiser klammern, sehr viel lebendiger war ihnen doch die geistliche und kulturelle Gemeinschaft, die sich in der Kirche und im Papsttum manifestierte 1 7 ). Die „Verkirchlichung der Romidee", die bei gallischen Schriftstellern im Laufe des 5. Jahrhunderts 1 8 ) und selbst bei Papst Leo dem Großen 1 9 ) hervortrat, zeugte davon, daß der Glaube an die Koinzidenz des römischen und des christlichen Reiches im Schwinden begriffen war. Zu deutlich spürte man, daß sich die Gnade
) W. E n s s l i n , Des Symmadius Historia Romana als Quelle für Jordanes, SB. München 1948, 3. 14) Jordanis, De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum 84, AA. 5, 1 S . 9 ; vgl. dazu Praef. 2, ebd. S. 1: ...quomodo Romana res publica coepit et tenuit totumque pene mundum subegit et hactenus vel imaginariae teneat... 15) De gubernatione Dei 4, 30, Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum ( = CSEL.) 8, S. 73 f.; vgl. A. S c h a e f e r , Römer und Germanen bei Salvian, Diss. Breslau 1930; F i s c h e r , Die Völkerwanderung S. 169 ff., 255 ff. 1β ) Darüber sehr gut K. F. S t r o h e k e r , Der senatorische Adel im spätantiken Gallien (1948) S. 84 f.; vgl. F i s c h e r , Die Völkerwanderung S. 132 ff. 17) So ist Avitus von Vienne (vgl. M. B u r c k h a r d t , Die Briefsammlung des Avitus von Vienne [ 1 9 3 8 ] ; P. N. F r a η t ζ , Avitus von Vienne als Hierardi und Politiker, Diss. Greifswald 1908) durch die politische Situation Burgunds in die Lage versetzt, sein römisches Bewußtsein nach Byzanz auszurichten ( F i s c h e r , Völkerwanderung S. 145 f.); dodi hat S t r o h e k e r , a. a. O. S. 101 ff., gezeigt, daß das Rombewußtsein des Avitus sehr viel mehr durch die katholische Kirche bestimmt wurde, die in Rom ihren Mittelpunkt sah und eine geistige und kulturelle Einheit audi über die neuen politischen Grenzen hinweg ermöglichte. Damit stand Avitus schon halbwegs bei Gedanken, die für Isidors (vgl. unten bei Anm. 47) Auffassung vom Corpus Christi entscheidend waren. 18) Zu Prosper, dem Traktat De vocatione omnium gentium und Leontius von Arles vgl. F i s c h e r , Völkerwanderung S. 127 ff.; zu Prosper auch S t r a u b , Historia 1, 79. 1β ) Sermo 82 c. 1, 2, M i g n e , PL. 54, S. 422 f.; übereinstimmend damit Prosper, Carmen de ingratis 1, 40 ff., M i g n e , PL. 51, S. 97, und der Traktat De vocatione omnium gentium 2, 16, ebd. S. 704. ,s
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Christi nicht damit begnügen konnte, dieselben Grenzen zu haben wie das römische Reich. Darüber hinaus aber verfügte der byzantinische Weltherrschaftsanspruch im Westen nicht über eine gleich feste Grundlage in der Religiosität wie in Byzanz. Es ist ein wesentliches und in seiner Tragweite für das historischpolitische Weltbild des frühen Mittelalters hier auszuwertendes Ergebnis der Papstgeschichte Erich C a s p a r s 2 0 ) , daß das Papsttum und mit ihm die lateinische Kirche von vornherein gegen das System der byzantinischen Reidiskirche mit seiner beherrschenden Stellung des Kaisers schärfsten Widerstand geleistet hat. Die gelasianische Zweigewaltenlehre 2 1 ) hat im Osten niemals eine ähnliche Bedeutung für die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche gewonnen wie im Westen. Hier schickte sich die Kirche selbst an, Erbin des Imperium Romanum zu werden; um so schärfer reagierte sie auf die byzantinisch-reichskirchliche Form der Einordnung der Kirche in das römische Reich und gegen die geistliche Überhöhung eines Kaisertums, das nach ihrer Auffassung in der Kirche nur zu lernen, nicht aber zu lehren hatte 2 2 ). Solche Auffassungen aber mußten wie die Augustins grundsätzlich der Neigung Abbruch tun, dem byzantinischen Reiche eine religiöse Würde zuzusprechen, aus der ein Weltherrschaftsanspruch christlich hätte begründet werden können. So fühlte man sich im Westen auch weniger geneigt, die Weissagung vom römischen Endreich auf Byzanz zu übertragen. Dazu aber kam die seit dem 4. Jahrhundert immer stärker um sich greifende innere Entfremdung der griechischen und der lateinischen Kirche, die ihren deutlichsten Ausdruck fand in den großen dogmatischen Kämpfen, in denen oft mit allen Mitteln staatlicher Zwangsgewalt versucht wurde, das Papsttum auf die von ihm als häretisch abgelehnte Mittellinie reichskirchlicher Einigungsversuche festzulegen. Es ist aber bezeichnend, daß es im Abendland zu lange anhaltenden Schwierigkeiten für das Papsttum kam, als das letztere im Dreikapitelstreit dem staatlichen Druck in einer dogmatischen Frage erlag 2 3 ). Diese Begegnung mit einem Kaisertum, das nach den Begriffen der lateinischen Kirche immer wieder griechische Häresie förderte, ist für das Geschichtsbild des Abendlandes sehr wichtig geworden. Mochte in der Liturgie eine Erinnerung an die alte Gleichung von christlichem und römischem Reichsgedan) E. C a s p a r , Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft, 2 Bde. ( 1 9 3 0 / 3 3 ) ; vgl. audi Η . B e r k h o f , Kirche und Kaiser. Eine Untersuchung der byzantinischen und theokratischen Staatsauffassung im 4. Jh. (1947), und M. K l i n k e n b e r g , Grundprobleme kirdilidier Ordnung in den ersten fünf Jhh., Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1 (1950) S. 332 ff., bes. 345, und dens., Papsttum und Reichskirche bei Leo d. Gr., ZSRG. Kan. Abt. 38 (1952) S. 3 7 — 1 1 2 . " ) C a s p a r 2, S. 34 ff.; L. K n a b e , Die gelasianische Zweigewaltentheorie bis zum Ende des Investiturstreites, Diss. Berlin 1936; G. S o r a n z o , I precedent! della cosidetta teoria Gelasiana, Riv. di storia della Chiesa in Italia 1 (1947) S. 3 ff. " ) Zur Genesis dieser Antithese C a s p a r 1, S. 2 7 2 ; 2, S. 64. so
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) Caspar S. 2 8 0 ff.
2, S. 291 ff.;
J . Η a 11 e r , Das Papsttum, Idee und Wirklichkeit 1 (1950)
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ken fortleben 24 ), die Geschichtswerke des frühen Mittelalters zeigen sich von dieser Erinnerung nicht allzu sehr befruchtet. Sie standen seit Orosius 25 ) sehr viel mehr unter dem Eindruck der Gefahr, die ein selbstherrlich in Glaubensdingen befehlendes Kaisertum für die Kirche bedeutet hatte. Sprach sich in der Silvester-Legende 26 ) eine römisch-päpstliche Gedankenwelt der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts aus, der es unter dem Eindruck der überragenden Gestalt des großen Leo als unmöglich erschien, daß neben dem ersten christlichen Kaiser der Papst eine so nichtige Rolle gespielt haben sollte, so hat dieser Versuch einer Umgestaltung des Geschichtsbildes zwar für die frühmittelalterliche Geschichtschreibung des Abendlandes nicht allzuviel Bedeutung gewonnen. Indem aber an die Stelle des einen und überragenden Konstantin der
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) G. T e l l e n b a c h , Römischer und christlicher Reichsgedanke in der Liturgie des frühen Mittelalters, SB. Heidelberg (1934/35) 1. 25 ) Historiae adversum paganos, ed. C. Z a n g e m e i s t e r , CSEL. 5 (1882). Vgl. die Kapitel über Konstantius (7, 29) und Valens (7, 32; 7, 33, 15—19, mit den Bemerkungen über Valens' Tod anknüpfend an ältere orthodoxe Legendenbildung, wohl an Rufin, Hist. eccl. 11, 13; vgl. L. S c h m i d t , Die Ostgermanen [1941 2 ] S. 412 Anm. 2) und über den orthodoxen Theodosius (7, 34, 5), der die (wegen der Häresie seines Vorgängers) adflictam rem publicum ira Dei reparandam credidit misericordia Dei. An der Sorge für den rechten Glauben findet die Einheit von Römerreich und. Christentum bei Orosius (vgl. unten Anm. 49) eine Grenze, die um so mehr zu beachten ist, als er von den Burgundern, die er — fälschlich — für Katholiken hielt, in 7, 32, 11 sagte, daß sie zwar praesumpta possessione in Gallien säßen, aber ihres Katholizismus wegen nort quasi cum subiectis Gallis sed vere cum fratribus Christianis lebten. Ganz unbewußt ließ hier der sonst so loyal zum Reich stehende Orosius die Möglichkeit einer Gemeinschaft mit den germanischen Feinden ahnen, falls diese nur die katholische, nicht die arianische Form des Christentums annehmen würden. 2e ) W. L e ν i s ο η , Konstantinische Schenkung und Silvesterlegende, jetzt in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit (1948) S. 390 ff.; d e r s., Kirchenrechtliches in den Actus Silvestri, jetzt in: Aus rhein. u. fränk. Frühzeit S. 466 ff.; C a s p a r 1, S. 123 ff., 2, S. 109; H . R a 11, Zeitgeschichtliche Züge im Vergangenheitsbild ma., namentlich mittellateinischer Schriftsteller (Eberings Hist. St. 322, 1937) S. 19 ff. Der Charakter der Actus Silvestri als „geschichtlicher Roman" (Levison, Silvesterlegende S. 413, 436) hat es wohl mit sich gebracht, daß weder Beda, der die Silvesterlegende kannte und in anderem Zusammenhang benützte (vgl. L e v i s o n a. a. O. S. 398 Anm. 1, 436 Anm. 5, 6; d e r s., Bede as historian, in: Aus rhein. u. fränk. Frühzeit S. 350 Anm. 2), noch Isidor oder Paulus Diaconus in ihren Geschichtswerken die Darstellung Konstantins nach ihr stilisierten; über Gregor von Tours vgl. die nächste Anm. Danach ist G. L a e h r , Die Konstantinische Schenkung in der abendländischen Literatur des Mittelalters (Eberings Hist. St. 166, 1926) S. 2, zu modifizieren. Offensichtlich ist das weit verbreitete Werk (vgl. Libri Carolini 2, 13, MG. Conc. 2 Suppl., S. 73) eben wirklich als erbaulicher Roman gelesen worden, der nicht ohne weiteres in die ernste Geschichtschreibung aufgenommen werden konnte. Erst die Fälschung der Konstantinischen Schenkung und die im 9. Jh. wieder vorhandene Polarität von Papsttum und Kaisertum hat dann wohl auch dem Legendenstoff neue Entfaltungsmöglichkeit gegeben: Ado von Vienne, Chronicon, Aetas Sexta, Μ i g η e , PL. 123, S. 91 C, D, beruht auf dem Constitutum Constantini, das er kurz darauf (S. 92) erwähnt ( L a e h r S. 15 f.); anders Frechulf von Lisieux, Weltchronik 2, 3, 16—21, Μ i g n e , PL. 106, S. 1193 ff.; er erwähnt sogar 2, 3, 20 S. 1200 C, die Taufe in Nikomedia, nicht aber den Arianer Eusebius als Spender der Taufe.
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Dualismus Konstantin-Silvester gesetzt wurde, bei dem dann gemäß den wenig später formulierten gelasianischen Ideen die Gestalt Konstantins an die zweite Stelle rücken mußte, wurde eine Entwicklung vorbereitet, durch die Konstantin zur Idealfigur nicht mehr nur des e i n e n christlichen Kaisers, sondern christlichen Herrschertums überhaupt werden konnte. Wenn man neubekehrte Könige wie Chlodwig, Aethelbert von Kent und den zum Katholizismus bekehrten Westgoten Rekkared mit Konstantin verglich 2 7 ), so sprach sich darin ein bedeutender Wandel der Dinge aus, da nunmehr ein Westgote, Franke oder Angelsachse auf dieselbe Ebene gehoben wurde wie der römische Kaiser in Byzanz, der sich seinerseits als „neuer Konstantin" akklamieren ließ 2 8 ). Im übrigen lebte Konstantin, dessen Taufe durch den Arianer Eusebius von Nikomedien der orthodoxen Geschichtschreibung schon früh manche Probleme aufgegeben hatte 2 9 ), durchaus nicht nur als Idealbild im frühen Mittelalter fort. Noch im 8. Jahrhundert warnte man aus Spanien Karl den Großen, sich, wie einst Konstantin, auf die Bahn der Ketzerei treiben zu lassen 3 0 ). So pflegte die Geschichtschreibung über die Bekehrung Konstantins verhältnismäßig kühl hinwegzugehen 3 1 ), um sich dafür im Anschluß an Orosius klarzumachen, daß das christliche Kaisertum seiner Söhne durch die Unterstützung der arianischen Häresie zum Werkzeug des Teufels herabgesunken w a r 3 2 ) . ) Chlodwig: Gregor von Tours, Historiae 2, 3 1 ; er kannte die Silvesterlegende ( L e v i s o n , Konst. Schenkung S. 434 Anm. 1), Aethelbert: Gregor der Große, J E . 1825 (Reg. 11, 35), aufgenommen in die Kirchengeschichte Bedas 1, 32, ed. C . Ρ 1 u m m e r 1 (1896) S. 68. Rekkared: Johannes von Biclaro, Chron. 590? c. 1, A A . 11, S. 219. Selbst im H i n blick auf Tassilo wurde das Vorbild Konstantins beschworen; vgl. den Brief des Clemens peregrinus von 772 (?) M G . Epp. 4, S. 496 f. N r . 1. 28) T r e i t i n g e r , Die oströmische Kaiser- und Reichsidee S. 131 Anm. 4. 29) Vgl. R a i l , Zeitgeschichtliche Züge S. 20. 30) Epp. 4, N r . 182 S. 303.2 ff., 307.13 f.; A . H a u c k , Kirchengeschichte Deutschlands 2 5 (1935) S. 311. sl) Über die Taufe selbst sprach man nicht, wie ζ. B. schon Orosius 7, 28, Gregor von Tours 1, 36, Fredegar 2, 42, M G . SS. rer. Merov. 2, S. 66 (wo das Bild Konstantins sehr positiv ist). Isidor von Sevilla, Chronik 3 3 0 — 3 3 4 , A A . 11, S. 465 f., wußte von der arianischen T a u f e ; Beda, Historia ecclesiastica 1, 8, ed. P l u m m e r 1, S. 22, stellte nur fest, daß sich zur Zeit Konstantins die arianische Häresie verbreitet habe. Beachtlich ist, daß Paulus Diaconus in seiner Historia Romana, mit der er den Eutrop ja gerade nach der kirchengeschichtlichen Seite hin ergänzen wollte, kein W o r t über Konstantins Verhältnis zum Christentum hinzufügte, obwohl bei Eutrop darüber gar nichts gesagt war, vgl. A A . 2, S. 172 ff. Ferner erwähnte Regino von Prüm, Chronik (ed. F. K u r z e , SS. rer. Germ. 1890) S. 14, den Übertritt Konstantins ebensowenig wie etwa seine Anwesenheit in Nicaea. Sein Fortsetzer Adalbert hat hier eine Lücke empfunden und einen Zusatz angebracht (ebd. S. 14 Sternnote). [Die abweichende Fragestellung bringt es mit sich, daß hier auf andere Züge des frühmittelalterlichen Konstantin-Bildes hingewiesen wird als bei E. E w i g , Das Bild Constantins d. Gr. in den ersten Jahrhunderten des abendländischen Mittelalters, H J b . 75 (1956) S. 1—46.] 32) Diesen Satz des Orosius, Historiae 7, 29, 2, wiederholte Frechulf von Lisieux, Chronicon 2, 4, 2, Μ i g η e , P L . 106 S. 1203. Vgl. auch Gregor von Tours, 1, 41, der an des Orosius Urteil über Valens anknüpft, und 4, 40 über den „Pelagianismus" Justins I I . 27
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Auffassungen dieser Art haben zunächst bei Isidor von Sevilla gewirkt, auf dem Boden jener spanischen Kirche, die noch im Jahre 684 sich weigerte, Justinians 5. ökumenische Synode von Konstantinopel anzuerkennen. Isidor, der überdies auch historiographisch unter dem besonderen Eindruck der afrikanischen Opposition gegen Justinians Vorgehen im Dreikapitelstreit stand, hatte daher in seiner Chronik 3S) wie in seiner Literaturgeschichte 34) die Ostkaiser immer wieder als Förderer der Häresie zu nennen, während die seit 589 katholischen Westgotenkönige im vollen Glanz der Orthodoxie erstrahlten 35 ). Von der päpstlichen Seite her bot der Liber pontificalis 36 ) einen ähnlichen Einblick in päpstliche Kämpfe mit östlicher Häresie und in die immer stärker werdende Entfremdung zwischen italischer Bevölkerung und byzanti3S
) Isidor, Chron. c. 336, 339, AA. 11, S. 466 f., c. 349, 349 a, S. 468 f.; c. 385, 386 a S.473 über Zeno; c. 389 S. 474 über Anastasius; c. 394 a S. 475 über Justin; c. 397 a S. 475 über Justinian, der alle Bischöfe seines Reiches (in regno suo, das hier territorial begrenzt gefaßt ist, vgl. unten S. 45 Anm. 54) wider die Synode von Chalcedon zur Verdammung der drei Kapitel gezwungen habe (vgl. C a s p a r 2, S. 673 f.). In c. 401a S. 476 wird (nach Joh. Biel. 567 c. 2, AA. 11, S. 211) die Kirchenpolitik Justins II. (vgl. dazu L. Β r e h i e r , Vie et mort de Byzance [1948] S. 36) insofern zu Unrecht als ein grundsätzlicher Umschwung gewertet, als ja auch jetzt die Synode von 553 nicht aufgegeben wurde, andererseits aber die kaiserliche Kirdienpolitik auch unter Justinian eine ausdrückliche Verwerfung von Chalcedon vermieden hatte. 34 ) De viris illustribus c. 4 (5), Μ i g η e , PL. 83, S. 1085, über die ungerechte Verurteilung Theodors von Mopsuestia Justiniano principe compellente; c. 5 (7) S. 1087 über Hosius von Cordova und Konstantius; c. 19 (25) S. 1094 Α über Johannes Chrysostomus; c. 31 (41) S. 1099 Α über Justinian: perverso studio; c. 32 (42) S. 1099 Β über Facundus von Hermiane, deutliche Absage an Justinians Verdammung der „drei Kapitel"; c. 38 (49,50) S. 1101 Β über Victor von Tonnena, dessen Weltchronik die afrikanische Opposition zum Ausdruck brachte, vgl. etwa AA. 11, S. 191 ff., 200 (zu 542), 201 (zu 544), 203 (zu 553); Isidor hat sie in seiner Chronik benutzt, und zwar gerade audi an den in der vorigen Anm. aufgezählten Stellen. ®5) Vgl. Isidors Chronik c. 415—417 S. 479 f., wo Sisebut und Swinthila die Prädikate gloriosissimus und religiosissimus erhalten, während dem Kaiser solche ehrenden Epitheta vorenthalten bleiben; vgl. auch De vir. ill. c. 41 (59) S. 1104: sub Reccaredo viro religioso ac principe glorioso. 3e
) Hingewiesen sei besonders auf die V. Agapiti c. 3 und die V. Vigilii c. 6, MG. Gesta Pontif. Roman. 1, 142, 152, wo jeweils Justinian wegen seiner Kirchenpolitik mit Diokletian verglichen wird. Sehr diarakteristisch die V. Constantini (ebd. S. 224 ff.) über die Nichtanerkennung des häretischen Kaisers Philippicus Bardanes in Rom (711). Gab der Liber pontificalis somit einen Einblick in päpstliche Kämpfe mit häretischen Kaisern, so trat andererseits doch unverkennbar die Neigung hervor, rechtgläubige Kaiser in ihrer humilitas gegenüber dem Papst und dadurch in einer Stellung zu zeigen, die dem tatsächlichen Verhältnis und den byzantinischen Auffassungen recht wenig entsprach. So hat W. E n s s l i n , Byz. Zs. 44 (1951) S. 130 f., 134, darauf hingewiesen, daß der Liber pont. (V. Joh. I., S. 314, V. Agapiti S. 143) das den Päpsten gewährte kaiserliche Begrüßungszeremoniell mißverständlich darstellte und schließlich (V. Constantini S. 224) daraus in „absichtlicher Übersteigerung" eine wirkliche Proskynese mit Fußkuß machte, die der Kaiser dem Papst erwiesen habe. So steht der Lib. pont. schon auf dem Wege zu jener oberkaiserlichen Stellung, die das Constitutum Constantini (vgl. unten Anm. 86) für den Papst in Anspruch nahm. Damit aber wurde der Kaiser, den schon Papst Leo II.
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nisdier Reichsgewalt. V o n Isidor und dem Papstbudi aus gingen dann diese Bilder in die Geschichtswerke Bedas 3 7 ) und des Paulus D i a c o n u s 3 8 ) ein, und der sich im 8. J a h r h u n d e r t gerade auch im Gegensatz zu B y z a n z äußernde Stolz der F r a n k e n 3 9 ) und Langobarden 4 0 ) auf den Besitz des wahren G l a u bens w a r m i t die Auswirkung eines so in langer Tradition geprägten G e schichtsbildes. Angesichts der alles durchdringenden Wirksamkeit der Religion im frühen Mittelalter ist es jedoch v o n entscheidender Bedeutung, d a ß die U n a b h ä n g i g keit der neuen germanischen Staaten v o m oströmischen Kaisertum auf die D a u e r im Westen nicht nur als Tatsache resigniert hingenommen wurde, sondern d a ß sie ein F u n d a m e n t im religiösen Weltbild der Zeit erhielt.
")
3e
)
»») 40
)
(682/3) als „Sohn, Verteidiger und Helfer" der Kirche (JE. 2118) und „unseren, vielmehr des heiligen Petrus Sohn" (JE. 2119) bezeichnet hatte, fast auf eine Ebene mit den Königen des Westens gestellt, und in der gottgewollten Vielheit der bestehenden Staaten erkannte gerade dieser Papst — freilich in einem Brief an den Westgotenkönig Erwig (JE. 2120) — nicht mehr das Kaisertum, sondern nur noch den hl. Petrus und seine Kirche als „einziges Symbol der Einheit" an; vgl. C a s p a r 2, S. 592 f. Über Bedas Quellen L e ν i s ο η , Aus rhein. u. fränk. Frühzeit S. 355; zur Benutzung des Lib. pont. M o m m s e n , MG. Gesta pont. Roman. 1, S. CV. Bezeichnend für das Mißtrauen gegenüber der griechischen Theologie ist es, daß Beda, Hist. eccl. 4, 1, ed. P l u m m e r 1, S. 202 f., von dem so verehrten Erzbischof Theodor von Canterbury sagt, ihm sei vom Papst der Abt Hadrian beigegeben worden, ut ei doctrinae cooperator existens diligenter adtenderet, ne quid ille contrarium veritati fidei, Grecorum more, in ecclesiam, cut praeesset, introduceret. Andererseits vgl. Hist. eccl. 2, 1, S. 76. Hist. Rom. 16, 13, AA. 2, S. 220, beruht auf der V. Agapiti (vgl. oben Anm. 36); beeinflußt durch den Lib. pont. sind auch 16, 18 S. 222, und 16, 21, S. 223, über Silverius und Vigilius. Trotzdem wird, Hist. Langobardorum 1, 25, MG. SS. rer. Lang. S. 63, sichtlich unter dem Einfluß einer anderen Quelle, sehr positiv über Justinian als princeps fide catholicus geurteilt; die Sorglosigkeit, mit der Paulus Quellen verschiedener Art wiedergab, ohne sie zu einer einheitlich durchgeführten Darstellung umzuschmelzen, wird gerade an seinen Äußerungen über das Dreikapitelschisma deutlich (vgl. C. Β 1 a s e 1, Die Wanderzüge der Langobarden [1909] S. 122 if.). Die Beendigung des Monotheletenstreites schildert Hist. Lang. 6, 4, S. 165, nach dem Lib. pont. und nach Beda, dessen Darstellung ihrerseits auf dem Lib. pont. beruhte; 6, 34 S. 175 f., benutzt über Beda die Schilderung des Lib. Pont, von der Nichtanerkennung des Philippicus (vgl. oben Anm. 36); auf dem Lib. pont. beruht 6, 49 S. 181, über die Bilderfeindlichkeit Leos des Isauriers. Die fiskalische Ausplünderung Roms und Siziliens durch Konstans II. schildert er 5, 11, S. 149 f. nach der V. Vitaliani (S. 187 f.), ergänzt aber deren Bericht ζ. B. durch die Feststellung, dies alles sei imperiali iussu et Grecorum avaricia geschehen. Die Empörung des katholischen Langobarden über diese Vorgänge ist unverkennbar. Vgl. bes. Libri Carolini 1, 6; 4, 25, Conc. 2 Suppl. S. 21, 225; dazu C a s p a r , Zs. f. KiG. 54 (1935) S. 196 f. Zum Prolog der Lex Salica E. P f e i l , Die fränkische und deutsche Romidee des frühen Mittelalters (1929) S. 83 ff. Vgl. die Gegenüberstellung Kaiser Leos III. und König Liutprands in der Inschrift der Anastasius-Kirche (Poet. Lat. 1, S. 106, Nr. 12); ein anderer Titulus (ebd. S. 106 Nr. 10 v. 4) sprach von der Roma caput fidei und macht damit deutlich, daß hier wie bei den Franken (vgl. vorige Anm.) die Übereinstimmung mit St. Peter und Rom zum Kriterium der Orthodoxie wird. Vgl. ferner die Laudes Mediolanensis civitatis 18, Poet. Lat. 1, S. 26, und das Gedicht über die Synode von Pavia, SS. rer. Lang. S. 189 ff., Poet. Lat. 4, S. 728 ff.; am deutlichsten sprechen wohl die Gesetze seit Liutprand, vgl. unten Anm. 70.
L ö w e , Cassiodor
4
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Diese Entwicklung, die sich natürlich erst nach dem Übertritt der Germanen zum Katholizismus vollziehen konnte, wird am deutlichsten greifbar in Spanien. Isidor von Sevilla hat noch die Vertreibung der letzten byzantinischen Garnisonen vom Boden Spaniens erlebt und die Einigung seines Landes unter westgotischer Herrschaft mit begeisterter Zustimmung begrüßt 41 ). Ein römisches Weltreich mit einem christlich begründeten, allgemein verbindlichen Herrschaftsanspruch existierte für ihn nicht mehr. So sprach er es in einem seiner theologischen Werke 42 ) aus — und Julian von Toledo folgte ihm darin 43 ) —, daß mit der Geburt Christi der ganze Ablauf der vier Weltreiche aufgehoben sei. Schon der Afrikaner Primasius von Hadrumetum, ein Zeitgenosse Cassiodors, hatte, anknüpfend an den Apokalypsen-Kommentar des Tyconius, den Stein, der nach der Prophezeiung Daniels die viergestaltige Statue der Weltreiche zerschmettern sollte, auf Christus bei seiner ersten Ankunft gedeutet 44 ). Auch Isidor und Julian erklärten jetzt, daß mit Christi Geburt sein Imperium über die Christenheit verkündet worden sei. Aber wenn die „politische Theologie" der Spätantike und der Byzantiner gerade von hier 4l
) P f e i l , Romidee S. 78 ff. [Zu Isidor ist jetzt zu vergleichen: J. F o n t a i n e , Isidore de Söville et la culture classique dans l'Espagne wisigothique (2 Bde. 1959); H . M e s s m e r , Hispania-Idee und Gotenmythos. Zu den Voraussetzungen des traditionellen vaterländ. Geschichtsbildes im spanischen Mittelalter (1960); Α. Β ο r s t , Storia e lingua nell'enciclopedia di Isidoro di Siviglia, Bull. dell'Ist. Stor. Ital. 77 (1965) S. 1—20; ders., Das Bild der Geschichte in der Enzyklopädie Isidors von Sevilla, DA. 22 (1966) S. 1—62.] 4! ) De fide catholica contra Judaeos 1, 58, 1—3, Μ i g η e , PL. 83, S. 495 f. Isidor äußert sich hier zwar nicht so deutlich wie Julian (vgl. die nächste Anm.), aber er meint genau dasselbe wie dieser, wenn er vom regnum und Imperium Christi in coelo et in terra spricht, das dauern werde usque ad consummationem saeculi. Die Christenheit als regnum Christi bei Isidor ferner in: Allegoriae quaedam sacrae scripturae 227 f., Μ i g η e , PL. 83, S. 127 B, C; Quaest. in Vet. Test. In Genesin 11, 8, Μ i g η e , PL. 83, S. 240, ebd. 2, 10 S. 214. Die Auffassung von der Aufhebung der Weltreiche durch das Imperium Christi liegt wohl auch zugrunde in Etym. 6, 1, 25: Daniel... regna orbis pronuntiat et tempus adventus Christi manifestissima praedicatione adnotat. 4S ) De comprobatione aetatis sextae 1, 21, M i g n e 96, S. 554: Videte jam quid propheta iste dicat: „In fine autem horum omnium regnorum", auri, argenti, aeris et ferri, „suscitabit", inquit, „Deus coeli regnum, quod in aeternum non dissipabitur, et regnum eius populo altert non tradetur. Comminuet et consumet universa regna haec, et ipsum stabit in aeternum"; Christi utique regnum, quod Octaviani imperatoris tempore mundo est declaratum et sine fine utique erit aeternum. 'Αντικείμενα 2, 69, M i g n e , PL. 96, S. 697 C. 44 ) Primasius, In Ap. 2, 7, M i g n e , PL. 68, S. 841 D, 842 A; dazu A d a m e k , Vom römischen Endreich S. 56, Anm. 6; über das Verhältnis zu Tyconius W. K a m i a h , Apokalypse und Geschichtstheologie (Eberings Hist. Stud. 285, 1935) S. 10ff.; die Deutung des Primasius lebt weiter bei Aldhelm (ep. 10, AA. 15, S. 502; De virginitate c. 21 ebd. S. 251), Ambrosius Autpertus (s. unten Anm. 90), Alchvine (s. unten Anm. 121), sowie dem unter dem Namen Haimos gehenden Ap.-Komm. 2,7, M i g n e , PL. 117, S. 1034 D, 1035 A, und der unter dem gleichen Namen überlieferten Enarratio in Abdiam, M i g n e , PL. 117, S. 126 A. [Beide sind jetzt als Werke Haimos von Auxerre (ca. 840—860) zu betrachten; vgl. R. Q u a d r i , Aimone di Auxerre alia luce dei „Collectanea" di Heiric di Auxerre, Italia medioevale e umanistica 6 (1963) S. 42.]
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aus z u einer V e r k n ü p f u n g des irdischen Reiches m i t C h r i s t u s k a m , die sich „ k a u m m e h r v o n d e r des corpus
Christi
mysticum,
d e r K i r c h e " , unterschied, so
Schloß sich I s i d o r solchen A u f f a s s u n g e n nicht a n ; sein
kirchengeschichtliches
W i s s e n u m die häufigen K ä m p f e d e r K i r c h e m i t e i n e m h ä r e t i s c h e n K a i s e r t u m m u ß d a b e i ebenso eine R o l l e gespielt h a b e n , w i e die N a c h w i r k u n g v o n
Ge-
d a n k e n des T y c o n i u s u n d A u g u s t i n s . E r k o n n t e g a n z i m augustinischen Sinne den S a t z w i e d e r h o l e n , d a ß d e r populus gegründet h a b e 4 5 ) .
christianus
a u f dieser E r d e keine
F ü r ihn m a n i f e s t i e r t e sich d a h e r das I m p e r i u m
ausschließlich in d e r K i r c h e
46
civitas Christi
) . D i e G l i e d e r dieses C o r p u s C h r i s t i a b e r b i l d e t e n
i h m die g l ä u b i g e n V ö l k e r , u n d n i r g e n d s
findet
sich ein H i n w e i s , d a ß e i n e m
dieser V ö l k e r o d e r e i n e m R e i c h i n n e r h a l b des C o r p u s C h r i s t i die S t e l l u n g einer V o r m a c h t z u g e d a c h t gewesen sei 45
47
) : des römischen Reiches als einer
Zusam-
) Zu der byzantinischen Auffassung vgl. T r e i t i n g e r , Oströmische Kaiser- und Reichsidee S. 160, vgl. oben bei Anm. 11. Bei Isidor wird das Römerreich nur als Gebilde der alten Machtgeschichte gefaßt; deshalb übernimmt er — wohl aus dem Ap.-Komm. des Apringius (M. F έ r ο t i η , Apringius de Beja. Son Commentaire de l'Apocalypse, 1900; lobend erwähnt von Isidor, De vir. ill., M i g n e , PL. 83, S. 1098 f.) — die Deutung von Ap. 17, 9—11 (ed. F e r o t i n S. 49), die dieser selbst dem in diesem Teil des Werkes stark benutzten Ap.-Komm. Victorins in der Bearbeitung des Hieronymus entnommen hatte; vgl. Isidor, Lib. numerorum 9, 51, M i g n e , PL. 83, S. 1 8 9 : . . . octavus scribitur in Apocalypsi diabolus, qui inter Septem reges Romanorum α Joanne visus est. Zum Einfluß des Tyconius K a m i a h S. 11 Anm. 11; augustinisch ist: Quaest. in Vet. Test. In Genesin 6, 20, M i g n e , PL. 83, S. 227. Selbst noch das christliche Römerreich steht unter dem Schatten des heidnischen, ebd. 16, 4 S. 247: Proinde regnum terrenum saeculi huius. . . non est expertum nec invenit ecclesiam coniugem Christi, nisi cum violare tentavit. Divino enim testimonio per fidem martyrum cessit, correptamque etiam in posterioribus regibus honoravit munere, quam corruptioni suae subdere in prioribus non valuit.
) Quaest. in Vet. Test. In Esdram 1, 2, M i g n e , PL. 83, S. 423; De fide catholica adversus Judaeos 2, 1, 3, ebd. S. 499: Quam pluralitatem gentium ita declamat adunari ad unius Dei cultum: ,ln conveniendo', inquit, ,populos in unum, et regna, ut serviant' (Ps. 101, 23). In unum utique, id est in unum regem, ut qui diversorum ritu simulacrorum regna multa et populi multi dicebantur, in unum conveniendo fidem, unus Dei populus, unumque regnum vocetur; ebd. 2, 1, 4 : Huius populi congregatio ex gentibus ipsa est ecclesia. Zur Erläuterung mag dienen: De veteri et novo test, quaestiones 33 (39), M i g n e , PL. 83, S. 205 Β : Die mihi, regnum Dei quibus modis intelligitur? Respondit: Quinque, id est Christus, fides, Evangelium, Ecclesia praesens, vel ipsum regnum coelorum. 4 7 ) Sententiae 3, 49, 3, M i g n e , PL. 83, S. 721 A : Dedit Deus prineipibus (dazu vgl. unten Anm. 54) praesulatum pro regimine populorum . . . Membra quippe Christi fideles sunt populi. In den Synonyma 2, 91, ebd. S. 865 C, stellte er reges, prineipes, imperatores gleichmäßig unter den Oberbegriff der fragilis temporalis potentia; vgl. Quaest. in Vet. Test. In Genesin 31, 65, ebd. S. 286: ...nisi ut ostenderet, quod Christus Dominus omnibus gentibus, quae per fidem corpori eius conciliantur, c un c ti s pari h οηοre et gloria habitis, coelestia praemia largiatur? Vgl. ebd. 7, 10/11 S. 231 die Exegese von Noahs Arche; 2, 9 S. 214 A : in hac sexta aetate saeculi gentes vitam appetentes aeternam Ecclesia generavit. Zu diesen gentes, aus denen sich die Kirche zusammensetzt (Wendungen dieser Art, ζ. T. in der Diskussion mit dem Judentum gesprochen, finden sich oft: De fide cath. contra Judaeos 2, 27, 5 S. 536 C, Sententiae 1, 16, 6 S. 572 B, Quaest. in Vet. 4e
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menfassung der christlichen W e l t bedurfte es nach dieser Auffassung nicht mehr. W e n n u m die Mitte des 5. Jahrhunderts kirchliche Schriftsteller v o n der providentiellen Bedeutung des römischen Reiches gesprochen und die Zugehörigkeit zu ihm als die Vorstufe zur A u f n a h m e in das C o r p u s Christi betrachtet hatten, so w a r es ihnen bereits klar, d a ß dies eine historische Betrachtung w a r und d a ß die G n a d e Christi sich nicht damit begnügen konnte, dieselben Grenzen zu haben wie das römische Reich 4 8 ) . D e r geistige Umschwung, der sich d o r t anbahnte, w a r bei Isidor schon so weit vollendet, d a ß er eine V e r bindung zwischen dem Imperium Christi und dem Imperium R o m a n u m nicht mehr sah. W e n n Isidor im Anschluß an Augustin und Orosius die Reiche Babylons und R o m s verglich, so h a t er eine Formulierung des O r o s i u s 4 9 ) , die im Sinne Test. In Regum II, 2, 8 S. 412, In Regum I, 9 2 S. 399, In Genesin 29, 16 S. 270), gehören auch die Römer (De fide cath. 1, 19, 1 S. 477). Aber ihre universalis dominatio (Quaest. in Vet. Test. In Gen. 29, 9 S. 269), mit der sie einst alle gentes zur Annahme ihrer Kulte (sacrilegia) zwangen (ebd. 6, 17 S. 226), diese Herrschaft des populus Romanus über den orbis (De natura rerum 6, 7, ebd. S. 974) hatte keinen Platz mehr in der Gemeinschaft des Corpus Christi. Wenn man (so A. D ο ν e , Studien zur Vorgeschichte des deutsdien Volksnamens, SB. Heidelberg 1916, 8, S. 31; vgl. dens., Der Wiedereintritt des nationalen Prinzips in die Weltgeschichte, 1890) in spätrömischer Zeit unter den gentes die außerhalb der antiken Kulturwelt lebenden Barbaren im Gegensatz zum populus Romanus verstand, so war im westgotischen Reich (vgl. S c h m i d t , Die Ostgermanen 1, 504 Anm. 1) diese Unterscheidung längst verwischt; sie lebte aber bei Isidor insofern weiter, als er das Wort populus in bezug auf die Christenheit gebrauchte (De fide cath. 2, 1, 4 S. 499: Huius populi congregatio ex gentibus ipsa est Ecclesia). 48 ) De vocatione omnium gentium, M i g n e , PL. 51, S. 704 A; dazu s. oben Anm. 18, 19. Rom erscheint bei Isidor als Vollstreckerin des göttlichen Strafgerichts an den Juden (Allegoriae quaedam Scripturae sacrae 190, 212, M i g n e , PL. 83, S. 123, 125; De fide cath. 1, 44, 4; 2, 10, 4, ebd. S. 489, 516 A); eine positive Würdigung, wie sie Israel trotz der Kreuzigung Christi erhält (De fide cath. 2, 12, 1 S. 517 C), fehlt. *·) Vgl. Orosius, Historiae 2, 1, 3: a principio Babylonium — in fine Romanum, quod usque ad nunc manet; 2, 3, 5: unum Deum disposuisse tempora et in principio Babyloniis et in fine Romanis; 7, 2, 1: fuisse illud primum, hoc ultimum imperium. Isidor, Etym. 9, 3, 3, formte dies um: illud prius et hoc posterius. Aber schon die Antithese bei Orosius ist nicht eindeutig im Sinne der Dauer des Römerreiches bis an das Weltende aufzufassen; zunächst zeigt das usque ad nunc manet den Standpunkt, von dem aus das ultimum und in fine zu deuten ist. Wie das α principio des babylonischen Reiches sich nicht auf den Beginn der Geschichte, sondern erst auf die Zeit Abrahams, bezieht, so meinte das in fine das Ende einer Weltreichsgeschichte, nicht aber das Ende der Geschichte und der Welt überhaupt. Wenn Orosius (2, 6, 13) auf die formula tradendi hinwies, nach der sich die Weltreiche ablösten, so kam ihm nicht in den Sinn, für Rom eine Ausnahme davon grundsätzlich in Anspruch zu nehmen. Selbstverständlich war für ihn das Römische Reich die von Gott gewollte Ordnung, über die hinaus er nicht denken konnte ( P e t e r s o n , Monotheismus S. 88 ff., S t r a u b , Historia 1, S. 73 ff., doch vgl. oben Anm. 25); aber die von P e t e r s o n S. 89 zitierte Stelle 6, 20, 7, die die „ewige Dauer des Imperium Romanum" bei Orosius belegen soll, sagt davon nichts; gerade weil Orosius „wie kaum ein anderer" „Römerreich und Christentum aneinander gebunden" hat ( P e t e r s o n S. 92), ist es wesentlich, daß er insofern Schüler Augustins blieb, als er nirgends von der Dauer des römischen Reiches bis zum Weltende sprach und sich damit des schärfsten Ausdrucks dieser römisch-christlichen Übereinstimmung begab.
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der ewigen F o r t d a u e r des römischen Reiches hätte gedeutet werden können, vermieden. E r löste die Systematik der Lehre von den vier Weltreichen überhaupt auf, wenn er betonte, daß a l l e N a t i o n e n zu ihrer Zeit das regnum besessen hätten 5 0 ) . Von hier aus erschien die Geschichte der Menschheit seit Christi Geburt als der Abfall der gentes v o m römischen Reich, wie m a n ihn im Anschluß an den zweiten Thessalonicherbrief schon lange als ein Vorzeichen des Antichrist angekündigt hatte 5 1 ) . Isidor vermerkte deshalb als erstes E r eignis nach Christi Geburt, und z w a r mit eigenen Worten, keiner Quelle folgend: multas gentes α Romano imperio recesserunt52). Dieser Abfall setzte sich, so sah es Isidor, seitdem immer weiter fort, und was die Westgoten und die übrigen christlichen Völker anbetraf, bejahte er ihn durchaus; denn innerhalb des universalen Imperium Christi w a r für ein irdisches Universalreich in seiner Gedankenwelt kein Platz. D a s römische Reich, das auch nach seiner Meinung in B y z a n z immer noch fortbestand 5 3 ) , besaß nicht mehr das Recht der W e l t h e r r s c h a f t 5 4 ) . Es ist charakteristisch, d a ß gerade spanische Geschichtschreiber des 8. Jahrhunderts den Begriff Romania, der ja von vornherein sehr viel mehr bedeutete als nur das Reichsgebiet und mit einem unserem W o r t ) Etym. 9, 3, 2 f. Wenn Isidor ebd. 9, 3, 3 vom Reich der Assyrer und Römer sagte: regna caetera caeterique reges velut appendices istorum habentur, dann meinte er mit den regna caetera die ebd. 9, 3, 2 genannten regna der Medi, Persae, Aegyptii, Graeci, an die Gegenwart dürfte er bei diesem gelehrten Rückblick kaum gedacht haben. Er meinte hier nicht die neuen regna der Franken, Westgoten und Langobarden, sondern die alten Großreiche, nur nicht unter Festlegung auf die Vierzahl und unter Hervorhebung der Römer und Assyrer, denen gegenüber er den anderen Großreichen der alten Welt — wie audi schon Orosius — nur eine untergeordnete Rolle zusdirieb. Der ganze Abschnitt gilt nur der Großreidisentwiddung der alten Welt, die durch die Ausbreitung des Imperium Christi überwunden ist; dies zu der Interpretation von R. F ο 1 ζ , L'idee d'empire en Occident du V e au X I V e sikle (1953) S. 15. « ) A d a m e k S. 35 if., 43 ff. B) Chron. 238 a, AA. 11, S. 454. " ) Chron. 413, S. 478; 414 a, 415 S. 479 ; 416 b S. 480; Etym. 15, 1, 42. M ) Der westgotische König steht für sein Gebiet dem Kaiser durdiaus gleich; vgl. De vir. ill. c. 35 (46), M i g n e , PL. 83, S. 1100 C: Justinianus in republica et Athanagildus in Hispaniis Imperium tenuerunt. In der Gotengeschichte c. 19, AA. 11, S. 275, stellt er daher Kaiser Theodosius I. und König Athaulf als rex austri und rex aquilonis nebeneinander. Am Kaisertum betont Isidor, einer Formulierung des Hieronymus folgend, das Element der Alleinherrschaft, Etym. 9, 3, 12 (ähnlich Chron. 234, S. 453): Caesarum nomen a Julio coepit, qui. . . primus Romanorum singularem obtinuit principatum:... a quo et imperatores sequentes Caesares dicti; Etym. 9, 3, 23: Monarchae sunt, qui singularem possident principatum, qualis fuit Alexander apud Graecos et Julius apud Romanos; Chron. 234 a S. 453: (Caesar) monarchiam totius imperii Romani obtinuit. Damit vgl. Gotengeschichte c. 62 S. 292 über König Swinthila, der die letzten von „römischen" Truppen besetzten spanischen Städte erobert: totius Spaniae .. . monarchiam regni primus idem potitus; ebenso Chron. 416 b S. 480. Wenn Sisebut und Swinthila (Chron. 417, 417 a, b S. 480) den Titel princeps erhalten, so wird damit also ihre Souveränität betont. Sie haben die gleiche monarchia, den gleichen principatus in Spanien wie der Kaiser im römischen Reich. Aus dieser Auffassung kann Isidor, Etym. 9, 3, 14, vom imperatorTitel sagen: senatus censuit ut Augusti Caesaris hoc tantum nomen esset, eo quod is 50
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„Deutschtum" nahekommenden Sinngehalt auch die Kulturgemeinschaft bezeichnete, wieder ausschließlich auf das byzantinische Reichsgebiet bezogen und die partes occiduae, und zwar besonders Spanien, davon deutlich unterschieden 5S ). Wenn Isidor in seinen Geschichtswerken, namentlich in seiner Chronik, für die Datierung a u c h römisch-byzantinische Kaiserjahre heranzog, so lag darin nicht die Anerkennung einer byzantinischen Oberhoheit, sondern nur die eines Ehrenvorrangs, daneben vielleicht aber audi der Einfluß der benutzten älteren Quellen, die dieses Datierungsmerkmal boten. Es blieb unbestritten, daß es nur einen Kaiser geben konnte; der Ehrenvorrang jedodb, dessen er sich in der Welt erfreute, ließ nach der bei Isidor und anderen hervortretenden abendländischen Auffassung die Selbständigkeit der Könige unangetastet 56 ). Von den Gedanken Isidors her wird es verständlich, daß für Gregor von Tours, den ahnenstolzen Abkömmling eines senatorischen Geschlechtes des spätrömischen Gallien 57), die Frage nach dem Endreichscharakter des römischen Reiches und dem weltgeschichtlichen Einteilungsprinzip der vier Weltreiche bedeutungslos geworden war 5 8 ). Es entsprach Isidors Auffassung des distingueretur a caeteris gentium regibus. Die im MA. des öfteren auftauchende Vorstellung eines territorial begrenzten Kaisertums konnte also in gewissem Maße auch bei Isidor einen Ansatzpunkt finden. Vgl. Ε. E. S t e n g e l , DA. 3 (1939) S. 1—56; R. S c h o l z , Zs. f. dt. Geisteswiss. 3 (1940/41) S. 116—129; E r d m a n n , Politische Ideenwelt S. 3 ff., 31 ff. " ) So die auf einer syrischen, vielleicht monophysitischen Quelle (Nöldeke, AA. 11, S. 368 f.) fußende Continuatio Byzantia Arabica des Isidor c. 21 S. 339; c. 29 S. 347; c. 34 S. 351 f.; c. 36 S. 355; c. 39 S. 357 f. Die Cont. Hispana c. 69 S. 353 läßt den Erzbisdiof Sinderedus aus Spanien in die Romania fliehen (nach Rom selbst, wo er 721 erwähnt wird, Μ a η s i , Cone. Coll. 12, 265); c. 80 S. 356; c. 93 S. 360. Zur Begriffsgeschichte J. Ζ e i 11 e r , Rev. des itudes latines 7 (1929) 194 ff., D ö 1 g e r , Zs. f. KiG. 56, S. 9. Während bei Orosius (3, 20, 11; 7, 43, 5) das politische Element des Begriffes noch nicht vom kulturellen überlagert ist (gegen F i s c h e r , Völkerwanderung S. 254), ist bei Venantius Fortunatus, Carm. 6, 2, 7, AA. 4, S. 131 (F i s c h e r S. 147 f.; K. F. S t r ο h e k e r , Saeculum 1, 1950, S. 463; E. Z ö l l n e r , Die politische Stellung der Völker im Frankenreich, Veröffentlichungen d. Instituts f ü r österreichische Geschichtsforschung 13, 1950, S. 88 f., 92 f.) die romanische Kulturgemeinschaft auch ohne Reichszugehörigkeit empfunden. Die stärkere Neigung zu Byzanz, die Fortunatus von Gregor v. Tours unterscheidet, erklärt sich leicht aus seiner ravennatischen Herkunft und Erziehung; sie wird von D. Τ a r d i , Fortunat (1927) S. 74, wohl zu stark im politischen Sinne gewertet, da ihr bereits der Ansatz zur Idee einer Erneuerung Roms bei den Franken entgegentritt ( P f e i l , Romidee S. 73 f.). 5e
) Vgl. auch die Interpretation des merowingischen Ämtertraktates bei Ε r d m a η η a. a. Ο. S. 16 f.; G. B a e s e c k e , De gradus Romanorum, Festschr. f. R. Holtzmann (1933) S. 5. Da F. Β e y e r 1 e , Das frühmittelalterliche Schulheft vom Ämterwesen, ZSRG. GA. 69 (1952) S. 1—23, den „Ämtertraktat" als ein „Schulheft" in die ostgotische Zeit „vor 550" verwiesen hat, wird man bei der Erörterung der merowingischen Zeit ganz von ihm absehen dürfen. N u r in diesem Sinne ist auch die Weltchronik des Marius von Avenches (AA. 11, S. 232 ff.; vgl. S t r o h e k e r , Der senatorische Adel, S. 134) und die Tatsache aufzufassen, daß man in Burgund noch bis ins 7. Jh. gelegentlich die postkonsularische Datierung anwandte ( S t r o h e k e r S. 121). Vgl. Z ö l l n e r S. 92 f. Andererseits kam es der sog. Fredegar-Chronik nach W. F r i t z e , Die fränkische
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Corpus Christi, wenn Gregor Chlodwig und Remigius mit Konstantin und Silvester verglich, wenn er von dem Franken Chlodwig den Schutz gegen die Häresie erwartete, den die Kaiser zur Zeit des Hilarius nicht gewährt hatten, und wenn für ihn der Kaiser kein Vorgesetzter des Frankenkönigs mehr w a r 5 8 ) . Darlegungen grundsätzlicher Art und die Herausarbeitung großer historischer Zusammenhänge darf man von Gregor natürlich nicht erwarten. Noch weniger als er aber war die im 7. Jahrhundert entstandene Chronik des sog. Fredegar fähig, sich über die Wirrnis der Zeit zu einem welthistorischen Ausblick zu erheben, der mehr gegeben hätte als die pessimistischen Gedanken über den Niedergang der Welt und der Bildung, die sie äußerte 5 9 ). Hingegen haben die Grundgedanken Isidors bei Beda nachgewirkt, dem es seine, über Primasius auf Tyconius zurückgreifende spiritualistische Deutung der letzten Dinge 6 0 ) nur erleichterte, im römischen Reiche eine rein profane Größe zu erkennen, die ihren Charakter als Weltorganisation längst eingebüßt hatte und deren konkreter Bestand mit dem Ende der Welt in keinem Zusammenhang mehr stand. So nannte er am Schluß seiner Chronik nur noch die Bekehrung der Juden und die Herrschaft des Antichrist, nicht aber das Schwurfreundschaft der Merowingerzeit, ZSRG. GA. 71 (1954) S. 112, auf den Nachweis an, daß das byzantinische und das fränkische Reich „einander gleichgestellt seien". Aus dem gleichen Streben erwuchs nach F r i t z e auch die Anwendung des Instituts der „Schwurfreundschaft" auf die Beziehungen der Franken zu Byzanz im 6. Jh.; die Abmachungen zwischen beiden Mächten sollten nach dem Aktenmaterial inter utramque gentem erfolgen, vgl. die Belege bei F r i t z e S. 119 A. 142. Die byzantinische Auffassung der „Staatenhierarchie" war bei dieser Formulierung offensichtlich nicht maßgebend. " ) S t r o h e k e r a . a . O . S. 114 f., 127 f.; ders., Klio 34 (1942) S. 293 ff.; P f e i l , Fränkische und deutsche Romidee S. 75 ff. 5β ) Keinen Hinweis gibt Gregor auf die römische Deutung der Prophezeiung Daniels, obwohl er diesen (Historiae 1, 15) erwähnt; vgl. oben Anm. 27; Chlodwig an der Hilarius-Basilika: 2, 37 und dazu 1, 38. Wenn Gregor in Rom das Haupt der Welt sah (A. H a u c k , Kirchengeschichte Deutschlands 1 [1922] S. 160 Anm. 2), dann galt das in geistigem Sinne. Fränkisches Selbstbewußtsein gegenüber Byzanz spricht aus 6, 42 (mit stilistischer Variation übernommen von Paulus Diac., Hist. Lang. 3, 17, und von dort in Reginos Chronik, ed. K u r z e S. 27). Bereits bei Gregor wird das Wissen über byzantinische Geschichte durch sagenhafte Züge entstellt; so an Hand von Gregor 3, 32 und Fredegar 2, 62 R . S a l o m o n , Byz. Zs. 30 (1929/30) S. 102 ff. 5 ·) P f e i l S. 81 ff. Die Chronik weiß noch um das christlich-römische Kaisertum (2, 42, SS. rer. Merov. 2, S. 66, innerhalb eines eigenen Zusatzes zu Hieronymus: Constantinus per signum cruris omnes gentes (!) super at; vgl. 4, 9 S. 125 f.), und vom kaiserlichen Namen novus David (4, 64 S. 152; vgl. T r e i t i n g e r S. 129 ff.), doch ist ihre Darstellung deshalb dem Imperium keineswegs besonders günstig (4, 33 S. 133, wo Sisebut gerade im Hinblick auf seine antibyzantinische Ausdehnungspolitik gerühmt wird; vgl. 4, 49 S. 145). 4, 66 S. 153 f. spricht von der angeblichen Öffnung der kaspischen Pforten durch Heraclius, infelex Euticiana aerese iam sectans, Christi cultum relinquens; 4, 65 5. 153 und 4, 81 S. 162 schildern die divino noto (!) sich vollziehende Ausdehnung der Araber, durch die das Reichsgebiet auf einen engen Raum beschränkt wird, ohne daß der Verfasser die Niederlage des Reiches als die der Vormacht der Christenheit beklagt. Vgl. oben Anm. 56.
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Ende des römischen Reiches als Vorzeichen für das Herannahen des Jüngsten Tages 6 1 ). Mit den Auffassungen Isidors war die alte Endreichslehre insofern vereinbar, als nach allgemeiner Auffassung mit Christi Geburt das letzte Weltalter angebrochen war. Nur widersetzten sich Isidor 6 2 ) und in seinem Gefolge Beda 6S ) und Paulus Diaconus 6 4 ) jeder unmittelbar eschatologischen Betrachtungsweise, indem sie betonten, daß die Dauer des sechsten und letzten Weltalters allein Gott bekannt sei. Damit schufen sie von der Weltalterlehre her die Möglichkeit, die Geschichte der Gegenwart mit ihren neuen Staatsbildungen nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des Verfalls zu betrachten. Hier liegen die Wurzeln für die positive Bewertung der Gegenwart bei Beda ®5) und Paulus Diaconus 6 6 ) und für die Tatsache, daß die Spanier des 7. Jahrhunderts das literarische Werk des großen Gregor — sehr im Gegensatz zu seinem eigenen Urteil — über die Väter des christlichen Altertums stellten 6 7 ). Bedas Kirchengeschichte der Angeln ist wohl das lebendigste historiographische Zeugnis eines Weltbildes, dem die gläubigen Völker als gleichberechtigte Glieder des Corpus Christi, als Teile seines regnum, galten 6 8 ). Aber ) A d a m e k S. 73; in Bedas Ap.-Komm. erscheint jedodi unter dem starken Einfluß des Tyconius (K a m 1 a h S. 12) in Expl. Apoc. 1 , 7 , Μ i g η e , PL. 93, S. 149 B, das Römische Reich als Teil des überzeitlichen Corpus diaboli, wie ganz ähnlich ja sdhon Hippolyt von Rom (De Antichristo c. 49, 50, Griechische christliche Schriftsteller 1, 2, S. 32.6 ff., 34.3 ff.) betont hatte, daß der Antichrist den zerfallenden römischen Staat erneuern würde ( F u c h s , Der geistige Widerstand gegen Rom S. 22 Anm. 81, S. 76). Beda kannte Augustins Brief 199 an Hesychius de fine saeculi (CSEL. 57, S. 243 ff.; L e v i s ο η , Aus rhein. u. fränk. Frühzeit S. 357 Anm. 2); Augustins Hinweis auf die Dunkelheit der Stellen bei Paulus und Daniel, die er nicht verstehen könne, hat also wohl mit dazu beigetragen, daß sich Beda die Deutung des Hieronymus, dessen Daniel-Kommentar er kannte (L e ν i s ο η a. a. Ο. S. 357 Anm. 3), nicht zu eigen madite. 61 ) Chronik c. 69, AA. 13, S. 323; auch für Beda war das byzantinische das römische Reich: ,0
Hist. eccl. 3, 4 ed. P l u m m e r 1, S. 133. •2) Chronik c. 418, AA. 11, S. 481. «») L e ν i s ο η a. a. Ο. S. 351, 357. •4) Versus de annis a principio 11, Poet. Lat. 1, S. 36; Κ . Ν e f f , Die Gedichte des Paulus Diaconus (1908) S. 7 ff. •5) Hist. eccl. gentis Anglorum 5, 23, ed. P l u m m e r 1, S. 351; hierher gehört auch die Tatsache, daß er seine Weltchronik um so mehr mit der Darstellung englischer Ereignisse füllte, je mehr sie sich der Gegenwart näherte (L e ν i s ο η a. a. Ο. S. 356). · · ) Vgl. das oben Anm. 64 genannte Gedicht. •7) Ildefons von Toledo, De viris illustribus c. 1, M i g n e , PL. 96, S. 198, knüpft hier an das Kapitel Isidors (De vir. ill. c. 40 [53], M i g n e , PL. 83 S. 1102) ζ. T. wörtlich an, übersteigert das Lob aber noch. Man wird das nidit nur für den Topos der Überbietung oder des Lobs der Zeitgenossen (E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948] S. 169—173) halten dürfen; es war Isidor und Julian sicher sehr ernst. Braulio von Saragossa hingegen hat (V. Isidori, M i g n e , PL. 82, S. 55 A) Isidor selbst sehr hoch beurteilt und nach den Kategorien des Renaissance-Gedankens eingeordnet.
•8) Vgl. besonders Hist. eccl. 5, 23 S. 351: dominicae incarnationis anno DCCXXX1; in cuius regno perpetuo exsultet terra ...
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diese Auffassung gab a l l e n katholischen Völkern, den Angelsachsen 69) wie den Langobarden 70) und den Franken 71) das Recht, sich als auserwählt zu fühlen 72) und ihre Geschichte als die Vollstreckung eines göttlichen Auftrags zu erkennen. So bewirkte dieser Gedanke ebenso die Lösung dieser Völker vom römisch-christlichen Universalismus des byzantinischen Reiches wie ihre innere Festigung. Er bildete schließlich die geistige Grundlage für eine neuartige Ausgestaltung der Volksgeschichten. Cassiodor hatte die Goten noch als die — wenn audi bedeutendsten — Sprößlinge der barbarischen Umwelt, des „auswärtigen Proletariats" der alten Kultur gesehen und ihren Aufstieg an die zweite Stelle unmittelbar nach den Römern geschildert 73 ). Vermittels der Ableitung der Goten von Geten und Scythen schuf er ein auf den gotischen Nenner gebrachtes Gesamtgemälde der nichtrömischen Welt, bradite die Goten selbst mit der Geschichte der Ägypter und Parther in Verbindung und erreichte so in übersteigerter Ausmalung gotischer Größe und Gefahr eine im Sinne römischer Reichsideologie um so eindrucksvollere Untermalung der Tatsache, daß diese gefährlichen Goten nun dem römischen Reich und seiner Kultur dienen wollten. Isidor, schon mehr Spanier als Römer 7 4 ), hätte dieser gelehrten Stammbaumkonstruktionen nicht mehr bedurft, da er im gemeinsamen Katholizismus " ) Beda a. a. O. 5, 23 spricht vom H a ß der Briten gegen die Angelsachsen und ihrem Verstoß gegen totius catholicae ecclesiae statum durch ihr Festhalten an ihrer alten Osterberedinung: tarnen et divin a sibi et h u m a η a prorsus resistente vir tute, in neutro cupitum possunt obtinere propositum; 1, 22 S. 42, heißt es von den Angelsachsen: Sed non tarnen divina pietas ρ l e b e m s u am, quam praescivit, deseruit. 70 ) Vorwort zum Edikt Rotharis: post adventum in provincia ltaliae Langobardarum, ex quo Alboin tunc temporis regem precedentem divina potent i a ad due ti sunt, anno septuagesimo sexto; F. Β e y e r l e, Die Gesetze der Langobarden (1947) S. 2; Aistulf sagt 750: traditum nobis α Domino populum Romanorum, ebd. S. 358; noch 866 Adeldiis, S. 392. Vgl. den Titel Liutprands 717 (rex gentis filicissimae ac catholicae Deoque dilectae Langobardorum, ebd. S. 172); ähnlich 720 S. 182, 721 S. 188, 724 S. 218, Aistulf 755 S. 364. 71 ) Vgl. oben Anm. 39; zu den Ann. Mett. Priores unten bei Anm. 143. Vgl. G. T e l l e n b a c h , Germanentum und Reichsgedanke im früheren MA., HJb. 62—69 (1949) S. 125 f. 7S ) Vgl. etwa Jordanis, Getica 67—72, AA. 5, S. 73 ff., der betont, daß selbst Caesar die Goten nicht unterworfen habe, und ihren Bildungsgang beschreibt: rationis eos supra ceteras gentes fecit expertes (69 S. 74); 181 S. 105: primas mundi gentes Romanos Vesegothasque; 187 S. 107 von Westgoten: fortissimi gentium; 40 S. 64: unde et pene omnibus barbaris Gothi sapientiores semper extiterunt Grecisque pene consimiles. Hier dürften bei Jordanis die Anschauungen Cassiodors hervortreten. Über die Gotengeschichte: Variae 9, 25, AA. 12, S. 291. Cassiodors Werk fügt sich also reibungslos in „die Vorstellungswelt des in seinem Sitherheitsgefühl bedenklich erschütterten römischen Imperialismus", wie sie S t r a u b , Historia 1, S. 75 f., skizziert hat. 74 ) Recapitulatio der Gotengeschichte c. 67, AA. 11, S. 294: ut Roma ipsa victrix omnium populorum subacta captivitatis iugo Geticis triumphis adeederet et domina cunctarum gentium Ulis ut famula deserviret; vgl. c. 2 S. 268 und die Vorrede De laude Spaniae 1, AA. 11, S. 267, deren Zugehörigkeit zu Isidor zweifelhaft ist; vgl. W. S t a c h , H V . 30 (1936) S. 429 Anm. 22.
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Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen
die Basis für einen Ausgleich mit den Goten auf Kosten des römischen Reiches gefunden hatte. Doch waren sie inzwischen zu einem so fest anerkannten Bestandteil des historischen Weltbildes geworden, daß er sie sich selbstverständlich zu eigen machte 75), ohne ihnen freilich dieselbe Funktion in seinem Werk zuzumessen wie einst Cassiodor. Vollends für Beda und Paulus Diaconus war die Geschichte ihres Volkes eine in sich ruhende Größe, die ihre Würde und Verpflichtung empfing aus der Einordnung in das Imperium Christi, aber nicht mehr aus ihrem Verhältnis zum Imperium Romanum 76). Bedurften Beda und Paulus daher für die Geschichte ihrer Völker keiner antikisierenden Konstruktionen im Sinne Cassiodors, so hat andererseits die Verschmelzung germanischer und provinzialrömischer Bevölkerung, die sich während des 7. Jahrhunderts in Nordfrankreich vollzog 77), in der Ausbildung einer derartigen Abstammungssage für die Franken ihren Ausdruck gefunden 78). Wenn die gallo-romanische Bevölkerung den Franken trojanische Abkunft gleich den Römern nachsagte, während die Theorien Cassiodors noch die barbarische, also fremde Herkunft der Goten betont hatten, dann sprach daraus schon eine weitgehende Verschmelzung und innere Annäherung der beiden Bevölkerungsgruppen. Der sprachlichen Romanisierung der Franken ging schließlich eine geistige „Frankisierung der Romanen" parallel, die das fränkische Volksbewußtsein annahmen. Aus dieser Voraussetzung aber erwuchs damals die sogenannte Fränkische Völkertafel 79), welche die aus Tacitus bekannte alte Überlieferung von den drei germanischen Hauptstämmen der Ingväonen, Istväonen und Herminonen zu einer Stammtafel erweiterte, der die im fränkischen Reich zusammenlebenden Völker, und zwar auch die Römer und die Bretonen, eingeordnet waren. Wenn hier bisher übliche Vorstellungen in ihr Gegenteil verkehrt und Römer einem germanischen Abstammungsschema eingeordnet wurden, dann fanden darin die großen Bevölkerungsverschiebungen des merowingischen Gallien einen literarischen Niederschlag. Andererseits vollendete sich hier die Entwicklung, in deren Anfängen man Goten und Römer unter dem Begriff der gentes zusammengefaßt hatte, im Gegensatz zum älteren Sprachgebrauch, der mit den gentes nur die außerhalb der alten
75
) Gotengesdiidite c. 1 S. 268, Recapitulatio c. 66 S. 293. ) Charakteristisch Paulus Diaconus, Hist. Lang. 5, 6 S. 146 f., w o ein Einsiedler dem Kaiser Konstans, der Italien den Langobarden entreißen will, entgegenhält, diese seien unbezwingbar, solange sie die von Theodelinde erriditete Basilika Johannes des Täufers in Ehren hielten. " ) Vgl. die Zusammenfassung der bisherigen Diskussionsergebnisse von F. P e t r i , Rhein. Vjbll. 15/16 (1950/1) S. 39 ff. 78 ) A. G r a u , Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschiditschreibung des MA., Diss. Leipzig 1938, S. 4 ff.; Ρ f e i 1 S 81 f. und dazu F. S c h n e i d e r , HZ. 146 (1932) S. 324 ff.; S. Η e 11 m a η η , Das Fredegarproblem, H V . 29 (1934) S. 86 ff. '·) AA. 13, S. 159 Anm. 4; SS. rer. Merov. 7, S. 851; B . K r u s c h , N A . 47 (1928) S. 70 f.; zur Entstehungszeit ders., S. 65 ff.; Ε. Ζ ö 11 η e r , Die politische Stellung der Völker im Frankenreich, S. 80 ff.; P e t r i , Rhein. Vjbll. 15/16, S. 66. 7e
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Kulturwelt lebenden Barbarenvölker bezeichnete 80 ). Diese Scheidung war jetzt hinfällig geworden; unter den Römern verstand man nicht mehr das Reichsbürgertum, in das der Barbar nach Verleihung des Bürgerrechts aufsteigen konnte, sondern ein Volk unter anderen. Das Durchdringen dieser gentilen Betrachtungsweise hatte aber auch für die Historiographie seine Bedeutung, da man rückblickend das Imperium Romanum nur noch als Weltherrschaft des römischen V o l k e s 8 1 ) und damit natürlich als Sache der Vergangenheit zu betrachten vermochte. Die gleiche Rückwirkung auf das Geschichtsbild ergab sich aus der Bedeutung, die die S t a d t Rom, der Sitz des Papsttums als geistiger Mittelpunkt der abendländischen Welt in zunehmendem Maße errang 82 ). Gewiß ließ man sidi von den alten Lehren von der Ewigkeit der Stadt Rom beeindrucken 83), aber man tat nicht den Schritt, der sich aus der Verkirdilichung der Romidee 84 ) hätte ergeben können, die Kirche als Rechtsnachfolgerin des Imperium Romanum 85 ) unter dem Papst als Oberkaiser im Sinne der wahrscheinlich im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts entstandenen Konstantinischen Schenkung 8e ) in die 80
) Vgl. oben Anm. 47; Jordanis, Romana, Praef. 2, AA. 5, 1 S. 2; dazu D o v e , Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens S. 26 Anm. 1, S. 84 Anm. 1, 2. 81 ) D o v e a . a . O . S. 85 Anm. 4; zu Marcellinus Comes 476 vgl. unten Anm. 94; zu Isidor oben Anm. 47. 82 ) Vgl. oben Anm. 36, Anm. 39, 40, Anm. 58. Beachtlich Isidor, Etym. 15, 1, 42, über Konstantinopel: Unde et nunc Romani imperii sedes, et totius caput est orientis, sicut Roma occidentis. Das war nicht in der offiziellen byzantinischen Terminologie vom „Patriarchen des Westens" gesprochen, sondern aus dem Bewußtsein der besonderen Verbundenheit des Westens mit der römischen Kirche. Es ist sehr merkwürdig, daß Isidor politisch die „Römer" und das „römische" Reich als die Feinde betrachtete, die vom Boden Spaniens vertrieben werden mußten, daß er kirchlich jedoch gegen die östliche, griechische Kirche den Standpunkt der westlichen, römischen Kirche, der „Lateiner" vertrat und sich selbst in diesem Sinne zu den „Römern" rechnete (ep. 7, 1—3, Μ i g η e , PL. 83, S. 905 f., ep. 6, 4 S. 903), weil er den Primat des Papstes als Dei vicarius grundsätzlich anerkannte (ep. 6, 2, ep. 8, 2—3, S. 903, 908). ω ) Vgl. die fälschlich unter die Werke Bedas geratenen Flores ex diversis, quaestiones et parabolae, M i g n e , PL. 94, S. 543; F. S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke im MA. (1926) S. 66 f., 251 f. M ) Vgl. oben Anm. 18, 19. 85 ) J. B. S ä g m ü 11 e r , Die Idee von der Kirche als Imperium Romanum im kanonischen Recht, Theol. Quartalschr. 80 (1898) S. 50 ff. M ) Die Auffassung von W. O h n s o r g e , Die Konstantinische Schenkung, Leo III. und die Anfänge der kurialen Kaiseridee, ZSRG. Germ. Abt. 68 (1951) S. 78 ff., der Entstehung im Jahre 804 in Rom annimmt, [hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt; vgl. H . F u h r m a n n , Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum, DA. 22 (1966) S. 63 ff., seine Edition: Constitutum Constantini, MGH. Fontes Iuris Germanici antiqui in us. schol. (1968) und die dort angegebene Lit.]; S c h r a m m , Sacerdotium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte, Studi Gregoriani 2 (1947) S. 403 ff., 412 ff. Die von O h n s o r g e richtig gesehene überimperiale Stellung des Papstes in der Fälschung, die an Gedankengänge des Lib. pont. anknüpfen konnte (vgl. Anm. 36), paßt durchaus in das 8. Jh. Wenn vor dem Papst, dem christianae religionis caput — dem geistigen Haupt des Imperium Christi im Sinne Isidors — Constantin aus
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Abfolge der vier Weltreiche einzuordnen; auch das byzantinische Reich — dem gentilen Denken der Zeit das Reich der Griechen, das unter dem Namen des römischen lebte 87 ) — hatte hier für abendländisches Denken keinen Platz 8 8 ). Gerade die Apokalypsenkommentare trugen dazu bei, einen scharfen Trennungsstrich zwischen der Gegenwart und dem römischen Reich zu ziehen. Denn ihre Einstellung zu dem letzteren war völlig negativ. Der Spanier Beatus von Liebana 89 ) wiederholte zwar wörtlich die Äußerungen der Victorin und Hieronymus über den Bestand des römischen Reiches bis zum Weltende, faßte es aber unter dem Einfluß der Tyconius-Tradition als Manifestation des Corpus diaboli, als Teil des Bösen in der Welt, das als solches nicht nur bis zum Erscheinen des Antichrist bestehen, sondern gerade durch ihn neu aufleben, und erst dann durch Christus vernichtet werden wird. Hingegen schloß sich der in Italien wirkende Franke Ambrosius Autpertus (f 784) 90 ) der Auffassung des Primasius an, nach der Christus schon bei seiner ersten Ankunft das römische Weltreich vernichtet habe. Die Vorstellung vom römischen Weltreich als einer fortwirkenden christlichen Ordnungsmacht war Rom nadi Byzanz ausweicht, so ist das die päpstliche Antwort auf die byzantinische These vom Neuen Rom (vgl. oben Anm. 9), und von einer „Provinzialisierung des östlichen Kaisertums" ( O h n s o r g e S. 87) ist insofern zu reden, als der Fälscher mit den „westlichen Regionen" nur den Kirchenstaat meinte und damit die abendländische Staatenwelt tatsächlich aus dem theoretisch universalen Imperium ausklammerte; das entsprach ganz dem Ämtertraktat (vgl. oben Anm. 56) und war die päpstliche Konsequenz aus der abendländischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte, die dem Papst den Rückhalt für die Formulierung seiner überimperialen Stellung gegenüber Byzanz gab. [Vgl. jetzt J. D e έ r , Die Vorrechte des Kaisers in Rom (772—800), Schweizer Beiträge z. allgem. Gesch. 15 (1957) 5—63.] 87 ) Die unten Anm. 131 zitierte Stelle des Paulus Albarus gibt nur die präzisere Formulierung für eine Auffassung, die in bezug auf Byzanz schon bei Isidor und Paulus Diaconus (s. unten Anm. 93) deutlich wird. 88 ) Eine Sonderstellung nehmen natürlich die Gebiete ein, die nodi zum byzantinisdien Reich gehörten; zur Weissagung des Gratiosus von Ravenna s. unten Anm. 126. Byzantinischer Import ins Frankenreich sind die Methodius-Apokalypse und die tiburtinische Sibylle (unten Anm. 124). 8e ) Beati in Apocalipsin libri duodecim, ed. Η . Λ. S a n d e r s (Papers and Monographs of the American Academy in Rome 7, 1930); zur Entstehungszeit (776, endgültige Redaktion 786) ebd. S. XI ff.; wichtig 2, Prolog, 8, 3 ff. S. 136: (3) haec quattuor [seil, regnaj unus mundus est, (4) sie werden zerstört am Weitende durdi Christus, (5) die vier Tiere Daniels sind das apokalyptische Tier mit den 10 Hörnern und 7 Häuptern: capita reges dicit omnes, cornua omnia regna; von daher ist dann auch die Übernahme der DanielExegese des Hieronymus im folgenden § 6 einzuordnen. Ganz ähnlich 6, 2, 12 ff. S. 462; wichtig 6, 3, 6 ff. S. 473 f.; in welchem Sinne es gemeint ist, wenn ebd. 6, 3, 9 vom quartum, quod nunc orbem tenet, imperium Romanum est gesprochen wird, ergibt sich aus 6, 3, 15—16 S. 475: et bestia terribilis et ceteris bestiis dicitur dissimilis (zu beziehen auf das 4. danielische Tier, das römische Reich; so audi im Brief des Heterius und Beatus an Elipandus 2, 30, Μ i g η e , PL. 96, S. 995 A). sed agnus adveniens, adversus eam in certamine surgens, moriens praedam excussit, et hic agnus et bestia nunc contrarii esse videntur in ecclesia. bestia autem generale nomen est contrarium agno. Das römische Reidi als Teil des Corpus diaboli beherrscht den orbis insofern, als vom Teufel, dem apoka-
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diesen beiden Theologen gleich fremd. So war es der die Welt erobernde Stadtstaat der Römer, nicht die universale spätantik-christliche Weltorganisation, die das Bild dieser Zeit vom römischen Reich und seiner Stellung im Ablauf der Weltgeschichte bestimmte. Das Romanae urbis Imperium aber war für Paulus Diaconus so eindeutig beendet 91 ), daß er seinen Fall zum Anlaß nahm, in seiner Römischen Geschichte die Datierung nach Kaiserjahren durch die Jahreszählung nach Christi Geburt, also nach den Herrscherjahren Christi, zu ersetzen. Dabei haben Beda 92 ) und Paulus Diaconus 93 ) im Anschluß an Marcellinus Comes 94 ) deutlich unterschieden zwischen dem schon mit der Ermordung des Aetius im Jahre 454 eingetretenen Zusammenbruch des weströmischen Reiches und dem Ereignis von 476, der Machtergreifung Odowakars in Rom und Italien und der endgültigen Beseitigung des Kaisertums im Westen. Wenn aber Paulus Diaconus im Jahre 476 das Romanorum apud Romam imperium untergegangen sah, dann galt ihm diese Feststellung nicht nur gegenüber Odowakar und den Ostgoten, sondern auch gegenüber der Restauration Justinians, die eben nicht das Imperium
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lyptisdien Tier (6, 3, 6), gesagt wird: non in uno loco requiratur, quia in omni omnino mundi est. Da er andererseits (6, 3, 7—8) dieses Tier mit dem 4. Tier Daniels, dem römischen Reich gleichsetzt, kann er sagen: cum antichristo in toto orbe regnare dicitur. Der Antidirist beseitigt nicht das römisdie R e i c h , sondern es heißt 6, 7, 1 S. 506 vor einem Zitat aus Augustin, De civ. Dei 20, 19: Qualiter imperatorem tollat Romanum et ipse sumat imperium. Das steht im Gegensatz zur Endkaiservorstellung der MethodiusApokalypse (unten Anm. 124). Das Erscheinen des Antidirist hält er wegen der adoptianischen Häresie für nahe bevorstehend. So sein und des Heterius Brief (von 785) an Elipandus 2, 52, Μ i g η e , PL. 96, S. 1028 C: lam longe Antichristus non est, quia iam Christus Deus esse negatur, S. 1028 D : nunc in adventu Antichristi. Daneben ist zu halten Isidor, Etym. 8, 10, 22: sed et ille Antichristus est qui negat esse Deum Christum, contrarius enim Christo est; omnes enim qui exeunt de ecclesia, et ab unitate fidei praeciduntur, et ipsi Antichristi sunt. Damit erklärt sich auch seine Äußerung über das römisdie Reich 6, 3, 9 und 6, 3, 15, das als 4. Tier nunc in der Kirche mit dem Lamm kämpft, weil es (im Bilderstreit) ab unitate fidei abgewichen war. Vgl. A d a m e k S. 73 ff. Maxima Bibl. vet. Patrum 13 (1677) S. 488 D ; A d a m e k S. 75; K a m i a h S. 12 f.; vgl. J. W i n a n d y , Rev. Benedictine 60 (1950) S. 93 ff.; ders., Rev. Βέη. 59 (1949) S. 206 ff. Hist. Romana 16, 1 AA. 2, S. 216. Chron. 493, AA. 13, S. 304 f.: Aetius ... occiditur, cum quo Hesperium cecidit regnum neque hactenus valuit relevari; vgl. Hist. eccl. 1, 21 ed. Plummer 1, S. 41. Zu 476: Chron. 500 S. 305: Odoacer rex Gothorum Romam obtinuit, quam ex eo tempore diutius eorum reges tenuere. Hist. Romana 14, 15, AA. S. 2, 206: cum quo (seil. Aetio) pariter et Occidentis imperium salusque rei publicae corruit nec ultra hactenus valuit relevari; zu 476 ebd. 15, 10 S. 211: ita Romanorum apud Romam imperium toto terrarum orbe venerabile et Augustalis ilia sublimitas, quae ab Augusto quondam Octaviano coepta est, cum hoc Augustulo periit. Chron. 454, 2 AA. 11, S. 86: cum ipso (seil. Aetio) Hesperium cecidit regnum nec hactenus valuit relevari; zu 476 S. 91: Hesperium Romanae gentis imperium. . . cum hoc Augustulo periit. . ., Gothorum dehinc regibus Romam tenentibus. Vgl. auch Jordanis, Rom. 345, AA. 5, 1, S. 44: Hesperium regnum Romanique populi prineipatum.
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d e r S t a d t R o m u n d a u d i nicht das I m p e r i u m der R ö m e r
in R o m w i e d e r h e r -
stellte, sondern die H e r r s c h a f t der Griechen über R o m herbeiführen h a l f . Diese aber h a t t e schon v o r h e r der L i b e r pontificalis als eine D i e n s t b a r k e i t bezeichnet, die f ü r die R ö m e r keineswegs besser gewesen sei als die G o t e n h e r r s c h a f t 9 5 ) . E i n e A h n u n g v o n der G r ä z i s i e r u n g Paulus
Diaconus
Romam
Imperium
besessen96); toto
terrarum
und
des byzantinischen Reiches h a t wenn
orbe
er
von
venerabile
dem
gerade
Romanorum
sprach, das i m J a h r e
apud 476
u n t e r g e g a n g e n sei, d a n n mochte d a r i n doch die K o n s e q u e n z liegen, d a ß er dem römischen
Imperium
der
Byzantiner
eine
gleiche W e l t g e l t u n g
nicht
mehr
zusprach. O b e r das I m p e r i u m d e r Griechen hinweg, d e m auch P a u l u s D i a c o n u s die Bezeichnung als römisches nicht v e r s a g t e 9 7 ) ,
dessen A u s d e h n u n g über
Rom
jedoch als F r e m d h e r r s c h a f t e m p f u n d e n w u r d e , erhielt sich i m W e s t e n die E r innerung an die einstige Z u s a m m e n f a s s u n g i m weströmischen Reich, u n d seine E r n e u e r u n g k o n n t e d e m a u f der G r u n d l a g e d e r gemeinsamen z u r lateinischen K i r c h e sich e n t f a l t e n d e n wußtsein
98
abendländischen
Zugehörigkeit
Gemeinschaftsbe-
) schon in seinen A n f ä n g e n zu einem G e g e n s t a n d d e r
Erwägung
w e r d e n . D e s h a l b ü b e r n a h m e n B e d a u n d P a u l u s D i a c o n u s den S a t z des M a r cellinus C o m e s , d a ß das westliche Reich bisher noch nicht w i e d e r aufgerichtet w e r d e n k o n n t e " ) . B e i P a u l u s D i a c o n u s aber w i r d deutlich, d a ß er sich die
) Lib. pont., V. Joh. III., ed. M o m m s e n S. 157: expedierat Romanis Gothis servire quam Graecis, übt Narsis eunuchus imperat et servitio nos subiecit, et piissimus princeps noster haec ignorat. aut libera nos de manu eius, aut certe et civitate Romana et nos gentibus deservimus. Über den amtlichen Charakter des Ausdrucks haec servilis Italia vgl. C a s p a r 2, S. 215. Der Bericht des Lib. pont. übernommen von Paulus Diac. Hist. Lang. 2, 5, SS. rer. Lang. S. 75. 9β ) Paulus Diac., Hist. Lang. 3, 15, S. 100 über Mauricius: primus ex Grecorum genere in imperio confirmatus est; dieser Satz steht bei dem hier benutzten Gregor (6, 30) nicht. Auch in der Hs. Berlin, Phillipps Nr. 137, von Isidors kleiner Chronik ist zu Tiberius I. (578—82) vermerkt: hucusque imperatores Romani, und zu Mauricius: hic Mauricius Gr ecus de Cappadocia fuit (AA. 11, 503). [Hier geht es, wie das hucusque und bei Paulus Diac. das primus zeigen, um die Feststellung eines bedeutsamen historischen Schrittes, wie man sie auch bei modernen Byzantinisten zu Mauricius finden kann; vgl. etwa G. O s t r o g o r s k y , Gesch. des byzantinischen Staates (1963 3 ) S. 67 f.: „ . . . eine wichtige Etappe in der Entwicklung von dem greisenhaften spätrömischen Staatswesen zu der neuen lebenskräftigen Ordnung des mittelalterlichen byzantinischen Kaiserreiches"; die Stelle ist also nicht mit P. L a m m a , II mondo bizantino in Paolo Diac., Atti del 2° Congr. internaz. di studi sull'alto medioevo (1952), S. 204 Anm. 14, abzuwerten als Korrektur einer Angabe über römische Abkunft des Kaisers bei Euagrios, dessen Kirchengeschichte Paulus wohl kaum gekannt hat.] 97 ) Hist. Lang. 6, 11, 12, S. 168: Romanorum regnum. 98 ) Vgl. R. W a l l a c h , Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im MA. (Beitr. z. Kult.Gesch. d. MA. u. d. Renaissance, hg. v. W. Goetz 34, 1928) S. 7 ff. Vgl. oben bei Anm. 82. 99 ) Vgl. oben Anm. 92—94; daß der ma. Schriftsteller auch in „Zitat, Entlehnung, Topos und Formular" „legitime Formen der Aussage" sah, betonte H. B e u m a n n , Arch. f. Kult.Gesch. 33 (1951) S. 337—50. 95
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eventuelle Wiederherstellung des westlichen Reiches als eine politische Zusammenfassung des Abendlandes, nicht aber als die Erneuerung des Romanae urbis imperium oder des Romanorum apud Romam Imperium dachte. "Wenn vielmehr der langobardische Geschichtschreiber schon in den achtziger Jahren des 8. Jahrhunderts davon sprach, daß nunmehr die Herrschaft über Rom in den Händen Karls des Großen liege 10°), dann ist er sich darüber klar gewesen, daß das Wunschbild eines abendländischen Reiches tatsächlich schon durch die Franken verwirklicht w a r . Der des öfteren wiederholte Satz, daß „eine Staatenhierarchie, die ganze christliche Oikumene umfassend und in dem einen Kaiserreich gipfelnd", für Ost und West „die einzige denkbare Weltordnung" gewesen sei 1 0 1 ), findet seine grundsätzliche Einschränkung nicht nur in der abendländischen Auffassung des Corpus Christi, sondern audi in der Tatsache, daß zwei so bedeutende Köpfe wie Beda und Paulus Diaconus den Gedanken an eine erneute Zusammenfassung der abendländischen Völker nicht für sinnlos hielten und daß dieser Gedanke aus dem Nebeneinander von ost- und weströmischem Reich seine Nahrung erhielt.
II Freilich hat sich diese abendländische Auffassung schon in der Entstehungsgeschichte des karolingischen Kaisertums mannigfaltig mit der Idee des einen, universalen christlichen Kaisertums gekreuzt, wie sie in Byzanz und von daher audi in Rom lebendig war. Papst und Römer konnten, nachdem sie im Jahre 800 Karl als Kaiser anerkannt hatten, um in einer konkreten Situation der res publica Romanorum im Frankenherrscher einen handlungsfähigen souveränen Herrn zu geben 102 ), nur dieses an die Stadt Rom gebundene Kaisertum als das eine, universale christlich-römische auffassen und mußten daher notwendig zu einer Abwertung des byzantinischen Kaisertums gelangen 10S ). Hier lag die Wurzel der Translationstheorie, die das Geschichtsbild späterer Zeiten beherrschen und dann auch wieder zu einer Einreihung des fränkisch-deutschen KaiGesta epp. Mett. SS. 2, S. 2 6 5 : ipsam urbetn Romuleam.. . suis addidit sceptris; vgl. Epp. 4, S. 5 0 8 : civitas vestra Romulea. 101) O s t r o g o r s k y , Gesdiichte des byzantinischen Staates S. 1 2 8 ; danach O h n s o r g e , Z S R G . Germ. A b t . 68, S. 84. F. D ö 1 g e r , Die „Familie der Könige" im M A . , H J b . 60 (1940) S. 397 ff., bes. 403 £.; daß die Einordnung in das in der byzantinisdien Außenpolitik eine so große Rolle spielende System der künstlichen Verwandtschaft im Sinne einer politischen Unterordnung verstanden wurde, ist f ü r Ostgoten und Burgunder zuzugeben; bei den Franken, w o schon Theudebert I. selbst die Bahnen imperialer Politik betrat, ist es durchaus z w e i f e l h a f t . Vgl. oben A n m . 56, 5 8 ; unten A n m . 122. , 0 2 ) Η a 1 1 e r , Das Papsttum 2 ( 1 9 5 1 ) S. 2 0 f . ; F. L. G a η s h ο f , The imperial coronation of Charlemagne (1949). N a d i Abschluß dieser Arbeit erschien P. E. S c h r a m m , Die Anerkennung K a r l s d. G r . als Kaiser, HZ. 1 7 2 ( 1 9 5 1 ) S. 449 ff. 1 0 3 ) Zur kurialen römisdien Kaiseridee vgl. O h n s o r g e , Das Zweikaiserproblem im früheren M A . (1947) S. 10 ff. 10 °)
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serreiches als Fortsetzung des römischen in den A b l a u f der vier Weltreiche führen sollte. Diese letztere Konsequenz nun ist im 9. J a h r h u n d e r t noch nicht gezogen, wohl aber vorbereitet worden, wenn der Karolinger L u d w i g I I . 1 0 4 ) sich den päpstlichen Standpunkt zu eigen machte und den römischen C h a r a k t e r seines Kaisertums B y z a n z gegenüber mit der päpstlichen K r ö n u n g begründete und wenn etwa die V i t a Willehadi d a v o n sprach, d a ß im J a h r e 8 0 0 durch P a p s t und R ö m e r die potestas imperialis v o n den Griechen a u f die F r a n k e n übertragen worden s e i 1 0 5 ) . Gerade diese Formulierung aber entsprach in keiner Weise der Auffassung K a r l s und der ältesten fränkischen Quellen zur Kaiserkrönung. K a r l s politisches Ziel, das er in den Libri Carolini programmatisch formulierte und im J a h r e 8 1 3 verwirklicht zu haben g l a u b t e 1 0 6 ) , w a r die Gleichstellung m i t B y z a n z . D a r a n h a t auch die Kaiserkrönung nichts geändert; weder v o r 1 0 7 ) ) MG. Epp. 7, S. 386 ff.; dabei bestritt aber der Konzipient dieses Briefes Ludwigs II. an Basilius, der päpstliche Bibliothekar Anastasius, nur das „ r ö m i s c h e " Kaisertum der Byzantiner, hielt sich aber durchaus im Rahmen der durch Karl d. Gr. begründeten Parität (vgl. Epp. 4, S. 556): untttn est enim Imperium Patris et Filii et Spiritus sancti, cuius pars est ecclesia constituta in terris, quam tarnen Deus nec per te solum nec per me tantum gubernari disposuit, nisi quia tanta sumus ad invicem caritate connexi, ut non tarn divisi set unum existere videamur (S. 387). 105 ) c. 5 SS. 2, S. 381; die Quelle war ein reichhaltigeres Exemplar der Ann. Laureshamenses, das auch im Chron. Moiss. (SS. 1, 305) benutzt zu sein scheint, vgl. W. W a t t e n b a c h , Geschichtschreiber d. dt. Vorzeit, 2. Gesamtausg., 3 (1888) 92; doch sprechen diese beiden Quellen nicht von der potestas, sondern vom nomen, haben auch keine Entsprechung zu dem ad Francorum translatum est dominium. [G. N i e m e y e r , Die Herkunft der Vita Willehadi, DA. 12 (1956) S. 32 f.; vgl. W. G ο e ζ , Translatio imperii (1958) S. 73.] 10β ) H. L ö w e , Die karolingische Reichsgründung und der Südosten (1937) S. 154 f., 164 f.; O h n s o r g e , Das Zweikaiserproblem S. 19, 28 f.; F. D ö l g e r , Europas Gestaltung im Spiegel der fränkisch-byzantinischen Auseinandersetzung des 9. Jhs., in: Der Vertrag von Verdun (hg. v. Th. Μ a y e r 1943) S. 220 ff.; S c h r a m m , HZ. 172, S. 504 if. 107 ) L ö w e , Eine Kölner Notiz zum Kaisertum Karls d. Gr., Rhein. Vjbll. 14 (1949) S. 7 ff.; die von W. O h n s o r g e , Orthodoxus imperator, Jb. d. Ges. f. niedersächs. KiG. 48 (1950) S. 21 Anm. 23, 22 Anm. 24, 23 Anm. 27, dagegen erhobenen Einwände widersprechen sich selbst: er leugnet die Tatsächlichkeit der von mir erörterten Nachricht z. J . 798: missi venerunt de Grecia ut traderent ei imperium, weil sie im Widerspruch zu den byzantinischen Gedanken „über den Westen" stände; sie ist nach seiner Meinung ein westlicher Niederschlag der Verhandlungen von 802 und gehört in die Zeit von 802—805; dabei stört ihn nicht, daß die fränkische Gesandtschaft von 802 ergebnislos zurückkehrte, weil Irene ihres Entgegenkommens wegen gestürzt wurde; jetzt konnte doch der Eindruck eines byzantinischen Angebots der beschriebenen Art im Westen erst recht nicht entstehen. Außerdem verrät uns Ohnsorge nicht,warum man zwischen 802—805 diesen „Niederschlag" von Verhandlungen des Jahres 802 dann als „Randglosse" zu einer komputistischen Notiz schon des Jahres 798 vermerkte, etwa nur, um spätere Historiker hinters Licht zu führen? Es handelt sich ja nicht um Annalen, bei denen eine Angabe leicht einmal in die falsche Rubrik geraten konnte. Daß die Kölner Hs. im Jahre 805 nach einer Vorlage von 798 aus St. Amand geschrieben wurde, hat auch J . R a m a c k e r s , Ann. d. hist. Ver. f. d. Niederrhein 148 (1949) 164, als „so gut wie sicher" bestätigt. [Nichts Unwahrscheinliches oder Unglaubhaftes fand in der Kölner Notiz audi P. L a m m a , Ii problema dei due imperi e dell'Italia meridionale nel giudizio delle fonti letterarie dei 104
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noch nach 800 108 ) hat Karl von den sich bietenden Möglichkeiten, seine Herrschaft als „Gegenkaiser" über Byzanz auszudehnen, Gebrauch gemacht; er hat auch mit diplomatischen Mitteln keine den Byzantinern überlegene „Weltgeltung" für sich beansprucht, sondern die byzantinischen Kaiser als fratres angeredet 109 ). Für die Gestaltung des Geschichtsbildes des 9. Jahrhunderts auf der fränkischen Seite ist es daher von Bedeutung gewesen, daß die besten fränkischen Quellen zur Kaiserkrönung, wohl einer höfischen Sprachregelung folgend, ihre Darstellung der Ereignisse trotz sonstiger Unterschiede übereinstimmend dahingehend stilisierten, daß Karl damals das no m e η imperatoris, nicht die potestas, verliehen wurde 110 ). Die spezielle Formulierung der Annales Laureshamenses, in der Tatsachenschilderung und spätere Reflexion des Annalisten sich fast unauflöslich miteinander verschmolzen haben, übernahm zwar den Standpunkt des e i n e n Kaisertums, beruhigte secoli I X e X, Atti del 3° Congr. internaz. di studi sull'alto medioevo (1959), S. 159; skeptisch P. C l a s s e n , Karl d. Gr., das Papsttum und Byzanz, in: Karl d. Gr. 1, hg. von W. Braunfels u. H . Beumann (1965; ergänzter Sonderdruck 1968) S. 567, und H . B e u m a n n , in: ders., Karolus Magnus et Leo papa (1966) S. 35 f.; eine vermittelnde Lösung deutete ich an in G e b h a r d t - G r u n d m a n n , Handbuch der deutschen Geschichte l 9 (1970) S. 181 f.] m ) Ο h n s o r g e , a . a . O . S . 2 2 f . ; ZSRG. Germ. Abt. 68, S. 85, gegenüber dessen Ausführungen über das Projekt einer Ehe Irenes mit Karl auf O s t r o g o r s k y , Geschichte des byzantinischen Staates S. 128 Anm. 2, und S c h r a m m , H Z . 172, S. 503, zu verweisen bleibt. , ) Was H . B e u m a n n , Das imperiale Königtum im 10. Jh., Die Welt als Geschichte 10 (1950) S. 121, und: Romkaiser und fränkisches Reichsvolk, Festsdir. f. Ε. E. S t e n g e l (1952) S. 169 f., zu Einhards Vita Karoli c. 28 sagt, scheitert daran, daß magnanimitas nach ihrer Herkunft aus der frühgriechischen Adelsethik (vgl. W. J a e g e r , Paideia 1 [1934] S. 34 ff., Der Großgesinnte, Die Antike 7 [1931] S. 97 ff.; U. Κ η ο c h e , Magnitudo animi, Philologus Suppl. 27, 3, 1935) und ihrem Wiedererwachen in der karolingischen Adelswelt ( L ö w e , Rhein. Vjbll. 17 [1952] S. 155 A. 20; jetzt unten S. 154) nicht Großmut bedeutet, die um des Friedens willen verzichtet, sondern den hohen Mut, der sich die ihm zukommende Ehrenstellung erringt, hier die „brüderliche" Gleichstellung Karls mit dem Ostkaiser. Wenn die von B. d e M o n t e s q u i o u - F e z e n s a c , L'arc de triomphe d'Einhardus, Cahiers archeologiques, publ. par A. G r a b a r , 4 (1949), 79—103, veröffentlichte Federzeichnung eines von Einhard errichteten Triumphbogens auf echte Grundlagen zurückgeht (Zweifel äußert S c h r a m m , HZ. 172, S. 495 Anm. 2), so würde sie die paritätische Auffassung des Doppelkaisertums bei Einhard bestätigen, da sie im Torbogen einen byzantinischen und einen karolingischen Kaiser als Pendant gegenüberstellt. ,10 ) Ann. regni Francorum, SS. rer. Germ. (1895) S. 112; Ann. Laureshamenses, SS. 1, S. 38; Einhard, V. Karoli c. 16, 28 SS. rer. Germ. (1911) S. 20, 32; dazu C a s p a r , Zs. f. KiG. 54, S. 259. Daß das nomen wirklich als Titel im Gegensatz zur potestas gemeint war, ergibt sich aus den 814/17 entstandenen Ann. qui dicuntur Einhardi, die die in den Reichsannalen zu 749 S. 8 berichtete Anfrage Pippins an den Papst betreffs der Könige im Frankenreich (non habentes renalem potestatem) als ein Gegensatzpaar umformten: qui nomen t an tum regis, sed null am potestatem regiam habuerunt (ebd. S. 9). Die Reichsannalen z. 817 S. 146 nannten Lothar als Mitkaiser Ludwigs: nominis atque imperii sui socium. Die V. Willehadi (vgl. oben Anm. 105) veränderte also den Sinn der Darstellung, wenn sie von der imperialis potestas sprach.
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aber andererseits die Byzantiner, denen sie nur das nomen imperatoris absprach, in dem Sinne, daß der Herrschaftsbereich des neuen Kaisertums auf das Abendland beschränkt bleiben würde m ) . Im übrigen aber kam mit dieser Formulierung vom nennen imperatoris die Tatsache zum Ausdruck, daß die „Anerkennung Karls als Kaiser", wie Schramm jetzt nachgewiesen hat, nur das Schlußstück einer langen Entwicklung bildete, indem sie der praktisch seit langem bestehenden Herrschaft Karls über Rom mit dem kaiserlichen Titel die endgültige Form gab und somit res und nomen in Übereinstimmung brachte 112 ). Eine solche formal-juristische Bewertung der Kaiserkrönung aber war den Franken möglich, weil sie die ganze Fülle universaler christlicher Herrschaft, die nach römisch-byzantinischer Auffassung Kennzeichen des Kaisertums war, grundsätzlich schon dem K ö n i g Karl zugesprochen hatten 11S ). Ein wirklicher Anspruch auf Herrschaft auch über die byzantinische Osthälfte der Christenheit war freilich in solchen Formulierungen nicht enthalten 114 ). VollEt quia iam tunc cessabat α parte Graecorum nomen imperatoris...; daß das nomen hier ganz präzis zu nehmen ist, ergibt sich aus dem Gegensatz zur potestas (also zur Regierungsgewalt, nicht zur bloßen potentia, zur Macht), in den es audi die Ann. Lauresh. anschließend stellen. Von den bisherigen abendländischen Anschauungen her (vgl. zum Ämtertraktat oben Anm. 56) war es nur konsequent, den Byzantinern nichts als das nomen imperatoris abzusprechen und das eigentliche byzantinische Gebiet vom Wechsel des nomen unberührt zu lassen; darin unterschied sidi die abendländische Auffassung von der der Byzantiner, die zunächst einen Angriff Karls befürchteten. Die im Text vorgetragene Ansicht wird auch gegen H . F i c h t e n a u , Karl d. Gr. und das Kaisertum, M I Ö G . 61 (1953) S. 259 ff., festzuhalten sein. Der Gegensatz zwischen der potestas, die Karl bereits besaß, und dem nomen, das hinzukam, ist gerade in den Annales Laureshamenses zu deutlich; wenn F i c h t e n a u darauf verweist, daß die Quellen in den Berichten über die machtlosen Merowinger Wendungen wie nomen . .. tantum, inutile . .. nomen, inane vocabulum gebrauchen, um mit dieser „Warnungstafel" „nicht den bedeutungsschweren Popularbegriff, sondern nur den bloßen Namen" zu bezeichnen, so übersieht er den Unterschied: Für die letzten Merowinger, die keine potestas besaßen, war das nomen natürlich inutile oder inane. Wenn Karl aber 800 zur potestas das nomen erhielt — und das zu betonen, hatten die Franken damals ihren Grund (s. oben) —, dann konnte es keinem Franken einfallen, das nomen, den Titel, als inutile zu bezeichnen; auch der Titel war nicht nutzlos; aber erst durch die Vereinigung mit der potestas wurde nomen zu dem „bedeutungsschweren Popularbegriff", verlieh der Titel Karl „kaiserliche Würde". [ — Die weitere Diskussion: H. B e u m a n n , Nomen imperatoris. Studie zur Kaiseridee Karls d. Gr., HZ. 185 (1958) S. 515—549; A. B o r s t , Kaisertum und Namentheorie im Jahre 800, Festschr. f. P. E. Schramm 1 (1964) S. 36—71.] 112 ) S c h r a m m , HZ. 172, S . 4 9 0 . m)
lls)
Vgl. bes. die diesbezüglichen Äußerungen Alchvines: L ö w e , Die karolingische Reichsgründung S. 137ff. [Zu der weitergehenden Auffassung von Ε. E. S t e n g e l , Imperator und Imperium bei den Angelsachsen, DA. 16 (1960) S. 40—54, vgl. meine Bemerkungen HZ. 191 (1960) S. 431 f.] 114 ) Gerade Alchvines Brief Nr. 174, Epp. 4, S. 288, von 799, der die moralische Überlegenheit von Karls K ö n i g t u m über Byzanz betont und Karl als rector populi christians bezeichnet, zieht eine deutliche staatsrechtliche Grenze zwischen Karls Reich und dem byzantinischen, wenn er dessen Kaiser gubernator imperii Uli us nennt, vgl. unten Anm. 123.
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ends unter L u d w i g d e m F r o m m e n w a n d t e sich dieser christliche U n i v e r s a l i s m u s der F r a n k e n gleichsam nach i n n e n u n d w u r d e z u m Reichseinheitsgedanken, der sich innerhalb des abendländischen I m p e r i u m s v e r w i r k l i c h e n w o l l t e u n d das i n z w i s c h e n vertraglich f e s t g e l e g t e N e b e n e i n a n d e r der beiden I m p e r i e n nicht in Frage stellte, w e n n m a n — selten g e n u g — d e n Blick aus d e n t h e o r e tischen B e m ü h u n g e n u m die Einheit der ecclesia auf die politische Wirklichkeit r i c h t e t e 1 1 5 ) . W e n n schließlich P o e t e n 1 1 6 ) u n d H i s t o r i k e r der karolingischen Z e i t m ) — v o r u n d nach 8 0 0 — die H e r r s c h a f t K a r l s in e i n e m A t e m auf d e n orbis u n d auf E u r o p a b e z o g e n sahen, d a n n äußerte sich innerhalb eines solchen grundsätzlichen U n i v e r s a l i s m u s das tatsächliche Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t s b e w u ß t sein u n d W e l t g e f ü h l des A b e n d l a n d e s , dessen V o r k ä m p f e r gegen den Islam, die F r a n k e n K a r l Martells, schon eine spanische Q u e l l e des 8. Jahrhunderts als „Europäer" bezeichnet h a t t e 1 1 8 ). W e n n A l c h v i n e seit 7 9 8 v o n der H e r r s c h a f t des K ö n i g s K a r l über das Imperium christianum sprach, so m e i n t e er d a m i t nicht das christliche Kaiserreich i m spätrömisch-byzantinischen Sinne, s o n d e r n das I m p e r i u m Christi i m 11δ
) R. F a u l h a b e r , Der Reidiseinheitsgedanke in der Literatur der Karolingerzeit bis zum Vertrag von Verdun (Eberings Hist. Stud. 204, 1931) S. 24 ff. und S. 41 zu Conc. 2, 2 Nr. 44 S. 473 ff., bes. S. 521.43, 523.24; 525.6: totius gentis seu imperii Francorum; 525.11: haec duo regna in toto orbe terrarum principalia. 11β ) Das Epos Karolus Magnus et Leo Papa, Poet. Lat. 1, S. 368 v. 92 f., 370 v. 169, 379 v. 504, 366 v. 12, 367 v. 28. Theodulf von Orleans über Ludwig den Frommen ebd. S. 531 Nr. 39 v. 5 f.: Sub tua iura deus dedit Europeia regna, totum orbem inclinet sub tua iura deus. Cathwulf an Karl 775, Epp. 4, S. 503: ipse (seil. Deus) te exaltavit in honorem glorie r e gni Ε u r ο ρ e ... tu es in vice illius super omnia membra etus custodire et regere... et dominaberis etiam multis feliciter gentibus. Deutlich wird hier, daß „Europa" im Sprachgebrauch dieser Zeit n i c h t Byzanz mit umfaßt (gegen Ε r d m a η η , Politische Ideenwelt S. 25). Ermoldus Nigellus, In Honorem Hludowici 2, 272; 3, 267, Poet. Lat. 2, S. 32, 48 spricht von Ludwigs Herrschaft über Europa, vom Ruhm im orbis 1, 32, 34 S. 6; Ad Pippinum 2, 181 S. 90: Hluduwicus Caesar in orbe. Vgl. E. R o s e n s t o c k , Die Furt der Franken und das Schisma, in: R o s e n s t o c k - W i t t i g , Das Alter der Kirche 1 (1927) S. 513—516; zur Auffassung des Begriffes Europa vgl. W a l l a c h , Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im MA. S. 51 f., dessen spätma. Feststellungen audi für die Frühzeit gelten; s. unten Anm. 118. Zur Gleichung Francia = Europa vgl. J. F i s c h e r , Oriens — Occidens — Europa. Begriff u. Gedanke „Europa" in der Spätantike u. im frühen MA (1957). E. R. C u r t i u s , Zs. f. roman. Philol. 68 (1952) S. 179—183, hat Belege für das Vorkommen eines panegyrischen Topos „alle Völker, Länder, Zeiten besingen den Ν. N." beigebracht. Von hier aus wird man gerade die Äußerungen über Karls Ruhm im orbis mit Zurückhaltung aufzunehmen haben; der konkretere — und nicht so durch den literarischen Formzwang vorbelastete — Hinweis auf „Europa" wiegt also schwerer. Daß „Europa" im Sprachgebrauch der Karolingerzeit das „Abendland" bedeutete, ergibt sich auch aus Ardo, Vita Benedicti, SS. 15, S. 211, der Ludwig den Frommen nennt: tocius aecclesiae Europa degentis imperator augustus. Die Einschränkung auf „Europa" wäre unnötig gewesen, wenn dieser Begriff Byzanz mit umfaßt hätte. " ' ) V. Willehadi c. 5 SS. 2, S.381; Notker, Gesta Karoli 1, 26 SS. 2, S. 742; Karl caput orbis; 1, 17 S. 738: cuncta pene Europa; 1, 1 S. 731: cum in occiduis mundi partibus solus regnare coepisset. ue ) Continuatio Hispana c. 105, 106, AA. 11, S. 362.
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Sinne Isidors, die Christenheit, das Corpus C h r i s t i 1 1 9 ) . M a n h a t sich a m H o f e K a r l s mit der alten Lehre v o n den vier Weltreichen beschäftigt; aber m a n konnte sie nur wie Isidor dahingehend deuten, d a ß das römische Weltreich durch das Imperium Christi v e r d r ä n g t worden sei und d a ß die gentes ein Stück nach dem anderen aus dem römischen Reich herausgebrochen hätten 1 2 0 ) . Auch Alchvine 1 2 1 ) h a t in seinem A p o k a l y p s e n - K o m m e n t a r das römische Reich als bereits untergegangen angesehen. D e m byzantinischen Reich seiner T a g e k a m nach seiner — wie nach älterer abendländischer und audi f r ä n k i s c h e r 1 2 2 ) — Auffassung nur ein territorial begrenzter Geltungsbereich zu 1 2 3 ) . D a n n aber "») Vgl. seinen Apokalypsen-Komm. 1, 11, M i g n e , PL 100, S. 1096 C: ...Christi regnum .. .id est ecclesia, ... diaboli... regnum, id est impii. 1 ! 0 ) Zu dem Liber de diversis quaestiunculis cum responsionibus suis, quem iussit domnus rex Carolus transscribere ex authentico Petri ardiidiaconi, M i g n e , PL. 96, S. 1347 ff., vgl. L ö w e , Rhein. Vjbll. 17 (1952) 169 Anm. 82; unten S. 169. Ebenso behandeln die Libri Carolini 2, 19 und 3, 15, Conc. 2 Suppl. S. 77, 135, das Reich der Römer als Sache der Vergangenheit. Zum Ap.-Komm. des Berengaudus vgl. unten Anm. 126. m ) Vgl. seinen Ap.-Komm., M i g n e , PL. 100, Praef. S. 1087 C, 1088 Α (Berufung auf Primasius und Ambrosius Autpertus, vgl. oben Anm. 44), 4, 7, 1 S. 1128 f. (vier Weltreiche als Teil des Corpus diaboli), 4, 7, 2 S. 1129 C (ihre Zerstörung durdi Christus bei seiner ersten Ankunft; daß diese gemeint ist, ergibt sich aus dem Satz: verbi praedicatione extremitatem regni Romanorum tetigit, und aus 4, 7, 1, wo betont wird, daß der Text der Ap. hier ad initium incarnationis Christi redit). In De fide sanctae trinitatis 3, 19 M i g n e , PL. 101, S. 51, zählt er wie Beda (s. oben Anm. 61) den Untergang des römischen Reiches nicht mehr zu den Vorzeichen des Weitendes. Ober seine eschatologisdien Erwartungen A d a m e k S. 65 f. 122 ) P f e i l , Romidee S. 68 f.; vgl. oben Anm. 56, 58. I!S) O h n s o r g e , ZSRG. Germ. Abt. 68, S. 106 Anm. 144, hat als erster auf diesen Gehalt der so oft zitierten Briefstelle (Epp. 4, S. 288) hingewiesen, vgl. oben Anm. 114. Vgl. auch die Verse Amalars über seine Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel (Poet. Lat. 1, S. 428 v. 45): quam legimus tenuisse caput regni omnis Eoi. 1 M ) Diese Sätze, die das genaue Gegenstück zum byzantinischen Weltreichsanspruch bilden, waren vielleicht mit hervorgerufen durch ein Zeugnis solcher byzantinischen Auffassung wohl syrischer Herkunft vom Ende des 7. Jhs. (E. S a c k u r , Sibyllinische Texte und Forschungen [1898] S. 45 ff., 53), das gerade im 8. Jh. in lateinischer Übersetzung im Abendland verbreitet wurde, die Apokalypse des Pseudo-Methodius, die den Hoftheologen Karls vielleicht bekannt war (A d a m e k S. 73). Dort (c. 13 S. 88 ff.) erschien der byzantinische Kaiser (rex Gregorum [!] sive Romanorum c. 13 S. 89, rex Romanorum c. 13, 14 S. 93 f.) als Endkaiser, der beim Erscheinen des Antichrist auf Golgatha das regnum christianorum Gottvater übergeben würde; das setzte die byzantinische Identifizierung des römischen und des christlichen Reiches voraus, die man im Abendland längst bestritten hatte. Die zugrundeliegende Bibelstelle (l.Kor. 15, 24) hat Alchvine im Johannes-Komm. 7, 18, 36, M i g n e , PL. 100, S. 976 C, ganz anders gedeutet: Quod est eius (seil. Christi) regnum, nisi credentes in eum, quos tradet regnum Deo patri in fine saeculi. Es ist danadi höchst unwahrscheinlich, daß Alchvine Karl als Endkaiser im Sinne des Methodius oder der tiburtinischen Sibylle (ed. S a c k u r S. 186) betrachtet habe. Alchvine hat sich jedenfalls damit begnügt, Karl als den Herrscher zu bezeichnen, der wirklich zu Schutz und Herrschaft des Imperium christianum berufen war. Ähnlich wie Alchvine reagierte auf Pseudo-Methodius (vgl. S a c k u r S. 93 Anm. 3) die von C. P. C a s ρ a r i , Briefe, Abhandlungen und Predigten aus den letzten 2 Jh. des kirchl. Altertums und dem Anfang des MA. (Univ. Progr. Christiania 1890) S. 208 ff., hg. Predigt; sie übernahm nur die Auffassung vom noch ausstehenden Ende des römischen Reiches als Vorzeichen für
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war es nidit Feststellung einer römisch-christlichen Kontinuität, sondern eines historischen Novums, wenn das Corpus Christi jetzt der Herrschaft Karls von Gott anvertraut sein sollte 1 2 4 ). Hier liegt der Grund, weshalb den übrigens durchaus unhistorisch argumentierenden Theoretikern des Reichseinheitsgedankens unter Ludwig dem Frommen die Berufung auf das christliche Römerreich so wenig bedeutete 1 2 5 ). So erklärt sich ferner, wie die bibel-exegetische Literatur der Franken die alten Endreichslehren weitergeben und doch den Untergang des römischen Reiches als eine gegebene Tatsache behandeln konnte 1 2 6 ). Kein Geringerer als Haimo von Auxerre machte sich klar, daß nach dem den Antichrist (c. 1, 2 S. 209 f.), was von den bisherigen abendländischen Auffassungen her durchaus möglich war, aber nicht die byzantinische Position der Identität des römischen und des christlichen Reiches. Es fehlt (c. 5 S. 213) die Schilderung des Ps.-Methodius, daß der rex Romanorum nach dem Einbruch der gentes der Welt noch einmal einen Friedenszustand erkämpft; nicht dieser übergibt wie bei Ps.-Methodius (S. 93 f.) das regnum christianorum an Gott, sondern es heißt ganz neutral c. 5 S. 213 f.: et iam regnum Romanorum tollitur de medio et Christianorum Imperium traditur Deo et patri; et tunc veniet consummatio, cum coeperit consummari Romanorum regnum et expleti fuerint omnes principatus et potestates. I26) F a u l h a b e r , Der Reichseinheitsgedanke S. 48. l2e
) Vgl. besonders den Ap.-Komm. des Berengaudus, M i g n e , PL. 17, S. 1000 f., c. 17 v. 12, 17; K a m i a h S. 15 Anm. 26, A d a m e k S. 72 f. Zu den sonstigen Kommentaren des 9. Jh. vgl. A d a m e k S. 68 f., S. 75 ff., zu dem folgendes zu ergänzen ist: Hrabanus Maurus, Enarr. ad. ep. I I ad Thess. c. 2, M i g n e , PL. 112, S. 571 f., spricht rein exegetisch unter wörtlicher Verwertung der Autoritäten, ohne Ausblick auf die Gegenwart; der Satz S. 572 A : Romanum Imperium, quod nunc universas gentes tenet, ist vom Standpunkt des Paulus her gesprochen. De universo c. 16, 3, M i g n e , PL. 111, S. 445 C, beruht auf Isidor (vgl. oben Anm. 50); Haimos Kommentare (K a m 1 a h S. 14 Anm. 24; vgl. oben Anm. 44) setzen den Untergang des römischen Reiches voraus, wie A d a m e k selbst zugibt; aber nirgends ist nachzuweisen, daß sie das fränkische Reich als das römische ansehen und den Abfall vom Römerreich in der Auflösung des karolingischen Reiches sich vollziehen sehen; dagegen spricht eindeutig die Exp. in Ap. 2, 6, M i g n e , PL. 117, S. 1028, wo das römische Weltreich zum corpus diaboli gerechnet wird, was unmöglich gewesen wäre, wenn man darunter das karolingisdie Reich verstanden hätte. A d a m e k S. 76 f. über die von Agnellus, Lib. pont. eccl. Ravennatis c. 166, SS. rer. Lang. S. 384 f., dem Erzbischof Gratiosus (ca. 785/6—788/9) in den Mund gelegte Weissagung bedarf der Präzisierung. Wenn es dort S. 385. 14 f. heißt: Et quod nunc est Romanorum Imperium desolabitur, et super augustalem solium reges sedebunt, so ist, da nach H. G r a u e r t , H J b . 19 (1898) S. 279 ff., die Prophetie in ihren Hauptzügen bereits bald nach dem Tode des Gratiosus entstanden ist, noch an das römisdibyzantinisdie Reich zu denken. Dagegen weist der Satz S. 385.29 f.: et peribit Romanorum Francorum Imperium, et sedebunt reges super augustalem solium auf eine Überarbeitung hin, die das karolingisdie Kaisertum voraussetzt; was aber Agnellus unter dem Romanorum Imperium verstand, verrät er c. 94 S. 338: . . . cum Karolus rex Francorum omnia subiugasset regna et Romanorum percepisset α Leone III. papa Imperium. Es ist das imperium Romanorum im eingeschränkten, im gentilen Sinn, das hier als Annex des fränkischen Reiches (vgl. unten Anm. 130) erscheint: Romanorum (oder nach Note e: Romanum) Francorum Imperium, nicht das noch fortdauernde römische Weltreich, sondern wie bei Paulus Albarus (s. unten Anm. 131) eines der zehn Nachfolgereiche, von denen man in der Apokalypsen- und Danielinterpretation sprach (vgl. die oben angeführte Stelle des Berengaudus).
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zweiten Thessalonicherbrief zwar der Untergang des römischen Reidies dem Erscheinen des Antichrist vorausgehen sollte, daß aber zwischen diesen beiden Ereignissen durchaus ein längerer Zwischenraum liegen könnte 1 2 7 ). Audi die Renaissance-Ideologie 1 2 8 ), Ausdruck der ewigen Sehnsucht des Menschen nach Uberwindung der Geschichte und ihrer Schläge, hat dieses Bild nicht ändern können. Wo sie sich aus der metaphysischen und geistigen in die politische Sphäre begab, da stand sie eindeutig unter dem Schatten der karolingischen Auffassung von nomen imperiale. Wenn Modoin von Autun 1 2 9 ) im Aachen Karls ein erneuertes Rom wiedererstehen sah, dann betonte er, daß man ja Rom den Ort nennen dürfe, an dem sich das Haupt der Welt, Karl, aufhalte. Ermoldus Nigellus 1 3 0 ) faßte das mit Worten, die er Karl selbst in den Mund legte, als einen Erwerb des romuleischen Namens für die Franken auf, also als einen Ausdruck für die Weltgeltung des fränkischen Reiches. Und ein spanischer Schriftsteller 1 3 1 ) sprach im Jahre 854 von dem fränkischen Reich, das unter dem Namen Roms geblüht habe; er rechnete es zu den Herrschaften der zehn Könige, die der Weissagung gemäß den Orbis Romanus unter sich aufteilen sollten. Es war im Grunde dasselbe, wenn Ermoldus Nigellus von der Eroberung des römischen Reiches durch Karl und die Franken sprach und dieses damit als ein Zubehör des fränkischen Reiches behandelte. Nur in einem solchen Sinne dürfte Karl die Devise Renovatio Romani imperii verstanden haben, die seine Kaiserbulle schmückte 1S2 ), die aber nidit mit völliger Sicher) ) 12> ) 130 )
In ep. II ad Thess. c. 2, Μ i g η e , PL. 117, S. 781; A d a m e k S. 76. F. Η e e r , Die Renaissance-Ideologie im frühen MA., MIÖG. 57 (1949) S. 23—81. Poet. Lat. 1, S. 385 v. 26 f., S. 386 v. 40. In honorem Hludowici 2, 67 f., Poet. Lat. 2, S. 26; hier sagt Karl: Caesareum primus Francorum nomen adeptus, Francis Romuleum nomen habere dedi; ebd. 79 f. zur Erhebung Ludwigs zum Mitkaiser: Francia plaude libens, plaudat simul aurea Roma, Imperium spectant cetera regna tuum; hier steht Roma nach der Francia, sie ist Annex des fränkischen Reiches. Vgl. audi Ad Pipinum regem 2, 159 f., S. 90, wo in der Reihe der Eroberungen der Karolinger audi die Karls ersdieinen: Romuleum Francis praestitit imperium. Ebenso im Gedicht auf Ludwig 1, 339 f., S. 15 von dem Frankenvolk: Romuleum sibi. . . subdidit Imperium. Was hier als Unterwerfung bezeichnet wurde, drückte man auf römischer Seite rücksichtsvoller aus: Romanorum Francorumque concorporavit imperium (Sergius III. über Karl d. Gr., Epp. 5, S. 583); römische Auffassung spiegelt wider das von Ermoldus a. a. O. 2, 430, S. 36, mitgeteilte Gebet Papst Stephans bei der Krönung von 816, das zu den eigenen Äußerungen des Ermoldus in fühlbarem Kontrast steht. Die eingeschränkte Auffassung des römischen Imperiums findet sich nidit nur bei Ermoldus und Sergius; vgl. oben Anm. 126. m ) Paulus Albarus, Indiculus luminosus c. 21, M i g n e , PL. 121, S. 535 D, 536 A, sagte vom Antichrist (d. h. dem Islam): tria regna perdomuit, dum Graecorum, Francorum, quae sub nomine Romanorum vigeb an t, provincias occupavit, et Gothorum occidentalium cola victrici planta calcavit. Die alte Isidorisdie Auffassung vom Corpus Christi lebte hier fort, wenn b e i d e neuen Universalmädite als regna mit dem Westgotenreidi auf eine Ebene gestellt wurden; der Weg von Isidor zum spanischen Kaisertum des hohen MA. wird hier deutlich. Vgl. Carm. 9, Poet. Lat. 3, S. 133. 132 ) S c h r a m m , Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit 1, S. 31 ff., 168; ders., Die zeitgenössischen Bildnisse Karls d. Gr., Beitr. z. Kult. Gesch. d. MA. u. d. Ren.,
127
128
Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen
63
heit als Ausdruck s e i n e r Gedankenwelt angesehen werden darf. Der Erwerb der Kaiserwürde und der Herrschaft über Rom als Gipfel der Ausdehnungspolitik Karls war ein geläufiger Gesichtspunkt zeitgeschichtlicher Betrachtung 133 ); in diesen Ereignissen gipfelte aber nicht nur die fränkische Geschichte, sondern auch die des Zeitraumes, den man als die discessio der gentes vom römischen Reich als eine von göttlichem Willen geleitete Entwicklung seit langem zu sehen gewöhnt war 134 ). Den Römern, die in ihren Mauern endlich wieder einen Kaiser erhoben hatten, lag das Wort von der Renovatio Romani imperii besonders nahe, und Karl mochte es aufnehmen, wenn er an Aachen als das zweite Rom dachte. Überdies aber lag in dieser Renaissance-Vorstellung mehr ein in die Zukunft weisendes Ideal als die Feststellung eines geschichtlichen Tatbestandes. Das Geschiciitsverständnis von Völkern aber, die jahrhundertelang als Träger der discessio in der Idee der grundsätzlichen Ablösung der römischen Weltorganisation durch das Imperium Christi gelebt hatten, konnte nicht so ohne weiteres in die Bahn der Renovatio einschwenken. Karls Kaisertitel, wie man ihn audi interpretieren mag 135 ), zeigt das Bemühen, der gentilen Gedankenwelt noch in der neuen Situation Rechnung zu tragen. Er vermied die Formulierung imperator Romanorum, die in der Vorstellungswelt dieser Zeit die Römer zum herrschenden Reichsvolk gemacht hätte; wenn er mit dem römischen Element des Romanum gubernans Imperium den fränkischen und langobardischen Königstitel verband, dann legte sich nach den gentilen und den eschatologischen Kategorien die Deutung nahe, daß nunmehr der König der gentes die universale römische Kaiserwürde und die Herrschaft über Rom selbst errungen und damit die discessio vollendet habe. So scheint schon unter dem Eindruck von Karls Einzug in das „goldene und kaiserliche R o m " (774) der Angelsachse Cathwulf daran gedacht zu haben, daß nunmehr Roms Herrschaft nach der alten Deutung des Thessalonicherbriefes endgültig beseitigt sei und daß die Tage (des Antichrist) nahe seien. Seit Karls Kaiserkrönung war freilich eine andere zeitgeschichtliche Deutung des Thessalonicherbriefes denkbar; ausgesprochen scheint man sie freilich erst im 10. Jahrhundert zu haben, als Adso feststellte, das römische Reich sei zwar zum größten Teil zerstört; solange es aber Könige der Franken gäbe, „die das römische Reich halten sollen", könne dessen Würde nicht gänzlich untergehen, sei der Abfall aller hg. v. W. Goetz, 29 (1928) S. 26 ff. Der Hinweis von H. F i c h t e η a u , Das karolingisdie Imperium (1949) S. 75, daß diese Bulleninschrift aus römischer, nicht aus fränkischer Gedankenwelt hervorging, verdient Beachtung. m ) Vgl. Ermoldus Nigellus (oben Anm. 130); Agnellus (oben Anm. 126); Hist. Langobardorum Cod. Goth. c. 9, SS. rer. Lang. S. 10; Florus von Lyon, Carm. 28, 61 ff., Poet. Lat. 2, S. 561, über das fränkische Volk: Huic etenim cessit etiam gens Romula genti, regnorumque simul mater Roma inclyta cessit. 1M ) Vgl. Paulus Albarus (oben Anm. 131), Berengaudus (oben Anm. 126), zu Isidor vgl. bei Anm. 52, zu dem Gedanken vom auserwählten Volk vgl. oben bei Anm. 68 ff. I35 ) L ö w e , Karolingische Reichsgründung S. 161 f.; E r d m a n n , Politische Ideenwelt, S. 26; Β e u m a η η , Welt als Geschichte 10, S. 122 f.; P. C1 a s s e η , Romanum gubernans imperium, DA. 9 (1951) S. 120.
Von Theoderidh dem Großen zu Karl dem Großen
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V ö l k e r noch nicht v o l l z o g e n u n d d a h e r der Antichrist nicht zu e r w a r t e n . L e b t e A d s o in einem J a h r h u n d e r t ,
das w i e d e r zu einer sehr viel s t ä r k e r e n
Ver-
k n ü p f u n g des fränkisch-deutschen m i t d e m römischen Reich k a m , so ist das Geschichtsdenken der F r a n k e n der karolingischen E p o c h e noch nicht d a h i n gef ü h r t w o r d e n , das fränkische Reich der A b f o l g e der v i e r Weltreiche anders einz u o r d n e n als i n n e r h a l b des S t a d i u m s der discessio
136
) . Frechulf v o n Lisieux
k o n n t e so im Zeichen gentilen D e n k e n s u n d der karolingischen These
vom
nomen
zum
imperiale
den Schlußpunkt seiner W e l t c h r o n i k d o r t setzen, w o
ersten M a l e die die G e g e n w a r t beherrschenden M ä c h t e a u f t r a t e n : er Schloß m i t d e r V e r t r e i b u n g d e r W e s t g o t e n u n d R ö m e r aus Gallien u n d Italien Franken und Langobarden und der —
angeblichen —
durch
Proklamierung
des
P a p s t t u m s als das H a u p t aller K i r c h e n durch K a i s e r P h o k a s . K e i n e der großen Weltchroniken Romani
des
9. Jahrhunderts
hat
sich
des
Begriffes
der
Renovatio
b e d i e n t 1 3 7 ) . E s ist w o h l nicht n u r ein Z u f a l l , d a ß es m i t t e l -
) Cathwulf: Epp. 4, S. 502, 505; A d a m e k S. 71 f.; Adso ed. S a c k u r S. 110. Frechulf, Chron. 2, 5, 26—27, Μ i g η e , PL. 106, S. 1257 f. Vgl. 2, 5, 17 S. 1249, wo er zu 476 sehr viel grundsätzlicher als Jordanis, Getica 243, AA. 5, S. 120, sagt: Hinc iam respublica Romanorum partibus Hesperiarum, quae hactenus gentibus imperaverat, regibus gentium gemens succubuit. Audi er sagt (vgl. oben Anm. 92—94) 2, 5, 15 S. 1246 von Aetius: cum quo Hesperiarum cecidit regnum; mit dieser Unterscheidung von westl. Reich und respublica Romanorum legt sich die Vermutung nahe, daß audi Frediulf das Romanum Imperium Karls im eingeschränkten Sinne der päpstlichen respublica dachte. Wichtig auch 2, 5, 22 S. 1255 A, die Parallelisierung von westgotischem und römischem Reidi. A d a m e k S. 70, der aus dem Satz 2, 3, 16, S. 1193 B, daß mit Konstantin die Reihe der christlichen Kaiser usque in hodiernum diem begonnen habe, ein Argument für die Fortdauer des römischen Reidisbewußtseins bei Frediulf ziehen wollte, hat übersehen, daß dieser Satz in einem l ä n g e r e n Orosius-Zitat steht und für Frediulf daher nicht viel bedeutet. Ober das Verhältnis des karolingischen zum byzantinischen Kaisertum aber sagt er gar nichts. Von einer Translationsidee bei Frediulf ist daher nicht zu reden. [Vgl. jetzt W. G ο e ζ , Zur Weltchronik des Bischofs Frediulf von Lisieux, Festg. f. P. Kirn (1961) S. 93—110; zu den Weltchroniken des 9. Jhs. allgemein A.-D. v. d e n B r i n k k e n , Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Diss. Münster 1957, bes. S. 120 ff.] ) W. K r e m e r s , Ado von Vienne, Diss. Bonn 1911, S. 92, hat daraus, daß Ado (nach Beda) die Regierungsjahre der byzantinischen Kaiser angab, geschlossen, daß „der Gedanke der Reidiseinheit durchaus festgehalten" sei. Das ist nach der Einschränkung, die die Bedeutung dieser Kaiser-Chronologie oben zu Isidor und zu Beda gefunden hat, so nicht aufrechtzuerhalten. Ferner tritt Karl bei Ado, Μ i g η e , PL. 123, S. 133 B, D, 130 D (SS. 2, S. 320), nicht an die Stelle der byzantinischen Kaiser, sondern neben sie (imperator Francorum und imperator Constantinopolitanus). Nur innerhalb der Wiedergabe der Reidisannalen bei der Akklamation 800 (S. 130 B) wiederholt er den dort genannten Titel imperator Romanorum. Wenn er dann Karl als imperator primus ex gente Francorum einführt, dann datiert er nicht etwa im Sinne der von Κ r e m e r s postulierten Reichseinheit nach Kaiser-, sondern nach Königsjahren Karls. Wenn sich Ado bei diesem Nebeneinander etwas gedacht haben sollte, so könnte die Fortsetzung der Chronik (vgl. K r e m e r s S. 78; P e r t z , SS. 2, S. 324) darüber vielleicht Aufsdiluß geben, wenn sie als die 843 Lothar zugefallenen Reichsteile bezeichnet: regnum Romanorum et totam Italiam, et partem Franciae orientalem totamque Provinciam. Diese besondere Nennung des regnum Romanorum würde auch für die Einschränkung des imperator
13e
m
imperii
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alterliche Schriftsteller — und zwar einen schon im 9. Jahrhundert — gegeben hat 1 3 8 ), die vom Kaisertum Karls nichts wußten. Wie die historiographische Durchführung der politischen These vom nomert imperiale nach der positiven Seite hin erscheint ein Geschichtswerk, das um 805 unter höfischem Einfluß im Frankenreich entstanden ist 1 3 9 ). Der Verfasser schilderte den Aufstieg des karolingischen Reiches seit dem Mittleren Pippin, und er trug keine Bedenken, die Weltstellung der Gegenwart schon in diese Zeit des Anfanges zurückzuverlegen. Er kennzeichnete den H o f Pippins als weltpolitischen Mittelpunkt, wenn er berichtete, daß dort die Gesandten der umwohnenden gentes, der Griechen, Römer, Langobarden, Hunnen, Slaven und Sarazenen zusammengeströmt seien 140 ). Der gebildete Leser, der noch von Rom als der einstigen domina gentium wußte 141 ), spürte die weltgeschichtliche Wende, die darin lag, daß jetzt Griechen und Römer zusammen mit den übrigen gentes erschienen, um Pippins Freundschaft zu gewinnen 142 ). Wer so vom fränkischen Hof sprach, setzte das Ende Roms als eines politischen Mittelpunktes bereits voraus und gab damit das positive fränkische Gegenbild zu den eschatologischen Vorstellungen vom Abfall der Völker von Rom. Mehrmals aber betonte der Verfasser bei der Schilderung wichtiger Entscheidungen und Schlachten, daß der Sieg und Aufstieg der Karolinger durch Gottesurteil bekräftigt worden sei 1 4 3 ). Wenn dann Pippins Aufstieg zur Alleinherrschaft mit Worten geschildert wurde, die das Konversations-Lexikon dieser Tage,
138
)
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"») )
,41
142 143
) )
Romanorum auf Rom und den Kirchenstaat sprechen. Von Translationsgedanken könnte man bei Ado nur sprechen, wenn man ein Romkaisertum im engeren Sinn (vgl. oben Anm. 130) meint. Der Gedanke an die vier Weltreiche hingegen hat Ado im Hinblick auf die Gegenwart nicht bewegt, ein Einschub in die von ihm benutzte Chronik Bedas über Daniel (S. 50 C, D, dazu K r e m e r s S. 85 Anm. 21) erwähnt die Weltreichsprophetie überhaupt nidit. Vgl. R. B u c h n e r , Mannus 29 (1937) S. 474. Andreas von Bergamo, Historia c. 5, SS. rer. Lang. S. 225.2 f.; dazu Ε. Ρ e r e i s , Zum Kaisertum Karls d. Gr. in ma. Geschichtsquellen, SB. Berlin (1931) S. 363 ff. Ann. Mett. Priores, ed. B. v. S i m s o n (1905); [vgl. jetzt H . H o f f m a n n , Untersuchungen zur karolingischen Annalistik (1958); I. H a s e l b a c h , Aufstieg und Herrschaft der Karolinger in der Darstellung der sogen. Ann. Mett. Priores (1970).] A. 692 S. 15.4 ff.; vgl. S. 15.10, 15.15, 17.22, 30.21. W. G e r n e n t z , Laudes Romae, Diss. Rostock 1918, S. 126 Anm. 1. Vgl. die z . T . wörtlich anklingende Rom-Exegese Haimos [von Auxerre] in der Exp. in ep. II. ad Thess. c. 2, Μ i g η e , PL. 117, S. 781 B, wo das tantum ut qui tenet nunc, teneat, donec de medio fiat erklärt wird: Id est hoc solummodo restat, ut Nero, qui nunc tenet Imperium totius Orbis, tandiu teneat illud donec de medio mundi tollatur potestas Romanorum. In Nerone comprehendit omnes imperatores Romanos qui post ilium sceptra tenuerunt. Ideo dicit: Donec de medio tollatur, quia undique ex omnibus geniib u s confluebant Romam, et quasi in medio mundi erat, habens in circuitu s uo omnes gentes; dieser Kommentar, der kurz darauf (S. 781 C) betont, daß der Zerstörung des Römerreiches die Ankunft des Antichrist nicht statim folgen würde, legt also Wert auf das Ende Roms als politischen Mittelpunktes. Die Ann. Mett. prior, zeigen, wie sich von hier aus die Anschauung Notkers (s. unten bei Anm. 184) vorbereitet. Ähnlich audi Florus, Querela de divisione imperii ν. 59 ff. Poet. Lat. 2, S. 561. Zu 690 S. 8, 717 S. 24, 743 S. 35.
66
Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen
Isidors Etymologien 144), für Caesar gebraucht hatte, wenn schon für Pippins Zeit vom Imperium Francorum gesprochen wurde 145), dann erhielt damit das fränkische Reich eine imperiale Tradition, die weit über das Jahr 800 in die Vergangenheit zurückreichte und die Kaiserkrönung wirklich nur noch als bloße Titelverleihung erscheinen ließ. Wenn aber der Verfasser diesen Pippin als Verfechter kirchlicher Idealforderungen hinstellte 146), die erst seit Bonifatius sich wieder stärkeres Gehör hatten verschaffen können, wenn ferner die Politik Pippins als die moralische und materielle Wiederherstellung des durch die Unfähigkeit merowingischer Könige heruntergekommenen Frankenreiches 147) gekennzeichnet wurde, dann erhielt der Romvergleich, der unausgesprochen hinter dem ganzen Werk stand, eine letzte Steigerung: die Renovatio-Idee wurde auf das Frankenreich übertragen, das für die Verfechter des Reichseinheitsgedankens den Raum darstellte, innerhalb dessen sie die Einheit des Corpus Christi zu verwirklichen suchten 148), und das zum Träger all der religiösen Ideale geworden war, auf die sich die Erneuerung beziehen sollte. Hier liegen die geistigen Grundlagen für die Bulleninschrift Ludwigs des Frommen: Renovatio regni Francorum 149). Sie hat in dem Geschichtswerk von 805 die historiographische Begründung schon vorgefunden, die der Renovatio Romani imperii versagt blieb. Karl selbst hat seine Weltstellung in noch weitere Zusammenhänge eingeordnet. Über Pippin blickte er zurück auf Theoderich. Diese Wendung zu Theoderich aber vollzog er unmittelbar nach der Kaiserkrönung. Bei der Rückkehr aus Rom hat er im Jahre 801 in Ravenna die Uberführung der Theoderich-Statue nach Aachen angeordnet 150 ). Agnellus, der dies berichtet, spricht 144
) Zu 691 S. 1 2 . 2 0 : Pippinus singularem Francorum obtinuit principatum; vgl. Isidor, Etym. 9, 3, 12, oben Anm. 54. ) S. 4. 24, 5. 14 f., 13. 14, 15. 14, 16. 4. 14e ) Zu 690 S. 8. 13 ff. (Kirchengut); 688 S. 3 (Persönlichkeitsschilderung Pippins anknüpfend an die vier antiken Kardinaltugenden); 690 S. 12 (Asylrecht der Kirchen); 691 S. 12. 147 ) Zu 691 S. 13. 1—3; 688 S. 4. 20 ff. 148 ) F a u l h a b e r , Der Reidiseinheitsgedanke S. 42 ff. 149 ) S c h r a m m , Die deutschen Kaiser u. Könige in Bildern ihrer Zeit S. 42, 169 f., Abb. 13 a, b; HZ. 172, S. 507, dessen Deutung der Bullenumschrift als politische Verlegenheitslösung mit der im Text vorgetragenen Auffassung durchaus vereinbar ist; zu B e u m a n n , Die Welt als Geschichte 10, S. 125, vgl. W. H o l t z m a n n , D A . 8 (1951) S. 612 f. Man wird es nicht als Widersinn betrachten müssen, wenn von der Erneuerung des Frankenreiches gesprochen wurde; es war in einem allgemeinen, religiöskirchlichen Sinne gemeint: so sagte Ermoldus Nigellus, In Honorem Hludowici 2, 488 S. 38, zum Jahre 817 von Ludwig: regna novare cupit. ,50 ) Agnellus, Lib. pont. eccl. Ravennatis c. 94, SS. rer. Lang. S. 338. 17 ff.; Walahfrid Strabo, De imagine Tetrici, Poet. Lat. 2, S. 370 ff.; daß es sich wirklich um eine Theoderich-Statue handelte (und eine solche wäre es audi dann, wenn Theoderidi selbst, wie Agnellus berichtet, eine pro amore Zenonis imperatoris hergestellte Statue suo nomine decoravit), ist nach A. D ä η 1 1 , Zs. d. Aachener Gesch.Ver. 52 (1930) S. 32 f., nidit zu bezweifeln. Wenn die von Agnellus erwähnte Tradition zuverlässig sein sollte, hätte man sich den Sachverhalt so vorzustellen, daß eine (vielleicht nicht vollendete) Statue des 491 verstorbenen Zeno zu einer Theoderich-Statue umgearbeitet und mit seinem Namen 145
Von Theoderidi dem Großen zu Karl dem Großen
67
z w a r n u r v o n d e m ästhetischen Interesse K a r l s a n d e r S t a t u e ; a b e r w i e d a r f m a n a n n e h m e n , d a ß ein s p ä t e r u n d in e i n e m v o n d e m K a r l s so verschiedenen geistigen K l i m a l e b e n d e r Schriftsteller noch ein W i s s e n u m K a r l s persönlichste G e d a n k e n besessen h a b e ?
I m m e r h i n w a r die R a v e n n a t e r
Theoderich-Statue
nicht das einzige f ü r einen A b t r a n s p o r t in F r a g e k o m m e n d e R e i t e r s t a n d b i l d — , w e n n es eben n u r a u f eine beliebige R e i t e r s t a t u e
angekommen
Z e i t p u n k t des T r a n s p o r t e s d e r S t a t u e m u ß schließlich u m so
wäre.
Der
nachdenklicher
s t i m m e n , als die E n t n a h m e v o n S ä u l e n u n d W e r k s t ü c k e n aus R a v e n n a bereits sehr viel f r ü h e r eingesetzt h a t t e esse f ü r die barbara
et antiquissima
gleichfalls post susceptum rator
orthodoxus
ecclesiae,
Karolus,
imperiale
) u n d als a n d e r e r s e i t s E i n h a r d K a r l s I n t e r carmina nomen
— und damit für Theoderich einreihte
152
) . W e n n aber der
d e m es so ernst w a r m i t d e r A u f g a b e d e r
—
impedefensio
sich in B e z i e h u n g s e t z t e z u e i n e m A r i a n e r , den die kirchliche L e g e n -
denbildung gung —
151
—
wie
er
allerdings
ahnen
mochte,
z u m blutrünstigen Katholikenverfolger
ohne
historische
gestempelt hatte
m u ß t e ihn ein s c h w e r w i e g e n d e r G r u n d , das W i s s e n u m eine
Berechti15S
),
dann
Gemeinsamkeit
m i t T h e o d e r i d i , d a z u b e s t i m m e n . D e r Geschichtschreiber v o m J a h r e 8 0 5 d a s F r a n k e n r e i c h als w e l t p o l i t i s c h e n M i t t e l p u n k t a n die Stelle R o m s
hat
gesetzt
u n d d a m i t als die V o l l e n d u n g d e r E n t w i c k l u n g b e t r a c h t e t , die m a n in d e n a n d e r D e u t u n g des Thessalonicherbriefes
e n t w i c k e l t e n K a t e g o r i e n als die
dis-
beschriftet worden wäre. Diese Aufschrift aber war das Entscheidende. Daher galt die Statue sowohl Walahfrid (schon 829) als Agnellus selbstverständlich als eine des Theoderich; dies gegen H. F i c h t e n a u , MIÖG. 59 (1951) S. 52 f. [Vgl. jetzt H. H o f f m a n n , Die Aachener Theoderichstatue, in: Das erste Jahrtausend, Textbd. 1, Red. V. H. Elbern (1963) S. 318—335.] l 5 1 ) Vgl. den Brief Hadrians, Cod. Carolinus 81, Epp. 3, S. 614; auch war Karl wohl schon 787 in Ravenna, vgl. Agnellus, c. 165 S. 384; BM. 2 279 a; F i c h t e n a u S. 49 f., 52. J52) Vita Karoli c. 29 S. 33. Es ist vielleicht auch nicht ganz unwichtig, daß Karl einen nach dem Tode seiner Gemahlin Liutgard (800!) geborenen illegitimen Sohn Theoderich nannte (Einhard c. 18 S. 23). Wenn neuerdings N. L u k m a n n , Der historische Wolfdietrich (Theoderich der Große), Classica et Mediaevalia 3 (1940) S. 253 ff., 4 (1941) S. 1 ff., nachgewiesen hat, daß die Wolfdietrichsage die Taten Theoderichs auf dem Balkan behandelt, daß hinter H u g dietrich Theoderichs zeitweiliger Widerpart Theoderich Strabo steckt, dann ist es immerhin merkwürdig, daß ein anderer illegitimer Sohn Karls den Namen Hugo trug (später Abt von St. Quentin und St. Bertin). Dieser Sagenkomplex scheint also Karl beeindruckt zu haben; trifft dies zu, so gewänne Η a u c k s These der „Ansippung" Theoderichs durch Karl (s. unten Anm. 175) eine zusätzliche Bestätigung. 153 ) G. S c h n e e g e , Theoderich der Große in der kirchlichen Tradition des MA. und in der deutschen Heldensage, Dt. Zs. f. Geschichtswissenschaft 11 (1894) S. 18 ff.; F. v. Β e ζ ο 1 d , HV. 23 (1926) S. 433 ff. Wieweit es angesichts des oben im Text Gesagten berechtigt ist, wenn H. F i c h t e n a u , II concetto imperiale di Carlo Magno, Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo 1, Spoleto 1954, S. 18, unsere Ansicht dahingehend zusammenfaßt, Theoderich sei für Karl „il prototipo di questo concetto germanico e anticattolico del governo" gewesen, darf der Urteilsbildung des Lesers überlassen bleiben. Ihm überlasse ich auch festzustellen, wo in dieser Arbeit, der es um „das Werden des Abendlandes im G e s c h i c h t s b i l d des frühen Mittelalters" ging, von Karls „programma pangermanico" gesprochen wird und ob auf sie das „vedere nel ,germanesimo' il leitmotiv di tutta la politica franca" ( F i c h t e n a u s . 19) zutrifft.
68
Von Theoderidi dem Großen zu Karl dem Großen
cessio der gentes vom römischen Reich zu sehen gelernt hatte. Der Kaisertitel, in dem Karl solcher auch sonst noch anzutreffenden Auffassung der Dinge 154) Ausdruck verliehen hatte, indem er die gentilen Königstitel neben der römischen Bezeichnung beibehielt, war in Rom noch nicht formuliert, sondern taucht erst unmittelbar nach Karls Besuch in Ravenna auf 155). Es ist gar nicht zu verkennen, daß zwischen der Gedankenarbeit, die zu der Formulierung dieses Titels führte, und der Beschäftigung Karls mit der Theoderich-Statue ein innerer Zusammenhang besteht. Der Mann, der als Herrscher der gentes, die nunmehr die wichtigsten Provinzen des einstigen Römerreiches beherrschten, die Herrschaft über Rom und die höchste Würde errungen hatte, sah auf Theoderich zurück als auf einen der reges gentium, denen bereits seit 476 auf einige Zeit die Herrschaft über Rom zugefallen war 15e ). Eine solche Betrachtungsweise aber war möglich, weil Karl und seine Zeit — anders als die Althistoriker unserer Tage — Theoderich nicht innerhalb des römischen Reiches und als Beauftragten des Kaisers, sondern als selbständigen Herrscher sahen. Der Wandel des historischen Weltbildes, der in den vergangenen Jahrhunderten eingetreten war, hatte das Bild Theoderichs nicht unberührt gelassen. Schon die zeitgenössischen byzantinischen Quellen, die Gotengeschichte Prokops 157) und die lateinische Chronik des Marcellinus Comes 158) hatten die tatsächliche Selbständigkeit des Ostgotenkönigs in den Vordergrund gestellt und damit bekundet, daß diese, die als Tyrannis, als Usurpation, empfunden wurde, auf die öffentliche Meinung in Byzanz wohl mehr wirkte als die staatsrechtlichen Konstruktionen, mit denen die Machtstellung Theoderichs auf die kaiserliche Ermächtigung zurückgeführt wurde. Daß überhaupt ein Germane als Vertreter kaiserlicher Gewalt im Westen herrschen durfte, wird man in Byzanz um so schärfer empfunden haben, als man im eigenen Hause die Macht der germanischen Heermeister längst gebrochen hatte. Daher lebte bei späteren byzantinischen Geschichtschreibern das Bild Theoderichs, sofern man überhaupt von ihm sprach, als das eines selbständigen Herrschers über Rom und den Westen fort. So sah ihn am Beginn des 9. Jahrhunderts Theophanes 159 ), und noch im 12. Jahrhundert stellte, an Prokop anknüpfend, Johannes Kinnamos 160 ) Odowakar, Theoderich und das abendländische Kaisertum in eine Linie, die von Byzanz her nur als die der Rebellion gegen die legitime Reichsgewalt aufgefaßt werden konnte. Es mag durchaus sein, daß Karl byzantinische Auffassungen dieser Art kennengelernt hat. 1M
) ) 159 ) 157 )
S. oben Anm. 135, Anm. 141. C l a s s e n , DA. 9, S. 118. Vgl. die oben Anm. 136 zitierte Stelle aus Frediulf 2, 5, 17. De bello Gothico 1, 1, 29, ed. J. H a u r y 2 (1905) S. 9; zu Odowakar ebd. 2, 6, 23 S. 177. 158 ) S. oben Anm. 94. 159 ) Chronographia, ed. C. de Β ο ο r 1 (1883) S. 131. 14 ff. »«») Kinnamos 5, 7, ed. Α. Μ e i η e k e (1836) S. 218 f.; vgl. D ö l g e r , Zs. f. KiG. 56, S. 30 Anm. 51. 15S
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Aber auch die abendländische Geschichtschreibung, auf die die Chronik des Marcellinus Comes nicht ohne Wirkung geblieben w a r 1 6 1 ) , bot auf weite Strecken hin das gleiche Bild. Aus dem Liber pontificalis, der an Karls H o f bekannt war 1 β 2 ), bot sich ein Hinweis auf die Unterstellung Theoderichs unter den byzantinischen Kaiser ebensowenig wie aus den literarischen Werken des 6. Jahrhunderts 1 6 s ), in denen italienische Verfasser Theoderich wie einen angestammten Herrscher priesen, ohne dabei des Kaisers überhaupt zu gedenken. Für Gregor von Tours 1 6 4 ) endlich war der Ostgotenkönig schlicht der König Italiens, ohne daß er sich über die staatsrechtlichen Hintergründe dieses Königtums viele Gedanken gemacht hätte, und auch sein Zeitgenosse Marius von Avenches 1 6 5 ) faßte ebenso wie der letzte Vertreter spätrömischer Annalistik im Italien des 7. Jahrhunderts 1 6 6 ) die Beseitigung des Ostgotenreiches als eine Wiedergewinnung verlorenen Reichsgebietes auf. Deutlich hat dann die Sagenbildung zu der Lösung des Königs aus dem römischen Rahmen beigetragen. Dieser Hergang wird sichtbar in den Gesta Theoderici, die in der sogenannten Chronik Fredegars aus dem 7. Jahrhundert erhalten sind 1 6 7 ). Hier wird nachdrücklich festgestellt, daß die Goten sich nach der Einnahme Roms f r e i w i l l i g dem Kaiser Leo unterstellt hätten, daß ihr Patricius Theoderich aber die Herrschaft des Imperiums schließlich abgeschüttelt habe. Wenn dann Paulus Diaconus 1 6 8 ) Odowakar nicht mehr als den Truppenführer im römischen Dienst, sondern als den erobernden König schilderte, der an der Spitze seines Heervolkes in Italien einfiel, dann überschattete dieses Bild der Eroberung auch noch die Gestalt seines Nachfolgers Theoderich, obwohl Paulus dessen Italienzug im Anschluß an Jordanis auf die kaiserliche Ermächtigung zurückführte. Diese Umprägung des Theoderichbildes nach den Kategorien gentilen Denkens, die sich zur Zeit Karls bereits vollzogen hatte, mußte auch ihren ) Sie wirkte auf Beda (s. oben Anm. 92) und durch diesen bei Ado (M i g η e , PL. 123, S. 103 D, freilich mit der Abwandlung cum quo [Aetio] Hesperium pene cecidit regnum; zu 476 S. 104 D) und Regino S. 19 f.; Frediulf 2, 5, 15 folgt Beda, 2, 5, 17—18 Jordanis, vgl. aber oben Anm. 136. 1M) M. B u c h n e r , Zur Überlieferungsgeschichte des Lib. pont., Rom. Quartalsdir. 34 (1926) S. 141 ff.; vgl. W. von den S t e i n e n , QFIAB. 21 (1929/30) S. 73. 1M) Besonders gilt das von Ennodius; vgl. H. L a u f e n b e r g , Der historische Wert des Panegyricus des Bischofs Ennodius, Diss. Rostock 1902, S. 40 f.; E n ß l i n , Theoderich d. Gr. S. 163, S. 159 ff. Vgl. bes. Panegyricus c. 17, 81, AA. 7, S. 213, wo Ennodius von Theoderidi sagt: τ ex me us sit iure Alamannicus, dicatur alienus. ut divus vitam agat ex fructu conscientiae nec requirat pomposae vocabula rtuda iactantiae, in cuius moribus veritati militant blandimenta maiorum. Wenn hier Kaiser Anastasius ( S c h m i d t , Westgermanen 2, 1 [1940] S. 64 Anm. 3) als alienus bezeichnet wurde, war bereits die Grundlage des kaiserlichen Anspruchs in Frage gestellt. " 4 ) Historiae 3, 5; 3, 31. 165) Vgl. z u 535 > AA. 11, S. 235, mit dem Absatz über Afrika ebd. zu 534, 2 und über Rom IM
zu 547, 3 S. 236; zwischen Wandalen- und Gotenreich wird kein Unterschied gemacht. ie«) prosperi Cont. Havniensis, AA. 9, S. 337 c. 3. le7) Chronicon 2, 56—59, SS. rer. Merov. 2, S. 77 ff. " 8 ) Historia Romana 15, 8—10, AA. 2, S. 210 f.
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Schatten werfen über jeden Versuch, aus den zeitgenössischen Quellen, etwa den Geschichtswerken des Jordanis und den Variae Cassiodors ein Bild Theoderichs zu gewinnen. Zu nahe lag für den Leser des 8. Jahrhunderts ein Mißverständnis, wenn er in den Variae las, daß man schon zur Zeit Theoderichs von den beiden Imperien in Ost und West gesprochen hatte 1 6 9 ), deren eines eben Theoderich beherrschte. Ebenso unklar aber mußte dieser Zeit die Schilderung des Jordanis bleiben, dessen Gotengeschichte Alchvine gerade im Jahre 801 sich von Angilbert erbat 1 7 0 ). Denn Jordanis führte zwar die Herrschaft Theoderichs in Italien auf die kaiserliche Ermächtigung zurück, schilderte den Amaler aber andererseits als Inhaber des 476 untergegangenen Prinzipates und als tatsächlich selbständigen Herrscher m ) . Daran hat sich das Mittelalter gehalten. Im 12. Jahrhundert hat man die Schilderung, die Jordanis von Theoderichs germanischem Bündnissystem gab, im hegemonialen Sinne gedeutet und Theoderich mit Barbarossa verglichen 1 7 2 ). Eine Neufassung der Gesta Theoderici aus dem 12. Jahrhundert hat dann Theoderich sogar nach dem römischen Kaisertum streben lassen 1 7 S ). Diese Zusammenhänge lassen erkennen, warum sich Karl gerade nach der Kaiserkrönung in Beziehung zu Theoderich gestellt hat. Ihn leitete dabei das Bild des selbständigen Herrschers über Rom, der ihm auf der Bahn der politischen Zusammenfassung des Westens ein Stück vorausgegangen war. Dabei konnte die Berufung auf Theoderich den Byzantinern unmißverständlich zeigen, daß Karl auch n a c h der Annahme des Kaisertitels nur Herrscher des Westens sein wollte, daß er aus dem universalen Gehalt des Kaisertitels keine Konsequenzen zu ziehen gedachte, die das byzantinische Reich in seinem Bestände bedroht hätten 1 7 4 ). Die Gestalt Theoderichs wurde so zum geschichtsträchtigen Symbol für Karls politisches Programm. Aber Theoderich bedeutete für Karl noch mehr. Mit Recht hat man Karls Verhalten mit den germanischen — und nicht nur germanischen — Auffassungen von der Geblütsheiligkeit in Zusammenhang gestellt und hier eine „Ansippung" sich vollziehen sehen, die die Kräfte Theoderichs für die karolingi" » ) Vgl. die Stellen etwa bei L ö w e , Cassiodor, Roman. Forsch. 60, 424 f. (oben S. 14 f.). ) Epp. 4, S. 3 6 5 ; der Bibliothekskatalog von St. Riquier v. J . 831 enthält das Werk; vgl. G. Β e c k e r , Catalogi bibliothecarum antiqui (1885) S. 28 N r . 198, 199. 171) Getica 290 ff., S. 133; 295 S. 1 3 4 : Gothorum Romanorumque regnator; Romana 348 S. 4 5 ; rex gentium et consul Romanus, .. . regnum gentis sui et Romani populi principatum (audi die Romana wird in St. Riquier gewesen sein; vgl. vorige Anm.); Getica 303 S. 136. 172) Otto von St. Blasien, SS. 20, S. 3 1 8 ; dazu S c h n e e g e , Dt. 2s. f. Geschichtswissenschaft 11, S. 34. 173) SS. rer. Merov. 2, S. 207, c. 15; vgl. Otto von Freising, Chronik 5, 1 SS. rer. Germ. (1912) S. 229. 28 ff. 174) Vgl. oben Anm. 111. Es bleibe dem Leser überlassen, festzustellen, wieweit F i c h t e n a u , Ii concetto imperiale di Carlo Magno 46, unsere Darlegungen trifft, wenn er sagt: „Se Carlo facendo cosi volle esprimere un concetto, non era quello di un regno germanico universale, regno nella maniera di Teodorico". 170
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sehe Herrscherfamilie gewinnen sollte 1 7 5 ). Eine solche Entscheidung aber stand, wenn ein Herrscher wie Karl sie traf, in enger Beziehung zum Felde der Politik. Karl hat gesehen, daß er in Italien, im Verhältnis zu Basileus und Papst, weltpolitischen Problemen gegenüberstand, die allein aus der fränkischen T r a dition nicht mehr zu bewältigen waren. Und wie der Hausmeier Karl Martell seinen Sohn Pippin von dem Langobardenkönig Liutprand adoptieren ließ 1 7 6 ), um langobardisches Königsheil auf die Sippe der Karolinger zu übertragen und damit ihren Aufstieg zum Königtum vorzubereiten, so hat Karl die Siegeskräfte dessen gewinnen wollen, der sich als erster germanischer Herrscher im Herzen der alten Kulturwelt ungeschlagen behauptet hatte und den er in der Herrschaft über R o m und Italien als seinen Rechtsvorgänger betrachten konnte 1 7 7 ). Dabei leitete ihn das zu seiner Zeit aufbrechende Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit der gentes theodiscae, und er erkannte auch von hier aus zwischen sich und Theoderich einen großen weltgeschichtlichen Zusammenhang von Beginn und Vollendung. Damit aber umschrieb er die Einheit der Epoche, die wir nach hergebrachter Weise als das frühe Mittelalter zu bezeichnen pflegen. Die Auffassungen Karls haben die Geschichtschreibung seiner Zeit nur teilweise zu befruchten vermocht. Es war seine Tragik, daß er durch die politische Lage sich gedrungen sah, als Symbol seines Wollens und als historischen Ahnherrn seines Reiches gerade jenen Ketzer Theoderich herauszustellen, den die kirchliche Gedankenwelt im Hinblick auf die vorangegangene Legenden) K . H a u c k , Geblütsheiligkeit, in: Liber Floridus, Mittellatein. Studien Paul L e h m a n n . . . gew., hg. ν. Β. Β i s c h ο f f u. S. Β r e c h t e r (1950) S. 187 ff., 221 ff. Für die These Η a u c k s bietet die von S c h n e e g e , Dt. Zs. f. Geschichtswissenschaft 11, S. 41 angeführte Liedstelle über Herzog Ulrich von Württemberg ebenso eine Bestätigung wie wenigstens einige der von M ü l l e n h o f f , ZDA. 12 (1865) S. 319, zusammengestellten hochma. Adelsnamen wie Dietericus Veronensis, Dietericbe der maerehelt usw.; das dort belegte Vorkommen solcher Namen in Kochern a. d. Mosel ist beachtlich im Zusammenhang mit dem Bericht der Kölner Königschronik zu 1197 (SS. rer. Germ. 1880, S. 159) über das Erscheinen Dietrichs an der Mosel und seine Botschaft an qttosdam nobiles illic habitantes. Das spricht noch damals für das Bestehen einer an Theoderich geknüpften Adels-comHratt'o, wie sie sich auch in Aachen um die dortige Statue gebildet hatte; D ä n t l , Zs. d. Aachener Gesch.Ver. 52, S. 26; H a u c k S. 192 f.; [ders., Heldendichtung und Heldensage als Geschichtsbewußtsein, in: Alteuropa u. die moderne Gesellschaft, Festschr. f. O. Brunner (1963), S. 137 ff.] ) Paulus Diaconus, Hist. Lang. 6, 53, SS. rer. Lang. S. 183.
175
m m
)
Ausdrücklich betonte Paulus Diaconus, Hist. Lang. 2, 27 S. 87, 4, 21 S. 124, daß die langobardischen Königspfalzen in Pavia und Monza Bauten Theoderichs waren; unter dem Mosaikbild Theoderichs in der Pfalz zu Pavia (Agnellus c. 94 S. 337) wurde noch im Jahre 968 Recht gesprochen (C. Ρ. Β ο c k , Jbb. d. Ver. v. Altertumsfreunden im Rheinlande 5/6 [1844] S. 14 Anm. 25), das Bild also doch wohl als Hoheitszeichen betrachtet. Man wird ferner im Hinblick auf die Forschungen von H a u c k (vgl. oben Anm. 175) fragen dürfen, ob die Gründungsgeschichte des Klosters Mondsee aus dem 12. Jh. nicht den Nachklang einer „Ansippung" Theoderichs an den Langobardenkönig Desiderius enthält, wenn sie V. 61 von diesem — natürlich tadelnd — sagt: Qui Theoderici potuit de sanguine did, SS. 15, S. 1102. Um so verständlicher wäre, daß Karl als Rechtsnachfolger der Langobardenkönige zur „Ansippung" Theoderichs schritt.
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b i l d u n g n u r a b l e h n e n k o n n t e 1 7 8 ). S o ist d i e B e r u f u n g a u f T h e o d e r i c h nicht i n d i e Geschichtschreibung seiner Z e i t e i n g e g a n g e n , u n d n u r gleichsam u n t e r irdisch h a t D i e t r i c h v o n B e r n als M a h n e r u n d W a r n e r d i e Geschicke des m i t t e l alterlichen Reiches b e g l e i t e t . Fruchtbarer f ü r d i e Geschichtschreibung w u r d e d a s W i s s e n u m d i e g e r m a n i sche G e m e i n s a m k e i t , das d e r älteren H i s t o r i o g r a p h i e durchaus g e f e h l t h a t t e . E s ist das G e g e n s t ü c k z u K a r l s T h e o d e r i c h - B i l d u n d eine F o l g e seiner B e m ü h u n g e n u m d i e g e r m a n i s c h e T r a d i t i o n 1 7 9 ), w e n n m a n sich i n d e n g e l e h r t e n K r e i s e n seines Reiches b e w u ß t w u r d e , m i t d e n G o t e n U l f i l a s d e n B e s i t z d e r lingua theodisca g e m e i n s a m z u h a b e n 1 8 0 ). E s g a b M ä n n e r , d i e d i e F r a n k e n w i e d i e G o t e n u n d a l l e gentes theodiscae aus S k a n d i n a v i e n h e r l e i t e t e n u n d Z w e i f e l a n d e r n u n schon w e i t g e h e n d r e z i p i e r t e n U b e r l i e f e r u n g v o n der trojanischen A b k u n f t der F r a n k e n ä u ß e r t e n 1 8 1 ). Freilich f a n d dieses B e w u ß t s e i n g e r m a n i 178
) Wie sehr das Bild Theoderichs im Negativen festgelegt war, ergibt sich indirekt audi daraus, daß Anastasius Bibliothecarius, als er den Theophanes für seine Kirchengeschichte in den älteren Teilen nur auszugsweise übersetzte, die Mitteilungen des Byzantiners über Theoderidis Bildungsgang in Byzanz und seine hohen Geistesgaben (Α. M. 5977, de B o o r 1, S. 130 f.) in sein Werk aufnahm ( d e B o o r 2, S. 115). Deutlich wird damit, wie sehr ihn diese Sätze, als etwas, was in abendländischen Quellen nicht zu finden war, beeindruckt haben müssen. Karl konnte also gerade auch aus Byzanz (vgl. F i c h t e n a u , MIÖG. 59, S. 5 über Byzantiner am Hofe Karls) zu einer besseren als der landläufigen abendländischen Meinung über Theoderidi gebracht werden. Von der Nachricht des Anastasius Gebrauch gemacht hat Landolfus Sagax c. 212, AA. 2, S. 364. " ' ) G. B a e s e c k e , Dt. Vjschr. f. Lit.wiss. u. Geistesgeschichte 23 (1949) S. 143 ff. Ob Karls Denken und Handeln als ausschließlich „fränkisch" ( F i c h t e n a u , II concetto imperiale 18) zu bezeichnen ist, bleibt bei dem rex Francorum et Langobardorttm zweifelhaft. Daß übrigens diesem „gentilen", „fränkischen" oder „germanischen" Element in Karls Denken nicht der Akzent einer Absdiließung gegen die Romanen gegeben werden sollte, möge man aus den Ausführungen oben bei Anm. 77—79 ersehen; vgl. H . L ö w e , Karl d. Gr., in: Die Großen Deutschen 1 (1956) 20 f., 28. [Vgl. jetzt auch R. W e η s k u s , Die deutschen Stämme im Reiche Karls d. Gr., in: Karl d. Gr. 1, hg. von W. Braunfels u. H . Beumann (1965) S. 180 f., der betont, daß damals „die Sprache als ethnisches Kriterium zurücktritt".] 180 ) Walahfrid Strabo, De exordiis et incrementis c. 7, MG. Capit. 2, S. 481; die einschlägigen Abschnitte aus dem Donat-Kommentar des Smaragdus von St. Mihiel bei Η . Μ a η i t i u s , NA. 36, S. 63; vgl. dens., Geschichte der lat. Lit. d. ΜΑ. 1 (1911) S. 166. 181 ) Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici 4, 18, Poet. Lat. 2, S. 59; Hraban, De inventione linguarum (d.h. richtig: litterarum), M i g n e , PL. 112, S. 1579; B a e s e c k e , Runenberichte 1 (1941) S. 80 ff.; Frechulf 1, 2, 17, M i g n e , PL. 106, S. 967; Ado, M i g n e , PL. 123, S. 95 C; dazu R. B u c h n e r , Mannus 29 (1937) S. 469—71; wichtig der Nachweis von B a e s e c k e , Dt. Vjschr. 23, S. 176 f., und: Das Nationalbewußtsein der Deutschen des Karolingerreiches nach den zeitgenössischen Benennungen ihrer Sprache, in: Der Vertrag von Verdun, hg. v. Th. M a y e r (1943) S. 121, der das neue Wissen um die Verwandtschaft von Goten, Normannen und Franken auf die Schule Alchvines (vgl. oben Anm. 170) zurückführt; zur Geschichte des Wortes „Deutsch" vgl. L. W e i s g e r b e r , Rhein. Vjbll. 12 (1942) I f f . , 13 (1948) 87 ff., 14 (1949) 233 ff.; Deutsch und Welsch. Die Anfänge des Volksbewußtseins in Westeuropa (1944); Der Sinn des Wortes Deutsch (1949). [Weiterführung der Diskussion: H . J a k o b s , Der Volksbegriff in den historischen Deutungen des Namens Deutsch, Rhein. Vjbll. 32 (1968) S. 86—104.]
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seller Zusammengehörigkeit seine Grenzen an dem lebendigen Herrscherstolz der Franken, die sich als die Herren über die anderen Stämme fühlten. Es war aber wie eine späte Durchführung des Geschichtsbildes Karls des Großen, wenn Regino von Prüm am Ausgange der Karolingerzeit mit seiner Weltchronik die Geschichte der „Väter", der „Vorgänger" schrieb 1 8 2 ). Was sein Geschichtswerk neben der mit Christi Geburt einsetzenden Kirchengeschichte wirklich bot, war die Geschichte der Germanen der Völkerwanderungszeit und dann die der Franken, die Geschichte der gewies theodiscae als Glieder des Corpus Christi. Das germanisch-diristliche Frühmittelalter war hier als eine eigene Epoche erkannt und geschildert. Regino sprach das Schlußwort der karolingischen Geschichtschreibung. Geschult an Justin, wußte er um das Werden und Vergehen der großen Weltreiche der Antike, wie es der politische Realismus eines Historikers der ausgehenden Antike ihm gezeigt hatte. Von Augustin her aber wußte er, daß die Geschichte der auf Erden wandelnden civitas Dei, die ihm freilich schon in der konkreten Wirklichkeit der Kirche deutlich wurde, von den Zusammenbrüchen irdischer Reiche nicht betroffen werden konnte. Er erlebte den Zusammenbruch des karolingischen Reiches, das die Theoretiker des Reichseinheitsgedankens unter Ludwig dem Frommen einst fast mit dem Corpus Christi identifiziert hatten, als sich ihnen das Problem der Reichseinheit unmerklich zu dem der kirchlichen Einheit wandelte 1 8 3 ). Ganz anders dachte Regino, wenn er die großen Imperien, und zwar auch das karolingische, unter das Walten der Fortuna stellte und damit zu jenen vergänglichen irdischen Gütern rechnete, die Fortuna als Schaffnerin Gottes dem Menschen immer wieder entreißen soll. Mit diesen Gedanken aber stellte sich der letzte karolingische Geschichtschreiber in die Nähe des Frühhumanismus und des modernen Geschichtsdenkens überhaupt; er eröffnete sich eine Einsicht in das Individuelle und Unwiederholbare historischer Erscheinungen. Für Regino hatte die Lehre von den vier Weltreichen daher ihre Bedeutung verloren; einem anderen Historiker des 9. Jahrhunderts aber diente gerade sie als die Grundlage, von der aus er seiner Zeit das Bewußtsein eines neuen Anfanges vermittelte. Was die karolingische Geschichtschreibung vor ihm nur in der Tatsachenschilderung und in der politisch-historischen Beurteilung zum Ausdruck gebracht hatte, das faßte Notker von St. Gallen in geschichtstheologischer Deutung zusammen 1 8 4 ): nachdem Gott in den Römern die Füße der ) H . L ö w e , Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit, Rhein. Vjbll. 17 (1952) 1 5 1 — 1 7 9 (unten S. 149 ff.). 183) Vgl. oben bei Anm. 148. 184) Gesta Karoli 1, 1 ed. H . F. H a e f e l e , M G H . SS. rer. Germ. N o v a Series 12 (1959) S. 1; A d a m e k S. 85; B u c h n e r S. 4 7 6 ; E. K a m p e r s , Kaiserprophetien und Kaisersagen im MA. (1895) S. 63, verwechselt Notker den Stammler und Notker den Deutschen, P f e i l S. 177 Anm. 89 hat das nicht bemerkt. Vgl. nodi W . Η e ß 1 e r , Die Anfänge des deutsdien Nationalgefühls in der ostfränkischen Geschichtschreibung des 9. Jhs. (Eberings Hist. Stud. 376, 1943) S. 108 ff.; W . von den S t e i n e n , Notker der Dichter und seine geistige Welt, Darstellungsband (1948) S. 71 ff. 1β2
Löwe, Cassiodor
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von Daniel gedeuteten Statue zerschmettert habe, habe er durch Karl bei den Franken das goldene Haupt einer nicht minder bewundernswerten neuen Statue errichtet. Neu war daran nicht die Auffassung von dem bereits untergegangenen römischen Weltreiche, sondern die Überwindung des eschatologischen Pessimismus, der dieser Deutung trotz Isidor und Beda im 9. Jahrhundert noch weithin anhaftete. Aus einem starken Vertrauen in die weiterwirkende Kraft göttlichen Geistes, das dem Schöpfer der Pfingsthymne 185) wohl eigen sein mußte, faßte er den Mut, von dem Anfang einer neuen von Gott gewollten Weltreichsgeschichte zu sprechen. Mit kühner Deutung stellte er sich so in Gegensatz zur theologischen Tradition der Spätantike, aber er zog die Summe aus der Gedankenarbeit der Geschichtschreibung und des Geschichtsdenkens der letzten Jahrhunderte. So steht Notker am logischen Endpunkt des Weges, den diese Betrachtung zu gehen hatte. Er liefert, am Abschluß einer geistigen Entwicklung stehend, den Beweis für die so oft geleugnete Tatsache, daß das frühe Mittelalter sich des Beginnes einer neuen weltgeschichtlichen Epoche, die die Antike abgelöst hatte, bewußt gewesen ist. Erst als die von ihm so gesehene neue Epoche des abendländischen Mittelalters in sich selbst so gefestigt war, daß man den Umbruch der Zeiten nicht mehr unmittelbar spürte, ist Notkers Deutung in den Hintergrund getreten, ohne deshalb ganz in Vergessenheit zu geraten. Aber Notkers Denken wäre nicht möglich gewesen ohne den großen Karl, der mit geradezu titanischer Kraft die Verpflichtung des imperator orthodoxus und die aus der Hölle heraufbeschworene Gestalt des Theoderich zusammenzuzwingen suchte im Dienst am Aufbau einer neuen Welt, Subjekt und Objekt zugleich in dem weltgeschichtlichen Prozeß, von dem unsere Betrachtung ein kleines Stück aufgezeigt hat, der inneren Durchdringung von Germanentum, Christentum und Erbe der Antike.
185
) Über diese von den S t e i n e n S. 181 £F.
Arbeo von Freising Eine Studie zu Religiosität und Bildung im 8. Jahrhundert Immer wieder hat Hermann Aubin sich in seinen Forschungen mit der so reizvollen und problemreichen Geschichte des Uberganges vom Altertum zum Mittelalter beschäftigt. Er hat die Kontinuität antiker Kultur ebenso untersucht und dargestellt wie die Wirksamkeit der Germanen in der Umgestaltung und Neuformung der abendländischen Welt, und er hat in seinem den ganzen Bereich der deutschen Landesforschung umgreifenden Vortrag über die „Geschichtlichen Grundlagen der Gliederung Deutschlands" vor dem Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande am 4. 6 . 1 9 5 0 in Trier auch auf die Bedeutung hingewiesen, die der unmittelbaren Anknüpfung an die römische Kultur in den Gebieten jenseits des Limes für die Ausprägung der historischen Individualität der dort lebenden und zum Teil noch in der Entstehung begriffenen deutschen Stämme zukam. Nicht nur entwickelte sich hier ein Lebensrhythmus, der sich von dem der übrigen deutschen Stämme und Landschaften in mancher Hinsicht unterschied, sondern auch auf ehemals römischem Boden war das Ergebnis der Durchdringung mit antiker Kultur landschaftlich sehr verschieden. Jede Landesforschung aber erhält ihren vollen Wert erst durch die Eingliederung ihrer Ergebnisse in das historische Gesamtbild des deutschen und europäischen Schicksals; andererseits kann deutsche Geschichte in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit erst aus dem Zusammenspiel der einzelnen Landschaften und Stämme verstanden werden. So dürfte es sich rechtfertigen, dieser Festgabe für Hermann Aubin einen Beitrag anzufügen, der die Problematik des Überganges vom Altertum zum Mittelalter und der landschaftlichen und stammlichen Differenzierung der deutschen Geschichte von der geistesgeschichtlichen Seite her aufgreift und sich dabei auf den Boden desjenigen deutschen Stammes begibt, der den ersten uns namentlich bekannten deutschen Schriftsteller lateinischer Sprache hervorgebracht hat. Sollte die Analyse seiner geistigen Welt in etwa einen Beitrag zur Lösung der hier angedeuteten Fragen zu geben vermögen, so wäre damit auch der rheinischen und fränkischen Geschichte gedient, Rhein. Vjbll. 15/16 (1950/51) S. 87—120.
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in der schriftstellerische Persönlichkeiten dieser Art erst etwas später sichtbar werden. Die Geschichte der germanischen Stämme im Ubergang von der Antike zum frühen Mittelalter wird bestimmt durch die Begegnung mit dem Christentum und mit dem, was von dem antiken Erbe in Staat und Bildung noch lebendig war. Dabei handelt es sich um eine Entwicklung, die ebenso auf der äußeren, staatlichen, wie auf der inneren, seelischen und geistigen Ebene menschlichen Schicksals verlief, und die von grundlegender Bedeutung war für das Zusammenwachsen der germanischen Stämme zwischen Alpen und Nordsee zu einem neuen, dem deutschen, Volkstum. Diese Entwicklung ist bei den einzelnen Stämmen in verschiedenen Formen verlaufen. Wurde bei den Sachsen das Christentum zwangsweise im Verlauf eines Kampfes auf Leben und Tod eingeführt, der die Existenz des Stammes fast in Frage zu stellen schien, so eigneten sich die anderen Stämme langsamer, dafür aber in fast selbstverständlicher, konfliktloser Weise die Lehren des Christentums und das Vermächtnis der Antike an. Anders als die Sachsen waren sie nicht im ursprünglich germanischen Siedlungsgebiet sitzen geblieben, sondern über den Limes Romanus in römisches Reichsgebiet vorgestoßen, wo ihnen, den Siegern, die Religion und die Bildung der Unterworfenen mehr oder weniger zur Lebensluft wurden, in der sie atmeten. Besonders vielgestaltig hat sich diese Auseinandersetzung mit den geistigen Kräften der alten Welt bei den Bajuwaren abgespielt, dem Stamm, der den südlichen Eckpfeiler des neu entstehenden deutschen Volkstums bildete, wie die Sachsen den nördlichen, und der über die Alpen hinweg in ständiger Beziehung mit dem italienischen Süden stand. Die europäische Polarität von Norden und Süden — mag man sie mit einer groben, aber praktischen Verallgemeinerung als die Beziehung von Form und Inhalt auffassen, oder mag man sie nach einer anderen Definition als Dynamik und Statik erkennen — muß hier schon im Werden Europas und im Werden des Deutschtums ihre ersten Wirkungen gezeitigt haben. Hier hat das Christentum der römischen Provinzialbevölkerung in der Bekehrungsgeschichte des Stammes nachgewirkt, während von den ostgermanischen Stämmen her die arianische Mission ins Land getragen wurde. Die nie abgerissene Verbindung mit Italien wirkte nicht nur auf kulturellem, sondern auch auf politischem und kirchlichem Gebiet: in dem gelegentlichen Zusammengehen der Bajuwaren mit den Langobarden und in dem päpstlichen Organisationsplan für die baierische Kirche von 716, der dann doch nicht völlig durchgeführt wurde. Denn stärker als die geographischen Tendenzen zum Süden machte sich auf die Dauer die von Norden und Westen herandringende Ausdehnungspolitik des fränkischen Reiches geltend, die durch die Unterstützung der irischen und angelsächsischen Mission die endgültige Bekehrung und die kirchliche Organisation des Landes bewirkte. Das Schwergewicht der fränkischen Macht war dabei so stark, daß die Organisation der baierischen Bistümer durch Bonifatius (739) nicht zu einer unmittelbaren Unterstellung derselben unter das Papsttum im Sinne des Planes von 716, sondern zu einem
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immer stärkeren Hineinwachsen in die fränkische Reichskirche führte. Auf dieser Grundlage erwuchs die baierische Kirche, aus der im 8. Jh. mit dem Bischof Arbeo von Freising') der erste namentlich bekannte deutsche Schriftsteller lateinischer Sprache hervorgehen sollte. Alle Kräfte, die die geistige Geschichte der Bajuwaren bewegt haben, scheinen in ihm noch einmal zusammengefaßt worden zu sein. Die italienischen Kulturbeziehungen seiner Heimat waren die erste Voraussetzung seiner Bildungsgeschichte. Stand er dann als Politiker und Kirchenfürst unter dem Eindruck des Bonifatius mit seiner grundsätzlichen Bindung an das Papsttum und seiner tatsächlichen Gebundenheit an die Unterstützung der fränkischen Herrscher, so wirkte auf seine geistige und religiöse Entwicklung unmittelbar der Bischof Virgil von Salzburg, der letzte Exponent der irischen Missionsbewegung in Baiern. Arbeos Persönlichkeit und Werk sind damit, wenigstens andeutungsweise, ein Zeugnis der geistigen und religiösen Haltung, die innerhalb des baierischen Stammes aus der Bewegung mit so vielgestaltigen geschichtlichen Mächten erwachsen konnte. Langobardisch-italienische Beziehungen Gebürtig aus der Gegend von Mais bei Meran — aus der Nähe jenes Castrum Maiense, in das man den Leichnam des hl. Corbinian überführt hatte — 2 ), und damit einer Landschaft entsprossen, die lange Zeit der Zankapfel von Baiern und Langobarden war 3 ), stand der Tiroler Arbeo auf der Grenzscheide von Baiern und Italien und war damit allen geistigen und religiösen Anregungen, die aus dem Süden, dem langobardischen Italien und dem päpstlichen Rom, zu ihm drangen, besonders zugänglich. Er rechnete sich selbst zum baierischen Stamme 4 ), doch entstammte er einer Gegend, in der das sog. alpenromanische Bevölkerungselement noch immer stark war und in seinen gehobenen Schichten als den Bajuwaren sozial gleichgestellt betrachtet wurde; es ist deshalb durchaus möglich, daß unter seinen Vorfahren auch Romanen waren, 1
) B. K r u s c h , Vitae Sanctorum Haimhrammi et Corbiniani, M G . SS. rer. Germ, in us. sdiol. (1920) S. 123 ff., S. 146 ff.; Arbeo. Vita et Passio S. Haimhrammi martyris, lat.-dt. ed. B. B i s c h o f f (1953), S. 84 ff.; die sprachliche eund bildungsgeschichteliche Untersuchung hat weitergeführt G. B a e s e c k e , Der altdeutsche Abrogans und die Herkunft des deutschen Schrifttums (1930) S. 117 ff., 135, 148 ff.; B a e s e c k e , Bisdiof Arbeo von Freising, Beiträge z. dt. Sprache u. Lit. 68 (1945) S. 75 ff., hat dann auch versucht, zu dem „einen, inneren Arbeo" vorzustoßen. Diese Arbeit Baeseckes ist dem Verfasser erst nach Absdiluß der vorliegenden Untersuchung im Jahre 1946 bekannt geworden; beide Arbeiten gehen aber methodisch und grundsätzlich so verschiedene Wege, daß die vorliegende Untersuchung auch nach der Baeseckes Anspruch auf Gehör erheben darf. Verwiesen sei noch auf K . L a n g o s c h , Arbeo; in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon 1 (1933) S. 99 ff.; ders., eb. 5 (1955) 50—55.
) Vita Corbiniani c. 40 S. 227 wird allgemein in diesem Sinne gedeutet; vgl. S. 123. 3) R. H e u b e r g e r , Raetien im Altertum und Frühmittelalter (1932) S. 287 f. 4 ) Vita Corbiniani c. 15 S. 203 Z. 4. 2
Krusch,
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wenn audi die Annahme verfehlt war, daß er völlig romanischer Abstammung gewesen sei 5 ). Doch sind die romanischen Züge seines Lateins nicht ausschließlich auf die Umwelt seiner Jugend und auf die starken Romanenreste in Baiern zurückzuführen. Man hat wohl zu Recht angenommen, daß der dem späteren Bischof Erembert von Freising zur Erziehung übergebene 6 ) Arbeo entscheidende Jahre seines Bildungsganges in Italien verbracht h a t 7 ) . Zwischen Freising und Verona bestanden, wie das von Corbinian verwaltete Patrimonium der Heiligen Valentin und Zeno in Mais 8 ) und das Zeno-Patrozinium des Freisinger Eigenklosters Isen 9 ) zeigen, irgendwelche Beziehungen, die noch um die Jahrhundertwende in der Wanderung Veroneser Handschriften nach Freising zum Ausdruck kamen 10 ). Unklar bleibt aber, ob Arbeo dort oder in einem anderen Zentrum Norditaliens die Grundlagen seiner Bildung empfing. Man hat an die langobardische Hofschule zu Pavia gedacht 11 ), und der juristische Einschlag seiner Bildung würde dies bestätigen. Aber ebenso möglich wäre es, daß er, der aus dem irisch begründeten Kirchenwesen Baierns kam, die Vervollkommnung seiner Bildung in dem von Columban gegründeten Kloster Bobbio suchte. Für irische Einflüsse bei seiner ersten Lateinbildung sprechen Anklänge an den schwindelhaften tolosanischen Grammatiker Virgilius Maro, die allerdings auch durch den Einfluß des Virgil von Salzburg vermittelt sein mögen 12 ). Das Glossar Abavus maior, das Arbeo benutzte, könnte er jedenfalls aus Bobbio nach Freising mitgebracht haben 13 ). Bleiben somit die näheren Umstände der italienischen Zeit Arbeos im Dunkeln, so wird an der Tatsache selbst trotz kürzlich geäußerter Bedenken 14 ) 6)
·) 7)
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») 10)
") 12 )
13 ) 14 )
So G. S t r a k o s c h - G r a ß m a n n , Geschichte der Deutschen in Österreidi-Ungarn 1 (1895) S. 382 f., 385 f. Über das Nachleben der vorbajuwarischen Bevölkerung im Vinsdigau und im Burggrafenamt vgl. H e u b e r g e r , Das Burggrafenamt (1934), S. 107; O. S t ο 1 ζ , Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol 3, 1 (1930) S. 198 f. Vita Corbiniani c. 30 S. 222. B a e s e c k e , Abrogans, S. 148 ff.; d e r s . , Arbeo, S. 7 9 ; zu Baeseckes Ausführungen über Benutzung eines merowingischen Urkundenformulars durch Arbeo ist jetzt zu vergleichen: A. K a n o l d t , Studien zum Formular der älteren Freisinger Sdienkungsurkunden 7 4 3 — 7 8 2 , Diss. (Ms.) Würzburg 1950. Vita Corbiniani c. 25 S. 2 1 7 ; K r u s e h S. 109; G. M o r i n , in: Wissenschaftliche Festgabe zum 1200jährigen Jubiläum des hl. Corbinian (1925) S. 72. Th. B i t t e r a u f , Traditionen des Hochstifts Freising 1 (1904) S. 30. Β. Β i s c h ο f f , Die südostdeutschen Schreibsdiulen und Bibliotheken der Karolingerzeit 1 (1940) S. 149 ff. B a e s e c k e , Abrogans, S. 148 ff. K r u s c h , S. 147 f. Daß jedenfalls später — aber wann? — Kenntnis des Grammatikers Virgil aus Bobbio nach Freising gelangte, ergibt sich wohl aus Cod. lat. Monacensis ( = Clm) 6 4 1 5 ; vgl. B i s c h o f f , S. 134. B a e s e c k e , Abrogans, S. 143. Zweifel an Baeseckes These äußerte W . L e ν i s ο η in der Neuauflage v. W . Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen. Vorzeit und Karolinger, H e f t 1, S. 144, Anm. 359. Über die romanischen Elemente im Latein Arbeos Κ r u s c h , S. 148 ff.; B a e s e c k e , S. 121; J . L. D. S k i l e s , The latinity of Arbeos Vita Sancti Corbiniani and of the
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nicht zu zweifeln sein, da der juristische Wortschatz des Freisinger Bischofs starke italienisch-langobardische Elemente enthält. Aus Italien, vielleicht aber noch aus alter Urkundenpraxis seiner Heimat Tirol, brachte er nach Freising die völlig sinnlos gewordene römische Datierungsformel sub die consule mit 1 5 ). Sicher langobardischer Herkunft war die Verwendung des Wortes aldiones, dessen Auftreten in Freisinger Urkunden man mit Recht auf den Einfluß Arbeos zurückgeführt hat, da das baierische Volksrecht diese Standesbezeichnung nicht kannte. Arbeo hat hier einen ihm in Italien bekannt gewordenen Ausdruck der langobardischen Rechtssprache in die Freisinger Urkunden eingeführt 16 ). Ebenso ging auf langobardischen Brauch zurück der Titel summus princeps, den Arbeo den baierischen Herzögen beilegte 17 ) und der, wie die gleichfalls von ihm gebrauchten ähnlichen Formulierungen summus dux und summa ducissa 18 ) ausweisen, sein Vorbild in dem Titel summus dux langobardischer Herzöge 19 ), nicht aber im Souveränitätstitel princeps der langobardischen Könige 20 ) und des Arichis von Benevent 21 ) suchte. Das Wort princeps hatte im abendländischen Sprachgebrauch dieser Zeit bereits eine so schillernde Bedeutung gewonnen, daß es nur mit äußerster Vorsicht zu interpretieren ist. Wollte man in dem von Arbeo gebrauchten summus princeps-T'ftel eine Parallele zu dem Souveränitätstitel der Langobarden und dem ähnlichen Titel der karolingischen Hausmeier 22 ) vor der Königskrönung Pippins sehen, würde man Arbeo die Rolle eines Vorkämpfers bajuwarischer Selbständigkeit zuweisen, die er nachweislich nie eingenommen hat. Ist er doch gerade der Vertreter fränkischer Einflüsse in Baiern, und hat er als einziger während der Unmündigkeit Tassilos seine Urkunden nach Regierungsjahren
15 ) 17 )
")
") **) ")
!1) 22 )
revised Vita and Actus Beati Corbiniani Episcopi Frisingensis Ecclesiae, Diss. Chicago 1938. K r u s c h , S. 124; H. B r u n n e r , Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde (1880) S. 252 f. Η. Ζ e i ß , Bemerkungen zur frühmittelalterlichen Geschichte Baierns, Zs. f. bayerische Landesgesch. 2 (1929) S. 358 ff. V. Corb. c. 30 S. 223.8; c. 35 S. 225.12; c. 42 S. 230.18; Vita retractata Β c. 39 S. 234.9; Vita Haimhrammi c. 15 S. 47; weitere Stellen in den Urkunden: Bitterauf 1 Nr. 19 S. 48 vom 29. 6. 763; Nr. 106 S. 123 aus dem Jahre 782, geschrieben von Leidrat. V. Corb. c. 30 S. 223. 5; Bitterauf 1 Nr. 13 b S. 41. Vgl. A. C h r o u s t , Untersuchungen über die langobardischen Königs- und HerzogsUrkunden (1888) S. 109 f., 137. Vgl. etwa die zeitgenössischen Belege, Edictus ceteraeque Langobardorum leges, ed. F. B l u h m e (1869): Gesetz Aistulfs zum J . 750 c. 8 S. 163; Liutprand z. J. 726 c. 78 (IX) S. 115; z. J. 713 S. 86; z. J. 721 c. 19 (I) S. 94; z. J. 720 c. 15 (I) S. 92 usw. Besonders deutlich im Prolog des Ratchis, S. 154: Rotbari rex, buius gentis Langobardorum princeps. Vgl. jetzt F. Β e y e r 1 e , Die Gesetze der Langobarden (1947) S. 362, 242, 168, 190, 184, 340. Capitula Domni Aregis Principis (nach 774) c. 4 S. 172; B e y e r l e S. 382. Vgl. den Titel Karlmanns 742: Ego Karlmannus dux et princeps Francorum, in: Epp. Bonifatii, ed. Τ a η g 1, Nr. 56 S. 98. 25. In der Briefsammlung des Bonifatius werden daher die karolingisdien Hausmeier principes genannt, ζ. B. Nr. 61 S. 125. 17; Nr. 63 S 130.18; Nr. 77 S. 161. 2; Nr. 78 S. 165.13; Nr. 86 S. 193. 7, 1 9 3 . 2 7 ; Nr. 109 S. 235.17.
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Pippins d a t i e r t 2 3 ) . Z w a r bestand zur Zeit Tassilos bei einigen Urkundenschreibern wahrscheinlich die Tendenz, mit dem princeps-Titel eine tatsächlich längst nicht mehr vorhandene Unabhängigkeit des baierischen H e r z o g t u m s zu bet o n e n 2 4 ) ; es fehlt dann aber das P r ä d i k a t summus, an das A r b e o sich klammert. W a s er m i t diesem Z u s a t z bezweckte, dafür bietet sich eine ganz z w a n g lose E r k l ä r u n g in dem parallelen Titel summus dux gentis Langobardorum, den die langobardischen H e r z ö g e v o n Benevent in ihren U r k u n d e n führten. D e r ihnen rangnächste H e r z o g v o n Spoleto nannte sich nur summus dux, ohne 2 5 ) . D a m i t ist der Sinn des beneventanischen den Zusatz gentis Langobardorum Herzogtitels v o r 7 7 4 k l a r : der H e r z o g v o n Benevent w a r der höchstgestellte aller langobardischen H e r z ö g e ; eine staatsrechtliche Wendung zur Souveränit ä t w a r in dem T i t e l nicht enthalten, mögen die H e r z ö g e v o n Benevent praktisch audi weitgehend unabhängig gewesen sein. Diesen Titel p a ß t e A r b e o sinngemäß den baierischen Verhältnissen an. Das Verhältnis des beneventanischen H e r z o g s zum Langobardenkönig entsprach nach seiner Auffassung dem des Baiernherzogs zu K ö n i g Pippin und K a r l dem G r o ß e n ; aber er ging noch weiter, denn das einfache princeps gebrauchte er ) H. L ö w e , Die karolingisdie Reichsgründung und der Südosten (1937) S. 21, Anm. 46. ) S. R i e ζ 1 e r , Geschichte Baierns 1, l 2 (1927) S. 300, dessen Gesamtauffassung allerdings überholt ist. Aus der politischen Situation des Frühjahrs 788 erklärt sich wohl die Datierung nach Jahren regni gloriosi principis Tassilont in 3 Passauer Urkunden; H e u w i e s e t , Passauer Traditionen, Nr. 15, 16, 17 S. 14 ff. Vgl. aber auch Nr. 12 S. 11 aus d. J . 785 (?) cum consensu et licentia predicti principis, wo Tassilo gleichzeitig dux genannt wird, wie überhaupt in den 70er Jahren dux und princeps nebeneinander gebraucht werden: vgl. die Urkunden für Mondsee von 771 und 783 (Urkundenbuch des Landes ob der Enns 1 S. 3, S. 36), für Schäftlarn von 779 und 785 (Mon. Boica 8 S. 366, S. 367), für Freising (unten Anm. 26). Ist es daher fraglich, ob in solchen Fällen der Gebrauch des princeps-Titels als Betonung der herzoglichen Selbständigkeit aufzufassen ist, so ist es doch wohl kein Zufall, daß das erste Auftauchen des princeps-Titels in Baiern in den Beginn der 70er Jahre fällt, die Zeit, in der Tassilo sich durch seinen Karantanensieg audi die Sympathien der sonst fränkisch eingestellten Kreise und damit eine „relative Selbständigkeit" erringen konnte (vgl. L ö w e , Karolingische Reichsgründung S. 51 ff.). Da nur wenige, niemals originale, Herzogsurkunden erhalten geblieben sind und auch ein einheitlich organisiertes herzogliches Urkundenwesen nicht existierte, ist über politische Motive in der Gestaltung des Protokolls nur schwer zu urteilen, zumal Tassilo in keiner I n t i t u l a t i o als princeps auftritt. Das mag sich daraus erklären, daß Tassilo immer wieder auf Schreibkräfte angewiesen war, die dem Hof fernstanden und im Urkundenprotokoll nicht den Selbständigkeitstendenzen des Herzogs, sondern den fränkischen Sympathien der Geistlichkeit und damit der Zugehörigkeit zum karolingischen Reich Rechnung trugen. 25 ) C h r o u s t , a . a . O . S. 109 f., 137; [H. W o l f r a m , Intitulatio 1, MIÖG. Ergbd. 21, 1967, 197]. 2β ) V. Haimhr. c. 35 S. 80: Imperantes principibus regionum; V. Corb. c. 10 S. 198: principem huius operis quem fuisset inquisivit. Cum quo tribunus et centenarii...; c. 16 S. 205: Husingus Longobardorum rege ibi constitutus princeps (dazu vgl. c. 22 S. 213: comis tribunus qui fuerat Husingus). Steht aber einmal fest, daß für Arbeo ein princeps von einer höheren Instanz constitutus sein kann, dann gilt das auch vom principatus Tassilos, den 779 eine Freisinger Urkunde (Bitterauf 1 Nr. 97 S. 115) erwähnt. Und wenn es 780
23 M
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nicht n u r f ü r d e n K ö n i g u n d d e n H e r z o g , s o n d e r n auch f ü r u n t e r g e o r d n e t e B e a m t e 2 6 ) , a l s o i n F ä l l e n , w o v o n S o u v e r ä n i t ä t s r e c h t e n k e i n e R e d e m e h r sein k o n n t e . M i t d e m Z u s a t z summus stellte A r b e o d e n B a i e r n h e r z o g a n d i e S p i t z e der baierischen principes regionum 2 7 ) u n d n a h m d a m i t d e m princeps-Titel die W e n d u n g z u r S o u v e r ä n i t ä t , d i e i h m v o n N a t u r i n n e w o h n t e u n d die bei F r a n k e n w i e bei L a n g o b a r d e n noch e m p f u n d e n w u r d e . I n dieser W e i s e v e r s t a n d e n , k o n n t e d a n n auch das e i n f a c h e princeps durchaus p a r a l l e l m i t dux gebraucht w e r d e n . D e r Jurist A r b e o f a n d so d a s M i t t e l , äußerlich d e n v o m h e r z o g l i c h e n S e l b s t ä n d i g k e i t s s t r e b e n g e f o r d e r t e n T i t e l princeps a n z u n e h m e n , i h n aber gleichzeitig des ursprünglichen S i n n g e h a l t s , der i h n d e n H e r z ö g e n so a n g e n e h m machte, z u e n t k l e i d e n . D i e F o r m u l i e r u n g summus princeps ist d a n n i n das baierische U r k u n d e n w e s e n auch a u ß e r h a l b Freisings e i n g e d r u n g e n ; d a ß A r b e o der U r h e b e r dieses T i t e l s w a r , ergibt sich n e b e n d e m V o r w i e g e n dieser B e z e i c h n u n g in seiner H a g i o g r a p h i e aus ihrer r e l a t i v g e r i n g e n V e r b r e i t u n g a u ß e r h a l b F r e i s i n g s 2 8 ) u n d aus der Tatsache, d a ß der T i t e l erst i m L a u f e der 7 0 e r J a h r e in a l l g e m e i n e r e n G e b r a u c h k a m , d. h. also, n a c h d e m A r b e o , der bereits i m J a h r e 7 6 3 d i e -
(ebd. N r . 103 S. 119) heißt principis nostri Tassiloni ducis, dann ist audi hier nur der dux als der summus princeps der Baiern verstanden, der sehr wohl der Vasall des Frankenkönigs sein mag. " ) Die principes regionum der V. Haimhr. c. 35 S. 80 stehen im Gegensatz zu dem dort c. 34 S. 76 genannten princeps terrae. Es sind hier im Gegensatz zum Herzog untergeordnete Instanzen gemeint. 28 ) In den Regensburger Traditionen findet sich kein Beispiel für summus princeps, in den Passauer (ed. M. H e u w i e s e r , Die Traditionen des Hochstifts Passau, in: Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte NF. 6, 1930, Nr. 7 S. 8) nur einmal (Datierung unsicher, ca. 764—788). Der Diakon Snelhart, der als Notar Tassilos eine Urkunde über die Schenkung eines Atto an das Kloster Schäftlarn (Monumenta Boica 8, Nr. 3 S. 364 f., vom Jahre 776), eine weitere über eine Schenkung Tassilos an Passau (H e u w i e s e r , Passauer Traditionen Nr. 6 S. 7, vor 774) ausstellte und schließlich Tassilos Stiftungsurkunde für Kremsmünster (ed. Th. H a g e n , Urkundenbuch des Stiftes Kremsmünster, 1852, Nr. 1 S. 1 ff., ed. H . F i c h t e η a u , Die Urkunden Herzog Tassilos III. und der „Stiftsbrief" von Kremsmünster, MIÖG. 71, 1963, S. 32) vom Jahre 777 dem Diakon Willaperht diktierte, verwandte, wenn er vom Herzog in der 3. Person sprach, nicht aber in der Intitulatio oder in der Datierung, das summus princeps; so für Schäftlarn 776: Schenkung erfolgt cum consensu et licentia summt principis Tassilonis; Snelhart schreibt iussus a summo principe. Ähnlich für Kremsmünster 777: Scripsi autem ego Willaperht... iussus α summo principe Tassilone ex ore Snelhardi diaconi. Diese Formel gebrauchte er außerdem zweimal im Text der Urkunde in anderem Zusammenhang; vgl. B. P o e s i n g e r , Die Stiftungsurkunde des Klosters Kremsmünster, 59. Programm des Obergymnasiums der Benediktiner in Kremsmünster (1909) S. 23. Klar wird jedenfalls, daß ein offiziell vom Herzog gebrauchter Titel summus princeps nicht vorlag. Quelle Snelharts dürfte die Lex Baiuvariorum (vgl. nächste Anm.) gewesen sein. Summus princeps begegnet ferner in den Urkunden für Mondsee v. J. 771 (Urkundenbuch des Landes ob d. Enns 1, 1852, Nr. 13 S. 9: cum consensu et licentia summi principis Tassiloni), vom J. 776 (ebd. N r . 33 S. 21 mit der gleichen Formel), 772 (ebd. Nr. 115 S. 69), vor 788 (Nr. 117 S. 70). Beachtenswert ist, daß die Belege nur in den 70er Jahren und nur im Text der Urkunden zu finden sind.
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sen Titel gebrauchte, als Bischof das Freisinger Urkundenwesen in seinem Sinne organisiert hatte. Wohl durch das Ansehen Arbeos hat die Formulierung summits princeps schließlich in ein Kapitel der L e x Baiuvariorüm Eingang gefunden, das man schon seit längerer Zeit als einen späteren Zusatz erkannt h a t 2 9 ) , und hier dürfte im wesentlichen die Quelle für den Gebrauch dieser Titelform außerhalb Freisings zu suchen sein. Das rebellische Herzogtum aber hat gerade diesen Titel allem Anschein nach vermieden. Zur Zeit der offenen Rebellion Tassilos gegen Karl wurde in Passauer Urkunden vom regnum gloriosi principis Tassilonis gesprochen, das summus aber fortgelassen 3 0 ). Damit ist wenigstens von der herzoglichen P a r t e i her die Auffassung des summus princeps als eines juristischen Auskunftsmittels Arbeos zur Verschleierung des Sinngehaltes von princeps durchaus bestätigt. Nicht nur in diesem Fall hat die staatsrechtliche Terminologie der Langobarden bei Arbeo eine Rolle gespielt. Aus derselben Quelle rührt es her, wenn Arbeo vom Langobardenkönig als rex totius gentis und vom Baiernherzog als princeps totius (seil, gentis) sprach 3 1 ). Schließlich entnahm er langobardischem Brauch die Amtsbezeichnung actor, die in langobardischen Gesetzen den Verwalter königlichen Domanialgutes bezeichnete 3 2 ). Mit dem Prädikat praecellentissimus, das er dem langobardischen König beilegte, scheint er sogar die Kenntnis des von Ratchis und Aistulf in ihren Gesetzen geführten Titels zu
) Gegenüber dem Zweifel von F. B e y e r l e , Die süddeutschen Leges und die merowingisdie Gesetzgebung, ZSRG. 62, Germ. Abt. 49 (1929) S. 351 f., daß Titel I I I der Lex Baiuvariorum der Niederschlag der politischen Umstellung von 757 sei, bildet die Benutzung der für Arbeo so charakteristischen Formulierung summus princeps ein schwerwiegendes Argument für die Betrachtung dieses Titels als späteren Zusatz. Die Anschauungen von B. K r u s c h , Die Lex Bajuvariorum (1924) S. 282 ff., gewinnen damit wieder größeres Gewicht. Im übrigen braucht zwischen dem späteren Ansatz dieses Titels in der Zeit nach 757 und den Ausführungen von Beyerle über die Wergeidsätze der Agilolfinger kein unaufhebbarer Widerspruch zu bestehen, da die burgundischen Beziehungen Baierns auch noch im 8. Jahrh. wirksam waren; vgl. H . L ö w e , Zs. f. bayer. Landesgesdi. 15 (1949) S. 62 f. Der Nachweis der arbeonischen Provenienz für die Formulierung summus princeps bildet eine gute Bestätigung für K . B e y e r l e , Lex Baiuvariorum (1926) S. L X X X V I , der in Tit. I I I „geistlichen Stil, nicht den Ton eines Königsbefehls" erkannt hatte und diesen Zusatz zur Lex auf die gleichen geistlichen, politisch fränkisch eingestellten Kreise zurückführte, die seinem Nachweis zufolge die Lex Baiuvariorum geschaffen hatten. Durchaus parallel zu Arbeo (vgl. Anm. 26) wird in Tit. I I I 1, ed. S c h w i n d S. 113, die Herzogsfamilie der Agilolfinger als die der summi prineipes bezeichnet und der dux vom König constitutes. »») Μ. Η e u w i e s e r , Die Passauer Traditionen (1930) Nr. 15, 16, 17, S. 14, 15, 16. Vgl. oben Anm. 24. 3 1 ) V. Corb. c. 33 S. 224. 13; c. 23 S. 2 1 4 . 1 5 ; C h r o u s t S. 110. [Vgl. jetzt H. W o l f r a m , Intitulatio 1, MIÖG. Ergbd. 21, 1967, S. 93, 97.] 32 ) V. Corb. c. 15 S. 2 0 4 . 1 4 ; schon die romanische Form auetores statt actores entspricht italienischer Schreibung in den Leges; vgl. das Gesetz Aistulfs z. J . 750 c. 7 S. 163. Für actores in langobardischen Gesetzen zahlreiche Belege. Ober ihre Amtsstellung vgl. das Gesetz Liutprands z. J . 724 c. 59 (VI) S. 107, und die umfassende Regelung in der Notitia de actoribus regis von 733 S. 149 ff. B e y e r l e S. 362, 222, 328 ff. 2e
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83
) . V e r t r a u t h e i t m i t d e r M a t e r i e d e r u n t e r R a t d i i s erlassenen Z u s ä t z e
z u m l a n g o b a r d i s c h e n R e c h t d ü r f t e die V i t a C o r b i n i a n i o f f e n b a r e n
34
).
Man
w i r d d a r a u s schließen d ü r f e n , d a ß A r b e o z u r Z e i t dieses K ö n i g s noch in I t a lien, vielleicht s o g a r a m H o f e , w e i l t e . S i n d wesentliche T e i l e d e r staatsrechtlichen T e r m i n o l o g i e A r b e o s aus d e r l a n g o b a r d i s c h e n R e c h t s s p r a c h e ü b e r n o m m e n , so k ö n n t e er in d e r Schule der I r e n in B o b b i o o d e r in einer d e r noch b e s t e h e n d e n italienischen G r a m m a t i k e r schulen j e n e N e i g u n g z u einer g e k ü n s t e l t e n u n d schwülstigen L a t i n i t ä t e r w o r ben h a b e n , die sich angesichts d e r M ä n g e l seiner S p r a c h b e h e r r s c h u n g n u r n e g a t i v a u s w i r k e n k o n n t e . E s w a r ein l e t z t e r A u s l ä u f e r s p ä t a n t i k e r
Rhetorenbil-
d u n g m i t seiner d o p p e l t e n R i c h t u n g z u r stilistischen u n d g r a m m a t i s c h e n K ü n stelei, C u r s u s
35
) und Reimprosa, sowie andererseits z u r praktischen
Ausbil-
d u n g in R e c h t u n d U r k u n d e n t e c h n i k , d e r in I t a l i e n a u f A r b e o e i n g e w i r k t h a t . H i e r w u r d e er f e r n e r m i t d e m z e i t g e m ä ß e n H i l f s m i t t e l d e r G l o s s a r e b e k a n n t , d a s f ü r Menschen, d e n e n das L a t e i n nicht M u t t e r s p r a c h e w a r , d o p p e l t e B e d e u t u n g g e w a n n . I m L a u f e seiner A u s b i l d u n g w i r d er auch gewisse r u d i m e n t ä r e K e n n t n i s a n t i k e r D i c h t u n g e r w o r b e n h a b e n . D o c h a n d e r s als P a u l u s D i a c o n u s , d e r sich v o n den gleichen G r u n d l a g e n h e r eine t i e f e r g e h e n d e K e n n t n i s a n t i k e r
) V. Corb. c. 16 S. 2 0 5 . 1 1 ; dazu vgl. den Titel des Ratdiis im Jahre 746 S. 154: ego divino auxilio Ratchis precellentissimus et eximius princeps, und des Aistulf vom Jahre 755 S. 164: ego Dei omnipotentis auxilio Ahistulf praecellentissimus rex catbolicae gentis Langobardorum. Statt praecellentissimus war vorher in den Königstiteln der Gesetze excellentissimus gebraucht worden. Daß unter Ratdiis für die Form praecellentissimus eine besondere Vorliebe herrschte, ergibt sich audi daraus, daß der Prolog seines Gesetzes vom Jahre 746 (S. 154) in der Aufzählung der Vorgänger unter Änderung der historischen Titel bei Rothari und Liutprand den Terminus praecelsus, bei Grimoald praecellentissimus gebrauchte. Damit wird klar, daß die Form praecellentissimus eine unter Ratdiis eingetretene Neuerung war. In den Urkunden überwiegt weiterhin excellentissimus. Vgl. noch C h r ο u s t , a. a. O., S. 28 f., Β e y e r 1 e S. 342, 364, 340. M) Nach der V. Corb. c. 16 S. 205 begibt sich Corbinian auf seiner Romreise von Trient nach Pavia. B a e s e c k e , a. a. O. S 153, der dies als ungebräudilidies Abweichen von der normalen Reiseroute erkannte, nahm deshalb an, daß Arbeo den Abstecher nach Pavia erfunden habe, weil er den Weg dorthin infolge seines Aufenthaltes an der Hofschule gekannt habe. Einleuchtender scheint jedodi der Hinweis auf eine Verordnung des Königs Ratchis über den Grenzübertritt der Rompilger, Ratdiis regis capitula c. 13 S. 159 f., Β e y e r i e S. 356. Neben der normalen Abfertigung der Rompilger an der Grenze werden für die Behandlung verdächtiger Personen Richtlinien gegeben: Si vero cognouerent, quid fraudelenter ueniant, per suos missos eos ad nos dirigant, et innotescat nobis causa ipsa. Arbeo kannte diese Praktiken aus seiner langobardischen Zeit und hat diese Kenntnis für die Schilderung der Romreise verwandt. Da die Romreise Corbinians in die ersten Jahre Liutprands (712—744), also in eine Zeit diplomatischer Spannung fiel, ist es durchaus möglich, daß bereits damals ähnliche Verhältnisse bestanden und daß Corbinian tatsächlich an den Hof zu Pavia geführt wurde, um dort die Genehmigung zur Weiterreise zu erhalten. Das dem Heiligen mitgegebene langobardisdie Geleit kann dann audi die Funktion einer polizeilichen Aufsicht gehabt haben. 35 ) W. M e y e r , Göttinger gelehrte Anzeigen (1893) S. 26; K r u s c h , Schulausgabe, S. 147. 33
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Literatur und ein inneres Verhältnis zu ihr errang 3 6 ), hat Arbeo es nicht vermocht, sich über die literarische Technik der Spätstufe zur echten Antike zu erheben. Der von höherer Bildung noch unberührte Bajuware nahm den dekadenten und künstlichen Prunk der Spätzeit für echtes Gold, ein Fehler, den der auf dem klassischen Boden Italiens herangewachsene Paulus, der Sohn des „geistreichen und verstandesklaren, glänzend begabten Stammes" der Langobarden 3 7 ), vorbereitet durch ein zweihundertjähriges Einwurzeln seines Volkes in Italien, leichter vermeiden konnte. Die ablehnende Stellung zu gewissen Elementen der weltlichen Bildung, die der von Arbeo wie vom gesamten frühen Mittelalter hochgeschätzte Gregor der Große der Nachwelt hinterlassen hatte 3 8 ), darf nicht herangezogen werden, um diese Schwäche in Arbeos Bildung zu erklären. Eine grundsätzlidi feindselige Einstellung zur weltlichen Bildung hat Arbeo nicht vertreten. Der Mann, der seinem Haimhramm das sacrum, liberalium litterarum Studium nachrühmte, hatte die Problematik der Verbindung von Christentum und antiker Bildung überhaupt noch nicht empfunden 3 9 ). E r kannte das Studium der artes liberales nur im Rahmen der geistlichen Bildung seiner Zeit. Während Gregor der Große in seiner Lebensbeschreibung Benedikts von Nursia den Vater des abendländischen Mönclistums vor der weltlichen Wissenschaft wie vor einem ungeheueren Abgrund zurückweichen ließ 4 0 ), war es Arbeos ganze Sorge, diese weltliche Wissenschaft etwa nicht genügend zu beherrschen, und der Abgrund, den er fürchtete, war der, in den er durch die gewagte Anwendung seiner in Baiern bis dahin unerhörten Stilmittel zu stürzen drohte 4 1 ). Gerade der leere Wortprunk spätester Rhetorenschulen, den Gregor verurteilt h a t t e 4 2 ) , diente dem Freisinger Bischof dazu, das Bild Corbinians literarisch se) 37) 3e)
*·)
40)
41 ) 42 )
Dazu K . N e f f , Die Gedidite des Paulus Diac. (1908); G. H . H ö r l e , Frühmittelalterliche Mönchs- und Klerikerbildung in Italien (1914). Dieses Urteil über die Langobarden von F. S c h n e i d e r , R o m und Romgedanke im Mittelalter (1926), S. 4. Hörle a . a . O . , S. 13 ff.; S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke, S . 9 7 f f . Über Arbeos Kenntnis der Werke Gregors s. unten S. 88, Anm. 58. V. Haimhr. c. 1 S. 28. Der Passus der V. Corb., Prolog, S. 1 8 8 : Inlicite preoccupationis redundatus terrenis spricht nur von weltlichen Ablenkungen allgemein, bedeutet daher keine Stellungnahme gegen das sacrum liberalium litterarum Studium der V. Haimhr. V. Benedicti, Prolog, Migne 66, S. 126: Romae liberalibus litterarum studiis traditus fuerat. Sed dum in eis multos ire per abrupta vitiorum cernerit, eum quem quasi in ingressum mundi posuerat, retraxit pedem: ne si quid de scientia eius attingerit, ipse quoque postmodum in immane praecipitium totus iret. . .. Recessit igitur scienter nescius et sapienter indoctus. Neuausg. von U . M o r i c c a , Fonti per la storia d'Italia 57 (1924) S. 71 f. V. Corb. Prolog, S. 189. Gegenüber der zu sehr vom modern rationalistischen Standpunkt bestimmten Kritik Schneiders an Gregors „Simplismus" vgl. schon E . C a s p a r , Geschichte des Papsttums 2 (1933) S. 340 ff., 401 f., der die ablehnende Haltung Gregors gegen die weltliche Bildung aus den Zeitumständen abgeleitet und damit ihre historische Bedingtheit nachgewiesen hat. Ganz abgesehen von der Verkennung der religiösen Motive Gregors ist es deshalb verfehlt, grundsätzlidi den Vorwurf des „Bildungshasses" (so Schneider S. 9 9 ) gegen
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so wirkungsvoll, als ihm möglich war, zu gestalten oder, wie er es selbst im Prolog der Vita ausdrückte, zu „vergolden". Die Fragwürdigkeit einer inhaltlos gewordenen Verstandesbildung, die Benedikt und Gregor im Untergang der antiken Welt deutlich wurde, bestand nicht mehr für das 8. Jahrhundert, das überall an die letzten Ausläufer antiker Bildungsbestrebungen den Anfang neuer Leistungen knüpfte und nach dem Bildungssturz der letzten Jahrhunderte sich den Bereich geistiger Bildung neu zu erschließen begann. Kein Wunder war es, wenn die Schritte des Anfanges unsicher und strauchelnd waren; ein Anfang aber, der wirklich zu neuen Schöpfungen führte, wurde auch von Arbeo gemacht. Nach Freising zurückgekehrt, wo er bereits im Jahre 754 als Ardiipresbyter genannt wird, war er bis 763 als Schreiber von Urkunden tätig und erwies dabei seine in Italien erworbene juristische Bildung 4 3 ). Im Jahre 763 zum Abt des Klosters in der Einöde von Scharnitz bestimmt 4 4 ), wirkte er an den ihm dort gestellten Aufgaben des Neuaufbaues und der wirtschaftlichen Fundierung einer klösterlichen Gemeinschaft, bis er zwei Jahre darauf zum Bischof von Freising geweiht wurde. Wieder bewährte er seine praktische Befähigung in den anfallenden Verwaltungsaufgaben, der Durchsetzung der Diözesangewalt gegenüber dem Eigenkirchenwesen der Klöster und dem Ausbau der bischöflichen Eigenklöster 4 5 ). Seinen italienischen Urkundenstil, bereichert aus eifriger Glossarbenutzung, setzte er nun im Freisinger Urkundenwesen durch und erzog sich eine Anzahl von Schülern, die seinen Stil in ihren Urkunden v e r t r a t e n 4 6 ) . Zur stilistischen Ausbildung seiner Schüler aber ließ er, wie
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45
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Gregor zu erheben. Im übrigen dürfte, was bisher nicht erkannt worden ist, ein Teil des gregorianischen „Simplismus" auf römische Tradition zurückgehen — kein Wunder bei dem römischen Aristokraten Gregor, dessen Eigenschaften auch nach Schneider S. 96 zu einem guten Teil typisdi römisch waren. „Der Römer war", sagt Th. Β i r t , Zur Kulturgeschichte Roms, S. 134, „geistig schlicht; simplex galt als Lob". Martial hatte die Adjektive simplex und bonus nebeneinandergestellt, Gregor blieb auch hier ein Römer. Κ r u s c h S. 124. B i t t e r a u f 1 Nr. 19 S. 46; S. M i t t e r e r , Studien u. Mitt. zur Gesch. des Benediktinerordens 44 (1926) S. 175 ff., ders., Das Freisinger Domkloster und seine Filialen, in: Wissenschaftliche Festgabe zum 1200jährigen Jubiläum des hl. Corbinian (1924) S. 37 ff. Über die Auseinandersetzung von Bistum und Klöstern vergl. G. R a t z i n g e r , Der bayerische Kirchenstreit unter dem letzten Agilulfinger, Forschungen zur bayerischen Geschichte (1899), S. 493 ff.; S. M i t t e r e r , Die bischöflichen Eigenklöster in den vom hl. Bonifatius 739 gegründeten bayerischen Diözesen, Studien u. Mitt. zur Gesch. des Benediktinerordens, Ergh. 2 (1929). B a e s e c k e S. 152 f. B a e s e c k e , a . a . O . ; gegen Baeseckes Lokalisierung der Abrogans-Überlieferung in Freising sind, soweit ich sehe, grundsätzliche Einwendungen nicht erhoben worden. Seine Fehlbeurteilung der Freisinger Schreibschule, die vor dem Erscheinen des grundlegenden Werkes von Bischoff über die baierischen Schreibschulen kaum vermeidbar war, — eine ähnliche Überschätzung der Bedeutung des insularen Elements für die Anfänge der Freisinger Schreibschule findet sich bei J . S c h l e c h t , Das angebliche Homiliar des hl. Corbinian, Corbinians-Festgabe, S. 177 ff., 187 ff. — betrifft seine entscheidende germanistische Beweisführung nicht. Vgl. B i s c h o f f S. 62 Anm. 4, S. 73 ff., 141 f.
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Baesecke nachgewiesen hat, jene Ubersetzung des Abrogans-Wörterbuches anfertigen, die einen so bedeutenden Platz in den Anfängen der althochdeutschen Literatur einnimmt 4 7 ). Die Begegnung mit der „Form" des Südens wurde hier anstoßgebend für neue Entwicklungen. Durch sie wirkte der Sohn des zu Ende gehenden agilolfingischen Zeitalters noch befruchtend auf die althochdeutsche kirchliche Literatur, die unter Karl dem Großen entstand. Der Schüler Italiens war zum Lehrer geworden, der nicht nur das Gelernte den Aufgaben seines Lebens dienstbar zu machen wußte, sondern audi eigene Wege ging, die ihn über die empfangenen Anregungen hinausführten. Arbeos Bibliothek und ihre Beziehungen zu Virgil von Salzburg Der Betätigung der Schreibschule und dem Ausbau der Bibliothek in Freising hat Arbeo so starke Impulse verliehen, daß auch sie zu Zeugnissen seines tatkräftigen, vorwärts drängenden Geistes wurden. Unter seiner Regierung wird das Freisinger Scriptorium erstmalig als „festgegründete Schule von einheitlich ausgebildeten Schreibern" für die Forschung erkennbar 4 8 ). Die auswärtigen Kräfte waren weit in den Hintergrund zurückgedrängt; irische Schriftelemente 4 9 ) waren kaum noch anzutreffen, während die etwas stärker auftretenden insular-angelsächsischen Züge nur noch neben der bodenständigen Schriftentwicklung einhergingen, ohne sie unmittelbar zu beeinflussen 5 0 ). Diese einheimische Freisinger Schrift aber hatte im Widerstreit zwischen insularen und italienischen Einflüssen bereits einen weitgehenden Ausgleich in Richtung auf die karolingische Minuskel erreicht, während die Situation im zeitgenössischen Regensburg noch viel stärker unter dem Zeichen der Spannung insularer und italienischer Elemente stand 5 1 ). Die Frage, wie weit die irischen, angelsächsischen und italienischen Kulturbeziehungen ihre Spuren in dem Aufbau der Freisinger Bibliothek hinterlassen haben, ist im einzelnen nicht zu beantworten. Der heute erhaltene Bestand dieser Bibliothek ist nur ein Teil des einst vorhandenen, und die mit Sicherheit wegen ihres Schriftcharakters auf das Freising Arbeos zurückzuführenden Handschriften enthalten — im wesentlichen — keine Werke von mittelalterlichen Schriftstellern dieser Länder, sondern nur Schriften der überall gleichmäßig gelesenen Kirchenväter. Aber einige Linien in dem geistigen Gesicht des Mannes, der diese Bibliothek aufbaute, werden sich auch aus ihren Resten gewinnen lassen 5 2 ). Es überrascht nicht, daß weltliche antike Texte unter den Handschriften der Zeit Arbeos ganz fehlen. Eine Ausnahme bildet allein das ) ) 5 °) ") 52) 48
4β
B i s c h o f f S.60. Β i s c h ο f f S. 79 f. zu Nr. 16. Β i s c h ο f f S. 61 f., S. 73 ff. Β i s c h ο f f S. 62 Anm. 3. Der detaillierten überlieferungsgeschichtlichen Untersuchung der Freisinger Bibliothek Arbeos, die man von dem 2. Band des Werkes von Bischoff wird erwarten dürfen, kann und soll im folgenden natürlich nicht vorgegriffen werden.
Arbeo von Freising
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Gebiet der Grammatik, das mit Exzerpten des Audax aus Werken des Scaurus und Palladius im letzten Viertel einer Sammelhandschrift (Nr. 16 b) 53) im Rahmen der Bibliothek einen verhältnismäßig sehr kleinen Raum einnimmt. Daß der Grammatik im ursprünglichen Bestand wesentlichere Bedeutung zugekommen sein wird, ergibt sich aus dem Fehlen des Virgilius Maro Grammaticus, der Arbeo zweifellos bekannt war 54) und den man doch wenigstens mit einigen Fragmenten auch für die Freisinger Bibliothek in Anspruch nehmen darf. Audi der Jurist Arbeo tritt in der Bibliothek weniger deutlich hervor, als man erwarten möchte. Die schon erwähnte Handschrift enthält einen Ordo iudiciarius, der im wesentlichen ein Exzerpt aus der Irisdien Canones-Sammlung darstellt. Da dieser Teil der Handschrift nach irischer Vorlage geschrieben und von einem insularen, wahrscheinlich irischen, Schreiber revidiert wurde, wird anzunehmen sein, daß es der irische Bischof Virgil von Salzburg war, der Arbeo diesen Grundriß der kirchlichen Prozeßordnung übermittelte 55). Daneben aber machen sich die italienischen Beziehungen des süddeutschen Raumes auch in der Freisinger Kanonistik unter Arbeo bemerkbar. Denn man wird annehmen dürfen, daß die sogenannte „Freisinger Canones-Sammlung", deren Handschrift aus der Bodenseegegend nach Freising eingeführt wurde 56), wo sie um das Jahr 800 einige Ergänzungen erfuhr, noch unter Arbeo in die Dombibliothek kam. Handelt es sich doch bei dieser Sammlung um ein vordionysisches Werk italienischen Ursprungs, das nach der im Jahre 774 erfolgten Ubersendung der Dionysio-Hadriana durch Papst Hadrian an Karl den Großen mindestens in dem Zeitpunkt als veraltet erscheinen mußte, als Baiern im Jahre 788 endgültig in das Karolingerreich eingegliedert und damit auch der zentralistisdi gehandhabten Aachener Kulturpolitik geöffnet wurde. Nach 788 dürfte man auf die Erwerbung dieser Handschrift keinen Wert mehr gelegt haben. Damit wächst doch die Wahrscheinlichkeit, daß schon Arbeo dieses Buch beschaffte, das dann — als eingebürgertes und bewährtes Handbuch — auch nach 788 nicht so ohne weiteres aus der Hand gelegt wurde 57). Wichtig aber ist, daß 5S
) Die im folgenden jeweils zu den einzelnen Handschriften angegebenen Ziffern bezeichnen ihre Nummer in Bischoffs paläographischem Katalog S. 71 ff.; zu den Audax-Fragmenten vgl. Η. Κ e i 1, Grammatici latini 7 (1880) S. 313 ff. M ) Vgl. oben Anm. 12. 55 ) Abdruck des Ordo bei F. K u n s t m a n n , Über den ältesten Ordo iudiciarius, in: Kritische Überschau der Deutschen Gesetzgebung, hrsg. von L. A r e n d t s , 2 (1885) S. 13 ff.; vgl. dazu H . W a s s e r s c h i e b e n , Die irische Kanonensammlung (1885) S. 63 ff.: Lib. X X I . Die iudicio. B a e s e c k e , Arbeo, S. 85, hält es für möglich, daß es sich bei der irischen Vorlage der Handschrift Arbeos um eine Hinterlassenschaft Corbinians handelt. Doch kann die irische Abstammung Corbinians in keiner Weise als gesichert betrachtet werden. M ) Bischoff S. 86 Nr. 24; zur kanonistischen Bedeutung der Handschrift vgl. A. S c h a r n a g l , Die kanonistische Sammlung der Handschrift von Freising, in: Corbinians-Festgabe S. 126 ff. 57 ) Erst unter Bischof Hitto (811/12—836) wurde die Dionysio-Hadriana in Freising abgeschrieben; Β i s c h ο f f S. 67, 100, Nr. 38.
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diese Rechtssammlung noch nicht die sog. Symmachianischen Fälschungen enthielt. Die von ihnen vollzogene Zuspitzung der päpstlichen Primatsidee zu dem Satz, daß der Papst von niemandem gerichtet werden dürfe, ist Arbeo also offensichtlich fremd geblieben. Weitaus den ersten Platz wies Arbeo beim Aufbau der Bibliothek den Schriften der Kirchenväter zu. Es entsprach nur der Bedeutung Gregors des Großen für Theologie und Seelsorge des frühen Mittelalters, daß von seinem Hiob-Kommentar, den Moralia, in Freising gleich drei Teilhandschriften vorhanden waren ( N r . 5, 7, 10). Dazu kamen — in zwei Exemplaren ( N r . 3, 6) — die Homiliae in Ezechielen! und die Evangelien-Homilien Gregors ( N r . 4). Nicht erhalten ist dagegen ein Exemplar von Gregors „Dialogi", jenem berühmten Buch über die Wundertaten der italischen Väter, das Arbeo ohne Zweifel gekannt und in seinen Werken benutzt h a t 5 8 ) und das daher ohne weiteres für die Freisinger Bibliothek in Anspruch zu nehmen ist. Beachtenswert neben der eifrigen Benutzung dieser für die Seelsorge bedeutungsvollen Werke Gregors ist das Fehlen der Regula pastoralis, die der Ausbildung des Klerus diente. Erst die erhöhte Aufmerksamkeit, die man seit Karl dem Großen einer verbesserten Ausbildung der Kleriker schenkte, hat auch in Freising in Befolgung von Anweisungen der Zentrale zur Herstellung von Abschriften dieses Werkes geführt. Zur Zeit Arbeos hingegen war jenes Buch noch nicht so aktuell. Man befand sich zu sehr im Stadium der ersten geistigen und materiellen Aufbauarbeiten, als daß das Problem einer systematischeren und verfeinerten Klerikerbildung bereits drängend geworden wäre 5 9 ). Die Vorzugsstellung, die Gregor der Große einnahm 6 0 ), wurde nur noch erreicht von dem Kirchenvater Hieronymus, dem 6 Handschriften ganz oder ) Müßig ist — bei der großen und allgemeinen Nachwirkung Gregors des Großen — die Überlegung B a e s e c k e s , Arbeo, S. 86, ob die Einwirkung Gregors auf Arbeo durch italienische oder angelsächsische Vermittlung zustande kam. Zusammenstellung der Entlehnungen aus den Dialogi bei Κ r u s c h S. 147 Anm. 2. Exzerpte aus den Dialogi wurden in den ersten Jahren von Arbeos Nachfolger Atto in Freising abgeschrieben (Clm. 6 2 9 3 ; Bischoff S. 88 N r . 25). Über die Wirkung der Dialogi im Mittelalter vgl. unten Anm. 86. B9 ) Die Regula pastoralis scheint noch um die Jahrhundertwende in Freising nicht vorhanden gewesen zu sein, wurde aber etwa zwischen 8 0 0 — 8 2 0 gleich in 2 Abschriften hergestellt (Clm. 6277, B i s c h o f f N r . 29, Clm. 21525, ebd. N r . 30, S. 64, 90 f.). Der Anstoß zur Anfertigung dieser Abschriften kam durch die Bemühungen der Zeit Karls d. Gr. um Hebung der Klerikerbildung; Alchvine hatte in einem Brief an Arn von Salzburg das Studium der Regula pastoralis empfohlen (MG. Epp. 4 N r . 113 S. 166. 9 ff.), und eine Freisinger Verordnung über Klerikerbildung hatte ihr Studium angeordnet, MG. Capit. 1 S. 2 3 5 ; dazu H . L ö w e , Die karolingische Reichsgründung und der Südosten (1937) S. 127 f. eo) Das starke Hervortreten Gregors ist, wie schon aus geistesgeschichtlichen Gründen erhellt, kein Zufall der Überlieferungsgeschichte. Das im Text gewonnene Bild würde sich nicht ändern, wenn man von den nicht in Freising entstandenen, aber später zur Freisinger Bibliothek gehörigen Handschriften diejenigen heranzieht, die alt genug sind, um noch unter Arbeo der Freisinger Bibliothek einverleibt worden zu sein. Beweise dafür, daß dies der Fall war, sind zwar nicht vorhanden, und nur 5 von 7 dieser Handschriften 58
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zum Teil gewidmet waren. Hieronymus, der mit den Lebensbeschreibungen der ersten Mönchsheiligen im Abendlande für das orientalische Anadioretenideal geworben hatte — worin ihm das Antonius-Leben des Athanasius in der lateinischen Ubersetzung des Evagrius vorangegangen war 6 1 ) —, mußte der Dombibliothek eines Bistums, das aus einer Missionsgründung irisdien Stils hervorgegangen war und an der engen Verbindung von Kloster und Bistum festhielt, besonders wertvoll sein. Wohl in den letzten Jahren Arbeos wurde ein Band von Heiligenleben hergestellt (Nr. 20), der auch die hagiographischen Schriften des Hieronymus und Athanasius enthielt. Abgeschrieben wurden ferner Briefe und Schriften, in denen sich Hieronymus mit Fragen des anachoretischen Lebens auseinandersetzte 62 ) und, wie besonders im Brief an Paulinus, seiner Stellung zur weltlichen Bildung Ausdruck gab (Nr. 1, 9, 16 a, 18). Erst in den letzten Jahren Arbeos folgten von den exegetischen Werken die Kommentare zu den Propheten (Nr. 21) und zu Matthäus (Nr. 22), während eine seiner Ubersetzungen — vom Kommentar des Origenes über das Hohe Lied (Nr. 2) — in den Anfängen Arbeos von außen her nach Freising gebracht worden ist. Als Übersetzungswerk des Hieronymus galt ihm auch die angeblich von dem Kirchenvater aus dem Griechischen übersetzte und revidierte Kosmographie des Aethicus Ister, die tatsächlich ein Pseudonymes Werk Virgils von Salzburg war 63 ). Schließlich war einer der Beiträge des Hieronymus zur alttestamenttragen überhaupt den Freisinger Besitzvermerk des 12. Jhs. Aber der Eindruck von der vorwiegenden Wirksamkeit Gregors d. Gr. bestätigt sich auch hier: Von den 7 noch im 8. Jh. entstandenen Handschriften, die später in Freising waren, enthielten 3 Werke Gregors d. Gr. (Moralia II—V, VI—X, Homiliae in Evangelia; Clm. 6300, 6278, 6329, Bischoff S. 142 f., 140, 144 f.). Zwei weitere Handschriften bestätigen das starke Bedürfnis der Frühzeit nach Predigtliteratur: Clm. 6298 mit Homilien des Caesarius von Arles ( J . S c h l e c h t in der Corbinians-Festgabe S. 177 ff.; Bischoff S. 141 f.) und Clm. 6233, ebd. S. 136 f., dessen Inhalt zu einem reichlichen Drittel aus Predigten besteht. Von den beiden anderen Handschriften des 8. Jhs. hat Clm. 6402 (ebd. S. 149, vielleicht aus Verona) mit Arbeo keine unmittelbare Berührung, während die nur fragmentarisch erhaltenen Blätter (Clm. 29022, 6315, 29022 e, Β i s c h ο f f S. 151) mit den Historiae des Orosius und der Chronik Prospers die Verbindung zu Arbeos Orosius-Lektüre herstellen. Wohl erst nach Arbeos Zeit entstand Clm. 1086, Β i s c h ο f f S. 148. β1 ) Ober diese Werke und ihre Bedeutung für die hagiographische Produktion Arbeos vgl. unten S. 97 ff. 62 )
Ep. 2, ad Theodosium et ceteros anadioretas, ed. J . Η i 1 b e r g , Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 54, 1910, S. 10 ff., in Clm. 6299; ep. 14 ad Heliodorum de laude vitae solitariae ebd. S. 44 ff., im Clm. 6299; ep. 22 ad Eustodiium de custodia virginitatis ebd. S. 143, in Clm. 6229, 6299; ep. 52 ad Nepotianum de vita clericorum et monadiorum ebd. S. 413 ff., in Clm. 6299, 6434; ep. 53 ad Paulinum de studio scripturarum ebd. S. 442, in Clm. 6299, 6434; ep. 64 ad Fabiolam de veste sacerdotali ebd. S. 586 ff., in Clm. 6299; ep. 125 ad Rusticum monachum ebd. 56, 1918, S. 118 f., in Clm. 6299; dazu G r ü t z m a c h e r in Haucks Realenzyklopädie f. protest. Theol. u. Kirche 8, 1900, S. 50. e 3 ) Darüber H . L ö w e , Ein literarischer Widersacher des Bonifatius. Virgil von Salzburg und die Kosmographie des Aethicus Ister, Abh. Akad. Mainz 1951 Nr. 11. [Dieser Identifizierung widersprach F. B r u n h ö l z l , Zur Kosmographie des Aethicus, Festschr. f. M. Spindler (1969) S. 75—89; ich halte bis auf weiteres an meiner Auffassung fest.]
L ö w e , Cassiodor
7
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lichen Philologie, der Liber quaestionum hebraicarum (Nr. 9), in Freising vorhanden. Ihm verdankte er die Möglichkeit, seinen Namen Arbeo nicht nur als Heres, sondern auch als Cyrinus in seine Schriften einzuführen 6 4 ). Kein anderer Kirchenvater ist in Freising so oft gelesen worden wie Gregor und Hieronymus. Damit wird auch hier deutlich, in welchem Maße für das frühere Mittelalter Gregor der Große Augustin in den Hintergrund gedrängt hat. Augustins Werk „De ci vi täte Dei" (Nr. 17) wurde in Freising zwar von Schreibkräften, die schon unter Arbeo wirkten, aber vielleicht erst nach seinem Tode gegen Ende des 8. Jahrhunderts abgeschrieben65). Wenn überhaupt, ist also dieses geschichtsphilosophische Werk und damit auch Augustins Auffassung der paulinischen Gnadenlehre erst sehr spät in Arbeos Gesichtskreis getreten und hat wohl keine tiefere Bedeutung mehr für ihn zu gewinnen vermocht. Nur ein Abglanz der geschichtsphilosophischen Konzeption des großen Afrikaners ist zu Arbeo vorgedrungen: die Historiae adversum paganos des Orosius sind noch zu Lebzeiten Arbeos der Freisinger Bibliothek eingefügt worden (Nr. 12). Sie konnten ihm die Wertschätzung der römischen Friedensordnung als providentieller Vorbereitung der Menschwerdung Christi vermitteln, gaben aber auch einen Eindruck von der Stärke christlicher Polemik gegen das heidnische Rom. Auch wenn man bedenkt, daß die heute dem Ambrosiaster zugewiesenen „Quaestiones veteris et novi testamenti" β5α ) dem Freising Arbeos als Werk Augustins galten (Nr. 14), bleibt die Tatsache unbestritten, daß die Beschäftigung mit Augustin in Freising keine überragende Rolle spielte. Mehr als er galt selbst Isidor von Sevilla (Nr. 2, 18, 23), der erste rein traditionalistische Theologe im Ubergang vom Altertum zum Mittelalter, dessen „Sententiae" (Nr. 23) ihrerseits nur Lehren Gregors des Großen unselbständig wiederholten. Alles in allem gesehen zeichnete sich im Aufbau der Freisinger Bibliothek eine aufsteigende Linie ab; hier wirkte ein Geist, der sich nicht mit der Anfertigung biblischer und liturgischer Handschriften (Nr. 1, 15, 19), so nötig diese für gottesdienstliche Zwecke waren, begnügte, der aber auch über die „zeitgemäße" Lektüre Gregors und Isidors zurückging zu den exegetischen und philologischen Schriften des Hieronymus. Der Geist dieses Humanisten unter den Kirchenvätern, der von so tiefer Liebe zur klassischen Literatur erfüllt war und trotz aller Gewissensskrupel vom Zitieren der heidnischen Dichter nicht lassen konnte, der aber mit dem gleichen leidenschaftlichen Eifer dem asketischen Ideal diente, kann auf Arbeo nicht ohne Wirkung geblieben sein. Überdies mußte die gegenständliche, mehr philologische als spekulative Gelehrsamkeit des Hieronymus dem Fassungsvermögen Arbeos näher liegen als der philosophische Gedankenflug Augustins. In der Regel Benedikts lebend, und damit β4 e5
) Κ r u s c h S. 6 Anm. 4. ) Bereits unter Arbeos Nachfolger A t t o ( 7 8 3 — 8 1 1 ) wurde an einer weiteren Abschrift des Werkes (Clm. 6 2 6 7 ) gearbeitet, die unter Hitto vollendet wurde; B i s c h o f f S. 89 N r . 26.
β5α
) Vgl. J . N i e d e r h u b e r . i n : Lexikon für Theol. und Kirdie 1 (1930) S. 347.
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in den Grundbegriffen der altrömischen Gemeinschaftsethik, die der Mönchsvater seinem Werke dienstbar gemacht hatte ®6), konnte Arbeo auch in der Begegnung mit den Werken Gregors etwas spüren von der Weisheit römischer Menschenführung, die der Mönchspapst Gregor noch in sich trug. In Hieronymus', des Ciceronianers, Werken aber mußte Arbeo eine erste Ahnung gewinnen von dem Wesen antiker literarischer Form. Bei aller Unvollkommenheit seiner stammelnden Latinität ist Arbeos Ringen um die Form jedenfalls unverkennbar. Auf dem Wege zu Hieronymus stand Arbeo nicht allein. Es war der vielseitige und blendende Geist Virgils von Salzburg, der ihm hier als Begleiter und als Führer zur Seite stand. Das läßt die Freisinger Bibliothek deutlich erkennen. Denn man wird Handschriften, in denen Salzburger Beziehungen zutage treten oder die nach irischen Vorlagen geschrieben sind, auf Anregungen Virgils zurückführen dürfen. Virgil hat sein Pseudonymes Werk, die heute sog. Kosmographie des Aethicus Ister (Nr. 13), dem Freisinger Bischof als ein Ubersetzungswerk des Kirchenvaters in die Hände gespielt 6 7 ); als solches ist es in Freising noch von der älteren Schreibergruppe unter Arbeo abgeschrieben worden. Die eigentliche Absicht dieses Werkes, das in den Formen der Parodie Kritik übte an den Angriffen des Bonifatius auf die Antipodenlehre Virgils und an der Richtung, die Bonifatius dem religiösen und kirchlichen Leben Baierns gegeben hatte, hat Arbeo nicht erkannt, obwohl er selbst als Anhänger des Bonifatius dem parodistischen Unternehmen Virgils mit als Zielscheibe gedient haben dürfte. Wurde Arbeo somit über den wahren Charakter der Kosmographie des Aethicus getäuscht, so wird begreiflich, daß Virgil zur besseren Tarnung seiner Absidit den Freisinger Bischof auch noch auf andere, edite Werke des Hieronymus hinwies. Das wird anzunehmen sein von einem Sammelband mit asketischen Schriften des Hieronymus (Nr. 9), dessen Schrift zu der des Aethicus-Codex manche Beziehungen aufweist und der einen Brief des Hieronymus enthält, auf den der angebliche Hieronymus der Aethicus-Kosmographie Bezug nahm. Noch deutlicher wird dies bei einem anderen Sammelband mit Briefen des Hieronymus, unter denen sich wieder der in der Kosmographie angezogene Brief an Paulinus befindet (Nr. 16 a) 6 8 ). Seine Schrift steht so stark „unter dem Einfluß insularer, ζ. T. sicher irischer Vorlagen", daß man wohl an Virgil als den Vermittler der Vorlagen denken darf, und dies gilt um so mehr, als in dem Band ein „insularer, wohl irischer Schreiber" als Korrektor wirkte.
) Η . S. Β r e c h t e r , St. Benedikt und die Antike, in: Benedictus. Der Vater des Abendlandes, 5 4 7 — 1 9 4 7 . Weihegabe der Erzabtei St. Ottilien, hrsg. von H . S. B r e c h t e r (1947) S. 139 ff. e7) Vgl. die oben Anm. 63 genannte Arbeit. « 9 ) Auf den Brief an Paulinus, N r . 53, C S E L . 54, S. 442 ff. (vgl. oben Anm. 62), wird Bezug genommen in der Kosmographie des Aethicus, ed. H . W u t t k e (1853) c. 58 S. 37, c. 66 S. 47. ββ
7»
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Aber auch sonst sind die Spuren Virgils in Freising zu erkennen. Er dürfte stehen hinter den nach insularer, wahrscheinlich irischer Vorlage geschriebenen Audaxexzerpten und dem irischen Ordo iudiciarius (16 b), die heute mit dem eben erwähnten Sammelband zusammengebunden sind. Mit dem AethicusCodex stehen schriftgeschichtlich in engerem Zusammenhang das Freisinger Exemplar des Orosius (Nr. 12) und ein Fragment des sog. Opus imperfectum in Matthaeum (Nr. 11), eines arianischen Werkes, das im Mittelalter fälschlich dem Johannes Chrysostomus zugeschrieben wurde und sich großer Beliebtheit erfreute 69). Beide Werke sind mit Wahrscheinlichkeit auch für die Salzburger Bibliothek Virgils anzusetzen 70). Da die Freisinger Abschrift des Opus imperfectum von einem Salzburger Schreiber korrigiert wurde, liegt — vorbehaltlich einer Überprüfung der Texte in den Handschriften — die Vermutung nahe, daß die Freisinger Uberlieferung aus der Salzburger schöpfte und daher von einem Salzburger Schreiber korrigiert wurde. Virgil ist es also gewesen, der das Interesse Arbeos an Hieronymus gefördert 71) und auch sonst zur Ausweitung des geistigen Gesichtskreises der Freisinger Bibliothek beigetragen hat; er hat Arbeo zu den Werken geführt, die ihn näher an den Höhepunkt der lateinischen Patristik und damit an die Antike überhaupt brachten: hierzu rechnet neben Hieronymus und Orosius gerade audi das Opus imperfectum. Trug doch dieses Werk eines Homöers, dem der Heilige Geist nicht Gott, sondern wie Ulfila minister fidelis Christi war 72), das Signum der Kämpfe um eine Häresie, die erwachsen war aus dem Bemühen, mit den Mitteln antiker Philosophie zu einer genaueren Definition und zum rationalen Verständnis christlicher Dogmen zu gelangen. Damit aber wurde in der Freisinger Bibliothek ein Geist mächtig, den sich einst der Arianismus der **) Grundlegend für die Oberlieferungsgeschichte dieses Werkes F. K a u f f m a n n , Zur Textgeschichte des Opus imperfectum in Matthaeum (1909). Ferner: Th. P a a s , Das opus imperfectum in Matthaeum, Diss, theol. Freiburg i. B. (1907); G. M o r i n , Quelques aperjus nouveaux sur l'opus imperfectum in Matthaeum, Revue Benedictine 37 (1925) S. 239 ff. [Μ. Μ e s 1 i η , Les Ariens d'Occident, Paris 1967, S. 150—182; M. S i m o n e t t i , N o t e sull'Opus imperfectum in Matthaeum, Studi Medievali 3. ser. 10,1 (1969) S. 117—200.] 70 ) N a d i freundlicher Mitteilung von B. B i s c h o f f ; es sind die Hss. Wien 1007 (Opus imperfectum) und Wien 366 (Orosius). 71 ) Dieses Urteil wird man aussprechen dürfen, auch wenn sich unter den heute noch erhaltenen Salzburger Handschriften nur ein Hieronymus-Codex befindet, der zur Bibliothek Virgils gehört haben könnte: Salzburg, Studienbibliothek V B. 18, Commentarius in Psalmos (nach B. Bischoff). 72 ) K a u f f m a n n S. 41; der Heilige Geist als minister Christi audi im Glaubensbekenntnis Ulfilas; vgl. dasselbe in dem Abdruck bei H . E. G i e s e c k e , Die Ostgermanen und der Arianismus (1939) S. 18. Irrig ist Gieseckes Interpretation der Pneumatologie Ulfilas. — Die Leugnung der Göttlichkeit des Hl. Geistes war die einzige Unterscheidungslehre zwischen Katholizismus und Arianismus, seit König Leovigild die katholische Christologie übernommen hatte (Gregor v. Tours, Historiae VI 18; G i e s e c k e S. 109). D a ß aber gerade Spuren der bei den arianischen Germanen vertretenen Pneumatologie im Bayern des 8. Jhs. noch zu finden waren, scheint sich aus der sog. Kosmographie des Aethicus Ister zu ergeben; vgl. darüber die oben Anm. 63 erwähnte Arbeit.
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Ostgermanen zu eigen gemacht und der eine frühe Stufe der Bajuwaren bestimmt hatte. Arbeo ist sich offensichtlich — wie viele mittelalterliche Leser dieses Buches — über seinen häretischen Charakter nicht klargeworden, oder er hat über ihn hinweggesehen. Allein eine genaue Untersuchung der Uberlieferungsgeschichte dieses Werkes aber wird erweisen können, ob die Exemplare Arbeos und Virgils unmittelbar auf die arianische Frühstufe Baierns 7S ) zurückgingen oder ob ihre Vorlage aus Italien — vielleicht aus Bobbio 7 4 ) — nach Baiern gebracht wurde. Nicht nur Bereicherung, sondern auch innere Spannung trug die Begegnung mit Virgil in die geistige Welt, die Arbeo sich in Freising schuf. Wenn Virgil den Freisinger Bischof zu den asketischen Schriften des Hieronymus führte, dann eröffnete er dem in der Schule Benedikts und Gregors herangewachsenen Arbeo den Zugang zu dem von Hieronymus vertretenen orientalischen Anachoretentum, das in einem viel höheren Grade als das Mönchtum Benedikts getragen war von einer Haltung der Weltflucht und strengster Askese. Das irische Klosterwesen 7 5 ), aus dem Virgil hervorgegangen war, hatte mit seinem, 73
) Die Ablehnung einer arianisdien Frühstufe des Christentums der Bajuwaren macht sich R. B a u e r r e i ß , Kirchengeschichte Bayerns 1 (1949) S. 23 ff., etwas zu leicht. Die Feststellung S. 27, die Quellen des 8. Jhs. gäben nidit das Bild „eines völlig der Häresie angehörenden Volkes", trifft ins Leere, da eine solche Ansicht wohl kaum nodi vertreten wird. Nachwirkungen des Arianismus sind aber um so weniger von der Hand zu weisen, als der von Bauerreiß selbst zitierte Brief Gregors I I I . vom Jahre 738 (ed. Tangl Nr. 44 S. 71) von der doctrina . . . falsorum sacerdotum hereticorum sive adulteros. .. spricht. Mögen schließlich die sprachgeschichtlichen Zeugnisse für einen Arianismus der Bajuwaren nidit alle stichhaltig sein, so scheint die besonders von E. K r a n z m a y e r , Die Namen der Wochentage in den Mundarten von Bayern und Österreich (1929) vertretene Herleitung des baierisdien Erchtag aus „Areos hemera" auf dem Weg über den gotischen Arianismus nicht erschüttert zu sein; die etwas künstliche Zwischenstufe mit der Deutung auf Arius kann ohne Schaden für diese These fallen. Wie ein griechischer Wochentagsname in die bajuwarisdie Mundart eingedrungen sein sollte, wenn nicht auf dem Weg über eine arianische Mission, müßte erst näher erforscht werden, ehe man berechtigt ist, Kranzmayers These abzulehnen. Ferner: Ubersehen hat Bauerreiß die Forschungen von W. Β a e t k e , Das Heilige im Germanischen (1942), der nachgewiesen hat, daß von den zwei sich ergänzenden germanischen Begriffen für das Heilige sich bei den Angelsachsen „heilig", im Gotischen Ulfilas „weih" durchsetzte, und der das Fortschreiten der angelsächsischen Mission in Süddeutschland an dem Grade verfolgte, in dem „weih" von „heilig" verdrängt wurde. Hier liegt ein weiteres Argument für eine arianische Frühstufe, das durch die Ausführungen von Bauerreiß nidit erschüttert ist. Wenn schließlich Bauerreiß S. 25 sich auf Walahfrid Strabos Liber de exordiis et incrementis c. 7 beruft, so zitiert er nur dessen Satz über die des Griechischen und Lateinischen kundigen Prediger, von denen die im römischen Heer dienenden Germanen viele nützliche Dinge lernten, und unbegreiflich bleibt, wieso er in diesen Predigern a u c h die irischen und englischen Mönche sehen kann. Nicht zitiert aber wird der Satz, multa nostros... utilia didicisse, praecipueque a Gothis, qui et Getae, cum eo tempore quo ad fidem Christi licet non recto ittnere perducti sunt, in Grecorum provinciis commorantes nostrum i. e. theotiscum sermonem habuerint et ut historiae testantur postmodum studiosi illius gentis divinos libros in suae locutionis proprietatem transtulerint quorum adhuc monimenta apud nonnullos habentur. Daraus geht also hervor, daß die Germanen, bzw. nostri, also die ζ. Z. Walahfrids deutsch sprechenden Stämme, nach Auffassung des Reichenauer Abtes ihre griechisch-christlichen
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die Benediktinerregel weit übertreffenden, asketischen Rigorismus seine historischen Ursprünge über Südgallien und Johannes Cassianus gerade bei diesem vorbenediktinischen Anachoretentum des Orients gefunden. Der Konflikt zwischen asketischer Sehnsucht nach Flucht aus dieser Welt und der klar erkannten Pflicht zum Wirken in der Welt, den der Benediktiner Gregor der Große so vorbildlich durchgekämpft hatte 7 6 ), als er seine persönliche Sehnsucht der Pflicht zur Annahme des Papsttums opferte, mußte durch das Eingreifen des orientalischen und irischen Rigorismus bei Arbeo besondere Schärfe gewinnen, zumal dieser anders als Gregor nicht im Untergang, sondern am Neubeginn einer Welt stand, der er mit allen Fasern seines noch ganz naturhaften Wesens verbunden war. Hier ist der Punkt, wo die Begegnung mit Virgil von Salzburg innerste religiöse Bedeutung für Arbeo gewann. Das verdient um so mehr festgehalten zu werden, als die Stellung Arbeos zu den großen Fragen des kirchlichen Lebens nidit so sehr durdi Virgil als durch seinen großen Gegner, den Angelsachsen Bonifatius, bestimmt wurde. Die von Bonifatius vollzogene Organisation der baierischen Kirche 77 ) hat in Arbeo die Uberzeugung von der
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7β ) ")
Lehnworte besonders von den Goten übernahmen. Das mag eine Konstruktion Walahfrids sein, aber war es eine solche, dann darf audi nicht sein Satz über die des Griechischen und Lateinischen kundigen Prediger als echtes Zeugnis verwertet werden. Ganz unzulässig aber ist es, beide Äußerungen zu trennen. Von besonderer Wichtigkeit ist der Satz, daß monimenta der gotischen Bibel noch apud nonnullos habentur. Dieses Zeugnis dürfte doch auch für die süddeutsche Umwelt Walahfrids Gültigkeit haben, besonders angesichts des Interesses, das man in Salzburg für das Gotisdie hatte. (Über die gotischen Bruchstücke in der auf Anordnung Arns von Salzburg hergestellten Handschrift Wien 795 vgl. W. S t r e i t b e r g , Die gotische Bibel 1 (1919) S. X X X , S. 475 ff.). So unsicher dabei vieles im einzelnen heute nodi bleiben muß, so unberechtigt erscheint es, eine arianisdie Frühstufe in der Bekehrungsgeschichte der Bajuwaren abzuleugnen. Vgl. jetzt auch K. D. S c h m i d t , Germanisier Glaube und Christentum (1948) S. 99 ff. An Bobbio wäre deshalb zu denken, weil durch dieses Kloster die Hauptmasse des uns erhaltenen gotisch-arianischen Materials erhalten ist ( G i e s e c k e S. 42, 46 f.; G. H . H ö r l e , Frühmittelalterliche Mönchs- und Klerikerbildung in Italien, 1914, S. 11). Von dort aus führten Columban und die Iren unter dem Sdiutz der Königin Theodelinde den literarischen Kampf gegen den langobardischen Arianismus (Vita Columbani I 3, SS. rer. Merov. 4 S. 106 f.). Es wäre denkbar, daß man dort auch das Opus imperfectum aufbewahrt hätte. Jedenfalls ist dieses Werk im 8. Jh. in Italien vorhanden gewesen, da es Paulus Diaconus für das Homiliarium benutzte, das er auf Befehl Karls d. Gr. zusammenstellte; vgl. K a u f f m a n n S. 8; G. M o r i n , Les sources non identifies de l'hom61iaire de Paul Diacre, Rev. Binedictine 15 (1898) S. 400 ff. Eine endgültige Klärung des Problems wird erst möglich sein, wenn die Uberlieferungsgesdiichte des Opus imperfectum über die von Kauffmann gemachten Ansätze hinaus aufgehellt sein wird. Beachtenswert ist jedenfalls, daß die Handschriftenklasse I ( K a u f f m a n n S. 8 ff.), der die Freisinger und Salzburger Überlieferung angehören — nach den modernen Bibliotheksstandorten zu urteilen —, den Schwerpunkt ihrer Überlieferung in Süddeutschland (6 von 10 Handschriften) und in Italien (2 Handschriften) hat, während sich je 1 Exemplar in Köln und in Cambridge befindet. J. R y a n , Irish Monasticism, 1931. Die hier im Register s. v. Jerome angegebenen Stellen beweisen, wie groß die Bedeutung des Kirchenvaters für das irische Mönchtum war. E. C a s ρ a r , Geschichte des Papsttums 2, 1933, S. 378 ff. Darüber grundlegend C a s p a r 2, S. 692 ff., 702 ff., 710 ff.
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Notwendigkeit der Bindung allen kirchlichen Lebens an das Papsttum gewaltig gestärkt 78 ); zu ihren Auswirkungen aber gehörte die engere Verknüpfung der neuen Bistümer mit der fränkischen Reichskirche, die die Grundlage der politischen Haltung Arbeos 79) wie der Virgils von Salzburg 80) wurde. Aber, mag auch Bonifatius nachweislich zweimal in Freising gewesen sein 81), eine engere persönliche Berührung zwischen ihm und Arbeo dürfte nicht bestanden haben, da dieser erst kurz vor dem Tode des angelsächsischen Missionars aus Italien nach Freising zurückgekehrt ist 82). H a t Bonifatius der kirchlichen und politischen Tätigkeit Arbeos den Rahmen gesteckt, indem er der kirchlichen Entwicklung in Baiern die Richtung wies, so hat Virgil von Salzburg ganz unmittelbar und persönlich auf Bildung und Religiosität seines Freisinger Nachbarn eingewirkt.
Religiosität
und
Charakter
Die Kenntnis der theologischen Haltung eines frühmittelalterlichen Schriftstellers erschließt noch keinesfalls den Zugang zum persönlichen Bereich seiner Religiosität. Beruht doch die theologische Erudition dieses Zeitalters auf den unselbständig übernommenen, zum Teil vielleicht sogar nicht ganz verstandenen Schöpfungen einer vergangenen Welt, deren Bildung und Denkmethoden erst in langsamer, mühevoller Arbeit wiedergewonnen werden mußten. Arbeo ist zwar nicht als gelehrter Theologe hervorgetreten, und seine Werke, der hagiographischen Gattung zugehörig, standen schon unmittelbar im Bereich der frühmittelalterlichen Volksfrömmigkeit. Es scheint aber auf den ersten Blick unmöglich zu sein, an Werke dieser Art die Frage nach der Persönlichkeit des Verfassers zu stellen. Denn das typisierende Element in der mittelalterlichen Geistigkeit war in ihnen besonders stark ausgeprägt. Der Hagiograph war durch die Tatsache gebunden, daß der literarische Zweck eines Heiligenlebens mehr ein erbaulicher als ein historischer war. Nicht auf die individuellen Lebensumstände und Charakterzüge des Heiligen, sondern auf die Verwirklichung der überindividuellen, typischen Idealgestalt des Heiligen mußte es
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) D a ß es sidi bei den von Arbeo erwähnten Romreisen Corbinians nicht, wie die bisherige Forschung annahm, um eine aus der bonifatianisch geprägten Anschauung Arbeos erwachsene Fiktion handelt, ist an anderer Stelle gezeigt worden; vgl. H . L ö w e , Corbinians Romreisen, Zs. f. bayer. Landesgesch. 16 (1951) S. 409 ff. 7 ·) Ober die politische Rolle Arbeos vgl. H. L ö w e , Die karolingisdie Reichsgründung und der Südosten (1937) S. 20 ff., 41 ff.; [Fr. P r i n z , Arbeo von Freising und die Agilofinger, Zs. f. bayer. Landesgesch. 29 (1966) S. 580 ff.]. eo ) Gegen Η. Κ r a b b ο , MIÖG. 24, 1903, S. 12, vgl. L ö w e S. 16, Anm. 29. 81 ) Vgl. dazu Vita Willibaldi, MG. SS. 15 S. 104, und Β i 11 e r a u f 1 Nr. 234 a, S. 216. 82 ) Vgl. oben Anm. 43.
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ihm ankommen 83). Wo Hagiographen sich durch Wirklichkeitssinn und Tatsachenkenntnis zu einer wirklich historischen Schilderung leiten ließen, deren Persönlichkeitsbild dann vielleicht dem strengen Ideal nicht mehr ganz entsprach, hat man oft später Überarbeitungen vorgenommen, die die typischen Züge des Heiligenlebens wieder in den Vordergrund rückten. Es gibt einen Schatz typischer Legendenmotive, die in allen Jahrhunderten der christlichen Hagiographie wiederkehren und die diese zum großen Teil mit der nichtchristlichen Legendenliteratur der Antike gemeinsam hat 8 4 ). Im engsten Zusammenhang mit der hellenistischen Unterhaltungsliteratur erwachsen, hat die mittelalterliche Legende 85) und haben die Exempla-Sammlungen 86) ihren erbaulichen Zweck durch immer erneute Anleihen aus diesem Schatz von Wandermotiven zu erreichen gesucht. Damit trat unter Umständen abermals ein individuelles Element in die überpersönliche Starrheit des Heiligenlebens ein. Anders aber als die gelegentlichen realen, historischen Elemente der Hagiographie, die eine individuelle Charakteristik des Heiligen ermöglichen, kennzeichnen solche erbaulich unterhaltenden Einlagen, falls sie nicht im Typischen bleiben, sondern den hagiographischen Kanon durchbrechen, nicht den Heiligen, sondern den Hagiographen. Sucht daher die historische Kritik die typischen Elemente der Hagiographie deutlicher zu erfassen, um über sie hinweg zur Erkenntnis des individuellen Gegenstandes vorzudringen 87), so wird der Forscher, der ein Charakterbild des Hagiographen gewinnen will, in erster Linie nach d e n Zügen seiner Werke fragen, die mit dem typischen Heiligenbild n i c h t vereinbar sind. Selbst wenn sie aus der historischen Gestalt des einzelnen Heiligen herzuleiten sind, ist es doch beachtlich, daß der Hagiograph 8S
) Dies betonte W. von den S t e i n e n , Heilige als Hagiographen, H Z . 143 (1931) S. 229 ff. Für den Versuch, in Arbeos hagiographischen Werken die Individualität des Verfassers herauszuschälen, werden im folgenden nur die Vita Corb. und die Vita Haimhr. zugrunde gelegt. Damit soll keine Stellung genommen werden zu dem von R. B a u e r r e i ß , StuM. 51 (1933) S. 37 ff., versuchten Nachweis, daß auch die Vita SS. Marini et Aniani ein Werk Arbeos sei (dagegen B a e s e c k e , Arbeo S. 110 f.). D a dieses Werk nach B a u e r r e i ß allenfalls als spätere Überarbeitung eines Arbeo-Werkes anzusehen wäre und da an der Überarbeitung der Vit. Corb. (vgl. dazu unten S. 105 f.) klar wird, wie stark solche Überarbeitung den individuellen Charakter des Originals verwischte, müßte die Vita Marini et Aniani hier außer Betracht bleiben, selbst wenn die These von B a u e r r e i ß besser fundiert wäre. 84 ) R. R e i t z e n s t e i n , Hellenistische Wundererzählungen (1906); F. S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke im Mittelalter (1927) S. 102 f.; über das Vorhandensein der ersten Möndisbiographien in Freising vgl. oben S. 89. β5 ) H. D e l e h a y e , Les legendes hagiographiques, 1906; H . G ü n t e r , LegendenStudien (1906); d e r s . , Die christliche Legende des Abendlandes (1910). ) G. F r e η k e η , Die Exempla des Jakob von Vitry. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählungsliteratur des Mittelalters (1914), der jedodi die grundlegende Bedeutung der Dialogi Gregors d. Gr. nicht erkannte und insofern durch J. Th. W e 11 e r , L'exemplum dans la literature religieuse et didactique du moyen age (1927), überholt ist; vgl. E. C a s ρ a r , Geschichte des Papsttums 2, S. 394, Anm. 6. 87 ) So verfuhr H . S c h a e d e r , Geschichte und Legende im Werk der Slawenmissionare Konstantin und Method, HZ. 152 (1935) S. 229 ff. 8e
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sie nicht in idealisierender Absicht unterschlug, sondern sie positiv bewertete, indem er sie in seine Darstellung aufnahm. Wandlungen, die audi das Heiligenideal in gewissem Umfang erlebt hat, werden bei solchen Anlässen deutlich werden. Arbeos Heiligenideal war bestimmt durch den Geist Gregors und Benedikts einerseits, durch das bei Hieronymus geschilderte und ihm von Virgil nahegebrachte orientalische Anachoretentum der Spätantike andererseits. Sowohl in den Dialogen Gregors wie in den Mönchsviten des Hieronymus aber fand er den reichen Schatz legendärer Wandermotive wie das Erbe der Unterhaltungsliteratur. Dem hier gebotenen Anreiz zur unterhaltsamen erbaulichen Erzählung aber konnte er um so leichter nachgeben, als er in seiner Hagiographie durch historische Quellen nicht allzusehr gebunden war. Für seine Vita Haimhrammi standen ihm wirkliche Quellen überhaupt nicht mehr zur Verfügung 8 8 ), während er in der Darstellung Corbinians nur für dessen baierisdien Lebensabschnitt auf Augenzeugenberichte zurüdkgreifen konnte 8 9 ). So ist es kein Wunder, daß sich die mündliche legendäre Überlieferung der beiden Heiligen bemächtigt und ihr Bild mit manchen typischen Legendenmotiven ausgestattet hatte. Die Darstellung Arbeos wurde hier nur der schriftliche Niederschlag älterer Erzählungen, die einen entfernten Nachklang von Ereignissen aus dem Leben der Heiligen oder der Geschichte ihres Kultes enthielten. Ein typisches Legendenmotiv, das bei Arbeo gleich in einigen Variationen auftaucht, ist die wunderbare Bestrafung von Dieben, die sich am Eigentum des Heiligen vergingen, oder von sonstigen Widersachern, den Mördern und, in den Märtyrerakten, den Henkern der Heiligen 9 0 ). Andererseits tritt der Heilige für Verbrecher, die seine Hilfe anrufen, mit seiner Wunderkraft ein und weiß sie, die selbst schon am Galgen hängen, vor dem Tode zu bewahren. Dieses Motiv der Vita Corbiniani 9 1 ), das schon in den Wundererzählungen Gregors von Tours angeklungen war, hat im hohen Mittelalter, wie die meisten dieser Legendenmotive, Eingang in die Marienlegende gefunden, die das große Sammelbecken der Individuallegenden wurde. Die wunderbare Heilkraft, die noch von der Leiche des Heiligen ausgeht 9 2 ), die überirdischen Lichterscheinungen 9 3 ) — seit Gregor dem Großen eins der gewöhnlichsten Legendenwunder — , die Zustimmung, die der tote Heilige durch Wunder zu der Translation
) Darüber Κ r u s c h in der Einleitung zur Schulausgabe der Vita Haimhrammi S. 10, 12. ) Vgl. dazu Κ r u s c h , Schulausgabe, S. 135. 9 °) V. Corb. c. 31 S . 2 2 3 ; V. Haimhr. c. 17 S. 50 f., c. 2 6 — 2 8 S. 64 ff.; dazu G ü n t e r , Christliche Legende, S. 148. M) V. Corb. c. 10—13 S. 197 ff.; dazu G ü n t e r S. 39, 100 f.; Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum c. 72, Gloria confessorum c. 99. β2) V. Corb. c. 37 S. 2 2 6 ; G ü n t e r S. 99. 88 89
M
) V. Corb. c. 27, 39 S. 219, 2 2 7 ; G ü n t e r 10. Jh. (1908) S. 195.
S . 9 5 f . ; L. Z o e p f ,
Das Heiligenleben im
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seines Leichnams ausdrückt 94 ), der gute Erhaltungszustand der Leiche selbst, die gegen Verwesungserscheinungen gefeit ist 95 ), alles das sind gängige Legendenmotive, die zu allen Zeiten und in ganz verschiedenen Gegenden wiederkehren. Dazu gehört auch die Erweckung eines Quells, die nach dem biblischen Vorbild des Moses einen sehr beliebten Einzelzug darstellt, der aber nicht erst durch Arbeo auf Corbinian übertragen worden zu sein scheint, sondern schon vor ihm in die Freisinger Lokaltradition eingegangen sein wird. Noch im 9. Jahrhundert zeigte man sich bei Freising den Quell, den der heilige Corbinian zum Sprudeln gebracht hatte 9 6 ). Der Geist des Wunderglaubens, den das Mittelalter von der ausgehenden Antike übernahm, kam hier ungebrochen zum Ausdruck. Es war aber bei allem Zurücktreten des rationalen Denkens der Geist einer Welt, die den Einzelmenschen so hoch bewertete, daß sie es für selbstverständlich hielt, wenn die göttliche Allmacht seinetwegen unmittelbar in den Weltzusammenhang eingriff. Von den Grenzen freilich, die andere Schriftsteller des frühen Mittelalters dem wundergläubigen Enthusiasmus gesetzt wissen wollten 97), hat Arbeo nichts gewußt. In den Wundererzählungen kam das erbaulich unterhaltende Element der Hagiographie zu voller Auswirkung. Als gar nicht ungeschickter Erzähler berichtete Arbeo die Reiseabenteuer Corbinians und in der Vita Haimhrammi das Erlebnis eines Bauern aus der Regensburger Gegend, der von Räubern bis zu einem den Sachsen benachbarten Gau Thüringens verschleppt wurde und mit der Hilfe des Heiligen glücklich in die Heimat zurückgelangte 98). Ereignisse, bei denen zweifellos ein historischer Kern anzunehmen ist, erhielten hier eine durchaus novellistische Darstellung. Es sind Erzählungen aus dem Milieu der Dienerschaft, die Corbinian auf seinen Reisen begleitete; sie erzählten etwa von dem Abenteuer des Ansaricus, der schwimmend einen Fisch für die Tafel Corbinians tötete und dann mit einigen Fischern, den rechtmäßigen Eigentümern des Fischgrundes, in handgreifliche Auseinandersetzungen über seine Beute geriet 99 ), oder sie berichteten von den Pferdediebstählen, deren Opfer Corbinian in Italien wurde 10°). Hier stand die Freude am abenteuerlichen Geschehen gelegentlich noch über der religiösen und moralischen Nutzanwendung, die nur recht äußerlich der Erzählung angehängt wurde. Arbeo besaß offensichtlich eine Aufgeschlossenheit für die Dinge des alltäglichen Lebens, die ihn zum anschaulichen Erzähler machte. B4
) V. Corb. c. 43 S. 231; G ü n t e r S. 102. ) V. Corb. c. 35 S. 225. ββ ) V. Corb. c. 28 S. 219 f.; G ü n t e r S. 47, 119, 186; dazu das Carmen de Timone aus dem 9. Jh., MG. Poet. lat. 2, S. 120 ff.; dazu K r u s c h , Schulausgabe der V. Corb., S. 220 Anm. 4; zum Carmen Μ a η i t i u s , Geschidite der lat. Literatur des Mittelalters 1 (1911) S. 598 f. Ober das Quellwunder als Legendenmotiv Ζ ο e ρ f S. 190ff . • 7 ) Vgl. etwa Z o e p f , Das Heiligenleben im 10. Jh., S. 181 ff. Über eine angebliche Zurückhaltung Arbeos gegenüber dem Wunder vgl. B a e s e c k e , Arbeo, S. 104 f. β8 ) V. Haimhrammi c. 37 ff., S. 84 ff. M ) V. Corbiniani c. 18 S. 207 ff. 10 °) V. Corbiniani c. 16 S. 205 f.; c. 21, 22 S. 211 ff. β5
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Vermittelt schon der Bildungsgang Arbeos den Eindruck einer starken Persönlichkeit von bedeutendem Selbstbewußtsein und eigenwilliger Zielstrebigkeit, so ergibt sich das gleiche Bild aus der Art, wie er in die Lebensbeschreibungen Corbinians und Haimhramms sein eigenes Schicksal und seine Wirksamkeit im Dienste der Heiligen und seiner Kirche einzuflechten wußte. Wir erfahren Einzelheiten aus seiner Jugend in Tirol 1 0 1 ) und von seinen Verdiensten um den Kult der beiden Heiligen 102 ). Vollends die Bescheidenheit, mit der Arbeo im Prolog der Vita Corbiniani von seinem Werk sprach, war nur ein üblicher literarischer Gemeinplatz und tatsächlich nichts als der verbrämende Ausdruck einer tiefen Uberzeugung vom eigenen Wert 1 0 3 ). Um so auffallender ist es, daß trotz der ausgeprägten Persönlichkeit des Verfassers seine Werke nichts an Spuren dessen enthalten, was man gemeinhin im frühen Mittelalter unter germanischer Religiosität versteht. Bei den anderen germanischen Völkern erhielt zu dieser Zeit die christliche Frömmigkeit ihre besondere Prägung durch den germanischen Gefolgschaftsgedanken und die aus ihm erwachsene Form der Petrusverehrung, die dem päpstlichen Primat eine ganz persönliche und der heimischen Vorstellungswelt angepaßte Formulierung gab 104 ). Arbeo hegte eine tiefe Verehrung für den Papst als censor mundi und für Petrus als princeps apostolorum·, aber die persönlichen germanischen Töne, die etwa in dem gerade in einer Freisinger Handschrift des 9. Jahrhunderts überlieferten Petruslied 105 ) laut wurden, hat er in seinen Schriften nicht gefunden l o e ). Daß die mittelalterliche Heiligenverehrung trotz ihrer germanischen Formen auf römisch-gregorianische Wurzeln zurückging 107 ), wird gerade bei Arbeo deutlich, der den germanischen Ideen der Gefolgschaft und des mundeburdium hier weniger Raum gab. Die aus solchen germanischen Auffassungen erwachsene starke Betonung des altchristlichen und besonders mönchischen Gedankens der militia Christi, der für die Frömmigkeit nicht nur Alchvines 1 0 8 ) 101) 102) 103) 104) 105) 1M)
107) 108)
V . Corb. c. 40 S. 2 2 7 f . ; c. 3 0 S. 222. V . Corb. c. 41 ff. S. 2 2 9 ff. V . Corb. Prolog, S. 189. Th. Ζ w ö 1 f e r , St. Peter, Apostelfürst und Himmelspförtner ( 1 9 2 9 ) S. 21 ff.; J . Η a 1 l e r , Das Papsttum 1 (1950) S. 373 ff. O. U r s p r u n g , Freisings mittelalterliche Musikgeschichte, in: Corbiniansfestgabe, S. 2 4 7 ff.; Β i s c h ο f f S. 2 9 f., 1 2 0 f. In der V. Haimhrammi c. 15 S. 4 7 f. legt Arbeo dem Haimhramm folgende W o r t e in den M u n d : Ad Romam me iturum promisi, limina supplex quaerendi apostolorum principis Petri, cuius ecclesiae euangelica auctoritate fundata esse dinoscitur; cuius sub mundi thalamo censorem adesse dubium non est, qui Deo augtori Petri successit in honorem, apostolicus vir et sanctissimus, tenet primatum, in sacris constitutus ordinibus. Darin liegt ebenso wie in dem häufig gebrauchten princeps apostolorum nichts spezifisch G e r manisches, nichts, was nicht bereits in der Spätantike hätte gesagt werden können. So C a s p a r 2, S. 4 0 0 A n m . 1 gegen Z w ö l f e r . Der Gedanke der militia Christi ist in der V. Haimhrammi an das M a r t y r i u m gebunden (c. 8 S. 38, c. 1 2 S. 43, c. 13 S. 45, c. 18 S. 53) und klingt in der V. Corbiniani c. 21 S. 2 1 1 nur gelegentlich a n ; er entbehrt bei A r b e o ganz der persönlichen Ausgestaltung in bildhaften Wendungen und seiner Ausdehnung auf das ganze Leben, die f ü r Alchvine so
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charakteristisch war, hat bei Arbeo einen gleich starken Widerhall nicht gefunden; auch seine Heiligen waren milites Christi, doch besaß dieser Begriff für Arbeo längst nicht dieselbe zentrale Bedeutung wie für Alchvine, der sein ganzes Leben als einen Kriegsdienst für Christus auffaßte. Arbeo verharrte in der Religiosität des Wunderglaubens, der guten Werke und des Fegefeuers, die Gregor der Große dem Mittelalter hinterlassen hatte 109 ); das Zurücktreten der germanischen Nuance, die sich sonst im frühen Mittelalter dieser Religiosität aufgeprägt hatte, läßt vielleicht darauf schließen, daß die Tiefenschichten des baierischen Christentums im 8. Jahrhundert nicht so sehr durch die erst spät wirkende angelsächsische Mission bestimmt wurden, sondern durch die älteren Einflüsse des provinzialrömischen Christentums und die ständige Verbindung mit den Kirchen Italiens. Arbeos Schilderung vom Martyrium des heiligen Haimhramm 110), die an grauenhafter Realistik schwer zu überbieten sein dürfte, ist ein Zeugnis für die sittliche Verrohung der Merowingerzeit. Sie steht aber im Einklang mit vielen orientalischen Legenden der Spätantike, die sich in der Schilderung grausamster Martern gegenseitig überboten 1 U ). Spätantike und merowingisdie Vorlagen dieser Art dürften angesichts des Fehlens echter Quellen die Phantasie Arbeos zu seiner Darstellung der Foltern Haimhramms beflügelt haben, und man mag als ein Zeichen der seelischen Spannweite dieser Zeit nehmen, daß er menschliche Brutalität und Grausamkeit in einem solchen Maße sich zu vergegenwärtigen verstand. Andererseits aber hat Arbeo die mit Athanasius einsetzenden Geschichten von Dämonenkämpfen der ersten Mönchsheiligen 112), die später ein beliebter Gegenstand der Malerei wurden, nicht übernommen; es ist dies vielleicht ein Zeichen dafür, daß ihm die für solche Erzählungen erforderliche
loe
) ) m ) 110
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)
charakteristisch sind; vgl. L ö w e , Karolingisdie Reichsgriindung, S. 93 ff.; auch bei Aldhelm tritt dieser Gedanke viel stärker hervor: De virginitate LX, Auct. ant. 15, S. 322 Z. 8 ff., 22 ff.; vgl. ebd. den Index verborum S. 647 s. v. miles, militia etc. Der Gedanke ist an sich spätantik und besonders mönchisch, daher besonders von der mönchisch geleiteten irischen Kirche aufgenommen und durch sie den Angelsachsen vermittelt; vgl. daher die Zusammenstellung der Termini athleta Christi, miles Christi, commilitones aus der Historia Lausiaca, Athanasius, Hieronymus, Cassian, Sulpicius Severus, Adamnan bei R y a n , Irish monasticism, S. 196 f.; ferner: S. Benedict! Regula Monachorum, ed. B. L i n d e r b a u e r (1922) c. 1 S. 38; A. H a r n a c k , Militia Christi (1905); Ζ w ö 1 f e r S. 10 f. C a s p a r 2, S. 340 ff., 401, gegen S c h n e i d e r , Rom und Romgedanke, S. 100 f. V. Haimhrammi c. 16—18 S. 48 ff.; zu den Quellen Κ r u s c h S. 7. G ü n t e r , Legendenstudien, S. 15 ff.; Die christliche Legende des Abendlandes, S. 133 ff. Die Umstände, die nach Arbeos Schilderung zum Martyrium Haimhramms führten, sind so romanhaft, daß man wohl nicht fehlgeht, die Darstellung als von der spätantiken Legendenliteratur beeinflußt anzusehen, die unter dem Einfluß der Unterhaltungsliteratur gelegentlich so weit ging, auch das Sexuelle in den Kreis des Heiligenlebens einzubeziehen (darüber R e i t z e n s t e i n , Hellenistische Wundererzählungen, S. 32 Anm. 2, S. 33). B a u e r r e i ß , Kirchengeschichte, S. 51, spricht von einem „Lichteffekt", „den der Biograph seinem Heiligenbild aufsetzen wollte", ohne das literarische Vorbild zu erkennen. R e i t z e n s t e i n S. 56.
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K r a f t der äußeren Verlebendigung seelischer Kämpfe abging oder daß ihm innere Kämpfe dieser A r t überhaupt noch fern lagen. N u r der asketische Idealismus der Spätantike, nicht aber die innere Problematik ihres an sich selbst verzweifelnden und mit den Dämonen des Unterbewußtseins ringenden Menschentums 1 1 S ) hat in der naturhaften Atmosphäre Arbeos wirksam werden können. Sucht man im Christentum Arbeos vergebens nach ausgesprochen germanischen Zügen, so fehlte es ihm doch keineswegs an naturhafter Ursprünglichkeit. E r besaß wie wohl die meisten seiner Zeitgenossen einen naiv bäuerlichen Sinn für Erwerb und Besitz. Deswegen hat die Religiosität der guten Werke, durch die man sich vor dem Fegefeuer zu bewahren glaubte, in ihm einen Vertreter gefunden 1 U ) , der sie für die Besitzpolitik seines Bistums ganz realistisch auszuwerten verstand. Aber er hat den Besitz seines Bistums nicht nur durch die Sdienkungen der Gläubigen zu mehren verstanden, sondern als Abt in der Einöde von Scharnitz auch selbst das bäuerliche Kulturwerk gefördert 1 1 5 ). Die Freude an repräsentativem Auftreten, Gold und Schmuck, die wohl Arbeo selbst als Angehörigem des Adels und politisch bedeutsamem Bischof eigen war, führte ihn dazu, in seinem Bilde Corbinians Züge stehen zu lassen, die dem Ideal des anspruchslosen christlichen Asketen und Wanderbischofs strenger irischer Richtung ebenso wenig entsprachen wie dem Bild der ältesten Mönchsheiligen, das Athanasius und Hieronymus gezeichnet hatten 1 1 6 ). Hier verliefen ) Vgl. F. K a p h a h n , Zwischen Antike und Mittelalter, München o. J., S. 31 ff., 59 ff. ) K r u s c h S. 124; B a e s e c k e , Arbeo S. 106. US) Vgl die von Arbeo diktierte Urkunde B i t t e r a u f 1 Nr. 23 S. 91: Dum oportet unicuique in hoc mundo vacare videtur sacramenta reminiscere et ultimum diem pertimiscere, ne nos inprovisa mors subito sicut habet casus humane fragilitatis inparatos inveniat et tamquam fur conprehendat vel aeterne mortis laqueis tradat, de rebus transitoriis quem domini pietas humanaque utilitas adquisierit patronum adquirere debet qui pro eius vicibus diemque magni iudicii apud dominum intercedat, ut mercedem plenissimam apud ipsum retributionis accipiat. Vgl. S. M i t t e r e r , Das Freisinger Domkloster und seine Filialen, in: Corbiniansfestgabe, S. 37 ff. " · ) Audi wer — etwa im Hinblick auf das berittene Gefolge der angelsädisisdien Prälaten Wilfrid und Ceolfrid ( Z w ö l f e r S. 37 f.) — die Sdiilderung Arbeos von der Lebenshaltung Corbinians wirklich als historisch betrachten möchte, müßte zugeben, daß kein Tadel, nicht einmal in versteckter Form, gegenüber solcher Lebensführung laut wird, daß Arbeo also vollkommen mit Corbinian übereinstimmt. Er hielt es für durchaus an der Ordnung, daß ein Bischof den Lebensstil eines großen Herrn führte. Daher betont er immer wieder vorbehaltlos die zahlreichen Geschenke, die Corbinian erhielt, seine Reichtümer, und spricht von seinem zahlreichen Gefolge, seinem Kellermeister und anderen Bedienten, von seinen prächtigen Pferden, also von Dingen, die — wie K r u s c h , Schulausgabe, S. 143, betont — gar nidit zum Bilde des einfachen irisdien Wanderbischofs passen. Vgl. V. Corb. c. 3 S. 190 ff.; c. 5 S. 193 f.; c. 14 S. 201; c. 15 S. 203; c. 16 S. 205 f.; c. 18 S. 208; c. 21 S. 212. Von den Bräuchen des irischen Mönchtunis unterscheidet sidi Arbeos Schilderung beträchtlich. Daß ζ. B. das Reiten von den strengen irischen Mönchen abgelehnt wurde, zeigt J . R y a n , Irish Monasticism, 1931, S. 245; vgl. B e d a , Hist, eccl. gentis Anglorum I I I 5, über den irischen Missionar Aidan. Auch die Annahme von Geschenken widersprach der strengen Auffassung, vgl. R y a n S. 247 Anm. 3. Schließlich 113
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die Grenzen, bis zu denen er dem asketischen Rigorismus zu folgen vermochte. Die naive Freude an weltlichem Besitz, die sich hier äußerte, wurde aber auch von strengeren mittelalterlichen Lesern als Widerspruch zum asketischen Gebot empfunden U 7 ), und diesen Widerspruch vermochte Arbeo selbst nicht mit dem Hinweis zu überbrücken, daß der Heilige die ihm geschenkten Kostbarkeiten zu wohltätigen Zwecken gebrauchte. Die Art schließlich, wie bei Arbeo der heilige Corbinian gegen die Fischer auftrat, die die in ihren Fischgründen von seinen Leuten gefangenen Fische als ihr Eigentum reklamierten 118), offenbart zusammen mit anderen Augenblicksbildern 119) einen ausgeprägten Sinn für Durchsetzung der eigenen Rechts- und Besitzansprüche. Corbinian zeigte sich bei solchen Gelegenheiten keineswegs vom reinen christlichen Geist der Vergebung, Milde und Entsagung geleitet. Die Unbekümmertheit, mit der Arbeo — oder schon die mündliche Uberlieferung, der er folgte — den Heiligen hier völlig außerhalb des hagiographischen Schemas handeln ließ, ist ein Beweis dafür, daß hinter diesen Charaktereigenschaften Corbinians — mögen sie nun historisch sein oder nicht — in Wahrheit auch die Gestalt Arbeos selbst steht 120 ). Ferner neigte Corbinian nach Arbeos Schilderung zu Jähzorn und Gewalttätigkeit. Man hat aus dieser Eigenheit Corbinians irische Abstammung begründen wollen m ) , und zweifellos war die leicht erzürnbare Natur — ein gemeinsames keltisches Erbe — ein Charakteristikum der Briten und Iren, das auch in der dämpfenden Atmosphäre des Klosters immer wieder durchbrach 122). Dennoch liegt in der Ausführlichkeit, mit der Arbeo diese Seite von Corbinians Temperament schilderte, eine unbewußte Selbstdarstellung. Gewiß hat der Zornmut der Heiligen im Kampf gegen Unglauben und Laster in der Hagiographie gelegentlich audi positive Würdigung gefunden. Aber es ist doch eine Verkennung des Sachverhaltes, wenn man behauptet hat 1 2 3 ), daß der Jähzorn durch die „literarische Form", die Schablone des Heiligenlebens erfordert wurde und daher weder für Corbinian noch für Arbeo charakteristisch sein könne. Der Schablone der spätantiken hagiographischen Quellen, die Arbeo kannte, entsprach im Gegenteil das Idealbild eines Heiligen, der in beinahe stoischer Art Herr der Affekte — also auch des Jähzorns — war. Arbeo hat jedoch die widersprechenden Charakterzüge Corbinians nicht, wie er es
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) ) "·) 118
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stimmt der Speisezettel Corbinians, der an Fasttagen Fisch — sonst aber Fleisch — aß (c. 17 S. 206), wenig mit der asketischen Strenge etwa des hl. Martin und der Iren überein; R y a n S. 390. Es ist aber zunächst der Hagiograph, nicht der hl. Corbinian, der hier außerhalb des strengen asketischen Brauches steht. Vgl. unten S. 106, Anm. 140—41. c. 19 S. 209 f. Nur „genötigt" willigte Corbinian ein, dem Pferdedieb nach seinem Tode zu verzeihen und für ihn zu beten; V. Corb. c. 21 S. 212; vgl. auch Vita Haimhrammi c. 29 S. 69. So schon Κ r u s c h a. a. O. S. 143; abwegig B a e s e c k e , Arbeo, S. 97 f. R. B a u e r r e i ß , Irische Frühmissionare in Südbaiern, in: Corbiniansfestgabe, S. 58. R y a n , Irish Monasticism, S. 206. B a e s e c k e , Arbeo, S. 97 f.
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nach dem Vorbild dieser Hagiographie hätte tun müssen, unterdrückt oder wenigstens abgeschwächt; er hat auch nicht als schlichter Historiker — etwa mit dem Unterton des Tadels oder der Entschuldigung — von ihnen berichtet. Er hat sie vielmehr breit ausgestaltet und sogar positiv gewürdigt, indem er eine Bibelstelle: Ne sis velox ad irascendum zur Charakteristik seines Helden folgendermaßen umwandelte: Corde contra vitia ad irascendum velox, ad ignoscendum conversis non piger 124 ). Um die Nuance voll zu erfassen, muß man gegen diese Formulierung die ganz anders gearteten Worte Thegans halten, der von Ludwig dem Frommen rühmte, er sei tardus ad irascendum et facilis ad miserandum gewesen 125 ). Von der müde resignierenden Haltung Ludwigs, der Thegan eine positive kirchliche Deutung zu geben wußte, war das vollmenschliche Charakterbild Arbeos, das auch dem Jähzorn seinen Platz ließ, durch Welten geschieden. Hier ein bis zur Rauheit unbekümmertes Naturburschentum, das fast den kirchlichen Rahmen zu sprengen drohte, dort die müde, blasse Gestalt Ludwigs, die an der konventionellen Dekoration mit zu allen Zeiten wiederkehrenden Topoi einen Halt suchen mußte. Daß mit der von Arbeo lobend hervorgehobenen Gewalttätigkeit Corbinians, der im höchsten Zorn über heidnischen Unglauben eine alte, der Zauberei verdächtige Frau verprügelte 126 ), eine dem baierischen Stamm dieser Jahrhunderte nicht ganz fremde Charaktereigenschaft getroffen ist, zeigen auch die Mißhandlungen, denen der Grieche Methodius ausgesetzt war, als er im Jahre 870 als Gefangener in Salzburg vor der Synode baierischer Bischöfe stand, die ihn wegen unberechtigten Eindringens in das Salzburger Diözesangebiet in Pannonien aburteilte 127 ). Dabei spielte allerdings noch etwas anderes mit; denn diese Ohrfeigen wurden ausgelöst durch die überlegene Ironie, mit der der kultivierte Byzantiner die biederen baierischen Bischöfe behandelte, die diesen Spitzen nichts entgegenzusetzen hatten und ihrer Empörung handgreiflichen Ausdrude verliehen. Eine eigenartige Mischung spätantiker asketischer Morallehre und naturhafter Unbefangenheit zeigt sich in Arbeos Einstellung zum menschlichen Kör124 )
V. Corbiniani c. 8 S. 196. Κ r u s c h ebd. Anm. 2 verweist auf eine Ovid-Stelle, die aber beachtlich abgewandelt erscheint. 125 ) T h e g a n , SS. 2 S. 595 c. 19. Vgl. audi V. Antonii auetore Athanasio c. 39, Migne 73, S. 156 Numquam ille aut ira subita concitatus, patientiam rupit, aut humilitatem erexit in gloriam, sowie ebd. c. 13 S. 134: Numquam hilaritate nimia resolutus in risum est. .sed temperata mens aequali ad cuncta ferebatur examine; ferner Sulpicii Severi Vita S. Martini c. 27, CSEL. 1, S. 136 f.: Nemo umquam illum vidit iratum, nemo commotum, nemo maerentem, nemo ridentem; unus idemque fuit semper, caelestem quodammodo laetitiam vultu praeferens extra naturam hominis videbatur. Vgl. über den Zorn in der Persönlichkeitsschilderung L. Ζ ο e ρ f , Das Heiligenleben im 10. Jahrhundert, S. 76 f. 12β ) V. Corb. c. 29 S. 221. Zauberinnen galten zwar dem Germanen als vogelfrei (vgl. J. K u h n , Sitte und Sittlichkeit, in: Germanische Altertumskunde, hrsg. von H. S c h n e i d e r , 1938, S. 192), aber entscheidend ist nicht die in der Verrohung der Merowingerzeit nicht auffällige Tätlidikeit gegen die Frau, sondern die jähzornige Reaktion Corbinians. 127 ) Vita Methodii c. 9, ed. E. D ü m m 1 e r , AKÖGQu. 13, 1854, S. 160.
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per. Es war — abgesehen von einigen aus der kynischen Forderung nach Abtötung des Schamgefühls zu erklärenden Erscheinungen, die den eigentlichen Mönchsviten auch fremd geblieben sind 1 2 8 ) — ein seit der Vita Antonii oft ausgesprochenes Ideal, daß der Heilige, um sich nicht zu sündhafter Nacktheit zu entkleiden und das Schamgefühl zu verletzen, sich nicht wusch, badete oder einen Fluß durchquerte 1 2 9 ). In der Vita Corbiniani aber schilderte Arbeo den Körper eines Schwimmers mit Worten, die eine naive Freude an starker, gesunder Körperlichkeit verraten. Und bei der zusammenfassenden Charakteristik Haimhramms konnte er es sich nicht versagen, auf die schöne Gestalt des Heiligen hinzuweisen 1 3 0 ), folgte dabei allerdings der Konvention seiner Zeit, die vom Bischof die Zugehörigkeit zum Adel verlangte und ihn nach den Maßstäben dieses Standes zu messen begann, während die spätantike Hagiographie mit einer gewissen Vorliebe betont hatte, daß die reine Seele des Heiligen auch in einem häßlichen und schlecht bekleideten Körper wohnen könnte 1 3 1 ). Auch für die Schönheit des Tieres und für die Vielfältigkeit der Natur, die sich ebenso in lieblichen Ebenen wie in gefährlichen, schroffen Felsmassiven offenbarte, besaß er einen verständnisvollen Blick 1 3 2 ). Dieser Blick für natürliche Schönheit verlor allerdings seine Unbefangenheit, sobald Arbeo auf das weibliche Geschlecht zu reden kam. Bemerkungen über weibliche Schönheit ergänzte er durch einen Zusatz, der die Fragwürdigkeit alles Irdischen im kirchlich moralischen Sinne unterstrich. Aber Arbeo, dem sonst wörtliche Zitate aus anderen Schriftstellern nur sehr spärlich nachzuweisen sind, hielt sich gerade bei solchen Bemerkungen wörtlich an Ausführungen Gregors des Großen 1 3 3 ); damit wird deutlich, daß er hier nur eine Lehre befolgte, die noch keineswegs zur Selbstverständlichkeit geworden war. Es war etwas Ähnliches, wenn Arbeo Haimhramms große Umgänglichkeit 1 3 4 ) und Corbinians Wirken in der Welt rühmte 1 3 5 ) und den letzteren trotzdem immer wieder aus der Fürsorge für die ihn umdrängenden Weltkin) R e i t ζ e η s t e i η , a. a. Ο. S. 66—68. ) R e i t z e n s t e i n , a . a . O . S. 58 Α. 1. Mit Arbeos V. Corb. c. 18 S. 207 ff. vgl. Vita Antonii auctore Athanasio, interprete Evagrio, c. 23 und c. 32, Migne 73, S. 147, 153. Das Werk wurde in der Freisinger Schreibsdiule unter Arbeo abgeschrieben, vgl. oben S. 89. 180 ) Vita Haimhrammi c. 2 S. 28. 1 3 1 ) Vgl. z . B . Sulpicius Severus, der in der Vita S. Martini c. 9, CSEL 1, S. 119, davon berichtet, daß viele den Martin verabscheut hätten, dicentes silicet, contempt ibilem esse personam, indignum esse episcopatu h ο m i η e m uultu despicabile m , u e s te sordidum, c r ine deformem, ita a populo sententiae sanioris haec illorum inrisa dementia est, qui inlustrem virum dum uituperare cu piunt praedicabant. 1 3 2 ) Vita Corbiniani c. 16 S. 205; c. 18 S. 208 Zeile 3—4; c. 40 S. 227 f.; Vita Haimhrammi c. 6, S. 35; über Arbeos Naturschilderung B a e s e c k e , Arbeo, S. 102 f. Über den locus amoenus als literarischen Topos E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) S. 200 ff. ,33) V. Corb. c. 24 S. 215; V. Haimhr. c. 38 S. 86. " 4 ) V. Haimhr. c. 8 S. 38. 135 ) V. Corb. c. 2 S. 190; c. 9, S. 197. 128
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der in die Abgeschiedenheit eines rein beschaulichen Eremitendaseins streben ließ 136 ). Ähnlich mag Arbeo als beschäftigter Bischof und Politiker zu dem Ideal der mönchischen Einsamkeit aufgeblickt haben, das ihm die geistliche Erziehung stellte. Trotzdem ist er aus seiner klösterlichen Abgeschiedenheit als Abt von Sdiarnitz dem Ruf auf den Freisinger Bischofsstuhl gefolgt, dessen Inhaber naturgemäß in viele weltliche Händel verstrickt werden mußte. Hier waren bei Arbeo, als einem Angehörigen des hohen Adels, natürlicher Ehrgeiz und politischer Betätigungsdrang, der ihn schließlich zum Vorkämpfer des fränkischen Einflusses in Baiern machte, stärker als die mönchische Lehre 1 3 7 ). Ideale Forderung und menschliche Neigungen standen sich hier in starker Spannung gegenüber. Doch das Ideal ließ sich nicht auf die Dauer verdrängen und erlangte schließlich sein Recht: das letzte Jahr seines Lebens scheint Arbeo sich von der Regierung des Bistums zurückgezogen und in beschaulicher Stille des Klosterlebens verbracht zu haben 1 3 7 c ). Das Charakterbild Arbeos, das sich aus der Betrachtung seiner beiden Werke ergab, erhält seine Bestätigung durch die Umgestaltung der Vita Corbiniani im 10. Jahrhundert 1 3 8 ). Es ist von der Forschung bereits bemerkt worden 1 3 9 ), daß diese Überarbeitung „die frische Unmittelbarkeit des Erzählertons etwas abgeschwächt" und damit, wie jetzt festzustellen ist, gerade die Stellen gestrichen hat, in denen Arbeos urwüchsige Persönlichkeit die Bahnen der spätantiken hagiographischen Konvention verließ. So hat der Bearbeiter nicht nur aus der Charakteristik Corbinians alle Züge der körperlichen Erscheinung gestrichen, sondern auch die Schilderung des ausgezeichneten Schwimmers gekürzt, an dem Arbeo so viel Freude hatte. Wenn ferner der Bearbeiter den 13β )
V. Corb. c. 6 S. 194; c. 7 S. 195; c. 14 S. 201. Gerade dieser Zug ist aber audi nur eine Übersteigerung von Anregungen, die Arbeo den alten Möndisviten entnahm; vgl. ζ. B. Vita Antonii, Migne 73, c. 24 S. 148: Haec Uli multitudo venientium, desideratam solitudinem auferens, taedio fttit; ferner c. 53, S. 164 und Vita Hilarionis c. 31, Migne 23, S. 46. m ) Über Arbeos verwandtschaftliche Beziehungen vgl. die Urkunde vom 12. August 772, B i t t e r a u f 1 Nr. 44, S. 71 f.; dazu H. S t r z e w i t z e k , Die Sippenbeziehungen der Freisinger Bischöfe im Mittelalter, Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 16 NF. 3 (1938) S. 157 Anm. 2, sowie die Tabelle im Anhang. Über den Zusammenhang mit der Adelsfamilie der Huosi vgl. J. S t u r m , Die Anfänge des Hauses Preysing, Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 8 (1931) S. 216 ff.; [ders., Bisdiof Arbeos bayerische Verwandte, Zs. f. bayer. Landesgesch. 19 (1956) S. 568 ff.; P r i n z (s. oben Anm. 79) S. 584], i37a) Auf Grund der Urkunde B i t t e r a u f 1 Nr. 108 S. 124, die erkennen läßt, daß damals bereits Abt Atto von Schlehdorf das Bistum verwaltete, hatte Η a u c k , Kirchengeschidite Deutschlands 2 3 " 4 , S. 436 Anm. 6, angenommen, daß Tassilo Arbeo wegen seiner politischen Haltung aus der Leitung des Bistums entfernt habe. Dodi hat Hauet mit dieser Vermutung den Widerspruch von K r u s c h , SS. rer. Merov. 6, S. 514, Schulausgabe, S. 126, gefunden, [während jetzt P r i n z (s. oben Anm. 79) S. 581 Η a u c k zustimmt]. 13e ) Vgl. dazu S. R i e ζ 1 e r , Arbeos Vita Corbiniani in ihrer ursprünglichen Fassung, Abh. d. Ak. München, Hist. Kl. 18, 1 (1888) S. 217 ff.; Ausg. der Vita retractata von K r u s c h , MG. SS. rer. Merov. 6, S. 594 ff. ls ») R i e z l e r , a . a . O . S.227.
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Absatz der Vita unterschlug, nach dem Corbinian von Pippin ein sehr kostbares Gewand mit Gold und Edelsteinen erhielt, das dieser selbst vorher auf dem Märzfeld getragen hatte, dann war bei dieser Tilgung wohl nicht der Gedanke maßgebend, daß dem Überarbeiter schon der Schein anstößig war, der Heilige habe das abgetragene, wenn auch kostbare Gewand eines Fürsten getragen 140). Es war im Gegenteil so, daß dem Bearbeiter die Erwähnung dieser Kostbarkeiten das Bild des asketischen Eremiten und weitabgewandten Gottesmannes zu beeinträchtigen schien 141). Ferner hat er auch die Wundererzählung von dem auf ekelerregende Art erkrankten Pferde gestrichen 142), die Arbeo breit ausgestaltet hatte. H a t damit der Bearbeiter die Kraßheiten des Urtextes gemildert, so hat er auf dem Gebiete des Wunderglaubens, dem Arbeo schon hemmungslos gehuldigt hatte, seinen Vorgänger noch zu übertreffen gewußt. Das später als Motiv für die Ikonographie des heiligen Corbinian wichtig gewordene Bärenwunder 143) ist erst in der Überarbeitung hinzugefügt worden. Der Geist, von dem diese sich leiten ließ, war ein Vorbote der im Cluniazensertum neuaufsteigenden asketischen Bewegung, der ein teils zur Konvention herabgesunkenes, teils mannigfachen Wandlungen ausgesetztes Ideal in seiner alten Unbedingtheit wieder innerlich verpflichtendes Gebot wurde. Man würde Arbeos Christentum freilich nicht gerecht werden, wenn man es als bloße Konvention betrachtete. Wenn er sich selbst als „Hirte und Arzt der Seelen" — diese Vorstellung ist dem frühen Mittelalter wie der Spätantike gleich geläufig — fühlte 144), so ist das ein Zeichen dafür, daß er sich seines Berufes wohl bewußt war. Es war letztlich ein starker religiöser Drang, der ihn dazu trieb, das Leben Corbinians in der höchsten ihm möglichen künstlerischen Vollendung zu schildern. Das asketische Ideal des Mönchtums hat er zu dem seinen gemacht, und die Bücher der Freisinger Bibliothek und seine eigenen Äußerungen beweisen, daß er dabei Ausprägungen des asketischen Ideals auf sich wirken ließ, die weit rigoroser waren als die Forderungen, die ihm die Regel Benedikts stellte. Um so größer aber wurde die Spannung zwischen dem "») V. Corb. c. 5 S. 194; Vita retractata c. 4 S. 601; R i e ζ 1 e r , a. a. O. S. 228. 141
) Vgl. ζ. B. die ausdrückliche Feststellung des Sulpicius Severus über den hl. Martin, Vita Martini c. 10, CSEL. 1, S. 119 f.: Eadem in corde eius humilitas, eadem in vestitu eius vilitas erat, und c. 9 S. 119: ueste sordidum. Klar wird auch der Gegensatz zu dem pretiosissimum indumentum ex auro et lapidibus contextum (Vita Corb. c. 5 S. 194) aus Vita Pauli c. 17, Migne 23, S. 28: Hute seni nudo quid umquam defuitf Vos gemma bibitis, ille naturae concavis manibus satisfecit. Vos in tunicis aurum texitis, ille ne vilissimi quidem indumentum habuit mancipii vestri. 142 ) Vita Corb. c. 22 S. 212 ff.; Vita retractata c. 16 S. 616 ff. 143) Vgl. m . H a r t i g , Die Ikonographie des hl. Corbinian, in: Corbiniansfestgabe, S. 161 ff. Daß es sich dabei um ein weitverbreitetes Motiv der Legendenbildung handelt, erweist G ü n t e r , Legendenstudien, S. 158. Vita retractata c. 10 S. 609. 144 ) Vgl. die oben S. 101 Anm. 115 zitierte Urkunde, die von Pern nach Diktat Arbeos geschrieben wurde; über das Bild vom Seelenarzt vgl. J. R y a n , Irish Monasticism, S. 355 Anm. 1.
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idealen Ziel, das er sich selbst gesetzt hatte, und der Wirklichkeit seiner menschlichen Natur. Das Gewand des mönchischen Asketen verhüllte nur mühsam die Ecken und Kanten seiner Persönlichkeit. So spricht aus Arbeo das Christentum der Frühzeit, das noch nicht die letzten Tiefen der Seele in seinen Bann hatte ziehen können. Die spätere Überarbeitung der Vita Corbiniani, die den ursprünglichen Zwiespalt von Ideal und Wirklichkeit austilgte, ist damit ein neuer Beleg für die große geistige Wandlung vom frühen zum hohen Mittelalter, die den Vorgang der Christianisierung des Germanentums durch die historische Krise des Investiturstreites zum Abschluß brachte. Ein ähnliches Schicksal wie die Vita Corbiniani haben auch andere hagiographische Werke erlebt 145 ). Arbeo ist der Beweis dafür, daß die „innere Christianisierung" der Bajuwaren im 8. Jahrhundert sich noch in ihren Anfängen befand. Von dem Selbstzeugnis, das er unbewußt in seinen Werken ablegte, ist unbedingt auf die geistige und religiöse Lage des damaligen Bajuwarentums zu schließen. Das bajuwarische Volk in seiner Gesamtheit wird sich von Arbeo im wesentlichen nur dadurch unterschieden haben, daß es von der Verwirklichung asketischer Mönchsmoral noch weiter entfernt war als der Bischof. Schließlich hat Arbeo viele der aus dem Rahmen des kirchlichen Heiligenbildes fallenden Züge, die er mit solchem Behagen weitergab, nur der mündlichen Uberlieferung, also dem Volksmunde, abgelauscht. Es ist ja kaum anzunehmen, daß im Munde der Baiern, die sich von dem seit einem halben Jahrhundert verstorbenen heiligen Corbinian erzählten, ein psychologisch richtiges Charakterbild desselben erhalten geblieben ist. Das Volk schuf sich den Heiligen nach seinem Herzen. Da nun zwischen „Bildungsschicht" und „Volk" im 8. Jahrhundert nicht mehr der Abgrund klaffte wie einst am Ausgang der antiken Welt, ist es durchaus nicht erstaunlich, daß das aus Arbeos Schriften gewonnene Charakterbild sich in mancher Hinsicht mit der Anschauung berührt, die die heutige Stammeskunde vom bajuwarischen Volkscharakter gewonnen hat 1 4 6 ). So pointiert allerdings der baierische Stammescharakter dem modernen Betrachter vor Augen steht, so problematisch erscheint es, diesen Begriff auf die Verhältnisse des frühen Mittelalters anzuwenden. Sind doch die Bajuwaren als Stamm erst in der Mitte des 6. Jahrhunderts entstanden, aus germanischen Gruppen verschiedener Herkunft zusammengeschmolzen durch ein Herzogtum, das seine Entstehung der merowingischen Reichsgewalt verdankte 147). Ein bajuwarischer Stammescharakter kann sich also erst allmählich als Ergebnis der historischen Erlebnisse des Stammes ausgeprägt haben. Daß dies schon im 8. Jahrhundert der Fall war, beweist nicht nur der schon damals als spezifisch 145
) G. Κ a 11 e η , Der Investiturstreit als Auseinandersetzung zwischen germanischem und romanischem Denken (1937) S. 13. 14e ) Vgl. ζ. B. W. Η e 11 ρ a c h , Die Wesensart der deutschen Stämme. Der bayerischösterreichische Stamm in: Velhagen und Klasings Monatshefte 53 (1939) April, S. 105 ff. 147 ) H . L ö w e , Die Herkunft der Bajuwaren, Zs. f. bayerische Landesgesdi. 15 (1949) S. 5 ff.
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bajuwarisch bezeichnete Rechtsbrauch des Ohrzupfens der Zeugen 148), sondern auch das Selbstbewußtsein, mit dem frühbaierische Glossen den baierischen Stamm von den Welschen unterschieden 149). Dieses Stammesbewußtsein teilte auch Arbeo 15°), der — dabei freilich in antiker literarischer Tradition stehend — seiner Vita Haimhrammi ein Lob des Baiern 1 a η d e s 151) einfügte, der aber von einer Herkunftssage seines Volkes, die hier leicht hätte angefügt werden können, offensichtlich nichts wußte. Eine solche ist auch sonst im frühmittelalterlichen Baiern nicht erhalten; erst im hohen Mittelalter stößt man auf Spuren einer gelehrten Abstammungssage 152). Erklärt sidi dieses Fehlen der Stammessage am leichtesten aus der Entstehungsgeschidite des Stammes, so wird Arbeo zum Exponenten des besonderen Selbstbewußtseins der Bajuwaren, die erst durch das gemeinsam bewohnte und verteidigte Land zur Einheit wurden. An der Gestalt Arbeos verdeutlicht sich in bajuwarischer Ausprägung die seelische und geistige Haltung derjenigen deutschen Stämme, die sich auf römischem Kulturboden ansiedelten, ohne die Fühlung mit der germanischen Heimat ganz zu verlieren, und die fast unmerklich und allmählich sich christlichen und antiken Einwirkungen erschlossen. Ganz anders verlief die Geschichte der Sachsen, bei denen Christentum und Antike erst im Gefolge eines Kampfes auf Leben und Tod Eingang fanden. Die innere Disposition gegenüber den neuen, so gewaltsam ins Land getragenen Lebenswerten mußte hier von wesentlich anderer Art sein als bei den Bajuwaren. Das wird wohl nirgends so deutlich wie bei dem sächsischen Mönch Gottschalk, der ein halbes Jahrhundert nach der Bekehrung seines Stammes der Prädestinationslehre Augustins eine Ausdeutung und Verschärfung gab, die die gesamte theologische Welt in helle Aufregung versetzte 153). Es waren tiefe Differenzen im Lebensgefühl, die bei der Auseinandersetzung um Gottsdialk aufbrachen. Hatten sich die übrigen deutschen Stämme in Jahrhunderten ihrer christlichen Geschichte daran gewöhnt, den Christengott als helfende und fördernde Macht im täglichen Leben 148
) L ö w e ebd. S. 56 Anm. 218, S. 62 f. ) Stulti sunt Romani. Tole sint Walha, Sapienti sunt Paiori. Spähe sint Peigira. Steinm e y e r und S i e v e r s , Die althochdeutschen Glossen, 3, 1895, S. 13. 15 °) Vgl. oben Anm. 4; wenn Arbeo ferner in der V. Corbiniani c. 37 S. 226 den Adligen Dominicus, Preonensium plebis concives, als tarn genere quam forme Romanus bezeichnet, gibt er zu erkennen, daß er die vorbajuwarische Alpenbevölkerung als etwas Andersartiges empfand, daß er also eine ganz feste Vorstellung von bajuwarischer Stammesart hatte. 151 ) V. Haimhrammi c. 6 S. 35; über die Tradition des Länderlobs vgl. E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 164 f. 152 ) L ö w e , Herkunft der Bajuwaren, S. 44 Anm. 169. 163 ) G. Μ ο r i η , Gottschalk retrouve, Revue Benedictine 43 (1931) S. 303 ff.; E. D i η k 1 e r u. E. W i ß m a η η , Gottschalk der Sachse (1936); D. Κ a d η e r , Aus den neuentdeckten Traktaten des Mönches Gottschalk, Zs. f. KiG. 61 (1942) S. 348 ff.; Edition von C. L a m b o t , Oeuvres theolo^iques et grammaticales de Godescalc d'Orbais, Spicilegium sacrum Lovaniense 20 (1945). 149
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und in den politischen Kämpfen zu betrachten 154), so war er für die Sachsen zunächst der Gott, den die Feinde ihnen mit ihren Schwertern ins Land gebracht hatten. Gottschalks Lehre von der doppelten Prädestination erwuchs daher aus einer Gotteserfahrung, die das Mysterium tremendum des Göttlichen in all seiner Furchtbarkeit erlebt hatte, und die sich dann erst in wirklich innerer Bekehrung auch zur Erkenntnis des „fascinosum", des gnädigen Gottes, durchrang. Die gesteigerte Auffassung der Allmacht Gottes aber bedingte die Unfähigkeit des Menschen, aus eigener Kraft für sein Heil wirken zu können 155). Auch dies war eine Auffassung, die sich einem Gottschalk im Hinblick auf das Schicksal seines Stammes wie auf sein eigenes fast von selbst aufdrängen mußte. Die mit philosophischen Mitteln nicht zu lösende Antinomie von göttlicher Allmacht und menschlicher Freiheit wurde erneut Gegenstand schärfster Auseinandersetzungen. Kam Gottschalk aus der inneren Erfahrung seines Stammes zur Prädestinationslehre Augustins, so standen seine Gegner, an ihrer Spitze Hrabanus Maurus und Hinkmar von Reims, praktisch auf dem Boden jener semipelagianischen Theologen, die einst aus seelsorgerischen Gründen die Anschauungen Augustins bekämpft hatten 156). Sie spürten wohl audi, daß Gottschalks Lehren in strenger Konsequenz die Kirche als Heilsanstalt überflüssig gemacht hätten. Zwar sind ihre Anschauungen auch im mittelalterlichen Sachsen durchgedrungen, aber es ist doch wohl kein Zufall, daß später Luther wie Gottschalk an Augustin anknüpfte und daß seine Reformation sich vorzugsweise gerade in den deutschen Landschaften durchsetzte, die am spätesten und zum Teil gewaltsam in den Geltungsbereich des Christentums einbezogen wurden. Ist Gottschalk ein Symptom für Möglichkeiten, die sich Jahrhunderte später in der Reformation verwirklichten, so bietet sich in Arbeo ein Hinweis auf die Haltung, die der Süden Deutschlands in der Begegnung mit Christentum ,M
) Es erübrigt sidi, dafür Belege anzuführen; nur eine Äußerung eines Hauptgegners Gottschalks, des Hrabanus Maurus, sei hier angeführt: Qui enim jidem quam principi promiserit inuiolabilem seruauerit animamque id est presentem uitam perdere magis quam fidem perdere maluerit, uitam sine dubio percipiet sempiternam ab ipso qui iura constituit et seruari illibata precepit (in der Vegetiusbearbeitung: De procinctu Romanae militiae, c. 14 ed. E. D ü m m 1 e r , 2s. f. dt. Altertum 15, 1872, S. 449 f.). Wer Gott so als den Garanten irdischer Rechtsordnung sah und den Schlachtentod für den irdischen Herrscher in Erfüllung der Treuepflicht mit dem ewigen Leben belohnen ließ, der konnte ein Verständnis für die Lehre von der doppelten Prädestination überhaupt nicht gewinnen. Diese Äußerung Hrabans ist gerade deshalb wichtig, weil sie nicht in einem theologischen Traktat fiel, also als Zeugnis seines ursprünglichen unreflektierten Empfindens gewertet werden darf. 155 ) Κ a d η e r S. 254 betont, daß der freie Wille nach Gottschalks Auffassung noch vorhanden ist, aber mit Adams Fall begonnen habe, böse zu sein. 15e ) Zur Auseinandersetzung der augustinischen mit der semipelagianischen Richtung, die mit dem Konzil von Orange 529 (MG. Concilia 1, S. 44 ff.; H e f e l e - L e c l e r q , Histoire des conciles 2, 1908, S. 1085 ff.) einen ersten Abschluß fand, vgl. H . von S c h u b e r t , Geschichte der christlichen Kirche im Frühmittelalter, 1921, S. 85 Ii.; A. von Η a r η a c k , Dogmengeschichte 3 4 , S. 240 ff.
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und Antike annehmen mußte. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß der Weg zum Christentum hier nicht durch so furchtbare Erschütterungen geführt hat wie bei den Sachsen. Arbeos Wissen um die Allmacht Gottes hat sich nie so weit gesteigert, daß er dem Menschen jedes Maß von Freiheit, von eigener Fähigkeit, zur Erlangung des Heiles mitzuwirken, abgesprochen hätte. Augustins Prädestinationslehre ist Arbeo nicht oder allenfalls sehr spät bekannt geworden. Ihm, wie seiner Zeit überhaupt, dienten als Leitstern die Lehren Gregors des Großen vom Heilsprozeß, in dem die Gnadenmittel der Kirche und die Fürsprache der Heiligen dem Menschen den Weg zum Heil öffnen und in dem der Mensch durch gute Werke selbst zu seiner Erlösung beitragen kann 157 ). Bei solcher Grundhaltung konnte — anders als bei der Prädestinationslehre Gottschalks — die kirchliche Bindung des Menschen zu Gott nicht in Frage gestellt werden. Mit dieser Bindung aber konnte sich eine Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung verbinden, die mit den selbstgesetzten asketischen Geboten in weitgehendem Widerspruch stand. Hier wirkte bei dem Bajuwaren Arbeo etwas von der Frische einer Frühzeit wie von der Naivität und ungebrochenen Ursprünglichkeit südländischen Naturells. Und es war schließlich ein letzter Nachklang antiken Glaubens an die Selbstvervollkommnung des Menschen, der über Gregor den Großen und die Semipelagianer hinweg auf das frühe Mittelalter und auf Arbeo einwirkte. Arbeo besaß nicht die Tiefe der niederdeutschen Gemütsart Gottschalks, aus deren Grübeln und Bohren die Erneuerung der augustinischen Prädestinationslehre entsprang. Wo der Sachse Gottschalk, unter dem Eindruck eines schweren Schicksals, religiöse Probleme sah, die er unerbittlich in sich selbst durchkämpfte, standen für Arbeo selbstverständliche und unantastbare Bindungen, deren Wert seit langem erwiesen war. Aber gerade weil er die Probleme nicht bis in ihre letzten Tiefen und Abgründe durchdachte, konnte er sich bei aller Autoritätsgebundenheit eine weitgehende Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung wahren. Gilt Gottschalk über die Jahrhunderte hinweg als ein erster, ferner Vorläufer des Protestantismus, so ist Arbeo trotz aller merowingischen Barbarei ein erster Repräsentant des kunstliebenden Mäzenatentums der süddeutschen geistlichen Fürsten der Neuzeit.
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) Darüber eindrucksvoll C a s p a r 2, S. 399 f.
Liudger als Zeitkritiker Man ist so sehr gewöhnt, in dem Friesen Liudger den Missionar seiner Heimat und des sächsischen Münsterlandes, den ersten Bischof von Münster zu sehen, daß die im Titel dieser Untersuchung aufgeworfene Frage zunächst befremden dürfte. Kritik an der Zeit, das heißt an kirchlichen Zuständen seiner Zeit, scheint bei einem Missionar, der alle Kraft für die Ausbreitung des Christentums einsetzen mußte, doch kaum einen Platz zu haben — so sehr man zuzugeben bereit ist, daß die Zeit Karls des Großen nicht immer nur dem Idealbild entsprach 1 ), das man sich vielleicht gelegentlich davon machte. Aber trotzdem verhält es sich so; diese Kritik kommt deutlich zum Ausdruck in dem literarischen Werk, das Liudger hinterlassen hat, der Lebensbeschreibung seines Lehrers, des Abtes Gregor von Utrecht 2 ). Daß diese Seite der Vita Gregorii bisher so unbemerkt blieb, hat einen doppelten Grund. Man sah im Gefolge Wattenbachs 3) die Vita nur im Hinblick auf ihren Zeugniswert für die berichteten Ereignisse und übernahm daher sein Urteil: die Vita ist „in dem gewöhnlichen Legendenstile geschrieben, aber die hergebrachten Phrasen sind hier von wirklicher Wärme erfüllt, von inniger Liebe zu seinem Lehrer und einer kindlichen Demut, wo er seines eigenen Wirkens gedenkt. Es finden sich darin einige schätzbare Nachrichten über Bonifaz sowie über das Bistum Utrecht; geschichtlicher Sinn zeigt sich jedoch wenig, es kommen Fehler vor, und auch die Sprache ist schwerfällig und gesucht". Wenn man von dieser Grundauffassung aus auf die „erbaulichen Zwecke" verweisen konnte, denen die Vita „in erster Linie" dienen sollte 4), so war mit einem solchen Urteil zwar eine gewisse Historisches Jahrbuch 74 (1955) S. 79—91. *) F. L. G a n s h o f , La fin du regne de Charlemagne. Une decomposition, Zs. f. Schweiz. Gesell. 28 (1948); zu H. F i c h t e n a u , Das karolingisdie Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Großreidies (1949), vgl. H . F o e r s t e r , Ann. d. Hist. Ver. f. d. Niederrhein 151/52 (1952) S. 410—418. 2 ) MG. SS. 15, 1, S. 63 ff. 3 ) W. W a t t e n b a c h , Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter l 7 (1904) S. 295. 4 ) A. S c h r ö e r , Chronologisdie Untersuchungen zum Leben Liudgers, in: Liudger und sein Erbe 1 ( = Westfalia Sacra. Quellen u. Forschungen z. Kirch.Gesch. Westfalens, hrsg. von H. Börsting und A. Schröer 1, 1948) S. 106 Anm. 11, S. 110 Anm. 33.
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„Entschuldigung" für das „Versagen" des „Historikers" Liudger gegeben, der Zugang zum Verständnis seines "Werkes jedoch nicht erschlossen. Aber es war eben das Entscheidende, daß man sich um das „Verstehen" des Werkes überhaupt nicht bemühte und daher gar nicht die Frage stellte, ob Liudger, der schließlich das Leben seines Lehrers Gregor schilderte und auch den greisen Bonifatius noch selbst gesehen hatte 5), die ihm zur Last gelegten Fehler nicht hätte vermeiden können, wenn es ihm überhaupt darauf angekommen wäre, historische Genauigkeit nacb den quellenkritischen Maßstäben des 19. Jahrhunderts zu erreichen. Weiter versäumte man es, das, was Wattenbach den „gewöhnlichen Legendenstil" nannte, wirklich ernst zu nehmen. Gewiß hat die neuere Forschung gezeigt, daß die Hagiographie sich bestimmter stets wiederkehrender Motive, gewisser Topoi bediente, mit denen sie das überzeitliche und überindividuelle Idealbild des Heiligen herausarbeiten wollte; doch blieb in der Verwertung dieser typischen und überzeitlichen Mittel dem Hagiographen ein solcher Spielraum gegeben, daß es lohnte, nach seiner literarischen und religiösen Persönlichkeit zu fragen 6 ). Waren dem mittelalterlichen Schriftsteller Topos und selbst Zitat legitime Formen eigener Aussage 7 ), so hat man andererseits ganz allgemein am Vergangenheitsbild mittelalterlicher Schriftsteller starke Gegenwartsbezüge feststellen können 8 ). Rückblickende Betrachtung und zukunftsgebundenes Handeln gingen gerade auch beim mittelalterlichen Hagiographen Hand in Hand. Für Liudgers Vita Gregorii ist dieses Problem noch nicht gestellt worden. Liudger sprach in alten Formen und wiederholte alte Gedanken. Erinnert man sich an ein Wort aus Goethes „Maximen und Reflexionen" — „Die Gedanken kommen wieder, die Überzeugungen pflanzen sich fort; die Zustände gehen unwiederbringlich vorüber" —, so ist es die Frage nach den individuellen „Zuständen", mit denen sich die alten von Liudger vertretenen Gedanken auseinandersetzen, und namentlich nach der Art und Weise dieser Auseinandersetzung, die in der folgenden Betrachtung aufgeworfen werden soll. Was Liudger mit seiner Vita Gregorii wollte, das sagte er selbst in der Vorrede, die er nicht an einen — echten oder fiktiven — Auftraggeber richtete, sondern in der er sich auf ein Bibelwort berief (1. Thess. 5, 12.13): er sah sich aufgefordert, den kirchlichen Vorgesetzten zu Lebzeiten Ehre und Gehorsam zu erweisen, nach ihrem Tode aber ihre vorbildlichen Handlungen (exempla) nicht nur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern zur Erbauung Anderer durch das Wort zu wiederholen und zu verbreiten. Dieses Wort aber 5
) V. Gregorii c. 10 S. 75 Z. 7. ) Dies versuchte H. L ö w e , Arbeo von Freising. Eine Studie zu Religiosität und Bildung im 8. Jahrhundert, Rhein Vjbll. 15/16 (1950/51) S. 87 ff. [s. oben S. 75 ff.]; zur Forschungsgeschichte der Hagiographie vgl. die dort S. 106 f. [oben S. 96] genannte Literatur. 7 ) H . B e u m a n n , Topos und Gedankengefüge bei Einhard, Arch. f. Kult.Gesdi. 33 (1951) S. 339 ff. β ) H. R a i l , Zeitgeschichtliche Züge im Vergangenheitsbild mittelalterlicher, namentlich mittellateinisdier Schriftsteller (Eberings Hist. Stud. 322, 1937). e
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wollte zu neuem Handeln nach dem heiligen Vorbild aufrufen 9 ), enthielt doch das Vorbild der „geistlichen Väter" für Liudger die rectissima norma vivendi. Damit aber wird klar, weshalb in dieser Vita Gregorii dem heiligen Bonifatius ein so großer Raum gegeben wurde. Er war der „geistliche Vater" Gregors und durch ihn auch Liudgers, der als Zögling Gregors und Alchvines sich dem großen Haupt der angelsächsischen Mission verpflichtet wußte. Für das Vorbildliche an Gregor und Bonifatius aber fand Liudger eine Formel, die im Zeitalter Karls des Großen wahrhaft überrascht: vorbildlich war ihr Leben nach „apostolischem Vorbild" (iuxta exemplum apostolicum), nach dem Vorbild der Urkirche (secundum formam primitivae ecclesiae), ihr Leben als „Arme Christi" 10 ). Deutet letztere Formulierung auf das Armutsideal " ) hin, das die Geschichte der christlichen Kirche begleitete, aber zu ihrem Glück nie die absolute Herrschaft erlangte, so ist der Unterschied zwischen der „apostolischen Armut" als Forderung häretischer Bewegungen des 12. Jahrhunderts und dem radikalen Armutsgeist eines Franziskus einerseits und dem Lebensstil Liudgers und seiner Umwelt andererseits doch zu frappant, um übersehen zu werden. Aber eine deutliche Frontstellung hat Liudgers Formulierung um so mehr, als sie in Verbindung mit jenem Ruf zurück zum Ideal der Urkirche gekoppelt erscheint, der in der Geschichte der abendländischen Kirche immer wieder bei großen Reformbewegungen laut geworden ist. Deutlich hebt sie sich ab von jenem „Rückgang des Armutsgedankens", den die Geschichte der christlichen freiwilligen Armut seit dem 8. Jahrhundert auch in vielen Klöstern zu verzeichnen hat 1 2 ). Wenn Liudger so unüberhörbar in diesen Ruf nach apostolischem Leben einstimmte, dann müssen Menschen und Zustände seiner Zeit nicht dem von ihm ersehnten Ideal entsprochen haben. Es war — konkret gesprochen — der Lebensstil des aus dem Adel hervorgegangenen fränkischen Episkopates, der diesem friesischen Schüler angelsächsischer Mission ebenso zu schaffen machte, wie einst dem großen Bonifatius. Waren auch nicht mehr so eklatante Verstöße gegen das kirchliche Gebot zu rügen wie einst unter den Bischöfen, die noch als kriegerische Gefolgsmannen Karl Martell gedient hatten, so war doch die Spannung zwischen adligem Lebensstil und den Amts- und Lebenspflichten eines Bischofs deutlich genug 13 ). Sie durchzog wie ein roter Faden die Vita
) Praef., SS. 15, 1 S. 6 6 ; vgl. c. 13 S. 7 7 : de largiflua elemosinarum datione beati Gregorii ad memoriam posteritatis et imitationis exemplum pauca dicenda sunt; ebd. S. 7 8 : Eia, milites Christi, audite et intelligite et assumite exempla patris huius rectissima et praeclara. 10) c. 2 S. 69 Z. 24, Z. 27, Z. 13. π) M. v. D m i t r e w s k i , Die christliche freiwillige Armut vom Ursprung der Kirche bis zum 12. Jahrhundert ( 1 9 1 3 ) ; H . G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen im Mittelalter (Eberings Hist. Stud. 267, 1935). 12) D m i t r e w s k i S. 68. 13) Zur Sache F i c h t e n a u S. 127 ff. 9
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Gregorii: was Liudger an Bonifatius und Gregor rühmte, war stets das, was er bei den adligen Bischöfen seiner Zeit vermißte. In den Dienst dieser Auseinandersetzung mit dem Eindringen adlig-weltlicher Lebensauffassung in kirchliche Kreise stellte Liudger schon gleich zu Anfang der Vita den alten Topos vom Seelenadel 14 ): Gregor sei aus fränkischem Adel entsprossen, habe aber durch Adel der Lebensführung und das Zeugnis seiner Weisheit den Adel der Abstammung veredelt und überwunden 15). Wenn aber Liudger, der selbst adliger Abstammung war, den „Geistesadel" mit dem Geburtsadel konfrontierte, so griff er natürlich nicht grundsätzlich das Adlige an, sondern nur das Eindringen seiner Wertmaßstäbe an die falsche Stelle, oder vielleicht sogar die Verwässerung adliger Maßstäbe selbst. Zunächst einmal ging es darum, den fränkischen Adel für den Dienst in der Kirche, den Dienst im Sinne von Männern wie Bonifatius und Gregor zu gewinnen. Man muß wissen, daß es noch damals Adelsfamilien gab, denen der Eintritt eines ihrer Angehörigen in die geistliche Laufbahn als standeswidrig erschien 16), um zu verstehen, warum Liudger so ausführlich die Geschichte der Berufung Gregors durch Bonifatius erzählte 17), warum er betonte, daß eine Ermahnung und eine Predigt des Angelsachsen genügte, damit Gregor Eltern und Heimat verließ, und daß er, um diesem „unbekannten" Mann, dem pauper Christi, zu folgen, sich über den Rat der Eltern und der potentes saeculi hinwegsetzte. Er gab diesem Vorgang die höchstmögliche Weihe, wenn er ihn mit der Nachfolge des Heilands durch die Apostel verglich. Denen aber, die die Bischofslaufbahn nur ihrer weltlichen Vorteile wegen einschlugen, sagte er, wie anders Gregor gedacht hatte 18). Besitzstreben und Hochmut des Adels (sitperba iactantia) wurden dabei einer indirekten Kritik unterzogen. Dieselbe superbia, in der sich adliger Hochmut mit der Ursünde des auf sich selbst gestellten Menschen, der Auflehnung wider Gott, durchaus verband, sah Liudger schon bei den adligen Gegnern des Bonifatius im fränkischen Episkopat wirksam und ihnen gegenüber fand er in Bonifatius die humilitas apostolica verkörpert 1 9 ). 14
) E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) S. 186 f.; zur Funktion dieses Topos bei Regino von Prüm vgl. H . L ö w e , Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit, Rhein. Vjbll. 17 (1952) S. 156 Anm. 26 [unten S. 155], ls ) V. Gregorii c. 1 S. 66: qui de nobili Stirpe Francorum secundum carnem progenitus, nobilitate mor um et sapientiae document is nobilitatem seculi ornavit in omnibus et superavit. Quam utique spiritalem nobilitatem et prudentiam assecutus est a sancto martyre et archiepiscopo Bonifatio, magistro suo. le ) Gesta Aldrici episcopi Cenomannensis c. 1, SS. 15, 1 S. 308; vgl. F i c h t e n a u S. 167 f. ") V. Gregorii c. 2, bes. S. 68 f. 1β ) V. Gregorii c. 2 S. 69: Ν on hoc fecit amor auri et argenti, non cupido praediorum et superba iactantia . . . le ) Ebd., c. 7 S. 73 Z. 16, heißt es von Bonifatius: non in semet ipso posuit fiduciam suam iuxta morem superbientium partis adversae, sed ad humilitatem apostolicam et filiorum Dei recurrit. — Zum Gegensatz des adligen fränkischen Episkopates gegen Bonifatius vgl. jetzt Th. S c h i e f f e r , Angelsachsen und Franken (Abh. Ak. Mainz, Geistes- und Sozialwiss. Kl. 1950 Nr. 20) bes. S. 17 ff.
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In Utrecht und seinem friesischen Missionsgebiet, jener angelsächsischen „Kolonie" im Frankenreich, war noch etwas von den alten Gegensätzen lebendig geblieben, weil der fränkische Episkopat den angelsächsischen Auffassungen der christlichen Aufgaben noch immer recht wenig entsprach. Der Friese Liudger, Schüler Northumbriens und Diener des fränkischen Königs, war sich dieser verschiedenen Geisteshaltung wohl bewußt, wenn er bei Aufzählung der Völker, aus denen Schüler in die Schule Gregors geströmt waren, das Volk (gens) der Angeln als „fromm" (religiosa) bezeichnete20), während er von den fränkischen Schülern nur sagte, daß sie adligen Geschlechtes waren. Solche Kurzcharakteristiken von Völkern mit einem Schlagwort gibt es ja auch sonst in jenen Jahrhunderten 21), ein Versuch einer Völkerpsychologie in den jener Zeit angemessenen Formen. Wenn man aber eine in der Chronik des sogenannten Fredegar 22) berichtete Äußerung Chlodowechs während des Katechumenenunterrichts — er würde Christi Leiden mit dem Schwert gerächt haben, falls er mit seinen Franken dabeigewesen wäre—, wenn man diese ganz aus dem Geiste eines rauhen Kriegeradels geborene Äußerung vergleicht mit jenen besinnlichen und zum Wesen vorstoßenden Gedanken über das Problem des Glaubenswechsels, die in Bedas Kirchengeschichte23) von einem heidnischen Angelsachsen ausgesprochen werden, dann erscheint Liudgers Charakteristik beider Völker bei aller Kürze als durchaus treffend. Zur Zeit Liudgers erlebte man ja die gewaltige Schwertmission Karls des Großen, und der Angelsachse Alchvine kam mit seiner Kritik an den Methoden der Zwangsbekehrung zwar zu spät, wußte aber seine Auffassung von der notwendigen inneren Gewinnung und Belehrung, sein Wissen um den durch Zwang nicht zu bekehrenden Wesenskern des Menschen wenigstens bei der seit 796 einsetzenden Südostmission geltend zu machen 24). Liudger zeigte sich hier ganz als der Schüler Alchvines. Ihm mußte es darauf ankommen — und das war das Ziel seiner Vita Gregorii —, den fränkischen Episkopat zur Erfüllung der Aufgaben zu
20
) V. Gregorii c. 11 S. 75: Ν on enim ex una qualibet gente eius erant discipuli congregati, sed ex omnium vicinarum nationum floribus adunati; .. . Quidam .. . erant de no b i Ii Stirpe Francorum, quidam autem et de religiosa gente Anglorum, quidam vero et de novella Dei plantatione . .. Fresonum et Saxonum, quidam autem et de Baguariis et Suevis praeditis eadem religione ... 21 ) MG. Auct. ant. I I S . 389 f.; vgl. E. Z ö l l n e r , Die politische Stellung der Völker im Frankenreich (Veröffentlichungen des Instituts f. österr. Gesdi.-Forsdi. 13, 1950) S. 53. ") II 21, SS. rer. Merov. 2, S. 101. S3 ) Beda, Hist. eccl. gentis Anglorum II 13, ed. C. Plummer 1 (1896) S. 111 ff.; es ändert an der Beurteilung des Textes nicht viel, wenn man dem Bericht — wie etwa E. G r o ß , Das Wunderbare im altenglischen geistlichen Epos, Diss. Frankfurt 1940, S. 36 Anm. 1 — den eigentlichen Quellenwert abspricht und ihn nur als Zeugnis für die Auffassung Bedas verwendet. Auch dann fehlt die fränkische Entsprechung für die angelsächsische Äußerung. 24 ) H. L ö w e , Die karolingisdie Reichsgründung und der Südosten (1937) S. 116 ff.; A. K l e i n c l a u s z , Alcuin (Ann. de l'univ. de Lyon, 3e serie, lettres, fasc. 15, 1948) S. 123 ff.
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bewegen, die im Missionsgebiet — in Friesland wie in Sachsen — zu erfüllen waren. Das wird besonders deutlich, wenn man den Zeitpunkt beachtet, zu dem Liudger die Vita Gregorii schrieb, und die Kreise, an die er seine Ermahnungen richtete. Er schrieb nicht — oder jedenfalls nicht nur — für Mönche. Er war ja selbst nicht Mönch, wenn er auch längere Zeit in Monte Cassino geweilt und dort die Benediktinerregel studiert hatte 25 ). Im Gegenteil, so sehr er selbst sich mönchischer Askese unterwarf, er lehnte es ab, Mönchsgewand zu tragen und damit eine Lebensform vorzutäuschen, die nicht die seine war 2 6 ). Wenn also seine Ermahnungen sich einmal an die milites Christi richteten, so muß man nicht unbedingt an einen Mönchskonvent denken — dem etwa das Werk vorzulesen war —, sondern es ist durchaus die allgemeinere Bedeutung des Wortes möglich. Tatsächlich sprach Liudger auch — sich selbst einschließend — ganz allgemein von „uns Mittelmäßigen und Schwachen" 27 ) oder von „uns Armseligen, Trägen und Verdrossenen" 28 ). Er hatte also die im Auge, die für die Fortführung der Aufgaben Gregors in Frage kamen — audi die Bischöfe. Es ist beachtlich, daß auch diese angeredet wurden 29 ) — aber in der zweiten Person: Liudger zählte sich damals noch nicht zu ihnen 30 ), war jedoch bereits in einer Stellung, die es ihm gestattete, auch Bischöfen Vorhaltungen zu machen. Damit ist ein erstes Kriterium für die Entstehungszeit der Vita gewonnen. Es weist auf die Jahre 790/91, als Liudger nach dem zuverlässigen Bericht seines zweiten Biographen von Karl für den 791 frei gewordenen Trierer Stuhl ausersehen war, aber ablehnte, weil die Trierer Kirche selbst gelehrtere und würdigere Männer besitze als ihn. Nach dem Bericht der gleichen Quelle hat Liudger sich damals zur großen Freude Karls bereit erklärt, ) Altfridi V. Liudgeri I 21, ed. W . D i e k a m p , in: Die Geschichtsquellen des Bistums Münster 4 (1881) S. 2 5 ; MG. SS. 2, S. 410. 2β) Altfridi V. Liudgeri I 30 ed. D i e k a m p S . 3 6 ; SS. 2 S . 4 1 3 : Cucullam, eo quod promissionem observationis monachorum non fecerat, portare desivit, cilicii tarnen indumentum, quod magis abscondi potuit, ad carnem usque ad finem vitae suae habuit. 27) V. Gregorii c. 9 S. 74. 2β) Ebd. c. 2 S. 70. 25
) Ebd. c. 7 S. 7 3 : Eia praesules et praedicatores populi Dei, eodem honore et pari gradu in hoc seculo decorati, aspicite et intelligite et assumite exemplum iusti huius (seil. Bontfatii), ut, cum vocati a Deo et electi ab ecclesia Dei, non muneribus obcaecati, ad gradum episcopatus et ad regimen sanctum accesseritis, iuxta jormam eius vos instituere fruetumque afferre valeatis permansurum in vitam aeternam! 30) Daß Liudger zur Zeit der Abfassung der Vita noch nicht Bischof war, ergibt sich auch aus der Art, wie er (c. I I S . 76) die zum Bischofsamt aufgestiegenen Schüler Gregors rühmt; hier hätte er sich, wenn auch mit der Bescheidenheitsfloskel licet indignus, nennen müssen, um seine Bischofswürde von den Verdiensten Gregors abzuleiten. — Zum Zeitpunkt von Liudgers Bischofsweihe vgl. zuletzt S c h r ö e r , a . a . O . S. 1 2 2 f f . ; dodi ist seine Datierung auf 30. 3. 804 nicht zu halten, da die neue Edition des betreffenden Kaiendars ergibt, daß diese Auffassung auf mangelhaften Lesungen beruht; vgl. B. B i s c h o f f , Das Karolingische Kalendar der Palimpsesths. Ambros. M. 12 sup., in: Colligere Fragmenta. Festschrift A. Dold (1952) S. 251.
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einen gerade frei gewordenen Missionssprengel im westlichen Sachsen zu übernehmen 31). Ausdrücklich betont die Vita Liudgers dabei, wie schwierig die personelle Versorgung der sächsischen Missionssprengel gewesen sei, da kein Geistlicher im Frankenreich gern zur Missionspredigt bei den Sachsen ausgezogen sei 32 ). Die Klage über den Mangel an Missionaren findet sich auch sonst 33 ) mit dem unsicheren Leben im sächsischen Missionsgebiet begründet. Es war ganz eindeutig dieses Problem, das Liudger in der Vita Gregorii bewegte: deshalb sprach er so ausführlich von der bedingungslosen Hingabe Gregors an Bonifatius S4), von ihrem Leben in Thüringen in Armut, Unsicherheit, Lebensgefahr bei sächsischen Einfallen und Hungersnot, verwies er darauf, daß die beiden mit der Arbeit ihrer Hände ihren Lebensunterhalt hätten verdienen müssen 35 ); deshalb erzählte er von dem Gebet des Bonifatius nach seiner Bischofsweihe um ein gutes und Gott wohlgefälliges Lebensende und wies darauf hin, wie dies Gebet mit dem Martyrium in Erfüllung gegangen sei 36 ). Deshalb forderte er die Bischöfe auf, dem Vorbild des heiligen Bonifatius zu folgen 37). Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit die historische Situation, in der die Vita Gregorii um 790/91 entstand. Dazu paßt auch, daß er nach Schilderung der Nöte und Gefahren, die Bonifatius und Gregor erduldeten, den Zeitgenossen zum Vorwurf machte, daß sie selbst jetzt, in einer Zeit des „Friedens der Kirche" sich nicht für die ihnen anvertraute Herde einsetzten, sondern dem eigenen Nutzen nachgingen 38 ). Diese Zeit des Friedens war die zwischen dem Ausklingen der sächsischen und friesischen Aufstände in den achtziger Jahren und vor dem Wiederausbrechen der Kämpfe im Jahre 792. Auch Alchvine, Liudgers Lehrer und Freund 39), sprach zu Anfang 790 im Hinblick auf Sachsen und Friesland davon, daß nun die heilige Kirche in Europa Frieden habe 40). Wenn Liudger schließlich von der Zeit des Bonifatius sprach als einer Zeit der Eintracht von Lehrern, Köni31
) Vita sec. Liudgeri I 17 ed. D i e k a m ρ S. 62; SS. 2 S. 411 Anm. 13. ) Ebd.: difficile in regno Francorum potuit inveniri, qui libenter ad predicandum inter barbaros iret. 33 ) Translatio Liborii c. 3, SS. 4 S. 150: Tum vero vix repperiebantur, qui barbarae et semipaganae nationi praesules ordinarentur; cuius interdum ad perfidiam relabentis cohabitatio nulli clericorum tuta videbatur. 34 ) Vgl. oben Anm. 17. S5 ) V. Gregorii c. 2 S. 69 f. 3e ) Ebd. c. 7 S. 73. 37 ) Vgl. den Text oben Anm. 29. 3β ) V. Gregorii c. 2 S. 70: Sed quid nos miseri, pigri et inertes in pace ecclesiae dicturi sumus, qui non gregis lucra, sed commoda nostra semper quaerentcs, vix umquam in custodia ovium contra rabiem luporum vel unum latratum minimi sermonis emittimus? qui, sicut dixi, in pace ecclesiae pigri sumus . . . s ») Altfridi V. Liudgeri I c. 10—12 ed. D i e k a m p S. 15 ff.; SS. 2 S. 407 f.; die Freundschaft betont ausdrücklich V. sec. Liudgeri I 5 S. 57: Huius (seil. Alchuini) .. . familiarem amiciciam adeptus . . . 40 ) Epp. 4 Nr. 7 S. 32 Brief an Colcu: Primo sciat dilectio tua, quod miser ante Deo saneta eius ecclesia in partibus Europae pacem habet, proficit et crescit. Nam antiqui Saxones 32
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gen und Frankenvolk, dann mochte die beiläufige Erwähnung, daß damals keine „häretischen Schlechtigkeiten" aufgetreten seien 41 ), doch wieder besonders naheliegen in jener Zeit um 790/91, als die fränkische Kirche im Anfangsstadium der Diskussionen um die Bilderverehrung und um den spanischen Adoptianismus stand. Damals also schrieb Liudger sein Werk, vor dem Aufbruch in den neuen sächsischen Wirkungskreis, und dieser Ubergang in eine ganz neue und erweiterte Tätigkeit würde audi am besten das offenkundige Fehlen einer letzten Durchfeilung des Werkes erklären, das anscheinend zunächst einem umfassenderen Plan folgte, als er dann verwirklicht wurde 42 ). Die Episode der geplanten Berufung Liudgers nach Trier war aber auch geeignet, ihn noch einmal ganz besonders mit der adligen Welt des fränkischen Episkopates in Berührung zu bringen. War doch der 791 verstorbene Bischof Wiomad der letzte Bischof, der im Stil der ausgehenden Merowinger- und frühen Karolingerzeit in Trier, das seit etwa 700 praktisch die Apanage einer fränkischen Adelsfamilie war, noch weltliche Hoheitsrechte ausgeübt hatte 4 3 ). Nach seinem Tod hat Karl in Trier Grafschaft und Bistum getrennt, und es ist ebenso verständlich, daß er in der neuen Situation den Angelsachsen Liudger berufen wollte, wie daß dieser den Ruf in diese fremde und fast feindlich zu nennende Welt ablehnte. Nach dem zweiten Biographen 44 ) soll Liudger abgelehnt haben, weil die Trierer Kirche selbst würdigere und gelehrtere Männer besessen habe; man wird fragen dürfen, ob der Schüler Alchvines, des berühmtesten Lehrers und Gelehrten dieser Generation, sich wirklich den Männern der Trierer Kirche unterlegen gefühlt habe. Der eigentliche Sinn dieser Ablehnung dürfte — abgesehen von dem Bewußtsein seiner Aufgabe in der Heidenmission — in der Erkenntnis gelegen haben, daß er als Außenstehender in Trier viel Widerstand finden würde. In seiner im ganzen sehr unpräzisen Darstellung des Aufstieges des Bonifatius zur Bischofswürde und zur führenden et omnes Frisonum populi, instante rege Karolo, alios premiis et alios minis sollicitante, ad fidem Christi conversi sunt. Mit diesem Brief gab Alchvine die im sächsischen Missionsgebiet herrschende Stimmung wieder; Mitte 789 hatte er (Epp. 4 Nr. 6 S. 31) einen in Sachsen befindlichen Freund gefragt: quomodo consentiant vobis Saxones in praedicatione; et si spes ulla sit de Danorum conversione. Dieser Hinweis auf die dänische Mission zeigt wieder die Geistesverwandtschaft Liudgers und Aldi vines: Wissen wir doch von Altfrid, V. Liudgeri I 30, ed. D i e k a m ρ S. 36, SS. 2 S. 414, daß Liudger über die sächsische Mission hinaus bereits an die nordische dadite, während Karl der Große diesen Plänen die Zustimmung versagte. " ) V. Gregorii c. 8 S. 73: Et sic in consensu et unanimitate doetorum et regum et cuncti populi per omne regnum Francorum coeperunt cotidie magis magisque detrimenta fieri diabolo et incrementa ecclesiae Dei, haereticae pravitates no η apparere, et catholica fides in omnibus rutilare, ac religio munda et immaculata longe lateque clarescere. 42 )
Vgl. zu V. Gregorii c. 8 (Ankündigung weiterer Ausführungen über Marchelm) SS. 15, 1 S. 73 Anm. 3. 43 ) Darüber zuletzt E. E w i g , Civitas, Gau und Territorium in den Trierischen Mosellanden, Rhein. Vjbll. 17 (1952) S. 120 ff., bes. 132 f. 44 ) Vgl. oben Anm. 31.
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kirchlichen Stellung in Austrien war ein Satz sehr charakteristisch: Die Gegner des Bonifatius im fränkischen Episkopat hätten ihn als der Bischofswürde unwürdig bezeichnet, weil er Ausländer gewesen sei 45 ). Das zweifellos durch entsprechende fränkische Äußerungen hervorgerufene Gefühl der Angelsachsen, Außenseiter im Frankenreich geblieben zu sein 46 ), hatte bei Liudger noch Spuren hinterlassen. Angelsächsische Erziehung und friesische Abstammung gaben Liudger jene innere Distanz, die es ihm bei aller Anerkennung der Leistung der karolingischen Könige für Kirche und Christentum — Pippin und Karlmann waren ihm wie der Papst principes ecclesiae 47) — ermöglichte, auch über den engeren Bereich der Mission hinaus seine zum Teil recht scharfe Kritik an den Unzulänglichkeiten des fränkischen Episkopates auszusprechen. In unmittelbarer Gegenüberstellung oder mittelbar im Lob der Bonifatius und Gregor tadelte er Habsucht 4 8 ), Hochmut 4 9 ), Lässigkeit und Feigheit 50 ), Kleiderluxus, Völlerei und Trunksucht 5 1 ) der fränkischen Prälaten, ermahnte er sie, in den Armen „Arme Christi" zu sehen und wie Bonifatius und Gregor für sie zu sorgen 52 ), hielt er dem starren Rechts- und Rachesinn des Adels die christliche Nächstenliebe Gregors entgegen, der audi dem Mörder des eigenen Bruders verzeihen konnte 53 ). Unter den christlichen Tugenden aber, zu denen er sie aufrief, fanden sich immer wieder auch solche, zu denen gerade adliges Denken einen Zugang finden konnte: constantia 54), longanimitas, die schon bei seinem Lehrer Alchvine an die Stelle der adligen magnanimitas getreten war 5 5 ), fortitudo 56 ) in Ver45
) V. Gregorii c. 4 S. 71: non esse eum dignum episcopatu, quia peregrinus erat. ) Schöne Beobachtungen über den allmählichen Ausgleich der fränkisch-angelsädisisdien Spannung bei S c h i e f f e r , Angelsachsen und Franken S. 30 if., 61 ff. 47 ) V. Gregorii c. 10 S. 75 Ζ. 1: . . . beatus Gregorius a Stephano apostolicae sedis praesule et ab illustri et religioso rege Pippino suscepit auctoritatem seminandi verbum Dei in Fresonia . . S . 75 Z. 10 f.: . . . gentis Fresonum pastor et praedicator ordinatus α Domino et a principibus supradictis ecclesiae Dei. Das ist die dann unter Ludwig dem Frommen auftretende Auffassung von den zwei Personen innerhalb der „ecclesia"; vgl. R. F a u l h a b e r , Der Reidiseinheitsgedanke in der Literatur der Karolingerzeit bis zum Vertrag von Verdun (Eberings Hist. Stud. 204, 1931) S. 42 f. 4β ) V. Gregorii c. 2 S. 69 Z. 14 f., S. 70 Z. 12 f.; c. 12 S. 76; c. 13 S. 77 Z. 40 f., S. 78 Ζ. 1 f. 4 ·) V. Gregorii Praef. S. 66: quos non carnalis generatio extollit inaniter, sed spiritalis regeneratio fructificare facit et proficere; vgl. auch c. 7 S. 73 Z. 16 von Bonifatius (zitiert oben Anm. 19). 6 °) V. Gregorii c. 2 S. 70 Z. 9 ff. " ) Ebd. c. 12 S. 76; c. 13 S. 77 Z. 43; c. 2 S. 67 Z. 28. 4e
52
) Ebd. c. 13 S. 77. Daß Liudger selbst im Sinne seiner Lehren als pater egenorum wirkte, zeigt Altfrid, V. Liudgeri I 30, ed. D i e k a m ρ S. 36; SS. 2 S. 414. M ) Ebd. c. 9 S. 74. 54 ) Vgl. H. L ö w e , Rhein. Vjbll. 17 (1952) S. 154 Anm. 15, über das Problem der Adelsethik bei Regino S. 153 ff. [jetzt unten S. 152 ff.]. — V . Gregorii c . 2 S. 69 Z. 18, S. 70 Z. 3. 55 ) V. Gregorii c . 2 S. 69 Z. 18, zu Alchvine L ö w e , Rhein. Vjbll. 17 S. 158 Anm. 34 (auf S. 159) [unten S. 158]. 5e ) Fortitudo constantiae: V. Gregorii c. 3 S. 70 Z. 18 f.
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bindung mit constantia, und immer wieder die virtus operum 57 ), die Tugend der Werke im Sinne der Werkheiligkeit eines Gregor des Großen, aber doch auch mit dem vollen alten Gehalt des Tüchtigen und Starken. Liudger, selbst adliger Abstammung, konnte nichts anders als in echten adligen Kategorien seine Forderungen aussprechen; er tat dies um so eher, als er mit Gesinnungen zu rechnen hatte, die oft audi zu der alten Adelsethik germanischer Herkunft im Widerspruch standen. In diesem Ringen um die Durchdringung der adligen geistlichen Oberschicht mit christlicher Haltung lag naturgemäß der erste Ansatz zur Ausbildung einer christlichen Adelsethik, die freilich endgültig erst von späteren Jahrhunderten vollbracht werden sollte. Man hat das Christentum der Zeit Karls des Großen als eine noch nicht in die Tiefe der Herzen gedrungene Erscheinung, als bloße Summe erlernbarer Lehrsätze ohne lebensgestaltende Kraft gewertet, man hat betont, daß der hohe Klerus wie die „Akademiker" am Hofe Karls des Großen kein Verständnis für die wirklichen Probleme der Zeit, für die Not der „Armen Leute" aufgebracht hätten 58 ). So viel Richtiges an diesen Darlegungen ist, so wenig wird man es geringschätzen dürfen, daß zu den kritischen Stimmen dieser Zeit selbst, die uns weithin erst über die gerügten Mißstände informieren und gleichzeitig den Willen zur Änderung und Besserung hervortreten lassen, nun auch die Gestalt Liudgers tritt. Wenn man den Vorwurf machte, daß den Männern der Kirche für die Verwirklichung der Worte ihrer Predigt das Beispielhafte eigenen Ergriffenseins und eigener christlicher Leistung fehlte 59 ), so wollte ja Liudger Bonifatius und Gregor als Beispiel und Vorbild aufweisen, und man wird ihm kaum bestreiten dürfen, daß er selbst auch ein solches Beispiel gegeben hat. Schließlich fällt nun wohl von Liudger ein Licht noch auf seinen Lehrer Alchvine, den man ja an erster Stelle unter jenen Akademikern genannt hat, die ein egoistisches Genußleben führten 60 ), ohne sich um die Not der Zeit zu kümmern. Es geht aber nicht an, die anders lautenden Briefe Alchvines 61 ) mit ihren Äußerungen über Nichtigkeit und sittliche Gefahr des Reichtums und seine Geldspenden nach England als bloße Erzeugnisse des Alters zu bagatellisieren; der erhaltene Bestand von Briefen Alchvines setzt im wesentlichen erst in jenen Altersjahren seit 793 ein, und man wird kaum annehmen dürfen, daß ") 5e) 59) 60) 61)
Ebd. S. 70 Z. 18, Z. 35. F i c h t e n a u S. 164. F i c h t e n a u S. 178. F i c h t e n a u S. 160 f., 96. F i c h t e n a u S. 96, 106; demgegenüber bleibt jedoch auf K l e i n c l a u s z S. 112 ff., 121 f., 123 ff. zu verweisen. E. S. D u c k e t t , Alcuin, friend of Charlemagne, N e w Y o r k 1951, S. 306, ist im Urteil stark von Fichtenau beeinflußt, im ganzen aber doch gerechter. Wer Gedanken äußern konnte wie Alchvine, Epp. 4 N r . 200 S. 332 Z. 19 ff., der war kein Sklave seines Reichtums. Vgl. auch N r . 53 S. 9 7 ; man wird auf solche Selbstanklagen, die sich bei ernsten Christen immer wieder aus dem nie aufzuhebenden Widerspruch von göttlichem Gebot und menschlicher Unvollkommenheit ergeben, keine negative Charakterschilderung gründen dürfen.
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der Lehrer Alchvine und sein Schüler Liudger auch Freunde geworden wären, wenn in solchen Kernfragen eine wesentliche Kluft zwischen ihnen bestanden hätte. Gewiß war Alchvine wie Liudger adliger Abstammung, und er war — anders als dieser — höfischer Weltmann 6 2 ); aber wir finden bei ihm dieselben Ansätze zur Ausbildung einer christlichen Adelsethik 63 ) wie bei Liudger; wie dieser appellierte er an den „Seelenadel", wenn er den jungen König Pippin aufforderte, den Adel der Abstammung durch Adel der Gesittung zu vertiefen 64 ). So ließ er angelsächsische Große mahnen, gerecht im Volk zu richten, ihren Herren treu zu sein und untereinander die Eintracht zu wahren 65 ), das heißt also, ihre Untergebenen, die „armen Leute", nicht ungerecht zu bedrücken, selbst treue Diener von König und Rechtsordnung zu sein und von den so beliebten Fehden mit den Standesgenossen Abstand zu nehmen. Er, den man mit einem bemerkenswert anachronistischen Vergleich neben Hegel, den Verfechter der Staatsomnipotenz, gestellt hat 6 6 ), konnte in seinem personalistischen Denken schlechten Herrschern — zu denen Karl für ihn nicht zählte — sehr deutliche Grenzen im Anschluß an gelasianische Auffassungen setzen 6 7 ); er hat bei Karl seine Meinung vertreten, auch wenn sie von diesem nicht gebilligt wurde 68 ). Er sah und betonte die nachteiligen Folgen des Einsatzes der Bischöfe im Dienst des Herrschers. Wenn die Geistlichen wirklich nach apostolischem Vorbild und in Armut leben würden, so sagte er einmal, dann könnte man auch dem Dienst der Welt zu Recht absagen; so aber — da dies eben nicht der Fall war — hätten die „Fürsten der Welt", wie es scheine, einen gerechten Grund, die Kirche Christi durch ihren Dienst zu bedrücken 69 ). Bei allem Streben, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers war, sprach hier ein Wissen um die Problematik der bischöflichen Stellung im Reich, freilich auch um die Unmöglichkeit einer anderen Lösung. Das Ideal der apostolischen «2) Κ 1 e i η c 1 a u s ζ S. 45 f. Vgl. H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 2 (1953) S. 233; K l e i n c l a u s z S. 122 f. 64 ) Vgl. oben Anm. 14, 15; Epp. 4 Nr. 119 S. 174 (Ende 796): nobilitatem generationis morum nobilitate adornare studeas; zu den Tugenden, die ihm vorgehalten werden, zählt auch: affabilis miseris. Ferner: Brief an Gisla ebd. Nr. 15 S. 41: Noli de terrena nobilitate gloriari. . .; Nr. 30 S. 71: Ν on est liber vel nobilis, qui peccatis serviet; Nr. 54 S. 98 Z. 27: Nobilissimtts omnium creator pater nobiles habere filios cupit. •5) Brief an den Patricius Osbert 793, Epp. 4 Nr. 122 S. 180. Et potentes laicos rogate, ut iusta iudicia faciant in populo et casta coniugia; et ut fideles sint ad dominum suum, et unanimes et concordes inter se ipsos. ··) F. Η e e r , Aufgang Europas (1949) S. 659.
e3 )
" ) Vgl. die Briefe an Aethelred von Northumbrien, Epp. 4 Nr. 16 S. 44 Z. 23 ff., Nr. 18 S. 51 Z. 18 ff.; vgl. audi D u c k e 11 S. 232 Anm. 74. ββ ) A. H a u c k , Kirchengesdiichte Deutschlands 23'* (1912) S. 136 f.; K l e i n c l a u s z S. 112 ff., 123 ff.; E. C a s ρ a r , Zs. f. KiG. 54 (1935) S. 222 ff., 226 Anm. 39, 228. ··) Epp. 4 Nr. 265 S. 423 Z. 19 ff.: Si apostolico exemplo vivamus et pauperem agamus vitam in terris sicut Uli jecerunt, saeculi servitium iuste abdicamus. Nunc vero saeculi principes habent iustam, ut videtur, causam ecclesiam Christi suo servitio opprimere. Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß der Reichsdienst der Bischöfe für Alchvine ein Teil jener pressura ist, der der Christ in der Welt ausgesetzt ist. Vgl. Nr. 253 S. 409 Z. 9 ff.
Löwe, Cassiodor
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Armut war Alchvine also nicht fremd, mochte er auch anders als Liudger zum Ausdruck bringen, daß es praktisch nicht zu verwirklichen und daß er selbst von dieser Verwirklichung weit entfernt war; so wenig aber sie beide dieses Ideal buchstäblich nahmen, so sehr diente es ihnen dazu, den Blick offen zu halten für das reine Ideal des Christentums und für die Schwächen, die von hier aus gesehen der damaligen Kirche noch anhafteten. Wenn die Analyse der Vita Gregorii über die Persönlichkeit Liudgers hinaus noch ein allgemeineres Ergebnis gebracht hat, so ist es dies, daß man für die geistige Vorgeschichte der unter Ludwig dem Frommen einsetzenden kirchlichen Reformen nicht nur die aquitanische Linie der mönchischen Reform Benedikts von Aniane in Anrechnung stellen sollte, sondern auch jene angelsächsische Richtung, deren Kritik am kirchlichen Leben des Frankenreiches seit den Tagen des Bonifatius nicht erlahmt war. Daß Liudger mit der Heraufbeschwörung von Gestalten wie Bonifatius und Gregor von Utrecht den historischen Zusammenhang mit den Anfängen der angelsächsischen Reform und Mission herstellte, bleibt sein großes Verdienst, das ihm nicht bestritten werden kann, solange man der Geschichte nicht nur die Aufgabe, uns „das Vergangene vom Halse zu schaffen", sondern auch die Berechtigung zuerkennt, das Große und Tüchtige der Vergangenheit für die Gegenwart zu verlebendigen.
Das Karlsbuch Notkers von St. Gallen und sein zeitgeschichtlicher Hintergrund Als Kaiser Karl III. im Herbst 883 aus Italien zurückgekehrt war, hielt er sich drei Tage lang, vom 4. bis zum 6. Dezember, im Kloster St. Gallen auf. Dort erfreute ihn der Mönch Notker, der sich selbstironisch den Stammler nannte, dem aber ein neuerer Geschichtsschreiber als Notker dem Dichter seinen Platz in der Geschichte anwies, mit Erzählungen aus dem Leben seines Urgroßvaters Karls des Großen. Sie gefielen dem Kaiser so sehr, daß er beim Aufbruch dem Mönch den Auftrag erteilte, sein Wissen über Karl den Großen in einem Buch niederzulegen. So entstand in den Jahren nach 883 Notkers Buch *) über „die Taten Karls des Großen", dessen lebendiger Inhalt — wenn auch mehr als Geschichten denn als Geschichte 2 ) aufgefaßt — über die Jahrhunderte hinweg Leser angezogen hat und teilweise in den Besitz unserer Schulbildung eingegangen ist. Die historische Kritik des 19. Jahrhunderts, die das Buch nach seinem Quellenwert für die Geschichte Karls des Großen beurteilte, hat nicht viel Lobenswertes darin gefunden. Ein deutscher Forscher sprach im Jahre 1888 von Notker als „einem gemütlichen, alten Mönche", von dem sidi Karl III. „kurzweilige Geschichten aus den Tagen seines Urahns Karls des Großen erzählen" ließ, „die in ihrer treuherzigen Einfalt ihm so wohl gefielen, daß er den Erzähler aufforderte, sie ihm zu fernerer Belustigung in einem Buche ordentlich zusammenzuschreiben" 3 ). Der Tiefpunkt in der Beurteilung des
Schweizer. Zs. f. Gesdi. 20 (1970) S. 269—302. Vortrag bei der Jahresversammlung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, in Ludwigsburg am 27. November 1969. — *) Die Verfasserschaft Notkers wurde gesichert durch Κ . Ζ e u m e r , Der Mönch von St. Gallen, Hist. Aufsätze dem Andenken an G. Waitz gew. (1886), S. 97—118, und E. G r a f Z e p p e l i n , Wer ist der Monachus Sangallensis?, Schriften des Ver. f. Gesch. des Bodensees 19 (1890), S. 33—47. 2 ) W. v o n d e n S t e i n e n , Notker der Dichter und seine geistige Welt 1 (1948), S. 71. s) E. D ü m m 1 e r , Geschichte des ostfränkischen Reiches 3 2 (1888), S. 220.
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Werkes war wohl erreicht, als ein französischer Forscher 4 ) im Jahre 1918 erklärte, dieses „Gelegenheitswerk" hätte die Aufmerksamkeit des modernen Lesers überhaupt nur verdient, weil viele ernste Gelehrte darauf hereingefallen seien, und für die Geschichte Karls des Großen bedeute es kaum mehr, als die „Drei Musketiere" des Alexandre Dumas für die Geschichte Ludwigs X I I I . Dabei ging er in jedem Fall zu weit, wenn er im Banne der damals herrschenden Epentheorie Bediers die Bekanntschaft Notkers mit mündlichen Traditionen strikt ablehnte und die Meinung vertrat, daß Notker ausschließlich auf Grund schriftlicher Quellen gearbeitet und diese nach seiner Phantasie ergänzt habe. Andererseits hatte er schon bemerkt, daß Notker Karl III. nicht nur unterhalten, sondern auch belehren wollte, indem er ihm exempla, Beispiele vorbildlichen Handelns 5 ), zusammenstellte. Den hier nur ganz nebenbei gegebenen Hinweis hat dann die spätere Forschung aufgegriffen, indem sie weniger nach dem Quellenwert, als vielmehr nach der literarischen Absicht des Werkes fragte. So hat Paul Lehmann, als er 1934 Notker in die Geschichte des literarischen Bildes Karls des Großen im Mittelalter einordnete, wie schon vor ihm Adelaide Antonelli, Notkers Hinweis auf seine Gewährsmänner, also die mündliche Überlieferung, ernst genommen, aber auch den „unterhaltenden und witzigen, ernsten und belehrenden" Charakter des Werkes hervorgehoben 6 ). Das grundlegende Buch Wolframs von den Steinen über Notker den Dichter 7 ) sowie die Edition der Gesta Karoli von Hans F. Haefele mit den sie begleitenden Studien 8 ) haben auf diesem Wege weitergeführt. Schließlich hat Theodor Siegrist Notkers Werk als einen Fürstenspiegel interpretiert 9 ), als „didaktische Schrift, die zu politischer Wirksamkeit bestimmt war", als ein Werk, das mit seinen exempla Karl III. an christliche Königspflicht erinnern, 4)
L. H a l p h e n , Etudes critiques sur l'histoire de Charlemagne I V : Le moine de SaintGall, Rev. Hist. 128 (1918), S. 2 6 0 — 2 9 8 , neu abgedr. in Buchform: Ders., Etudes critiques sur l'hist. de Charlemagne (1921), S. 104—142. 5) H a l p h e n , Rev. Hist. 128 (1918), S. 2 9 2 ; mehr die Unterhaltung betonte G r a f Z e p p e l i n a. a. O. S. 44. Die exempla Notkers faßte S i e g r i s t (unten Anm. 9) besonders ins Auge (S. 38 if.). β ) Α. A n t o n e l l i , II „De gestis Karoli Magni" e il suo autore, Atti dell'Accad. degli Arcadi N.S. 2 (1928), S. 8 3 — 1 1 4 ; P. L e h m a η η , Das literar. Bild Karls d. Gr., vornehmlich im lateinischen Schrifttum des Mittelalters, SB. Akad. München, phil.-hist. Kl. 1934, Nr. 9 (neu abgedr.: Ders., Erforschung des Mittelalters 1, 1941 [Nachdr. 1959], S. 1 5 4 — 2 0 7 ) . 7)
W . v o n d e n S t e i n e n , Notker der Dichter und seine geistige Welt 1 (Darstellungsband), 2 (Editionsband), (1948). 8 ) Notkeri Balbuli Gesta Karoli Magni Imperatoris, ed. H . F. H a e f e l e , M G H . SS. rer. Germ. N o v a Series 12 (1959); H a e f e l e , Studien zu Notkers Gesta Karoli, D A . 15 (1959), S. 3 5 8 — 3 9 2 . Die Diskussion zwischen K. L a n g o s c h , Mittellatein. Jb. 1 (1964), S. 2 0 9 — 2 1 7 , und H a e f e l e , D A . 23 (1967), S. 5 3 9 — 5 4 4 , berührt unsere Fragestellung nicht.
· ) Th. S i e g r i s t , Herrscherbild und Weltsicht bei Notker Balbulus. Untersuchungen zu den Gesta Karoli, Diss. Zürich 1963 ( = Geist und Werk der Zeiten. Arbeiten aus dem Hist. Seminar der Univ. Zürich 8), bes. S. 71 ff.; im Prinzip zustimmend („eine Art Fürstenspiegel"): Η a e f e 1 e , DA. 15, S. 390, Anm. 281.
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nicht aber eine geschichtliche Darstellung, „nicht einmal eine Vita im mittelalterlichen Sinne" sein wollte 10). Ein anderer Autor hat dargetan, wie das seit Karl dem Großen gewandelte Selbstverständnis der karolingischen Welt in ihrem Verhältnis zu Byzanz in Notkers Werk zum Ausdruck kam 11). So hat sich eine neue, von der quellenkritischen Forschung des 19. Jahrhunderts sehr verschiedene Betrachtungsweise durchgesetzt; ihr geht es um den Autor, um seine Art, die Vergangenheit zu sehen, und zwar gerade auch da, wo sein Vergangenheitsbild durch seine Gegenwart beeinflußt ist. Die Möglichkeiten dieser Betrachtungsweise, die gegenüber mittelalterlicher Historiographie immer mehr zur Anwendung kommt, sind auch bei Notker noch nicht ausgeschöpft, und es soll versucht werden, auf dem eingeschlagenen Wege noch ein Stück weiterzukommen. Mittelalterlichen Fürstenspiegeln, in deren Nähe nun Notkers Werk gerückt ist, sagt man gern, und gerade für das Frühmittelalter auch mit Recht nach, daß sie zwar grundsätzliche Anweisungen für das christliche Leben, weniger aber für die politische Praxis des Herrschers geben. Auf dieser Linie liegen im wesentlichen auch die Ergebnisse, die Siegrist so eindrucksvoll aus Notkers Karlsbuch gewonnen hat. Doch wäre nun zu überlegen, ob in Notkers Vergangenheitsbild nicht in größerem Maße, als man das bisher annahm 12), Bezüge zum konkreten politischen Leben seiner Gegenwart, zur Verfassung und Krise des karolingischen Reiches dieser Zeit feststellbar sind. Daher soll im folgenden gefragt werden, 1. welchen Platz Notker in der Gesellschaftsordnung seiner Zeit einnahm und welche Informationsquellen ihm zur Verfügung standen, 2. ob die Strukturen von Königtum, Kirche und Adel seiner Zeit sich in seinem Werke spiegeln, 3. ob die Ereignisse der Zeitgeschichte, die Krise der letzten Jahre Karls III., in seiner Darstellung Karls des Großen einen Niederschlag gefunden haben. I.
Ein Mönch des Klosters St. Gallen war nicht dazu verurteilt, lebensfremd an den Entscheidungen des politischen Lebens seiner Zeit vorbeizugehen. Das Kloster, neben Reichenau eines der führenden karolingischen Bildungszentren, 10
) Hierzu wichtig der Hinweis von W. v o n d e n S t e i n e n , Notkers des Dichters Formelbuch, Zs. f. Schweizer. Gesch. 25 (1945), S. 459, daß Notker die Formulare für Königsurkunden in der Coli. Sangallensis nicht nur als „Stilmuster", sondern audi als „Denkmuster" ersann. ") R. H a n s e n , Die Weltfamilie der Fürsten und Völker im Spiegel der Gesta Karoli Magni Imperatoris, Gesch. in Wiss. u. Unterricht 18 (1967), S. 65—73. 12 ) Mit dieser Fragestellung modifiziere ich meine ältere, unter dem Eindruck P. L e h m a n n s (s. oben Anm. 6) gebildete Auffassung; vgl. H . L ö w e , Geschichtschreibung der ausgehenden Karolingerzeit, D A . 23 (1967), S. 12 f. — Schon Η a e f e 1 e , in der Einleitung zur Ausg. S. X V , verweist auf die Gegenwartsfärbungen des II. Buches der Gesta, die sich gelegentlich zur Kritik steigerten.
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pflegte als Reichskloster seine Beziehungen zum Hof, insbesondere unter einem Herrscher wie Karl III., der von Schwaben seinen Ausgang genommen hatte und gerade Männer schwäbischer Herkunft in seinen Dienst und sein Vertrauen zog 13 ). Andererseits bestimmte Notkers Herkunft aus grundherrlicher Adelsfamilie 14 ) audi im Kloster seine politische Vorstellungswelt; sein Bruder Othere, in den Quellen als centenarius bezeichnet, wohl königlicher Lehnsmann, war nicht unvermögend, doch wird der Abstand der Familie vom Hochadel mit seinen weit verbreiteten Besitz- und Herrschaftsrechten deutlich. Notker förderte offensichtlich, so gut er konnte, den von seinem Bruder im Königsdienst gesuchten Aufstieg; im Jahre 884 widmete er sein Sequenzenbuch dem Erzkanzler Karls III., Bischof Liutward von Vercelli, mit der Bitte, seinem Bruder bei dem Kaiser eine Gunst zu erwirken 15 ). Die Menschen, zu denen Notker in näherer Beziehung stand, haben der gleichen Gesellschaftsschicht angehört wie er. Liutward selbst entstammte einer ähnlich aufsteigenden Familie. Obwohl eine ihm feindlich gesinnte, aber gut informierte Quelle 16 ) von seiner Abstammung ex infimo genere sprach, wird man festhalten dürfen, daß so wichtige Funktionen wie die des Bischofs und Erzkanzlers bzw. Erzkaplans damals nur in adligen Händen liegen konnten, daß jene Quelle einseitig vom Standpunkt des Hochadels aus urteilte und daß sie Liutward in seiner Herkunft aus gerade erst aufsteigender niederer Adelsfamilie treffen wollte. Sie machte ihm den bezeichnenden Vorwurf, er habe seine Verwandten durch List und Gewalt mit den „Töchtern der Edelsten" verheiratet; dabei ist der Superlativ sehr ernst zu nehmen, da Liutward in diesem Zusammenhang — wie die gleiche Quelle berichtet — in Konflikt mit dem Hause der Unruochinger geriet, das die Markgrafen von Friaul stellte und auf die Abstammung von einer Tochter Ludwigs des Frommen stolz sein durfte. Diese Familie hatte die „Königsnähe", die dem karolingischen Reichsadel seine volle
) Über Schwaben in Kapelle und „Kanzlei" Karls III. vgl. P. K e h r , Die Kanzlei Karls III., Abh. Akad. Berlin, phil.-hist. Kl. 1936, Nr. 8; ders., Die Kanzlei Arnolfs, Abh. Akad. Berlin 1939, N r . 4; im einzelnen macht dazu Einsdiränkungen: J . F l e c k e n s t e i η , Die Hofkapelle der deutschen Könige 1: Grundlegung. Die karolingische H o f kapelle, Schriften der M G H 16/1 (1959), S. 189 ff. 14 ) So R . S ρ r a η d e 1, Grundherrlicher Adel, rechtsständisdie Freiheit und Königszins. Untersuchungen über die alemannischen Verhältnisse in der Karolingerzeit, D A . 19 (1963), S. 20; ders., Das Kloster St. Gallen in der Verfassung des karolingischen Reiches, Forschungen zur oberrhein. Landesgesch. 7 (1958), S. 114 f.; G. M e y e r v o n K n o n a u , Ein thurgauisches Schultheißengeschlecht des 9. u. 10. Jhs., Jb. f. Schweizer. Gesch. 2 (1877), S. 103—109. 15 ) W. v o n d e n S t e i n e n , Notker der Dichter 2, S. 10 Z. 11, Z. 13. Die Arbeit am Liber Hymnorum begann um 860 und wurde 884 mit der Widmung an Liutward abgeschlossen, ebd. 1, S. 492, N r . 1. le) Annales Fuldenses, ed. F. K u r z e , M G H . SS. rer. Germ, in us. schol. (1891), S. 105, die Mainzer Fassung zu 887. Zur Abstammung vgl. F l e c k e n s t e i n , Die Hofkapelle der deutschen Könige 1, S. 190, Anm. 174; G. T e i l e n b a c h , Liturgische Gedenkbüdier als historische Quellen, Studi e Testi 235 (1964), S. 396 f. ls
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Bedeutung gab 17 ), schon erreicht. Liutward war dabei, sie für seine Familie erst zu erwerben, und stieß daher auf den Widerstand der bereits Arrivierten. In einer vergleichbaren Situation waren Notkers Freunde und Schüler, die Brüder Waldo und Salomo, Waldo seit 884 Bischof von Freising, Salomo seit 890 Bischof von Konstanz und Abt von St. Gallen; beide hatten vorher in der Hofkapelle Karls III. gedient. In einem Brief an die beiden Brüder nannte Notker ihre Familie, die im 9. Jahrhundert dem Bistum Konstanz drei Bischöfe namens Salomo gestellt hat, mit biblischem Anklang das genus sacerdotale, die Bischofsfamilie, und er war durchaus überzeugt, daß seinen beiden jungen Freunden eines Tages — sei es in Konstanz oder anderswo — die Bischofswürde zufallen müßte 1 8 ). Außer den Bischöfen sind nur wenige Mitglieder dieser Familie bekannt geworden, und auch diese rückten nur durch ihre Beziehungen zu den Bischöfen in das Licht der Quellen. Die Bedeutung der Familie beruhte also auf den Mitgliedern, die auf den Konstanzer Bischofsstuhl berufen worden waren, und diese Berufung konnte nur im Dienst des Königs verdient werden, der im ostfränkischen Reich die Bistumsbesetzung in der Hand hatte. Notker hat in dem erwähnten Brief die beiden Brüder vor der Rückkehr ins Weltleben und auf den Landbesitz der Familie gewarnt und dabei die Lage der Familie anschaulich geschildert; er hielt es nicht für sehr reizvoll, den Besitz weiter zu teilen und dadurch zu verkleinern, das Feld zu bewirtschaften, Häuser zu bauen und auf die Jagd zu gehen. Wenn er sie bei anderer Gelegenheit 19 ) auf die „schmutzige und mühsame Arbeit der Bauern" hinwies, klingt hinter dieser übertreibenden Zuspitzung immerhin das Leben schlichten Landadels an. So mahnte er die Brüder, sich im Hinblick auf ihre geistliche Laufbahn nidit von ihrer „Armut" beschwert zu fühlen, und er ließ durchblicken, daß der größere Teil der Familie seine Chancen dort, nicht auf dem väterlichen Erbe zu suchen habe 2 0 ). Gemeinsam war Notker, seinen Schülern und Liutward die Zugehörigkeit zum grundherrlichen Adel und der Versuch der Familien, im Königsdienst weiter aufzusteigen, ein Versuch, der Waldo und Salomo, vor allem aber Liutward, schon weiter geführt hatte als Notker und Othere. So bezeichnet die Zugehörigkeit zu einem Reidiskloster ")
Die Arbeiten G. T e l l e n b a c h s und seiner Schüler zur karolingischen Adelsforschung brauchen hier im einzelnen nicht aufgeführt zu werden; ausdrücklich verwiesen sei nur auf die unmittelbar die Familie der Salomone berührenden Untersuchungen von K. S c h m i d , Über die Struktur des Adels im früheren Mittelalter, Jb. f. fränk. Landesforschung 19 (1959), S. 1—23, bes. S. 10 ff. Ders., Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel, ZGORh. 105 (1957), S. 1—62. Ders., Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußtsein in frühmittelalterlichen Gedenkbucheinträgen, D A . 21 (1965), S. 64 ff. 18) Collectio Sangallensis N r . 43, ed. Κ . Ζ e u m e r , M G H . Formulae (1886), S. 426 f. Ie) Coli. Sangallensis N r . 41, S. 424, Z. 2 : Non decet, ut rusticanorum sordidula et laboriosa 20
assumatis opera, qui iocundissima et blandissima Christi subistis onera portanda. ) Coli. Sangallensis N r . 43, S. 426, Z. 4 4 : Si essetis numero decern, omnia sufficienter haberetis, duo apud Veronam, duo ad Brixiam, duo apud Constantiam, duo iuxta Sanctum Galium, duo de hereditate vestra.
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und zu einer Adelsschicht, die sich für ihren Aufstieg auf den Königsdienst angewiesen sah, den Standpunkt, von dem aus Notker seine politische Umwelt betrachtete. Durch Liutwards Beziehungen zu St. Gallen und Notker sowie durch Notkers Freundschaft zu Waldo und Salomo war ihm aber auch eine Informationsquelle erschlossen, wie er sie sich besser kaum wünschen konnte; Liutward war Erzkanzler und Erzkaplan, Waldo und Salomo waren Notare der königlichen Hofkapelle, des geistlichen Regierungsinstrumentes der Karolinger, sie hatten Einblick in die Regierungsgeschäfte und begleiteten den Kaiser auch auf seinen Zügen durch das Reich. Waldo hatte Notker schon Nachrichten geliefert, als dieser eine Fortsetzung der Frankengeschichte des sogen. Erchanbert schrieb 21 ), ein knappes Geschichtswerk mit einigen guten Informationen, höfischer Gesinnung und geprägt von Zukunftshoffnungen, wie sie Notker damals hegte. Möglicherweise wurden Notkers Beziehungen zur Hofkapelle Karls III. nicht nur durch diese seine Freunde vermittelt. Die Zahl der schwäbischen Hofkapläne war gerade unter Karl III. beträchtlich. Wenn Notker sich in seinem Karlsbuch über die von Karl häufig aufgesuchte königliche Marienkapelle in Regensburg und über Regensburger Lokalereignisse informiert zeigte 22 ), könnten außer Waldo und Salomo auch andere Hofkapläne die Vermittler gewesen sein. Im Vergleich zu den weitgereisten, frei beweglichen Angehörigen der Hofkapelle hat Notker sich selbst als in sein Kloster eingeschlossen gefühlt 2 3 ). Aber er brauchte den Hof geistlichen ihre Beweglichkeit 21
) W. v o n d e n S t e i n e n , Notker der Dichter 1, S. 492, Nr. 4, datiert die Abfassung „etwa im Sommer des gleidien Jahres" ( = 881). Als Terminus ante quem ist der Tod Ludwigs des Jüngeren (20.1. 882), der noch als lebend erwähnt wird, anzusetzen. Über Anregungen Waldos vgl. unten Anm. 89, 90. 22 ) Gesta Karoli II, 11, ed. H a e f e l e S. 69; F l e c k e n s t e i n , Hofkapelle 1, S. 221 f., über die bereits unter Karl III. 885 beginnende Loslösung der Marienkapelle aus dem Funktionszusammenhang der Hofkapelle, nicht aber vom Königtum. Von dieser Feststellung sind die Informationsmöglichkeiten Notkers über Regensburg auf dem Weg über die Hofkapelle nicht betroffen: Karl III. hielt sich im Frühjahr 883 in Regensburg auf, wo er am 23. und 28. März sowie am 2. und 5. April urkundete (DKl. III. 72, 73, 74, 75, BM.2 1652, 1653, 1654, 1655, wobei jeweils Waldo als Rekognoszent auftrat), das Osterfest (31. März) feierte (BM.2 1653 a) und eine Reichsversammlung abhielt (BM.2 1655 a); am 16. September 884 machte Karl in Regensburg der Marienkapelle eine Schenkung (DKl. III. 107); am 23. 8. 885 machte er aus Waiblingen jene Schenkung an den Abt der Marienkapelle, Engilmar, die F 1 e c k e η s t e i η a. a. Ο. als Zeichen der beginnenden Ablösung der letzteren aus der Hofkapelle ansieht (DKl. III. 127, BM.2 1710); der letzte Aufenthalt Karls in Regensburg ist für Weihnachten 885 (BM.2 1716 b) und Anfang Januar 886 (BM.2 1716 c, 1737, 1738, DKl. III. 134, 135) belegt. Auch Aspert, Kaplan Karls III., custos et cancellarius Arnulfs, Diakon in Regensburg, wo er 891 Bischof wurde, muß Beziehungen zu St. Gallen gehabt haben, da er am 29. Mai 888 (DArn. 25, BM.2 1790) als Intervenient für Abt Bernhard von St. Gallen auftrat. K e h r , Die Kanzlei Arnolfs S. 9 f. hielt ihn für einen Schwaben, F l e c k e n s t e i n a. a. O. S. 196 für einen Bayern.
2S
) Die nähere Beschreibung der Aachener Pfalz überließ Notker, Gesta Karoli I, 30 S. 41, Karls „Kanzlern": Cuius edificii descriptionem ego inclusus absolutis cancellariis vestris relinquens. . .
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nidit unbedingt zu neiden; was sie wußten von den Problemen und Ereignissen der Reichspolitik der achtziger Jahre, haben sie ihm gerne mitgeteilt. Wir werden daher berechtigt sein, in Notkers Karlsbuch auch nach Äußerungen zu fahnden, die geprägt sind durch die gesellschaftliche und politische Verfassung, in der er lebte, und durch die Sorgen, die ihm die Zeitereignisse, über die er gut informiert war, bereiteten. II. Der aus aufstrebender Adelsfamilie stammende Mönch Notker hat ein Karlsbild entworfen, in dem die „mönchisch-geistlichen" Züge naturgemäß stärker ausgeprägt waren als bei seinem Vorgänger, dem Laien Einhard 24). Das Karlsbild Notkers war stark bestimmt von der Sehweise der Hagiographie, einer Gattung, in der auch Einhard sich versucht, der er aber nicht diesen Einfluß auf sein von Sueton her bestimmtes Werk eingeräumt hatte. Einhard hatte insbesondere mit dem aus der hellenischen Adelsethik stammenden Begriff der magnanimitas, der ihm durch Cicero zugekommen sein dürfte, die archaischen und vorchristlichen Züge im Bilde Karls zu erfassen gesucht 25 ). Bei Notker fehlte die magnanimitas nicht, doch machte er — wie einer der Biographen Ludwigs des Frommen 26) — nicht sie, sondern die längst verchristlichten vier Kardinaltugenden zu Leitmotiven von Karls Handeln 2 7 ). Der Einfluß der Hagiographie zurück bis zu den Schilderungen der Dämonenkämpfe der ältesten Mönche 28) wurde deutlich, wenn Notker den Herrscher wie den Mönch als den von Gott berufenen Kämpfer gegen das Böse und gegen den Bösen, den Satan, schilderte; aufs äußerste steigerte er das Bild in der Erzählung vom König Pippin 2 9 ), der den angreifenden Teufel mit dem Schwerte durchbohrte. Wie es aber dem Hagiographen normalerweise nicht um das individuelle Leben des einzelnen Heiligen, sondern um den Idealtyp des Heiligen schlechthin ging, so ging es Notker um den idealen Herrscher, dessen Vorbild wie das des Heiligen durch exempla in die Gegenwart hineinwirken 24
) H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Geschiditsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karlinger 2 (1953), S. 266—277, mit älterer Lit.; Η . B e u m a n n , Ideengeschichtliche Studien zu Einhard und anderen Geschichtsschreibern des frühen Mittelalters (1962). 2δ ) S. H e l l m a n n , Einhards literarische Stellung, H V . 28 (1934), S.40—110; Neudruck in: Ders., Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters (1961), S. 159—229. 2e ) Zum sog. Astronomus vgl. H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 3 (1957), S. 338. 27
) S i e g r i s t (s. oben Anm. 9) S. 74 ff.; S. M ä h l , Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit, Arch. f. Kult. Gesch. Beiheft 9 (1969), geht auf Notker nicht ein. 28 ) Dies aufgezeigt zu haben, ist das besondere Verdienst von S i e g r i s t (s. oben Anm. 9), bes. S. 23 ff., 40 ff.; vgl. audi schon H. F. H a e f e l e , Teufel und Dämon in den Gesta Karoli, Schweizer. Archiv f. Volkskunde 51 (1955), S. 5—20. 2e ) Gesta Karoli II, 15 S. 78 ff.; S i e g r i s t S. 51, 98.
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sollte, exempla, die bei Notker wie in der Hagiographie den belehrend-erbaulichen mit dem unterhaltenden Zweck verbanden. Daher erklärt es sich 30 ), wenn Notker so oft den Zusammenhang des Karlsbuches zu verlassen schien, indem er auch Ludwig den Deutschen (II, 10, 11, 17, 18), den König Pippin (II, 15) und gelegentlich sogar Ludwig den Frommen (II, 19—21) mit vorbildlichen Taten auftreten ließ, ganz im Gegensatz zu Einhard, der die Vorfahren Karls kurz abgetan und Ludwig den Frommen durch seine Schilderung Karls sogar indirekt getadelt hatte 3 1 ). Notker unterschied sich von Einhard auch da, wo dieser als sein Ziel bezeichnet hatte, das „Leben und die hervorragenden und den Menschen der Gegenwart kaum nachahmbaren Taten" Karls nicht in Vergessenheit geraten zu lassen 3 2 ). Damit hatte Einhard, der seine Karlsvita erst spät, nach 830 oder gar nach 833 verfaßt haben dürfte 3S ), aus dem Abstand eines halben Menschenalters und aus der im Niedergang des Reiches gewonnenen Uberzeugung gesprochen, daß der Gegenwart Taten wie die Karls nicht mehr möglich seien; ebenso aber sprach aus diesen Worten Einhards, der Karl so vertraut gewesen war wie kein anderer, die Distanz einer jüngeren Generation, die am Anfang der Regierung Ludwigs des Frommen den — freilich erfolglosen — Versuch einer Reformpolitik erlebt hatte, die mit den unleugbaren Schwächen des Staatsaufbaues aus der Zeit Karls des Großen aufräumen wollte. Damals hatten sich die Maßstäbe verschoben, und Einhard hatte bestimmte Züge am Bild des historischen Karl unterdrückt, weil sie ihm nicht mehr als vorbildlich, mindestens aber als umstritten galten, und weil er sein Karlsbild mit ihnen nicht belasten wollte 3 4 ). Ganz anders war die Situation Notkers in den Jahren nach 883. Rund siebzig Jahre, reichliche zwei Generationen nach dem Tode Karls des Großen stand er dem historischen Karl bereits so fern, daß er in dessen bereits ins Sagen- und Legendenhafte erhobene Bild unbedenklich alle Züge des Herrscherideals eintragen konnte, die er dem dritten Karl vor Augen halten wollte. Teils bewußt, teils unbewußt ließ er dabei in das Bild der Vergangenheit die Vorstellungen, Sorgen und Wünsche seiner Gegenwart einfließen. So unterschied sich sein Werk ganz beträchtlich von dem Einhards, das er kannte und weitgehend als Quelle benutzte. ) S i e g r i s t , S. 71. ) M. L i η t ζ e 1, Die Zeit der Entstehung von Einhards Vita Karoli, Festsdir. f. R . Holtzmann (1933), S. 22—42, neu abgedr. in: Ders., Ausgewählte Schriften 2 (1961), S. 27—41. 32 ) Einhard, Vita Karoli, Praef., ed. O. H o l d e r - E g g e r , M G H . SS. rer. Germ, in us. schol. (1911), S. 1: Moderni temporis hominibus vix imitabiles actus...·, das hebt sidi deutlich ab vom Astronomus, Vita Hludowici c. 1, M G H . SS. 2, S. 607, der über Karl sagt: famosissimus regum nullique suo tempore postponendus Karolus, und der in der Praef. den lehrhaften Zweck seines Werkes betont: utilitati... aedificationi . . . cautelae. Dazu vgl. H. W o l t e r , Geschichtliche Bildung im Rahmen der artes liberales, in: Artes liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters, hg. von J . K o c h ( = Studien u. Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 5, 1959), S. 59 mit Anm. 47. 33) So L i n t z e l (s. oben Anm. 31). 34 ) So schon L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n (s. oben Anm. 24) 2, S. 276 f. 30 31
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Einhard hatte das „Königspriestertum", das manche Zeitgenossen an Karl dem Großen priesen, mit allen Zügen der Kirchenherrschaft aus seinem Karlsbild ausgeklammert, zweifellos unter dem Einfluß von Strömungen der Zeit Ludwigs des Frommen, welche die alte Zweigewaltenlehre des Papstes Gelasius wieder zu Ehren gebracht hatten 35). Für Notker dagegen war es nach seiner Lebenserfahrung selbstverständlich, daß Karl Bischöfe einsetzte und mit solchen Erhebungen die ihm im Reich geleisteten Dienste belohnte 36). Er schilderte Karl als Kämpfer 37), als Freund 38) und — zwar nicht dem Wort, aber der Sache nach — als Abbild Gottes 39 ). Er sah Karl umgeben von seinem Hof wie Gott von den „himmlischen Heerscharen" 40). Wie nach dem Bibelwort Gott, erhöhte Karl die Demütigen (humiles) und erniedrigte die Hochmütigen (superbi)*1); er „ahmte die Gerechtigkeit des ewigen Richters nach", wenn er bei der Schulvisitation die guten Schüler zu seiner Rechten, die schlechten zu seiner Linken stehen ließ 42). Ludwig der Deutsche zerstreute wie Gott, der „ewige und innere Richter" „über das den Sterblichen vergönnte Maß hinaus" „durch den Blick seiner Augen alles Böse" 43 ); Karl vermochte mit dem Blitzen seiner Augen einen unverschämten Bischof zu Boden zu schmettern 44). Immer wieder bezeichnete Notker Karl als „schrecklich" (terribilis) und stellte ihn damit in die Nähe des Göttlichen, des Numinosen 45 ); denn auch die Sakramente der Kirche, wie die Eucharistie, denen sich der Mensch nur unbefleckt nahen darf, waren ihm „schrecklich", waren terribilia sacramentay und einen Bischof, der in der Nacht Unzucht begangen hatte und am nächsten Morgen 35
) Vgl. dazu jetzt K. F. M o r r i s o n , The Two Kingdoms. Ecclesiology in Carolingian Political Thought (1964), S. 36 ff. 3e ) In seinem Formelbudi, Coll. Sangallensis Nr. 3, MGH. Formulae S. 398 (dazu W. v o n d e n S t e i n e n , Zs. f. Schweizer. Gesch. 25, 1945, S. 457), hat Notker im Formular einer Königsurkunde über freie Abtwahl den benutzten Vorlagen die Bemerkung hinzugefügt, der gewählte Abt müsse für den Königsdienst geeignet sein; mit dem Königsdienst der Bischöfe als einer Selbstverständlichkeit rechnen Coli. Sangall. Nr. 2 S. 396, Nr. 29 S. 415 Z. 8 ff., Nr. 38 S. 420 Z. 19. Vgl. auch das Verfahren bei der Resignation Hartmuts und der Wahl und Bestätigung Bernhards als Abt von St. Gallen im Dezember 883: Ratpert, Casus S. Galli, MGH. SS. 2, S. 74. Vom gleichen Geist zeugen die Gesta Karoli I, 4—6, S. 5—9; I, 14—15, S. 17—19. " ) Vgl. S i e g r i s t (s. oben Anm. 9) S. 73 über die Verbindung von „Krieger" und „Mönch" in Notkers Königsbild. ) Gesta Karoli I, 5 S. 9 Z. 2 f.: . . . nec Deum nec praecipuum illius amicum . . ., Z. 5 f.: divino et meo iudicio, Z. 6 f.: . . . Deo donante et me concedente (überträgt Karl ein Bistum); vgl. S i e g r i s t a. a. O. S. 82 f. »») S i e g r i s t a. a. O. S. 79 ff. 40 ) Gesta Karoli II, 6 S. 57: In cuius undique circuitu consistebat instar militiq c$lestis, . . . ; Gesta I, 14 S. 18, heißt es von einem Bischof, den Karl anredet: Ille quasi divinitus allocutus .. . 41 ) Gesta I, 16 S. 19 Z. 20 ff. 42 ) Gesta I, 3 S. 4 Z. 6 f. 43 ) Gesta II, 11 S. 70. 44 ) Gesta I, 19 S. 25; vgl. II, 17 S. 87; S i e g r i s t a. a. O. S. 101. 45 ) S i e g r i s t S. 104 f. 3e
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auf Befehl Karls die Messe feiern sollte, ereilte sofort der Tod als göttliche Strafe 46 ). So sah Notker den Herrscher ganz im Sinn der „Herrschaftstheologie" 47) der ottonisch-salischen Zeit als Abbild und Stellvertreter Christi oder, wie ein Zeitgenosse Karls des Großen, als Stellvertreter Gottes 48). Er bezeichnete ihn als „Bischof der Bischöfe", und es ist kein Wunder, daß ein späterer Absdireiber diese Worte „aus gregorianischer Tendenz" strich 49). Das ist um so wichtiger, als etwa um die gleiche Zeit im Westfrankenreich der Erzbischof Hinkmar von Reims das Königsrecht bei der Bischofserhebung zu einem bloßen Konsensrecht herabzudrücken suchte 50) und im gelasianischen Sinne das aus dem Alten Testament bekannte Königspriestertum als Sache der Vergangenheit erklärte, da nur noch Christus König und Priester zugleich gewesen sei und Priestertum und Königtum seitdem geschieden seien 51). Notker stand auf dem Boden einer reichskirchlichen Praxis, die unter Karl 52) wie im ostfränkischen Reich und später im ottonisch-salischen Reichskirchensystem üblich war, die sich aber vor der Auffassung Einhards 5S) und von den durch Hinkmar verkörperten Tendenzen im westfränkischen Reich eindeutig unterschied. Zu sehr war der Mönch Notker das Glied einer adligen Welt, als daß er nicht seinem Bilde Karls des Großen, des Gotteskämpfers, die heroisch-archaischen Züge gegeben hätte, die später audi in der ritterlichen Karlsepik des Hochmittelalters auftraten, daß er aus Karl den nie in Untätigkeit erstarrenden Helden machte, der keinen Tag vorbeigehen lassen wollte, ohne „etwas Denkwürdiges" zu tun 54). Andererseits konnte ein Adliger wie Notker den fränkischen König des 9. Jahrhunderts und selbst den großen Karl nicht als absoluten Herrscher sehen. So ließ er Karl einmal zögern, aufständische Adlige 4e
) Gesta I, 25 S. 34. ) Dazu vgl. die von Κ. Η a u c k angeregte Dissertation von L. B o r n s c h e u e r , Miseriae regum. Untersuchungen zum Krisen- und Todesgedanken in den herrschaftstheologischen Vorstellungen der ottonisch-salischen Zeit, Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, hg. ν . Κ. Η a u c k 4 (1968). 48 ) Cathwulf schrieb 775 an Karl d. Gr.: quod tu es in vice illius (seil. Dei) super omnia membra eius custodire et regere... Et episcopus est in secundo loco, in vice Christi tantum est. 49 ) Gesta Karoli I, 25 S. 33; S i e g r i s t (s. oben Anm. 9) S. 73 f.; zur Streichung vgl. W. v o n d e n S t e i n e n , Zu Notkers Gesta Karoli Magni, Schweizer. Zs. f. Gesch. 11 (1961), S. 52. 50 ) H . G. J. Β e c k , Canonical Election to Suffragan Bishoprics according to Hincmar of Reims, The Catholic Hist. Rev. 43 (1957/8), S. 137—159. 51 ) Vgl. z . B . Hinkmar, De ordine palatii c. 4, MGH. Capitularia 2, S. 519; beachtenswert, daß Melchisedech nicht einmal mehr erwähnt wird. Vgl. jetzt Η . H . A n t o n , Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit, Bonner hist. Forschungen 32 (1968), S. 281 ff. 52 ) Schon A n t o n e l l i (s. oben Anm. 6) S. 105 f. betonte, daß trotz des falschen anekdotenhaften Details die für Karl geltende „intima unione dello stato e della diiesa" richtig zum Ausdruck komme. 53 ) Ähnlich schon Η a e f e 1 e , D A . 15, S. 390, ohne darin allerdings mehr zu sehen als den Unterschied zwischen dem Mönch Notker und dem Laien Einhard. 54 ) Gesta Karoli II, 17 S. 84; dazu S i e g r i s t a. a. O. S. 93; vgl. audi S. 72. 47
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zu bestrafen, „weil sie bei gutem Willen für die Christen einen großen Schutz bilden konnten" 5 5 ). Diese Einsicht hatte er aus keiner schriftlichen Quelle entnommen; sie erwuchs aus seiner Verwurzelung in einem Herrschaftssystem, in dem der König ohne die ungebärdigen Großen nicht regieren konnte. In die gleiche Richtung weisen die Worte, die er den Gesandten des Kalifen Harunal-Raschid in den Mund legte 5 6 ); sie sagten Karl, sein Ruhm bei den auswärtigen Völkern sei offensichtlich größer als seine Macht im eigenen Reich: „Aber die Großen hierzulande kümmern sich, wie uns dünkt, nicht gerade um Euch außer in Eurer Anwesenheit, denn wenn wir als Fremde sie darum baten, sie möchten aus Liebe zu Euch, da wir ja Euch aufsuchen wollten, uns einige Freundlichkeit erweisen, ließen sie uns ohne Beistand und mit leeren Händen ziehen." Notker mag solche Äußerungen irgendwie in Erfahrung gebracht haben; die strukturelle Schwäche westlichen Königtums, das kein Herrschaftsmonopol besaß, sondern die Herrschaft mit dem Adel teilen mußte, konnte gerade Arabern auffallen. Das zeigen Äußerungen, die im 10. Jahrhundert der Kalif Abderrahman III. von Cordova gegenüber einem Gesandten Ottos des Großen tat 5 7 ), ebenso wie die Klage des Staufers Friedrich II. über den „Mißbrauch pestbringender Freiheit" im Westen und seine Neidgefühle gegenüber dem glücklichen Asien, dessen Herrscher die Waffen ihrer Untertanen nicht zu fürchten brauchten 58 ). Aber Notker kannte auch ohne arabische Vermittlung die Eigenmächtigkeit der Großen, die nur durch die stets wiederholte Anwesenheit des mittelalterlichen „Reisekönigtums" halbwegs im Zaum gehalten werden konnte. Kritik am Adel — allerdings an einer besonderen Gruppe des Adels — ist jedenfalls in Notkers Karlsbuch durchaus zu finden 59 ). In seiner Erzählung von Karls Schulvisitation legte er Wert darauf, daß die mediocres und infimi, „die Knaben aus mittlerem und niederem Stande", durch ihre Leistungen zu Bischöfen und Äbten aufsteigen konnten, während unfähigen Adligen auch das Pochen auf Geburt und Besitz nicht dazu verhelfen konnte 60 ). Aber die mediocres und infimi, die er auch pauperes nannte, sind nicht als Angehörige der Mittel- und Unterschicht im modernen Sinne zu verstehen; sie umfaßten sicher nicht die Schicht der Hörigen, denn Notker hielt es für richtig, daß zwei tüchtige Müllerssöhne aus der familia des Klosters Bobbio, Schüler der Hof) ) ") 58)
Gesta Karoli II, 12 S. 73. Gesta Karoli II, 8 S. 62. Vita Johannis Gorziensis c. 136, M G H . SS. 4, S. 376 f. A. H u i l l a r d - B r i h o l l e s , Historia diplomatica Friderici II., Bd. 6, 2 (1861), S. 685 f.; dazu H . G r u n d m a n n , Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat im Mittelalter, H Z . 183 (1957), S. 41. 5') Nicht berücksichtigt wurde Notker in der naturgemäß auswählenden Untersuchung von U. H o f f m a n n , König, Adel und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Historiker des 9. bis 11. Jahrhunderts, Diss. Freiburg i. B. 1968. eo) Gesta Karoli I, 3 S. 4 f.; vgl. I, 4 S. 5 : De pauperibus supradictis. Über die paupertas von Freien in St. Galler Urkunden vgl. S p r a n d e l , D A . 19, S. 15. 55 5e
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schule, ihrer Herkunft wegen nicht Bischöfe oder Äbte werden konnten β1). Unbeschränkte soziale Mobilität kannten weder Notker noch seine Zeitgenossen. Aber die Karolingerzeit hat eine soziale Entwicklung erlebt, die an die Stelle der rechtsständischen eine durch die Funktion bestimmte Gliederung der Gesellschaft treten ließ 6 2 ); über einen Bauernstand, der aus Menschen verschiedener Rechtsstellung, Freien und Unfreien, zusammenwuchs, trat eine Führungsschicht, in die neben den alten edelfreien Geschlechtern audi neu heraufkommende Gruppen Aufnahme fanden und in der es Abstufungen und die Möglichkeit des Aufstiegs gab. Gerade für Schwaben ist festgestellt worden, „daß die freien Bauern in einem rechtsständischen, siedlungs- und besitzmäßigen, ja oft wohl auch verwandtschaftlichen Zusammenhang mit dem grundherrschaftlichen Adel standen". Notker und seine Freunde gehörten Familien an, die an diesem sozialen Aufstieg jeweils in ihrer Art beteiligt waren. Von daher versteht sich ein Podien auf den Leistungsadel und seine Sympathie für diejenigen, die den Aufstieg durch eigene Leistung, sei es in der kirchlichen Laufbahn oder im Kriegsdienst, erstrebten und bewirkten 6S). Dabei entsprach es durchaus der Herkunft aus schlichtem, grundherrlichem Adel, wenn er den luxuriösen Aufwand des Hofadels geißelte und sich durch den Mund Karls des Großen wie Ludwigs des Deutschen 64) über jene Hofleute lustig machte, deren feine, aus Byzanz oder dem Orient bezogene Kleidung sich für Jagd und Krieg als untauglich erwies und hinter Karls einfachem Schafspelz weit zurückstand. Audi den Bischöfen, die einem in dieser Hinsicht allzu adligen Lebensstil huldigten, begegnete er mit herber Kritik 6ä ), und er beklagte es, daß im Bischofsamt zu seiner Zeit nicht so sehr das gute Werk als die „große Ehre", die Verfügung über Besitz und Herrschaftsrecht, gesucht würde e6 ). Solchen Adligen und solchen Bischöfen gegenüber — das war die Mahnung des Karlsbuches an den Kaiser — sollte sich Karl III. ebenso tatkräftig als Herrscher durchsetzen wie einst der große Karl. Aber damit sind wir schon bei der Stellung Notkers zu den politischen Auseinandersetzungen der achtziger Jahre. III. Diese zu erfassen, wird es erforderlich sein, noch einmal auf die Entstehungszeit der Gesta Karoli einzugehen. Der letzte Herausgeber hat ver") G e s t a K a r o l i I . 8 S . i l . ) Vgl. etwa F. L ü t g e , Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (I960 2 ), S. 49 f.; das Zitat bei S ρ r a η d e 1, D A . 19, S. 16. 6S ) Die militärische Bewährung v o n quidam privati homines (Gesta II, 2 S. 51) und v o n duo nothi de genicio Columbrensi, die suo vel hostium sanguine servitutis notarn diluerunt (Gesta II, 4 S. 52), wird (ebd. II, 3 S. 52) dem Versagen v o n zwei Herzogssöhnen gegenübergestellt. Für den Aufstieg in der geistlichen Laufbahn vgl. Gesta I, 3—5, S. 4 ff.; über Grenzen der Aufstiegsmöglichkeit Gesta I, 8, S. 10. e4 ) Gesta Karoli II, 17 S. 86—88. e5 ) Gesta Karoli I, 16, 17—20, S. 19 ff. ββ ) Gesta Karoli I, 18 S. 22. e2
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sudit, den allgemeinen Rahmen für die Abfassungszeit des Werkes (Dezember 883 bis November 887) etwas einzuengen und die Entstehung auf 886/887 anzusetzen, da ein Normannenzug des Jahres 885 und vielleicht ein Mainzer Stadtbrand von 886 in der Darstellung Spuren hinterlassen hätten 6 7 ). Dafür spricht manches, doch ist auch Skepsis geäußert worden 6 8 ). So könnte es sich lohnen, der Frage noch einmal nachzugehen. Notker berichtete (II, 10), daß Ludwig der Deutsche dem Kloster St. Gallen im Jahre 873 zu Immunität und Königsschutz das Inquisitionsrecht unter gebanntem Eid (iuramento coacticio) urkundlich verliehen habe 6 9 ). Diese Urkunde hat Karl I I I . am 30. Mai 887 bestätigt 7 0 ); da Notker nichts davon sagte — in einem Werk, das den Kaiser ständig persönlich ansprach —, läge die Annahme nahe, daß er sein Werk schon vorher vollendet hätte. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Das zweite Buch der Gesta Karoli wurde nach einem 30. M a i 7 1 ) , unbekannt welchen Jahres zwischen 884 und 887, geschrieben. Beachtet man nun, daß Notker seinen Bericht über die Urkunde damit entschuldigte, daß ihn seine „persönliche Freude" verleitet habe 7 2 ), vom Thema der allgemeinen „Gnade, Größe und Hochherzigkeit" Ludwigs des Deutschen zu einem besonderen Gnadenerweis für St. Gallen abzuschweifen, so liegt der Gedanke nahe, daß nicht die weit zurückliegende Verleihung, sondern erst die Erneuerung der Urkunde am 30. Mai 887 den Grund für die Freude und für die Abschweifung gebildet hat. Obwohl die Freude der Erneuerung galt, wurde der Dank an Karl nicht direkt ausgesprochen, um die literarische Fiktion einer Niederschrift der im Dezember 883 gehaltenen Vorträge aufrechtzuerhalten. Das paßt aufs beste zu den bereits vom Herausgeber beigebrachten Indizien und wird sich von der Inhaltsanalyse her noch weiter unterbauen lassen. Das zweite Buch der Gesta Karoli entstand also in der Zeit der Krise, die unmittelbar zum Sturz des Kaisers hinführte, in einer Zeit, in der mancher schon überlegen mochte, wie nun der Absprung zu einem neuen Herrn — hätte man nur gewußt, zu welchem — zu finden sei. An solche Leute könnte Notker gedacht haben, als er von Kaplär.en sprach, die nicht aus Ergebenheit, sondern aus Gewinnsucht am Hofe Karls lebten 7 3 ). So wird man annehmen dürfen, daß Notkers Werk nicht etwa nur unvollständig erhalten, sondern daß es von seinem Verfasser « ) Zu Gesta Karoli II, 13, S. 76, vgl. H a e f e l e ebd. Anm. 3 und S. X V ; zu I, 30 S. 41, vgl. ebd. Anm. 1 und S. X V f. •8) W. v o n d e n S t e i n e n , Schweizer. Zs. f. Gesch. 11 (1961), S. 51. «») Gesta Karoli II, 10 S. 66 f.; DLD. 144 vom 1. Febr. 873, DLD. 146 vom 9. April 873. *>) DKl. I I I . 159; Η a e f e 1 e , DA. 15, S. 385 ff. 71 ) Gesta Karoli, Praef. zu Buch I I S. 48: Sed quia praecipuus eorum Werinbertus VII. die de hac vita recessit et debemus h ο die, id est III. die Kai. Junii, commemorationem illius orbi filii discipulique agere, hie fiat terminus libelli istius . . .; vgl. Haefele, ebd. S. X I V . n) Gesta Karoli II, 10 S. 67: Sed heu, quam stultus ego, qui propter specialem benignitatem ab eo nobis praebitam, α generali et ineffabili eius bonitate et magnitudine vel magnanimitate parum consulte private gaudio retrahente digressus sum. 7S ) Gesta Karoli II, 17 S. 85: qui non aliquo amore sed questus tantum gratia vestram celsitudinem comitantur.
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nicht vollendet worden ist 7 4 ). Der Sturz des Kaisers im November 887 veränderte die Situation so sehr, daß Notker sein Werk nicht mehr weiterführen mochte; denn es handelte sich nicht einfach um ein Werk zum Lobe Karls des Großen, das er audi Karls I I I . Nachfolger Arnulf hätte widmen können, wie es ein sächsischer Dichter damals getan hat; es war vielmehr ein für Karl I I I . ganz persönlich geschriebenes Werk, getragen von bestimmten politischen Vorstellungen, die nach Karls Sturz den einfachen Wechsel der Adresse ausschlössen. Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Notker noch eine andere Arbeit, die Abschrift der lateinischen Akten des 5. ökumenischen Konzils zu Konstantinopel von 553 gerade im Jahre 888 abbrach 7 5 ). Vielleicht darf man darin einen Hinweis sehen, daß Sturz und Tod seines Kaisers Notker in eine geistige und körperliche Krise stürzten, die ihn zeitweise arbeitsunfähig machte. Tatsächlich ist nicht zu verkennen, daß Notkers Werk Züge der Apologie für Karl I I I . trug. Er traf sich in dieser apologetischen Haltung mit der seit 882 entstehenden bayerischen Fassung der sog. Fuldaer Annalen, der Reichsannalen des ostfränkischen Reiches, die nicht in den allgemeinen Chor der Kritik an der schwächlichen Politik Karls I I I . einstimmte. Offensichtlich hat er zu diesen Annalisten Beziehungen gehabt, erwähnte er doch in seinem Buch Kapläne Karls III., die Geschichte schrieben 76 ), besaß er Beziehungen zur königlichen Marienkapelle in Regensburg, und konnte ihm schließlich sein Schüler Waldo — seit 884 Bischof von Freising — die Gesichtspunkte dieses Kreises vermitteln 77 ). Das Versagen Karls I I I . vor den Normannen im Jahre 882 suchte die bayerische Fassung der Fuldaer Annalen zu bemänteln, indem sie auf eine
74 )
Diese Möglichkeit erwogen schon Z e u m e r (s. oben Anm. 1) S. 116, A n t o n e l l i (s. oben Anm. 6) S. 95 f.; v o n d e n S t e i n e n , Notker der Dichter 1, S. 493 Nr. 7, und: Schweizer. Zs. f. Gesch. 11, S. 52, wo auf Grund des Handschriftenbefundes die Vermutung ausgesprochen wird, daß Notker „keine Reinschrift, sondern eine Kladde hinterließ". — A n t o n e l l i S. 95 gewann aus II, 10, S. 66 f., wo der 883 zurückgetretene Abt Hartmut als lebend vorausgesetzt wird, einen Terminus ante quem, da sie Hartmuts Tod — ohne Beleg — auf 885 ansetzte. Tatsächlich erscheint ein Priester Hartmut noch am 30. März 895 als Zeuge (H. W a r t m a n n , Urkundenbuch der Abtei St. Gallen 2, 1866, Nr. 697 S. 299); er wird von f a r t m a n n und Η a e f e 1 e , Gesta Karoli S. 66 Anm. 6, mit dem früheren Abt identifiziert. Nichts zwingt dazu, aus Notkers Worten nunc autem vester inclusus zu schließen, daß Hartmut im technischen Sinne Inkluse geworden sei; Notker gebraucht das Wort inclusus audi für sich selbst (Gesta I, 30 S. 41). 75 ) W. v o n d e n S t e i n e n , Notker der Dichter 1, S. 496 Nr. 13. " ) Vgl. oben Anm. 23; wichtiger noch die ähnliche Wendung der Gesta II, 17 S. 85 Z. 9 f., über die Einnahme von Pavia durch Karl d. Gr.: illis scribendum relinquo, qui non aliquo amore sed questus tantum gratia vestram celsitudinem comitantur. Dieser Hinweis auf historiographisch tätige Kapläne Karls III. verstärkt die lockeren Indizien (vgl. H. L ö w e , DA. 23, 1967, S. 7; unten S. 185), die auf eine Verbindung der bayerischen Fassung der Fuldaer Annalen mit der Hofkapelle Karls III. hindeuten. « ) Vgl. oben Anm. 22.
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große Seuche hinwies, die das kaiserliche Heer kampfunfähig gemacht habe 7 8 ). Auf derselben Linie lag Notkers Behandlung des Normannenproblems. E r handelte zwar nicht über die Zeitereignisse, sondern über die Normannengefahr der Zeit Karls des Großen; aber er stellte diese mit deutlich gegenwartsbezogenen Retouchen so dar, daß er im Grunde eine Apologie für Karl I I I . lieferte: Auch Karl der Große habe die Normannen auf dem Landwege nicht angreifen können, da die göttliche Vorsehung dies nicht gewollt und eine Seuche, die ζ. B. in einer Nacht im Aufgebot eines Abtes allein fünfzig Zugochsen dahinraffte, das Heer lahmgelegt habe. So habe Karl der Große, „um nicht gegen das Gebot der Schrift gegen den Strom zu schwimmen", von dem Feldzug gegen die Normannen Abstand genommen, und diese hätten — und das geht noch mehr als alles bisher Gesagte gegen die historische Wahrheit — seine Abwesenheit ausgenutzt, um sich im Moselgau niederzulassen, eine Geschichte, die nicht in die Zeit Karls des Großen, aber gut in die achtziger Jahre des 9. Jahrhunderts p a ß t 7 9 ) . Nur die Ermordung König Gottfrieds durch seinen eigenen Sohn, berichtete Notker weiter, habe damals das Frankenreich vor den Normannen gerettet, und Karl der Große habe für diese Errettung allein Gott die Ehre gegeben. Wenn Notker dann die berühmte Anekdote von den normannischen Seeräubern erzählte 8 0 ), die von dem Überfall auf eine südfranzösische Hafenstadt abstanden, weil Karl in ihr anwesend war, so konnte Karls des Großen Klage über die seine Nachfolger bedrohenden Gefahren abermals eine Entlastung für den dritten Karl bedeuten. Aber audi Notker verzichtete nicht darauf, Worte der Kritik und der Ermahnung an Karl I I I . zu richten. Wenn er von einem Normannen erzählte, der sich zur Zeit Ludwigs des Frommen zwanzigmal hatte taufen lassen, um in den Besitz des weißen Taufgewandes zu gelangen, so wollte er damit dem Kaiser sagen, wie wenig die Normannen von Christentum und Taufe hielten, die sie „nicht um Christi willen, sondern wegen des irdischen Vorteils" empfingen 8 1 ). Das traf unmittelbar den Kaiser, der im Jahre 882 geglaubt hatte, mit der Taufe eines Normannenführers die Gefahr abwenden zu können. Er hatte diesem im Vertrag von Aseloha (Asselt oder Elsloo) sogar große Tribute zugestanden 8 2 ) und sich damit die Kritik aus dem Umkreis des Erzbischofs Liutbert von Mainz zugezogen, die daran erinnerte, daß nach dem Brauch seiner Vorfahren der Kaiser Tribute zu empfangen, nicht zu geben hätte 8 3 ). Auch ) Annales Fuldenses, Contin. Ratisbon. 882, ed. F. K u r z e , M G H . SS. rer. Germ, in us. schol. (1891), S. 108. 7 ») Gesta Karoli II, 13 S. 75 f.; dazu Η a e f e 1 e ebd. S. 76, Anm. 3. so) Gesta Karoli II, 14 S. 77 f. 81) Gesta Karoli II, 19 S. 89 f. 82) E. D ü m m l e r , Geschichte des ostfränkischen Reiches 3 2 (1888), S. 201 ff.; BM. S 1639 b. 83) Annales Fuldenses zu 882 (Mainzer Fassung), ed. K u r z e S. 9 9 : et quod maioris est criminis, a quo obsides aeeipere et tributa exigere debuit, huic pravorum usus consilio contra consuetudinem parentum suorum, regum videlicet Francorum, tributa solvere non erubuit. 78
Löwe, Cassiodor
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Notker, dessen Schüler Waldo sich in den kritisdien Wochen des Jahres 882 am Hofe befunden hatte, machte sich, wenn auch leise, diese Kritik zu eigen, indem er aufzählte, wie Karl der Große, Ludwig der Fromme und Ludwig der Deutsche Tribute der Normannen erhalten hatten 8 4 ). Aber Notkers Kritik wollte nicht feindselig, nicht destruktiv sein, sondern den Kaiser zum energischen Handeln, zur Wahrnehmung seiner Rechte und Pflichten als Herrscher auffordern. Wenn sich Karl I I I . in den Jahren 881 und 882 — zu einer Zeit, als Waldo am Hofe war und Notker darüber berichten konnte — gegenüber dringenden päpstlichen Hilferufen zum Eingreifen in Italien und Rom hinter seine Pflichten und Sorgen in den anderen Reichsteilen zurückzog 8 5 ), ließ Notker diese Entschuldigung nicht gelten. Seinem Bericht über den Langobardenfeldzug Karls des Großen in den Jahren 773/74 fügte er den Satz hinzu, Karl habe diesen Zug zum Schutze des Papstes unternommen, „obwohl er diesseits der Alpen stark beschäftigt war" 8 6 ). Mit diesem Satz, den er in seinen Quellen nicht hatte finden können, wollte er den Urenkel des großen Karl mahnen, die Kaiseraufgabe des Schutzes der römischen Kirche wirksam zu erfüllen. Notker dachte also anders als Erzbischof Hinkmar von Reims, der Jahre zuvor schärfste Kritik daran geübt hatte, daß Karl der Kahle nach Italien zog und sein westfränkisches Reich nach innen und außen ungesichert zurückließ 8 7 ). Von einer solchen Kritik der Kaiserpolitik finden sich bei Notker keine Spuren. Die Mahnung an Karl I I I . aber war so sorgfältig in das Lob seines Urgroßvaters eingekleidet, daß sie nicht verletzen konnte. Schon früher hat man die Beziehung auf Karl I I I . erkannt, wenn Notker einen Hof geistlichen des großen Karl rufen ließ: „Herr König, halte Deine
) Gesta Karoli II, 19 S . 8 9 ; Ludwig der Deutsche: Gesta II, 18 S. 88. — Daß Waldo sidi damals am H o f befand, ergibt sich aus den von ihm rekognoszierten Urkunden vom 17. und 22. Mai sowie 19. Juli 882, BM. 2 1637 bis 1639, DK1. III. 5 7 — 5 9 . Auch Karls III. Schenkung an St. Gallen vom 23. September 882 (BM. 2 1640, DK1. III. 60) zeugt von Beziehungen, die Notker einen unmittelbaren Eindruck von der Stimmung am H o f geben konnten. e 5 ) Hierher gehört der Mahnbrief Johannes VIII. an Karl III. nach Pavia vom 11. November 881: Quod autem dicitis, ut postpositis ceteris cur is iter vestrum in Italiam recto itinere ordinatum habeatis, grato animo suscepimus et, utinam non solum Papie, verum etiam propius essetis, necessitas maxime deposcit, BM. 2 1624 b; M G H . Epp. 7 N r . 290 S. 254. Ferner bat der Papst die Kaiserin Ridigarda und Liutward von Vercelli März 882 (BM. 2 1635 a ; M G H . Epp. 7, N r . 309 S. 268), sidi beim Kaiser dafür zu verwenden, ut omnibus omnino necessitatibus aut omissis aut certe suspensis sancte matris sue calamitati subveniat (gegen die Sarazenen). Vgl. auch Epp. 7, N r . 291 S. 254, vom November 881. U m die Zeit beider Briefe war Waldo nach Ausweis der von ihm rekognoszierten Urkunden am H o f ; Notker konnte also informiert sein, um so mehr, als Karl III. im Dezember 883 bei seinem Besuch in St. Gallen aus Italien kam. M) Gesta Karoli II, 17 S. 81; vgl. auch das absque mora beim Italienzug König Pippins, ebd. II, 15 S. 79 Ζ. 1. 84
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) H . L ö w e , Geschichtschreibung der ausgehenden Karolingerzeit, D A . 23 (1967) S. 8 [unten S. 186].
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Härte fest, auf daß Dir niemand die Gewalt, die Dir von Gott übertragen ist, aus den Händen winde 8 8 )." Notker wollte, daß der Kaiser selbst Herr seiner Entscheidungen sei, und wandte sich gegen jede Art von Nebenregierung. Der zitierte Satz, dem seinerseits die Quellengrundlage fehlt, richtete sich gegen die Königin Hildegard, die ihren Gemahl in seiner schon getroffenen Entscheidung über die Besetzung eines Bistums wieder umstimmen wollte. Aber auch Karls III. Gemahlin Richgarda hat offensichtlich nicht geringen Einfluß auf ihren Gatten ausgeübt. Dabei ist weniger Gewicht darauf zu legen, daß sie in einer von Waldo rekognoszierten Urkunde Karls III. nach italienischem Brauch einmal als consors regni bezeichnet wurde 89 ) und daß Notker wohl unter dem Eindruck von Erzählungen Waldos sogar von ihrer förmlichen Erhebung ad regni consortium gelegentlich der Kaiserkrönung Karls III. sprach 90 ). Wichtiger ist ihr häufiges Auftreten als Fürsprecherin in den Urkunden ihres Gatten 91 ). Audi Papst Johannes VIII. wußte sehr gut, daß der Kaiser am besten über den Erzkanzler Liutward und über die Kaiserin in seinem Sinne zu beeinflussen war 92 ). Es war an sich nur natürlich, wenn angesichts der Krankheit, Schwäche und Entschlußlosigkeit des Kaisers die Kaiserin öfter in die Reichsgeschäfte eingriff, ebenso natürlich, daß sie dabei mit dem Erzkaplan zusammenwirken mußte. Aber Notker hat darin allem Anschein nach eine Gefahr gesehen; es war ja für Karl III. bestimmt, wenn er erzählte, wie Karl der Große den Beeinflussungsversuchen seiner Gemahlin Hildegard widerstanden habe, und dazu bemerkte: „Nun haben aber alle Frauen die Gepflogenheit, zu verlangen, daß ihr Plan und ihr Wunsch stärker sei als die Entschließungen der Männer 9 3 )". Ebenso war es für die Ohren Karl III. gesprochen, wenn Notker hervorhob, daß Königin Hildegard Einflüsterungen nicht nachgegeben
) Gesta Karoli I, 4 S. 6; dazu S i e g r i s t (s. oben Anm. 9) S. 42. ») DK1. III. 42 vom H . O k t o b e r 881; BM. 2 1623; die in Urkunden Karls III. nur hier vorkommende Formel consors regni entstammte italienischem Kanzleibrauch und päpstlichem Briefstil; vgl. Th. V o g e l s a n g , Die Frau als Herrscherin im hohen Mittelalter, Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 7 (1954) S. 20; P. D e 1 ο g u , „Consors regni": un problema carolingio, Bull. dell'Ist. Stor. Ital. 76 (1964) S. 90 ff., 95 f. ,0) Continuatio Erchanberti, M G H . SS. 2, S. 230: nunc divina dementia favente pacatissimum regit Imperium, domina Richarta simul cum eo ad regni consortium ab eodem apostolico sublimata. D e 1 ο g u a. a. O. S. 96 sieht hier einen Beleg für Mitregentschaft als Institution, freilich mit einiger Zurückhaltung, die sehr zu unterstreichen ist, da er die Abhängigkeit Notkers von Waldo nicht erkannte — vgl. Anm. 89; DKl. III. 42 wurde in Bodman ausgestellt; es ist undenkbar, daß Waldo von dort aus nidit mit Notker in Beziehung getreten sein sollte. Technisch präziser Gebrauch ist audi insofern nicht vorauszusetzen, als die zeitgenössische Mainzer Fassung der Annales Fuldenses zu 882, ed. K u r z e S. 99, die Formel gebraucht, um die Übertragung der Grafschaften und Lehen Rorichs an den Normannen Gottfried durch Karl III. zu umschreiben: consortem regni constituit. 8e
e
el) D ü m m l e r , Geschichte des ostfränkischen Reiches 3, S. 284 Anm. 2. ®2) Vgl. oben Anm. 85; vgl. D ü m m l e r a. a. O. 3, S. 281 Anm. 3. »3) Gesta Karoli I, 4 S. 6.
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habe, die zum Nachteil für Karl den Großen hätten ausschlagen können: er berichtete — auch hier ohne historische Grundlage —, daß ein Erzbischof von Mainz während der Abwesenheit Karls des Großen die seinem Schutz anvertraute Königin gebeten habe, Karls Szepter führen zu dürfen, aber von der Königin so lange hingehalten worden sei, bis Karl ihn in seine Schranken weisen konnte 9 4 ). Notker scheint der Meinung gewesen zu sein, daß Richgarda die Formen und Grenzen ihrer Stellung nicht in diesem Maße gewahrt habe. Den erwähnten Mainzer Erzbischof schilderte er in einer Reihe von Anekdoten als dumm, ungebildet, zum Predigen unfähig, als Mann eines ungeistlichen Lebensstils, der kaiserliches Purpurgewand trug, das prunkvolle Leben eines großen Herrn führte und eine Stiftsvasallität unterhielt, deren Angehörige ansehnlicher gekleidet waren als die Hofleute Karls des Großen 9 5 ). Nichts davon paßte auf die beiden bekannten Erzbischöfe von Mainz aus der Zeit des großen Karl, den angelsächsischen Bonifatius-Schüler Lul und seinen Nachfolger Richulf. Aber manches paßte auf den Zeitgenossen Notkers und Karls III., den Erzbischof Liutbert von Mainz, einen gebürtigen Schwaben, dem Otfrid von Weißenburg sein Evangelienbuch vorgelegt und über den Notker sich noch einige Jahre zuvor durchaus positiv geäußert hatte 9 6 ). Er war sicher nicht dumm und ungebildet, aber er hatte, als Karl I I I . nach dem Tode seines Bruders Ludwigs des Jüngeren die Herrschaft im gesamten ostfränkischen Reich antrat, seine Erzkaplanswürde an Karls Vertrauten Liutward von Vercelli abtreten müssen und stand seitdem zu Karl in scharfem politischem Gegensatz. In der unter seinem Einfluß in Mainz abgefassten Redaktion der Fuldaer Annalen ließ er an Karl und Liutward schärfste Kritik üben. Dem „Pseudobischof" Liutward wurde vorgeworfen, daß er im Jahre 882 bei der von ihm erstrebten Verständigung mit den Normannen ohne Befragung der alten Ratgeber Ludwigs des Deutschen — also insbesondere Liutberts — vorgegangen sei, daß er sich von den Normannen habe bestechen lassen und damit das schmachvolle Zurückweichen des Kaisers verschuldet habe. Dem Kaiser wurde vorgeworfen, er habe sich von Liutward zu schändlichen Zugeständnissen an die Normannen verleiten lassen und sein Heer durch Begünstigung der Feinde um den Sieg gebracht 9 7 ). Audi in anderen Punkten vertraten die Annalen Liutberts eine Politik, die der kaiserlichen zuwider-
Gesta Karoli I, 17 S. 21. Vgl. dazu I, 18 S. 24, über denselben Mainzer Erzbischof: imperatoria purpura indutus, ita ut nihil Uli nisi sceptrum illud et nomen regium deesset. » 5 ) Gesta Karoli I, 16—19, S. 19 ff. · · ) J. F l e c k e n s t e i n , Die Hofkapelle der deutschen Könige 1 (1959), Register s. v. Liutbert; zu Otfrid: Μ. Μ a η i t i u s , Geschichte der latein. Literatur des Mittelalters 1 (1911) S. 5 7 5 ; Notkers Urteil über Liutbert: Coll. Sangallensis N r . 43 S. 426 Ζ. 1 f., im Anfang April 880 nach v o n d e n S t e i n e n , Zs. f. Schweizer Gesch. 25 (1945), S. 472. Auch die bayerische Fassung der Annales Fuldenses zu 889, ed. K u r z e S. 117, urteilte sehr positiv über Liutbert. " ) Annales Fuldenses, ed. K u r z e S. 98 f., Mainzer Fassung zu 882. M
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lief 98 ). Dieser Liutbert aber verfügte über eine Stiftsvasallität, die im Jahre 866 anläßlich eines Aufstandes hervortrat und den Erzbischof bei seinen Feldzügen gegen Slawen und Normannen begleitet haben dürfte " ) . So ist kaum zu bezweifeln, daß Notker sein Bild des Mainzer Erzbischofs aus der Zeit Karls des Großen zwar nicht als Porträt Liutberts gestaltet, aber ihm immerhin einige Züge desselben verliehen hat. Wenn Karl III. von dem reichen Mainzer Erzbischof erzählen hörte, der sich das Szepter seines großen Ahnherrn anmaßen wollte, lag der Gedanke an Liutbert nahe, den Erzkaplan seines Vaters und Bruders, der es nicht verwinden konnte, von der führenden Stellung in den Reichsgeschäften ausgeschlossen zu sein. Gewiß hat Notker — wie man gesagt hat — hier und in anderen Bischofsanekdoten die allgemeinen sittlidien Gefahren schildern wollen, die das Bischofsamt für einen ihm nicht gewachsenen Träger in sidi barg; aber er hat darüber hinaus bei seinen Schilderungen ganz aktuelle Hintergedanken gehegt; erst von daher erklärt es sich, daß er fürchtete, sich mit seinem Werk alle Stände, insbesondere die Bischöfe, zu Feinden zu machen, und daß er ihnen gegenüber an den Schutz Karls III. appellierte 10 °). Von der Geschichte des Mainzer Erzbischofs und seiner Anmaßung konnte sich aber auch Liutward von Vercelli getroffen fühlen. Von dem Mainzer hieß es bei Notker, daß er die Forderung nach dem königlichen Szepter stellte, weil ihn der vertraute Umgang (familiaritas) mit der Königin zur Unverschämtheit (protervia) verleitet habe 101 ). Der Grund aber, der nach Regino von Prüm im ®8) Vgl. die Äußerungen zu Karls Verhalten gegenüber Wido von Spoleto 883 und 884, Annales Fuldenses, ed. K u r z e S. 100, 101; zur geplanten Erbeinsetzung Bernhards ebd. S. 103 zu 885. Aber schon 869 ebd. S. 68 f. möchte man die Spur einer negativen Beurteilung Karls finden, wenn berichtet wird, daß Ludwig der Deutsche wegen einer Erkrankung die Franken und Alamannen nicht selbst gegen die Mährer habe führen können: unde necessitate conpulsus Karolum filiorum suorum ultimum eidem exercitui praefecit Domino e xitum r ei commendans. '·) Annales Fuldenses zu 866 S. 65, 872 S. 76, 874 S. 81, 883 S. 100, 885 S. 102. 10 °) Gesta Karoli I, 18 S. 22: Nimium pertimesco, ο domine imperator Karole, ne, dum iussionem vestram implere cupio, omnium professionum et maxime summorum sacerdotum offensionem incurram. Sed tarnen de his omnibus non grandis mihi cura est, si tantum vestra defensione non destituar. Dazu vgl. S i e g r i s t (s. oben Anm. 9) S. 21, 33 ff.; er lehnt Versuche, die von Notker kritisierten Bischöfe zu identifizieren, ab, da Notker selbst keine Namen genannt habe — einmal, I, 20 S. 27, hat er es aber getan. Er rechnet bei Notker mit allgemein gehaltenen moralischen Mahnungen, wendet sich aber gegen ältere Forscher, die „eine gewisse Animosität des Möndis gegen die hohe Geistlichkeit" bei Notker zu finden glaubten — etwas, was es bei mönchischen Schriftstellern durchaus gegeben hat —, und betont — richtig —, daß Notker „nicht den Bisdiofsstand bekämpfen" wollte (S. 36). Das schließt aber nicht aus, daß seine Bischofsgestalten Gegenwartsbezüge aufwiesen. Der mehrfache Hinweis auf Mainz (prima sedes, primas) mußte zu Gedankenassoziationen an Liutbert führen, den für Notker zuständigen Metropolitanbisdiof; andererseits konnten sich in derselben Gestalt Erinnerungen an Liutward von Vercelli niederschlagen. Schließlich sind es die Erfahrungen seines Lebens gewesen, die Notker die Feder geführt haben. ,M
) Gesta Karoli I, 17 S. 21: Qui cum familiaritate gressus est proterviam, ut. . .
illius animari
cepisset,
in tantam
pro-
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Juni 887 zum Sturz Liutwards von Vercelli führte, war nicht die unbegründete Anklage wegen Ehebruchs mit Richgarda, sondern der Tatbestand, daß er sich „in die Geheimnisse der Königin in einer unziemlich vertrauten Weise einmischte" 1 0 2 ). Die Ubereinstimmung ist frappant; sie legt den Schluß nahe, daß Notker im Zusammenwirken Richgardas und Liutwards eine Beeinträchtigung der Würde und Handlungsfreiheit des Kaisers gesehen hat. Von dem Kaiser erwartete er, daß er sich gegen adlige Eigenmächtigkeit energisch durchsetze. So legte er dem wegen einer Verschwörung in Klosterhaft genommenen buckligen Pippin, einem Bastardsohn Karls des Großen, das aus der antiken Literatur entnommene Gleichnis in den Mund, das Unkraut müsse gejätet werden, um den guten Pflanzen Platz zu schaffen; damit motivierte er, daß Karl der Große eine adlige Verschwörergruppe hinrichten ließ und ihre Lehen seinen Getreuen gab 1 0 3 ). Ludwig dem Deutschen rühmte er nach, daß er, wenn er einmal ungetreue Große ihrer Ämter und Lehen enthoben hatte, an dieser Maßnahme unumstößlich festgehalten habe 1 0 4 ). Dieser Hinweis hatte einen aktuellen Hintergrund. Karl I I I . hatte den Herzog Wido von Spoleto, den späteren Kaiser aus der mächtigen fränkischen Familie der Widonen, im Jahre 883 seiner Lehen und Ämter entsetzt, da sein mächtiges Ausgreifen für Papst und Kaiser gleich bedrohlich wurde. Aber schon 885 setzte er ihn wieder ein. Die Annalen Liutberts, die in diesem Konflikt auf der Seite des Herzogs standen, vermerkten dieses Nachgeben mit Genugtuung, während die bayerische Annalenfassung es zu bemänteln suchte, indem sie auf den Eid verwies, mit dem sich Wido von der Anklage des Majestätsverbrechens gereinigt habe 1 0 S ). Zweifellos entsprach Notkers Mahnung zur Konsequenz mehr der Haltung des bayerischen als der des Mainzer Annalisten. In der Zeit, da Notker das zweite Buch seiner Gesta Karoli schrieb, wurde bereits die Frage der Nachfolge des Kaisers erörtert. Der Kaiser selbst hatte schon 885 für seine Nachfolge Sorge tragen wollen, indem er mangels ehelicher Nachkommenschaft seinen illegitimen Sohn Bernhard mit päpstlicher Autorität zum Erben im Reich einsetzen wollte. Aber der zu diesem Zweck nach Deutschland eingeladene Papst Hadrian I I I . war unterwegs gestorben, und damit war — wie die Mainzer Fassung der Fuldaer Annalen unter Liutberts Ägide es ausdrückte — dieser „betrügerische Plan" durch den Willen Gottes zunichte gemacht worden 1 0 6 ). Der Kaiser versuchte vielleicht, ihn nochmals aufzugrei102
) Reginonis Chronicon, ed. F. K u r z e , M G H . SS. rer. Germ, in us. sdiol. (1890), S. 127 zu 8 8 7 ; Notkers tadelnde Bemerkung über das königsgleiche Auftreten des anonymen Mainzer Erz'bisdiofs (s. oben Anm. 94) findet auch ein Gegenstück in den Angriffen der Mainzer Fassung der Annales Fuldenses zu 887 S. 105 gegen Liutward: . . . iste vero prior imperatori et plus quam imperator ab omnibus honorabatur et timetur .. .
) Gesta Karoli II, 12 S. 73 f. ) Gesta Karoli II, 11 S. 68. 105) Zum Sachverhalt BM. 2 1663 a, 1691 f.; Annales Fuldenses, Mainzer Fassung zu 883, 884 S. 100 f.; Ann. Fuld. Cont. Ratisbon. zu 883 S. 109 f., zu 885 S. 113. loe) Annales Fuldenses, Mainzer Fassung zu 885 S. 103. 103
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fen oder eine Form der Nachfolgeregelung zu finden, als er vergeblich den Papst um Entsendung einer Gesandtschaft zum Reichstag von Waiblingen auf den 30. April 887 ersuchte 107). Notker jedenfalls wollte die Erbfolge im Reich der Nachkommenschaft Karls III. erhalten wissen, seinem unehelichen Sohn Bernhard oder besser einem noch zu erwartenden ehelichen Sohn 108). Aber während er im Jahre 881 diesen Sohn noch von der Kaiserin Richgarda erwartet hatte 109), nannte er sie in den Gesta Karoli überhaupt nicht mehr. Wenn er trotzdem eheliche Nachkommenschaft für Karl III. nicht ausschloß, kann er nur an eine neue Ehe Karls gedacht haben. Damit legt sich die Frage nahe, ob nicht die etwa Ende Juni 887 durchgeführte Annullierung der — als nicht vollzogen erklärten — Ehe Karls III. mit Richgarda den Sinn hatte, dem Kaiser eine andere Eheschließung zu ermöglichen. Dafür spricht die kirchenrechtliche Form des Verfahrens, die ein kanonistisch gebildeter Geschichtschreiber geschildert hat 1 1 0 ). Auch war Karl keineswegs zu alt, um nicht aus einer neuen Ehe Nachkommenschaft erwarten zu dürfen. Das müssen die Männer im Auge gehabt haben, die Karl III. bei der politischen Ausschaltung Liutwards und Richgardas berieten und leiteten; sonst hätten sie nicht so darauf geachtet, eine kirchenrechtliche Form zu finden, die dem Kaiser die Wiederverheiratung offenließ. Notker könnte von solchen Erwägungen gewußt haben, 107
) BM.2 1748 a; D ü m m l e r , Geschichte des ostfränkischen Reiches 3, S. 276. ) Gesta Karoli II, 12, S. 74: . . . quam Bernhardulum vestrum spata femur accinctum conspiciam; eheliche Nachkommenschaft wird in Betracht gezogen, II, 11 S. 68: Quam prius enarrare non audeo quam aliquem parvulum Ludowiculum vel Carolastrum vobis astantem video; II, 14 S. 78: . . . quod concedente dementia divina mox futurus Karolaster aut Ludowiculus vester imitetur. 109 ) In der Continuatio Erchanberti, MGH. SS. 2, S. 330, hatte Notker über Bernhard kein Wort verloren: Nunc ergo in manu omnipotentis Dei.. . solummodo consistit, si de domno Carolo imperatore, adhuc aetate iuvene, . . ., et religiosisstma regina augusta Richkarta semen exsuscitare dignetur,. .. no ) Der Bericht Reginos von Prüm, Chronik zu 887, ed. K u r z e S. 127, ist insofern charakteristisch, als das Liutward vorgeworfene adulterit crimen nur insofern zur Grundlage seiner Absetzung diente, eo quod reginae secretis familiarius, quam oportebat, inmisceretur. Die erst paucis interpositis diebus nach Liutwards Abgang angesetzte Verhandlung gegen die Kaiserin begann dann mirum dictu mit der Erklärung des Kaisers, daß er niemals mit ihr ehelichen Umgang gehabt habe; erst dann folgte die Erklärung der Kaiserin, sie habe weder mit ihm noch überhaupt jemals mit einem Mann geschlechtlichen Verkehr gehabt und sei bereit, dies durch Gottesurteil zu beweisen. Von diesem Angebot wurde kein Gebrauch gemacht: erat enim religiosa femina. Facto discidio in monasterio, . . Deo famulatura recessit. Der Bericht erweckt den Eindruck, daß der Vorwurf des Ehebruchs gegen Liutward nicht im präzisen Sinne gemeint war, sondern nur seine mit der Kaiserin geübte politische Zusammenarbeit treffen und daher seinen Sturz ermöglichen sollte, der hier wie in der Mainzer Fassung der Annales Fuldenses, ed. K u r z e S. 106, auf die Initiative des Kaisers zurückgeführt wird. Wenn die bayerische Fassung der Fuldaer Annalen zu 887 S. 155 den Sturz des Erzkaplans auf eine Konspiration der Alamannen zurückführt, so wäre dies vielleicht dahin zu deuten, daß der Kaiser dabei unter dem Einfluß alamannischer Berater stand; dies aber würde einmal mehr erklären, warum Notker an der Frage der Nebenregierung und der Annullierung der Ehe interessiert war. Reginos Worte facto discidio meinen natürlich die Annullierung einer loe
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denn nur im Hinblick auf sie wird verständlich, daß er an die den Zeitgenossen sehr peinliche Verstoßung der langobardischen Gemahlin Karls des Großen erinnerte und sie ohne Quellengrundlage rechtfertigte mit der Begründung, die langobardische Prinzessin sei „bettlägerig und zur Fortpflanzung seines Stammes unbrauchbar" gewesen und Karl habe sie „nach dem Urteil der heiligsten Bischöfe" verlassen, „wie wenn sie gestorben wäre" 111 ). Mit diesem Hinweis auf die nicht vollziehbare Ehe und das Synodalurteil wollte Notker doch wohl weniger eine späte Entlastung für den großen Karl bieten als vielmehr dem dritten Karl dienen, der seine nicht vollzogene Ehe annullieren lassen konnte, um für eine neue Ehe frei zu werden. Die Ereignisse sind über diese Erwägungen schnell hinweggegangen. Bald nachher begann der Gesundheitszustand des Kaisers sich rapide zu verschlechtern, ein schneller Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte trat ein. Aber schon vorher hatte eine Reihe von schwer deutbaren Ereignissen begonnen, die auch in eine andere Richtung weisen könnten. Im Mai 887 nahm Karl III. den jungen Ludwig von der Provence, den Sohn des Usurpators Boso und — in weiblicher Linie — Enkel Kaiser Ludwigs II., den er nach der herrschenden Auffassung gleichzeitig adoptierte, als Lehnsmann an und erkannte ihn damit als König der Provence an 112 ). Schon im April war Berengar von Friaul am nicht vollzogenen Ehe; es ist darauf hinzuweisen, daß er in seine kirdienrechtliche Sammlung zwei Canones aufgenommen hat, die eine solche Annullierung auf Grund der Aussage der Ehefrau, si verum fuerit, bzw. bei Bestätigung durch den Ehemann, ermöglichten; vgl. Reginonis abbatis Prumiensis libri duo de synodalibus causis, ed. F. G. A. W a s s e r s c h 1 e b e η (1840) Lib. II c. 244, 245, S. 309; vgl. c. 243 S. 308 f. Das Verfahren von 887 vollzog sich also durchaus im Sinne der von Regino zusammengestellten Reditssätze. Reginos Darstellung fällt insofern ins Gewicht, als er gerade in Verbindung mit Schwaben stand; seine Chronik widmete er dem Bischof Adalbero von Augsburg, seine ,libri de synodalibus causis' dem aus Reichenau hervorgegangenen H a t t o von Mainz; außerdem konnte er Nachrichten aus St. Gallen haben, denn er schor Hugo, den wegen seiner Verbindung mit den Normannen 885 geblendeten Sohn Lothars II., der über Fulda nach St. Gallen gebracht worden war, in Prüm zwischen 895 und 899 zum Mönch (Chronik zu 885, ed. K u r z e S. 125; BM.2 1701 b). m ) Gesta Karoli II, 17 S. 82; zur Quellenlage BM.2 142b; S. A b e l u. B. S i m s o n , Jbb. des fränk. Reiches unter Karl d. Gr. I 2 (1888), S. 94 f. [Erst nachträglich sehe ich, daß bereits Chr. W i l s d o r f , Aquileia-Marmoutier et Eleon-Andlau. Notker le Begue et sainte Richarde, Rev. d'Alsace 101 (1962) 99—101, Notkers Satz ganz ähnlich interpretiert hat, ohne freilich den Zusammenhang mit Reginos Chronik herzustellen.] 112 ) BM.2 1749 a; Ann. Fuldenses, Cont. Ratisb. 887 S. 115: obviam quem imperator ad Hrenum villa Chirihheim veniens honorifice ad hominem sibi quasi adoptivum filium eum iniunxit. E. E w i g , Kaiser Lothars Urenkel, Ludwig von Vienne, der präsumptive Nachfolger Kaiser Karls III., in: Das erste Jahrtausend, Textbd. 1, Red. V. Η . Ε 1 b e r η (19632), S. 336—343, gibt der Adoption Erbrechtsfolgen für das Gesamtreich; zustimmend E. H l a w i t s c h k a , Lotharingien und das Reich an der Schwelle der deutschen Geschichte, Schriften der MGH. 21 (1968), S. 33 ff.; dagegen H . K e l l e r , Zum Sturz Karls III., DA. 22 (1966) S. 360 Anm. 73. Zurückhaltung gegenüber der neuen Deutung erscheint geboten, da die von E w i g S. 341 Anm. 24 und H l a w i t s c h k a S. 100 ff. in diesem Zusammenhang herangezogene, aus dem Reimser Bereich stammende Visio Karoli III. das Recht Ludwigs des Blinden auf Herrschaft im karolingischen Gesamtreich
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Hof erschienen, um sich mit Liutward zu versöhnen 1 1 3 ); seine Umgebung behauptete später, Karl III. habe ihn auf dem Totenbett (!) zum Nachfolger im Kaisertum und in Italien designiert 114 ). Im Juni weilte Odo, der erfolgreiche Verteidiger von Paris und spätere westfränkische König, am Hofe 1 1 5 ). Man kann nur vermuten, ob der Kaiser mit diesen Männern die Sicherung seiner Nachfolge besprach oder ob hier etwa noch Liutward kurz vor seinem Sturz eine Politik der Dezentralisation der Macht im Reich betrieb, die entweder zur Resignation Karls führen oder ihm noch eine nominelle Stellung an der Spitze des Gesamtreiches lassen wollte U 6 ) . Wenn dem so war, dann teilte Notker diese Auffassungen des Gönners seiner Familie nicht, von dem er sich ja schon durch mandie Äußerungen seines Karlsbuches entfernt hatte. Ein Kapitel der Gesta Karoli, mit dem die Forschung bisher nichts anfangen konnte, läßt erkennen, daß Notker an der Erbfolge Karls III. oder wenigstens des karolingischen Mannesstammes auch jetzt festhielt. Er berichtete nämlich, daß beim Tode Ludwigs des Frommen „einige Giganten, wie sie nach dem Bericht der Hl. Schrift durch die Söhne Seths mit den Töchtern Kains erzeugt worden sind, aufgebläht vom Geist des Hochmuts (superbia), unzweifelhaft vergleichbar denen, die sagten: ,Welchen Teil haben wir an David, welches Erbe am Sohn Isais?', in Geringschätzung seiner Nachnidit auf die historischen Ereignisse des Sommers 887 und eine Adoption durch Karl I I I . begründet, sich also einer sehr konkreten Stütze ihres Versuches begibt, und da andererseits die Fuldaer Annalen nichts von einem Erbanspruch auf das Gesamtreich, ganz streng genommen nicht einmal etwas von einer Adoption sagen. Eine solche ist zwar sowohl BM. 2 1749 a, wie auch von D ü m m l e r a . a . O . 3, S. 277, angenommen worden; aber das quasi sollte zur Vorsidit mahnen. Auch fällt auf, daß Karl bei der in Kirchen zugesagten Besitzbestätigung für Irmingard, Ludwig und seine Schwestern, die er am 11. August 887 beurkundete (DK1. I I I . 165), Ludwig nicht als seinen Adoptivsohn bezeichnete, obwohl er die Verwandtschaftsverhältnisse ausführlich betonte (neptam nostrum Hermingardam, — Uli filioque suo Hludouuico, nepoti scilicet nostro, et sororibus eins, — Hermingardi filioque eius Hludouuico, — ad ipsas personas nobis consanguineas, — eidem neptae nostrae filioque suo et filiabus dilectissimis η ο s t r i s ). Dagegen hatte er den westfränkischen Karlmann, an dessen Adoption D ü m m l e r a. a. O. 3 S. 128 nicht glauben wollte, urkundlich als seinen Adoptivsohn bezeichnet (DKl. I I I . 145: adopticii filii nostri). Die Adoption Ludwigs durch Karl I I I . erscheint daher als recht fraglich, erst recht aber alle daran geknüpften Sdilußfolgerungen. Selbst im Falle einer Adoption Ludwigs war noch kein Erbrecht auf das Gesamtreidi begründet, wie ja auch Hinkmar von Reims für den von Karl I I I . zu adoptierenden westfränkischen Karlmann nicht unbedingt das gesamte Erbe Karls I I I . erwartete (Flodoard, Hist. eccl. Remensis III, 24, MGH. SS. 13, S. 537: . . .ut sibi heredem aut in totum aut in partem statuat; D ü m m l e r 3, 128 Anm. 1). "») 114) 115) lle)
BM. 2 1748 a. Gesta Berengarii imperatoris I, 37—40, MGH. Poet. Lat. 4, 1, S. 359. BM. 2 1751—1752; D ü m m l e r , Geschichte des ostfränk. Reiches 3, S. 279. K e l l e r , DA. 22, S. 361, S. 379 ff.; es kann nicht die Aufgabe dieser Notker-Studie sein, die Fragen um den Sturz Karls I I I . wieder aufzugreifen; dazu vgl. die in Anm. 112 genannten Arbeiten von E w i g , H l a w i t s c h k a und K e l l e r , von denen aus leicht zu der älteren Literatur zu gelangen ist.
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kommenschaft bester Beschaffenheit jeder für sich die Herrschaft im Reidi an sich zu reißen und die Krone zu tragen" suchten. „Da machten einige mediocres auf Antrieb Gottes geltend, daß der berühmte Karl einst die Feinde der Christenheit nach dem Schwerte maß und deshalb, solange sich einer aus seiner Nachkommenschaft finde in der Länge eines Schwertes, dieser über die Franken, vielmehr über ganz Germanien gebieten solle; und so wurde jene teuflische Gruppe wie vom Blitz getroffen auseinandergetrieben 1 1 7 )." Für die Zeit beim Tode Ludwigs des Frommen 118 ) ist von Bewegungen gegen eine Nachfolge der Karolinger nichts bekannt. Die Erzählung Notkers gewinnt erst dann Sinn und Bedeutung, wenn wir sie auffassen als Niederschlag der Ambitionen im Reichsadel um die Nachfolge Karls III., der — wie dies oft im Mittelalter geschehen ist — in die Vergangenheit zurückprojiziert wurde, um als historisches exemplum der Gegenwart zur Lehre zu dienen. Was sich 887 anbahnte und 888 geschah, war der Durchbruch des hohen Reichsadels zum Königtum. An diese Männer, an Berengar, Wido, Odo, Ludwig und Rudolf den Weifen, ist zu denken, wenn Notker von den „Giganten" sprach, die sich gegen die Erbfolge der Karolinger verschworen hätten. Daß einige dieser Familien ihren Aufstieg der Verschwägerung mit dem Königshaus verdankten — die Weifen der Ehe Ludwigs des Frommen mit Judith, Ludwigs des Deutschen mit Hemma, die Unruochinger umgekehrt der Ehe Eberhards von Friaul mit einer Tochter Ludwigs des Frommen, Ludwig von Provence der Ehe seines Vaters Boso mit einer Tochter Kaiser Ludwigs II. —, hat Notker an die biblische Erzählung von der Vermählung der Söhne Seths, der Gotteskinder, mit den Töchtern Kains, den Töchtern der Menschen, denken lassen. Aus dieser Verbindung konnte nichts Gutes erwachsen; der spiritus superbiae — d. h. die mittelalterliche Ursünde teuflischer Erhebung wider Gott — leitete die durch diese Ehen emporgestiegenen Großen gegen das echte Königshaus, das an Gottes Statt gebot, das Haus Davids, und Notker wußte sehr wohl, daß Karl der Große sich einst hatte David nennen lassen; er verglich ihn und seinen Sohn Ludwig mit David und Salomo 119 ). Was Notker mit seiner Erzählung meinte, war also nicht die Vergangenheit des Jahres 840, sondern die Gegenwart von 887. Der hier aufbrechenden Gefahr der „Giganten" hatte er ein Gegenmittel entgegenzusetzen, den Hinweis auf die mediocres, die man als „Mittelstand" allzu farblos übersetzen würde 12°). Gemeint war jene auf" ) Gesta Karoli II, 12 S. 70 f. ) Der gelegentlich gemachte Versuch (dazu Η a e f e 1 e a. a. O. S. 70 Anm. 8), den sanctissimus avus Karls III. nicht in Ludwig dem Frommen, sondern in Karl d. Gr. zu finden, die Erzählung also zu 814, nicht zu 840 zu setzen, überzeugt nicht. Dagegen steht nicht nur der Wortsinn, sondern auch die verwertete biblische Geschichte (3. Reg. 12, 16), die von der Nachfolge Salomos handelt. Notker aber verglich Ludwig den Frommen selbst mit Salomo (vgl. Anm. 119). ,18) Gesta Karoli II, 19 S. 89.
l
118
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) So die Ubersetzung von R. R a u , Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 3, in: Ausgew. Quellen zur deutsch. Gesch. des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnis-
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strebende Adelsschicht, der Notker sowie seine Schüler Waldo und Salomo angehörten. Auf sie setzte Notker seine Hoffnung für Karl I I I . und die Erhaltung des legitimen Königshauses. Ähnliche Gedanken mögen im Kreise Waldos und Salomos damals erörtert worden sein. Karl I I I . aber konnte solchen Erwägungen — wenn er je von ihnen gehört hat — nicht mehr folgen. Von zunehmender Krankheit gezeichnet, sah er sich der Empörung des ostfränkischen Adels gegenüber und erlag schließlich der Erhebung seines Neffen Arnulf von Kärnten, zu dem Liutward geflüchtet war m ) und dem dann auch Waldo und Salomo sich anschlossen. Auf den ersten Bilde scheint es, daß der bei Notker zutage tretende Gedanke eines Zusammengehens des Königs mit den mediocres gegen den Reichsadel völlig unrealistisch gewesen sei. Er war audi zweifellos im Gesamtreidi und in der Situation des Jahres 887 von Karl I I I . nicht mehr zum Erfolg zu führen. Aber wenn die Mainzer Fassung der Fuldaer Annalen Karl I I I . zum Vorwurf machte, daß er die Lehen Widos von Spoleto und anderer Optimaten an „viel geringere Personen" (multo vilioribus personis) gegeben habe 1 2 2 ), darf man daraus entnehmen, daß Karl diese Politik, soweit es ihm möglich war, bereits praktiziert hatte. Ganz so weltfremd sind also Notkers Überlegungen nicht gewesen. Denn Arnulf erhob schon 890 einen dieser mediocres, Salomo III., zum Bischof von Konstanz und Abt von St. Gallen, und dieser hat noch unter zwei Nachfolgern Arnulfs, Ludwig dem Kind und Konrad I., den streitenden „Giganten", den Familien der Hunfridinger und der Alaholfinger, den Weg zur Errichtung eines schwäbischen Stammesherzogtums versperrt, bis ihn die Unklugheit Konrads I. selbst den Hunfridingern öffnete. Im schwäbischen Bereich Notkers hat sich diese politische Konzeption also durchaus als tragfähig erwiesen. So bleibt festzuhalten: Das Karlsbudi Notkers, eines der größten Dichter des Mittelalters und eines der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, wurzelte im sozialen Gefüge und den politischen Zusammenhängen des ausgehenden 9. Jahrhunderts. Es beruhte auf den Anschauungen, die Notker als Mönch von St. Gallen, aber auch als Angehörigem einer bestimmten Adelsschicht zu eigen waren, und auf den Informationen, die ihm aus der Hofkapelle über die Zeitgeschichte zukamen. Es spiegelte die Sorgen, die er und seine Freunde sich um die Zukunft von Königtum und Reich machten, sowie ihre Erwägungen über die Möglichkeiten, die Lage zum Besseren zu wenden. Der heutige Betrachter ausgabe 7 (1960), S. 401. — Aus dem Gegensatz zu den „Giganten" versteht sich weitgehend der Hinweis Notkers (I, 13 S. 17), daß Karl — von den Grenzgebieten abgesehen — jedem Grafen jeweils nur eine Grafschaft verliehen habe, eine Angabe, die für die Zeit Karls d. Gr. kaum allgemeine Gültigkeit beanspruchen dürfte (G. W a i t ζ , Deutsche Verfassungsgesdiichte 3 3 , 1883, S. 369, 382 Anm. 3, 4), die aber in Notkers Zeit als Warnung vor der nunmehr eingetretenen Kumulation von Grafschaften so oder so ihren Platz hatte. m
) Annales Fuldenses, ed. K u r z e ) Annales Fuldenses, ed. K u r z e
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S. 106, Mainzer Fassung zu 887. S. 100, Mainzer Fassung zu 883.
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aber sollte den geistigen Hochmut erkennen, der darin lag, daß man in diesem Werk nur „kurzweilige Geschichten" und die „treuherzige Einfalt" eines „gemütlichen alten Mönches" sah, der froh gewesen sei, für seine Erzählungen endlich einmal ein geneigtes Ohr zu finden 12S ).
l2S )
Diese Nuance bei H. L e c l e r c q , zitiert von S i e g r i s t (oben Anm. 9) S. 8 f.
Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit Immer wieder fühlt sidi der geschichtlich interessierte Betrachter mächtig berührt von der Fülle der Schöpfungen, die gerade das Rheinland im Mittelalter mehr als andere deutsche Landschaften hervorgebracht hat, und von der Vielfalt der historischen Bewegungen, die in der Kultur dieses Landes ihren Niederschlag gefunden haben. Das Rheinland birgt die mächtigsten Zeugen römischer Vergangenheit, und es war das Herzland des mittelalterlichen Reiches: Schon das Mittelalter selbst hat es empfunden, daß am Oberrhein zur Stauferzeit die maxima vis regni lag. Rheinische Landesgeschichte wird daher immer wieder zur deutschen und europäischen Geschichte, bietet den Schauplatz entscheidender geschichtlicher Wendungen und ist durchwirkt von allen geistigen Strömungen des Mittelalters. Wenn im folgenden von einem Historiker der ausgehenden Karolingerzeit die Rede sein soll, von Regino, der wohl aus Altrip stammte, Abt des Eifelklosters Prüm wurde und schließlich eine Zuflucht in Trier fand, wo er im Jahre 908 seine Weltchronik 1) schrieb, so geschieht das nicht unter dem reinen Vortrag, gehalten am 11.4. 1951 in Köln vor der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. — Rhein. Vjbll. 17 (1952) S. 151—179. Gesondert erschienen als Vortrag der Gesellschaft für Rhein. Geschichtskunde, Bonn 1952. Ergänzter Neudruck in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze u. Arbeiten aus den Jahren 1933 bis 1959, hrsg. von W. L a m m e r s (Wege der Forschung 21), Darmstadt 1961, S. 91—134; hier liegt der Neudruck zugrunde. ') Hrsg. von F. K u r z e , SS. rer. Germ., Hannover 1890. Vgl. dazu H . E r m i s c h , Die Chronik des Regino bis 813, Diss. Göttingen 1871; J. H a r t t u n g , Uber Regino von Prüm, FDG. 18, 1878, S. 362—368; P. S c h u l z , Die Chronik des R. vom Jahre 813 an, Diss. Halle 1888; Η . Ε r m i s c h , Zur Chronik des Abtes R. von Prüm, Hamburg 1897; P. S c h u l z , Zur Glaubwürdigkeit der Chronik des Abtes Regino, Programm Hamburg 1897; C. W a w r a , De Reginone Prumiensi, Diss. Breslau 1901. Zu W. H ü m p f n e r , Eine unbeachtete Interpolation in Reginos von Prüm Chronik, HJb. 44 (1924) S. 65—72, vgl. W. L e v i s o n , NA. 46 (1925) S. 285, und M. L i η t ζ e 1, DA. 1 (1937) S. 499—502. — Neuerdings hat K. F. W e r n e r , Zur Arbeitsweise des Regino von Prüm, Die Welt als Geschichte 19 (1959) S. 96—116, bemerkenswerte Ergeb-
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landesgeschichtlichen Gesichtspunkt. Wir hoffen vielmehr bei ihm, der am Ende der frühmittelalterlichen Epoche und im alten Kerngebiet des karolingischen Reiches lebte, so etwas wie eine mit den Mitteln des Historikers gezogene Bilanz des damals ablaufenden Zeitabschnittes, eine historische Würdigung der lebendigen Kräfte der Zeit zu finden. Wir stellen also an Regino die Frage nach dem historischen Weltbild des frühen Mittelalters und versuchen etwas zu erfassen von dem geistigen Vorgang, in dem sich der Mensch dieser Zeit die Geschichte erarbeitete. Das historische Denken der Neuzeit hat den Menschen gelehrt, sich seiner Geschichtlichkeit bewußt zu werden. Daher wird, wer nach dem historischen Weltbild Reginos fragt, zunächst nach der Geschichtlichkeit, d. h. nach den historischen Voraussetzungen seines Geschichtsdenkens, fragen müssen. Da aber die Geschichte ein Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Einheit fassender Prozeß ist, wird sich die historische Stellung des Menschen in der Zeit erst dort ganz erkennen lassen, wo etwas von seiner Sorge für die Gestaltung der Zukunft faßbar wird. Wir werden also nicht nur nach der passiven Bedingtheit Reginos durch die Geschichte, sondern auch nach seinem aktiven Bemühen um die Gestaltung der Gegenwart — und damit der Zukunft — zu fragen haben. Erst dann wird sich unserem Verständnis ein Zugang zu dem historischen Weltbilde Reginos erschließen. I.
Wüßten wir nicht aus einer späteren, aber glaubwürdigen Uberlieferung 2 ), daß Regino einer vornehmen Adelsfamilie entstammte, so würde allein sein Werk die durchaus adlige Vorstellungswelt erkennen lassen, in der sein Verfasser lebte. Der hohe fränkische Adel, der als „Reichsaristokratie" einst dem starken Königtum der Karolinger als Werkzeug für die Beherrschung des Reiches gedient hatte 3), befand sich zur Zeit Reginos bereits — im Verein mit nisse vorgelegt. Im größeren Zusammenhang über R. vgl. A.-D. v. d e n B r i n c k e n , Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957, S. 128—133. 2 ) Vgl. K u r z e s Ausg. S. V. 3 ) Für die Geschichte der fränkischen Reichsaristokratie grundlegend G. T e l l e n b a c h , Königtum und Stämme in der Werdezeit des deutschen Reiches, Weimar 1939; d e r s . , Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand, in: Th. M a y e r , Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, Leipzig 1943, S. 22—73. Aus den zahlreichen seither namentlich durch die Aktivität des Kreises um G. T e i l e n b a c h erschienenen Untersuchungen sei hier — als thematisdi und zeitlich näherstehend — nur genannt: J. W o l l a s c h , Eine adlige Familie des frühen Mittelalters, Arch. f. Kult. Gesch. 39, 1957, S. 150—188. [Weitere Lit. bei H. L ö w e , in: G e b h a r d t - G r u n d m a n n , Handbuch d. dt. Geschichte l 9 , Stuttgart 1970, S. 153 Anm. 1.] Die Bedeutung adliger Hausüberlieferung für die Geschichtschreibung hat besonders illustriert: K. H a u c k , Mittellateinische Literatur, in: W. S t a m m l e r , Deutsche Philologie im Aufriß, Berlin o. J., 1951 ff.; vgl. d e η s., Haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter, MIÖG. 62 (1954) S. 121—145.
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den Kräften adliger Eigenherrschaft in den unterworfenen Stämmen — auf dem Wege zu jener Adelsherrschaft des Mittelalters, die den König nur noch als „primus inter pares" in der großen Reihe adliger Dynastengeschlechter gelten ließ. Die lebendigen Kräfte dieser Adelsherrschaft haben ganz wesentlich dazu beigetragen, die Entstehung eines wirklichen deutschen „Staates" im Mittelalter zu verhindern 4 ). Sie fanden in den rund zwei Jahrzehnten zwischen dem Tod Arnulfs und der Königswahl Heinrichs I., also in der Zeit, da Regino seine Chronik schrieb, zum ersten Male volle Betätigungsfreiheit. Den weitreichenden Familienbeziehungen und dem ausgreifenden Machtstreben der großen Adelsfamilien seiner Umgebung verdankte Regino ebensosehr wie dem ausgedehnten Güterbesitz des Klosters P r ü m 5 ) den weiten geographischen Horizont seines Werkes, der sich im Westen bis an Seine und Loire sowie in die Bretagne, im Osten vor allem auf das mainfränkische Gebiet erstreckte. Bot ihm hier der furchtbare Machtkampf von Konradinern und Babenbergern reichen Stoff, so fesselte ihn dort der Aufstieg der wahrscheinlich rheinfränkischen 6 ) Familie der Robertiner zum Königtum Westfranziens. So erhielt das alte fränkische Kerngebiet zwischen Rhein und L o i r e 7 ) , vermehrt um das mainfränkische Kolonialland, in der Chronik Reginos noch einmal lebendigen
) Dieses Urteil fällte Κ . Β ο s 1, Die Reidisministerialität der Salier und Staufer 1 (Schriften der M G H . 10), Stuttgart 1950, S. 8. 5) Vgl. dazu M . W i l l w e r s c h , Die Grundherrschaft des Klosters Prüm, Diss. Berlin 1912; über das Prümer Urbar zuletzt Ch. E. P e r r i n , Recherches sur la seigneurie rurale en Lorraine, Paris 1935. — D a ß die Nadiriditen zur bretonischen Geschichte aus Angers, dem Verwaltungsmittelpunkt der Prümer Besitzungen in der Bretagne und Anjou, in die Chronik Reginos gelangten, zeigte W e r n e r in der oben Α . 1 zitierten Untersuchung. 4
®) Für rheinfränkische Abstammung dieses Geschlechtes K . G l ö c k n e r , Lorsch und Lothringen, Robertiner und Capetinger, Z G O R h . 89 (1937) S. 301 ff.; vgl. P . E. S c h r a m m , Der König von Frankreich 1, Weimar 1939, S. 68 Anm. 2 (auf S. 34 in Bd. 2 ) ; neuerdings hat E . Z ö l l n e r , M I Ö G . 57 (1949) S. 1 ff., auch Rupert von Salzburg aus dieser Familie abzuleiten versucht, m. E. mit großer Wahrscheinlichkeit. Es ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, daß J . W e r n e r , Das alamannische Fürstengrab von Wittislingen, München 1950 ( = Münchener Beiträge zur V o r - u n d Frühgeschichte 2), eine Eheverbindung zwischen einer alamannischen Hochadelsfamilie und rheinischem Adel schon für das 7. J h . nachgewiesen hat. Reginos Vertrautheit mit den genealogischen Verhältnissen des Adels seiner Zeit zeigt sich audi in der Art, wie er zu 881 S. 117, 885 S. 124, 898 S. 146, von einer im Niederrheingebiet ansässigen sächsischen Adelssippe sprach (über diese E. T h i e m a n n , Der niederrheinische Raum, Diss. Köln 1939, S. 68 ff.). 7
) Von den einschlägigen Arbeiten Steinbachs und Petris seien genannt: F. P e t r i , Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich, 2 Bde., Bonn 1937; F. S t e i n b a c h u. F. P e t r i , Zur Grundlegung der europäischen Einheit durch die Franken, Leipzig 1939. Über den Stand der durch diese Arbeiten ausgelösten Diskussion jetzt P e t r i , Rhein. Vjbll. 15/16, 1950/51, S. 39 ff.; auch gesondert: Zum Stand der Diskussion über die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze, Darmstadt 1954; [neuere Lit. bei H . L ö w e , in: GebhardtG r u n d m a n n , Handbuch der deutschen Geschichte l 9 , Stuttgart 1970, S. 122 Anm. 1].
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Zusammenhang; was er über die anderen deutschen Stämme und über Italien 8 ) zu sagen hatte, steht an Quellenwert und Anschaulichkeit der Schilderung dieses Gebietes weit nach. Es ist kein Zufall, daß er von der damals doch schon im Gange befindlichen nationalen Differenzierung noch nicht wirklich berührt war 9 ). Adlige Herkunft und Umwelt haben aber nicht nur den äußeren Rahmen von Reginos Chronik hergegeben, sondern auf die Prägung seiner Persönlichkeit einen tiefen Eindruck ausgeübt. Unterschied sich die germanische Heldendichtung, deren Pflege letztlich in der Hand des Adels lag, von der römischen durch ihren im Grunde unhistorischen und unpolitischen Charakter, kam es ihr auf die persönliche Bewährung des Helden an 10 ), so war ein Nachklang solchen Denkens auch in Reginos Chronik zu spüren. Ihn fesselten nicht nur die eigentlich geschichtlichen Ereignisse, sondern auch die schon dem Bereich der Heldensage angehörenden Taten und Einzelschicksale, die aus der Bewährung adligen Sinnes erwuchsen u ) . Adliger Herkunft aber waren zu einem großen Teil die Wertmaßstäbe, nach denen er in seiner Chronik die handelnden Persönlichkeiten beurteilte. Immer wieder gebrauchte er in der Persönlichkeitsschilderung Begriffe wie magnitudo animi, animositas, animus, invictus animus, virtus, duritia, constantia und audacia, Begriffe, deren Herkunft aus einer nichtchristlichen Welt eindeutig ist. Der Aufschwung der klassischen Bildung in der karolingischen Zeit hatte schon einem Einhard die Möglichkeit gegeben, magnanimitas und animositas als zentrale Eigenschaften der hochgesinnten und durch keine Widerstände zu beirrenden Persönlichkeit Karls des Großen zu erfassen und damit ein Herrscherbild zu zeichnen, dessen Dynamik mit den üblichen Kategorien zeitgenössischer Persönlichkeitsschilderung nicht zu erfassen gewesen wäre 12 ). Bei Regino vollzog sich etwas Ähnliches. Hier empfing mit den Mitteln, die die erneuerte antike Bildung an die Hand gab 13 ), fränki) Ober Italien vgl. etwa P. S c h u l z , Die Chronik des Regino vom Jahre 813 an, Diss. Halle 1888, S. 52 ff. e) W. H e s s l e r , Die Anfänge des deutschen Nationalgefühls in der ostfränkisdien Geschichtsschreibung des 9. Jh., Eberings Hist. Studien 376, Berlin 1943, S. 5 2 — 6 3 . 10) Vgl. H . S c h n e i d e r , Herrscher und Reich in der deutschen Heldendichtung, in: Das Reich. Idee und Gestalt. Festschrift für J . Haller, Stuttgart 1940, S. 145 ff. Über das epische Element bei Regino C. Η a i η e r , Das epische Element bei den Geschichtsschreibern des früheren Mittelalters, Diss. Gießen 1914, S. 1 0 9 — 1 1 2 . " ) Vgl. zu 867 S. 92, 870 S. 100 f. über Ludwig den Deutschen, 874 S. 107 ff. über den Bretonen Vurfandus, 879 S. 114 f. über Boso, 890 S. 135 f. über die Bretonen Alanus und Vidicheil. 8
12
) S. H e l l m a n n , Einhards literarische Stellung, H V . 27 (1932) S. 4 0 — 1 1 0 ; Η . Ρ y r i t ζ , Das Karlsbild Einharts, Vjschr. f. Lit. u. Geistesgesch. 15 (1937) S. 167 bis 188. Nichts Neues bietet A. K l e i n c l a u s z , Eginhard, Annales de L'Universite de Lyon, 3e Serie, fasc. 12, Paris 1942; H . B c u m a n n , Topos und Gedankengefüge bei Einhard, Arch. f. Kult. Gesch. 33 (1951) 3 3 9 — 3 5 0 .
13
) Was für Einhard Sueton war, ist — wenn auch in anderer Hinsicht — für Regino Justin gewesen; vgl. dazu Μ. Μ a η i t i u s , Regino und Justin, N A . 25 (1900) S. 192 ff. Es ist allerdings eine Schwäche der Arbeit von Manitius, daß sie nur das formale Element in der
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sdie Adelsethik einen literarischen Ausdruck, den sie bisher in der christlichen und lateinischen Literatur der Franken nicht gefunden hatte. Waren aber Begriffe, wie duritia14), constantia15) und die doppelter Deutung fähige 16 audacia ) ohne Schwierigkeit mit der Wirklichkeit des 9. und 10. Jhs. in Deckung zu bringen, so war dies gar nicht so leicht bei dem durchgeistigten und inhaltsschweren Begriff der magnitudo animi, der sich in einem langen Werdegang erfüllt hatte mit fast allen geistigen und politischen Kräften der griechisch-römischen Welt 1 7 ). Aber wenn man die seelische Haltung wiederfinden will, die Regino mit dem Begriffe der magnitudo animi zu umschreiben suchte, wird man über diese ganze Entwicklung zurückgehen müssen zu jener Adelsethik der griechischen Frühzeit, die die wahre Tugend des Mannes in seiner Mannhaftigkeit sah, und als den Kampfpreis der Tugend, der Arete, die Ehre betrachtete. Diese Adelsethik hatte Aristoteles vor Augen, als er von Gestalten
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Benutzung Justins durch Regino berücksichtigte. Demgegenüber wird sich im folgenden zeigen, daß Justin audi eine inhaltliche Bedeutung für Reginos historisch-politisches Weltbild besaß. Vgl. die lobende Bemerkung über Ludwig den Deutschen, der sich in Flamersheim beim Einsturz eines Söllers zwei Rippen gebrochen hatte: Tanta huius principis duricia, tanta animositas juit, ut, cum etiam fragor fractarum costarum adinvicem collidentium a nonnullis audiretur, nemo tarnen propterea audierit eum suspirium trahentem vel gemitum emittentem (Regino zu 870 S. 101). Ähnlich stellt Justin (M. Juniani Justini Epitoma Historiarum Philippicarum Pompei Trogi, post F. R u e h 1 ed. O. S e e 1, Leipzig 1935) 9, 2, 9, die duritia corporis neben die virtus animi; vgl. ferner Justin 7, 2, 6: cotidiano exercitio indurati, 9, 3, 9: indurata virtute, 12, 4, 10: laboribus periculisque indurati. Im christlichen Sprachgebrauch Reginos hatte duricia allerdings noch eine andere Bedeutungsnuance: vgl. zu 867 S. 94: propter duriciam et cor inpoenitens. So ist es wohl kein Zufall und nicht in positivem Sinne gemeint, wenn zu 874 S. 108 von der audatia et duricia Nortmannorum gesprochen wird. Regino wußte nodi um die undiristlidie, heidnische Herkunft der beiden Begriffe. Zu 870 S. 101 spricht er von der audatia ac saepe laudata constantia eines jungen Adligen; zu 874 S. 108 von der audatia mentisque constantia des Bretonen Vurfandus. Zu 869 S. 100: tanta ingenii arte tantaque constantia. Zur römischen Bewertung der audacia vgl. U. K n o c h e , Magnitudo animi. Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines römischen Wertgedankens, Philologus, Suppl. 27, 3 (1935) S. 21, wonach audacia neben insolentia und arrogantia treten kann (von Cicero im Hinblick auf die Populären gebraucht). Regino gebrauch.: das Wort im Zusammenhang mit constantia durchaus positiv (vgl. Anm. 15), aber audi im Hinblick auf Normannen (Anm. 14) und Sarazenen (zu 867 S. 93: audacia refrenanda). Immerhin wird die audatia des Vurfandus (zu 874 S. 108), der sich rühmte, nach Abzug des königlichen Heeres allein mit seinem Gefolge die Normannen bestehen zu wollen, folgendermaßen charakterisiert: se ultra vires presumens arroganter iactavit. Die römische Doppeldeutigkeit des Begriffes lebte also weiter. Für die Beziehung von audacia und arrogantia ist wohl Isidor von Sevilla, Etymologiae 10, 7, als Vermittler an das Mittelalter wirksam gewesen. Reginos Fassung des Begriffes ist wohl nicht nur durch christliche Ablehnung der arrogantia bestimmt, sondern auch durch Einsicht in die Notwendigkeit militärischer Disziplin und die Erkenntnis, daß im Kampf gegen die Normannen solche Taten ritterlicher Einzelgänger wenig bedeuteten. So sagt er von dem Bretonen Vidicheil (875 S. 110), er habe magis audacter quam provide gekämpft. Vgl. dazu das in Anm. 16 genannte Buch von K n o c h e .
Löwe, Cassiodor
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wie Achilleus und Aias die allgemein menschliche Tugend der μεγαλοψυχία abstrahierte, als letzte Vollendung der Arete, als „höchsten Ausdruck der geistigen und sittlichen Persönlichkeit" 18). Auch in der Adelswelt Reginos stand virtus in innerer Beziehung zu Ehre und Ruhm 19 ), lebte das Element des Agonalen, das die Edlen in den Wettstreit um die erste Stelle in Kampf und Ehre trieb 20 ), das sie zwang, keine Kränkung ihrer Ehre ungesühnt hinzunehmen 21 ). Es war diese Haltung, die er mit dem Begriff der magnitudo animi umschrieb. Eine in ihren wesentlichen Zügen übervölkische Frühstufe adeliger Gesittung wird hier greifbar, für die Regino Beispiele auch aus dem keltischen Bereich der Bretagne anführte 22 ), jene „heroische Lebensform", die noch in der „balkanischen Patriarchalität" nachgewiesen worden ist 2S ). Es ist schließlich kein Zufall, daß in den isländischen Sagas der „mikkilmenni" genannt wird, der „Großmann, Mann von großer Art", „groß in den selbstischen und den hingebenden Trieben, im Geltungswillen wie als Freundesschutz" 24 ). Das war genau die gröbere Ausprägung des Ideals der Großgesinntheit, wie sie bei Regino beschrieben wurde. Von der Vergeistigung, die die μεγαλοψυχία bei ls
) W. J a e g e r , Paideia. Die Formung des griechischen Menschen 1, Berlin u. Leipzig 1934, S. 34 ff.; d e r s., Der Großgesinnte, Die Antike 7, 1931, S. 97 ff. Zum Problem der magnanimitas im Mittelalter jetzt audi P. K i r n , Das Bild des Menschen in der Geschichtsschreibung von Polybios bis Ranke, Göttingen 1955, S. 61 ff. M ) Vgl. zu 892 S. 138, wo es von dem fränkischen Heer heißt: sed nihil dignum, quod virtuti asscribatur, eg it. Ganz ähnlich heißt es zu 887 S. 127 von Karl III.: sed nil dignum imperatoriae maiestati in eodem loco gessit. Hier steht zweifellos der Gedanke an die römischen virtutes imperatoriae (dazu K n o c h e S. 12) im Hintergrund. — Vgl. ferner 841 S. 75 über die famosa virtus der Franken; 869 S. 98: sed hostili gladio corruisse virtus ac nobilitas totius regni videretur. Kennzeichnend ist der Beridit zu 880 (S. 118) über die Niedermetzelung eines Bauernaufgebotes durch die Normannen: Sed Nortmanni cernentes ignobile vulgus non tantum inerme, quantum disciplina militari nudatum, super eos cum clamore irruunt tantaque caede prosternunt, ut bruta animalia, non homines mactari viderentur. Stilistisch lag zugrunde Justin 2, 9, 12: pugnatum est enim tanta virtute ut hinc viros, inde pecudes putares. Doch für sein tanta virtute hat Regino keine Entsprechung: bei dem ignobile vulgus ist von virtus nicht zu reden, ebensowenig aber bei jenen Normannen, denen es als adligen „Berufskriegern" keine Ehre einbringt, über solche Gegner zu siegen. 20
) Vgl. 874 S. 108: Erat hie Vurfandus genere inter suos clarus, sed virtutum experimentis nobilitate clarior, quae tanta in illo fuit, ut animi magnitudine viriumque gloria inter suos, ut diximus, nullt videatur esse secundus. Über Karlmann sagt er (880 S. 116): pulchritudo eius corporis insignis, vires quoque in homine admirabiles fuere; nec inferior animi magnitudine. 21 ) Vgl. zu 887 S. 126: Ille animi magnitudine indignitatem rei non ferens super eos irruit. Vgl. etwa K n o c h e S. 41 Anm. 189. 22 ) Vgl. oben Anm. 5, 20, 15, 16. 23 ) G. G e s e m a η η , Heroische Lebensform. Zur Literatur- und Wesenskunde der balkanischen Patriarchalität, Berlin 1943. Gegen B u r c k h a r d t s Auffassung des Agonalen als eines speziell hellenischen Wesenszuges auf Grund weitschichtigen völkerkundlichen Materials J. H u i z i n g a , Homo ludens, Basel o. J. 3 (übers, ν. Η . Ν a c h ο d ) , S. 116 ff. 24 ) Α. Η e u s 1 e r , Germanentum. Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen, Heidelberg o. J. 4 ( = Kultur und Sprache 8), S. 59, 69.
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Aristoteles erfahren hatte, war die magnitudo animi, die Regino in seiner Umwelt fand, noch weit entfernt 25 ). Daß ein geistlicher Geschichtschreiber der Darstellung kriegerischer Adelstugend soviel Raum gewährte, war schon merkwürdig genug. Noch merkwürdiger aber war es, daß er Bischöfe und Äbte, die freilich in jenen Zeiten fast regelmäßig politische und militärische Funktionen übernehmen mußten, oft genug mehr nach diesen adlig-kriegerischen Maßstäben als nach denen ihres geistlichen Standes beurteilte 26 ). Ja, wenn ein anderer Annalist es tadelnd hervorhob, daß Bischof Wala von Metz wider alles kirchliche Gebot in den Kampf gegen die Normannen gezogen sei, in dem er dann fiel 27 ), so vergaß Regino anscheinend dieses Verbot des Waffentragens für Kleriker, das er selbst an anderer Stelle eingeschärft hatte, und berichtete von dem Kriegszuge und Tode des Bischofs ohne jeden Tadel 28 ).
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) Der oben Anm. 20 zitierten Stelle über Vurfandus lag stilistisch weitgehend wörtlich zugrunde die Charakteristik Justins (15, 3, 1) von Lysimachus; aber mit dem Satz, ut animi magnitudine philosophiam ipsam . .. vicerit konnte Regino offensichtlich nichts anfangen; die Beziehungen seiner adligen Umwelt zur Philosophie und zur literarischen Bildung überhaupt waren zu schwach, als daß er diesen Gedanken hätte übernehmen können. 2e ) Vgl. 867 S. 93 über den Abt Hugo: vir strenuus, humilis, iustus, pacificus et omni morum honestate fundatus; beachtenswert auf alle Fälle, daß das strenuus an die Spitze gestellt ist. Vgl. zu 887 S. 126 den Nachruf auf denselben Hugo: magnae potestatis vir et magnae prudentiae und den folgenden Satz: Ducatus, quem tenuerat et strenue rexerat, Odoni. .. traditur. Adalbero von Augsburg heißt 887 S. 128: nobilis generis magnique ingenii ac prudentiae vir. Wenn es von Salomon III. von Konstanz (890 S. 136) heißt: vir non solum nobilitate, verum etiam prudentiae ac sapientiae virtutibus insignitus, so hält sich dieser Satz ganz im Rahmen der schon zum Topos gewordenen Betonung des Seelenadels (vgl. dazu E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 186 f.), die auch sonst bei Regino vorkommt (876 S. 11 über Hemma: nobilis genere fuit, sed. . nobilitate mentis multo prestantior) und durchaus eine Steigerung des Lobes bedeutet, die den Betreffenden als vollkommenen Aristokraten erscheinen lassen soll. — Merkwürdig kühl ist der Bericht Reginos von dem Unglücksfall, dem der einzige Sohn Ludwigs des Jüngeren zum Opfer fiel, als er aus einem Fenster der Regensburger Pfalz stürzte: quae non tantum inmatura quam inhonesta mors non solum regi et reginae, verum etiam omni domo regiae maximum luctum ingessit (882 S. 119). Kein christlicher Hinweis auf den Ratsdiluß Gottes, sondern adliges Standesdenken, das an dem vorzeitigen Tod des jungen Prinzen vor allem die „unstandesgemäße" Art bedauert, in der er erfolgte. " ) Annales Bertiniani, ed. G. W a i t z , MG. SS. rer. Germ, in us. sthol., Hannover 1883, S. 153 zu 882: Walam Mettensem episcopum, contra sacram auctoritatem et episcopate ministerium armatum et bellantem. 28 ) Zu 882 S. 119. Vgl. Reginonis abbatis Prumiensis Libri duo de synodalibus causis, Buch 1, c. 176, 177, 346, ed. F. G. A. W a s s e r s c h 1 e b e η , Leipzig 1840, S. 94, 162. Ähnlich berichtet Regino ohne Vorwurf den Tod des Bischofs Arn von Würzburg im Kampf gegen die Slawen (892 S. 140), während andere geistliche Kreise doch daran Anstoß genommen haben, wie E. D ü m m 1 e r , Geschichte des ostfränkischen Reiches 3 ä , Leipzig 1888, S. 355 Anm. 2, daraus schließt, daß spätere Quellen wissen wollen, Arn sei während der Messe erschlagen worden.
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In Reginos Chronik tritt deutlicher als in anderen Quellen eine Entwicklung hervor, die zwar damals nicht erst begann, aber doch ein beschleunigtes Tempo einnahm: die innere Annäherung von Kirche und Adel 2 9 ). Zwei Vorgänge waren es, die diese Entwicklung gerade damals vorantrieben: die furchtbare Not der Normanneneinfälle, die die Kirche mit Notwendigkeit zu einer positiveren Würdigung des Waffenhandwerks führen mußte, und zweitens die Tatsache, daß der Adel, der eigentliche Träger der Verteidigung nach außen, aber audi der Urheber der inneren Kämpfe, die die Kirche nicht minder bedrohten, sich gegen Ende des Jahrhunderts der Lenkung des schwach gewordenen Königtums immer mehr zu entziehen vermochte. Solange der Adel von einem starken Königtum im Zaum gehalten worden war, hatte die Kirche das Bedürfnis nach Schaffung einer adligen Standesethik nicht so sehr empfunden; sie hatte, wie die Synodalakten und die Fürstenspiegel des frühen Mittelalters erweisen, an der Verchristlichung des Königtums gearbeitet. Wie weit diese Entwicklung fortgeschritten war, ergibt sich gerade audi bei Regino, der die Persönlichkeitsschilderung von Königen gleichsam in einem Koordinatensystem religiös-kirchlicher und adelig-kriegerischer Maßstäbe vornahm 30 ), während er die adligen Herren überwiegend nur nach den weltlichen Idealen ihres Standes beurteilte 3 1 ). Die Probleme einer christlichen Adelsethik, die den besonderen Bedürfnissen und Aufgaben dieses Standes Rechnung trug, waren trotz einiger Ansätze — ζ. B. bei Alchvine 3 2 ) — im 9. Jh. noch nicht genügend durchdacht worden. Erst die cluniazensische Reformbewegung hat hier im 10. Jahrhundert die Entwicklung vorangetrieben, und aus solchen Bemühungen ist dann die ritterliche Kultur des 12. Jahrhunderts erwachsen. Aber Reginos Chronik erweist nicht nur die formende Kraft adligen Denkens an einem Mann der Kirche; wenn Regino die magnitudo animi zur Kenn2β )
Vgl. dazu grundlegend A . S c h u l t e , Der Adel und die deutsdie Kirche im Mittelalter, Kirchenreditliche Abhandlungen, hg. v . U. Stutz, 63/64, Stuttgart 1922; C. Ε r d m a n n , Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Forschungen z. Kirchen- u. Geistesgesch. 6, Stuttgart 1936. Von anderen etwa H. N a u m a n n , Höfische Kultur, Stuttgart 1 9 2 9 ; ders., Der Staufische Ritter, Leipzig 1936; L. A. W i n t e r s w y l , Der deutsdie Ritterstand. Sinn und Gestalt, Potsdam 1937. In die von E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter S. 508 ff., eröffnete Diskussion über das „ritterliche Tugendsystem" soll im folgenden nicht eingegriffen werden; dodi dürften unsere Ergebnisse durchaus geeignet sein, die Meinung von Curtius S. 522, es habe sich hier wohl kaum um ein „System" gehandelt, zu unterstreichen. so ) Vgl. etwa den Nachruf auf Ludwig den Deutschen 876 S. 110, auf Karlmann 880 S. 116, auf den westfränkischen Ludwig II. 883 S. 120. Dem verstorbenen Kaiser Ludwig II., von dem Regino audi sonst nicht sehr viel wußte, wurden (874 S. 107) nur die üblichen kirchlichen topoi des Herrscherlobs nachgerufen. S1 ) Vgl. die oben Anm. 14, 15, 16, 19, 20, 26, zitierten Stellen. 32 ) Material dazu findet sich bei Α . Κ 1 e i η c 1 a u s ζ , Alcuin, Annales de l'Universiti de Lyon, 3e serie, fasc. 15, Paris 1948, S. 1 1 2 ff., 1 1 8 ff.; aber die speziellen Fragen adliger Ethik werden, audi wenn sich etwa der Liber de virtutibus et vitiis (M i g η e , PL. 101, S. 613 ff.) an einen Adligen, den Grafen Wido, wendet, noch nicht zum eigentlichen Gegenstand.
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Zeichnung adliger Lebenshaltung in seine Chronik einführte, so öffnete er umgekehrt auch der adligen Welt seiner Tage den Zugang zu der ganzen Gedankenschwere, die dieser Begriff in der Antike angenommen hatte. Die römische Auffassung von der Bewährung der magnitudo animi im Dienst an der res publica und der stoische Gedanke der Uberwindung der Affekte 33 ) mußten dann in der Zügelung maßlosen Unabhängigkeitsdranges und Machtstrebens wirksam werden; in der gleichen Richtung wirkte die Tatsache, daß die magnitudo animi mit den vier antiken Kardinaltugenden, in deren Reihe sie statt der fortitudo gelegentlich aufgenommen worden war, längst eine Einordnung in die christliche Ethik erfahren hatte 3 4 ). So stand auch die virtus bei Regino
M ) Vgl. K n o c h e , Magnitudo animi, S. 13, 55 Anm. 236 u. öfter. '*) Es kann nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, die Begriffsgeschichte von magnitudo animi im Anschluß an K n o c h e s tiefgreifendes Werk durch Spätantike und Frühmittelalter bis zu Regino zu führen. Hier möge es genügen, kurz auf Isidor von Sevilla zu verweisen, bei dem die christliche Umprägung des Begriffes in der Spätantike ihren Niederschlag gefunden hat und der diesen dann dem Mittelalter vermittelte. Grundlegend ist: Differentiae 2, 39, 157, M i g n e , PL. 83 S. 95: Fortitudo est animi magnitudo , atque gloria bellicae virtutis, contemptus bonorum et divitiarum. Haec adversis aut patienter cedit, aut fortiter resistit, nullis emollitur illecebris, adversis non frangitur, non elevatur secundis, invicta est ad labores, fortis ad pericula, pecuniam negligit, avaritiam fugit, contra improbos animum ad pericula praeparat, molestiis nullis cedit, gloriae cavet appetitus. Hier dient magnitudo animi als ein Begriff neben anderen zur Umschreibung der fortitudo. Von dem Aufrücken der magnitudo animi an die Stelle der fortitudo in der Reihe der vier Kardinaltugenden, das (nach K n o c h e S. 50 ff., S. 52 Anm. 227) Cicero sdion bei Panaitios vorfand, wird man hier nicht sprechen dürfen, zumal Isidor im Liber numerorum 5, 23, M i g n e , PL. 83 S. 183, die fortitudo in der Aufzählung der Kardinaltugenden beibehalten hat. Andererseits aber wirkt hier eindeutig nach die schon von Cicero (De off. 1,77) vertretene Gabelung der magnitudo animi in fortitudo, quae venientibus malis obstat und patientia, quae quod iam adest tolerat et perfert. Stoisch ist auch die Bestimmtheit des Begriffes durch die zu bestehenden mala und pericula ( K n o c h e S. 54). Wohl kaum ein Nachklang peripatetischer und aristotelischer Auffassung könnte es sein, wenn gloria bellicae virtutis herangezogen wird; denn der Ruhm wird hier wohl nur als selbstverständliche F o l g e der kriegerischen virtus gemeint sein, während das Streben nach Ruhm, das dem peripatetisdien μεγαλόψυχος eigen war, ausdrücklich untersagt wird: gloriae cavet appetitus. Ebenso heißt es Diff. 2, 39, 158 S. 95 von der fortitudo: appetitum cohibet. Schließlich weist contemptus bonorum et divitiarum auf den stoisch-republikanischen Gedanken zurück, der dem Einzelnen vor dem Wohl der res publica zurückzutreten gebot und den Plinius unter Trajan nochmals im Bilde kaiserlicher magnanimitas besdiwor ( K n o c h e S. 22, S. 83 f. Anm. 378). So dürfte auch in dem non elevatur secundis nicht die peripatetische Größe gegenüber der ευτυχία ( K n o c h e S. 64 ff.), sondern eher das stoische Element der Selbstüberwindung auch im Glück wirksam gewesen sein. Lag doch dem christlichen Denken hier die stoische Auffassung und die von ihr getragene despicientia rerum humanarum (vgl. K n o c h e S. 49 f., 54 Anm. 233, 68 Anm. 304, 79, 83, 86, zu Cicero, Panaitios und Seneca) sehr viel näher als die peripatetische von Milde und Güte als natürlichen Emanationen menschlicher Größe. Die res publica aber, in deren Dienst sich die römisch-stoische magnitudo animi zu erfüllen hatte, ist freilich bei Isidor nicht mehr genannt. Schließlich finden sich bei Isidor die vier Kardinaltugenden auch grundsätzlich in die christliche Gedankenwelt eingeordnet, wenn er (Liber numerorum 8, 35,
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nicht nur als die w a h r e Mannestugend in einer Beziehung zu den vires, zur bloßen K ö r p e r k r a f t , sondern in der Würdigung P a p s t Nikolaus' I. audi neben dem spiritus und w u r d e so zur geisterfüllten W i r k u n g s k r a f t des Heiligen; d a m i t erhielt die adlige virtus einen christlichen Sinn 3 5 ) . D a r ü b e r hinaus aber erscheint es fast, als ob Regino dem Ideal der magnitudo animi, so wie es in seiner U m w e l t gelebt wurde, mit einer gewissen Reserve entgegengetreten sei 3 6 ) . Z u soldier Zurückhaltung konnte ihn die Behandlung dieses Begriffes bei Isidor v o n Sevilla und Alchvine f ü h r e n 3 7 ) ; und Justin, bei dem er die magnitudo animi als Umschreibung der gefährlichen D ä m o n i e der historischen G r ö ß e eines A l e x a n d e r fand 3 8 ) , mochte ihn d a v o n überzeugen, d a ß hier eine
M i g n e , PL. 83 S. 186) über die Symbolik der Zahlen 3 (Trinität) und 4 (Kardinaltugenden) spricht und feststellt, daß sie addiert den septiformis gratiae spiritus, multipliziert die Zahl der 12 Apostel ergeben, durch deren Predigt wiederum vermittels der 4 Tugenden der Glaube an die Trinität verkündet wird. Wenn hier — natürlich nur im Gefolge der christlichen Spätantike — die vier Kardinaltugenden in den Dienst des Christentums genommen wurden, so mußte das seine Folgen auch für die magnitudo animi und ihre inhaltliche Ausdeutung haben. Ist Etym. 10, 168 ( M i g n e , PL. 82 S. 385: Magnanimus, ab eo quod sit magni animi et magnae virtutis. Cut contrarius pusillanimis) für den Wandel der Auffassung noch unergiebig, so ist Etym. 10, 158, S. 383, schon recht beachtlich: Longanimis, sive magnanimus, eo quod nullis passionibus perturbatur, sed ad universa sustinenda patiens est. Cui contrarius est pusillanimis, angustus, et in nulla tribulatione subsistens, de quo scribitur: Pusillanimis vehementer insipiens. Obwohl hier deutlich die stoische „Apathie" hereinspielt und audi das ad universa sustinenda einen antiken Klang hat (vgl. Horaz im Anfang der Epistel an Augustus: Cum tot sustineas et tanta negotia solus), erweist die Gleichsetzung von magnanimus und longanimis, wie aus dem tapferen Bestehen eines widrigen Schicksals vermittels einer durchaus aktiv — selbst militärisch — gefaßten patientia jetzt das geduldige Ertragen, die Langmut, geworden ist. Ganz deutlich wird die hier eingeschlagene Richtung bei Alchvine, Liber de virtutibus et vitiis c. 35 ( M i g n e , PL. 101 S. 637): Fortitudo est magna animi patientia et longanimitas, et perseverantia in bonis operibus, et victoria contra omnium vitiorum genera. Die patientia aber ist ihres alten, politischen Charakters entkleidet und gänzlich auf den christlichen Heroismus der Selbstüberwindung bezogen: In patientia vero quaerenda est ignoscendi facultas, non vindicandi opportunitas. Tales sunt quidam, qui tempore iniuriarum patienter sufferunt, ut subsequenter facilius vindicare valeant. Hi veram non habent patientiam. Patientia vera est in faciem fortiter sustinere iniurias, et in futuro vindictam non quaerere, sed ex corde ignoscere (ebd. c. 9 S. 619). Audi bei Alchvine dienen die vier Kardinaltugenden im Kampf gegen Teufel und Unglauben (c. 34 S. 637), aber magnitudo animi oder magnanimitas begegnen bei ihm nicht mehr, sie sind durch die longanimitas (oder c. 34 S. 636 A: patientiae longanimitas) ersetzt. Gegen die Beziehung des Prädikats Größe unmittelbar auf die menschliche Seele bestanden starke Bedenken, vgl. c. 25 S. 632: Magnum se unusquisque esse studeat in suis operibus; sed de magnitudine sua humanum non quaerat favorem, ne perdat quod habuit et sit parvus factus. Zeugt Isidor von dem Bemühen um die Verchristlichung der magnitudo animi, so scheint Alchvine empfunden zu haben, daß hier ein Rest blieb, der sidi der Angleichung entzog; er hat deshalb ganz auf die magnitudo animi verzichtet. Die von Alchvine getadelte falsche — d. h. die alte römische (vgl. K n o c h e S. 25 Anm. 107, 51, 54, 59, 68, 82, 85) — patientia hat aber im Sprachgebrauch der Karolingerzeit weitergelebt; nach Ann. Fuldenses, ed. F. Κ u r ζ e , SS. rer. Germ, in us. schol., Hannover 1891, S. 120, hat Arnulf 891 vor der Normannensdilacht die fränkischen Großen patienter angeredet. Das
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gewisse Vorsicht geboten sei. Schließlich w i r k t e sich das agonale Streben des Adels nach der ersten Stelle in Macht, Ehre und K a m p f , w i e Regino deutlich erkannte, auf das Bestehen des Reiches und der Rechtsordnung höchst unheilv o l l a u s 3 9 ) ; überdies sah der christliche Betrachter hier auch eine gefahrvolle N ä h e zur arrogantia, die im Zusammenhang mit der audacia getadelt w u r d e 4 0 ). Regino ist die antike Antithese v o n magnitudo animi und tumor, Großgesinntheit und Aufgeblasenheit, bekannt gewesen; er w a r n t e v o r dem tumor, aber er vermied es, ihm die magnitudo animi im positiven Sinne gegenüberzustellen 4 1 ). Er hat audi Ludwig dem Deutschen, dem er den wohlmeinendsten Nachruf seines Werkes widmete, magnitudo animi nicht nadige-
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ist in allen Handschriften überliefert und aus dem römischen Sprachgebrauch völlig verständlich; ganz zu Unrecht wollte daher S. H e l l m a n n , NA. 34 (1909) S. 47, dafür potenter einsetzen. 868 S. 94 heißt es von Nikolaus I., er habe so gewaltig auf Erden gewirkt, ut merito credatur alter Hellas Deo suscitante nostris in temporibus exsurrexisse, etst non corpore, tarnen spiritu et virtute. Hier ist eine Dreiheit, der bei Persönlichkeiten der adligen Sphäre nur eine Zweiheit entspricht (887 S. 127 über Karl III.: non modo vires corporis, verum etiam animi sensus ab eo d i f f u g e r e . 874 S. 108 wird an Vurfandus magnitudo animi und virium gloria gerühmt, 841 S. 75 ist von vires und virtus der Franken die Rede), die die körperlichen und geistigen Kräfte männlicher Selbstbehauptung umschreibt. Beide bekommen bei Nikolaus durch den dazutretenden spiritus ihre neue Sinngebung. Dem entspricht, daß Benedikt von Nursia S. 20 vir magnae virtutis genannt wird (nach einer ähnlichen Hs. wie G 5 von Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 1, 26, deren unverderbte Überlieferung allerdings magnae vitae meritis hat). Sonst aber überwiegt bei Regino die Bedeutung von virtus als adlige Mannestugend, vgl. ζ. B. oben Anm. 19. Nur an drei Stellen gebraucht er diesen Begriff, vgl. oben Anm. 20, 21. Vgl. oben Anm. 34. Nicht ohne Bedenken mußte der Christ Regino bei Justin 12, 16, 1, über Alexander lesen: vir supra humanam potentiam magnitudine animi praeditus. Ebenso warf es ein schlechtes Licht auf die Alexander so oft zugesprochene (12, 15, 9; 11, 12, 13; vgl. auch 9, 8, 13) magnitudo animi, wenn 9, 8, 11, von Alexander gesagt wurde: virtute et vitiis patre maior. Magnitudo animi als Ausdruck historischer Größe, die auch im Laster groß sein kann, mußte einem Regino fremd bleiben. 888 S. 129 über die Ursachen der Auflösung des Universalreiches; 897 S. 145: Et dum de nobilitate carnis, de parentum numerosa multitudine, de magnitudine terrenae potestatis u l t r a quam d e c e t , s e e x t o l l u n t , in mutuis caedibus prorumpunt; innumerabiles ex utraque parte gladio pereunt, truncationes manuum ac pedum fiunt, regiones Ulis subiectae rapinis et incendiis solotenus devastantur. Was hier getadelt wird, ist letztlich die adlige magnitudo animi. Vgl. oben Anm. 16; die Ablehnung der arrogantia mußte schon deshalb scharf sein, weil sie nach Isidor, Sententiae 2, 38, 9, Μ i g η e , PL. 83 S. 640, aus der superbia, also der Ursünde, hervorgeht. Vgl. auch Alchvine, De virtutibus et vitiis c. 23: de superbia, c. 25: de humana laude non quaerenda (M i g η e , PL. 101, S. 630 ff.). 876 S. 111 heißt es im Hinblick auf Karl den Kahlen: non esset in tanto viro vanae gloriae tiphus, non supercilii fastus, non alterius usurpandi terminos ambitio; sed iusticia, Caritas et concordia regnaret, ac summum pax inter ilium et nepotes teneret omnino fastigium. Vgl. K n o c h e S. 79. Isidor, Sententiae 2, 36, 7 (M i g η e , PL. 83 S. 638): si de his arroganter quisque tumuerit, zeigt wieder die Verbindung des Christlichen und Antiken.
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rühmt 4 2 ). Damit ist die Funktion dieses Begriffes im Denken Reginos geklärt: er umschrieb mit ihm ein Ideal, das er zu seiner Zeit in Gültigkeit fand, dem er selbst aber nicht ohne Kritik entgegentrat. Das geistige Ringen um eine adlige Standesethik war bei Regino also in vollem Gange. In einer kirchenrechtlichen Sammlung, die er für den Gebrauch der bischöflichen Sendgerichte zusammenstellte, sprach er es aus, daß er vom Adel die Unterstützung der kirchlichen Arbeit in der Bekämpfung heidnischer Bräuche und unchristlichen Wandels erwarte 4 3 ). Die neuere Forschung hat erwiesen, wie wirksam die bischöfliche Sendgerichtsbarkeit an der Erziehung eines zunächst doch nur recht oberflächlich christianisierten Volkes gearbeitet hat 4 4 ). An diesem Werk der „inneren Christianisierung", in deren Dienst er auch den Adel stellte, war Regino mit seinem Rechtsbuch ganz entscheidend beteiligt. In diese Sammlung, die doch der Christianisierung der Germanen dienen sollte, hat Regino germanische Rechtsformen, wie Reinigungseid und Gottesurteile, aufgenommen und damit gerade den letzteren den Weg in das geltende Kirchenrecht geöffnet 4 5 ). Er bewahrte hier jene konservative Wertschätzung des historisch Gewordenen, die ihn als Historiker ausweist und die dem Traditionsbewußtsein des Adligen naheliegen mußte. Aber auch der Seelsorger in ihm wird sich darüber klargeworden sein, daß er bei der Arbeit für die Ausbreitung des christlichen Glaubens die Natur nicht vergewaltigen dürfe. Damit unterschied sich Regino von jenen Theoretikern des Reichseinheitsgedankens unter Ludwig dem Frommen 4 6 ), die — wie etwa Agobard von Lyon — unter
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) Weder 876 S. 110 noch 870 S. 100 f., wo man vielleicht animositas als Ersatz für magnitude artimi fassen darf; diesem Begriff fehlte die gefährliche Nuance der Überheblichkeit, er paßte daher nach Reginos Empfinden wohl besser zum Lobe eines Königs. Eigenartig ist es jedenfalls, daß 891 S. 137 von König Arnulf gesagt wird: indignitatem rei animoso in pectore versans, während 887 S. 126 von Karls III. Heerführer Heinrich gesagt wird: animi magnitudine indignitatem rei non ferens. Animositas scheint in gesteigerter Form die römische Tugend des animus ( K n o c h e S. 7 ff.) zu enthalten (Beherztheit im Widerstehen, per sever antia); sie ist hier die staatsmännische Tugend der Könige Ludwig und Arnulf, die in schwieriger Situation ihre staatsmännischen Ziele unbeirrt verfolgen; magnitudo animi ist dagegen aristokratische, auf die Behauptung der eigenen Ehre gerichtete Tugend; sie kann auch einem König zugeschrieben werden (880 S. 116 Karlmann), betrifft dann aber seine Qualitäten im adligen, nicht im politischen Sinne.
) De synodalibus causis 2, 264, ed. W a s s e r s c h i e b e n S. 317. ) G. F 1 a d e , Germanisches Heidentum und christliches Erziehungsbemühen in karolingischer Zeit nach Regino von Prüm, Theol. Studien u. Kritiken 106 (1934/35) S. 213 ff.; ders., Vom Einfluß des Christentums auf die Germanen, Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 10, Stuttgart 1936. 4 5 ) Vgl. F l a d e , Vom Einfluß des Christentums auf die Germanen S. 78—83, S. 115 ff. 4β ) R. F a u 1 h a b e r , Der Reichseinheitsgedanke in der Literatur der Karolingerzeit bis zum Vertrag von Verdun, Historische Studien 204, Berlin 1931. Vgl. jetzt F. L. G a n s h o f , Observations sur l'Ordinatio imperii de 817, Festsdir. f. G. Kisch, Stuttgart 1955, 4S
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Nichtachtung der historischen Gegebenheiten und allein gestützt auf die Bibel, die Einheit des Abendlandes unter der Herrschaft des Kaisers in einem einzigen revolutionären Anlauf verwirklichen wollten. Ihr Ziel war es, die Mannigfaltigkeit der bestehenden Volksrechte durch ein biblisch begründetes Recht zu ersetzen 47 ). Diese Revolutionäre, für deren Gedankengut man nicht zu Unrecht die Bezeichnung des „karolingischen Rationalismus" vorgeschlagen hat 4 8 ), mußten schon an ihrer Mißachtung des historisch Gewordenen scheitern, und Regino hat solchen Auffassungen im tiefsten fern gestanden 49 ). Wir suchten nach der geschichtlichen Bedingtheit Reginos: sie bestand in seiner Zugehörigkeit zu einer adligen Schicht, die gerade damals eigene politische Wege zu gehen begann; seine Mitwirkung an der Gestaltung der Zukunft aber wurde faßbar in seiner Arbeit an der Verchristlichung adliger Ethik und der germanischen Welt überhaupt. Adel, Germanentum und Christentum sind daher Faktoren, die sein Geschichtsbild bestimmten.
15—32; ders., Louis the Pious Reconsidered, History 42, 1957, 171—180; Th. S c h i e f f e r , Die Krise des Karolingischen Imperiums, Aus Mittelalter u. Neuzeit. Festsdir. f. G. Kallen, Bonn 1957, 1—15; über den Reidiseinheitsgedanken und sein Erlahmen H . L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 3, Weimar 1957, bes. 299, 353 ff., 358 f. " ) Vgl. etwa F a u l h a b e r S. 27 f. Von Agobard sind besonders zu nennen seine Schriften gegen das Gesetz Gundobads (MG. Epp. 5, S. 158 ff.) und gegen die Gottesurteile (M i g η e , PL. 104 S. 249 ff.). A. C a b a η i s s , Agobard of Lyons, Syracuse Univ. Press 1953; H . L ö w e (s. oben A. 46) 312—315; [E. B o s h o f , Erzbischof Agobard von Lyon, Köln 1969.] Charakteristisch für die durchaus unhistorisdie und rationalisierende Haltung audi Theodulf von Orleans mit seiner Comparatio legis antiquae et modernae, MG. Poet. Lat. 1, S. 517 ff.; P. M. A r c a r i , Un goto critico delle legislazioni barbariche, Arch. stor. Ital. 110 (1953) 2—37; H . L i e b e s c h ü t z , Theodulf of Orleans and the Problem of the Carolingian Renaissance, in: Fritz Saxl 1890—1948. A volume of Memorial Essays ed. by D. J. Gordon, 77—92. 48 ) So anknüpfend an H . R e u t e r , Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter 1, Leipzig 1875, H . L i e b e s c h ü t z , Wesen und Grenzen des karolingischen Rationalismus, Arch. f. Kult. Gesch. 33 (1950) S. 17 ff. 4 *) Man halte einmal neben den Satz des Hrabanus Maurus (Epp. 5 S. 520: Differentia non debet esse in diversitate nationum, quia una est ecclesia catholica per totum orbem diffusa), der nach F a u l h a b e r S. 27 wohl die „weitestgehende Folgerung aus dem Dogma von der unitas des Menschengeschlechtes" zog, den genau umgekehrt argumentierenden Satz Reginos im Vorwort seiner Libri de synodalibus causis (abgedruckt bei K u r z e S. X X ) : Nec non et illud sciendum, quod, sicut diversae nationes populorum inter se discrepant genere moribus lingua legibus, ita sancta universalis aecclesia toto orbe terrarum diffusa, quamvis in unitate fidei coniungatur, tarnen consuetudinibus aecclesiasticis ab invicem differt. Aliae siquidem consuetudines in Galliarum Germaniaeque regnis in aecclesiasticis officiis reperiuntur, aliae in orientalium regnis, transmarinis regionibus. Geht die Tendenz bei Hraban dahin, von der idealen Einheit der Kirche aus die Unterschiede der Völker zu eliminieren, so begründet Regino mit den tatsächlich vorhandenen Verschiedenheiten audi die Mannigfaltigkeit kirchlichen Brauches, die er unbeschadet der Einheit des Glaubens bejaht.
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II. Zum Geschichtsbild Reginos gehörte auch sein Bild der Zeitgeschichte. Dieses aber war in besonderem Maße bestimmt durch die um ihn her sich zu politischer Herrschaft erhebende Adelswelt. Der historische Hergang, den er selbst miterlebte, wurde ihm bewußt als der Abstieg und die Auflösung des karolingischen Gesamtreiches; er führte ihn zurück auf den Kräfteschwund der Franken seit der großen Bruderschlacht von Fontenoy und den Niedergang des karolingischen Hauses selbst 50 ). Darüber hinaus aber erkannte er, daß der endgültige Auseinanderfall des Gesamtreiches nach der Absetzung Karls III. begründet war im Herrschaftsstreben des fränkischen Adels, daß auch die Ordnung der einzelnen Teilreiche durch die Machtkämpfe der großen Adelsfamilien aufs schwerste bedroht war 51). Aber er scheint bereits gesehen zu haben, daß in jener Epoche des Niedergangs der Königsmacht die adlige Herrschaftsbildung auch eine positive Seite hatte. Aus soldier Auffassung der Dinge hat er dem Grafen Konrad (vor dem Gefecht mit den Babenbergern) eine Rede an die Seinen in den Mund gelegt, in der er sie aufforderte, für Weib und Kind, für das Vaterland zu kämpfen 52). Der Begriff des Vaterlandes, der bei Regino nur in bezug auf die engere Heimat gebraucht wurde, erhielt so durch die Adelsherrschaft eine politische Bedeutung. Dem Auf und Ab der Adelskämpfe, die unmittelbar in sein Leben eingriffen, verdankte Regino ein Gespür für reale Machtverhältnisse und für die Methoden politischen Kampfes, das in dieser Form den geistlichen Chronisten des Mittelalters nicht immer gegeben war. Dabei half ihm freilich ein Werk des
50
) 841 S. 75: . . . apud Fontaniacum. In qua pugna ita Francorum vires adtenuatae sunt ac famosa virtus infirmata, ut non modo ad amplificandos regni terminos, verum etiam rtec ad proprios tuendos in posterum sufficerent. 880 S. 116 f.: Post cuius (seil. Caroli Magni) decessum Variante f ο r t u η a rerum gloria, quae supra ν ο t a fluxerat, eodem, quo accesserat, modo, cepit paulatim diffluere, donee deficientibus non modo regnis, sed etiam ipsa regia Stirpe partim inmatura aetate pereunte partim sterilitate coniugum marcescente hie (scil. Arnolfus) solus de tam numerosa regum posteritate idoneus inveniretur, qui imperii Francorum sceptra susciperet. (Die Sperrung kennzeichnet wörtliche Abhängigkeit von Justin 10, 3, 6, und 23, 3, 12.) Uber die Funktion der fortuna im Geschichtsdenken Reginos siehe unten S. 165 ff.
51
) 888 S. 129: Post cuius (seil. Caroli III.) mortem regna, que eius ditioni paruerant, veluti legitimo destituta berede, in partes a sua compage resolvuntur et iam non naturalem dominum prestolantur, sed unumquodque de suis visceribus regem sibi creari disponit. Quae causa magnos bellorum motus excitavit; non quia prineipes Francorum deessent, qui nobilitate, fortitudine et sapientia regnis imperare possent, sed quia inter ipsos ae qualitas generositatis, dignitatis ac potentiae discordiam a u g e b a t , η e mine tan tum c e t e r ο s precellente, ut eius dominio reliqui s e submittere dignarentur. Μ ul to s enim idoneos prineipes ad regni gubernacula moderanda Francia genuisset, ni s i fortuna e ο s aemulatione virtutis in pernitiem mu tu am armasset. (Wörtliche Anlehnung an Justin 13, 2, 3; 13, 1, 15.) 52 ) 906 S. 151: ut. . . pro coniugum ac liberorum salute et defensione patriae totis viribus decertarent.
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Altertums, das er mit viel Verständnis gelesen hatte, der Auszug Justins aus den Historiae Philippicae des Pompeius Trogus. Diese Darstellung der Machtkämpfe im alten Orient, in Griechenland, im Alexanderreich und den Diadochenstaaten vermittelte ihm einen gewissen Abglanz jener hellenistischen Welt, die im diplomatischen Ringen um die „Erhaltung des Gleichgewichtes" schon eine gelegentlich zum Virtuosentum gesteigerte politische Kunst entwickelt hatte 53). Hier lernte Regino, sich über die Schilderung von Einzeltatsachen hinaus größere Zusammenhänge und Kausalkomplexe klarzumachen und unter den historischen Kausalitäten audi die äußeren Machtverhältnisse, die vires regni, von denen er im wörtlichen Anschluß an Justin sprach, in Rechnung zu stellen 54). Gewiß erhob er sich nicht zu einem Abwägen der Machtmittel nach Art des Thukydides, und schon die einfachen Verhältnisse seiner Zeit, in denen nichts dem organisierten Staatswesen und den hoch entwickelten Wirtsdiaftsformen des Altertums entsprach, mußten einer allzu tiefen Einwirkung Justins auf sein Denken im Wege stehen. Aber er wandelte doch auf den Spuren Justins, wenn er sich in der Darstellung politischer Ereignisse gern von den Erfolgen überlegener diplomatischer Verhandlungsführung beeindrucken ließ, und wenn er in seinem Encomium auf Ludwig den Deutschen die calliditas unter den lobenswerten Eigenschaften dieses Herrschers anführte 55). Sehr viel wesentlicher aber ist es, daß Regino durch Justin einen Einblick in das Werden und Vergehen der Macht gewann. Damit näherte er sich der Problematik von Ethos und Kratos, der Dämonie der Macht. Imperialistische Machtausweitung, wie er sie am Beispiel der alten Weltreiche kennen lernte, hat er auch dem Imperium Francorum als natürliches Recht zuerkannt 5 6 ); bei der Erwähnung der Slawenkriege der ostfränkischen Herrscher hat er eine Rechtfertigung derselben als Heidenkriege daher nicht für notwendig gehal53
) Vgl. etwa F. A l t h e i m , Weltgeschichte Asiens im griechischen Zeitalter 1, Halle 1947, S. 250 f. M ) Vgl. 841 S. 75; 866 S. 90 heißt es v o n Karl dem Kahlen: sentiens vires regni a se defecisse, und später: ex desperatis rebus vires se recepisse congaudens. 867 S. 93 fürchtet Ludwig II., daß gegen die Sarazenen vires regni non sufficerent. Er bittet Lothar II. um H i l f e ad prefatae nequissimae gentis vires extenuandas. 883 S. 121 spricht Regino v o n Gottes Zorn über Lothars II. Ehehandel und seinen Folgen: . . . Deus. . . vires eiusdem regni radicitus exterminabat. Vgl. Justin 1, 1, 8. 55 ) 869 S. 100 wird der Verhandlungserfolg Liutberts v o n Mainz und Alfrids v o n Hildesheim bei Karl dem Kahlen begründet: Qui eutn tanta ingenii arte tantaque constantia adgrediuntur. An Ludwig dem Deutschen werden 876 S. 110 nicht nur die militärischen, sondern auch die politischen Herrscherqualitäten gepriesen: ingenio callidissimus. A n seinem Sohn, Ludwig dem Jüngeren, erkennt Regino ebd. S. 112 non tantum paternos vultus, quantum animi subtilitatem artiumque ingenia wieder. Wörtlicher Anschluß an Justin 11, 6, 11 liegt vor, wenn ohne Tadel berichtet wird (885 S. 123), daß gegen den Normannen Gottfried magis arte quam vir tute vorgegangen wird. Hier S. 124 wie 906 S. 152 berichtet Regino von der Kriegslist, der fraus, quae struebatur (aus Justin 24, 3, 3) mit durchaus technischem Interesse am Hergang. •*) Vgl. die oben Anm. 50 zitierte Stelle über Fontenoy, w o die neuerliche Unfähigkeit der Franken zur Ausdehnung des Reiches geradezu entschuldigt wird.
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ten 5 7 ). Andererseits hielt er die Politik und den Herrscher an die geltende Moral und die bestehenden Verträge selbstverständlich gebunden, galten ihm pax, iustitia und concordia als Leitsterne des Zusammenlebens der christlichen Staaten und Völker 58). Doch ebenso klar erkannte er, daß die politische Wirklichkeit dem Ideal nicht immer entsprach. Den Einfall in das Westfrankenreich, durch den Ludwig der Deutsche im Jahre 858 seinem Bruder Karl dem Kahlen dort die Herrschaft zu nehmen versuchte, verwarf er als rechtswidrig; aber es klang fast entschuldigend, wenn er — im wörtlichen Anschluß an Beschuldigungen, die Mithridates nach der Schilderung Justins gegen die Römer schleuderte — feststellte: ut animi regum avidi et semper inexplebiles
sunt59).
Er hatte also einen Eindruck gewonnen von der Eigengesetzlichkeit der Macht und dem Gegensatz, in dem sie zu Recht und Moral stehen konnte. Karl der Kahle selbst aber, der als Kaiser noch einmal die einzelnen Teilreiche gewaltsam vereinigen wollte, mußte — so sah es Regino — in Andernach die Erfahrung machen, welchen Gefahren sich der aussetzt, der sich in ungezügelter Machtgier über alles göttliche und menschliche Recht hinwegsetzt 60 ). So deutlich Regino solche Machtgier verurteilte, so sehr unterschied er sie von der Sündhaftigkeit des privaten Lebens. Ausführlich berichtet er, daß Gott den schmutzigen Ehescheidungsskandal König Lothars II. nicht nur an diesem selbst, sondern an seinem ganzen Reich gestraft habe 61). Hier griff Gott zur 67
) Beachtlidi der Nachruf auf Karlmann 880 S. 116. Zunächst wird dieser als christlicher Herrscher gerühmt, dann folgen seine Qualitäten im adligen Sinne und zuletzt die staatsmännisch-kriegerische Würdigung, die den Satz enthält: Plurima quippe bellet cum patre, pluriora sine patre in regnis Sclavorum gessit semperque victoriae triumphum reportavit; terminos imperii sui ampliando ferro dilatavit. (Wörtliche Anlehnung an Justin 23, 4, 12; 13, 6, 20.) Allzu o f t hatte man früher schon das dilatare und ampliare auf das Imperium doristianum bezogen (Vgl. H . L ö w e , Die karolingische Reichsgründung und der Südosten, Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 13, Stuttgart 1937, S. 137 ff.), als daß solche Deutung nicht auch für Regino hätte naheliegen müssen; um so wesentlicher ist es, daß sie hier fehlt. Es war aber wohl nicht nur die Nachwirkung der antiken Quelle, sondern auch augustinischer Gedanken, die zu soldier Scheidung des politischen Bereiches vom religiösen führen konnte. M ) Vgl. die Ermahnungen an Karl den Kahlen 876 S. 111: sed iusticia, Caritas et concordia regnaret, ac summum pax inter ilium et nepotes teneret omnino fastigium. ) 866 S. 90; zugrunde lag Justin 38, 6, 8: atque ut ipsi (seil. Romani) ferant conditores suos lupae uberibus alitos, sic omnem illum populum luporum animos inexplebiles, sanguinis atque imperii divitiarumque avidos ac ieiunos habere. Mit Reginos, aus Justin gewonnenem Blick für die Realität der Machtpolitik vergleiche man die Art, wie die Annales Fuldenses 858, ed. K u r z e S. 50, das Vorgehen Ludwigs moralisch zu rechtfertigen suchen: Ludwig habe nicht sein Reich vergrößern, sondern nur dem bedrängten Volk Westfranziens zu Hilfe kommen wollen. ®°) 876 S. 112: Carolus . .. fuga vitam servavit, sero secum revolvens, quanti discriminis sit, aequitatis iura divinarum humanarumque legum institutionibus roborata immoderatae cupiditatis ambitione violari velle. el ) Vgl. 866 S. 89 f.; 867 S. 93 f.; 869 S. 98; 883 S. 121: Sic sie Deus omnipotens iratus regno Lotharii adversabatur et talibus incrementorum cladibus vires eiusdem regni radicitus exterminabat, ut prophetia sanetissimi Nicholai papae simul et maledictum, quod super eundem regnum protulerat, adimpleretur. 6e
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Bestrafung der Sünde unmittelbar in die Geschichte ein; das Scheitern Karl des Kahlen aber wurde nicht auf ein göttliches Eingreifen zurückgeführt, und Ludwig der Deutsche konnte sogar trotz seiner Entgleisung in die Machtpolitik als christianissimus gerühmt werden 6 2 ). Regino scheint etwas von dem Zwitterwesen der Macht erfaßt zu haben. E r wußte, daß man ihrer bedurfte, um den Frieden nach außen und innen zu sichern, — die Zeit der machtlosen späten Karolinger ließ das ja klar genug erkennen — , und er erlebte, welche Versuchung der Besitz der Macht bedeutete. Ein wirkliches Problem freilich konnte ihm die Macht in jener Zeit grundsätzlicher religiöser und sittlicher Gebundenheit nicht werden. Wenn man aber mit Nietzsche eine Beziehung zwischen Thukydides und Machiavelli sehen darf in dem „unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehen" 6 3 ), so wird man betonen dürfen, daß durch den Spätling Justin ein Abglanz von solchem antiken Realismus noch bei Regino wieder lebendig geworden ist. Besonders fruchtbar wurde Justin für das Geschichtsdenken Reginos, indem er ihm die Gestalt der Fortuna als eine in der Geschichte wirkende Macht darbot ®4). Sie trat bei Regino neben die göttliche Vorsehung, deren Wirken in der Geschichte er mehrmals betonte, und neben den handelnden Menschen, an dessen Willensfreiheit und Verantwortlichkeit die großen theologischen Auseinandersetzungen des 9. Jahrhunderts über die Prädestinationslehre durchaus festgehalten hatten. So kam schon Regino zu jener Trias von Providentia Dei, virtus und jortuna, der man im italienischen Frühhumanismus, wenn auch unter anderem Vorzeichen, wieder begegnen wird 6 5 ). Der in der Geschichte handelnde Mensch, der auf die Hilfe Gottes hoffen darf, aber auch seine Strafen noch im Diesseits zu fürchten hat, muß im K a m p f die K r ä f t e der Fortuna erfahren 6 6 ). Nur in Ausnahmefällen verwies Regino unmittelbar auf menschliche Sündhaftigkeit und die Rache Gottes, um militärische Niederlagen zu •2) 876 S. 110. Von diesem Nietzsche-Wort gehen aus J. V o g t , Dämonie der Macht und Weisheit der Antike, Die Welt als Geschichte 10 (1950) S. 1 ff., und W. Ν e s 11 e , Politik und Moral im Altertum, jetzt abgedruckt in dessen gesammelten Aufsätzen: Griechische Weltanschauung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Stuttgart 1946, S. 138 ff., S. 164. Vgl. auch Η. Η e r t e r , Freiheit und Gebundenheit des Staatsmannes bei Thukydides, Rhein. Museum NF. 93 (1950) S. 133 ff. •4) Vgl. oben Anm. 50, 51. Ferner 866 S. 90 heißt es bei Ludwigs des Deutschen westfränkischer Expedition: subito fortuna mutatur (vgl. Justin 31, 5, 9: fortunam belli mutatam). 887 S. 128 (Justin 23, 3, 12; 25, 3, 7). * 5 ) A. D ö r e n , Fortuna im Mittelalter und der Renaissance, Vorträge der Bibliothek Warburg 1922/23, l.Teil, Leipzig 1924, S. 70—144. P. J o a c h i m s e n , Aus der Entwicklung des italienischen Humanismus, HZ. 121 (1920) S. 203; über die Umwandlung dieser Dreiheit durch Machiavelli vgl. Κ. Κ 1 u χ e η , Machiavelli und der Machiavellismus, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1 (1950) S. 351. Zur Fortuna bei Coluccio Salutati vgl. A. von M a r t i n , Coluccio Salutati und das humanistische Lebensideal, Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 23, Leipzig 1916, S. 68 ff. 6β ) 874 S. 107: Fortunae vires cum hostibus experiamur; neque enim salus est in multitudine, sed potius in Deo. e3 )
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erklären 67 ). Dagegen war es Fortuna, die er für die Katastrophen und Umbrüche der Geschichte verantwortlich machte. Sie begleitete den Umschwung in der Geschichte der Karolinger; sie bewirkte die Auflösung des Universalreiches im Jahre 888, indem sie die des Königtums würdigen Adeligen im „Wetteifer der virtus" in den Kampf gegeneinander und damit ins Verderben trieb ®8). Regino, dem die lebendige Kraft des fränkischen Adels so deutlich vor Augen stand, hat hier etwas gespürt von der Macht der über den Menschen hinwegrollenden Geschichte, von Verkettungen der Ereignisse, die der beste Wille der besten Köpfe nicht rückgängig machen konnte, und aus dieser lebendigen Geschichtserfahrung ist ihm die Fortuna, die er bei Justinus fand, wieder eine Macht geworden. Diese Fortuna stand freilich durchaus in einem Unterordnungsverhältnis zur Providentia. Im Letzten war ihre Funktion in Reginos Geschichtsbild wie auch sonst im Mittelalter die gleiche wie in Dantes großer Schau der mittelalterlichen Welt. Sie diente als „Schaffnerin Gottes", der den unberechenbaren Zufall braucht, um dem Menschen die Nichtigkeit und Vergänglichkeit der irdischen Güter klarzumachen, die er ihnen durch die Fortuna entzieht, damit sie ihr Herz nicht an das Vergängliche hängen 69 ). Damit aber trat auch das Imperium als eine irdische Größe unter das Gesetz der Fortuna. Wer in maßloser Machtgier danach strebt, wie Karl der Kahle, hat wenig Aussicht, es zu erwerben; und dem Frommen, der wie Karl III. alle Hoffnung auf den Herrn setzt, fällt es ohne Schwertstreich zu. Aber audi ihm wird es wieder entrissen, durch die Fortuna, nicht als Strafe für seine Sünden, sondern als eine Prüfung, die er — nach Regino — in vorbildlich christlicher Haltung getragen hat 7 0 ). Es war jedoch ein höchst bedeutsamer Zug im Geschichtsbild Reginos, daß ihm das Imperium als eine vergängliche, dem Gesetz der Fortuna unterste®7) Vgl. die oben Anm. 61 zitierten Stellen; dazu 862 S. 80; 882 S. 119: indignatione caelesti super populum christianam religionem profanantem deseviente. •8) Vgl. oben Anm. 50, 51. " ) F. K e r n , Humana civilitas. Staat, Kirche und Kultur. Eine Dante-Untersuchung, Leipzig 1913, S. 58 f.; A. von M a r t i n , Coluccio Salutati und das humanistische Lebensideal, S. 283—285; D ö r e n , Fortuna im Mittelalter, S. 82 ff., S. 98 ff. 70 ) Vgl. die abschließenden Betrachtungen zum Jahre 887 S. 128, die sich oft wörtlich an Justin (2, 13, 10—12; 8, 5, 8; 23, 3, 12; 23, 4, 7) anlehnen, in denen sich antike und christliche Einsicht in die fragilitas humana verbinden und im Hinblick auf Karls Sturz von der adversa fortuna gesprochen wird. Zu 888 S. 128 f. kommt dann der christliche Gedanke der temptatio dazu, wenn von Karl I I I . gesagt wird: Fuit vero hic christianissimus princeps, . .., omnem spem et consilium suum divinae dispensations committens, unde et ei omnia jelici successu concurrebant in bonum, ita ut omnia regna Francorum, quae predecessores sui non sine sanguinis effusione cum magno labore adquisierant, ipse perfacile in brevi temporum spatio sine conflictu, nullo contradicente, possidenda perceperit. Quod autem circa finem vitae dignitatibus nudatus bonisque omnibus spoliatus est, temptatio fuit, ut credimus, non solum ad purgationem, sed, quod maius est, ad probationem: siquidem banc, ut ferunt, pacientissime toleravit, in adversis sicuti in prosperis gratiarum vota persolvens, et ideo coronam vitae, quam repromisit Deus diligentibus se, aut iam accepit aut absque dubio accepturus est.
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hende, rein irdische Größe galt. Es hatte einen tieferen Sinn, wenn er nichts von der Vorkämpferrolle des Imperiums für die Christenheit zu sagen wußte, auf die Alchvine und die Hoftheologen Karls des Großen so oft hingewiesen hatten 71 ); kein Wort findet sich bei ihm von der Universalität des Reiches, von seinem Verhältnis zum Imperium christianum, vom Kaiser als caput orbis. Das Kaisertum, das Regino formuliert, hatte hegemonialen Charakter als das Imperium über die Franken und andere Völker und regna 72 ). Mochte das Herrschergeschlecht der Karolinger von Gott auserlesen sein 73 ), mochte auch Regino noch einen Nachklang des Gedankens vom auserwählten Frankenvolke 74 ) äußern, das Imperium selbst besaß keine besondere heilsgeschichtliche Würde, die es über das Werden und Vergehen der Geschichte hinausgehoben hätte. Was in Rom zu seiner Zeit durch die päpstliche Krönung noch vergeben wurde, war ihm der bloße Kaisername, der machtlose italienische Potentaten schmückte 75 ). Diese Schwäche eines territorial beschränkten Namenkaisertums, das sich nördlich der Alpen nicht zur Geltung bringen konnte, war die Ursache dafür, daß der universale christliche Reichsgedanke von Regino mit dem Kaisertum nicht mehr in Verbindung gebracht wurde. Viel deutlicher sah er die Einheit der Christenheit im Papsttum verkörpert, wenn er von Nikolaus I. — nicht ohne einen Anflug von Mißbilligung — sagte, er habe Königen und Tyrannen befohlen wie der Herr des Erdkreises 76 ). So sah er in der Rüdsschau auf die Zeit des großen Karl nicht das christliche Kaisertum, sondern die impe71 )
72 )
7S ) 74 )
75 )
7e )
L ö w e , Die karolingisdie Reichsgründung und der Südosten, S. 137 ff.; G. T e i l e n b a c h , Germanentum und Reichsgedanke, HJb. 62—69 (1949), S. 122 ff., Η. Κ ä m ρ f , Reich und Mission zur Zeit Karls des Großen, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1 (1950) S. 406—417. 880 S. 116 heißt es von den Karolingern: genealogia regum caelitus provisa per intervalla temporum secundis incrementorum successibus coepit exuberare, quousque in magno Carolo summum imperii fastigium non solum Francorum, verum etiam diversarum gentium regnorumque obtineret. Ähnlich heißt es 877 S. 113, Karl der Kahle habe Boso zum König krönen lassen, ut more priscorum imperatorum regibus videretur dominari. Da es 876 S. 111 von Karl heißt imperatoris nomen reportans ex Italia excesserat, sdieint Regino in der „Königskrönung" Bosos einen Versuch Karls gesehen zu haben, seinem bloßen Titel einen realen Inhalt zu geben. Vgl. audi zu 877 S. 112 f.: Carolus senior Romam secundo profectus est, ubi iam pridem imperatoris nomen a presula sedis apostolicae Iohanne ingenti pretio emerat; regnumque Italiae magis in transeundo vidit, quam fruendo potitus est. Vgl. 880 S. 116 (vorige Anm.). 867 S. 93: Ludwig II. will die Normannen bekämpfen cum Dei auxilio, virtute quoque Francorum. Über den Gedanken des auserwählten Volkes als Stufe zum christlichen Reichsgedanken vgl. T e l l e n b a c h , HJb. 1949, S. 125 f. Vgl. schon zu Karl dem Kahlen Anm. 72; zu Wido und Lambert 894 S. 142: Wido, qui haliam regebat et imperatoris tenebat nomen, moritur. Lanbertus filius eius regnum optinuit et Romam veniens diadema imperii a presule sedis apostolicae sibi imponi fecit. 898 S. 146: Ludowicus Berengarium jugat, Romam ingreditur, ubi a summo pontifice coronatus Imperator appellatur. 868 S. 94: Regibus ac tyrannis imperavit eisque ac si dominus orbis terrarum auctoritate prefuit.
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rialistische Machtausweitung des Imperium Francorum und den seitdem eingetretenen K r ä f t e s c h w u n d 7 7 ). V o n solchen A u f f a s s u n g e n her konnte das K a i s e r t u m K a r l s des G r o ß e n nicht als Erneuerung des weströmischen Reiches 7 8 ) oder als Übertragung des römischen Kaisertums v o n B y z a n z auf die Franken erscheinen. W e r w i e Regino der Fortuna einen so großen R a u m in der Geschichte einräumte, der bekannte sich d a m i t zu der A u f f a s s u n g , d a ß der göttliche W e l t p l a n nicht unmittelbar aus den Ereignissen der Geschichte abzulesen w a r . Er konnte dann die Geschichte nicht erfassen mit jenem alten, auf die Prophezeiungen Daniels zurückgehenden Einteilungsprinzip der v i e r Weltreiche, das besonders durch den D a n i e l - K o m m e n t a r des H i e r o n y m u s dem M i t t e l a l t e r nahegebracht w u r d e 7 9 ). D e r v o n H i e r o n y m u s nach dem Vorgange vieler A n d e r e r vertretene Glaube, daß das römische Reich als das v i e r t e und letzte dieser Weltreiche bis an das Ende der W e l t bestehen bleiben w ü r d e , w a r der Ausdruck einer inneren A n n ä h e r u n g v o n R ö m e r t u m und Christentum, die sich seit den Tagen K o n stantins des G r o ß e n angebahnt hatte 8 0 ). So schrieb m a n damals dem römischen 77 )
Vgl. 880 S. 116; 841, 842 S. 75. Freilich übernimmt Regino zu 801 S. 62 aus den fränkischen Reichsannalen bei der Schilderung der Kaiserkrönung den Wortlaut der Akklamation mit dem Titel imperator Romanorum und sagt wörtlich wie die Reichsannalen: more antiquorum principum adoratus est. Aber seine eigenen Formulierungen über das Imperium wissen davon nichts (vgl. Anm. 72, 77), und man kann nur ahnen, wie er den imperator Romanorum der Reidisannalen damit vereinbarte. Es ist durchaus möglich, daß er die Würde dieses Imperator Romanorum auf das eigentlich römische Territorium als „den einzigen legitimen Rest ehemaligen Reichsgebietes auf abendländischem Boden" bezog und damit diesen Ausdruck in einem partikularen Sinne gebrauchte, der auch der Ottonenzeit gebräuchlich war; vgl. C. E r d m a n n , Das ottonische Reich als Imperium Romanum, DA. 6 (1943) S. 421 ff.; H. B e u m a n n , Das imperiale Königtum im 10. Jahrhundert, Die Welt als Geschichte 10 (1950) S. 121 A. 28. Dann wäre die Herrschaft über Rom nur als Teilstück von Karls Imperium non solum Francorum, verum etiam diversarum gentium regnorumque (880 S. 116) zu verstehen, das Romkaisertum der hegemonialen Stellung des Frankenkönigs durchaus eingeordnet; Regino hätte dann eine ganz ähnliche Stellung zu dem imperator Romanorum eingenommen wie Widukind von Korvei; vgl. H. B e u m a n n , Widukind von Korvei als Geschichtsschreiber und seine politische Gedankenwelt, Westfalen 27 (1948) S. 175 f.; dens., Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jhdts., Weimar 1950, S. 262 ff., und: Die Welt als Geschichte 10, S. 119 f.; dens., Einhard und die karolingische Tradition im ottonischen Corvey, Westfalen 30 (1952) 170 A. 136. ™) Μ i g η e , PL. 25 S. 504, 530. Κ. Τ r i e b e r , Die Idee der vier Weltreiche, Hermes 27, 1892, S. 525 ff.; E. P f e i l , Die fränkische und deutsche Romidee des frühen Mittelalters, München 1929, S. 17 ff.; J. A d a m e k , Vom römischen Endreich der mittelalterlichen Bibelerklärung, Diss. München 1938. 80 ) Vgl. die Zusammenfassung des Standes der Forschung bei J. V o g t , Constantin der Große und sein Jahrhundert, München 1949, S. 207 ff., und die dort S. 289 f. angeführte Literatur. Ferner J. V o g t , Orbis Romanus, in: Vom Reichsgedanken der Römer, Leipzig 1942, S. 202 ff., A. G r a f S c h e n k v o n S t a u f f e n b e r g , Der Reichsgedanke Konstantins in: Das Reich. Idee und Gestalt, Festschrift für J. Haller, Stuttgart 1940, S. 74 ff. (wiederabgedruckt in: Das Imperium und die Völkerwanderung, München o. J„ S. 110 ff.).
78 )
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Reich eine Stelle im göttlichen Heilsplan zu und gelangte zu einer weitgehenden Identifizierung der Begriffe Orbis Christianus und Orbis Romanus, Imperium R o m a n u m und Imperium Christianum. Niemand anders als der hl. Augustinus hatte jedoch erkannt, daß in dem christlichen Glauben an das römische Endreich der heidnische Glaube an die R o m a aeterna eine letzte Z u flucht gefunden hatte. Es w a r ein Ziel seines Werkes von der Civitas Dei, den Christen klarzumachen, daß das römische Reich eine rein irdische Größe — und als solche auch durchaus schätzenswert — sei, daß ihm aber eine eschatologische Stellung in keiner Weise zukomme, daß es vergänglich sei, wie alle irdischen Dinge, und daß ein eventueller Untergang Roms nicht das Ende der Welt bedeuten würde 8 1 ) . Die bekannte Verbreitung der augustinischen Gedanken in der karolingischen Zeit hat damals der Auffassung v o m römischen E n d reich auch manchen Abbruch getan 8 2 ). So v e r t r a t N o t k e r von St. Gallen die Ansicht, daß G o t t durch K a r l bei den Franken ein neues Weltreich nach dem römischen geschaffen habe 8 3 ), und auch die beiden Weltchronisten Frechulf von
) E. L e w a h e r , Esdiatologie und Weltgeschichte in der Gedankenwelt Augustins, Zs. f. KiG. 53 (1934) S. 1—51; O. H e r d i n g , Augustin, in: Große Geschichtsdenker, hrsg. von R. Stadelmann, Tübingen 1949, S. 57 ff., bes. S. 72 f.; J. F i s c h e r , Die Völkerwanderung im Urteil der zeitgenössischen kirchlichen Schriftsteller Galliens unter Einbeziehung des hl. Augustinus. Theol. Diss. Würzburg, Heidelberg-Waibstadt 1948, S. 97; J. S t r a u b , Christliche Geschichtsapologetik in der Krisis des römischen Reiches, Historia 1 (1950) S. 65 ff. 82 ) Es ist eine Schwäche der Untersuchung von A d a m e k , Vom römischen Endreich der mittelalterlichen Bibelerklärung, daß er S. 46 f. sehr deutlich betont, Augustin habe das Weltende nicht mit dem Falle Roms in Beziehung gesetzt, während er S. 71 aus der Bekanntschaft Karls des Großen mit Augustins Werk „De civitate Dei" nur die Bekanntschaft Karls mit der Endreichsvorstellung folgert, ohne sich zu fragen, ob Karl nicht auch die negative Stellung Augustins teilte. Ebenso schließt er — richtig — aus dem Liber de diversis quaestiunculis cum responsionibus suis, quem iussit domnus rex Carolus transscribere ex authentico Petri archidiaconi (M i g η e , PL. 96 S. 1347 ff.), daß Karl der Daniel-Kommentar des Hieronymus bekannt war; aber er übersieht den Satz c. 45 S. 1354: In uno Romano imperio propter Antichristum blasphemantem omnia simul regna deleta sunt, et nequaquam terrenum Imperium erit, sed sanctorum conversatio et adventus filii Dei triumphantis. Das stammt wörtlich aus Hieronymus (M i g η e , PL. 25 S. 533), wo es zu v. 11 aber heißt: delenda sunt. Das deleta sunt, das dem karolingischen Kompilator unwillkürlich in die Feder flöß, zeigt, daß er das römische Weltreich bereits als zerstört betrachtete. Was A d a m e k S. 65 ff. über Alchvine ausführt, zeugt nur von dem krampfhaften Bemühen, den von Alchvine nie ausgesprochenen Gedanken vom noch bestehenden römischen Endreich allein auf Grund seiner Bekanntschaft mit den patristischen Quellen in seine Schriften hineinzudeuten. Vgl. neuerdings F.-C. S c h e i b e , Geschichtsbild, Zeitbewußtsein und Reformwille bei Alcuin, Arch. f. Kult. Gesch. 41 (1959) 35—62. 81
8S
) Notker, De gestis Karoli imperatoris 1, 1, SS. 2, S. 731; Notkeri Balbuli Gesta Karoli Magni, ed. H. F. H a e f e l e , MGH. SS. rer. Germ. Nova Series 12 (1959) S. 1: Omnipotens rerum dispositor ordinatorque regnorum et temporum, cum illius admirandae statuae pedes ferreos vel testaceos comminuisset in Romanis, alterius non minus admirabilis statuae caput aureum per illustrem Karolum erexit in Francis. Qui cum in occiduis mundi partibus solus regnare coepisset... Vgl. A d a m e k S. 85; oben S. 124 A. 8.
Löwe, Cassiodor
12
170
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Lisieux und Ado von Vienne haben sich den Blick für den Untergang des weströmischen Reiches und die Eigenständigkeit der mittelalterlichen Entwicklung nicht trüben lassen. Das wurde ihnen erleichtert durch Auffassungen wie die Isidors von Sevilla und Julians von Toledo 8 4 ), die im 7. Jahrhundert im Hinblick auf den inzwischen lange zurückliegenden Untergang des weströmischen Reiches die danielischen Prophezeiungen dahin gedeutet hatten, daß Christus mit seiner Menschwerdung sein Imperium über die Menschheit verkündet und das römische Reich verdrängt habe, daß er nunmehr seine Herrschaft durch die Kirche ausübe, deren gleichberechtigte Glieder die christlichen Völker seien. Regino stand also schon in einer historiographischen Tradition, wenn er sich dem Gedanken eines Fortbestandes des römischen Reiches bis an das Weltende und seiner Gleichsetzung mit dem karolingischen Imperium verschloß. Weil die politische Weltmacht Roms für ihn eine Sache der Vergangenheit war, konnte er bei Gelegenheit der Reichsteilung von 843 sagen, daß die Stadt Rom, die damals an Lothar fiel, „einst wegen der unbesiegten Macht des römischen Namens die Herrin des Erdkreises genannt worden sei" 8 5 .) Sein Urteil über Rom wurde bestimmt durch den die Welt erobernden Stadtstaat, den er bei Justin geschildert fand, und nicht durch das christliche römische Universalreich. Das tertium comparationis zwischen dem so gesehenen Rom und dem Imperium Francorum aber war ihm ausschließlich die imperialistische Machtausweitung, und in dieser Hinsicht unterschieden sich beide nicht von den M
) A d a m e k S. 69 f., gibt ausdrücklich zu, Frechulf habe den Schluß auf den Endzeitcharakter des römischen Reiches nicht gezogen und mit den germanischen Staatengründungen auf ehemals weströmischem Reichsboden eine neue Epoche begonnen; seine sonstigen Ausführungen sind nur ein Versuch, aus der Bekanntschaft mit der Prophetie vom römischen Endreich den Glauben an diese zu konstruieren. Die Frage, ob ein soldier Glaube vielleicht auch auf das noch bestehende römische Reich in Byzanz zu beziehen wäre, bleibt unerörtert. Ado von Vienne bleibt ganz unberücksichtigt, ein Zeichen dafür, daß er noch weniger als Frechulf für diese Auffassung in Anspruch genommen werden kann. Über Ado vgl. jetzt die oben Anm. 1 zit. Arbeit von A.-D. v. d e n B r i n c k e n 126—128, 133, wonach die vier Weltreiche bei Ado keine Rolle gespielt haben, Ado sich aber auch keine Gedanken über das Verhältnis von östlichem und westlichem Kaisertum gemacht hat. Zu Frechulf vgl. H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 3, Weimar 1957, 350 ff.; v. d e n B r i n c k e n 120—126; W. G ο e ζ , Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschidite des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, 58—62, dessen Feststellungen die oben gegebene Charakteristik Frechulfs m. E. nicht tangieren, zumal da er sich S. 58 auf die Erklärung zurückzieht, für Frechulf habe „das (ost-)römische Reich" nicht „aufgehört zu existieren". Das ist nicht bestritten; zu der hier einschlägigen Frage des universalen Herrschaftsanspruches vgl. meine einschlägigen Arbeiten oben S. 33 ff., unten S. 206 ff. Ober Isidor und Julian vgl. unten Anm. 93.
85
) 842 S. 75: et omnia regna Italiae cum ipsa Romana urbe, quae et modo ab omni sancta ecclesia propter presentiam apostolorum Petri et Pauli speciali quodam veneratur privilegio et quondam propter Romani nominis invictam potentiam Orbis terrarum domina dicta fuerat.
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Weltreichen des Orients, deren Werden und Vergehen Justin schilderte. So konnte er das Karolingerreich mit den gleichen Worten unter das Walten der Fortuna stellen, wie Justin das Alexanderreich 86 ). Deutlich beeindruckt zeigte sich Regino von dem geistigen Widerstand der nichtrömischen Welt gegen die Herrschaft Roms 87 ), den er bei Justin formuliert fand und dessen Spuren auch in der Gedankenwelt Augustins 88 ) anzutreffen sind. Die leidenschaftliche Rede, die Justin dem Mithridates gegen den wölfischen Geist der machtgierigen und unersättlichen Römer in den Mund gelegt hatte, muß er aufmerksam gelesen haben; denn sie erschloß ihm den Blick für „die gierigen und immer unersättlichen Seelen der Könige" und damit für das Wesen der Macht 8 9 ). Darüber hinaus aber fand er bei Justin einen Einblick in Erscheinungen der außerrömischen Welt, wie ζ. B. den Nachhall einer dem Eigenleben der Parther sehr verständnisvoll nachgehenden Quelle 9 0 ); bei der Darstellung der Skythen, die er dann fälschlicherweise mit den Ungarn identifizierte, wird ihn besonders die Bemerkung Justins interessiert haben, daß die Skythen von den Römern nicht angegriffen worden seien 91 ). Dies alles konnte dazu beitragen, sein Bild Roms schärfer zu umreißen und zu relativieren. So haben augustinische Gedankengänge im Verein mit dem Geschichtswerk Justins Regino in den Stand gesetzt, sich von dem Zwang einer gesdhichtsphilosophischen Konstruktion, von der Idee des römischen Endreiches zu lösen; sie schärften ihm den Blick für die Eigenständigkeit der frühmittelalterlichen Epoche, an deren Ende er lebte; sie lehrten ihn aber audi, das Ende dieser Epoche mit aller Bewußtheit zu überblicken. Der eigenen Geschichtlichkeit ist sidi Regino daher voll bewußt gewesen. Aber in der Geschichte unterscheidet sich bei ihm der vordergründige, politische Bereich der Fortuna von dem eigentlich wesentlichen Vorgang, der Pilgerschaft der civitas Dei auf Erden. Es war dieser Bereich der Geschichte, den göttliches Eingreifen auch unmittelbar gegen menschliche Eigenmächtigkeit, die Sünde, schützte 92 ). Aber die civitas Dei war hier nicht rein spiritualistisch gesehen, sondern eher als das Imperium, das Christus durch die Kirche über die gläubigen Völker ausübte, so wie es schon Isidor 93 ) und Alchvine 94 ) formuliert ) 888 S. 129; Justin 13, 2, 3 ; ähnlich könnte die oben Anm. 85 zitierte Stelle über die einstige Macht Roms beeinflußt sein durch Justin 8, 4, 7, über den Niedergang Griechenlands. β7) H . F u c h s , D t geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt, Berlin 1938; über Pompeius Trogus und Justin S. 15 f. mit Anm. S. 42 f. 88) F u c h s , Der geistige Widerstand gegen Rom, S. 23 f.; S t r a u b , Historia 1 (1950) S. 69 f. Der Vorwurf des Brudermordes gegen den Gründer Roms (Justin 28, 2, 8 ff.; F u c h s S. 16) findet sich auch bei Augustin, De civitate Dei 15,5. 8 ») Vgl. oben Anm. 59. Darüber neuerdings A 11 h e i m , Weltgeschichte Asiens im griechischen Zeitalter 1, S. 2 ff.; vgl. auch F u c h s S. 42 Anm. 41. 91) 889 S. 131 nach Justin 2, 1—3. s2) Vgl. die oben Anm. 61 angeführten Belege. M) Vgl. oben S. 42 ff. 8e
U*
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hatten. Hier war die Entwicklung, die zur Gleichsetzung von civitas Dei und Kirche führen sollte, schon im vollen Gange; und wenn Regino noch mit einem gewissen Widerstreben den Papst als Herrn des Erdkreises bezeichnete 95), so wird doch in der Art, wie er die vergangene politische Macht Roms mit seinem neuen kirchlichen Rang konfrontierte, deutlich, wie die Idee von der Kirche als Imperium Romanum 96) im Mittelalter Verbreitung finden konnte. Durch die irdische Existenz der Kirche und die Übernahme staatlicher Funktionen seitens kirchlicher Würdenträger aber war ihre Geschichte mit der im weltlichen Raum der Fortuna sich vollziehenden eng verflochten. Deutlich hatte Regino die Aufgaben gesehen, die der kirchlichen Erziehungsarbeit gerade auch im Verfall des karolingischen Reiches gestellt waren. Durch das Vorhandensein der Kirche aber wurde dann audi die Niedergangsperiode der Gegenwart aus dem Bereich einer nur pessimistischen Betrachtung entrückt. Wenn der Seelsorger Regino sich klarmachte, daß die „gefährlichen" und „sehr schlechten" Zeiten der Gegenwart andere, eigene, kirchliche Gesetze erforderten 97), so vermittelte er damit dem Historiker Regino die grundsätzliche Erkenntnis der Eigenart jeder geschichtlichen Epoche, gab ihm eine Ahnung ihrer Unmittelbarkeit zu Gott. Es bedeutet keinen Widerspruch zu dieser Auffassung, daß Regino — wie Gregor der Große — im Hinblick auf die Gegenwart von der aetas decrepita, der altersschwachen Welt, sprach 98). Er hat nicht in Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Weltendes gelebt. Vom Greisenalter der Welt hat man im frühen Mittelalter und der Spätantike oft gesprochen, weil nach allgemeiner Anschauung das sechste und letzte Weltalter mit der Geburt Christi angebrochen war; aber mit vielen anderen und besonders Isidor 99) und Beda 10°) wird auch Regino der Meinung gewesen sein, daß der Zeitpunkt für das Weltende allein Gott bekannt sei. Die große seelsorgerische Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe, vor die sich Regino gestellt sah, und die letzten Endes ein Teilstück der Christianisierung M
) L ö w e , Karolingische Reichsgründung, S. 137 ff. °5) Vgl. oben Anm. 76. ··) Vgl. oben Anm. 85; vgl. J. B. S ä g m ü l l e r , Die Idee von der Kirche als Imperium Romanum im kanonischen Recht, Theol. Quartalsdir. 80 (1898) S. 50 ff. ®7) Vgl. den Widmungsbrief des Liber de synodalibus causis, ed. K u r z e , Chronicon S. X X : Si quem autem movet, cur frequentioribus nostrorum, id est Galliarum ac Germaniae, conciliorum usus sim exemplis, accipiat responsum et sciat, quia ea maxime inserere curavi, quae his periculosis temporibus nostris necessariora esse cognovi et quae ad susceptum propositae causae negotium pertinere videbantur. Illud etiam adiiciendum, quod multa flagitiorum genera hoc pessimo tempore in aeclesia et perpetrata sunt et perpetrantur, quae priscis temporibus inaudita, quia non facta, et ideo non scripta et fixis sententiis damnata; quae modernis patrum regulis et dampnata sunt et quotidie dampnantur. Vgl. audi den hier anschließenden Satz über die Verschiedenartigkeit der in der Kirche zusammenlebenden Völker, oben Anm. 49. ®8) Widmungsbrief des Liber de synodalibus causis, ed. K u r z e S. X X . ·») Chron. c. 418, Auct. ant. 11 S. 481. 10 °) W. L e ν i s ο η , Bede as historian, in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit, Düsseldorf 1948, S. 357.
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der Germanen umschloß, hat dann Regino auch das Kriterium für die Abgrenzung der Geschichtsepoche gegeben, die wir als das frühe Mittelalter bezeichnen. Zwar hat er vom Jahre 813 zurück bis Christi Geburt nicht selbständig berichtet, sondern nach Art mittelalterlicher Chronisten nur Auszüge aus älteren Quellenwerken gegeben 101 ). Wie der Universalhistoriker in Schillers berühmter Antrittsrede hat er die in der Gegenwart wirkenden Mächte in die Vergangenheit zurückverfolgt, das Christentum bis zu seiner Verkündigung, das Germanentum bis zur Niederlassung der germanischen Völker auf römischem Reichsboden, also bis zu dem Zeitpunkt, da sie in den Wirkungsbereich des Christentums eintraten. Zwar hat Regino, seinen Quellen folgend, die römischen Kaiserjahre zur Datierung benutzt; die römische Geschichte im eigentlidien Sinne aber hatte keinen Platz in seiner Chronik; sie wurde nur berücksichtigt, wo sie in Beziehung zu Christentum und Germanentum trat. Diese beiden Faktoren aber waren gemeint, wenn Regino im Vorwort sagte, er wolle die Geschichte seiner Zeit und der Zeit der „Väter", der „Vorgänger", schreiben 102 ). Daß mit dem Eintritt des Germanentums in die christliche Welt eine neue Epoche begonnen hatte, wurde damit deutlich zum Ausdruck gebracht. Es mag auf den ersten Blick als merkwürdig erscheinen, daß Regino trotz der humanistischen Elemente seiner Bildung und trotz seines Wissens um die geistigen Leistungen des lateinischen Altertums die Kultur der Antike nicht ausdrücklich unter die Mächte zählte, die noch in seiner Zeit wirkten. Aber Regino, in dessen Chronik noch der alte Topos vom Christentum als der wahren Philosophie nachklang 103 ), hatte die geistige Bildung nicht als einen eigengesetzlichen Bereich, sondern nur als Teilstück der kirchlichen Lehre kennen gelernt, und gründlich genug hatte schon vor Jahrhunderten die jüdische und christliche Apologetik die Weisheit griechischer Philosophen als bloßen Nachklang der in der Bibel niedergelegten göttlichen Offenbarung nachzuweisen gesucht 104 ). Fiel Regino somit einer apologetischen Konstruktion zum Opfer, so war sein Verfahren doch durchaus konsequent: Stand die Bildung in einer Tradition, die über Griechen und Römer hinweg auf die Bibel zurückging, so bedurfte es des Hinweises auf Rom und Hellas nicht. Das germanische Mittel101)
Darüber K u r z e in der Vorrede zur Ausg. S. V I I ff., N A . 15, S. 312 ff. K u r z e S. 1: Chronicum, quam de nostris et antecessorum nostrorum temporibus litteris comprehendi. . .; non passus sum tempora patrum nostrorum et nostra per omnia intacta preterire. Vgl. dazu R. B u c h n e r , Mannus 29 (1937) S. 470, und E. R. C u r t i u s , Beiträge zur Topik der mittellateinischen Literatur, in: Corona Quernea (Festschr. f. K . Strecker), Leipzig 1941, S. 9 f., und dens., Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 167 Anm. 3, S. 173. Zur Bedeutung des Topos im Mittelalter vgl. Β e u m a η η , oben Α. 12. l o s ) Zu 888 S. 131: Waltarius, .. ., longe inferior predecessore moribus, religione et pbilosophiae studio; vgl. dazu C u r t i u s , Europäische Literatur u. lateinisches Mittelalter, S. 216 ff. 1M)
I04)
Darüber statt anderer C u r t i u s a . a . O . S. 216 ff.; Ε . K . R a n d , Founders of the Middle Ages, Cambridge Mass. 1928; speziell das Gebiet der Geschichtsschreibung behandelt Α. Β a u e r , Vom Judentum zum Christentum, Leipzig 1917, S. 114 ff., 122 ff.
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alter empfing die Kultur durch das Christentum unmittelbar aus der göttlichen Quelle allen Wissens. So verband Regino das Bewußtsein von der Gemeinsamkeit menschlichen Kulturbesitzes mit dem Bewußtsein vom Eigenwert einer neuen Geschichtsepoche. Diese neue, durch das Zusammentreffen von Germanentum und Christentum bestimmte Epoche sonderte Regino nicht nur zeitlich von der Antike; sie besaß für ihn auch ihren eigenen Geltungsbereich im Abendland. Regino hat etwas davon gespürt, daß im frühen Mittelalter die einheitliche Mittelmeerwelt des Imperium Romanum zerbrach. Das war freilich ebensosehr das Verdienst seiner Quellen wie sein eigenes. Die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus 1 0 5 ), die er mit Verständnis benutzte, schilderte zu einem guten Teil die Kämpfe, die die Langobarden zur Beseitigung der byzantinischen Herrschaft in Italien führten; diese Quelle zeigte ihm, daß der Weltherrschaftsanspruch, den der oströmisch-byzantinische Kaiser als alleiniger Träger des römisch-christlichen Reichsgedankens erhob 1 0 6 ), bei den Germanenreichen des Westens durchaus nicht nur auf Anerkennung stieß. Mochte Regino den byzantinischen Kaisern zunächst in seinem Werke — im Anschluß an Beda — einen Ehrenvorrang gewähren, indem er ihre Regierungsjahre zum chronologischen Gerüst seiner Darstellung machte, so beendete er dieses Verfahren nicht etwa erst mit dem Kaisertum Karls, sondern mit seinem 741 einsetzenden zweiten Buch, dem liber de gestis regum Francorum. Aber noch vorher datierte er innerhalb der Regierungszeit Kaiser Leos des Isauriers die Ereignisse der fränkischen Geschichte nach Jahren Karl Martells 1 0 7 ). Damit brachte er zum Ausdruck, daß er im Aufstiege des karolingischen Königtums den eigentlichen Inhalt der Geschichte der patres nostri in den letzten beiden Jahrhunderten sah. Wenn Regino im Anschluß an Paulus Diaconus 1 0 8 ) mit Genugtuung vermerkte, daß der Merowingerkönig Childebert, gestützt auf seine Macht, eine Forderung des Kaisers Mauricius hatte unbeantwortet lassen können, so sprach aus seinen Worten schon so etwas wie ein langobardisch-fränkisches, also abendländisches Gemeinsciiaftsbewußtsein gegenüber Byzanz, und es ist kein Zufall, daß Regino gerade diese Äußerung wörtlich übernahm. Der Liber pontificalis schließlich, das offizielle Geschichtswerk der Päpste, gewährte ihm einen Einblick in die jahrhundertelange Opposition, die das Papsttum gegen
) Hg. von G. W a i t z , MG. SS. rer. Lang., Hannover 1878, S. 12ff. Über Paulus als Geschichtsschreiber vgl. H . L ö w e , in W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 2, Weimar 1953, 2 1 2 — 2 2 4 . 108) o . T r e i t i n g e r , Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Jena 1938; G. O s t r o g o r s k y , Geschichte des byzantinischen Staates, München 1940, S. 16 ff.; F. D ö 1 g e r , Byzanz und die europäische Staatenwelt, Ettal 1955; W . O h n s o r g e , Abendland und Byzanz, Weimar 1958. 105
107 108
) Regino, ed. K u r z e , S. 40, S. 36 f. ) Regino S. 2 4 ; Paulus Diaconus, Hist. Lang. 3, 17, S. 101, der aus den Historien Gregors von Tours 6, 42, ζ. T. wörtlich übernahm, freilich die von diesem berichtete Unterwerfung der Langobarden in einen bloßen Friedensschluß umwandelte.
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die kaiserlich-byzantinische Kirchenpolitik geführt hatte. Erschien hier das byzantinische Kaisertum oft genug als Vorkämpfer verderblicher Irrlehren 109 ), so wurde ihm damit gerade die Grundlage entzogen, auf die es seinen universalen Herrschaftsanspruch stützte. Darüber hinaus aber konnte Regino sowohl bei Paulus Diaconus als im Liber pontificalis etwas von der inneren Entfremdung spüren, die zwischen dem päpstlichen Rom und dem byzantinischen Osten in jahrhundertelanger Entwicklung eingetreten war n o ) . Er hat bei seinen Quellenauszügen gerade auf diese Fakten Bezug genommen. Es war schließlich eine Folge dieses Sonderungsprozesses, daß Byzanz in dem Bild, das Regino von seiner eigenen Zeit entwarf, keine Rolle mehr spielte U 1 ). Es war eine eigene Welt geworden, die nicht mehr innerhalb seines rein abendländisch bestimmten Gesichtskreises lag. Daß Regino in solcher Weise das abendländische Frühmittelalter als einen eigenen Geschichtsraum gegen die Antike und gegen Byzanz abgrenzte und daß er dabei in einer historiographischen Tradition stand, ist höchst bemerkenswert. Versucht doch die neuere Forschung zum Teil, die Reichsgründungen der Goten, Langobarden und selbst der Merowinger noch der Spätantike anzureihen und die eigentlich mittelalterliche Entwicklung erst mit den Karolingern einsetzen zu lassen 112 ). Das lebendige historische Selbstbewußtsein der karolingischen Zeit — soweit wir Regino als seinen Repräsentanten betrachten dürfen 109
) Beachtenswert S. 20 f. Reginos Darstellung der Geschichte Justinians, die sich Paulus Diaconus 1, 25 und dem Liber pontificalis anschließt. Dabei ist die von Paulus gegebene Aufzählung der Titel Alamannicus, Gothicus, Francicus usw. sowie die Charakteristik Justinians als princeps fide catholicus wohl nicht nur zur Raumersparnis ausgelassen; eine Erörterung des für das Papsttum selbst eine peinliche Erinnerung bedeutenden Dreikapitelstreites ist vermieden, die Gewaltsamkeit des kaiserlichen Vorgehens gegen Vigilius jedoch betont. Vgl. auch die S. 29 gegebene Darstellung der Verbannung Papst Martins I. durch Kaiser Konstans II. (nach Beda und Liber pontificalis), die allein auf die ablehnende Haltung Martins gegenüber dem Monotheletismus zurückgeführt wird. Wörtlich auf Paulus Diaconus 6, 34 beruht S. 35 die Darstellung der Kaiser Philippicus und Anastasius II., von denen der eine als Häretiker in Rom überhaupt nicht als Kaiser anerkannt wurde, während der andere den Papst ausdrücklich seiner Orthodoxie versicherte. Mit dem nach Paulus 6, 49 geschilderten Vorgehen Leos III. gegen die Bilderverehrung (S. 37) ist das endgültige Einlenken der byzantinischen Kaiser in die Bahn der Häresie für Regino gegeben; er erwähnt später nur noch (zu 794 in seiner Wiedergabe der fränkischen Reichsannalen, S. 58), daß die Pseudosynode der Griechen (Nicaea 787) von der Frankfurter Synode verworfen worden sei.
110
) Das zeigt besonders die von Regino S. 30 nach Paulus 5, 11, 12, der seinerseits wieder aus dem Liber pontificalis schöpfte, gegebene Schilderung der italienischen Expedition Konstans' II., in der dieser als Ausbeuter Roms und Siziliens erscheint. m ) Sie erscheinen nur zu 871 S. 102, 103, als süditalienische Widersacher Kaiser Ludwigs II. 112 ) Einen Uberblick über den Stand der Diskussion gibt K. F. S t r o h e k e r , Um die Grenze zwischen Antike und abendländischem Mittelalter, Saeculum 1 (1950) S. 433—465. P. E. H ü b i n g e r , Spätantike und frühes Mittelalter, Dt. Vjsdir. f. Literaturwissenschaft u. Geistesgeschichte 26 (1952) S. 1—48. F. V i t t i n g h o f f , Der Ubergang von der Antike zum Mittelalter und die Problematik des modernen Revolutionsbegriffes, Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht 9 (1958) S. 457—474.
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— ist anderer Meinung gewesen. Gewiß hat auch Regino gewußt, daß das Aufkommen der Karolinger eine Epoche bedeutete. Wenn es aber andererseits heute als gesicherte Tatsache gelten kann, daß die Herrschaft Odowakars und Theoderichs in Italien nie das Band der Zugehörigkeit zum römischen Reiche gelöst hat, so sah Regino 113) — und mit ihm eine Reihe anderer Historiker 114 ) — seit Odowakar in Italien ein faktisch selbständiges Gotenreich bestehen, dessen Bindung an Ostrom er unbeachtet ließ. Mag dies auch ein Irrtum gewesen sein, so hing er doch aufs engste zusammen mit den Prinzipien, nach denen Regino sein historisches Weltbild ordnete, und man täte gut daran, bei der Diskussion über die Periodisierung von Altertum und Mittelalter dem Vorhandensein dieser frühmittelalterlichen Betrachtungsweise Rechnung zu tragen. Ernst Dümmler 115) hat Regino einen der bedeutendsten Geschichtsschreiber des Mittelalters genannt. Nach allem, was wir hier über Geschichtsbild und Geschichtsdenken Reginos sagen konnten, wird man diesem Urteil, das gemäß den quellenkritischen Maßstäben des 19. Jahrhunderts gefällt wurde, wohl zustimmen. Trotz aller Unvollkommenheiten, die seinem Werke anhafteten und dem sinkenden geistigen Niveau der ausgehenden Karolingerzeit entsprachen, überrascht sein Gespür für die Problematik des Politischen ebenso wie sein Weltbild, das von einem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Einheit fügenden Denken zeugt. Dieser gedanklichen Einheit fügen sich auch die unselbständigen, nur kompilierten ersten Abschnitte durchaus ein. Mancherlei mußte zusammenkommen, damit dieses in seiner Art einzige Werk entstehen konnte: das lebendige Erlebnis der Geschichte in der Auflösung des karolingischen Imperiums und dem Aufstieg der Reichsaristokratie zur Adelsherrschaft, die Zugehörigkeit Reginos zum Adel, dessen kriegerische Ethik er in christlichem Sinne zu veredeln suchte und dessen Machttrieb ihm unheimlich war. Dazu aber kam das Geschichtsdenken Augustins und die Bekanntschaft mit Justin. Der erstere lehrte ihn, daß der wesentliche Inhalt der Geschichte, der Wandel des Gottesreiches durch diese Welt, nicht zu identifizieren war mit dem Werden und Vergehen der Imperien und der irdischen Dinge überhaupt. Umgekehrt jedoch öffnete er ihm den Blick für die Wandelbarkeit, aber damit auch für die Individualität der historischen Mächte. Justin schließlich gab ihm die Mittel, die Erscheinungen dieser vergänglichen, politischen Seite der historischen Welt recht zu erkennen. Dazu kam dann die lebendige Wirksamkeit der Kirche, die in allen Epochen der Geschichte mächtig war. Aus dem Zusammen113
) K u r z e S. 19: Odoacer rex Gothorum Romam obtinuit. Danach ist dann S. 20 ganz selbstverständlich von der Herrschaft Theoderichs d. Gr. in Italien die Rede. 114 ) Ausgehen konnte eine solche Auffassung von der Chronik des Marcellinus Comes, Auct. ant. 11 S. 91, des „einzigen, der [zu 476] ein wirkliches Aufhören des weströmischen Imperiums verzeichnet" (so N . R e i 11 e r , Der Glaube an die Fortdauer des römischen Reiches im Abendlande während des 5. und 6. Jhs., Diss. Münster 1900, S. 23 Anm. 4): Hesperium Romanae gentis Imperium . .. cum hoc Augustulo periit,. . . Gothorum dehinc regibus Romam tenentibus. Vgl. oben A. 93. 115 ) Die Geschichtsschreiber der deutsdien Vorzeit, 2. Gesamtausg., 27*, Leipzig o. J., S. X I .
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treffen dieser Elemente erwuchs ihm dann die Erkenntnis von der Eigenständigkeit und dem Zusammenhang des frühmittelalterlichen Abendlandes. Reginos Geschichtsbild ermöglicht wohl auch ein klareres Urteil über die Äußerungen der Hofdichter Karls des Großen, die im Aachen Karls ein neues Rom wiedererstehen sahen. Diese Renaissance-Ideologie, von der auch die Kaiserbulle Karls mit der Umschrift Renovatio Roman. Imp. zeugt, erwuchs aus der gleichen Erkenntnis der Vergänglichkeit alles Irdischen, die für Regino maßgebend war 116 ). Aber anders als Regino, der dem Wandel der irdischen Reiche mutig ins Auge sah, weil er von Augustin gelernt hatte, suchte die Renaissance-Vorstellung sich aus der Geschichte und ihren Gefahren in eine Traumwelt des Ungeschichtlichen zu retten; sie ist im frühen Mittelalter überall dort wirksam geworden, wo nach einer Zeit des Verfalls ein neuer Aufsdiwung einsetzte und die Erregung der überstandenen Verfallszeit in den Menschen nachzitterte 117 ). Wenn die Hofdichter Karls sich und ihre Zeit mit Rom, Griechenland und dem alttestamentlichen Judentum verglichen, so wurden sie sich des erreichten Höhepunktes bewußt und dachten daran, daß sie mit jenen Mächten der Vergangenheit den Besitz einer unveränderlichen Kultur gemeinsam hatten, die nunmehr in ihre Hände gelangt war. Dieses Bewußtsein aber sdialtete das Gefühl für die völkische und historische Andersartigkeit nicht aus, und es fehlte auch nicht an Aussprüchen, nach denen sich die „Erneuerung" dem Denken dieser Zeit als eine Erhöhung und Verbesserung darstellte. Um die im modernen Sinne historische Frage einer Kontinuität von Antike und Mittelalter ging es dabei gar nicht. Man hätte dann die seltsame Erscheinung erlebt, daß Modoin von Autun im Aachen Karls Rom 118 ), Alchvine aber Athen 119 ) sich erneuern sah. Das Wunschbild der Renaissance war letztlich metaphysisch begründet, es erstrebte die Erneuerung des Menschen und der Kultur, die damals vorzüglich im religiösen Sinne, als cultura Dei gefaßt wurde. Die Wirksamkeit dieser Idee soll außer Frage gestellt sein; wer aber Aufschlüsse über das historische Selbstbewußtsein des frühen Mittelalters sucht, wird sich den Äußerungen des Renaissance-Gedankens und der Renovatio nur soweit anvertrauen dürfen, als sie ihm das Bewußtsein der Zeit aus"·)
Fr. H e e r , Die Renaissance-Ideologie im frühen Mittelalter, M I Ö G . 57 (1949) S. 23—81. m ) Dazu vgl. neben H e e r a. a. O. besonders die tiefdringende begriffsgesdiichtliche Untersudiung von J . T r i e r , Zur Vorgeschichte des Renaissance-Begriffes, Arch. f. Kult. Gesch. 33 (1950) S. 45 ff., dessen Nachweis der Herkunft des Begriffes renasci aus der Niederwaldwirtsdiaft (Wiederausschlagen eines gekappten Baumes) endgültig deutlich gemacht hat, daß zum Renaissance-Begriff notwendig die vorhergehende clades gehört. lle) MG. Poet. Lat. 1, S. 385 v. 26 f. Vgl. dazu S . 3 8 6 v. 40: Quo caput orbis (seil. Carolus) erit, Roma vocitare licebit forte locum. Vgl. jetzt P. L e h m a n n , D a s Problem der Karolingischen Renaissance, in: Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull'alto medioevo 1: I Problemi della Civiltä Carolingia, Spoleto 1954, 3—52; M. S e i d l m a y e r , Rom und Romgedanke im Mittelalter, Saeculum 7 (1956) 395—412. [Vgl. unten S. 180 Anm. 1.] " · ) MG. Epp. 4 Nr. 170 S. 279.
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sagen, auf einem neuen Höhepunkt der Geschichte zu stehen. Man wird zu beachten haben, daß sich die karolingische Weltgeschichtsschreibung — und zwar Regino ebenso wie Frechulf oder Ado — die in der Dichtung so lebendige Kategorie der Renovatio nicht zu eigen gemacht hat. Denn schon damals sah sich der echte Historiker an die Tatsachen gebunden. Die Elemente eines frühmittelalterlichen Geschichtsbewußtseins, die in dem Werke Reginos sich abzeichneten, dürften aber audi in ihren Zusammenhängen mit der Welt des politischen Handelns einer näheren Beachtung wert sein. Mehrmals wiesen wir darauf hin, daß augustinisches Geschichtsdenken den Raum schuf, in dem sich der politische und historische Wirklichkeitssinn Reginos, sein Verständnis für das Einmalige historischer Vorgänge unter der Mithilfe Justins entfalten konnte. Der Sinn Augustins für das Lebendige und Individuelle ist erst kürzlich wieder betont worden, und deutlich ist die Nähe, in die er dadurch zum modernen Geschichtsdenken gerät 120 ). Die Auswirkung augustinischer Gedanken bei Regino kann diese Auffassung nur bestätigen. Man könnte den geschichtlichen Raum, den Regino unter das Walten der Fortuna gestellt hat, ohne weiteres mit den ganzen methodischen Errungenschaften des Historismus erfüllen, ohne damit die Gesamthaltung seines Geschichtsdenkens grundlegend zu verändern. Der Unterschiede blieben freilich audi dann noch genug; steht doch nur der Vordergrund der Geschichte für Regino unter der Fortuna. Dennoch kann gerade Regino verdeutlichen, wie von augustinischen Positionen her ein Zugang zum Historismus gewonnen werden konnte. Es sdieint jedoch, als ob diese Tatsache sowohl für die Entstehungsgeschichte des Historismus als auch für die heute wieder einsetzende Diskussion über sein Wesen und seine Grenzen stärker in Rechnung gestellt werden dürfte, als es bisher geschehen ist. Aber sieht man auch von dieser Perspektive ab, so hat die Betrachtung Reginos wohl das Ergebnis gebracht, daß die Ereignisse mittelalterlicher Geistesgeschichte, und zwar auch jenes Frühmittelalters, das den Humanisten ein Ärgernis ist und den Scholastikern eine Torheit, nicht ganz bedeutungslos sind für den Gesamtverlauf europäischer Geschichte. Gewiß darf man diese Frühzeit nicht messen an den Höchstleistungen reifer Kulturepochen; aber bis zum heutigen Tage gründet sich unsere Kultur auf der damals sich vollziehenden Durchdringung des Germanentums mit der Weisheit des Christentums und der Antike. Dabei handelte es sich um einen Hergang geistiger und seelischer Art, der die menschliche Substanz in gründlichster Weise berührte. Von diesem Wandel zeugt Regino nicht nur durch seine Arbeit an der inneren Christianisierung der Welt, sondern durch seine geistige Erscheinung selbst, die in ihrer Mehrschichtigkeit durchaus schon etwas ahnen läßt von dem Subjektivismus der modernen Persönlichkeit. Er hat im Niedergang des karolingischen Reiches Geschichte nicht nur leidend erlebt, sondern ist sich ihrer bewußt geworden — 12
°) O. H e r d i n g , Augustin, in: Große Gesdiiditsdenker, hg. von Tübingen 1949, S. 71, 72.
R.
Stadelmann,
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freilich mit Hilfe der Erfahrungen, die ihm eine Jahrhunderte zurückliegende Zeit zur Verfügung stellte. Es war aber schon eine Leistung, daß er diese Hilfe zu nutzen wußte, daß er den Niedergang nicht nur theologisch bewältigte, sondern historisch nach seinen Gründen fragte, daß er die Bilanz seines Zeitalters zog und sich Rechenschaft gab über die in der Zukunft weiter dauernden Kräfte, in deren Dienst seine Lebensarbeit stand. So überwand er die Geschichte, indem er sie in sein Weltbild aufnahm.
Geschichtschreibung der ausgehenden Karolingerzeit Innerhalb des geistigen Neubeginns, dem man gern den Namen der karolingischen Renaissance *) gibt, nahm audi die Geschichtschreibung einen sicheren Platz ein. Die Neuausbildung der Annalistik von kleinsten Anfängen bis zu den vollendeten Reichsannalen, die unter der Aufsicht der Erzkapläne geschrieben wurden; die Herrscherbiographien, deren erste, Einhards Vita K a roli, nach Form und Aussagekraft schon von den bald sich anschließenden Biographen Ludwigs des Frommen nicht mehr erreicht wurde; der Anlauf zur Weltchronistik, der unter Ludwig in der Chronik des Frechulf von Lisieux gipfelte; die vom römischen Papstbuch angeregte Kloster- und Bistumsgeschichtschreibung und schließlidi die Hagiographie, bei der schon weithin der Gegenstand — die Heiligen der vorangegangenen Missionsepoche — von den Impulsen zeugte, die von den Angelsachsen auf das geistige Leben des Frankenreiches und seine Geschichtschreibung ausgestrahlt waren; das sind — grob umrissen — die wichtigsten Beiträge der Geschichtschreibung zum geistigen Leben der karolingischen Zeit, das undenkbar wäre ohne die Herrscher, insbesondere die staatliche Leistung und das geistige Interesse Karls des Großen, undenkbar aber audi ohne den „Staat", der als überpersönliche respublica
Vortrag, gehalten am 8. März 1967 in München bei der Jahrestagung der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. — D A . 23 (1967) S. 1—30. ') Auf das terminologische Problem der „Karolingischen Renaissance" kann hier nidit eingegangen werden. Vgl. P. L e h m a n n , Das Problem der Karolingischen Renaissance, in: I problemi della civiltä carolingia (Settimane di studio del Centro italiano di studi sulPalto medioevo 1, 1954) S. 309—358; neu abgedr. in: d e r s . , Erforschung des Mittelalters 2 (1959) S. 108—138; P. E. S c h r a m m , K a r l der Große. Denkart und Grundauffassungen. — Die von ihm bewirkte Correctio („Renaissance"), H Z . 198 (1964) S. 306—345, bes. 341, schlägt vor, „die von Karl dem Großen gesteuerten kulturellen Bemühungen" künftig zu bezeidinen als die „karolingisdie Correctio". Nicht aufgenommen wurde dieser Vorschlag von W. v o n d e n S t e i n e n , Der Neubeginn, in: K a r l der Große 2 (1965) S. 18 Anm. 16; D . B u l l o u g h , Karl der Große und seine Zeit (1966) S. 99 if., spricht von einer „Renaissance der Gelehrsamkeit."
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schon in das geistige Blickfeld mancher Zeitgenossen zu treten begann. Wenn so dem Aufstieg des Reiches unter Karl und seiner Krise unter Ludwig der Aufschwung und die Entfaltung der Geschichtschreibung parallel gegangen waren, so ist auch die Frage historisch durchaus legitimiert, welche Stellung die Geschichtschreibung in der Zeit der Auflösung des Reidies seit dem Vertrag von Verdun 843 einnahm, in jener zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, der nach dem Aussterben der Karolinger im Osten und ihrem tiefen Absinken im Westen zu Beginn des 10. Jahrhunderts eine Nacht der Schriftlosigkeit und Überlieferungsleere folgte, auf die dann erst wieder die Geschichtschreibung der aufsteigenden Ottonenzeit ihr Licht zurückwarf. Bei dieser Frage geht es niciit um Literaturgeschichte und nicht einmal so sehr um Quellenkunde, sondern unmittelbar um die politische und gesellschaftliche Geschichte dieser Zeit. Wir wollen versuchen, die historiographischen Gattungen, die Reichsannalen, die Herrscherbiographie, die Geschichtsdiditung, die lokale Kirchengeschichte und die Hagiographie, zu betrachten als ein Stück der Geschichte selbst, im Hinblick auf ihre zeitgeschichtliche Stellung, auf ihre Beziehung zu Königtum und Reich, Kirche und Adel, d. h. in ihrer Bedingtheit durch die Geschichte ihrer Zeit, die sie widerspiegeln. Wir halten uns dabei — trotz gelegentlicher Seitenblicke auf Italien — an das eigentliche Frankenreich, wobei wir immer wieder zwischen Ost- und Westfrankenreich zu differenzieren, aber auch die Zusammenhänge des alten fränkischen Kerngebietes zwischen Loire und Rhein zu beachten haben werden. Keine andere Gattung der Geschichtschreibung hatte in so enger Beziehung mit dem Königtum gestanden wie die R e i c h s a n n a l e n , die seit den achtziger Jahren am Hofe — unter der mehr oder weniger strengen Aufsicht der Erzkapläne — bis zum Jahre 829 fortgeführt worden waren 2 ). Aber nur im westfränkischen Reich fand dieses Werk eine unmittelbare Fortsetzung in den sogenannten Annales Bertiniani s ). Die Berichte über die Jahre 830 bis 835 entstanden noch unter der Aufsicht, wenn nicht gar unter der Verfasserschaft von Ludwigs des Frommen Erzkaplan Fulco; seit 835 war der Hofkaplan Prudentius, der spätere Bischof von Troyes, zunächst noch für den alten Kaiser, nach der Reichsteilung für den westfränkischen König Karl den Kahlen tätig, bis nach seinem Tode mit dem Jahre 861 der Erzbischof Hinkmar von Reims die Arbeit fortsetzte —, nach einer Abschrift, die er von den Annalen des Prudentius genommen hatte. Bedeutungsvoll ist das Zusammentreffen dieses Verfasserwechsels mit dem Tod von Karls Erzkaplan Hilduin am Ende
*) Vgl. dazu H . L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Gesdiichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 2 (1953) S. 245—254; L. M a l b o s , L'annaliste royal sous Louis le Pieux, Moyen-Age 72 (1966) S. 225—233. ®) Jetzt zu benutzen in der Ausg.: Annales de Saint-Bertin, publ. pour la Soci£t£ de l'Histoire de France par f F. G r a t , J . V i e l l i a r d et S. C l i m e n c e t , avec une introduction et des notes par f L. L e v i H a i n (1964); zur Abgrenzung der einzelnen Teile und ihrer Verfasser vgl. ebd. S. V — X V I .
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des Jahres 860; das Amt wurde zur Zeit Karls nicht wieder besetzt 4 ); der leitende Staatsmann der Folgezeit, der Weife Hugo der Abt, dem eine zeitgenössische Quelle die monarchia clericatus in palatio zuschrieb 5 ), war formell jedenfalls nicht Erzkaplan und in diesen Notzeiten als Staatsmann und Heerführer viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß er sich um die Fortsetzung der Reichsannalen hätte kümmern können. So fehlte seit 860 die für diese zuständige Instanz 6 ); der Weg war frei, auf dem die bisherigen Königsannalen — bei unverändert weitem reichsgeschichtlichen Horizont — zu Annalen Hinkmars und d. h. zu einem vollkommenen Spiegel seiner Persönlichkeit und seiner politischen Anschauungen werden konnten 7 ). Nicht umsonst bricht dieses Werk im Todesjahr Hinkmars 882 ab. Im Mittelreich Kaiser Lothars und seiner Söhne ist es zur Abfassung von Reichsannalen unter dem Einfluß des Hofes überhaupt nicht erst gekommen; die sogen. Xantener Annalen — in ihrem ersten, bis in die 60er Jahre reichenden Teil am Niederrhein und wahrscheinlich von Ludwigs des Frommen ehemaligem Hofbibliothekar Gerward verfaßt, dann von einem anderen Verfasser in Köln bis 873 fortgesetzt 8 ) — sind trotz ihres weiten Blickfelds nicht als Reichsannalen in diesem strengen Sinne zu betrachten. Auch der karolingische Hof in Italien hat keine Reichsannalen inspiriert. Die Angehörigen der fränkischen Führungsschicht, die die politischen und kirchlichen Schlüsselpositionen des italienischen Königreiches besetzt hielten 9 ), fühlten sich als Mieter 4
) J. F l e c k e n s t e i n , Die Hofkapelle der deutschen Könige 1 (Schriften der MGH. 16, 1, 1959) S. 145 Anm. 211, 146. 6 ) Annales S. Columbae Senonensis zu 882, MG. SS. 1, S. 104; ed. L.-M. D u r u , Bibliotheque historique de l'Yonne 1 (1850) S. 203; F l e c k e n s t e i n , Hofkapelle 1, S. 163 f., folgt Ph. G r i e r s o n , Eudes I e r eveque de Beauvais, Moyen-Age 45 (1935) S. 194 f., wenn er Hugo als Erzkaplan betrachtet. Doch sollte das Fehlen des Titels nicht zu gering eingeschätzt werden; die Dinge waren offensichtlich in der Schwebe. ·) Literarisch nicht uninteressiert war Karls Erzkaplan (840—855), Bischof Ebroin von Poitiers, der in seiner Eigenschaft als Abt von St.-Germain-des-Pris die Aufzeichnung der Miracula S. Germani in Normannorum adventu (845) facta veranlaßte (c. 1, MG. SS. 15, S. 10), die dann Aimoin mit einem anderen Bericht auf Befehl von Karls Erzkanzler Gozlin (867—879), des Abtes von St.-Germain-des-Pris, zusammenarbeitete (Acta SS. Mai 6, S. 796—805; Migne, PL. 126, S. 1027—1050). Beide traten als Anreger eines hagiographischen Werkes nur in ihrer Eigenschaft als Äbte von St.-Germain-des-Pres auf; dagegen ist ein Einfluß auf die Annales Bertiniani für Ebroin nicht nachweisbar, für Gozlin sogar abzulehnen. Zu ihren Ämtern: L. P e r r i c h e t , La grande chancellerie de France (1912) S. 464, 471 ff. 7 ) Die Vorrede der oben Anm. 3 zitierten französischen Ausgabe S. X I V sagt deshalb mit Recht: „Ce sont des Memoires en forme d'Annales, des Memoires έ la f a j o n de SaintSimon . . 8 ) Gegen F. W. Ο e d i g e r , Analecta Xantensia, Ann. Hist. Ver. f. d. Niederrhein 144/45 (1946/47) S. 32 ff., vgl. H . L ö w e , Studien zu den Annales Xantenses, DA. 8 (1950) S. 59—99; zu O e d i g e r s Verteidigung (Noch einmal die „Annales Xantenses", Ann. Hist. Ver. f. d. Niederrhein 157, 1955, S. 181—190) vgl. meine Anzeige DA. 12 (1956) S. 574. 9 ) E. H l a w i t s c h k a , Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774—962) (Forschungen zur oberrhein. Landesgeschichte 8, 1960).
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im fremden Haus 10) und haben die charakteristische Form fränkischer Reichsgeschichtschreibung dort nicht durchsetzen können. Dafür knüpfte man lieber an langobardische Königskataloge und an die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus an, d. h. an die Gattung der Volksgeschichtschreibung, die bezeichnenderweise im Frankenreich damals nicht gepflegt wurde n ) . An Paulus Diaconus schloß sich bald nach 877 der Priester Andreas von Bergamo an, dessen Historia ein Zeugnis für die langsame und mühevolle Aussöhnung mit der fränkischen Herrschaft wurde; wenig später führte der Mönch Erchempert von Monte Cassino seine Geschichte der beneventanischen Langobarden bis 889 und umfaßte darin mit seinem Fremdenhaß die Franken ebenso wie die Griechen und Neapolitaner. So werden am Beispiel der Geschichtschreibung auf dem alten Boden Italiens die Grenzen der Ausstrahlungskraft karolingisdier Reichskultur deutlich. Wieder anders lagen die Dinge im ostfränkischen Reich Ludwigs des Deutschen. Er hat sich bemüht, im Aufbau seiner Hofkapelle an das alte kaiserliche Vorbild anzuknüpfen 12 ). Aber wenn hier schließlich der Notar und spätere Kanzler Hebarhard mit seiner „diplomatischen Minuskel" den Bruch mit der alten karolingischen Urkundentradition herbeiführte 13), so ist es im Unterschied zum Westen von vornherein nicht zu einer bruchlosen Fortsetzung der alten Reichsannalen gekommen. Die ostfränkischen Reichsannalen, die sog. Annales Fuldenses 14), deren Entstehungsgeschichte noch keineswegs voll geklärt ist, knüpften nicht wie die westfränkischen einfach an ein Manuskript der 10
) Bischof Antonius von Brescia an Salomo II. von Konstanz zu Anfang 878, MG. Formulae Nr. 39 S. 421: nos, habitatores Italiae vel potins inquilini. ..; zur Interpretation G. P. B o g n e t t i , Pensiero e vita a Milano e nel Milanese durante l'etä carolingia, in: Storia di Milano 2 (1954) S. 719 f.; vgl. auch Ε. Β e s t a , ebd. 2, S. 416. n ) Zum Folgenden vgl. H . L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 4 (1963) S. 388, 403 f., 405 f., 437 ff. " ) F l e c k e n s t e i n , Hofkapelle 1, S. 165 ff. 1S ) F l e c k e n s t e i n , 1, S. 181—184, 186, 193; P. K e h r , Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen, Abh. Ak. Berlin, phil.-hist. Kl. 1932 Nr. 1, S. 21 ff.; d e r s ., Die Schreiber und Diktatoren der Diplome Ludwigs des Deutschen, NA. 50 (1935) S. 73 ff. I4 ) Annales Fuldenses, ed. F. K u r z e , MG. SS. rer. Germ, in us. sdiol. (1891); Neudruck mit dt. Ubers, von R. R a u , Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 3 (1960) S. 20—177; dazu seien genannt ohne Anspruch auf Vollständigkeit: A. R e t h f e l d , Über den Ursprung des zweiten, dritten und vierten Teils der sogen. Fuldischen Annalen (Diss. Halle 1886); F. K u r z e , NA. 17 (1892) S. 83—158; NA. 28 (1903) S. 663 ff.; NA. 36 (1911) S. 343—393; NA. 37 (1912) S. 778—785; S . H e i l m a n n , Die Entstehung und Überlieferung der Annales Fuldenses, NA. 33 (1908) S. 695—748, NA. 34 (1909) S. 15—66, NA. 37 (1912) S. 53—65; d e r s . , Einhard, Rudolf, Meginhard, ein Beitrag zur Frage der Annales Fuldenses, HJb. 34 (1913) S. 40—65; H . W i b e l , Beiträge zur Kritik der Annales regni Francorum (1902) S. 249 ff.; d e r s . , NA. 28 (1903) S. 684 ff.; Ε. E. S t e n g e l , Die Urkundenfälschungen des Rudolf von Fulda, Arch. f. Urkundenforschung 5 (1914) S. 52 f., 151 f. (neu abgedr. in: d e r s . , Abhandlungen und Untersuchungen zur Hessischen Geschichte [Veröffentlichungen der Hist. Komm, für Hessen u. Waldeck 26, 1960] S. 131—136).
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alten Reichsannalen an; am Anfang stand vielmehr eine die Jahre 714 bis 838 umfassende Kompilation aus verschiedenen Quellen; zu diesen gehörten sicher die alten Reichsannalen bis 829, aber nicht die Annales Bertiniani, deren Benutzung man auf Grund recht schwacher Anklänge in den Jahresberichten 831—838 vermuten wollte 15). Deutet schon dieser kompilatorische Anfang mehr auf gelehrte Arbeit als auf die Praxis dessen hin, was man etwas pointiert das „historische Bureau" 16) der Hofkapelle nennen könnte, so besitzt weder diese Kompilation noch der zweite, selbständige Teil des Werkes von 838—863, der nicht ohne Widerspruch dem berühmten Lehrer Rudolf von Fulda zugeschrieben worden ist, Beziehungen zu den zeitgenössischen Erzkaplänen Ludwigs, dem Bischof Baturich von Regensburg und dem Abt Grimald von St. Gallen; sie wurden nicht einmal erwähnt. Dafür stand der zweite Teil deutlich in Verbindung mit Fulda und mehr noch mit Mainz. So wird man den Verfasser am besten unter den Klerikern des Erzbischofs von Mainz suchen. Dort, im Gebiet um die Mainmündung, einer Konzentration königlicher Pfalzen und Besitzungen, konnte er die Informationen für sein Werk leicht erhalten, ohne jedoch, wie seine mehrfache Berufung auf die fama als Quelle zu erkennen gibt 17 ), die Möglichkeiten der Hofkapelle unmittelbar zur Verfügung zu haben; hier konnte er die Beziehungen zu den consiliorum regis conscii pflegen18), ohne selbst zu ihnen zu gehören. Als dann 870 der Mainzer Erzbischof Liutbert zum Erzkaplan ernannt wurde 1 9 ), scheint er mit der Fortführung des Werkes einen neuen Autor beauftragt zu haben, der, wie innere Gründe erkennen lassen, bis 864 zurückgreifend, die damals liegengebliebenen Annalen von 864 bis 887 fortführte und nach der Meinung von Hellmann audi den Anteil seines Vorgängers noch einmal überarbeitet hat 2 0 ). Der neue Verfasser, der Mainz und seine Umgebung genau kannte und den Erzkaplan häufig erwähnte, äußerte sich höchst empört darüber, daß Karl III. 882 den Schwaben Liutward von Vercelli an Stelle Liutberts zum Erzkaplan 15
) K u r z e , N A . 17 (1892) S. 131 ff.; in seiner Ausgabe S. 26 Anm. 1 nahm er jedoch eine Zwischenstufe an; Η e 11 m a η η , Ν Α . 33, S. 735 Anm. 1, dadite an eine gemeinsame Quelle der Annales Bertiniani und Fuldenses; schon damit sdieidet eine unmittelbare Benutzung der Bertiniani in den Fuldenses aus. L. Η a 1 ρ h e η , Stüdes critiques sur l'histoire de Charlemagne (1921) S. 64 Anm. 2, hat die Annahme von aussagekräftigen Übereinstimmungen — m. E. mit Recht — überhaupt bestritten. ") Diesen Ausdruck gebraucht die oben Anm. 3 zitierte Ausgabe S. XII. 17 ) Ann. Fuldenses 848, ed. K u r z e , S. 37: sicut fama vulgabat; 850 S. 39: ut fama est. Es handelt sich hier um politisch bedeutsame Fragen, für die man in der Hofkapelle nicht auf Gerüchte angewiesen gewesen wäre. 18 ) Zu 858 ed. K u r z e , S. 50: quod longe aliter esse, quam se vulgi fert opinio, cunc ti consiliorum regis conscii veraci sermone testantur. " ) F l e c k e n s t e i n , Hofkapelle 1, S. 176—178. 20 ) Ohne daß diese Frage hier entschieden werden soll, sei immerhin gesagt, daß die von Η e 11 m a η η angeführten stilistischen Übereinstimmungen auch im Sinne K u r z e s darauf zurückgeführt werden können, daß der Verfasser des 3. Teiles sich der Latinität des 2. Teiles anpaßte. Überdies handelt es sich hier um stereotype Wendungen, die für Verfassergleichheit nicht viel besagen.
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ernannte und auf die alten Ratgeber seines Vaters nicht mehr hörte 2 1 ). Er fühlte sich also mehr als Kleriker des Erzbischofs von Mainz, denn als Mitglied der Hofkapelle. Tatsächlich wurden ja die Reichsannalen seit 882 wohl in Bayern im Einvernehmen mit der Politik Karls III. und seit 887 Arnulfs fortgesetzt, womit die Annalen Liutberts in das Dasein eines Sonderzweiges abgedrängt erscheinen. Wie weit Erzkapläne und Hofkapelle auf diese bis 901 und vielleicht sogar darüber hinaus 22) fortgeführten, jedenfalls gut informierten bayerischen Reichsannalen Einfluß nahmen, ist nicht mit Sicherheit festzustellen, so interessant es sein mag, daß der Annalist der Jahre 882 bis 887 sich nicht an der Polemik gegen Liutward von Vercelli beteiligte und daß der Übergang Liutwards zu Arnulf im Jahre 887 immerhin eine Erklärung dafür bieten könnte, daß der Annalist die bis dahin Karl III. bewiesene Loyalität ohne weiteres auf Arnulf übertrug. Zusammenfassend wäre zu sagen: Während im Westen die Reichsannalen zunächst bruchlos die alten in der Hofkapelle geschriebenen Annalen fortsetzten, sich dann aber ganz von der Bindung an Kapelle und Hof lösten, wurde im Osten ein Neuanfang gemacht, und eine — allerdings mehr persönliche — Bindung an einen Erzkaplan, den Erzbischof von Mainz, kam erst 870 zustande. Sieht man aber von dem von persönlicher Verbitterung getragenen Sonderunternehmen der Annalen Liutberts in den Jahren 882 bis 887 ab, so ist die politische Rücksicht auf den König im Osten zu allen Zeiten stärker gewahrt worden als im Westen. Die politische Haltung der Annalisten zeigte in Ost und West ein ganz anderes Gesicht. Hatte schon Prudentius gelegentliche Kritik an Karl dem Kahlen geübt 23 ), so ließ Hinkmar vollends seinem Unmut die Zügel schießen, wenn der König und seine Nachfolger sich auf Bahnen bewegten, die er nicht billigte. Er kritisierte offen das Versagen der Reichsverteidigung gegenüber den Normannen 24), die Verwüstungen, die Karls Truppen im eigenen Lande anrichteten 25), die Vergabung von Klöstern an Laienäbte oder Unwürdige, die » ) Annales Fuldenses Pars III. zu 882 S. 98. " ) Vgl. H e l l m a n n , N A . 34 (1909) S. 18; R a u (s. oben Anm. 14) S. 4, S. 176 Anm. d. is ) Vgl. H . L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n 3 (1957) S. 349; zur Ergänzung vgl. die Bemerkung von K. F. W e r n e r über die Parteistellung des Prudentius (Welt als Geschichte 19, 1959, S. 165 Anm. 79), die meine Auffassung im Prinzip nicht berührt. Übrigens tadelte Prudentius zu 846 S. 52 ganz grundsätzlich die Nichtachtung bischöflicher Ratschläge. " ) Abzug der Normannen von St. Denis 865 S. 124: sine contradictione cuiusquam; das sine conjlictu zu 866 S. 125 ist nach F. L o t , Moyen-Age 15 (1902) S. 398 Anm. 1, allerdings Ausfluß der „intention malveillante" Hinkmars gegen Robert den Tapferen. — Einen sarkastischen Seitenhieb gegen den zu 866 S. 125 f. geschilderten Vertrag Karls mit den Normannen wird man sehen in dem kurz darauf folgenden Bericht S. 127 über das ungehinderte Schalten der Normannen im Ysselgau, „abgesehen davon, daß Lothar keinen förmlichen Vertrag mit ihnen Schloß". Zu 868 S. 151. 25 ) Vgl. zu 861 S. 87 den Bericht über Karls Vorstoß gegen die Provence, bei dem freilich audi die grundsätzliche Mißbilligung dieses Unternehmens (vgl. den Brief an Gerhard von Vienne, MG. Epp. 8, S. 115 Nr. 142) mitspielt. Zu 866 S. 133: Karolus . . . depraedantibus suis loca per quae redierunt, iterum Remanam ciuitatem adit. Zu 868 S. 141, S. 151; 875 S. 199.
Löwe, Cassiodor
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Verteilung von Klostergut an weltliche Vasallen 26), ganz allgemein also die Kirchenpolitik Karls 27). Auf der Synode von Ponthion 876 und in seinen Annalen opponierte er gegen den von Karl im Sinne seines Kaisertums unterstützten päpstlichen Vikariat des Erzbischofs von Sens 28). Der Politiker Hinkmar tadelte, daß Karl im Jahre 875 um des Kaisertums und Italiens willen sein von außen und innen bedrohtes und ungefestigtes Reich sich selbst überlassen habe 2 9 ). Der Annalist ließ zum Jahre 876 durchblicken, daß Karl besser daran getan hätte, den Normanneneinfall abzuwehren, als zur Eroberung des ostfränkischen Reiches aufzubrechen; er verwies auf den Friedenswillen Ludwigs des Jüngeren und sein durch Gottesurteil bestätigtes Erbrecht 30). Bei Karls Niederlage zu Andernach sah er die Räuber von der im Alten Testament für sie vorgesehenen Strafe betroffen 31). Mit beißender Ironie stellte er fest, daß die Bestätigung der Kaisererhebung Karls durch die Synodalbeschlüsse von Ponthion dem Kaiser bei Andernach nichts genützt habe, und ebenso ironisch sprach er von dem „großen Geschenk" 32), das er im Jahre darauf in Gestalt römischer Synodalakten erhielt, welche die Bestätigung von Ponthion nochmals bekräftigten. Der Annalist Hinkmar tadelte schon zu 867, daß Karl seine Treue und seinen Einsatz für König und Reich nicht gewürdigt habe 3S), und nach Karls Tode verbreitete der Politiker eine Jenseitsvision, der zufolge der König in schwersten Fegfeuerqualen litt, da er dem guten Rat Hinkmars und anderer Getreuer nicht gefolgt sei 34). Noch weiter ging Hinkmar gegenüber den jungen Nachfolgern Karls; den viel gefeierten Normannensieg seines Enkels Ludwig III. bei Saucourt (881) deutete er in 2i
) Zu 862 S. 88 betr. St. Martin zu Tours; 866 S. 131 über Robert den Tapferen und Ramnulf, S. 132 über die Verleihung von St. Martin an Hugo und die Verteilung von Gütern der Klöster St. Vaast und St. Quentin cum animae suae detrimento an seine Vasallen. 27 ) Vgl. zur Übertragung des Erzbistums Bourges an Wulfad durch Karl arbitrato suo 866 S. 129. 2β ) Vgl. seine Schilderung zu 876 bes. S. 202. 29 ) De fide Carolo regi servanda c. 12, Migne, PL. 125, 967: quoniam non oportuerat regem nostrum regnum istud, a paganis undique circumdatum, et intra commotum et non solidum, inconsulte dimittere ... 30 ) Zu 876 S. 207: Nortmanni. .. Sequanam introierunt. Quod cum apud Coloniam imperatori nuntiatum fuisset, nil propter hoc a negotio quod coeperat inmutauit. Die im gleichen Jahresbericht ausgesprochene Anerkennung des Redites Ludwigs des Jüngeren ist um so bemerkenswerter, als das abschließende Urteil Hinkmars über diesen Herrscher zu 882 S. 245 vernichtend lautete: inutiliter sibi et Ecclesiae ac regno uiuens. 91 ) Zu 876 S. 209: Et impletum est dictum propheticum, ubi ait: ,Qui praedaris, nonne et ipse praedaberis?'. 32 ) Zu 877 S. 215: quia synodus anno praeterito apud Pontigonem hinc habita secus Andranacum nil profuit...; S. 214: cuius (seil, synodi) exemplar isdem Adalgarius pro munere magno imperatori detulit. 33 ) Zu 867 S. 138: Karolus autem, immemor fidelitatis atque laborum, quos pro eius honore et regni obtentu sepefatus Hincmarus per plures annos subierat. . . 34 ) "W. L e v i s o n , Die Politik in den Jenseitsvisionen des frühen Mittelalters, in: d e r s . , Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit (1948) S. 242 f., über die Visio Bernoldi.
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eine Niederlage um, bei der die Normannen durch Gottes Hilfe gesiegt hätten 3 5 ). Er tat dies, weil er mit Ludwig III. über die Frage der Bistumsbesetzung im Streit lag 3 6 ). Aus all diesen Äußerungen des Annalisten Hinkmar sprach nicht nur persönliche Rancune, sondern ein politischer Wille, derselbe wie in seinen politischen Schriften, die ihn mit seinen Annalen bis in das letzte Jahr seines Lebens begleiteten. Hier sprach Hinkmar als Bischof, der der Kirdie einen von königlichem oder adligem Einfluß freien Raum erhalten wollte 3 7 ), und als Angehöriger des Kreises der weltlichen und geistlichen Großen, die schon seit Anfang der Regierung Karls des Kahlen dem König als selbstbewußte Partner in genossenschaftlicher Form entgegengetreten waren S8 ), Anteil an der Regierung begehrend und gegenüber den königlichen Regierungshandlungen das Recht der Kritik und Kontrolle in Anspruch nehmend. Neben den Bischöfen und Äbten traten daher in Hinkmars Schilderung der Jahre nach Karls Tod die primores regni als eigenständige politische Gruppe hervor 3 9 ), und der etwas spätere Annalist von St. Vaast gebrauchte in solchen ) Zu 881 S. 244 mit Anm. 3. " ) G. E h r e n f o r t h , Hinkmar von Reims und Ludwig I I I . von Westfranken, Zs. f. KiG. 44 (1925) S. 65—98; H. G. J . B e c k , Canonical Election to Suffragan Bishoprics according to Hincmar of Reims, The Catholic Hist. Rev. 43 (1957/8) S. 137—159. 3 7 ) Wenn Hinkmar zu 868 S. 152 an seinem Neffen Hinkmar von Laon tadelte: amplius quam episcopalis grauitas postulat eundem regem contra se excitauit, so wird damit deutlich, daß er einen gewissen Gegensatz zwischen bischöflicher Würde und Königtum als gegeben ansah. Diese Stelle und audi die Gesamtheit seiner Schriften sollten jedenfalls Hinkmar davor bewahren, nur als Exponent einer oppositionellen Adelsgruppe betrachtet zu werden. 3 8 ) P. C l a s s e n , Die Verträge von Verdun und von Coulaines 843 als politische Grundlagen des westfränkischen Reiches, HZ. 196 (1963) S. 1—35. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Hinkmar zu 872 S. 186 Ludwig dem Deutschen vorwarf, der Kaiserin Angilberga die Rüdegabe des im Vertrag mit Karl 870 erworbenen Teiles Lothringens zugesagt zu haben (zur Sache: E. D ü m m l e r , Gesthichte des ostfränkischen Reiches 2 [1960] 340): sine consensu ac conscientia hominum quondam Hlotharii, qui se illi commendauerunt. Ein Handeln des Königs ohne Einverständnis des Adels entsprach Hinkmars Vorstellungen nicht. Vgl. unten Anm. 41. S 9 ) Der Begriff primores taucht vor Hinkmar in den Annales Bertiniani 830—861 nur ganz selten auf; zu 830 S. 2 (aliqui ex primoribus) wird jedenfalls nicht die Gesamtheit der primores als handelnd eingeführt; zu 844 S. 46 (primoribus interfectis) sind nach R a u nur „die vordersten", allenfalls nur die Anführer der betr. Truppe gemeint; zu 851 (im Capitulare von Meersen c. 8 S. 63) sind regnorum primores genannt; doch hat Prudentius diese Wendung trotz der aktenmäßigen Anregung nur noch zu 858 S. 79 (Burgundiae primoribus), aber in landsdiaftlidier Beschränkung, aufgegriffen. Etwas häufiger, aber audi noch selten sprach er von proceres (851 S. 60: communi procerum suorum consilio atque consensu; 854 S. 68: commendatis alternatim filiis, proceribus et regnis; 856 S. 72: proceres quondam Hlotharii; 857 S. 75: quidam procerum Karoli regis; 858 S. 78: Ludoici regis et procerum eius), wenn er die Gesamtheit der Großen in den Teilreichen bezeichnen wollte. Doch gebrauchte er daneben Wendungen wie comites pene omnes ex regno Karoli regis (856 S. 72), omnibus episcopis, abbatibus, comitibus ceterisque uiris potentibus (858 S. 77) oder comites ex regno Karli regis (858 S. 78), mit denen er an der Amtsbezeichnung festhielt. Der eben zitierten Wendung zu 858 entsprach dann bei Hinkmar 862 S. 88: Karolus episcopos et caeteros regni sui primores consulens. Hinkmar führte 35
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Fällen sogar gelegentlich — übrigens in Ubereinstimmung mit dem ebenso gelegentlichen Vorkommen in westfränkischen Königsurkunden — den später so inhaltsschweren Begriff der principes regnt 40). In den ostfränkischen Reichsannalen hat sich trotz gelegentlicher Kritik ein so selbständiger politischer Wille gegenüber dem Königtum nicht geäußert; die Polemik der Annalen Liutberts gegen Karl III., persönlicher Verärgerung weitgehend entsprungen, blieb eine Episode. Auch in der Darstellung des Geschehens traten geistliche und weltliche Große nicht in der gleichen Weise als selbständig wirkende Faktoren hervor wie bei Hinkmar, der den jungen König Ludwig den Stammler dringend ermahnte, sich an den Rat seiner Großen zu halten, und der in dieser Denkschrift die Geschichte der früheren Karolinger im Sinne einer idealen Partnerschaft von Königtum und Adel stilisierte 41 ). So spiegelte sich in der Reichsannalisti'k der strukturelle Unterschied zwischen dem Osten mit der relativ starken Bewegungsfreiheit des Königtums und dem Westen mit dem starken Gegengewicht von Hochadel und Episkopat, die dem König durch die primäres regni häufig an, zunächst als Berater und Helfer des Königs (862 S. 88, 91; 863 S. 96, 104: primores Aquitaniae; 864 S. 113; 865 S. 118 [ 2 ] ; 866 S. 126; 867 S. 135: primores Aquitaniorum, S. 137; 868 S. 151; 869 S. 157, 167; 875 S. 199; 876 S. 206 f.; zu 877 S. 213 wird geschieden: cum fidelibus eius et regni primoribus), dann aber audi selbständig ohne oder gar gegen den König handelnd, z.B. 872 S. 188 (primores Italiae), 875 S. 199; 877 S. 216, 218: regni primores tarn abbates quam comites, S. 219: consensu omnium tarn episcoporum et abbatum quam regni primorum ceterorumque qui adfuerunt; 879 S. 235, 236; 882 S. 245, 249. Die Fuldaer Annalen kennen für das Ostfränkische Reich keine primores regni oder principes regni; sie beziehen diese Begriffe nur auf die einzelnen Stämme oder Landschaften und auf die anderen karolingisdien Reiche. [Inzwischen erschien: U. H o f f m a n n , König, Adel und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Historiker des 9. bis 11. Jhs., Diss. Freiburg i. B. 1968, bes. S. 11 ff.] 40 ) B. v. S i m s ο η , Annales Xantenses et Vedastini, MG. SS. rer. Germ, in us. schol. (1909) zu 877 S. 41; zu 886 S. 60; vgl. dazu G. Τ e s s i e r , Recueil des actes de Charles le Chauve 1 (1943) S. 70 Z. 2 Nr. 27 von 843; Ph. L a u e r , Recueil des actes de Charles III. le Simple (1949), S. 139 Z. 29 Nr. 63; S. 108 Z. 2, Z . 2 6 f . Nr. 49; die königliche Kanzlei, die auch von principes nostri und primores regni sprach (vgl. das Register bei L a u e r ) , sah hier offensichtlich keine Bedenken. Bezeichnend, daß der Annalist von St. Vaast, gerade wenn er von Höhepunkten der fürstlichen Wirksamkeit handelte, einfach von den Franci sprach. So schilderte er die Herrschaftsteilung zwischen Ludwig III. und Karlmann zu 880 S. 47 folgendermaßen: ibique Franci inter eos dividunt, dataque est pars Franciae et omnis Neustria Hludowico, Karlomanno vero Aquitania atque pars Burgundiae necnon et Gothia. — Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist der Satz des erst später, aber auf Grund zeitgenössischer Quellen entstandenen Sermo in tumulatione SS. Quintini, Victorici, Cassiani, MG. SS. 15, S. 272, zum Normanneneinfall von 880: Interim pagani .. . Franciam sine rege et p r i n c i p i b u s vacuam reperientes ... (wegen des Feldzuges gegen Boso). 41 ) Vgl. die Denkschrift für Ludwig den Stammler, Migne, PL. 125, S. 983—990, bes. c. 2 u. 3 S. 985 über die Nachfolge Pippins und Karls des Großen; die aktuelle Beziehung auf den Konflikt zwischen Ludwig dem Stammler und einem großen Teil der primores regni nach dem Tode Karls des Kahlen ergibt sich aus c. 6 S. 986 und Ann. Bertiniani zu 877 S. 218. Man vergleiche dazu den die Großen überhaupt nicht in Betracht ziehenden Bericht der Ann. Fuldenses 876 S. 89 über die Herrschaftsteilung der drei Söhne Ludwigs des Deutschen.
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Krönungsversprechen und Fürstenspiegel bestimmte Grenzen zu setzen suchten. Von hier aus rückt auch die Tatsache ins rechte Licht, daß die Gattung der Herrscherbiographie im Frankenreich keine Fortsetzung mehr fand. Es mag überraschen, daß gerade Karl der Kahle, der königliche Philosoph, den Heiric von Auxerre rühmte, dem so viele gelehrte Werke gewidmet worden waren 42), keinen Biographen gefunden hat. Gewiß entsprach er seinem ganzen Habitus nach dem adligen Ehrencodex der Zeit weniger als etwa sein Bruder Ludwig; doch bleibt fraglich, ob dies der entscheidende Grund war. Selbst bei seinem scharfen Kritiker Hinkmar fehlten diese Töne 43), die der ostfränkische Reichsannalist anschlug, wenn er den König noch feiger als einen Hasen schimpfte 44). Bedenkt man aber, daß Biographen dieses Jahrhunderts wie Einhard oder der Astronomus ihren Helden als den idealen Herrscher darstellen wollen 45) und daß ihre Werke daher manche Züge eines Königsspiegels annahmen, dann wird man verstehen, daß Männer wie Hinkmar nicht an die Biographie eines Königs herangehen mochten, an dem sie so viel auszusetzen fanden. Wieder stand es im Osten anders. Notker, der Dichter, von St. Gallen hat um 883 immerhin mit dem Gedanken gespielt, einmal über Ludwig den Deutschen zu schreiben 46 ), und die Zeitgenossen getadelt, welche seine Taten bis dahin ungeschrieben gelassen hatten. Doch blieb es bei den Gesta Karoli Magni, in denen Notker dem dritten Karl das Vorbild nicht nur des großen Kaisers, sondern auch seines Vaters Ludwig vor Augen hielt 47). Obwohl er dabei den Kaiser auf die brachliegenden Kräfte Arnulfs, des Sprossen aus dem Stamme Ludwigs 48), hinwies und obwohl manche seiner Anekdoten ansatzweise den Charakter der Adelskritik 49 ) tragen, schien sein Bild der 42
) R. R. Β e ζ ζ ο 1 a , Les origines et la formation de la literature courtoise en Occident (500—1200) 1 (Bibl. de l'Ecole des Hautes-Etudes 286, 1958), S. 195—213. a ) Von Karl III. heißt es freilich zu 882 S. 248: concidit cor eius. 44 ) Ann. Fuld. 875 S. 85: est enim lepore timidior. « ) H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n 2, S. 277, zu Einhard; ebd. 3, S. 338, zum Astronomus. 4e ) Notkeri Balbuli Gesta Karoli Magni imperatoris, II 11, ed. H. F. H a e f e l e (MG. SS. rer. Germ. Nova series 12, 1959) S. 70: vita comite propitiaque divinitate Votum babens plurima de eo scribere; II, 16, S. 81. — Zu Notker vgl. H. F. H a e f e l e , Studien zu Notkers Gesta Karoli, DA. 15 (1959) S. 358—392; W. v o n d e n S t e i n e n , Zu Notkers Gesta Karoli Magni, Schweizer. Zs. f. Gesch. 11 (1961) S. 51—54; Th. S i e g r i s t , Herrscherbild und Weltsicht bei Notker Balbulus. Untersuchungen zu den Gesta Karoli (Geist und Werk der Zeiten 8, 1963). [Die Ergebnisse meines oben S. 123 ff. abgedruckten Aufsatzes machten hier eine Textänderung nötig.] 47
) Gesta Karoli II, 10, 16, 17, 18, ed. H a e f e l e S. 65 ff., 81, 87 f., 88 f. ) Gesta Karoli II, 14, ed. H a e f e l e S. 78. 49 ) Gesta Karoli I, 3, 4, II, 17, S. 4 ff., 86 f. Interessant auch der Satz II, 12, über die aufrührerischen Vasallen, gegen die vorzugehen Karl zögerte: quia, si bene voluissent, magnum christianis munimen esse potuissent (S. 73). Daß Notker natürlich den adligen Gesichtspunkt durchaus teilte, zeigte sich in seinem Wort (I, 8, S. 11), daß es sich nicht geziemt hätte, zwei Schüler Alchvines, Müllersöhne der jamilia des Klosters Bobbio, zu 48
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Größe Karls, ins Märchenhafte und Anekdotische gewandt, weitgehend unpolitisch zu sein. Doch war Notkers Karlsbuch geprägt von den Sorgen der letzten Regierungsmonate Karls, und es wollte dem dritten Karl den Rücken stärken und ihn ermutigen, sich gegen den hohen Reichsadel energischer durchzusetzen. Ganz anders hat Hinkmar das Vorbild Pippins und Karls in seinen politischen Schriften — besonders in der Neubearbeitung der Schrift des Karlsvetters Adalhard über die Hof- und Reichsordnung — f ü r ganz präzis gesehene politische Reformaufgaben der Gegenwart eingesetzt 50 ) und die jungen westfränkischen Karolinger seiner Zeit ermahnt, nicht ohne Rat und Zustimmung der geistlichen und weltlichen Großen zu regieren. Das Werk Hinkmars und das Notkers sind unmittelbare Zeitgenossen. Um so deutlicher lassen sie erkennen, wie anders sich im Westen Geschichtschreibung und Politik entwickelt hatten als im Osten, der freilich die inneren und äußeren Probleme der Zeit noch nicht in dem Maße zu erleiden hatte wie der Westen. Ein ähnliches Bild ergibt die lateinische G e s c h i c h t s d i c h t u n g . Im Osten feierte in den ersten Jahren König Arnulfs ein sächsischer Dichter, der die sogen. Einhardsannalen und Einhards Karlsvita in lateinische Hexameter brachte, den großen Karl, der seinem Stamm den christlichen Glauben gebracht hatte. In unerschütterlicher Anhänglichkeit an das karolingische Haus forderte er den heiligen Ahnherrn, Arnulf von Metz, auf, für seinen gleichnamigen Nachfahren einzutreten 51 ). Fast um die gleiche Zeit aber wandte sich im Westen der Mönch Abbo von St. Germain-des-Pres der Zeitgeschichte zu mit seinem Gedicht über die Belagerung von Paris durch die Normannen in den Jahren 885/886 und über die Taten des Königs Odo bis 896. Der gelehrte Pedant, der mit seltenen Vokabeln prunkte und deshalb sein Werk zum besseBisdiöfen oder Äbten zu erheben. Die Kritik am Adel bedeutete nur, daß der Adel seinen Rang audi durdi Leistung zu bekräftigen hatte. Hierher gehört seine Bemerkung (I, 18, S. 22) über das Bibel wort: ,Si quis episcopatum desiderat, bonum opus desiderat'. Sed vere vobis occulte fateor: quia magnus honor in eo, opus vero bonum nec minimum requiritur, in der sidi freilich auch mönchische Reserve gegenüber den Bisdiöfen äußert. Zur sozialen Zugehörigkeit der Familie Notkers vgl. R. S p r a n d e l , Das Kloster St. Gallen in der Verfassung des karolingisdien Reiches (Forsch, zur oberrhein. Landesgesch. 7, 1958) S. 114 f. 50 ) Vgl. die Denksdirift für Ludwig den Stammler c. 2, 3, Migne, PL. 125, S. 985, über die Nachfolgefrage; c. 8, S. 987, gegen die indebitas consuetudinarias exactiones, quae tempore Pippini, Caroli et Ludovici non fuerunt, wozu die Ann. Bertiniani zu 869 S. 153 zu vergleichen wären: cum aliis exeniis, quae regnum illius admodum grauant. Zu De ordine palatii vgl. H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n 3, S. 3 1 7 Anm. 83; die neuere Diskussion (J. S c h m i d t , Hinkmar's ,De ordine palatii' und seine Quellen, Diss. Frankfurt/M. 1962; C. B r ü h l , DA. 20, 1964, S. 48—54; W. M e t z , DA. 22, 1966, S. 272 f.) geht mehr um die Fixierung des Anteils Adalhards als um die politische Zielsetzung Hinkmars. [Nach dieser fragt wieder H. L ö w e , Hinkmar von Reims und der Apocrisiar. Beiträge zur Interpretation von De ordine palatii, Festschr. f. H. Heimpel 3 ( = Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 36, 3, 1973).] 51 ) Poeta Saxo, De gestis Caroli magni imperatoris V, 135 ff., MG. Poet. Lat. 4, S. 58; B. B i s c h o f f , Das Thema des Poeta Saxo, in: Speculum historiale. Festschr. f. J . Spörl (1965) S. 198—203.
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ren Verständnis gleich mit Glossen versah, schrieb einmal zu seiner literarischen Übung, andererseits aber zur Lehre für künftige Verteidiger und als Augenzeuge, der Wert darauf legte, als Poet nichts fingiert zu haben 5 2 ). Wenn er die Männer lobte, die das meiste für die Verteidigung der Stadt getan hatten, den Grafen — und späteren König — Odo und den Abt Ebolus von St. Germain-des-Pres, so ließ er doch keinen Zweifel daran, daß mehr als ihre Tapferkeit die Wunderkraft des hl. Germanus die Stadt gerettet habe 5 S ). Das war nicht nur die übliche geistliche Stilisierung; vielmehr kannte Abbo, dessen Wille zu präsizer Aussage nicht übersehen werden darf, nur zu gut das viele menschliche Versagen, das die Verteidigungskraft des Landes lähmte 5 4 ), trotz aller Heldentaten, die zu rühmen waren. Dieses Wissen stimmte ihn milde, als er das von anderen heftig getadelte Verhalten Karls I I I . vor Paris zu schildern h a t t e 5 5 ) ; es ließ ihn aber auch den Sturz des Kaisers kühl hinnehmen 5 6 ). Ungestört durch innere Bindungen an das karolingische Haus jubelte er auf, als mit Odo im Westen ein König erhoben wurde, dessen Tatkraft eine Besserung der Lage erhoffen ließ; er war empört, als er sich in dieser Hoffnung getäuscht zu sehen glaubte 5 7 ). Nicht weil er des Dichtens überdrüssig geworden war, sondern weil er keinen Stoff, keine großen Taten Odos mehr sah, beendete er sein Werk 5 8 ). Den Mangel an karolingischem Legitimitätsbewußtsein teilte er mit dem wenig späteren Annalisten von St. Vaast 5 9 ). Deutlicher als dieser sprach er seine Enttäuschung nicht nur über das Königtum, sondern auch über den Adel aus, dem letztlich die Sittenpredigt galt, mit der er die Francia aufforderte, ihrer alten Kräfte wieder Herr zu werden 6 0 ). Selbst in der Zeit des Auseinanderlebens der karolingischen Teilreiche wurde die W e l t c h r o n i s t i k weiter gepflegt. Man fühlt sich versucht, einen tieferen Sinn darin zu finden, daß die um 870 abgeschlossene Weltchro-
) Abbon, Le siege de Paris par les Normands. Poeme du I X " si^cle id. et trad, par Η . W a q u e t (Les Classiques de l'Hist. de France 20, 1 9 4 2 ) ; vgl. besonders Abbos Widmungsbrief c. 2, ed. W a q u e t S. 4. Augenzeugensdiaft wird betont I, 25, 595, 633, ed. W a q u e t S. 14, 60, 62. 5S ) Abbos Widmungsbrief c. 3, ed. W a q u e t S. 4 — 6 ; zu den Wundern des hl. Germanus vgl. die Stellen bei W a q u e t im Reg. s. v. Germain, bes. II, 381 ff., S. 94, wo die Stadt Paris sagt: Me quis poterat defendere, primas Hie nisi Germanus, virtus et amor meus omnis? " ) Vgl. die Frage an die Francia II, 596, S. 112: Francia cur latitas vires narra, peto, priscas...; I, 200, S. 3 0 : fugiunt omnes, heu! nemo resistit; I, 451, S. 4 8 : Incubuit morti, nullo sibi subveniente. ss) Abbo II, 3 3 0 — 3 4 2 , ed. W a q u e t S. 90. M) II, 4 4 2 f., S. 98. " ) II, 4 4 4 — 4 4 6 , S. 9 8 ; II, 587 ff., S. 110. 5β ) II, 615, S. 112. M) Vgl. Anm. 5 6 ; die Einstellung zu Karl dem Einfältigen: II, 567 ff., S. 108. Der Bericht der Ann. Vedastini für die Jahre 8 9 3 — 8 9 7 , S. 7 3 — 7 9 , steht eindeutig auf der Seite König Odos. «») II, 596 ff., S. 112. 52
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nik des Erzbischofs Ado von Vienne 61) und die 908 vollendete Chronik des Abtes Regino von Prüm 62) auf dem Boden des einstigen Mittelreiches Lothars I. entstanden sind. Doch Ado war in Vienne ein Fremder; er stammte aus dem Gebiet zwischen Orleans und Sens. Sein Kloster Ferneres, geprägt von den Angelsachsen Alchvine und Sigulf, dann von dem berühmten Humanisten Lupus, hatte mit Prüm in enger Verbindung gestanden; Abt Markward von Prüm ®3) war aus der Schule von Ferneres hervorgegangen und mit Lupus befreundet; umgekehrt war Eigil, der Erzbischof der für Ferri£res zuständigen Metropole Sens, aus Prüm gekommen 64). Ado selbst hatte einige Jahre seines Lebens in Prüm verbracht 65). So boten nicht die bald zerrissenen Bindungen des lotharischen Zwischenreiches, sondern die lebendigen Beziehungen der alten Francia zwischen Loire und Rhein den beiden Autoren die gemeinsame Grundlage, die sich in der Benutzung der gleichen annalistischen Quelle konkretisierte 6e ). Der Generationsunterschied verbietet freilich einen Vergleich der beiden Werke. Ado, in dem weder von Normannen noch Sarazenen bedrohten Vienne, mit dem Ubergang der Herrschaft an den Westfranken Karl voll einverstanden 67), konnte sich in seinem Werk der Vergangenheit zuwenden 68) und die Zeitgeschichte kurz abtun. Regino, mitten in den lothringischen Kämpfen der Zeit des letzten ostfränkischen Karolingers und von ihnen leidvoll berührt, legte gerade auf die Zeitgeschichte das größte Gewicht. Politisch zum Ostreich gehörig und Arnulf als den „natürlichen Herrn" betrachtend, dem nach der Absetzung Karls III. eigentlich das Gesamtreich hätte folgen müssen 69), umfaßte er mit seinem Blick die Francia von der Bretonengrenze 70) im Westen bis zu den Babenbergern und Konradinern im Osten. Der adligen Welt, die er schilderte, trat er nicht wie Hinkmar als Staatsreformer, nicht wie Abbo als Sittenprediger gegenüber —, obwohl sein kanonistisches Werk zeigt, wie ernst er die ihm el
) W. K r e m e r s , A d o von Vienne, sein Leben und seine Schriften (Diss. Bonn 1911); A.-D. v. d e n B r i n c k e n , Studien zur lateinischen Weltdironistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising (1957) S. 126—128. β2 ) H . L ö w e , Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit. Rhein. Vjbll. 17 (1952) S. 151—179 (vgl. oben S. 149 ff.); v. d e η Β r i η c k e η , Weltdironistik S. 128—133; K. F. W e r n e r , Zur Arbeitsweise des Regino von Prüm, Welt als Geschidite 19 (1959) S. 96—116. ®3) Die Belege bei M. M a n i t i u s , Geschichte der lat. Lit. des ΜΑ. 1 (1911, Nadidr. 1959) S. 485. β4 ) Translatio S. Reginae c. 2, MG. SS. 15, S. 449; Miracula S. Reginae c. 4, SS. 15, S. 450. e5 ) K r e m e r s , Ado von Vienne S . 9 . ··) Κ r e m e r s ebd. S. 11, 101 ff. e7 ) Ados positive Einstellung zu Karl: MG. SS. 2, S. 323; K r e m e r s , Ado von Vienne S. 52. e8 ) F. L a η d s b e r g , Das Bild der alten Geschichte in mittelalterlichen Weltchroniken (Diss. Basel 1934) S. 33—36. «») Reginonis Chronicon, ed. F. K u r z e (MG. SS. rer. Germ, in us. sdiol., 1890) S. 129 zu 888: iam non naturalem dominum prestolantur. 70 ) Es ist das Verdienst von K. F. W e r n e r (oben Anm. 62), die Quellengrundlage Reginos für diese Gebiete besser geklärt zu haben.
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als Geistlichen gestellten Erziehungsaufgaben nahm. Nicht im Sittenverfall wie Abbo sah er die Ursachen des Niedergangs, sondern im Walten der „fortuna", die als „Gottes Schaffnerin" dem Menschen die Nichtigkeit aller irdischen Güter vor Augen führt, indem sie ihm zur Prüfung ihren Verlust auferlegt 71). Das unabwendbare Schicksal als Gottes Willen hinnehmend, faßte er die Welt der Francia, die jetzt auseinanderfiel, noch einmal im historischen Rückblick zusammen. Unmittelbarer noch als die Werke der Reichs- und Weltgeschichte waren die örtlichen Geschichtschreiber, sofern sie an gefährdeten und nicht verteidigungsbereiten Orten wirkten, den äußeren Gefahren der Zeit ausgesetzt. Es kann hier nicht aufgezählt werden, wie aus den Gefahrenzonen oft gar keine oder nur kleinste Überlieferungstrümmer erhalten sind. Welchen Umfang die Uberlieferungslücken annehmen konnten, zeigen wohl am anschaulichsten die Bischofslisten, die L. Duchesne für Gallien zusammengestellt hat 7 2 ). Hingewiesen sei nur darauf, wie die B i s t u m s - u n d K l o s t e r g e s c h i c h t s c h r e i b u n g unter der Normannennot abbrach. In dem von Bretonen und Normannen gleichermaßen gefährdeten Le Mans hörte die Bistumsgeschichte mitten in der Darstellung des Bischofs Aldrich (f 857) auf und wurde erst im 11. Jahrhundert wieder aufgenommen 73 ). In dem zunächst kaum bedrohten Auxerre dagegen, das selbst noch flüchtenden Klostergemeinden Zuflucht bieten konnte und erst 886 die Brandschatzung des Klosters St. Germain durch die Normannen erlebte 74), verfaßten noch um 875 zwei Domherren, Rainogala und Alagus, mit Hilfe des berühmten Heiric eine bis 871 reichende Bistumsgeschichte; eine Fortsetzung fand dieses Werk freilich erst nach dem Ende der Normannenzeit in der Mitte des 10. Jahrhunderts, und diese zeugt dann bereits von dem Einfluß, den Richard, der Begründer der burgundischen Herzogsgewalt, und sein Vizegraf Ragenard auf das Bistum gewonnen hatten 75). Dagegen endete die Arbeit an der Geschichte des Klosters Fontenelle in der Normandie — abgesehen von wenigen dürftigen Zusätzen — schon in den letzten Jahren Ludwigs des Frommen 76). Das Kloster, das sich 841 nur durch eine große Zahlung von den Normannen loskaufen konnte, 852 aber nieder71
) L ö w e , Regino S. 166. ) L. D u c h e s η e , Fastes episcopaux de l'ancienne Gaule l 2 , 2 2 , 3 (1907, 1910, 1915). 73 ) Zu den Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium, ed. G. Β u s s ο η und A. L e d r u (Archives hist, du Maine 2, 1901), vgl. H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h L e v i s o n 3, S. 346 f.; R. L a t o u c h e , Essai de critique sur la continuation des Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium, Moyen-Age 20 (1907) S. 225—275. Erst bei der Korrektur wurde mir bekannt: W. G o f f a r t , The Le Mans Forgeries (1966). [Doch zwingt Goffarts Ergebnis — Entstehung der Bistumsgeschidite im Zusammenhang mit den Fälschungen von Le Mans zwischen 857 und 863 — nicht zur Änderung unseres Textes.] 74 ) W. V ο g e 1, Die Normannen und das fränkische Reich (1906) S. 339. 75 ) Gesta episcoporum Autissiodorensium, ed. L.-M. D u r u (Bibliotheque hist, de l'Yonne 1, 1850) S. 309—509; über Richard und Ragenardus c. 42 S. 367 ff. 7e ) H . L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n 3, S. 343 ff. 72
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gebrannt wurde, und dessen Mönche endgültig seit 885 mit den Reliquien ihrer Heiligen in der Fremde eine Zuflucht suchten, konnte selbst nicht mehr Gegenstand historischer Darstellung sein. Doch zeichneten die Mönche die Wunder ihres Patrons, des hl. Wandregisilus, audi in diesen Zeiten auf 7 7 ), und erst in einer Zeit vorübergehender Ruhe zwischen 875 und 885 verfaßte einer von ihnen aus der Erinnerung ein Annalenwerk, das insbesondere den Kämpfen mit Bretonen und Normannen gewidmet w a r 7 8 ) und dessen letzte Nachricht wohl nicht umsonst dem Jahre 858 galt, in dem die Mönche für mehr als ein Jahrzehnt ihr Kloster verlassen mußten. Nicht aus Mangel an geistiger Energie also fanden diese Kirchengeschichten ein Ende, sondern wegen der Erschütterung des inneren Gefüges der einzelnen Kirchen, die bewirkt wurde durch die normannischen Plünderungen, aber auch durch die starke Inanspruchnahme des Kirchengutes für den König und seine Vasallen. Daher kann man auf dem Felde der H a g i o g r a p h i e einen ähnlichen Rückgang nicht feststellen. Die N o t der Zeit konnte die kirchliche Organisation erschüttern und damit dem Kleriker die Lust und die Möglichkeit nehmen, sich mit ihr historisch zu beschäftigen. Für den Heiligen als den Helfer in der N o t 7 9 ) und damit auch für den Hagiographen schlug gerade in solcher Zeit die große Stunde. Freilich wird man finden, daß das Schicksal der verschiedenen hagiographischen Gattungen, der Heiligenleben (Vitae) und der Translationsberichte sowie der mit beiden verbundenen oder auch selbständigen Wundererzählungen in Ost und West durchaus verschieden war. Die Gattung der Heiligenleben blühte im Ostreich mehr als im Westen 8 0 ). Das ist um so auffälliger, als der Westen sowohl wirtschaftlich als auch literarisch reicher war als der Osten. Im Osten konnte man immer noch an Heilige der jüngst vergangenen Missionsepoche anknüpfen, deren Viten noch zu schreiben, nicht nur zu überarbeiten waren. Der Mönch Ermenrich schrieb die Vita Hariolfs, des Gründers seines Klosters Ellwangen, und die des angelsächsischen Bonifatius-Schülers und Eremiten Sola. Mit der hl. Waldburga wandte sich Wolfhard von Herrieden gleichfalls dem Bonifatius-Kreis zu. Vom Rückgriff auf die Missionszeit zeugen auch die Viten der Friesen- und Sachsenmissionare Lebuin, Willehad und Liudger. Daneben fand man auch in der Gegenwart Heilige wie den irischen Mönch und Reklusen von Rheinau, Findan, dessen Vita noch im ausgehenden 9. Jahrhundert entstand 8 1 ). Das zeitgenössische " ) Miracula S. Wandregisili, MG. SS. 15, S. 4 0 6 ff. 78) Fragmentum Chronici Fontanellensis, MG. SS. 2, S. 301 ff.; Neuausg. auf verbesserter hs.licher Grundlage: J . L a p o r t e , Les premieres annales de Fontenelle, in: Milanges, Documents publies et annotes par P . D a r d e l , Η . de F r o n d e v i l l e et Dom J . L a p o r t e (Soci£te de l'Hist. de Normandie 15® serie, 1951) S. 6 3 — 9 1 . 79) Miracula S. Germani in Normannorum adventu facta c. 5, MG. SS. 15, S. 1 1 : . . . nullumque preter Deum ac beatissimum Germanum seu ceterorum sanctorum patrocinia, qui nos nostrumque defenderet monasterium, haberemus. 80) Dies sah schon W. B r ü g g e m a n n , Untersuchungen zur Vitae-Literatur der Karolingerzeit (Diss. Münster 1957) S. 26 ff. 81) MG. SS. 15, S. 5 0 2 — 5 0 6 .
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Bekehrungswerk im Norden bot berechtigten Grund, auch Ansgars und seines Bremer Nachfolgers Rimbert in Viten zu gedenken 82 ). Die adligen Frauenklöster Sachsens schufen sich ihre eigenen Heiligen und ihre Viten, wie die der Klausnerin Liutbirg 8S ) in Wendhausen, in deren Leben adlige sächsische Hausgeschichte — des Ostfalenführers Hessi aus der Zeit Karls des Großen — verwoben ist, und die der ersten Äbtissin von Gandersheim, Hathumod, in der das Haus der Liudolfinger seine erste Heilige verehrte 84 ). Aber darüber hinaus fehlte es an zeitgenössischen Heiligen und ihren Viten: von denen, die namentlich von Passau aus in der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts die Mission in Mähren betrieben hatten — und zwar mit beachtlichem Erfolg —, ist niemand zum Gegenstand hagiographischer Darstellung geworden. Hier ist nicht an bloße Uberlieferungslücken zu denken 8 5 ); die Verbindung der Heidenbekehrung mit der politischen Expansion hat wohl selbst für die Zeitgenossen eine gewisse Hemmung bedeutet, einen dieser tüchtigen Männer als Heiligen darzustellen. Vor allem haben die bekehrten Mährer, die — anders als vorher die Bewohner des rechtsrheinischen Germanien — ihre politische Unabhängigkeit vom Frankenreich im 9. Jahrhundert zu behaupten wußten, ihre Verehrung nicht den Missionaren aus Passau zugewandt, die gleichzeitig Träger des politischen Einflusses einer fremden Macht waren und schließlich verdrängt wurden. Wer gar, wie der gebildete und lebenskluge Bischof Ermenrich von Passau — selbst ein Hagiograph — dem griechischen Slawenlehrer Methodius mit der Reitpeitsche entgegengetreten war und deshalb schwerste Rügen des Papstes hatte hinnehmen müssen 8 e ), war sicher nicht geeignet, Mittelpunkt einer Heiligenvita zu werden. Im westfränkischen Reich gab es noch weniger zeitgenössische Heiligenleben. Ausnahmen bildeten die — überdies nur in einer Kurzfassung des
) Vita Anskarii auct. Rimberte». Accedit Vita Rimberti, ed. G. W a i t ζ (MG. SS. rer. Germ, in us. schol., 1884). Ober die den Hagiographen besonders fesselnde visionäre Frömmigkeit Ansgars vgl. W. L a m m e r s , Ansgar — visionäre Erlebnisformen und Missionsauftrag, in: Speculum historiale. Festschrift f. J . S ρ ö r 1 (1965) S. 541—558. M) D a s Leben der Liutbirg, hrsg. von O. M e n z e l (MG. Dt. M A . 3, 1937); dazu d e r s., D a s Leben der Liutbirg, Sachsen u. Anhalt 13 (1937) S. 78—89; d e r s . , Die „heilige" Liutbirg, D A . 2 (1938) S. 189—193; W. G r o s s e , D a s Kloster Wendhausen, Sachsen und Anhalt 16 (1940) S. 45—75; Ε. E. S t e n g e l , Fuldaer Urkundenbuch 1, 2 (1956) S. 409 f. N r . 282. M) Agius, Vita Hathumodae, M G . SS. 4, 165—189; zum Vf. vgl. H . B e u m a n n , Einhard und die karolingisdie Tradition im ottonischen Corvey, Westfalen 30 (1952) 172—174, der klargestellt haben dürfte, daß Agius kein leiblicher Bruder der Hathumod war. 85 ) Solche sind natürlich gerade auch für Passau anzunehmen, im Detail aber schwer festzulegen; aus der spätmittelalterlichen Geschichtschreibung hat nodi jüngst Z. R . D i 11 r i c h , Christianity in Great-Moravia (Bijdragen van het Instituut voor Middeleeuwse Geschiedenis der Rijksuniversiteit te Utrecht 33, 1962) S. 61—65, auf verlorene Passauer Annalen schließen wollen. M) M G . Epp. 7, S. 285 f. N r . 22. 82
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16. Jahrhunderts erhaltene — Vita des Griechen Jacob 87), der nach einem Leben am byzantinischen Hofe und im Heiligen Lande schließlich vor 866 als Mönch in Bourges starb, oder die von Prudentius um 850 verfaßte Vita der hl. Maura 88). Handelte es sich hier um Heilige, die keineswegs im Zentrum des westfränkischen Lebens gestanden hatten, so führte die Vita des Bretonen Conwoion, des ersten Abtes des Klosters Redon, die den Hauptbestandteil der zwischen 868 und 875 verfaßten Klostergeschichte bildete, in die Sphäre des bretonischen Widerstands gegen die Frankenherrschaft und gegen die als Simonisten verschrieenen fränkischen Bischöfe 89 ). Randerscheinungen dieser Art vermögen das Bild der Riickwendung der westfränkischen Hagiographie in die Vergangenheit und zur Neubearbeitung älterer Heiligenleben 90) nicht zu beeinträchtigen. Wer mitten im Leben dieser Zeit stand, hatte wenig Aussicht, zum Rang eines Heiligen aufzusteigen. Galt dies schon von einem um das geistige und geistliche Leben seiner Erzdiözese so verdienten Mann wie Hinkmar von Reims, so konnten andere Bischöfe, die etwa in der Normannennot selbst zum Schwerte griffen, um ihre Gemeinde zu verteidigen, so hohen Maßstäben noch weniger entsprechen. Gewiß haben manche Zeitgenossen die bittere Notwendigkeit eingesehen, die hier waltete. Der Mönch Abbo hat den Grafen Odo und den Abt Ebolus gleichermaßen als Verteidiger von Paris gerühmt und kein Bedenken getragen, den kämpfenden Abt, den fortissimus, Mavortius, Marcius oder bellicus abba, dem unbesiegten Grafen durchaus gleichzustellen 91). Noch mehr rühmte — allerdings schon um die Mitte des 10. Jahrhunderts — der Fortsetzer der Bistumsgeschichte von Auxerre den Bischof Gerannus als vir heros pastorque eximius, als inexpugnabilis athleta, der die Normannen auch ohne die Hilfe des Grafen schlagen konnte 92 ). Im Kloster Fleury erzählte man, daß kein anderer als der hl. Benedikt dem Abt Hugo dem Weifen, dem bedeutenden Staatsmann und Heerführer des Westreiches, im Kampf gegen die Normannen helfend vorangeschritten sei 9S). Der Verfasser der Mira87
) M a b i l l o n , Acta SS. OSB. IV, 2, S. 143 ff.; Auszug: B o u q u e t , Recueil des historiens des Gaules et de la France 7, S. 382 f. 88 ) Sermo de Vita et morte gloriosae virginis Maurae, Acta SS. Sept. 6, S. 275—278; Migne, PL. 115, S. 1367—1376. 8e ) Gesta Sanctorum Rotonensium, ed. M a b i l l o n , Acta SS. OSB. IV, 2, S. 193ff.; MG. SS. 15, S. 455—459 (im Auszug). Dieses Bild bei B r ü g g e m a n n (oben Anm. 80). — Die Viten Ados von Vienne (Migne, PL. 123, 9—10, 10 f.) sind späte Machwerke; W. K r e m e r s , A d o von Vienne. Sein Leben und seine Schriften 1 (Diss. Bonn 1911) S. 60—69; O. H o l d e r - E g g e r , N A . 37 (1912) S. 333. el ) Vgl. bes. Abbo I, 68, 94, 108, 242ff., 601; II, 166, ed. W a q u e t S. 20, 22, 34, 60, 78; Abbo II, 436 ff., S. 98, machte bei Ebolus einen anderen Vorbehalt: ni cupidus nimium lascivus, während er seine militärische wie seine literarische Leistung, die ihn zu allem befähigt (omnibus aptus) hätten, voll anerkannte. [Die ausführliche Würdigung Abbos bei F. P r i n z , Klerus und Krieg im früheren Mittelalter (1971), S. 129 ff., kann meine Auffassung nur bestätigen.] • 2 ) Gesta episcoporum Autissiodorensium I, 42, ed. D u r u S. 369. M ) Adelerius, Miracula S. Benedict! c. 41, MG. SS. 15, S. 499.
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cula S. Bertini wollte sogar wissen, daß bei der Verteidigung des Klosters 891 Gott selbst den Pfeil eines jungen Mönchs so gelenkt habe, daß er einen Anführer der Normannen traf, „obwohl dem Mönchsstand das Waffenhandwerk weder erlaubt nodi gewohnt sei" 94 ). Spürt man hier, mit welchen inneren Hemmungen das Auftreten von Geistlichen und Mönchen mit der Waffe in der Hand nur hingenommen werden konnte, so gab es auch Beurteiler, die derartiges kompromißlos ablehnten. Hinkmar von Reims kommentierte zu 882 den Tod des gegen die Normannen gefallenen Bischofs Wala von Metz mit dem Hinweis, d a ß dieser contra
sacram
auctoritatem
et episcopate
ministerium
gehandelt habe 95 ); auch sein Verhältnis zu Abt Hugo dem Weifen blieb kühl. Zu viel Regelwidriges war in der Stellung dieses Mannes, der nach Hinkmar (864) zwar „der Tonsur nach ein Kleriker und nach dem Weihegrad nur ein Subdiakon" war, „aber seinen Sitten und seinem Leben nach nicht einmal einem gläubigen Laien gleichkam" 96). Das Urteil war sicher ebenso einseitig wie situationsbedingt, und Heiric von Auxerre konnte — freilich in dem von dem Weifen geleiteten Germanuskloster — daran festhalten, daß Hugo „dem Namen und dem Amte nach" Abt gewesen sei 97). Doch wenn er hinzufügte, daß Hugo „des großväterlichen Ruhmes eingedenk und der tatkräftige Erbe der väterlichen Macht und Rechtschaffenheit" gewesen sei, dann zeigt diese Einordnung in die weifische Familientradition auch wieder, auf welche Grenzen in der Zeit adliger Parteikämpfe die allseitige Anerkennung eines solchen Mannes und seiner Leistung stoßen mußte. Die Rivalität der großen Familien 98) und die seit den Tagen des Bonifatius und der Kirchenreform Ludwigs des Frommen verfeinerte Auffassung des geistlichen Amtes verhinderten gemeinsam die hagiographische Darstellung eines der zweifellos tüchtigen und das Gebot der Stunde erfüllenden Bischöfe oder Äbte dieser Zeit. Man erinnert sich daran, wie noch zur Zeit des beginnenden ottonischen Reichskirchensystems Ruotger in seiner Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno von Köln,
M ) Miracula S. Bertini c. 10, MG. SS. 15, S. 515. • 5 ) Ann. Bertiniani zu 882 S. 247. *') Ann. Bertiniani zu 864 S. 111. Zu den zeitgenössischen Urteilen über Hugo vgl. F. L o t , BECh. 76 (1915) S. 510 Anm. 2, der die Einseitigkeit von Hinkmars Urteil nicht in Rechnung stellt. " ) Miracula S. Germani II, 5, MG. SS. 13, S. 402, D u r u 2 (1863) S. 161; während L o t a . a . O . hier „les έ ^ ε β interess^s d'Heric" sieht, findet J. W o l l a s c h , Das Patrimonium beati Germani in Auxerre, in: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutsdien Adels, hrsg. v. G. T e i l e n b a c h (Forschungen zur oberrhein. Landesgesch. 4, 1957) S. 207, „ein ausführliches, gewisse Reserven nicht verbergendes Lob"; zu den Reserven S. 210 f. — Sehr positiv urteilte Adelerius, Miracula S. Benedict! c. 41, MG. SS. 15, S. 499: ...nisi Hugo nobilissimus abb as strenue rem publicum gubernans, cum armis, tum consiliis suis et virtute eius barbaricos conatus reprimendo, maximum ex eis manum peremisset. M ) Darüber zuletzt die die bisherigen Forschungen zusammenfassenden Ausführungen von K. F. W e r n e r , Bedeutende Adelsfamilien im Reich Karls d. Gr., in: Karl der Große 1 (1965) S. 83—142, die methodisch und inhaltlich über die Zeit Karls hinausgreifen.
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des Bruders Ottos des Großen, die reichskirchliche Vereinigung des weltlichen und geistlichen Aufgabenbereichs zu verteidigen hatte " ) . Andererseits — sollte man meinen — hätte der Abwehrkampf gegen die heidnischen Normannen genügend Anlaß bieten können, einen der führenden adligen Herren als Heidenbekämpfer und Beschirmer der Kirche zum Gegenstand eines Heiligenlebens zu machen. Der Typus des geistlichen Adelsheiligen, wie er sich längst herausgebildet hatte 10 °), verlangte an sich nach der Ergänzung durch den weltlichen Herrn, der zum Heiligen wurde. Die Ansätze dazu waren vorhanden, seit Alchvine die Bemühungen seiner Zeit um die christliche Königsethik ergänzt hatte durch einen ersten Blick auf die den Adel angehenden Fragen christlicher Sittenlehre 1 0 1 ). Dieser Adel, der unter den Impulsen der karolingischen Geistesbewegung sogar schriftstellernde Laien wie Einhard und Nithard hervorgebracht hatte und noch in der 2. Jahrhunderthälfte Gebildete in seinen Reihen sah, die beachtliche Bücherschätze besaßen 1 0 2 ), übernahm im zunehmenden Maße die Königsaufgaben des Kirchenschutzes und der Heidenbekämpfung. So ist es kein Zufall, daß gerade ein Angehöriger der höchsten Adelsschicht, der Markgraf Eberhard von Friaul, der Gemahl einer Tochter Ludwigs des Frommen, der im Jahre 854 die Reliquien des hl. Calixt in sein Familienkloster Cysoing in der Diözese Noyon 1 0 3 ) hatte überführen lassen, in dem noch vor 891 entstandenen Translationsbericht bereits Züge eines Heiligen erhielt. Ihm wurde nachgerühmt, daß er als miles Christi nicht träge und kalt im Glauben gewesen sei, sondern im Krieg gegen die heidnischen Slawen das Reich des Teufels verkleinert und das Haus der katholischen Kirche erweitert habe 1 0 4 ). Wenn er dabei als miles Christi, als vir Dei oder vir Domini bezeichnet wurde, so waren dies Epitheta, die auch für Heilige üblich waren 1 0 5 ). Ähnlich sah sich Robert der Tapfere, der Begründer des Hauses der Capetinger, im Bericht des ostfränkischen Reichsannalisten zu 867 wegen seiner Bretonen- und Normannenkämpfe als ein Machabaeus der Gegenwart gefeiert, ")
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Η . Η ο f f m a η η , Politik und Kultur im ottonischen Reichskirchensystem. Zur Interpretation der Vita Brunonis des Ruotger, Rhein. Vjbll. 22 (1957) S. 3 1 — 5 5 ; F . L o t t e r , Die Vita Brunonis des Ruotger, ihre historiographische und ideengeschichtliche Stellung (Bonner Hist. Forschungen 9, 1958). K. B o s l , Der „Adelsheilige". Idealtypus und Wirklichkeit, in: Speculum historiale. Festschr. f. J . S ρ ö r 1 (1965) S. 1 6 7 — 1 8 7 ; vgl. ferner Fr. P r i n z , Frühes Mönchtum im Frankenreich (1965) S. 496 ff. H . L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n 2, S. 233 Anm. 224, über Aldivines De virtutibus et vitiis. P. R i e h e , Les bibliotheques de trois aristocrates laics carolingiens, Moyen-Age 6 9 (1963) S. 8 7 — 1 0 4 . Das Kloster lag nach der Translatio S. Calixti Cisonium c. 4, MG. SS. 15, S. 420, in pago Tornacensi, aber, da das Bistum Tournai seit Ende des 6. Jahrhunderts aufgehoben war, in der Diözese Noyon. Die Korrektur an meiner Angabe ( W a t t e n b a c h - L e v i s o n 4, 419 Anm. 136) durch N . - N . H u y g h e b a e r t , Rev. Beige de Philol. et d'Hist. 43 (1965) S. 769, ist daher unberechtigt.
) Translatio S. Calixti c. 3, MG. SS. 15, S. 419. ) Ebd. c. 3 S. 4 1 9 : miles Christi; S. 4 2 0 : vir Dei; c. 5 S. 4 2 0 : vir
Domini.
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und dem Annalisten lag der Gedanke nicht fern, daß die Taten Roberts vollständig aufgezeichnet werden könnten 1 0 6 ). Warum dies dann doch nicht geschah, ergibt sich aus dem negativen Urteil Hinkmars von Reims, der in Roberts Kampfestod die Strafe Gottes dafür zu finden glaubte, daß Robert als Laienabt die Abtei St. Martin zu Tours besessen hatte 1 0 7 ). Es bedurfte erst der neuen, von Cluny auf die Adelswelt ausstrahlenden erzieherischen Impulse, um aus der Feder des großen Odo von Cluny die Vita eines Laienheiligen, des Grafen Gerald von Aurillac ( f 909), entstehen zu lassen, die freilich ebensosehr ein Adelsspiegel wie ein Geschichtswerk w a r 1 0 8 ) . Auch die Vita, die ihren Heiligen in der Vergangenheit suchte, konnte Gegenwartsakzente erhalten 1 0 9 ). So ist wohl frühestens in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts in die Vita des von Karl Martell verbannten Bischofs Eucherius von Orleans die zuerst 858 belegte Vision eingefügt worden, die Karl Martell wegen der Einziehung des Kirchengutes in die Hölle verwies n o ) . Zwar durchzieht die Kritik am Verhalten der Karolinger in der Kirchengutsfrage das ganze 9. Jahrhundert, doch bleibt es bedeutsam, daß ein Reimser Kleriker wohl um 900 die Vita des von Karl Martell zeitweise vertriebenen Bischofs Rigobert schrieb und mit diesem Hinweis auf einen von einem Karolinger bedrängten Reimser Heiligen deutlich machte, wie weit der alte Ruf der Karolinger als Schirmherren der Kirche schon erschüttert war m ) . Neben den Heiligenleben stand eine beträchtliche Zahl von Translationsberichten. Ihr Charakter war freilich in Ost und West nicht unbedingt derselbe. Im Osten gab es die herkömmlichen Berichte über Reliquienübertragungen aus Gallien und Italien in die neuchristlichen Gebiete des rechtsrheinischen Germanien, insbesondere nach Sachsen 1 1 2 ). Diese Translationen waren ein Teil der inneren Christianisierung, die der Bekehrungszeit folgte, des Aufbaues einer christlichen Kultur und dabei nicht zuletzt auch der Bemühungen des ) Ann. Fuldenses 867 S. 66. ) Ann. Bertiniani 866 S. 131. 108) y ; t a s Geraldi, Migne, PL. 133, S. 639 ff.; C. Ε r d m a η η , Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (1955) S. 78 ff.; J . F e c h t e r , Cluny, Adel und Volk (Diss. Tübingen 1966) S. 54 ff. 109) Grundsätzlich zu diesem Problem vgl. H . R a i l , Zeitgeschichtliche Züge im Vergangenheitsbild mittelalterlidier, namentlich mittellateinischer Schriftsteller (Eberings Hist. Studien 322, 1937). W. L e ν i s ο η , Die Politik in den Jenseitsvisionen des früheren Mittelalters, in: d e r s., Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit (1948) S. 240 f. m ) W. L e v i s o n , in: W a 11 e η b a c h - L e ν i s ο η 2, S. 168 Anm. 12, 2 4 9 ; E. L e s n e , Moyen-Age 26 (1913) S. 325 Anm. 1; L. L e v i l l a i n , Moyen-Age 51 (1941) S. 177 Anm. 149, hält erst Flodoard für den Verfasser. Zur historischen Beurteilung vgl. die Bemerkung von F. P r i n z , Arbeo von Freising und die Agilulfinger, Zs. f. bayer. Landesgesdi. 29 (1966) S. 587 f. 112) Kl. H o n s e l m a n n , Die Annahme des Christentums durdi die Sadisen im Lidite sächsischer Quellen des 9. Jhs., Westfäl. Zs. 108 (1958) S. 2 0 1 — 2 1 9 , fußt im wesentlichen auf der sächsischen Hagiographie, insbes. den Translationen; d e r s., Gedanken sächsischer Theologen über die Heiligenverehrung, Westfalen 40 (1962) S. 3 8 — 4 3 . ,oe
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Adels um seine Eigenklöster. Gerade in Sachsen sieht man, welche letzten Endes auch politische Bedeutung für Land und Volk man dem Erwerb der Reliquien und ihrer wunderbaren Kraft zumaß. Als im Jahre 864 der Bischof Altfried von Hildesheim die Reliquien des hl. Marsus aus Auxerre in das von ihm gegründete Stift Essen übertragen ließ, da forderte ein Essener Kanoniker, offensichtlich ein Sachse, in einer Predigt das Sachsenland auf: „Freue dich und jubele, Sachsen, daß du einen solchen Patron erlangt hast", und er sah den besonderen Grund zur Freude darin, daß Sachsen durch die Translationen nun den Schutz und die Wunderkraft von Heiligen gewinne, die eigentlich anderen Ländern gehört hätten 113). N u r wenig spitzte ein Jahrhundert später der sächsische Geschichtschreiber Widukind von Corvey diesen Gedanken zu, indem er von der Übertragung des hl. Veit nach Corvey den Abstieg der Franken und den Aufstieg der Sachsen datierte, die aus Knechten zu Freien und aus Zinspflichtigen zu Herren vieler Völker geworden seien 114). Translationsberichte dieser Art kannte auch der Westen. Im Kloster Fleury schilderte der Mönch Adrevald die Uberführung der Gebeine des hl. Benedikt aus dem zerstörten Monte Cassino und seine späteren Wunder auf dem breit ausgeführten Hintergrund einer Geschichte Italiens und des Westens seit den Langobardeneinfällen 115). Das Reimser Kloster Hautvillers erhielt 840 aus Rom die angeblichen Reliquien der hl. Kaiserin Helena, und im Auftrage Hinkmars verfaßte der Mönch Altmann ihre Lebensbeschreibung und den Translationsbericht 116 ). Die Echtheit der Reliquien war im Auftrag Karls des Kahlen durch Hinkmar eigens überprüft worden. So gut nun der Besitz der Helena-Reliquien in den politischen Gedankenkreis eines Herrschers paßte, der sich als „Neuen Konstantin" akklamieren ließ und in seiner Herrschaftssymbolik griechisch-byzantinischem Vorbild folgte 117), so erstaunlich ist doch, daß Karl der Kahle diesen Reliquienschatz nicht in den Dienst der kirchlichen Repräsentation seines Königtums stellte und daß die Helena-Reliquien nicht den Weg in die Pfalz zu Compi^gne fanden, die Karl im Jahre 877 mit der Errichtung eines Marienstiftes nach dem Vorbild Aachens glanzvoll auszugestalten suchte. Die Ursache dafür lag vermutlich in der intimen Feindschaft Karls mit Hinkmar von Reims, der seiner Kaiserpolitik seit 875 mit Skepsis l13
) Kl. H o n s e l m a n n , Eine Essener Predigt zum Feste des hl. Marsus aus dem 9. Jh., Westfäl. Zs. 110 (1960) S. 199—221, bes. c. 8, 10, S . 2 1 2 ; d e r s . , ebd. 108 (1958) S. 215 Anm. 33. "*) Widukind, Res gestae Saxonicae I 34, ed. Ρ. Η i r s c h u. H.-E. L ο h m a η η (MG. SS. rer. Germ, in us. schol., 1935) S. 48. 115 ) Acta SS. Mart. 3, S. 305—315; Migne, PL. 124, S. 909—948; Exc., MG. SS. 15, S. 474 bis 497. Ober die Einstellung des Vf. zur Reidisaristokratie vgl. unten Anm. 132. " · ) Vita S. Helenae imperatricis, Acta SS. Aug. 3, S. 580—599; Translatio ebd. S. 601—603 n. 10—17; über die Echtheitsprüfung vgl. den Bericht des Abtes Notdier: De translatione facta an. 1095, Acta SS. Aug. 3, S. 603; B o u q u e t 7, S. 380; zu A l t m a n n vgl. E. E w i g , Kaiserliche und apostolische Tradition im mittelalterlichen Trier, Trierer Zs. 24/26 (1956/58) S. 153—158. 1I7 ) Darauf verwies E w i g ebd. S. 156 Anm. 53.
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gegenüberstand 118) und wohl auch kein Interesse daran hatte, die Erinnerung an die Kaiserin Helena allzu lebendig werden zu lassen, da diese eine Stütze der für Reims nicht ungefährlichen Primatsansprüche der Trierer Kirche bildete 119). So ging infolge der politischen Divergenzen zwischen Karl und seinem Erzbischof die sich hier bietende Möglichkeit großer staatssymbolisdier Formgebung ebenso ungenutzt vorbei wie ihre angemessene hagiographische Fundierung. Im übrigen gewann die Gattung der Translationsberichte im Westen eine neue, dem Osten in seiner anderen Situation fremde Bedeutung. Je verheerender die Normanneneinfälle sich auswirkten, die ein gequälter Zeitgenosse einmal mit der „Überschwemmung" der römischen Welt durch die Goten 120) verglich, desto mehr wurden die Heiligen selbst, d. h. ihre Reliquien als der kostbarste Besitz der Kirchen, gefährdet. So nahmen die vor den Normannen flüchtenden Mönche auch ihre Reliquien mit sich, und aus den Berichten über diese „Translationen" wurde eine „Flüchtlingsliteratur". So ging die Flucht der Mönche des hl. Philibert, die Ermentarius beschrieb, von der Insel Noirmoutier vor der Loiremündung nach Deas 836, nach Cunauld an der Loire 858 und nach Messay en Poitou (862), um schließlich 875 in Tournus an der Saone zwischen Chalon und Mäcon am Rande des westfränkischen Burgund, in einer Zone relativer Sicherheit, zu enden m ) . Dorthin führte audi der Weg der Mönche des hl. Maurus aus Glanfeuil und des hl. Viventius, der aus dem Kloster Gravio nahe der Atlantikküste zwischen Loire und Charente über Biarne schließlich nach Vergy südlich Dijon gelangte 122). Solche Translationsberichte ebenso wie die zeitgenössischen Wundererzählungen entstanden oft unter dem 1,e
) Vgl. oben Anm. 28, 29, 32. ) E w i g (oben Anm. 116) S. 157 Anm. 59 betont seinerseits die „geringe hs.lidie Verbreitung der Vita Helenae in der Reimser Diözese" und hält für möglich, daß sich wegen des Trierer Primatsanspruchs „bei Hinkmar mit der Zeit Bedenken gegen den Helenakult in Hautvillers einstellten". Übrigens erwähnt Hinkmar Helena in den Ann. Bertiniani 864 S. 106; bei Zusammenstößen in Rom zerbrach das von ihr gestiftete Kreuz: crux mirabilis et ueneranda a sanctae memoriae Helena decentissime fabricata, in qua lignum uiuificae crucis posuit et sancto Petro munere maximo contulit. 1M ) Miracula S. Vedasti II, 2, MG. SS. 15, S. 399, über die Rückführung der Reliquien des Heiligen: Videres totam florere provinciam et quasi post diluvium Getarum tripudiare Franciam. lle
m
)
Vgl. Ermentarius, De translationibus et miraculis S. Filiberti, ed. R. P o u p a r d i n in: Monuments de l'histoire des abbayes de St.-Philibert (Noirmoutier, Grandlieu, Tournus) (Collection de Textes pour servir 4 l'itude et «l l'enseignement de l'histoire 38, 1905) S. 19—70. ,22 ) Brief des Abtes Odo von Glanfeuil, MG. SS. 15, S. 462 f.; Translatio Viventii, Acta SS. Jan. 1, S. 804—814; über das feste Dijon als Zufluditsort vieler Reliquien sagen die Miracula S. Prudentii II, 3, c. 39, Acta SS. Oct. 3, S. 361: Proinde multa sanctorum corpora Divioni sunt invecta, utpote quod munitissimum et inexpugnabile prae caeteris videretur, et egregii ducis Burgundiae, Richardi nomine, ibidem commanentis metuenda lange lateque celebraretur potentia. Weniger weit war der Weg des hl. Vedastus: Sermo de relatione corporis beati Vedasti a Bellovaco, MG. SS. 15, S. 402 ff., oder der des hl. Wandregisilus: Miracula S. Wandregisili quae moderno tempore per eum operatus est Dominus, SS. 15, S. 407 f.; zur Translation nach Chartres 885 ebd. S. 409.
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unmittelbaren Eindruck schreckens voller Ereignisse; sie besitzen dann — vom mittelalterlichen Wunderglauben einmal abgesehen — einen hohen Wirklichkeitsgehalt. Die häufige Klage, daß die Normannen keinen wirklichen Widerstand fänden 1 2 3 ), verband sich gelegentlich mit verfassungsgeschichtlich interessantem Detail: bei der erfolgreichen Verteidigung von St. Bertin war man ζ. B. auf die nichtvasallitischen Freien angewiesen, weil alle Vasallen ihren Herren auf einen Feldzug außer Landes gefolgt waren 1 2 4 ). Mehr noch aber lassen diese Klagen eine allmählich um sich greifende Lähmung des Widerstandswillens, eine zunehmend defaitistische Stimmung verspüren. Schon in den 50er Jahren klagte Ermentarius 1 2 5 ), daß vor den Normannen alle die Flucht ergriffen, daß selten einer die Männer zur Verteidigung ihres Vaterlandes und ihrer Familien aufriefe: „So kaufen sie, in Untätigkeit erstarrt und untereinander streitend, mit Tributen zurück, was sie mit Waffen hätten verteidigen sollen, und das Reich der Franken wird zugrunde gerichtet". Andererseits erschienen die adligen Herren, welche rücksichtslos Kirchengut an sich zu bringen suchten, den Hagiographen oft als ebenso schlimm wie die Normannen 1 2 6 ). Dann mußte auf die Hilfe der Heiligen nicht nur gegen die letzteren, sondern auch gegen die adligen Unterdrücker vertraut werden, und die Normannen erschienen in solchen Fällen als Vollstrecker des göttlichen Strafgerichtes nicht nur an den Sünden der christlichen Welt schlechthin, sondern ganz besonders an den adligen Herren 1 2 7 ). Dabei konnte es durchaus geschehen, daß derselbe Graf Manasses von Dijon, der Intimus Richards von Burgund, gefeiert wurde, weil er dem hl. Viventius zu Vergy ein neues Kloster baute 1 2 8 ), während ihn die Bistumsgeschichte von Auxerre unter die Kirchenräuber ) In diesem Zusammenhang ist audi Abbo (oben Anm. 54) zu vergleichen. Auch in der Annalistik ist die Klage häufig: ζ. B. nemine ... resistente, Ann. Vedastini 879 S. 44; 883 S. 54; 889 S . 6 7 ; 896 S. 78; Ann. Bertiniani 845 S. 49; 852 S.64; Adrevald, Miracula S. Benedicti c. 33, MG. SS. 15, S. 495 Z. 13: nulla scilicet bellica obviante manu; Miracula S. Germani c. 3, MG. SS. 15, S. 10 f.: Omnes enim principes bellatorum, qui ipsam incolebant terrain, ... magis se ad fugiendum quam resistendum, nimia perculsi formidine, preparabant; c. 4 S. 11: nemine resistente; c. 12 S. 12. 124 ) Miracula S. Bertini c. 8, MG. SS. 15, S. 513; auf diese Stelle verwies F.-L. G a n s h o f , La Belgique Carolingienne (1958) S. 74. 125 ) Ermentarius, De translationibus et miraculis S. Filiberti II, praef., ed. Poupardin S. 62. — Ein Element der Resignation liegt auch in Wendungen über die Normanneneinfälle wie: Deo permittente, flagitiisque exigentibus nostris (Miracula S. Wandregisili c. 2, MG. SS. 15, S. 407); ähnlich Miracula S. Remacli II 1, ebd. S.439; Adrevald, Miracula S. Benedicti c. 33, ebd. S. 495. 12e ) Odo von Glanfeuil, Miracula S. Mauri c. 12, MG. SS. 15, S. 470 f.: paganis deteriores; Adrevald, Miracula S. Benedicti c. 21, MG. SS. 15, S. 489; Gesta episcoporum Autissiodorensium c. 42, ed. D u r u 1, S. 368, heißt es von Bischof Gerannus: ...quam pie vixerit, quantasque a prefato Ragenardo atque a barbarica Normannorum gente pro suo suorumque munimine persecutiones passus sit, saltern succincte expedire licebit. 127 ) Odo, Miracula S. Mauri c. 12, MG. SS. 15, S. 471, über Tod und Gefangenschaft adliger Herren durch die Normannen: Per omnia benedictus Deus, qui tradidit impios. Zum Gedanken der Sündenstrafe vgl. oben Anm. 125. 128 ) Vita Vivendi, ed. Β ο u q u e t 9, S. 130 f. 12S
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zählte 129). Die Einstellung zum Adel war also — je nach der Stellung der betreffenden Kirche, der Familien- und Parteizugehörigkeit des Hagiographen — verschieden; die Methoden adliger Herrschaftsbildung konnten in ihren Auswirkungen bald positiv, bald negativ empfunden werden. So wurde die Hagiographie auch in diesem Bereich der getreue Spiegel einer erschütterten Welt. Deutlicher als die knapp orientierenden Annalenwerke erfaßte sie das Schicksal des einzelnen Menschen, nicht nur des Adligen und des Geistlichen, sondern auch des kleinen Mannes, der armen Bäuerin, die im gläubigen Vertrauen den hl. Vedastus als ihren Rinderhirten betrachtete 130 ), oder des Knechtes, dem sein Herr die Erlaubnis, zur Heilung seines Augenleidens zum hl. Philibert zu pilgern, erst gab, als er aus dem Erblindeten keine Arbeitsleistung mehr herauspressen konnte 131). Wenn sich in der Hagiographie in dieser Weise die Macht, aber audi der Machtmißbrauch und das Versagen des Adels manifestieren konnten, so war dies möglich, weil es in karolingischer Zeit noch eine Schicht von Freien unterhalb des Adels gab, die ihre Stimme in der Kirche trotz der beherrschenden Stellung des Adels noch zu Gehör bringen konnte, und weil die Vertreter der Kirche im Niedergang des Königtums keineswegs überall mit fliegenden Fahnen in das Lager des aufsteigenden Fürstentums übergegangen waren. Nicht jeder Hagiograph lebte so sehr in der Vorstellungswelt der Hocharistokratie wie jener Adrevald von Fleury, der in seinen Miracula S. Benedicti auch die Bedeutung der adligen Führungsschidit für die Herrschaftsbildung der Karolinger beleuchtete, mit höchster Empfindlichkeit auf die Wahrung des adligen Rechtes bedacht war und rückblickend Ludwig dem Frommen den Vorwurf machte, er habe durch sein Verhalten die Großen gezwungen, ihre Freiheit gegen ihn zu verteidigen 132). Daß sich ge129
) Gesta episcoporum Autissiodorensium c. 42, ed. D u r u 1, S. 368 f.: . . . Manasses frater eius potentissimus omnibus tunc temporis Gallicanis divitibus ditior, cunctorumque consiliorum arcbanissimus perscrutator, unde et regibus et optimatibus cunctis usque ad extremos orbis cardines famosissimus, Narciacum villam in suos usus redigere non exhorruit. 1S0 ) Miracula S. Vedasti auct. Haimino I, 6, MG. SS. 15, S. 398. 131 ) Ermentarius I, 74, ed. P o u p a r d i n S. 51: Tunc dominus ejus cum nil servitii ex eo posset extorquere.. .; etwas anders liegt der Bericht Wandalberts, Miracula S. Goaris c. 16, MG. SS. 15, S. 368, von der blinden und stummen Unfreien, die geheilt wurde und abermals erkrankte, nadidem der Herr sie wieder in seinen Dienst gezogen hatte, und die endgültige Heilung erst nach der Freilassung fand; offensichtlich die Vorstellung, daß die Heilkraft des Heiligen nicht dem Herrn zur Gewinnung einer Arbeitskraft dienen wollte. Ähnlich die Erzählung Wolfhards, Miracula S. Waldburgis c. 12, MG. SS. 15, S. 554. tS2 ) Miracula S. Benedicti c. 27, MG. SS. 15, S. 491: Qua de re actum est, ut, dum imperator nobilitatem veteranorum deponendo insequitur, at hii memores pristinae virtutis defensare libertatem nituntuT . . . ; kurz darauf folgt die von E. Z ö l l n e r , Die politische Stellung der Völker im Frankenreich (1950) S. 236 Anm. 22, zitierte Stelle über die Verärgerung der Francorum primores durch die Heranziehung von Sachsen, Thüringern, Bayern und Alamannen; c. 18, S. 486 über die Heranziehung der Reichsaristokratie zur Beherrschung eroberter Gebiete und die Klage über das Aufsteigen Unfreier zum Grafenamt. Diese Klagen, die man nicht zu wörtlich nehmen darf, lassen immerhin die Empfindlichkeit der fränkisdien Führungsschicht erkennen.
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rade in den Klöstern noch ein nichtadliges Element behauptete, zeigt ein drastischer Bericht aus Le Mans, nach dem eine Adelsfamilie einem jungen Verwandten, der zum Kanoniker bestimmt war, den Ubertritt zum Mönchtum mit allen Mitteln auszureden suchte, da sie es nie mit Armen und Bettlern zu tun gehabt hätte 1 3 3 ). Und gegen alle sonst geltende Regel 134 ) konnte in Mainz der Priester Liutolf mit behaglicher Breite eine italienische Uberlieferung wiedergeben, nach der der hl. Severus vom armen Wollweber zum Erzbisdiof von Ravenna aufgestiegen war 135). Wir stehen am Ende unseres Uberblicks über die Gesdiiditschreibung des ausgehenden 9. Jahrhunderts. Sie bestätigte — mit besonderer Deutlichkeit im Westen — Hinkmars Bild 13e) eines von außen bedrohten, im Inneren erschütterten und ungefestigten Reiches, der Enttäuschung über die Schwäche des Königtums, aber weitgehend auch des Adels, dem neben großen Leistungen doch manches Versagen und eigennütziger Machtmißbrauch vorgeworfen werden konnte. Von solchen Äußerungen her versteht man es, daß manche Autoren trotz allen christlichen Gottvertrauens die Unabwendbarkeit des Niederganges ins Auge faßten. Sie erkannten ihn christlich als die von Gott verhängte Strafe für die Sünder und Prüfung für die Gerechten; aber sie gaben gelegentlich ihrer Auffassung antikisierende Form, indem sie vom Walten der forrtuna sprachen, um die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber dem verhängnisvollen Lauf der Geschichte auszudrücken. Es ist kein Zufall, daß solche Stimmen gerade im alten fränkischen Kerngebiet zwischen Loire und Rhein begegnen, in dem die inneren und äußeren Probleme des Reiches schärfer aufgebrochen waren als ostwärts des Rheines. Schon im Bruderkrieg nach dem Tode Ludwigs des Frommen hatte Nithard, der Geschichte schreibende Enkel Karls des Großen, das Gefühl gehabt, vom Wirbelwind der Gesdiichte und von der Fortuna umhergetrieben zu werden 137). Später hatte Heiric von Auxerre in der Widmung seiner poetischen Vita S. Germani Karl den Kahlen als philosophierenden König ebenso gelobt wie wegen seiner virtus und sapientia; dann 13
®) Narratio de monacho Cenomanensi ad canonicam vitam et habitum converso, Migne, PL. 129, S. 1263—1268. 1M ) Vgl. B r ü g g e m a n n , Untersuchungen zur Vitae-Literatur, S. 92 f.; vgl. zu Notker oben Anm. 49. 135) y ; t a s. Severi c. 4, MG. SS. 15, S. 291: Nec mirandum, quod homo plebeius et idiota subito magister et doctor aecclesiae fieri potuit; nam dominus noster Iesus Christus non rethores, non philosophos, sed piscatores elegit et per universum mundurn praedicare destinavit. Der seit der Spätantike wohlbekannte, bildungsgeschiditlidi bedeutsame Topos von den Rednern und Fischern gewinnt hier die früher in diesem Maße nicht gegebene Nuance des sozialen Aufstiegs. 1S «) Vgl. oben Anm. 29. 1S7 ) Nithard, Historiae, Vorreden zu Budi I, III, IV, ed. E. M ü l l e r (MG. SS. rer. Germ, in us. schol., 1907) S. 1: quanto me nostis eodem turbine, quo et vos, ... esse agitatum; S. 27 f.; S. 39: Sed quoniam me de rebus universis fortuna hinc inde iunxit validisque procellis moerentem vehit, qua partum ferar, immo vero poenitus ignoro. Vgl. H. L ö w e , in: W a t t e n b a c h - L e v i s o n 3, S. 355.
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aber war ihm die Bemerkung entschlüpft, er wisse wohl, daß das, was man heute „Staat" (res publica) nenne, so sehr mit Gebrechen aller Art behaftet sei, daß weite Kreise mit Recht an einer Heilung verzweifelten, weil er weder durch virtus unterworfen, nodi durch sapientia gelenkt werden könne; er machte also nicht Karl dem Kahlen persönlich einen Vorwurf — er besaß ja virtus und sapientia —, sondern er wies auf einen strukturbedingten, von Karl nicht mehr zu beeinflussenden Tatbestand hin 138). Nicht viel anders hat dann Regino von Prüm erklärt, zur Auflösung des Reiches nach der Absetzung Karls III. sei es gekommen, „nicht etwa, weil es den Franken an Fürsten gefehlt hätte, die durch Adel, Tapferkeit und Weisheit über die Reiche hätten herrschen können, sondern weil unter ihnen selbst die Gleichheit der Abkunft, der Würde und der Macht die Zwietracht steigerte, da niemand den anderen so überlegen war, daß die anderen sich dazu verstanden hätten, sich seiner Hoheit zu beugen. Denn viele zur Lenkung des Reiches geeignete Fürsten hätte Francien hervorgebracht, wenn die fortuna sie nicht im Wetteifer der virtus zu gegenseitigem Verderben gewaffnet hätte" 139). Diese Stimmen der Einsicht in die Grenzen des dem Menschen Möglichen unterscheiden die Geschichtschreiber der karolingischen Spätzeit am meisten von jenen Anfängen unter Karl und selbst noch unter Ludwig, in denen die Hochstimmung des Neubeginns und der Gedanke der Reform den Geist der Gebildeten beflügelt hatten.
) MG. Poet. Lat. 3, S. 428 f.: subinde in spes optimas erigor eiusque saepenumero, ante nos dicta est, sententiae veritate repungor, Jelicem fore rempublicam, si vel sopharentur reges vel philosophi regnarent'. Quanqttam non insciens sim earn, quae respublica dicitur, usque adeo vitiorum omnium proluvie obsolevisse, ut de eius merito desperetur a pluribus, quod nec virtute subigi nec sapientia patitur moderari. ls ») Reginonis Chronicon 888, ed. K u r z e S. 129.
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quae philonunc salute
Von den Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit Die Frage nach dem Geltungsbereich des mittelalterlichen Kaisertums ist lange umstritten worden. Bemühten sich die einen um den Nachweis, daß das Mittelalter einen kaiserlichen Weltherrschaftsanspruch kannte, so wurde dieser von anderen mit ebenso guten Gründen geleugnet. Ein entscheidender Schritt wurde getan, als Robert Holtzmann die These aufstellte, der Kaiser habe sich über die Könige zwar nicht durch eine umfassende Befehlsgewalt, „potestas", wohl aber durch eine „auctoritas" erhoben, der die Könige sich freiwillig gebeugt hätten 1 ). Doch die feine Differenzierung von „auctoritas" und „potestas", die kurz zuvor Erich Caspar in der Zweigewaltenlehre des Papstes Gelasius nachgewiesen hatte — nicht ohne daß sich gegen diese Deutung inzwischen Widersprudi erhoben hätte 2 ) —, ist ein Stüde antiker Terminologie, das schon in der Spätantike so nicht mehr galt und gar im Mittelalter durchaus nicht immer verstanden und oft durch andere Begriffe ersetzt worden ist 3 ); man könnte fragen, ob es als Zentralbegriff zur Definition mittelalterlichen Kaisertums überhaupt verwendbar ist. Darüber hinaus ist betont worden, daß der Anspruch universaler kaiserlicher Geltung, „auctoritas", in der Wirklichkeit nicht durchgedrungen ist 4 ). „Und dodi", so hat Fr. Kempf jüngst zusamErweiterte und um die Fußnoten vermehrte Fassung eines am 25. 3. 1957 im Deutschen Historischen Institut in Rom gehaltenen Vortrags. — D A . 14 (1958) S. 345—374. ') R . H o l t z m a n n , Der Weltherrschaftsgedanke des mittelalterlichen Kaisertums und die Souveränität der europäischen Staaten, H Z . 159 (1939) S. 251 ff. (auch gesondert erschienen 1953). Auf eine vollständige Anführung der Literatur zur Kaiseridee kann hier verzichtet werden; eine vorzüglidie Zusammenfassung bietet R . F ο 1 ζ , L'idee d'empire en Occident du V e au X I V e si£cle (Paris 1953). 2 ) E. C a s p a r , Geschichte des Papsttums 2 (1933) S. 64 ff., 753 ff.; dazu W. E n ß l i n , Auctoritas und Potestas, H J b . 74 (1955) S. 661—668. [Dazu vgl. die unten S. 234 Anm. 17 zitierte Literatur.] a ) D a s zeigte schon L. K n a b e , Die gelasianisdie Zweigewaltentheorie bis zum Ende des 4
Investiturstreits (Diss. Berlin 1936) S. 13 A. 4. ) Vgl. die unten Anm. 6 genannte Arbeit von B a r r a c l o u g h ; ferner W. H o l t z m a n n , Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Geisteswissenschaften 7, 1953) S. 18 Anm. 20 (wenig verändert wiederholt: Imperium und Nationen, Relazioni, X . Con-
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menfassend formuliert 5 ), „kommen wir wohl kaum daran vorbei, die ,auctoritas' als juristisch undefinierbare, irrationale Größe ernst zu nehmen, vor allem für das 10. und 11. Jh." „Der universale Charakter des Imperiums, mit viel Pathos herausgestellt, beruhte auf keiner tragfähigen staatsrechtlichen Grundlage, sondern auf der faktischen Vormacht des Reiches und auf dem irrationalen Element der imperialen ,auctoritas"'. Die Diskussion um die kaiserliche „auctoritas" ist vorwiegend geführt worden im Hinblick auf das Kaisertum des Hohen Mittelalters seit dem 10. Jahrhundert. Für die Karolingerzeit scheint man diese Frage nicht für vordringlich gehalten zu haben, offensichtlich deshalb, weil Karl der Große ganz anders als die Ottonen oder Salier nahezu das ganze Abendland wirklich beherrschte und die nicht zum Reich gehörigen Außengebiete, England und Asturien, demgegenüber nicht ins Gewicht zu fallen schienen. Das Phänomen der kaiserlichen „auctoritas" im Hochmittelalter, insbesondere das Wechselspiel von „auctoritas" und tatsächlicher Vormacht, wird aber noch besser verstanden werden können, wenn man es unternimmt, die Beurteilung des Kaisertums außerhalb gresso Internazionale di Scienze Storidie 3, 1955, S. 291). Der von Holtzmann hier mit Recht hervorgehobene Unterschied zwischen dem vielzitierten Brief Heinrichs II. von England an Friedrich Barbarossa (1157) und der sonst — durch Johann von Salisbury und die praktische Politik des Königs selbst — bezeugten politischen Auffassung des letzteren dürfte sich bei näherem Hinsehen beheben lassen. Ein Mitglied meines Seminars, Herr cand. phil. Gerhard Fink, hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Schlußsatz des Briefes anders als üblich (vgl. Folz S. 213) zu übersetzen ist; vgl. den Text bei Rahewin, Gesta Friderici III 7, ed. B. von Simson S. 172: ita tarnen, ut nobis, qui dignitate preminetis, imperandi cedat auctoritas, nobis non deerit voluntas obsequendi. Die beiden Sätze mit vobis und nobis sind nicht parallel von ita tarnen abhängig, sondern mit ita tarnen, vor das besser ein Semikolon gesetzt würde, beginnt der Hauptsatz nobis non deerit. . ., von dem der Satz ut vobis... abhängig ist. Damit ergibt sich, daß der englische König, nachdem er vorher die Gleichstellung der beiden Mächte ziemlich unverhüllt ausgesprochen hat (inter nos et populos nostros dilectionis et pacts unitas indivisa), die imperandi auctoritas des Kaisers, dessen höhere Würde er anerkennt, ganz auf die freiwillige voluntas obsequendi gründet: „Derart jedoch wird uns nicht der Wille zum Gehorchen fehlen, daß Euch, die Ihr an Würde hervorragt, die Autorität des Befehlens zufalle." Der König wendet also dem Kaiser die auctoritas imperandi erst zu; seine Worte enthalten keine Grundsatzerklärung über kaiserliche Rechte. Im A u g e n b l i c k war der König geneigt, dem Kaiser entgegenzukommen und ihm die Mittel seines Reichs zur Verfügung zu stellen; mehr ist in dieser diplomatischen Erklärung nicht zu suchen. Es ist daher auch vom Wortlaut dieses Briefes aus völlig einleuchtend, daß derselbe König bei anderer Gelegenheit sagen konnte, er wolle in seinem Land König, apostolischer Legat, Patriarch und Kaiser sein; vgl. den Brief Johanns von Salisbury bei J . A. G i l e s , Johannis Saresberiensis opera omnia 2 (1848) Nr. 239 S. 114. [Inzwischen hat Η. E. M a y e r , Staufische Weltherrschaft? Zum Brief Heinrichs II. von England an Friedrich Barbarossa von 1157, in: Festschr. f. K. Pivec (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 12, 1966) S. 265—278, den Brief in seinen diplomatischen Zusammenhang gestellt und unsere Auffassung damit bestätigt.] 5 ) F. Κ e m ρ f , Das mittelalterliche Kaisertum. Ein Deutungsversuch, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, Vorträge und Forschungen, hg. von Th. Mayer 3 (1956) S. 233; ders., Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III. (Miscellanea Historiae Pontificiae 19, Rom 1954).
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des Reichsgebietes und schon in der Frühzeit in Betracht zu ziehen 6 ). Daher sei es gestattet, unsere Überlegungen von den Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit auf die folgenden Fragen abzustellen: 1. die Frage nach der Stellungnahme zu Kaisertum und Reich der Karolinger in der Geschichtschreibung des nichtfränkischen Abendlandes, in das hier neben England und Asturien audi das einst langobardische Italien einbezogen sei, und 2. die Frage nach dem Zusammenhang der politischen Ideen der nichtkarolingischen Geschichtschreibung mit der häufigen Anwendung des Kaisertitels auf englisdie und spanische Könige, die in Spanien schließlich in der Kaiserkrönung Alfons' VII. von 1135 gipfelt 7 ). Von der Beantwortung dieser Fragen aus wird sich ergeben, wie weit die hochmittelalterliche Einschränkung des Kaisertums auf eine überlegene „auctoritas", und wie weit die Auffassung, daß innerhalb der „ christianitas " 8) nicht das Kaisertum, sondern das Papsttum die universal verbindliche Instanz sei, schon in der Karolingerzeit angelegt war. Wenn wir unsere Fragen vor allem an die Geschichtschreibung richten, so geschieht das aus der Überlegung, daß die Ausstrahlung der Kaiseridee am besten bei den Historikern zu fassen sein muß, da diese nicht theoretische Traktate schrieben, sondern die sie umgebende Wirklichkeit darzustellen und vielleicht sogar zu gestalten suchten, andererseits aber als geistige, literarisch schaffende Menschen dem Reich der Idee stärker aufgeschlossen sein mußten, als die unliterarisdi bleibenden Männer der bloßen Tat. Dabei aber wird im Auge zu behalten sein, daß das fränkische Imperium vor der Kaiserkrönung Karls d. Gr. entstand und daß der Herrschaftsanspruch der Franken über die unterworfenen Völker und der christlich universale Führungsanspruch des Kaisers in der Realität, aber audi im Denken der Zeitgenossen kaum auseinandertraten. Die Franken, — soziologisch gesehen ihre oberste Schicht, die Reichsaristokraten — gedachten mit ihrem Kaiser über das Imperium Christianum zu gebieten, seine Grenzen zu schützen und auszudehnen. Darin brachte audi die Herrschaftsteilung von 843 wenigstens in der Theorie keine Änderung. Denn das Regiment der Brüder, die eine Überordnung des Kaisers nicht mehr anerkannten, führte im Prinzip die alten imperia·) Sehr stark betont die begrenzte Bedeutung des mittelalterlidien Kaisertums — insbesondere des karolingisdien, das nur ein Titel gewesen sei — G. B a r r a c l o u g h , The mediaeval empire. Idea and reality (London 1950). Von dieser Arbeit, die die „Wirklichkeit" gegen die Idee ausspielt, unterscheiden wir uns insofern, als wir nadi der Spiegelung des Kaisertums im Weltbild der Zeitgenossen fragen. ') Hier berühren wir uns mit der von Ε. E. S t e n g e l , Kaisertitel und Souveränitätsidee, D A . 3 (1939) S. 1—56, aufgeworfenen Fragestellung. e ) Grundlegend für die Gesdiichte der Christianitas-Idee ist J. R u ρ ρ , L'idee de Chretiente dans la pensee pontificale des origines a Innocent III. (Paris 1939), an den Κ e m ρ f (s. oben Anm. 5) vielfach anknüpft; vgl. G. G. M e e r s s e m a n n , Die Christenheit als historischer Begriff (Festgabe an die Schweizer Katholiken, Fribourg 1954) S. 184—199.
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len Aufgaben fort. In den 50er Jahren vollendete Audradus 9 ), der Chorbischof von Sens, Schüler des Martinsklosters zu Tours wohl noch zur Zeit Alchvines, seine Revelationes, in denen er die Schlacht von Fontenoy und damit die folgende Herrschaftsteilung als Gottesgericht erklärte; die drei Karolinger Ludwig II. (der „Italorum rex"), Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche waren für ihn von Gott als gleichberechtigt eingesetzte Herrscher, denen die Aufgabe gestellt war, die Grenzen des Reiches, jeder in seinem Anteil, gegen die Ungläubigen zu verteidigen und zu erweitern. Man darf diese Auffassung als repräsentativ für weite Kreise des Frankenreiches ansehen, sich dann aber auch klar machen, daß Herrschaftsteilungen und Niedergang des Kaisertums zunächst nicht den imperialen Anspruch des Frankenreiches beeinträchtigten, der auf die einzelnen Teilreiche überging. Freilich begann seit Nikolaus I. das Papsttum, wenn auch zunächst vorübergehend, über das Kaisertum aufzusteigen, und Johann VIII. betonte bereits eindeutig die führende Stellung des ersteren in der „respublica christiana", in der „christianitas", die ihm ein geistlicher, aber auch ein weltlicher Körper und durchaus nicht mit dem kaiserlichen Imperium Romanum identisch war 1 0 ). Die römische Kirche galt ihm als das Haupt der Völker, und sie hatte das Kaisertum zu vergeben. Auch für Johann VIII. blieb dieses Kaisertum grundsätzlich eine universale Gewalt, der — so schrieb er 879 an den ostfränkischen König Ludwig den Jüngeren u ) — alle „regna", d. h. doch mindestens die auf dem Boden des Karolingerreiches entstandenen Reiche, unterworfen sein sollten. Auch das ging über die Forderung einer bloßen erhöhten „auctoritas" für den Kaiser weit hinaus. Nur unterschied sich der Papst von der fränkischen Auffassung des Audradus, nach der die imperialen Rechte und Pflichten auf alle Nachfolgestaaten übergegangen waren, indem er diese allein dem von ihm gekrönten Kaiser und „defensor ecclesiae Romanae" vorbehielt. Darin lag denn freilich audi die Konsequenz, daß dem Kaiser universale Gewalt nur zuerkannt wurde, soweit er als „defensor ecclesiae Romanae" im päpstlichen Sinne handelte 12 ). Wie immer nun die Auffassungen sich variierten —, daß das Papsttum dem Kaiser als „defensor ecclesiae Romanae" eine universale Geltung zuerkannte und daß andererseits die fränkischen Teilreiche *) W a t t e n b a c h - L e v i s o n , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 3, bearb. von H. L ö w e (1957) S. 358 f.; Text der Revelationes: L. T r a u b e , Ο Roma nobilis (Abh. Ak. München 19, 1891) S. 374—391. [Eine abweichende Auffassung vertrat inzwischen W. M o h r , Audradus von Sens, Prophet und Kirchenpolitiker, Ardiivum latinitatis medii aevi 29 (1959) S. 239—267.] 10 ) Zu Johann VIII. vgl. W. U l l m a n n , The growth of papal government in the middle ages (London 1955) S. 219—225. " ) MG. Epp. 7, Nr. 205 S. 165. 12 ) Das wird besonders deutlich im Hochmittelalter, wenn etwa Papst Honorius III. die Gültigkeit der — in der päpstlichen Kanzlei konzipierten — Krönungsgesetze Friedrichs II. für die ganze Christenheit verkündet; vgl. G. d e V e r g o t t i n i , Studi sulla legislazione imperiale di Federico II in Italia. Le leggi del 1220 (Mailand 1952); dazu F. B a e t h g e n , DA. 12 (1956) S. 262 f.
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auch nach 843 als Träger sehr konkreter imperialer Tendenzen auftraten, sei als Ausgangspunkt der Betrachtung festgehalten. I.
Wenn irgendwo außerhalb des Karolingerreiches sollte man den Widerhall eines auf Bekehrung und Unterwerfung der Heiden, auf den Schutz der Kirche gegründeten Kaisergedankens im christlichen S p a n i e n 1 3 ) erwarten, wo das kleine Königreich Asturien energisch den Widerstand gegen den Islam führte und wo in Cordoba um die Mitte des 9. Jahrhunderts ein Kreis mozarabischer Christen unter der Führung von Eulogius und Paulus Albarus sich erbittert gegen die Gefahr einer kulturellen und religiösen Assimilation der christlichen Bevölkerung an die mohammedanischen Herren zur Wehr setzte. Tatsächlich betonte Einhard, daß sich König Alfons II. von Asturien stets und nachdrücklich als Eigenmann Karls d. Gr. bekannt habe 14). Aber es ist längst festgestellt worden 15), daß diese Nachricht Einhards bei aller Anerkennung der asturischfränkischen Beziehungen in der asturischen Wirklichkeit keine Entsprechung findet. Sie darf daher nicht als Zeugnis einer bestehenden Abhängigkeit, sondern einer fränkischen Tendenz gewertet und sollte als solches ernst genommen werden. Die Geschichtschreibung Asturiens 16 ) aber, die unter Alfons II. mit einer — allerdings verlorenen — Chronik einsetzte, um zu Anfang der achtziger Jahre des 9. Jahrhunderts unter Alfons III. ihren Höhepunkt zu erreichen, berichtete weder von dem Spanienzug Karls d. Gr. im Jahre 778 noch von seinem Kaisertum. Nur ein Karolinger wurde ganz kurz in der Chronik König Alfons' III. erwähnt: Karl der Kahle 17). Aber dies geschah nur, um nebenbei einfließen zu lassen, daß der muselmanische Rebell Musa (gest. 862) 18), der sich gegen den Emir von Cordoba zum „dritten König in Spanien" aufgeworfen hatte, aber von dem asturischen König Ordono geschlagen worden war, von Karl dem Kahlen Geschenke erhalten hatte, die nun in die Hände der Asturier fielen. Dabei handelte es sich vielleicht um das Lösegeld für zwei von Musa beim Einfall in die spanische Mark des Westfrankenreiches gefangene 1S
) Vgl. zum Folgenden meine Bemerkungen in W a t t e n b a c h - L e v i s o n 3, S. 360 bis 369; dort weitere Literatur, die hier nicht vollständig wiederholt wird. » ) Vita Karoli c. 16 S. 19. 15 ) M. D i f o u r n e a u x , Carlomagno y el reino asturiano, in: Estudios sobre la monarquia asturiana (Oviedo 1949) S. 91—116; ders., Charlemagne et la monarchie asturienne (Melanges L. Halphen, Paris 1951) S. 177—184. le ) Vgl. oben Anm. 13; unsere Fragestellung deckt sich nicht mit der von R. M e n e n d e z Ρ i d a 1, La historiografia medieval sobre Alfonso II, Estudios sobre la monarquia asturiana (s. oben Anm. 15) S. 3—36. 17 ) Hg. von M. G ö m e z - M o r e n o , Las primeras cr