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German Pages 730 Year 1892
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für das Deutsche Haus.
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Stuttgart Derlag v W Spemann
Bweiter Band. April bis September 1882.
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Drud von Gebrüder Kröner in Stuttgart .
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Inhalt.
Bweiter Band (April bis September 1882).
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Roman, Novellen, Plaudereien u. dgl.
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Allmers , Hermann. Harro Harresen. Eine Marschen und Alpengeschichte in ſieben 469. Bildern Amyntor , Gerhard von. Bildung macht frei ! Byr , Robert. Andor. Roman (Fortsetzung und Schluß) 61. 185. 291. 423. 511. Feierabend , A. Volksgeschichten aus der Schweiz: Erlebnisse und Gedanken eines Ein Opfer der Lebendigbegrabenen. Eifersucht. Der Fluch des Fanatismus Roquette , Otto. Die Tage des Waldlebens. Novelle Illustration: Titelblatt. Von Otto Strügel. Schmidt , Maximilian. ' s Almstummerl. Eine Erzählung aus dem bayriſchen Hochland 263. Spielberg , Otto. " Du." Modernes Sittenbild Stern, Adolf. Zum Tode vereint. Novelle Wagener, Bernhard. Der Gänsebraten. Humoreske Illustration : Titelleiste. Von L. Bechstein. Wichert , Ernst. Ein strenger Richter. Eine Erzählung
Groller , Balduin. Wien. Motive aus der Kaiserstadt An Illustrationen : Titelvignette: Blick auf Wien. Gitterder Donau. Eine Partie aus Thury. werk an den Gartenportalen des Belvederes. Belvedere. Karlskirche. - Der Wienfluß. Eingang zum botanischen Garten. - Die Hojoper am pern ring. - Der Kursalon mit dem Ententeich im Stadt= Kapistrankanzel an park. -- Der Wurstelprater. der Stefanskirche. Partie aus dem Prater (Aegyp= Fernkorns St. Georg. Nach tischer Pavillon). der Natur gezeichnet von 2. H. Fischer. Hellwald , Friedrich von. Von Kairo nach Suez Jllustrationen: Typus eines Arabers. --- Unverschleierte Crnament Kairenserin. Vor der Prozession. an einem Minaret. Kolonnade der Amru-Moschee. Balkonfenster in Kairo. Arkade an der TulunMoschee. Fellahdorf bei Kairo. —- Station El KanEin Ansicht von Suez. tara am Suezkanal. Schiff im Suezkanal. - Schleusenwerk bei Ismailia. Wasserwerk zu Ismailia. Von G. L. Seymour. Italicus. Capri. Die Perle des Golfs von Neapel Illustrationen : Auf dem Wege nach der Stadt. Kleine Marina. Arco natu Große Marina, rale. - Vor dem Stadtthore. Straße nach Ana= Capri. Von H. Darnaut. Kaden , Woldemar. Engadina - terra fina Kuranſtalt zu Jllustrationen : Dorf St. Moritz. St. Morih. Aussicht vom Silvaplana. Roseg Gletscher und Chapütschin. — Berninapaß. - Weißenstein auf dem Alpulapaß. Le Preje. - Frühlingstage in Sorrent Illustration: Sorrent. Keller Leuzinger , F. Eine Kaffeeplantage in Brasilien Illustrationen: Titelvignette. Kaffeestrauch mit Früchten beladen. Eingang der Bai von Rio de Janeiro. (Von Corcovado aus geschen. ) Eingang der Bai von Rio de Janeiro. (Von Jcarahy gegen die hohe See hinaus gesehen.) Gruppe wild verschlungener Lianen. Schlußvignette. Von KellerLeuzinger. Kaffeeplantage. Begetationsbild. - Kaffee- Stampfmühle. Von B. Wiegandt. Kürschner , Joseph. Jns Seebad Illustrationen: Rathaus zu Emden. Kettenbrüde in Emden. - Landungsplatz in Emden. Ostfriesische Sägemühlen. Auf der Ems. An Bord des „Kronprinz". Einzäunung mit Walfischzähnen. Dünenformation. Der alte Leuchtturm. Kinder am Strande. Strandkorb. -- Krabbenfischer. Schlußvignette. Von F. Kallmorgen.
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Länder- und Völkerkunde, Städtebilder 20.
178 Blümner , H. Syrakus Illustrationen: Syrakus. Das Innere des Kastells Euryalos. Die Quelle von Arethusa. Syrakus : Latomia Riviera. Das Ohr des Dionysius. " del Paradiso. Das Amphitheater bei Syrakus. Von Theodor Weber. 246 Gaertner , R. Die Shiba-Tempel Illustrationen: Hauptportal zu einem der TaikunGräber. Nebengebäude der Shiba Tempel. Japanische Priester. Glockenhäuser resp . Türme Japanischer Tempel. Halle vor dem Allerheiligſten. Ein Platz vor Vorhof eines Shiba-Tempels. den Shiba-Tempeln. - Das größte Glockenhaus der Shiba 2 Tempel . Vor der Umfaſſungsmauer der Shiba-Tempel. Nach Originalaufnahmen gezeichnet von D. Strügel.
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Inhalt.
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Löher , Franz von . Meerabgewonnen Land 355. und Leben Quai in Bei Zype. Illustrationen : Vlissingen. Dortrecht. Oysterschelde bei Zyriksu. Am Oyster. Seeländer Seeländerin . put in Vlissingen. Herrensih bei Fuhrwerk. Veere. Seeländer. Herzogenbusch. Jakobäa von Bayern. Der Ompteda , Ludwig Freiherr von. Kristallpalast zu Sydenham . Illustrationen: Fig. 1. Kristallpalaſt, Gartenfront. Fig. 2. Blid ins Längsschiff von Süden. Fig. 3. Mittleres Querschiff und Gartenterrassen. Fig . 4. Fig. 5. 3m Brunnen von Tritonen umlagert. Renaissancehof. Fig. 6. Im zoologischen Garten. Fig. 7. Schrein der Könige und Königinnen. Fig. 8. Verwundete Amazone. Von Paul Wagner. Simmel, Eugen. Die Gefahren der Gletscherwelt • Rinderhorn. Juustrationen: Die Jungfrau. Vogt , Herm. Eine Eisenbahn in den Anden Juustrationen: Fahrt in den Anden. - St. Bartolomé. Der Verrügger Viadukt. Kurven der Bahn beim Ueberschreiten des Rio Rimac. Tunnel zwis Chin- Chan. schen St. Mateo und Anchi. Schlußvignette. Partie aus den Anden. Wachenhusen , Hans. Von Rhein und Mosel. Zwei Augenblicksbilder Juustrationen : Rüdesheim und Schloß Johannisberg Rüdesheimer von der Bingener Seite geſehen. EhrenAdlerturm in Rüdesheim. Klosterhof. fels. Bingen. Mäujeturm. Schloß Rheinstein. Hohned. Glemenskapelle und Falkenburg. Aeußeres der Kirche in Sinzig . Inneres der Kirche in Sinzig. Aus Erpel. - Ueberfahrt von Erpel nach Remagen. Vinz : Oberes Stadtthor. Rheinthor. Erpeler Lei. Runder Turm und Dom in Andernach. Inneres des Andernacher Doms. -- Burg Andernach . Stadtthor in Andernach . Beilstein mit der Ruine Beilstein. Kochem an der Mosel. Alte Straße in Karden an der Mojel. Burgen. Küche in der Mojelgegend. Schloß Elt. Von B. Mansfeld , R. Ritter u. a.
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Sterne , Carus. Die Romantiker unter 49. den Pflanzen Illustrationen : Titelblatt : Unter Ruinen. Palast in Alte Venedig (Adiantum Capillus Veneris). Die Abtei Kirche (Asplenium Trichomanes). Grabmal auf dem von Holy Groß in Irland. Gartenkirchhof in Hannover. Burg an der Mosel Moosbewachsenes Dach (Asplenium Ceterach). Ruine von Paulinzelle. eines Bauernhauses. Feigenbaum. - Asple Felsschlucht mit Farn. nium Ruta muraria. Von Richard Püttner. Stinde , Julius . Physik des Uebernatürlichen Uffelmann , I. Seehospize und Soolbäderheilstätten für Kinder . Juustration: Karte der Seehospize und Soolbäderheil stätten für Kinder in Deutschland. Ueber Genesungsstätten für Kinder, Schulsanatorien und Ferienkolonieen Voges , Ernst. Die Nase der Insekten Juustrationen: Fig. 1. Schlundrohr einer Hummel. Fig. 2. Stück des Tasters eines Laufkäfers. — Fig. 3. Ein Stück des Querschnittes eines Wespenfühlers. Fig. 5. Fühler einer Fig. 4. Eine Sinneszelle. Fliege. Von E. Voges. Vogt , Karl. Die Bildung der Meteorsteine Juustrationen: Fig. 1. Dünnschliff eines Chondriten Fig. 2. Chondrit von Vouille. aus Anyahinya. Fig. 3 u. 4. Kristalle von Knyahinya. - Fig. 5 u. 6. Fig. 7 u. 8. SäulenMeuniersche Präparate. gruppen von Anyahinya. Fig. 9. Lava von 1669. Fig. 10. Kristall aus Augitporphyr des Monzoni. Fig. 11 u. 12. Querschnitte von Kristallen. Fig. 13. Diorit von Dillenburg. Fig. 14. PhonoFig. 15. Schwefelsaures lith von Laugarfjall . Fig. 16. Doppeltkohlenjaures Kali. Kupferoryd. Fig. 17. Doppeltkohlensaures Natron . Fig. 18. Einfachtohlenjaures Natron. Zacharias , Otto . Charles Darwin Illustration : Faksimile der ersten Seite eines Briefes von Charles Darwin an Etto Zacharias.
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Geschichte und Kulturgeschichte .
Naturwissenschaftliche , naturgeschichtliche und heilwissenschaftliche Aufsätze. Baldamus , A. C. E. Besorgte Mutterliebe Jllustration: Schnepfe ihr Junges tragend. Esmarch, Friedrich . Der Deutsche Samariterverein in Kiel . Holz , W. Der Bliß und seine Wirkungen Illustrationen: St. Elmsfeuer an einer Firstverzierung . Ein sich spaltender Blitz. Blikbeschädigung eines Baumstammes. - Blitzbeschädigung eines Kirchturms . Fragment einer Blikröhre in natürlicher Größe. Klein , Herm. J. Der Planet Mars Illustration: Schiaparellis neueste Karte der Marsoberfläche. Kunkel , A. Ueber ansteckende Krankheiten Lehmann , Otto. Die kleinsten Gymnaſtiker Mylius , Otfried. Das amerikanische Bergschaf Illustrationen : Kopf eines Bergschafes. Kopf eines Merino-Hammels. Schafe auf der Schneegrenze des Shasta-Gebirges. Bergschafe einen Abhang herabstürzend. Bergschafe von Indianern gejagt. Bon Beard und Besser. Ruß , Karl. Die Widefinken oder Witwenvögel Illustration : Widefinken oder Witwenvögel . Von E. Schmidt. Schilling , J. A. Das größte Wunder unter dem Zwerchfell .
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Avé Lallemant , F. Ch. B. Der Goldmacher Giovanno Graf von Cajetani Zur populären Kabbala Bartsch , Karl . Schillers Krankheit im Jahr 1791 Juustration: Schiller in Karlsbad auf einem fel reitend. Braun Wiesbaden, Karl. Fragmente über Wein und Tafel -Philosophie Kießling , F. New York und seine Polizei Köppen, Feodor von. Aus der Jugendzeit des Deutschen Kaisers Wilhelm : Die ersten militärischen Exerzitien. - Das Fest der weißen Rose . Illustrationen: Die ersten militärischen Frerzitien des jetzigen Kaisers Wilhelm. Der jetzige Kaiser Wilhelm als Ritter der weißen Rose. Gezeichnet von O. Wiesniesky. Scherr, Johannes . Paris zur Schreckenszeit Schmidt, I Maifest in Altengland Schlußvignette . Von Illuſtrationen: Im Mai D. Strüßel. r Welse , Rizzio . Sizilianische Kulturbilder. Das Brigantenweſen
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Militär- und Marineweſen . 219
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Unsere Fischtorpedos Illustrationen : Fischtorpedo von außen. des Fischtorpedos.
Inneres
Inhalt. Seite Scheibert, Justus. Ein Ritt längs der 322 französischen Ostgrenze Illustrationen : Ekizze eines französischen Forts. Karte der Ostgrenze Frankreichs. Bildende Kunst. Duhn, Freiherr von. Der neue Satyr von 46 Pompeji Jalustration : Bronzestatuette. Voß , Richard. Aus der Gallerie Borghese : Raphaels Cesare Borgia ; Raphaels Giulio II 241 Juustrationen: Raphaels Giulio. Raphaels Cesare Borgia. Wurzbach, A. von. Die Naturaliſten der 411 Gegenwart
Litteratur.
Hahn , Werner . Das Nibelungenlied im 81 Jahre 1782 Illustrationen : Verkleinerte Nachbildung einer Seite Nibelungendes Handschrift der Hohenems-Münchener Verkleinerte Nachbildung des Titels und liedes. der lehten Seite der Vorrede von Myllers Sammlung Brief Friedrichs des deutscher Gedichte , Bd. I. Großen an Profeffor Myller. Kürschner, Joseph. Drei Dichterbilder. 452 Litterarische Bemerkungen Juustrationen : Gotthold Ephraim Lessing, nach dem Gemälde von Tischbein. Stammbuchblatt Schillers für Charlotte von Lengefeld. — Abendkreis derHerzogin Amalie. - Charlotte Albertine Ernestine von Stein. Nerrlich, Paul. Aus Jean Pauls Kindheit 629 Zolling , Theophil. Ein Dichterhaus am 237 Thuner See . Juustration : Kleiſts Wohnhaus am Thuner See. Theater.
Kürschner , Joseph. Ein moderner Cha97 rakterspieler Illustrationen: Theodor Lobe (Porträt). Lobe als Shylod. Lobe als Lobe als David Sichel. Laroquette. -Lobe als Mephisto. Lobe als Fabricius. Lobe als Doktor Weller. Lobe als Richard III. Lobe als Friedrich Wilhelm I. Das SommerLöhn Siegel , Anna. 332 theater in seinen Uranfängen Musik.
Ehrlich , H. Die Muſiker in der modernen Gesellschaft
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Unsere Hausmusik. (Unter Redaktion von Karl Reinede .) Burgstaller , Emil. Volkslied Hartmann , Emil. Lied Holstein , Fr. von. Andantino Jadassohn, S. Walzer Reinecke , Karl. Walzer Röntgen , Amanda. Klavierstück .
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Artikel verschiedenen Inhalts. Die römische Frage Hilder , G. D. Die Zündhölzerfabrik in Jönköping Illustrationen: Die Fabrik in ihrem gegenwärtigen Zu stande. - Aussehen der Fabrik vor 12 Jahren. Schneiden der Zündhölzer. Das Paraffinieren der Zündhölzer. Schlußvignette. Von P. Wagner.
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Holzendorff , Franz von. Marco Minghetti Lammers , A. Uneigennütige Schenkwirte Lammers , Mathilde. Volks - Kaffeehäuser Illustrationen: Englisches Kaffeehaus „Kakaobaum “ zu Pinner. Parterre des englischen Kaffeehauses „ KakaoErster Stock des englischen Kaffeehauses baum ". H Kakaobaum ".
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Gedichte. Blüthgen , Viktor. Aus dem Leben der Kleinen. I. Kleiner Belagerungszustand II. Gut Wetter . Hierzu zwei Vollbilder von Oskar Pletsch. Bormann , Edwin . Aprilliedchen Friedmann , Alfred . Epithalam Harnack , Erich . Junge Roſe Kiehne , Hermann . Frühlingslied Kinkel , Gottfried . Das sterbende Kind Köppen , Feodor von. Im Frühling Kunze, Wilhelm. Zwei Röslein Littauer , Hugo . Grabschrift eines Faulenzers Schlitt. Vier Schnadahüpfeln Mit 4 Jllustrationen . Stieler , Karl. Vier Lieder : Ein SpielAm Bache. mann. Ohne Rast. Nächtliche Wege Trojan , J. Frühling Hierzu Frühlingsbild von 3. Kleinmichel. Wahrmund, A. Charakter und Talent · Prinzipien Woenig , Franz. „Der Schwarzdorn steht in Blüten" Hierzu Zeichnung von Hermann Heubner.
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Von Himmel und Erde. Der gestirnte Himmel im Monat April . Mai # " "1 " " Juni # " " Juli "1 " " " 10 " August " " 〃
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Sammler. Unser Hausgarten . Von G. A. Fintelmann .. 112. 230. 338. 460. 580. 700 Mit 5 Jlustrationen. Küche und Haus 115. 234. 342. 464. 583. 704 Trachten der Zeit. Von Jda Barber 113. 231. 339. 461. 581. 701 Mit 25 3lustrationen. Zum Kopfzerbrechen. Schach , Rebus, Rätſel, Röſſelſprung, Preisrätsel 2c. 117 . 236. 345. 466. 585. 706 Mit 17 Juustrationen. 119. Unsere Künstler 118. 346. Chemische Kleinigkeiten Mit 5 Illustrationen. Auflösung zur Salon - Magie in Heft 6 Aus der Autographen Mappe der Redaktion • Eine Jahresencyklopädie Eine Maikäferfalle Mit Jaustration.
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Inhalt.
343. Neue Bücher Der Polizeitelegraph in Chicago Franz von Holstein Glück und Glas Vom Luftdruck Mit 2 Illustrationen. Charles Darwin Mit Porträt Darwins. Das Naumburger Kirschenfest Ein Kugel Velosiped . . . Mit 2 Illustrationen. Die Verzehrung schlagender Wetter . Salon Magie. Von Alexander . Mit 3 Juustrationen. • Mozart ein Zukunftsmuſiker Pharaoschlange Ein moderner Tiermaler Ein erster Sieger Aus Kairo Mit einer Illuſtration. Physikalische Spielereien Mit 2 Jllustrationen. Der Goldmacher Giovanno , Graf von Cajetani
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Der Dorfkünstler. Von Ernst Bosch • Sommerfreuden. Von G. Hahn Auf dem Spielpla Schlafe , mein Liebling , schlafe. Von Eugen Klimsch Von L. BechEnzianverkäuferin. stein . . Das lustige Quartett. Von Otto Seit In der Kirche. Von B. Vautier . Kinderschule im Freien. Von A. Langhammer . Gruß von oben. Von K. Kögler Abendstimmung . Von H. Nestel Erfreuliche Lektüre. Von G. Hackl Im Krater des Vesuvs. Eine Zufluchtsstätte bei diesjähriger Sommertemperatur. Von 2. Bechstein Bitte um ein Almosen. Von 2. Meggendorfer Schlußvignette. Von P. Wagner Ein schwüler Sommertag . Motiv aus Kroatien. Von Nicola Maſic . . Marktscene aus Kairo . Von W. Genz
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Voll- und Einzelbilder. Kunfblätter. „Herr Oberst ! Melde gehorsamst ! “ Von 60 G. Hackl . Von Albanesischer Hauptmann. 120 H. Schlittgen 147 Frühlingsbild. Von J. Kleinmichel Die schadhafte Bank. Eine Geschichte in drei Bildern . Von L. Meggendorfer 235 Dolce far niente. Von Nicola Masic 240 262 Duett. Von A. Oberländer Der Schwarzdorn steht in Blüten. Von 277 H. Heubner
Von Oskar Kleiner Belagerungszustand . Pletsch. Dankbares Publikum . Römische Villa. Von Ferdinand Knab. Picknick im Walde. Von Th. Her. Frühlingsbild. Von Karl Fröschl. Regina. Von Benjamin Vautier. Der erste Morgengruß. Von Gustav Süs. Schön Wetter. Von Oskar Pletsch. Brennender Stall. Von A. Braith.
HARVARD PRIVERSTY
TIRARY.
Die Tage de
Waldle bens Wallelun von
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as mochte der kleine GeißWas bub denken, der unter der Buche am Waldesrande ausgestreckt lag? Oder war das, was unter seiner Stirn vorging und in seinen unruhig umherblickenden Augen funkelte, wirklich ein Denken zu nennen ? Bald sah er hinauf in den Wipfel des Baumes , wo ein Bogel seine Neugier erregte ; bald verfolgte er die auf dem Grase tanzenden Sonnenlichter, die durch Gezweig und Laub hie und da den Weg gefunden hatten. Dann wendete er sich wieder nach seiner Ziege mit ihren beiden Zicklein um und schien befriedigt, daß
A.COSS
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Otto Roguette.
die Alte in der Fülle der sie umgebenden oder ſich ihrer etwas länger freuen solle ? VorNahrung gelaſſen ausruhte , und dann wieder läufig steckte er sie in die Taſche. spähte er nach der Waldseite, woher ein breiter „Wo nehmen wir heute für unsre KunstFußweg in Windungen über die sonnige Halde bestrebungen Play ? " redete die junge Dame im Endlich zog er und in die Tiefe hinablief. Selbstgespräch weiter. Unter der Buche ? Nein, ein Taschenmesser hervor, und die Art, wie er da kommen mir die neugierigen Sonnenstrahlen es auf- und zuklappte, und es liebevoll betrach- | zu häufig auf das Blatt und stören mich mit ihren Neckereien. Aber dort an der Felswand tete, zeigte, daß es ihm ein noch neues und wär' es schön ! Sie wirft einen breiten Schatbeglückendes Beſißtum war. Da wurde vom Walde her ein heller Joten über den Rasen, und der Boden ist hügedelruf vernehmlich. Es war aber nicht der lig. Da wird es sich gut sigen. " Sie nahm ungefüge Naturton, sondern das mehr musikaihren Weg dahin, wählte einen bequemen Play, und nachdem sie sich niedergelassen, warf ſie lische Aufjubeln einer schönen Menſchenſtimme. ihr Zeichenbuch und ein Buch zum Lesen in Der Knabe schnellte vom Boden auf und eilte das Gras und legte ihren Strohhut ab . Und nach der Richtung, woher er den Gesang vernommen. Gleich darauf trat aus dem Walde dann, das loſe Haar von der Stirne zurückstreichend, blickte sie mit einem behaglichen Ah! ein junges Mädchen , schlank und von edlem heiter in die Landschaft. Es war ein grünes Wuchſe, in städtiſch forgfältiger Kleidung . Ein Waldbild, abgeschlossen, nur von wenigen Spubreitkrämpiger Strohhut beschütte ihr anmutiren menschlichen Verkehrs durchzogen. Abges Gesicht vor der Sonne, die übrige Tracht war schwarz , obwohl von leichten Sommerwärts senkte sich die Halde, von einigen Felsblöcken und Geſträuch durchseßt, gegen den in stoffen, und deutete auf Trauer. Ein großer Hund sprang ihr voraus, und hieß den kleinen der Tiefe rauchenden Bach, neben welchem ein Hirten durch sein Bellen willkommen. " Guten nur für Holz und Waldzwecke berechneter Weg Gegenüber stiegen mächtigere Felsen Morgen, Girgl!" rief sie. „ Brav, daß du dich hinlief. auf, überragt vom Waldgebirge, während rechts eingefunden hast !“ " Und ich war gestern auch da , aber du und links die Thalkrümmungen in bläulichen Duft ausliefen. Drüber wölbte sich der blauste bist nicht gekommen!" entgegnete der Knabe. „Sich doch! das klingt ja wie ein VorHimmel, von dem die Sonne des Junitages über die ganze Pracht des fröhlichen Sommerwurf, daß ich deine werte kleine Person verlebens leuchtete. Die Halde war überſät von nachlässige!" entgegnete die junge Dame lächelnd. " Sei nur nicht eifersüchtig , Girgl ! Ich fand Blumen, Schmetterlingen, Käfern, Bienen, ein geflügeltes kleines Heer schwirrte, fummte, eben anderswo auch etwas zu zeichnen." Sie wiegte sich über Dolden, Kelchen und Blütenwußte wohl , daß der Knabe von solchen Reden nichts verstand, und pflegte in seiner Ge- sternen. Das Mädchen saß einige Minuten genwart mehr mit sich selbst zu sprechen und schweigend da, die Hände auf den Knieen geihre gute Laune walten zu laſſen. Lebhafter faltet, und ihr Lächeln , der Ausdruck ihrer
Nero gehorchte dem Ruf, sah sie verlegen an, wedelte stark und schnupperte darauf im Grase nach der Seite , als sei es ihm wirklich um so etwas nicht sehr zu thun. „ Girgl, das hab ich dir mitgebracht ! “ fuhr sie fort, indem sie dem Knaben ein Weißbrot reichte. Dieser betrachtete die Gabe in lächelndem Schweigen und schien zu überlegen, ob er gleich einbeißen,
Augen schien zu verkünden, daß sie Druck und Härten des Lebens , die ihr ernstes Gewand andeutete, überwunden habe, und in solcher Stunde dem Jugendgefühl und der Freude am Dasein wieder Eingang in das Gemüt verstatte. Der Knabe, der sich nicht weit von ihr in Neros Gesellschaft niedergekauert hatte, betrachtete sie aufmerksam in der Erwartung, daß sie reden werde. Endlich wendete sie ihm fröhlich ihr Gesicht zu und fragte: „ War der Gabriel schon da?" - Der Knabe schien zu erschrecken. Nein! " sagte er. „Nun so wird er kommen! Er hat es mir versprochen. Ich will sein
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aber mußte sie sich jetzt an ihren vierfüßigen Begleiter wenden ; ,,Nero ! Nero ! " rief sie. „ Willst du wohl die Geiß mit ihren Jungen zufrieden lassen? Hierher ! Schämst du dich nicht, alter Gesell , hinter den jungen Zicklein herzujagen ? Ueber solche Kindereien solltest du doch hinaus sein! Hier bleibst du , bei mir !"
Gesicht abzeichnen. Da er aber noch nicht da ist, sollst du dran, Jung Girgl ! Ich will dei-
Die Tage des Waldlebens.
nen Kopf haben ! Aengstige dich nur nicht, er bleibt ſizen , wo er ist!" Girgl lächelte verlegen. Er hatte wohl schon gesehen , wie ſie Felsen und Bäume abzeichnete , aber wie sie sogar einen Kopf auf das Papier zaubern wollte, das konnte er sich nicht denken. „ Komm und schau her !" rief sie, indem sie die Blätter umschlug und eine Reihe von Gesichtsbildern, besonders Kinderköpfen, vorzeigte. „ Siehst du, so wie ich die kleine Lieſe, den Peter und ſeine Schwester, den Kuhjungen und andre gezeichnet habe, so will ich's auch mit dir machen. Des Knaben Augen wurden groß vor Erstaunen, und gehorsam nahm er den Play und die Stellung ein, welche sie ihm anwies. So be= gann sie zu zeichnen. Girgl aber dachte während dieſes ſchweigſamen Verkehrs an das Weißbrot in seiner Tasche , und hielt es für zeitgemäß, dasselbe in Angriff zu nehmen. Sofort steckte er ein Stück davon in den Mund. Da nun aber nichts auf der Welt ein umHändlicheres Kauen verlangt, als eine trockene Semmel, so begann ein Malmen seiner Kinnlade und zugleich eine Bewegung in seinen Gesichtszügen , daß die Zeichnerin laut lachend rufen mußte : „Nein, Girgl, ein fauendes Modell kann ich nicht brauchen! Essen darfst du erst, wenn ich fertig bin. Sigest du aber jezt recht ruhig, so bringe ich dir morgen zur Belohnung zwei Brötchen mit !" Girgl war etwas verblüfft durch die sonderbaren Ansprüche, welche die Kunst an ihn erhob, aber die in Aussicht gestellte Verdoppelung des Honorars machte ihn doch gefügig. Nero lag im Grase neben ihm , schnappte ärgerlich nach Fliegen, und spiste ab und zu die Ohren , wenn ihm irgend ein Geräusch wider Ordnung und Gewohnheit schien. Nach einer Pause begann Girgl : „ Er war gestern auch wieder hier!" „Wer ? der Gabriel?" „Nein, der mit den Handschuhen .“ "„ So! Der!" rief das Mädchen lachend und dachte: An dem ganzen jungen Herrn ist dem Naturkinde nichts weiter aufgefallen , als daß er am Sommertage Handschuh trug ! während mir auffiel, daß er bei seiner Jugend im Gesicht wie Mondschein aussah, und, obgleich erDann, wachsen genug, sich wie ein Knabe gab. nach längerem Schweigen, begann ſie: „ Girgl, du bist erlöst! Es mag fertig sein. Willst du dich im Spiegel sehen ? Komm!"
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In diesem Augenblick aber sprang Nero auf, und fuhr bellend und in Säßen auf eine aus dem Walde tretende Gestalt los , die er doch bald als alten Bekannten umwedelte. „ Da ist Gabriel!" rief die Dame, während Girgl, von Schrecken ergriffen, davonzulaufen Miene machte. Die Erscheinung mochte für einen, der sich im Walde durch etwas ertappt fühlte, noch von stärkerem Eindruck sein , als ihre einem Meister Rübezahl gleichende Gestalt an und für sich schon war. Die stark verschossene und verbrauchte Uniform eines Forstunterbeamten hing um die Schultern des Waldhüters Gabriel Neuntöter. Das starke, etwas gefrümmte Genic trug einen Kopf mit scharfen Gesichtszügen, tiefliegenden grauen Augen, einer Adlernaſe , unter der ein gewaltiger grauer den Mund bedeckte , während Schnurrbart den von Backen und Kinn eine ins Weiße spielende Bartmasse bis tief auf die Brust herabfiel. "„ Guten Morgen, Gabriel ! " rief das Mädchen. " Gut , daß Sie doch noch kommen!" Der Alte grüßte sie nur flüchtig , streckte jedoch die geballte Fauſt dem Knaben entgegen , indem er rief: „Wart , du Sackermentsbub! Dir komm ich über den Kopf! Was hast du deine Geiß hier hinaufzuführen ? Strafe Hinunter sollst du kriegen , wart du! mit dir!" „Warum denn?" riefdas Mädchen erschreckt. „Ist es denn nicht erlaubt - ?“ „Auf den Dorfanger gehört er mit seiner Geiß! " schalt der Waldhüter fort. „ Oder die alte Trud, das verherte Weib, mag ihr Vich in ihrem Stalle füttern. Hier ist herrschaftlicher Wald! Sollen mir die Racker hier herumflettern, die jungen Stämme abschälen und das Laub abfressen? Alles fressen sie , was grün ist ! Verboten ist's , hier heraufzutreiben, der Bub weiß es! Thut er es doch, so kriegt er seinen Buckel voll , und die Trud muß Strafe zahlen ! " Damit schwang Gabriel seinen Knotenstock sehr bedenklich, so daß dem jungen Frevler vor Angst die Thränen ausbrachen. „Lieber, guter Gabriel ! “ rief das Mädchen, den Alten mit beiden Armen abwehrend : der Knabe ist nicht schuldig! Wenn jemand in Strafe fallen soll , so muß ich es sein , ich allein! Ich fand den Kleinen vor einigen Tagen unten, in der Nähe des Torses, und
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Otto Roquette.
der Halde zu ihr trieb, oder wehrte sich gegen eine Hummel , die sich mit dumpfen Tönen in ihrer Nähe verriet , aber eifrig kehrte sie wieder zur Thätigkeit zurück , und ihre Züge verkündeten Freude am Gelingen. Und wieder war es Nero , welcher etwas Fremdes zuerst witterte , das sich hinter den Felsen verkündete. Geräuschvoll sprang er auf, dem Kommenden entgegen, aber auch diesmal zeigte er sich schnell besänftigt. „Der mit den Handschuhen wird es sein!" dachte die Zeich= nerin, ohne sich umzuwenden. Um die Felsenecke aber trat ein schlanker junger Mann auf den Plan , bei deſſen Anblick Gabriel sofort seine Stellung veränderte, und sich ehrerbietig erheben wollte. Der neue Ankömmling aber dagegen machte rasch eine abwehrende Bewegung, und fen Sie hier alles , aber abfreſſen legte den Finger auf den Mund, zum Zeichen, bin ich da! Das darf ich nicht durchgehen laffen!" daß der Alte schweigen oder ihn nicht kennen. „Ich will meinen Appetit in Schranken solle. Er grüßte die Dame artig und behalten! " rief sie mit fröhlichem Lachen. Nun scheiden, und bat um Verzeihung, daß er ihr Atelier ohne ihre besondere Erlaubnis zum aber sein Sie ein guter Mann , und laſſen Vielleicht haben Sie zweitenmal betrete. Sie sich abzeichnen ! Ihre beiden Enkelchen hab ich schon in meinem Buche , heut mache mehr Recht , es zu betreten , als ich, es hier ich das Abbild des Großvaters. Sißen Sie aufzuschlagen ! " entgegnete sie lächelnd , ohne ſich ein halb Stündchen ! Sie haben es verspro- | im Zeichnen stören zu lassen. „ Inzwiſchen hat chen!" mich Gabriel Neuntöter doch beruhigt , und „Wenn ich nur wüßte, was Sie an meimir erklärt, wie weit ich in der Benutzung des ner alten Fratz haben!" Plates gehen dürfe." „ Ein wacres Gesicht, das ich künftig gerne " Eine Schranke hätte er Ihnen auferlegt? Und welche ?" ansehen werde, wenn ich nicht mehr hier bin!" Daß ich kein Frühstück hier halten dürfe „ Na, dann meinetwegen ! Darf ich meine Pfeif' dabei rauchen?" wie Girgls Ziegen. Der arme Knabe wäre " Versteht sich! Ich will sie sogar mit- dafür beinah in Strafe gefallen. Ich hoffe, zeichnen." ich habe ihn vollständig losgebeten, denn die Der Waldhüter setzte seine kurze Pfeife Straffällige bin ich. “ "Ich müßte die Strafe dann mit Ihnen in Stand und ließ sich nach der Anordnung teilen, entgegnete der junge Mann; denn ich) der jungen Dame nieder. Sie zeichnete, und selbst habe gestern hier mit ihm geplaudert, wieder wurde es still. Nero lag jezt vertraulich ohne zu wissen, daß seine Herde an Ort und neben Gabriel, während Girgl ſich auf einen Stelle nicht gehen dürfe. “ entfernteren Platz zurückgezogen und durch „Sie wußten das auch nicht?" fragte die ein Gebüsch vor der Aufmerksamkeit des gefürchteten Alten gedeckt hatte. Hier zog er Dame, indem sie ihn ein wenig überrascht anſah. sein Weißbrot hervor , welches er nach der „ Ich bin mit solchen Dingen wenig beüberstandenen Angst um so behaglicher verkannt und frage nicht viel danach!" entgegnete speiste. Die junge Künstlerin schien sich bei er, indem er sich auf den Rasen niederließ. ihrer durch keinen Menschenlaut unterbrochenen ?? Troß meiner fünf Tanten, die ich jeden Morgen begrüße , und von denen ich mich eben Arbeit glücklich zu fühlen , das sagte das Lächeln ihres Mundes, der Glanz ihrer Augen, verabschiedet habe." die Emsigkeit , mit der sie den Griffel auf „ Fünf Tanten ? Das ist Gottes Segen ! Unter solcher Obhut mußte die Erziehung eines dem Blatte bewegte. Sie atmete wohl einjungen Mannes eine ausgezeichnete werden." mal auf, wenn der Wind den Blütenduft von
lockte ihn zum Plaudern hier herauf. Seien Sie doch nicht so böse! Sie sind ja sonst ein so gutmütiger Mann !" Der Alte wollte eigentlich forthadern, aber ein Seitenblick auf die junge Dame ſchien ihn zu besänftigen, und troß seines Bartes machte sich doch ein Lächeln in seinen Zügen bemerkbar. „Na ! Um des gnädigen Fräuleins willen mag es ihm für diesmal geschenkt sein! Aber die Geiß läßt er mir künftig unten, sonst-!" | „Ach, Gabriel!“ nahm das Mädchen etwas befangen das Wort auf : „Wenn das herrschaftlicher Grund ist, und jedem der Zutritt verboten , dann darf auch ich mich hier wohl nicht aufhalten ?" " So ängstlich ist's ja nicht ! Abmalen dür-
Die Tage des Waldlebens. Finden Sie? Es sind gute stille Wesen. Ich kann unter ihren Augen treiben was ich will . Ich kann ihnen Gesichter schneiden und unter die Nase lachen, Ihro Gnaden werden den dummen Ausdruck ihrer Mienen , die Selbstgefälligkeit ihrer Positur niemals verändern."
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Ich bedaure sehr , Ihr Mißfallen erregt zu haben!" entgegnete der junge Mann, sichtlich bestürzt. " Glücklicherweise habe ich nicht die Macht, auch nur das geringste in dieser Gegend zu verändern. Ihre Naturpoesie wird nicht gestört werden. Ich empfinde sie ebenso wie sie obwohl Ihr Lächeln sagt, daß Sie es nicht glauben. Möchten Sie immer auf dem Lande leben?"
„Oh! Schämen sollten Sie sich, von den guten Damen so lieblos zu reden ? “ rief die ,,Eigentlich, nein ! Ich brauche das WeltZeichnerin. leben, ich brauche die Kunst, und die lette „Die guten Tanten sind auch darin nach sichtiger , als Sie , mein gnädiges Fräulein ! | finde ich nur in einer größeren Stadt. " „ Ganz mein Fall , und dennoch,“ fügte er Eigentlich ist es ganz gegen unsere Verabredung, daß ich Ihnen von meinen Verhältnisseufzend hinzu, „ werde ich mich, wie ich versen erzähle. Sie wollten , daß wir einander mute, auf dem Lande, und zwar unter höchst prosaischen Verhältnissen, festhalten laſſen.“ möglichst unbekannt blieben. Aber wenigstens "!„ So ? Warum ? " warf Elfriede leicht hin, Ihren Namen wüßte ich gern ! Und was gilt's, der alte Neuntöter da weiß ihn bereits ? Ich ohne vom Blatte aufzublicken. war so frei, mich Ihnen vorzustellen — " „Das darf ich Ihnen ja nun wieder nicht mitteilen. Die Verabredung verbietet es. “ „Nun ja , Sie haben mir Ihren Vornamen, Chlodwig, genannt, den Familiennamen „Richtig!" bestätigte Elfriede lachend. Gabriel Neuntöter , jezt sind auch Sie erlöst ! “ aber so leise und undentlich ausgesprochen, daß er mir gar nicht zu Gehör gekommen ist. „Merkwürdig ! Meisterhaft!" sagte ChlodIch wünsche es auch nicht anders . Aber da wig, über die Zeichnung blickend . Neugierig bin ich, wer nun dran kommt !“ nun doch einmal zwei der anwesenden Herrn „Die Geiß!" rief Girgl mit hell auf(ſie wies auf Gabriel und Girgl) meinen Namen wissen, so soll er auch Ihnen nicht mehr leuchtenden Augen , und sprang auf, um das Aber Elfriede neue Modell herbeizuholen. vorenthalten sein. Girgl, wie heiße ich?" Die Geiß ist eine sehr hielt ihn zurück. „Friedel!" entgegnete der Knabe mit Sicherheit. unruhige Person, soviel konnte ich an ihr be„Was? Du unterstehst dich , schon ein reits beobachten! " sagte sie. „ Ueberdies habe ich mein Porträtzeichnen nur in der Gesellschaft Kosewort aus meinem Namen zu machen ? " Physiognomicen gibt es auch da , gelernt. rief sie belustigt. Gabriel , eine neue Sünde gegen die das Gesicht der Geiß noch eine Schöndes unbotmäßigen Geißbuben witternd , legte ich heit zu nennen wäre , aber dennoch die geballte Fauſt auf das Knie, während der müßte erst zu Rosa Bonheur oder in sonst Knabe verlegen von einem zum andern blickte. "Ich heiße Elfriede !" eine gute Schule des Tierstudiums gehen. Es entstand eine kleine Pause. Dann beAuch mag es für heut an zwei Sizungen genug sein! Dort aber kommt bereits das Mogann Chlodwig : Der Play ist wirklich sehr dell, welches ich mir für morgen ausersehen hübsch, und Sie verstanden zu wählen, Fräulein Elfriede! Man sollte hier am Felsen habe. Nero ! Nero ! Abscheuliches Tier! willst du wohl!" eine kleine Anlage machen mit Ruhebänken." Diesmal aber war Nero nicht zu bändiOnein!" rief sie abwehrend. „ Wenn dergleichen in Ihrer Macht stände - thun Sie gen, sondern schoß mit wütendem Bellen gegen ein altes Weib los , welches aus dem Gebüsch es ja nicht! Sie werden der Natur ein Stück ihres eignen Lebens , ihrer Freiheit nicht ent= getreten war. Elfriede rief, drohte, Chlodwig schlug nach ihm, Gabriel aber sah mit hämireißen wollen ! Ein künstlich hergezwungener Plan würde einen , Aussichtspunkt aus dieser schem Lächeln zu , und es war Feindseligkeit Stelle machen, etwas Prosaisches an die Stelle gegen die Alte in seinen Augen zu lesen. Nur mit Mühe wurde der Hund beschwichtigt, imder Naturpoesie bringen. Glauben Sie mir, mer noch mit Knurren seinen Widerwillen ich ginge nicht mehr hierher , wenn ich eines Tages eine Anlage' entdeckte. " fund gebend. Die Frau schien es nicht besser
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gewöhnt, stand ruhig auf ihren Stock gestüßt, und nickte dem schönen Mädchen lächelnd zu. Sie war von bemerkenswerter Häßlichkeit und sehr ärmlich gekleidet. Auf dem Rücken hatte. sie einen Trageforb , gefüllt mit Kamillen, während sie im Arm und in der Hand eine Menge Pflanzenbündel trug, die einen starken Duft verbreiteten. „ Wollen Sie sich morgen von mir abzeichnen laſſen, Trude ?" fragte Elfriede mit sehr laut erhobener Stimme, denn ſie kannte die Alte als schwerhörig . Für Trude lag in der Frage nichts Auffälliges mehr. Sie hatte die junge Dame nun schon seit Wochen überall zeichnen sehen ; im Dorfe auf irgend einem Stein sigend, umgeben von einer Schar Kinder, im Walde, in der Nähe des Städtchens. Sie nichte daher bereitwillig, vielleicht um so bereitwilliger, da sie schon vernommen, daß die Dame älteren und ärmeren Modellen Geldgeschenke zu machen pflegte. „ Soll ich hinunter kommen nach Ihrem Hause, oder kann es hier geschehen ?" fragte Elfriede weiter. Ich will schon hier sein! " entgegnete die Alte. „ Gehe früh aus nach Kräutern . Wenn " ich's vom Dorfe acht Uhr schlagen höre „Gut, dann wenden Sie sich hierher ! Sie werden mich schon finden.“ „Die nichtsnutige Her' auch noch konterfeien !" murmelte Gabriel, und band darauf laut und ärgerlich scheltend wegen ihrer Ziege mit Die Alte gab ihm kurz ein paar ihr an.
einen Wink des jungen Mannes sein Murren ein , grüßte militärisch und schritt nach der andern Seite davon. Als Chlodwig, der während dieses Auftrittes sein Lachen schwer beherrscht hatte , sich mit Elfrieden allein sah, begann er: „Daß doch das schönste Waldidyll eine so realistische Kehrseite hat !" „Ich kenne sie längst !" entgegnete Elfriede, ihren Strohhut aufnehmend , während Chlodwig ihre Bücher vom Boden hob. „Die Alte fann von Glück sagen, daß es feine Herenprozesse mehr gibt!" fuhr er fort. „Gabriel Neuntöter hat nicht unrecht mit sei ner schmeichelhaften Bezeichnung." Und doch kenne ich sie von schätzenswerter Seite. Sie ist arm , obgleich sie ein eigenes Häuschen, wenn man sonst die verfallene kleine Hütte so nennen will , mit einem Stückchen Garten und Hof besitzt. Im Sommer sammelt sie, was der Wald dem Armen bietet , besonders Kräuter für die Apotheken. Troß ihrer Armut hat sie sich noch des Knaben angenommen und ihn bei sich aufgezogen. Nie mand weiß wo Girgl hergekommen ist , man fand das unmündige Kind an der Straße. Sie bat es sich aus , und man ließ es ihr, So viel da sonst keinem danach gelüftete.
habe ich bereits über sie erfahren. Was auch durch ihr eigenes Leben einst gegangen sein mag, Gabriel thut unrecht , die wehrloſe alte Frau und den Knaben mit seinem besonderen Worte zurück, welche ihn wütend machten, und böse Scheltreden auf seine Lippen riefen. Uebelwollen zu verfolgen. Doch nun — es ist Dreiviertel auf Zwölf, ich muß aufbrechen!“ Trude lachte ihm höhnisch ins Gesicht , und „Aber wie wissen Sie die Stunde so gesagte etwas nur ihm allein Verständliches, welches ihn dermaßen in Grimm verseßte , daß nau , ohne nach der Uhr zu sehen ?“ fragte Chlodwig, indem er seine Uhr zog. „ In der er seinen Knotenstock gegen sie schwang . Es That - ungefähr stimmt es!" herrschte augenscheinlich eine alte, erbitterte Feind „An dem Schatten, den der Baum wirst, schaft zwischen beiden. Elfriede fiel dem Waldhüter in den Arm , und bat ihn, sich zu be- erkenne ich es. Wenn er sich auch von jenen Steinen dort zurückgezogen hat, ist es Zwölf. ruhigen. „ In Acht nehmen soll sich das Gesindel vor mir ! " schrie er. In Acht nehmen ! | Noch habe ich gerade für den Heimweg Zeit. Sie wissen, daß ich allein gehe, daß Sie mir Ich krieg's doch noch mal zu fassen ! Hinunter nicht nachspüren dürfen ! " Elfriede grüßte, und mit der Geiß, sag' ich, oder - !" Girgl hatte die Geiß schon längst am wollte sich entfernen. Stricke und sprang in Aengsten mit ihr den „Aber morgen , gnädiges Fräulein- darf Weg abwärts, gefolgt von den Ziclein, wäh│| ich morgen Ihre Werkstatt wieder aufsuchen ? “ Er fragte es in so kindlich bittendem Tone, rend die Trude sich gelassener verabschiedete, daß sie ihn fast befremdet ansah. „Hindern indem sie Elfrieden zunickte und ihr Versprekann ich es ja doch nicht ! " entgegnete ſie ; „ alſo chen auf morgen wiederholte. Gabriel sprach wenn Ihre fünf Tanten nichts dagegen haben, endlich noch den Vorwurf aus , das Fräulein verwöhne das Lumpenvolk , stellte aber auf so richten Sie Ihren Morgenspaziergang nur
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immer nach diesem Orte. Sie wissen , daß Sie den Pudel Nero und die alte Trude in meiner Gesellschaft finden werden. " Der junge Mann sah ihr eine Weile kopfschüttelnd nach und blieb in Gedanken stehen. Gern hätte er mehr von ihr erfahren, gern gewußt, ob sie in dem benachbarten Städtchen, welches eigentlich nur ein Flecken zu nennen war, wohne? Aber wie käme dahin eine solche Weltbildung , Feinheit der Formen und des gesellschaftlichen Tons ? Seinem Versprechen getreu, ihr nicht nachzuspüren, wendete er sich, und schritt an der Seite des Felsens den Weg hin, auf dem er gekommen war. Rechtzeitig saß die Trude am andern Morgen auf ihrem Plate, bereits umgeben von gesammelten Pflanzen verschiedener Art , welche sie auseinander las und die zusammengehörigen in Bündel knüpfte. Bald erschien auch Elfriede, frisch und heiter, aber leider war der Widerspruch Neros gegen die Kräuterſammlerin ein Leidwesen für das junge Mädchen. Selbst nachdem sie ihn mühevoll neben sich gebannt hatte, hielt er die Augen starr auf die Alte gespannt , um bei jeder Bewegung, die ihm verdächtig vorkam, in ein Knurren, Schnaufen und Gebell zu fallen. Elfriede änderte nicht viel an der Stellung der Alten, und ließ sie bei ihrer Beschäftigung während des Zeich= nens. Eine Unterhaltung wurde nicht geführt, und so verging die Zeit in Morgenstille und Thätigkeit. Zweimal schon hatte Elfriede die Alte gezeichnet, als Gesichtsbild und in ganzer Figur, wie sie unter ihren Kräutern da saß, und machte eben die letzten Striche daran, als fie die Stimme Girgls in der Nähe vernahm.
Sie selbst hier zu finden!" sagte er freudig. " Chlodwig erzählte mir erst heut früh von der Bekanntschaft mit einer liebenswürdigen Dame, namens Elfriede, welche hier ihre Naturstudien
Ach , wenn er nur nicht wieder die Ziegen mitbringt ! dachte sie, und blickte auf. Sie sah den Knaben in Geſellſchaft eines Mannes herankommen. Aber es war nicht Chlodwig. Der Fremde erschien älter , breiter, kräftiger. Sie stuzte, denn sie glaubte, einen alten Bekannten zu entdecken. Er förderte seine Schritte, grüßte schon von weitem , und rief: „Ist sie es denn wirklich ? Fräulein Elfriede!" Sie sprang auf, ließ ihr Zeichengerät fallen, und eilte ihm entgegen mit dem Freudenruf: Dornberg ! Lieber alter Freund!" reichte ihm zum Willkommen die Hand , auf die er einen Kuß drückte und sie vertraulich schüttelte. " So hat mich die Hoffnung nicht getäuscht,
Tag ist seit jenen schmerzlichen Ereigniſſen vergangen. Fürchten Sie jetzt keine leidenschaftliche Ueberschwänglichkeit mehr!" Sie sah sich Die aber hatte den nach der Trude um.
mache, und bedauerte gar sehr , eine Aufforderung seines Oheims zum Ausreiten nicht ablehnen zu können. Der Name Elfriede ist mir so wert, daß ich nicht widerstehen konnte, mich hierherführen zu lassen , um selbst zu sehen. Welch ein günstiger Stern führt uns zusammen!" „Wahrlich, lieber Herr Dornberg," sagte sie, es ist mir wie ein Erlebnis, ein ernſtes und bedeutungsvolles Erlebnis , Ihnen gerade jest wieder zu begegnen!" Er schien den Ernst noch vermeiden zu wollen, und indem er ihr Zeichenbuch aufhob, und die Blätter umschlug , begann er : „ Sie zeichnen so fleißig ! Ach, wie hübsch! wie charaktervoll !" „Es sind die Vorbereitungen zu meiner fünftigen Selbständigkeit. Ich muß jezt sehr thätig sein! Wissen Sie denn auch, was alles mit uns vorgegangen ?" Er sah sie voll Teilnahme an. „Ja, mein teures Fräulein ! Wenigstens so viel die Oeffentlichkeit davon verriet. Sie waren Braut Sie haben von harten Erlebnissen zu sagen. Ich sehe Sie noch in ernsten Gewändern. Wenn Sie die Erinnerung an die Verlorenen nicht zu mächtig ergreift , möchte ich Sie bitten, mir von Ihrem Geschick einiges mitzuteilen!" „Muß ich doch täglich daran denken ! " entgegnete sie. „Warum sollte ich mit einem Freunde nicht auch darüber reden? Ueber Jahr und
Plaß schon verlassen, und wurde nur noch unten auf dem Wege mit ihrem Knaben sichtbar. Elfriede schritt mit Dornberg langſam dem Walde zu. „ Sie wissen, wie wir lebten," fuhr sie fort. Im Strome der Welt, groß und glänzend. Und als mein Vater gar Minister geworden war, diese lezten drei Jahre seines Lebens, verlangte seine Stellung großen Aufwand. Ich, sein einziges , verwöhntes Kind, ließ mir den berauschenden Wirrwarr der Ge sellschaft gern und arglos gefallen . Ein wackrer Mann warb um meine Hand. Er war
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von hervorragender Familie , in bedeutender Stellung, nicht mehr jung , Witwer auch die Kinder hatte er früh verloren ; aber er war immer noch eine glänzende Erscheinung, liebenswürdig , und jedermann schäßte ihn. Mein Vater begünstigte ihn sehr, ohne doch Einfluß auf meinen Willen zu üben. Ich wurde seine Braut. Ich bin überzeugt, daß Die ich glücklich mit ihm geworden wäre! Hochzeit war festgesetzt. Vierzehn Tage vorher oh Gott, es war fürchterlich ! Ein un-
Verdienst zu hervorragender Stellung gelangt Diese Stellung verlangte dann mehr war.
Aufwand, als eigentlich bestritten werden konnte. Biel wurde auch verschleudert und ging durch andere verloren. Die Mutter starb so früh ! Der Haushalt mußte durch Fremde geführt werden, ich durfte mich nicht darum bekümmern, war auch zu jung dazu , überdies gar nicht dafür erzogen. Die Treulosigkeit der Untergebenen zeigte sich erst nach dem Tode des Vaters. Und nun sollte ich, im Angesicht eines vollständigen Ruins selbständig handeln! glückseliger Sturz mit dem Pferde machte ſeinem Leben ein Ende!" Elfriede bedeckte ihr Gesicht | Lassen Sie mich von diesen verworrenen Tagen mit beiden Händen und blieb innerlich ergriffen nicht reden ! Es wurde alles Vorhandene zu stehen. Dornberg schwieg , er wollte nichts Gelde gemacht , um die ausstehenden FordeTriviales sagen. rungen zu decken. Zu meiner Verwunderung Das junge Mädchen trocknete die Augen blieben noch ein paar hundert Thaler für mich und fuhr fort : „Mein armer Vater war außer übrig. Aber viel hat mir mein teurer Vater doch hinterlassen , einen Schat , den ich ihm sich, wie gelähmt vor Schreck. Er konnte den Pflichten seiner Stellung kaum noch genügen. endlos danke, meine Erziehung! Daran wurde Dann wurde er krank. Für mich galt es nichts gespart, nichts vernachlässigt . Sie wisjezt, mich zu überwinden , alle Kraft für ihn sen, daß ich singe, die Schule der beſten Meiſter durchgemacht habe, daß ich Klavier spiele, daß zusammenzunehmen. Es war umsonst. Zwei Monate darauf wurde auch er begraben !" die modernen Sprachen mir keine Schwierigkeit Nur durch einen tiefen Seufzer konnte machen. Das Porträtzeichnen ist mehr NaturDornberg seine innerste Teilnahme bekunden. gabe, ich traf jedes Gesicht zu meiner und "„ So viel ungefähr ist mir bekannt geworden," andrer Ueberraschung , noch eh' ich eigentlich sagte er nach einer Pause. Zeichnen gelernt hatte. Aber gerade diese Fer„Dem großen Schmerz, der heiligen in- tigkeit betonten Einsichtige ganz besonders, als neren Trauerso fuhr sie gefaßter fort, ich denn doch den Entschluß aussprach, mir folgte die kleine Trübsal. Sie hatte nur ge- meinen Lebensunterhalt zu verdienen . Ein beringe Kraft über mich , wenn auch die erste freundeter Künstler nahm mich gleich in die Bekanntschaft mit einer so völligen Umkehr Lehre. Und nun muß ich eilen, daß ich etwas aller gegebenen Verhältnisse das flatterhafte leiste, ehe meine Barschaft aufgebraucht ist Weltkind einen Augenblick erstarren machte. denn das steht in ziemlich naher Aussicht ! " Mein Vater hinterließ nichts , während die „Armes Kind !“ sagte Dornberg leiſe, und Forderungen an ihn von allen Seiten noch mehr für sich selbst. enorm waren. “ „O bedauern Sie mich darum nicht, lieber „ Er hinterließ Ihnen nichts , gnädiges | Freund ! " rief sie mit wieder heiterem Gesicht und hellen Augen . „Das ist ja mein Trost, Fräulein ?" rief Dornberg erstaunt . meine Freude, mein Glück! Seit jenem Ent„Nichts, lieber Freund ! Wenigstens nichts schlusse, zu arbeiten, wie andere zu streben, von dem, was man so Vermögen nennt. Mir sind nachher die Augen erst aufgegangen, und mich ernstlich fortzubilden , habe ich schon ich machte die Erfahrung, daß solche Ueberein Mittel auch gegen den großen Schmerz, raschungen in der Welt sehr häufig sind. Die der durch mein Leben gegangen, und doch noch so neu und lebendig in mir ist. Wenn ich Welt selbst weiß meistenteils lange vorher, was arbeite und die Freude des Gelingens fühle, die betroffenen Hinterbliebenen wie ein Unerdurchströmt es mich von Glücksgefühl, und ich hörtes überwältigt. So mag es auch bei uns gewesen sein. Mein Vater war von schlichter fühle eine Wonne der Befriedigung , wie ich sie in leichten Tagen des Flatterſinns, der Verbürgerlicher Familie, hatte sich sogar aus dürf Der wöhnung, niemals empfunden habe!" tigen Verhältnissen herausgearbeitet. Adel wurde ihm verliehen , als er durch sein „Elfriede, Sie sind eine glückliche Natur!
Die Tage des Waldlebens. Aller Segen mit Ihrem Streben ! Nun aber fagen Sie mir noch, was führt Sie in dieſe entlegene Gegend ?" "Ja, guter Dornberg , das ist nun auch wieder so ein Glücksfall , wie er nicht alle Tage vorkommt ! Ich erfuhr in jener Zeit der Trübsal, daß ich wirklich Freunde hatte. Viele wollten mir Liebes erweisen, ich fühlte Eine liebenswürdige mich beinahe bedrängt. Familie nahm mich vorläufig auf und gestattete mir frei zu schalten. Daß ich mich von der Geſellſchaft noch zurückzog , ließ man gelten. Dann aber wollte man finden, daß ich die Trauerzeit viel zu lange ausdehnte, man wünschte mich wieder mit dem großen Strome gehen zu sehen, wozu ich nicht das geringste Bedürfnis fühlte. Nun ging der Sommer an. Ich sollte mit den guten Freunden reisen, mit dieser und mit jener Familie, nach Baden, nach Ems, wer weiß wohin, immer wieder in den mir noch ganz widerwärtigen Strudel hinein. Da fiel mir ein Mittel ein, dem Dringen auszuweichen. Mein Vater hatte in seinem Büreau einen Kanzlisten, eine treue alte Seele. Fünfzehn Jahre lang war er bei uns ausund eingegangen , und behauptet , mich auf aber mir den Armen getragen zu haben -
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den Wurf kommt, abzeichne. Aber nun habe ich genug von mir selbst gesprochen , und so ist es an Ihnen, lieber Freund, mir von Ihrem Leben zu erzählen. Vier Jahre müssen es her ſein, ſeit wir uns nicht geſehen, und darüber alte Leute geworden sind. Doch nein : Sie nicht, Sie sind nicht alt geworden!" „Gewiß nicht, und will es auch nicht ! Alt wird nur, wer sich zum Altwerden bereit er= klärt. Dazu haben wir beide aber keine Veranlassung. Und ein so junges Mädchen, wie Sie , sollte davon gar nicht reden. Sie sind zwei und zwanzig Jahre alt, ich weiß es genau, und Sie halten es nicht für unhöflich, daß ich es so genau weiß und ausspreche!" "Ich mache aus meinem Alter kein Geheimnis. Aber wenn Sie wüßten, wie alt wie entsetzlich alt ich mir noch vor kurzem erschien ! Doch zu Ihnen selbst jest! Sie sind verheiratet ? “ "Ja, teures Fräulein , seit zwei Jahren, und bin Vater eines rundbäckigen Buben. Meine äußere Lage ist günstig genug, ich bin in meiner Wirksamkeit zufrieden. Mit Rüh = rung denke ich zurück an die Zeit, da wir uns kennen lernten. Vorn an der Straße, im Palaisbau des Hauses wohnte der Herr Staatsrat mit seiner Tochter, im Hinterhause
fällt ein, daß ja auch Sie ihn gekannt haben, den alten, immer so sauber geschniegelten Herrn Heller - ?" hatten wir kleinen Leute“ uns eingenistet, meine Mutter und ich, der ich damals Gym" Freilich! Freilich! " rief Dornberg. Er naſiallehrer mit noch sehr knappem Gehalt trug eine glatt anliegende rötliche Perücke!" war. Palais und Hofwohnnng standen in Sonntags sett er sie immer noch auf! meines keinem Verkehr zusammen. Da erfährt ElHeller hatte sich noch bei Lebzeiten friede, daß die Mutter des armen Schullehrers Vaters aus dem Dienste zurückgezogen , da schwer krank darnieder liege, und er selbst seine Frau, welche hier aus dem kleinen Flecken Das glänzende Weltist, eine Erbschaft machte. In jenen Unglücks- | sich keinen Rat wiſſe. tagen schrieb er an mich, sehr brav und teilkind erscheint am Lager der Kranken , bringt ihr Stärkungsmittel, wiederholt ihren Beſuch nehmend. Ich entgegnete, und um so herzlimit immer neuer Hilfe, kommt alle Tage, cher, da er einer von den wenigen Getreuen im und die Mutter wird gesund. Aber auch dann Hause gewesen. Daraus entwickelte sich dann ein kleiner Briefwechsel zwischen uns. Da ich noch blieb sie den Leuten in der Hofwohnung getreu . Und wenn es auch nur ein Viertelihn nun als Hausbesißer in einer hübschen Waldgegend wußte, so sah ich durch ihn plög- stündchen gewesen wäre, das sie sich von ihren geselligen Pflichten abstehlen konnte , sie kam ! lich einen Ausweg, mich vor alle den freund Elfriede, wenn ich daran denke, wie Sie zur lichen Reiſebeſtürmungen zu retten. Ich schrieb Begleitung unsres dünnklimpernden Klaviers an die alten Leute, ob sie mir für einige Som merwochen ein Asyl bieten wollten ? Sie hießen mit Ihrer Glockenstimme Lieder von Beethoven, mich willkommen, und so lebe ich hier als Schubert, Mendelssohn sangen - wie mir da Abenteurerin, frei, zufrieden, in mir selbst wie- zu Mute gewesen ! Ich war kein Kind mehr der erwachend, und treibe Kunststudien, indem an Jahren, aber innerlich halb verrückt , und Sie durften es nicht wissen , wie verrückt ich ich Kinder, Bettelleute, und was mir sonst in 2
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war! Jezt kann ich es ja eingestehen und " darüber lachen
„Nun fürs erste bin ich sechs Jahre lang Chlodwigs Hauslehrer und Erzieher gewesen, nämlich vor der Zeit, da ich Ihre Bekanntschaft machte. Dann aber - " „Sie?" rief Elfriede überrascht. „ Ich denke er ist von fünf Tanten erzogen worden ?“ Dornberg fing an zu lachen. „ Von fünf Tanten erzogen ?" rief er. „ Die müßte ich doch auch kennen ! Das hat er selbst Ihnen doch nicht erzählt?" „Allerdings hat er das!"
Auch Elfriede lachte, ohne doch bei dem Thema verweilen zu wollen. „ Ich weiß auch noch," sagte sie, " wie ich von Ihrer Mutter einst beinahe Schelte bekommen hätte! Sie sprach zuweilen aus , wie sie mich gar zu gern einmal im Ballanzuge sehen möchte. Nun war bei uns Tanzgesellschaft, und ich eben mit der Toilette fertig , als mir einfiel , mich so bei der Mama zu zeigen. Schnell mußte es sein, und so flog ich hinaus, über den Hof, in Atlas„Dann hat er Ihnen etwas aufgebunden ! schuhen, gefolgt von meiner schreienden Zofe, Ihre Bekanntschaft mit ihm ist ja wohl auf welche das schlimmste für meinen Flitter fürchtete. so ein kleines Versteckspiel begründet ? Uebrigens freut es mich - ' Und so sprang ich zu Ihnen ins Zimmer- " „Taß er mir etwas aufbindet ? Nun das „ Ich weiß es wie heut !" rief Dornberg. In weißer Seide , eine Flut von Spiten sind ja schöne Grundsäge für einen Erzieher !“ darüber verbreitet , frische Maiblumensträußer unterbrach sie ihn munter. „Braucht der erin den Locken und über die ganze Gewandung wachsene junge Herr vielleicht noch bis auf verstreut!" den heutigen Tag des Erziehers und Führers ? Ihre Mutter schrie auf, und wollte wegen Ich muß Ihnen sagen , er gefällt mir nicht dieses unerhörten Leichtsinns fast gemeinschaftsonderlich. Er erscheint zwar ganz leidlich liche Sache mit meiner Zofe machen. Die liebe und wohlanständig, aber solche alabasterne GeGute ! Ich fühlte mich immer zu ihr hin- | ſichter sind mir an jungen Männern nicht angezogen. Hatte ich doch selbst keine Mutter! genehm!" „ Sie hätten ihn vor drei Monaten sehen. Wo ist Ihre Mama jezt ? “ „Bei mir , selbstverständlich! müssen ! Da war er ein frischer , blühender Und Sie sollten sie jezt sehen , wie frisch und blühend Bursche. Aber eine Niederlage von zehn Wochen sie geworden, und wie stolz auf ihren Enkel! an einem typhösen Nervenfieber, mit Rückfällen
Ja, was noch mehr , sie hat auch die Musik der gefährlichsten Art, hätten auch einen her-- Sie wissen, daß sie wieder aufgenommen | kulischen Bau erschüttern können. Er ist, so sich und mich in meiner Kindheit durch Klavierzu sagen, frisch vom Tode erstanden. “ unterricht erhielt. Jezt spielt sie nur zum „Oh ! warf Elfriede dazwischen. Das ist Vergnügen, und begleitet meine Frau, die eine freilich etwas andres !“ Er wird sich hier erholen und kräftigen, schöne Altstimme hat. Ach , Elfriede , wenn ich auch Sie einmal wieder könnte fingen denke ich," fuhr Dornberg fort. „Ich bin es hören!" allerdings, der ihn hierher begleitet hat. Auf einer kleinen geschäftlichen Reiſe begriffen, über„ Ich habe es lange nicht versucht. Erst schlug ich einen Bahnzug, um unterwegs nach jetzt, im Walde, wollen ab und zu wieder alte Klänge über die Lippen. Aber sehen Sie doch-! | dem Patienten zu sehen , von dessen überſtanSein dener Lebensgefahr ich gehört hatte. In welche wundervolle Wildnis wir gedrungen find! Dieses Gewirr von Gestein, Stämmen Vater ist ein reicher Fabrikbesitzer auf dem Lande. Da die verqualmte Luft dort für den und Unterholz ! Und wie das Sonnenlicht hinGenesenden unzuträglich genug ist, wurde schnell durchfunkelt!“ „Es ist schön! Das heißt, schön für uns der Entschluß gefaßt , Chlodwig auf einige Laien! ,, entgegnete Dornberg. „ Sonst aber habe Zeit auf das Gut seines Oheims zu senden, und so begleitete ich ihn in diese Gegend. ich bereits klagen hören, daß hier sehr schlechte Waldwirtschaft sei, und durch die Laune des Freilich , das Haus dieses alten Herrn paßt für Chlodwigs Naturell gar nicht — doch soll Gutsherrn viel verloren gehe. Chlodwigs Oheim er sich ja auch nicht sowohl drinnen, als vielist ein wunderlicher Herr." mehr im Freien aufhalten. Denken Sie nicht ,,Wie ist der junge Mann denn aber gerade übel von ihm ! Er ist mir , troß des Unteran Sie gekommen , und Sie mit ihm hierher !"
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schiedes der Jahre, sehr befreundet. Innere Mann von ſtark erregbarer Innerlichkeit lieber, Konflikte mancher Art sind es, die überdies als ein andrer , der die Erfahrungen nur so augenblicklich sein Gemüt und Wesen noch an sich abgleiten läßt." Da Elfriede nichts darauf entgegnete, fuhr etwas unſtätig machen. Der Vater verlangt von dem einzigen Sohn und Erben den Einer fort: „Warum muß auch meine Zeit so kurz gemessen sein! Ich hätte gerne noch tritt und die Fortführung des umfangreichen Geschäftes, wozu Chlodwig weder Trieb noch manches mit Ihnen durchgesprochen. Auch über Geschick in sich fühlt. Ein akademisches Stu- | Ihre Zukunft. “ „ Sie wollen doch nicht sobald wieder dium war dem Sohne schließlich zugestanden. worden. Nun aber wendete sich seine Neigung abreisen?" rief Elfriede. der Philologie zu was mein früherer EinMorgen früh schon. Ich darf keinen Tag fluß als Lehrer wohl mit verschuldet haben zugeben!" mag - ein Studium, das sich mit der Fabrik dann gönnen Sie mir wenigstens den „ fünftig nicht vereinbaren läßt. So kommt er heutigen! Kommen Sie mit zu den alten nach drei Jahren von der Universität , und Hellers ! Sie werden sich des Wiedersehens freuen!" Vater und Sohn sind sehr verschiedener Ansicht geworden, und zwar über nicht mehr als Dornberg war bereit, sie zu begleiten, und alles! Dann aber noch eins ! Es ist am sie schritten aus dem Walde dem Städtchen besten, ich erzähle Ihnen auch das . Eine unzu. Plötzlich blieb er stehen und sagte: „Ein Vorschlag, liebes Fräulein ! Wenn Sie sich hier glückliche Neigung that das ihrige, sein Gemit Zeichnen und Waldgenuß Genüge gethan müt leidenschaftlich zu erschüttern. Es war haben, dann kommen Sie zu uns ! Der Sommer eine Couſine, wie das denn ſo häufig vorkommt, ist noch lang. Auch bei uns gibt es schöne eine sehr glänzende junge Dame , welche ihn Natur. Meine Mutter und meine Frau würstark anzog, eine Weile mit dem hübschen Vetden Sie hochwillkommen heißen. Wir haben ter kokettierte, sich aber doch schnell entschloß, einen nicht mehr jugendlichen Offizier zu heis im eignen Hause Plaß genug, und Ihre Freiheit sollte Ihnen bleiben, wie hier bei Hellers !" raten. Es heißt , dieſe Erfahrung habe ihn „Wie sehr danke ich Ihnen, lieber Freund !" völlig aus den Fugen gebracht , und ihn in rief Elfriede mit Rührung. „ Ich will es in jene fürchterliche Krankheit geworfen. Ich lasse Erwägung nehmen. Noch aber lassen Sie das dahin gestellt sein ! Jedenfalls hat sein mir einige Wochen Zeit. Ich muß noch mehr Gemüt unter dieſer Leidenschaft stark gelitten, Luft einatmen , Einsamkeit genießen , und daund auch nach der Genesung scheint ihm eine wunde Stelle geblieben , welche geschont ſein | bei die weißen Blätter meiner Zeichenbücher will." füllen !" Am folgenden Morgen verließ Chlodwig Elfriede dachte nach Anhörung dieses Befrüh das Haus ſeines Oheims, der meist lange richtes bereits besser von dem jungen Manne, in den Tag hinein schlief. Dornberg hatte den sie bisher nur von oben herab behandelt hatte, dennoch entgegnete sie: „Ist das auch sich schon abends zuvor von der Gesellschaft wohl recht männlich ?" verabschiedet , und war , von seinem jungen „Aber verehrteste Freundin!" warf DornFreunde zum Wagen begleitet, eben abgereist. berg ein. „ Ich muß die Gegenfrage thun: Ist Das Haus des Gutsherrn machte spät Tag, Ihre Frage auch wohl gerecht, oder nur billig ? | da die männlichen Bewohner oft bis zum Morgen zu wachen pflegten. Obgleich der alte Herr Wer darf von einem zweiundzwanzigjährigen Jünglinge schon die Reife und Üeberwindungsohne Familie lebte, war es nicht einsam um kraft des Mannes verlangen? Frauen schäßen | ihn. Als Jagdfreund liebte er, immer gleichallerdings meist den reifen und charakterfesten gestimmte Gäſte um sich zu haben. Er wählte Mann, obgleich sie ihn auch nicht immer wäh- sie unter penſionierten Offizieren, Grundbesitzern, bejahrten Lebemännern, Leuten, die sonst nichts len. Den Mann in Jahren mag man tadeln. zu thun hatten. Sie blieben Wochen, Monate wenn er sich von einer Leidenschaft fortreißen und verwirren läßt, zu den Jahren des Jüng- lang, mancher, der keine Unterkunft mehr fand, benußte das Haus, um darin zu überwintern. lings aber gehört die Leidenschaft, ganz unbeschadet seines Charakters. Mir ist ein junger Nicht immer wurde gejagt , gewöhnlich aber
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abends , auch wohl bei Tage schon gespielt, und zwar sehr hoch gespielt. Große Summen.
ließ sich heute nichts blicken. Er empfand noch keine Ungeduld , obgleich es ihn gefreut hätte, sie zu sehen, und ſo las er in einem Lieblingsbuche, welches er mitgenommen hatte. Dasselbe geschah am nächsten Tage. Am dritten aber fand er sie, wo er sie nicht gesucht hatte. Er war auf einem Pfade zwischen Waldessaum und Kornfeld hingeschritten, als er unvermutet auf eine belebte Gruppe traf. Elfriede ſaß auf dem Rasen, umgeben von einem Dußend Kinder, welche diesmal nicht gezeichnet wurden , sondern mit welchen sie Kränze von Kornblumen flocht. Mehrere kleine Mädchen
wechselten den Besitzer durch Verlust und Gewinn. Dazu war es hergebracht , ſtark zu trinken und der Tisch mußte gut bestellt sein für die nicht eben beste Gesellschaft. Für die Bewirtschaftung des immerhin großen Besigtums hatte der Gutsherr keinen Sinn und überließ sie den Verwaltern. Aber da er viel verbrauchte , wurde die Wirtschaft schlechter und schlechter, und Chlodwigs Vater, der Fabrikherr, sagte den vollständigen Ruin seines Schwagers seit lange voraus. Tas waren bereits bekränzt, andere lernten das Flechfocht jedoch den alten Nimrod nicht an. Hatte ten von Elfriede; Maſſen von Blumen lagen er doch keinen Erben, als etwa seinen Neffen, umher, welche ausreichend schienen, alle Häupfür den ja von Hause aus reichlich gesorgt war. Und so vertrödelte er mit seinen Kumter blau zu umwinden. Lächelnd und grüßend panen getrost, was er besaß , in der Aussicht, trat er näher. „ Da ich Sie in Ihrer verdaß es ja für ihn selbst ausreichen werde. borgenen festen Burg nicht aufsuchen darf, gnädiges Fräulein , begann er , so haben Sie Chlodwig , der sich von der Lebensart mir es erschwert , Ihnen einen Abschiedsgruß und dem Tone des Hauses abgestoßen fühlte, unsres Freundes Dornberg zu überbringen!" lebte auf seine eigne Hand, und auch die Grau" Daß es auch gar nicht möglich war, ihn bärte waren es zufrieden , daß „ der kranke Junge", wie Sie ihn nannten, sie nicht störte, länger hier zu fesseln ! " entgegnete sie. „ Sie würden sich auch darüber gefreut haben, nicht sondern seiner Wege ging. Und so schritt er durch das Dorf , der Waldhöhe zu , in der wahr, Herr Sturmfeld ? Sie hören, ich weiß Hoffnung, Elfriede auch heute auf dem Plaze Ihren Namen. Und so mag denn der Verzu finden, wo er sie zuerst gesehen. Dornberg trag, einander nicht nachzuspüren , aufgehoben hatte ihm kein Geheimnis daraus gemacht, sein , zumal auch Sie wohl meinen Namen Verstehen Sie sich und Aufenthalt kennen. wen er in ihr wiedergefunden , und ihm umständlich über ihre Verhältnisse und ihre Lebens- | auf die Beschäftigung , die wir hier kindlich treiben ?" lage berichtet; er durfte annehmen, daß der Freund auch ihr einiges über sein äußeres Chlodwig mußte es verneinen, fügte aber Leben mitgeteilt habe. Er fühlte die reinste hinzu, daß er sich für fähig halte, diese Kunst Verehrung und Hochachtung für das junge zu lernen. „ Nun dann nehmen Sie Platz unter uns Mädchen, ja sogar etwas von Demütigung Nero, steh auf! " entgegnete sie. „Life, du über seine so viel günstigere Lebenslage. Denn er war nicht die Natur, den Wohlstand seines | kannst es am besten , zeige dem Herrn , wie Vaters in Leichtsinn und Genuß auszubeuten, man es macht!" oder sich desselben anders als zu BildungsEr ließ sich von der kleinen Dirne unterzwecken zu freuen. Vater und Sohn konnten weisen , und versuchte sich weiter am Werk, nicht verschiedener angelegt sein. Der eine während noch dies und das über den abweganz Geschäftsmann , der andere von Hause aus Träumer mit künstlerischen und litterarischen Neigungen, die dann durch Dornbergs Erziehung in eine bestimmte Richtung gebracht worden waren ; eine Richtung, die der Fabrikherr dem Lehrer wenig dankte, und in die er sich nicht so leicht finden konnte. Chlodwig wartete eine Stunde vergeblich auf die Künstlerin. Auch von den Geschöpfen, die sich sonst um sie zu versammeln pflegten,
senden Freund gesprochen wurde, unterbrochen von einigen Zurechtweisungen, welche Elfriede an ein paar handgreifliche Buben wendete. Endlich war Chlodwig mit seinem freilich noch schülerhaften ersten Werke fertig, und langte sich das kleinste Bübchen heran, dem ein verräterischer Zipfel aus den Höschen fast nachschleppte. Der Kranz war zu groß, und fiel dem Kinde auf die Schultern. Aber das that nichts, die Freude des Geschmücktseins dem
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Dort drüben," fuhr Elfriede fort, kleinen Erdenkloß, der sich lächelnd und schmie- | ragten. die allerleßte, vereinsamte Hütte gehört der alten rig der Bewunderung darstellte, zu verringern. Trude. Ich möchte mehr von ihrem Leben Elfriede erhob sich und schritt mit ihrem wissen , auch was ihr die Feindschaft Gabriel Begleiter dem Dorfe entgegen. Es war nicht Neuntöters zugezogen hat ?“ zu vermeiden, daß die ganze Kinderſchar ihnen Chlodwig wußte es bereits , konnte sich folgte, wodurch sie sich in der Unterhaltung aber nicht entschließen, es Elfrieden im ganzen doch nicht stören ließen. Da fällt mir ein," sagte Elfriede , „daß Sie mir ja neulich in mitzutheilen. Trude hatte einen Sohn, der die betreff der fünf Tanten etwas weis gemacht Tochter des Waldhüters gern mochte. Der Alte wollte das nicht haben und stieß gewaltige haben! Dornberg will nie von diesen Tanten gehört haben!" Drohungen aus. Die Sache ging troßdem, „ Und doch hätte er nur die Augen aufzu- wie dergleichen auf dem Lande zu gehen pflegt. Die Tochter bekam später doch noch einen machen gehabt ! " entgegnete Chlodwig belustigt. „Diese fünf Tanten befinden sich in schweigender Mann, der sich nicht daran stieß, daß sie ihm an der Hand etwas zuführte, was inzwischen Gesellschaft einiger Herren gleichen Alters im im Hause ihres Vaters aufgewachsen war. Speisesaal meines Oheims, und fielen mir ein, da ich Sie Porträts zeichnen sah. Denn dieser Schon vorher aber hatte man eines Tages angenehme Familienkreis ist nur gemalt und den Sohn der Trude im Walde erschossen gehängt seit vielleicht hundert Jahren an den funden. Die Sache blieb dunkel . Obgleich der Wänden. Die Damen tragen hochgetürmte, Gutsherr für seinen Waldhüter eintrat, mußte Gabriel wegen fahrlässiger Tötung ins Gegepuderte Frisuren , oben darauf noch Federbüsche, Blumen und Sterne. Die eine trägt fängniß . Das war vor zehn Jahren geschehen . unter dem Arm ein Wachtelhündchen, die andere Chlodwig gab seiner Begleiterin nur über hält mit zwei spißen Fingern einen Pfirsich, die den leßten Teil dieser Geschichte einen kurzen dritte hat eben einen Brief bekommen und Bericht, doch er bereute auch schon dies, da er geöffnet, liest aber nicht darin, sondern wendet hörte, wie Elfriede von dem lebhaftesten Anteil an den Personen ergriffen wurde. Sie sah an sich mit herausforderndem Lächeln dem Beschauer nämlich allen diesen Gestalten nur die guten Züge, und zu . Das sind die drei Schönen manchmal mehr, als nachzuweisen waren, wähunter den fünfen , denn die beiden letzten, obgleich sehr glänzend für die Sigung geschmückt, rend der junge Mann , troß seines kurzen spotten der Beschreibung. Diese fünf Ur-Ur- Aufenthaltes in der Gegend, schon eine andere Tanten werden möglicherweise künftig enger an Einsicht in die Verhältnisse und Menschen gemeine Person geknüpft sein , da der Oheim wonnen hatte. Denn hier hieß es : Wie der bereits Andeutungen gemacht hat, daß die Herr, so die Untergebenen. Der Oheim ging Galerie in meinen Besitz übergehen werde mit üblem Beispiel voran und kümmerte sich vermutlich als das einzige Erbteil , was von nicht um die sittliche Verkommenheit der Dorfbewohner. Kümmerte er sich doch kaum um ihm zu erwarten steht !" das Verderben seines Besigtums, welches durch Elfriede ließ die gute Laune ihres Begleiters Sehen Sie nur diese köstliche Straße schlechte Beamte denn auch ausgebeutet wurde. gelten. zum Dorfe hinunter !" rief ſie. „ Schritt um Nun waren unter diesen doch einige, die selbst Schritt gewinnt man ein anmutigeres Bild! über die Wirtschaft den Kopf schüttelten , beMan möchte jedes mit dem Griffel festhalten !" sonders ein Förster , welcher sich dem jungen Für den , der künstlerisch zu sehen verstand, Gaste im Hause bereits genähert hatte. Er bot der Abstieg zum Dorfe in der That ein sah in Chlodwig den künftigen Erben , und malerisches Bild. Auf der einen Seite des hielt es für klug, demselben bei Zeiten einige Weges Felsen , überragt und durchsetzt mit Aufschlüsse zu geben. So erfuhr der Gast denn Laubholz , auf der anderen die tiefe Schlucht auch , daß der brave Gabriel Neuntöter einer des Waldwassers , in grüne Matten gesenkt, der schlimmsten Halunken sei, der wegen wiederdrüben aufsteigende und bewachsene Berge. holten Unterschleifs längst hätte aus dem Dienſt Besonders mannigfaltig machte den Weg eine gejagt werden müſſen, wenn er nicht durch die Fülle von Obstbäumen , welche den Abhang besondere Gunst des Gutsherrn immer wieder schüßten oder mit ihren Kronen aus der Tiefe geschützt worden wäre.
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Wenn man der alten Trude doch etwas Freundliches erweisen könnte!" rief Elfriede. „ Sie ist gewiß sehr arm. Ich möchte sie einmal in ihrem Hause aufsuchen. Ja, und ich führe es gleich aus. Wollen Sie mich begleiten ?“ Chlodwig verstand sich dazu, obgleich ihm dieser Besuch Elfriedens nicht recht war. da es ihm noch bedenklicher erschien, ſie dieſen Beſuch allein ausführen zu laſſen, und er eine bestimmte Warnung nicht aussprechen mochte, wollte er sich eher zu dem ihm Widerstrebenden verstehen. Er suchte sich des Gefolges der Kinder zu entledigen und stieg mit Elfrieden einen Seitenpfad hinab, über den Steg des Baches, um die Dorfstraße zu vermeiden. Das Häuschen war unverschlossen, ebenso die Stubenthür . Als sie aber in den niederen Wohnraum eintraten, drang ihnen ein so sinnbetäubender Geruch von verschiedenen Kräutern entgegen, daß Elfriede sich schaudernd zur Flucht wendete. Chlodwig riß an dem engen, blinden Fenster, fand aber, daß es zum Oeffnen gar nicht eingerichtet war. „Mein Gott," rief das junge Mädchen, " in diesem Dunst leben und atmen die Leute hier ?" Sie blickte nur durch die offene Thür hinein. Weder die Alte noch der Knabe schien zu Hause zu sein. Die Stube. war Küche und Wohnraum zugleich , ärmlich, aber nicht bettelhaft eingerichtet. Man sah Kochgeschirr und Mobiliar , Betten , Stühle, den Tisch, eine Truhe. An den Wänden aber hingen zahllose Pflanzenbündel zum Trocknen. Elfriede wagte sich noch einmal hinein , und legte ein Geldstück auf den Tisch , mit den Worten : „ Ich bin Ihr noch das Honorar ſchuldig für die Sigung als Modell." Sie hatten das Haus kaum verlassen, als sie Girgls ansichtig wurden , der den Abhang herabgelaufen kam. Der Knabe begrüßte sie und machte Miene, sich ihnen anzuschließen, wurde aber durch Chlodwig zurückgewieſen. Der junge Mann fühlte sich auch mit Elfriedens Freigebigkeit nicht einverstanden . Es war bereits bekannt , daß sie jeden , der sich von ihr zeichnen ließ, belohnte, ja über Gebühr beschenkte , und so hatte sich allerlei Gesindel in ihre Nähe gedrängt, um an dieser Einnahmequelle teil zu nehmen. Chlodwig empfand das peinlich, zumal er durch Dornberg erfahren, daß sie ihren geringen Besitz eher zu Rate halten mußte. Ihre Großmut gefiel ihm , ihren schönen Glauben an die Armen und Geringen
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mochte er nicht schon untergraben, und so sann er auf ein Mittel, wie er fünftig ihr Umherstreifen zu künstlerischen Studien in eine andere Richtung lenken, und sie durch seine Begleitung vor Zudringlichkeit und vielleicht Unannehm= lichkeiten schüßen könne. Denn wie leicht wär's möglich, sagte er sich, daß sie einmal von einem. der graubärtigen Nimrods aus seines Oheims Hause , deren Manieren er kannte , getroffen und gar beleidigt werden könnte ! Mit raſchem Entschluß begann er daher : „ Gestatten Sie mir den Wunsch , gnädiges Fräulein , daß ich unsere Begegnung nicht mehr vom Zufall im Freien abhängig mache ! Erlauben Sie auch mir, Ihnen und Ihren Gastfreunden im Städt-
chen meinen Besuch zu machen. Wenn ich Sie fünftig zu Spaziergängen abholen dürfte, könnte ich Ihnen noch manchen malerischen Punkt in der Gegend zeigen, den ich auf einsamen Gängen. entdeckt habe. Und wenn für die Unterhaltung Neros noch ein vierter nötig wäre , so könnte | ich ja Ihren Freund Girgl auch mitbringen !“ Elfriede fühlte sich durch diese Worte eigen berührt. Sie verstand , daß er recht hatte und erklärte sich einverstanden. Aber sie hörte noch etwas heraus, das sie etwas empfindlich berührte, zumal sie sich sagen mußte, daß sie ihren Begleiter bisher unterschäßt hatte. Er war mit ihrer freien Bewegung nicht einver= standen, sagte sie sich, er wollte für ihren Verfehr eine bestimmte gesellschaftliche Form, und zwar zu ihrem eigenen Besten bewahrt wissen. Erkannte sie diesen Zug an ihm als lobenswert , so fühlte sie sich ein wenig gedemütigt, daß sie, die überlegene Dame der Gesellschaft, einem so jungen Maune recht geben mußte. Wenn ihr das innerlich ein wenig zu schaffen. machte , so sollte die Regung doch bald überwunden sein. Als sie am folgenden Morgen in den Garten trat, sah sie Chlodwig in Gesellschaft des Knaben (doch ohne die Ziegen) bereits heranschreiten. Er stellte sich Herrn und Frau Heller vor und holte das Fräulein ab, um ihr einen schönen Platz für ihr Skizzenbuch zu zeigen. Da die Wanderung etwas weit gedacht war, beeilte sich das Mütterchen, ihnen ein kleines Bündel zum Frühstück mitzugeben, welches nicht verschmäht wurde. Von dieser Stunde an sahen Chlodwig und Elfriede sich täglich. Morgens oder nachmittags , je nach Verabredung , pflegte er vorzusprechen und sie zum Spaziergang abzuholen.
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Oft genügte ein engerer Umkreis, an der Wiese entlang, am Waldessaum. Es wurde wohl ein Buch mitgenommen, und während sie zeichnete, las er vor. Dann wieder schreckte man vor stärkeren Märschen nicht zurück, zuweilen ins Pfadloſe , in fröhlicher Stimmung die Höhen und Abhänge hinauf und hinunter. Zuweilen winkte Chlodwig auch einen Holzfäller im Walde herbei , der sich als malerisch erwies, duldete aber nicht mehr , daß Elfriede ihrem Modell Geldgeschenke machte. Dieses harmlose Beisammensein in reiner Ungebundenheit wurde den jungen Leuten von Tag zu Tage erfreulicher, ja zum Bedürfnis. Und doch mischte sich keine Empfindung darein, welche über ein freundschaftliches Wohlwollen hinausgegangen wäre. Jedes wußte vom anderen genug, um den Nachwirkungen noch kaum überwundener Erlebnisse Rechnung zu tragen. Sie brachten niemals die Rede darauf, aber das wachsende Vertrauen gab zuweilen durch kleine Andeutungen Kunde, daß sie mit ihren Lebenserfahrungen bekannt waren. Vielleicht wirkten auch ihre gleichen Lebensjahre mit zu einer mehr geschwisterlichen Beziehung. Elfriede fühlte sich in Chlodwigs Gegenwart so sicher, wie in der eines Bruders , und zwar eines
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etwa von Ihnen selbst ? Ich traue Ihnen dergleichen zu !" „ Nunja ! " entgegnete er zaudernd. „ Und so will ich nur gleich bekennen , daß ich diese Blätter schon seit mehreren Tagen bei mir trage, um sie Ihnen vorzulesen, es aber immer nicht gewagt habe !" Lesen Sie!" rief Elfriede heiter. " Oh, allerliebst, daß der lustige Wind vom Aehrenfelde her mir zu dieser Entdeckung helfen müßte ! Ich höre zu !" Sie legte den Bleistift nieder, um ganz aufmerkſam zu sein , und er begann zu lesen: „Liegt im Nebeldunst das Thal In der frühen Morgenstunde? Tauscht mit düstrer Tageskunde Wieder nur der Träume Qual ? Ach, es strebt zu hellrem Lichte Längst die Brust aus banger Nacht ! Drum hinauf die Flügel richte, Seel' und Sinn, zum Tag erwacht !
Aus dem ersten Schwung empor Quillt ein himmlisches Gesunden, Und die Sonn' ist schon gefunden, Die dein Träumen nur verlor ! Von lebendigem Glutensegen Wieder bis ins Herz erwärmt, Fühlst du schwinden jedes Regen, Das dich bitter einſt gehärmt !
jüngeren Bruders, den sie in manchen Punkten Nun mit jeder Zuversicht seiner Entwickelung zwar etwas übersah, auf Komme wieder, Lust und Streben! dessen Charakter, Tapferkeit und Schuß sie sich Schön und reich ist alles Leben, aber verlassen konnte. Sie freute sich, daß sein Wenn's im Herzen rein und licht ! Wag' auch du, der dunklen Stunde Aussehen frischer zu werden anfing , ſie verNebeldämm’rung, dich zurück! nahm mit Genugthuung , auf wie zahlreichen Dich verweht vom Herzensgrunde Gebieten er sich bereits gebildet und unterMeiner Sonne Strahlenglück." richtet zeigte. Elfriede nickte ihm Beifall, ohne denselben. Eines Nachmittags hatten sie in der Nähe Schenken Sie mir das der Stadt unter einem breitschattigen Baume in Worte zu fassen. „ Ich möchte es darauf. sie begann " ! Blatt Plaz genommen . Es war eine kleine Anhöhe, von welcher Elfriede eine Uebersicht aufnehmen | öfters lesen ! “ Er überreichte es ihr , diesmal hoch erwollte. Einfach genug: Im Vordergrunde das rötend vor Freude. Kornfeld , darüber die Türme , Dächer und „Haben Sie da noch mehr ? " fuhr sie Gärten der Stadt. Chlodwig , der zu lesen versprochen, zog aus der Brusttasche diesmal fort. „ Ich sehe noch einige Blätter. Der Anein sehr kleines Büchlein, und faßte aus Ver- fang ist überwunden, nun teilen sie frisch mit, was Sie haben. sehen ein Notizbuch mit, welches er fallen ließ. Chlodwig las noch einige Gedichte , nach Indem er danach griff, flogen einige beschriebene Blätter heraus, derer sich der Wind be- deren Anhören Elfriede schweigend in die Hände klatschte. „ Wissen Sie auch, wodurch Sie mich mächtigte. Eins derselben geriet auf Elfriedens Zeichenbuch. Sie reichte es ihm mit den sehr überrascht haben ?" sagte sie darauf, indem " Daß Worten: ?? Es sind Verse darauf geschrieben! sie ihn mit frohen Augen anblickte. Ihre Lieder so frei und lebensmutig klingen ! So viel habe ich gesehen !" Da er leicht Ich hatte eher etwas Melancholisches erwartet." errötete, fuhr sie fort: „ Sind die Verse
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Er schlug die Augen nieder. „Damit hätte ich allenfalls auch aufwarten können werde
allem Schönen, was uns beglückt? Sie nehmen das Leben aus dem Regelbuche der Alltäglichkeit , wir aber halten das Recht der guten Stunde fest!"
mich aber hüten !" entgegnete er. „ Es ist noch nicht lange her, daß ich mich nur in trostlosen „Ach ! Ach ! Sehen Sie doch ! " rief Elfriede Molltonarten versuchte, jetzt aber weiß ich, daß dergleichen aus krankhaften Stimmungen herplöglich von Erstaunen hingenommen , und vorgegangen ist, und ich nichts in Verse ge- hemmte ihren Schritt. " Was ist das ?" bracht, was nicht andere schon besser gesungen Ein magisches Licht ergoß sich durch den haben." Wald , in bläulichen , goldenen und rötlichen Elfriede hatte ihren Zeichenstift wieder in Farbentönen. Es wechselte, ging ineinander über, streifte heller nach oben, senkte sich wieder Bewegung gesezt. „Wie hübsch ist es doch," sagte sie nach einer kleinen Weile , „ daß wir Um das Unterholz aber zu den Büschen. schwebten Funken um Funken, Tausende, Milunsere Kunststudien so gleichsam zuſammen treilionen , von welchen das Licht ausging ; hier ben, und gegeneinander austauschen können!" " Es ist das erste Mal, daß ich eine solche | in Gruppen , cine leuchtende Glorie um ſich verbreitend, dort einzeln, wie einsam kreiſende Mitteilung wage !" „Um so mehr freue ich mich, daß mir zum Sterne, den weichen Flug in die Wipfel richtend. Sie senkten sich auf die Wandelnden, erstenmal ein Dichter etwas vorgelesen hat, und daß ich sein Gedicht sogar zum Geschenk | seßten sich auf Elfriedens Hut und Schulter, erhalten habe ! " ſie ſtreuten über ihr Gewand eine goldleuchtende Stickerei. „Ach, mein gnädiges Fräulein ! " seufzte " Umgibt uns eine Märchenwelt ? " rief sie, Chlodwig, " Sie geben mir da einen Namen, an den ich noch nicht Anspruch gemacht ; denn die dergleichen noch nicht gesehen hatte. ?? Sind wir in einen Zauberwald in Oberons Reich mein Versemachen ist bisher reines Naturgeraten? " produkt gewesen ; einen Namen , auf den ich ,,Sommernachtstraum ! Sie haben Recht!" auch für fünftig nur freiwillig zu verzichten Morgen ist Joentgegnete Chlodwig heiter. habe ! Soll und darf ich doch meiner Neigung, hannistag ! Leuchtkäfer, Glühwürmchen, Elfenmeinem innersten Trieb nicht leben ! Sie wissen ja , ich bin an diese schreckliche Fabrik meines lichter nehmen ihre Stunde wahr ! Girgl, wie Vaters gebunden !" ein ungebärdiger Buck , springt umher , die „ Warum nicht gar ! " rief Elfriede lachend, schwebenden Lichter zu haschen und zu necken, indem sie aufstand. ?? Da Sie die Fabrik schreckwährend der Kobold Nero durch die Büsche lich finden, werden Sie sich künftig auch nicht jagt und rast!" an sie binden. Kommt Zeit , kommt Rat. Elfriede ging , von heiliger Scheu vor Girgl! Nero! Wo sind denn die beiden !" diesem Naturschauspiel ergriffen , dahin, und Sie kamen gesprungen. Obgleich die Däm fand für ihr Entzücken keine Worte. War es doch , als sollte das Flimmern , Aufleuchten, merung zu sinken begann , wurde beſchloſſen, den Heimweg durch den Wald zu nehmen. das langsam durcheinander schweifende Lichterspiel nicht enden ! So kamen sie zum WaldesChlodwig war sehr heiter, munterer als jemals geworden , und seine Stimmung teilte sich rande, der vom grafigen Boden bis zu den Stämmen noch einmal wie mit Kränzen und Elfrieden mit. Allerlei Scherzhaftes kam zur Gewinden von Edelsteinen geschmückt schien. erstenzum waren sie Sprache, sie lachten viel, standen die Sterne ruhend in aber Draußen ausbündig paar ein Bekanntschaft ihrer mal ſeit vergnügte junge Leute. „Ach ! "“ rief Elfriede der Höhe , und von den Kornfeldern wehte Wenn Ihre seligen fünf Tanten plöglich: würziger Hauch durch die Kühle. Vor der Thür des Hellerschen Häuschens trennten sich aus der Urzeit noch lebten , was würden sie die Freunde. „Ich bin so dankbar für alles, zu unserem Verkehr , zu unserer köstlichen was der Tag mir heute geschenkt hat!" sagte Waldfreiheit sagen? Wie anstößig würde mein Elfriede. Und auch Ihnen habe ich zu danken !" Betragen den wackeren Damen erscheinen !" Chlodwig aber bat sich aus , sie auch morgen „Was versteht der Philister von Freiheit, von Menschengefühl, vom Werte des Daseins ? “ | abholen zu dürfen, da er sich für den Johannistag etwas besonders Festliches ausgesonnen habe. rief Chlodwig. "1Was wissen die Pedanten von.
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Die holden Eindrücke eines harmlos ge- zurück. So schnell und unvermutet, mit einem nossenen Tages gaben Elfrieden die reinste erschreckenden Mißklange , war das Ende der schönen Gemeinsamkeit gekommen. Chlodwigs Stimmung, und selbst im Traume umgaukelten sie noch Bilder aus dem Feenreich, in welches schmerzliche Erfahrung ging ihr nahe, die Unsie einen Einblick gethan zu haben wähnte. gewißheit seines Geschickes beschäftigte ihre Als sie aber morgens erwachte , vernahm sie Gedanken. Es regnete den ganzen Tag. Herr Heller eigentümliche Töne, wie sie solche während der Zeit ihres Waldlebens noch nicht gehört hatte. sagte, der hundertjährige Kalender habe wieder recht behalten, und es werde wohl die nächsten Ein Rieseln und Plätschern machte sich vernehmlich. Grau und mürrisch lagerte die WolWochen so fortdauern , ja sogar einen sehr kendecke über der Gegend, und schüttete langsam | nassen und schlechten Sommer geben. Unter den Nachbarn fanden sich auch einige von den einen ausgiebigen Landregen nieder. „ O weh ! „ältesten Leuten ", welche aussprachen, daß, wenn da verregnet ein Johannisfest!" dachte sie. es in dieser Gegend um Johanni anfange zu „Und nicht allein mir !" - Denn die Bewohner des Ortes hatten draußen auf dem Anger regnen, an ein Aufhören nicht so bald zu denken sei. allerlei vorbereitet, die Jugend hoffte auf Wettspiele und Tanz, um den Tag fröhlich zu geDer Hundertjährige und die Aeltesten ſchienen richtig geweissagt zu haben. Mit dem nießen. Gewöhnt, nach der Sitte des Hauses, Schweifen durch Wald und Feld war es vorüber. den Tag früh zu beginnen, kleidete sie sich an, um Frau Heller am Frühstückstische zu be- Elfriede nahm ihre Zeichenbücher, um manches, was sie draußen nur flüchtig angelegt hatte, grüßen. Da hielt ein Wagen vor der Thür, auszuführen. Sie suchte Unterhaltung in ihren und heraus sprang Chledwig, mit sichtlich vermitgebrachten Büchern. Diese aber reichte bald störten Zügen. Sie trat ihm auf der Schwelle nicht mehr aus , und sie wurde verlegen um entgegen. „Ich komme Abschied zu nehmen !" rief er. Beschäftigung. Nach acht Tagen kam ein Brief nur kurz gefaßt , aber es „Und zwar nur hastig, im Fluge ! Ein Brief, von Chlodwig den ich gestern abend vorfand, ruft mich nach | stand genug darin zu lesen. Daß der Fabrikherr nicht eines natürlichen Todes gestorben, Hause. Ich gehe vielleicht dem Schrecklichsten sondern in der Verzweiflung Hand an sich entgegen!" gelegt hatte, war nicht ausgesprochen, aber sie „ Ist es so ernsthaft ?" fragte sie. „Doch verstand es aus der Andeutung. Offen aber nicht ein wirkliches Unglück ?" Chlodwig senkte seine Stimme, und fast im bekannte Chlodwig, daß aller Besitz verloren, Flüsterton sagte er hastig : „Die Fabrik ist und ihm nichts als ein häßlicher Prozeß mit geschlossen, die Kaffe hat ihre Zahlungen ein- | fraglichem Ausgang übrig geblieben ſei . Schon es scheint ein vollständiger Zusamgestellt einige Tage darauf langte auch ein Brief von Dornberg an. Er bestätigte mit vielem Anteil und so plöglich , so unerwartet ! menbruch das Geschick seines Freundes, vorwiegend aber Oh, möchte doch alles dort zu Grunde gehen wiederholte er seine Einladung und bat um aber mein Vater ! Mein armer, unglücklicher Vater !" den versprochenen Besuch. Elfriede hatte nicht mehr die Absicht , darauf einzugehen. Eine „Was ist mit ihm? Sagen sie mir alles !“ warnende Stimme hielt sie ab, als Gast unter „Der Brief ist nicht von seiner Hand! Ich einem Dache zu erscheinem , deſſen Hausfrau lese eine Andeutung darin - oh, mein Gott, wie werde ich ihn wiederfinden! Leben Sie sie noch nicht kannte, während der Hausherr wohl, teuerstes Fräulein ! Ich muß eilen, sie als seine Freundin anredete. Ihr Entschlußz darf den Anschluß an den Bahnzug nicht ver- war gefaßt. Ein Regensommer däuchte ihr für fäumen, wenn ich meinen Vater heut' noch sehen ein fleißiges Arbeiten in der Hauptstadt nicht will. Geſtatten Sie mir, daß ich Ihnen schreibe ? | übel , zumal sie die große Welt nach allen Leben Sie wohl!" Er ergriff ihre Hand, drückte Gegenden hin zerstreut wußte. Sie brachte, seine Lippen darauf und sprang in den Wagen. tro der triefenden Zweige und fast undurchWenige Augenblicke darauf war er im grauen dringlicher Wege, dem Walde noch einen leßten Gruß , um sich darauf auch von ihren alten Regenschleier der Landstraße verschwunden. Elfriede ging ergriffen in ihr Zimmer Gastfreunden zu verabschieden. 3
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Freundliche Erinnerungen, wieder geweckt | ladungen stets ausgewichen und hatte sein Haus , welches der Herrin entbehrte , niemals durch Zeichnungen, Bilder, alte Melodieen und Lieder, auch wohl einen welken Blumenstrauß, betreten. Andere Damen, auch einzeln daſtehende, gleich ihr , waren darin minder bedenklich ge= wie mächtig können sie uns oft in der Einwesen , ja es gab unter ihren nächsten Beſamkeit überraschen ! Wir lauschen, betrachten und ſinnen, und wir erstaunen , daß Jahre kannten manche, die eine solche Zurückhaltung ungerechtfertigt erklärten. Beneideten ihr doch vergangen sind , seit das alles blühte, flang, oder vor unseren Augen lebendig war. Menviele die Huldigung des glänzenden Mannes, schen, mit welchen wir , abseits vom Wege und eigentlich zweifelte man nicht , daß sie unseres gewöhnlichen Lebens, kurze Zeit gelebt, Bornhofen ihre Hand reichen werde. Denn zu welchen sich ein herzlicheres Vertrauen anwie wäre ein solcher Glücksfall auszuschlagen gesponnen , als wir zu unseren täglichen Umgewesen ? War Bornhofen nicht mehr jung, so hatte er, nach der Ansicht der Welt, alles gebungen fühlen; freundliche Beziehungen, welche dauernd zu bleiben versprachen ; wie oft geht was einem Werber , noch dazu einem mitteldas gleichsam episodisch an unserem Leben losen Frauenzimmer gegenüber , die Jugend vorüber ! Fahrlässigkeit , eigene Schuld , auch reichlich ersetzt. Eines Abends hatte Elfriede in einem wohl freiwilliges Verzichten trennt uns von Familienkreise auch wieder Anspielungen dieser dem Liebgewordenen. Nicht immer will sich, was wir als schön , liebenswürdig und beArt vernehmen müssen . Mißmutig kehrte sie gehrenswert erkannt haben, mit dem Ernst in ihr kleines Heimwesen zurück und ſaß noch spät, sinnend und grübelnd, bei der einsamen unseres Tagewerkes für das Leben vereinigen. Lampe. Plößlich öffnete sie eine Schublade und Elfriede lebte wieder in der großen Welt, 30g unter ihren Skizzenbüchern eins hervor. die sie einst verlassen hatte. Sie suchte sie Eine Reihe von Bildnissen war darin gezeichnicht, sie selbst wurde aufgesucht, und hatte sich net , zwei Briefe und ein Gedicht kamen ihr ihre Unabhängigkeit und ihre Stellung zu in die Hände , und die glücklichen Tage des wahren gewußt ; ihre schöne Stimme erklang wieder, und jetzt voller und entwickelter, in den Waldlebens standen lebhaft vor ihrer ErinneGesellschaftsfälen. Sie war persönlich geachtet, rung. Sie blätterte in dem Buche und meinte, man fand sogar , daß ihre Erscheinung , ihr das Porträt Chlodwigs müsse auch kommen. Es that ihr jetzt leid, seine Züge damals nicht ganzes Wesen , ausdrucksvoller geworden sei. War sie sonst als Tochter eines Mannes in festgehalten zu haben. Aber sie erinnerte sich bei manchem Blatte, das sie in seiner Gesellhervorragender Stellung umflattert worden, so wurde sie jest um ihrer selbst willen gefeiert. schaft gezeichnet hatte , lebhaft der Gespräche, Es fehlte auch nicht an Männern , die ihr die sie zusammen geführt , und wie sie ein gerne ihre Hand angetragen hätten, doch wußte immer größeres Vertrauen zu einander gefaßt sie sich solchen Annäherungen gewandt zu ent- hatten. Da fiel ihr der lezte Abend ein, jener ziehen. Nun aber kam ihr ein Mann mit der lebendige Sommernachtstraum, den sie gemeinhöchsten Auszeichnung entgegen, ein Mann, der sam durchwandert , und schnell holte sie auch von allen ihren Freunden oder Bekannten als das Buch mit den Naturstudien herbei , um eine „ höchſt brillante Partie“ bezeichnet wurde. jedes Angedenken an jene Gegend wieder in Der Bankier Bornhofen war in allen Kreisen, sich aufzufrischen. Es war nicht das erste Mal, selbst einer so großen Stadt bekannt, und seinen daß sie diese Bilder wieder an sich vorüber Namen wenigstens kannte jeder als den eines gehen ließ, aber über ein Jahr mochte verder reichsten Geschäftsleute. Sein Haus war gangen sein, seit sie das alles beiseite ge= ein Palastbau , seine Gemäldesammlung vor- legt, um es nicht wieder zu betrachten. Heute trefflich, jedermann zugänglich. Er war Kunst- aber versenkte sie sich tiefer hinein. Wo mochte gönner und Kenner , und liebte es , die Ver- Chlodwig jezt verweilen ? fragte sie im stillen ; treter aller Künste bei sich zu versammeln. wie mochte er sein Geschick ertragen haben ? Mehrfach hatte er gegen Elfriede ausgesprochen, Was mochte aus ihm geworden sein ? Gern daß er seinen Ehrgeiz und sein Glück darein hätte sie einmal Nachricht über ihn empfangen . setze , ihre Stimme einmal in seinem Musik= Aber freilich hatte sie weder seinen ersten, noch saal erklingen zu hören. Sie war seinen Ein- seinen ausführlicheren zweiten Brief entgegnet,
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und so war er wohl der Mitteilung müde ge- erst geöffnet, nur wenige Besucher ließen sich darin sehen. Sie schritt langsam dahin, ab worden ? Seufzend legte sie die alten Erinnerungszeichen wieder zusammen, und schalt sich, und zu stehen bleibend , betrachtend und gedaß ihr noch eine Stimmung daraus hervor nießend. Es war ihr nicht entgangen , daß tauchte, welche sie doch verbannt wissen wollte. | zwei junge Männer ihr folgten , bald in ge= Inzwischen hatte Herr Bornhofen sich eine messener Entfernung, bald sich wieder näher List ausgesonnen , durch die er die Widerwagend. Sie achtete nicht darauf und ging weiter. Plöglich aber hörte sie Tritte hinter strebende dennoch gewinnen wollte , in seinem Hause zu singen. Er hörte von einem jungen sich und schon sagte eine Stimme neben ihr: Musiker, der sich bisher vergeblich bestrebt hatte, „Mein gnädiges Fräulein ! Elfriede — ! " Erschreckt wendete sie sich um , aber sie eine Kantate eigener Komposition zur Aufführung zu bringen, dem aber zugleich Elfriede | hätte aufjauchzen mögen vor Ueberraschung, denn vor ihr stand Chlodwig . Er war es, bereits das Versprechen gegeben, für alle Fälle überzu Werke obgleich kaum noch derselbe von Aussehen. seinem in Hauptstimme die nehmen. Mit diesem verständigte er sich ins- Sein Gesicht zeigte die frischeste Farbe der geheim, gab ihm die nötigen Mittel und hieß Gesundheit, seine Gestalt war kräftiger entihn alles vorbereiten, auch immerhin auf ein wickelt, sein Auge glänzte von geistigem Leben, und in diesem Augenblick von innerster Freude. bestimmtes Lokal für die Aufführung hindeuten. Im lezten Moment sollte dann über dieses Kennen Sie mich wirklich nicht mehr, mein Lokal eine Verlegenheit entstehen. Als Helfer Fräulein!" fuhr er fort , die ihn sprachlos in der Not wollte dann Herr Bornhofen ein- Austarrende mit Entzücken betrachtend. „Ich treten und den Künstlern seine eigenen Räume selbst habe den Augenblick des Wiedersehens anbieten. Das lezte sollte jedoch noch ver- so sehnlich erwartet ! Sind Sie nicht mehr schwiegen blieben. Der kluge Mann wußte das Elfriede - ?" „ Ja ! ja, ich bin es noch !" rief sie , ihm alles so harmlos einzukleiden , daß es mehr aussah, als wolle er nicht als öffentlicher Pro- | die Hand zum Willkommen reichend . Oh, wie beglückt es mich, Sie gefunden zu tektor des jungen Künstlers auftreten, um ihm Ich erkannte Sie schon größere Freiheit zu lassen. Der Komponist, haben ! " fuhr er fort. nicht ahnend, was sich dahinter verbarg, war auf der Straße , sah Sie hier eintreten , und ganz Freude und Dankbarkeit , und eilte zu zwang meinen Freund —“. Er wendete fich Elfrieden, um sie an ihr Versprechen zu mahnen. nach seinem Begleiter um , der sich bescheiden Es war ihr nicht lieb, ja sogar unangenehm, zurückgezogen hatte. ?? Was führt Sie nach der Hauptſtadt ?“ zumal an eine öffentliche Vorführung des Werkes gedacht wurde. Vor ein paar Jahren schien fragte Elfriede, ihn mit Genugthuung betrachtend . „Das Lästigste, was sich denken läßt , ein der junge Musiker ein sehr aufstrebendes Talent, inzwischen aber hatte sich Elfriede und Andere Prozeß ! Das einzige, was mein unglücklicher auch überzeugt , daß seine Arbeit ein recht Vater mir hinterlassen konnte. Nun, Gott sei untergeordnetes Werk geworden, mit dem wenig Dank, auch dieſe Laſt drückt nicht mehr, denn Ehre einzulegen war. Sie konnte ihm nur der Prozeß ist verloren. Seit gestern, da die versprechen , den auf sie fallenden Teil noch Sache zum Austrag kam, fühle ich mich ordenteinmal anzusehen , womit er alles gewonnen lich erleichtert - obgleich ich auch noch die
zu haben glaubte. Wirklich wurde bald geübt Prozeßkosten zahlen mußte. “ " Und was treiben Sie jetzt? Hat sich Ihre und vorbereitet, der für den Dirigenten ersehnte Tag rückte näher, obgleich die Beteilig❘ Fabrik erhalten ? “ „Nichts davon, gar nichts ! Ich fabriziere ten immer verlegener wurden, und im Tenor nur noch und Baß sich bereits ein bedenklicher Humor Gott sei Dank! nichts mehr ans Licht wagte. zuweilen Verse ! Sie wissen vielleicht noch? Alles in allem aber bin ich - Schulmeister !" Mißmutig über diese Vorgänge , beschloß Elfriede eines Morgens, um sich zu zerstreuen „Schulmeister?" rief Elfriede lachend. „Wie und reinere Eindrücke zu suchen , einen Gang sind Sie dazu gelangt ? Sehen Sie doch eher aus , wie ein übermütiger Student!" in die öffentliche Kunstausstellung zu thun. ,,Nun, der Uebermut kommt denn zu Zeiten Es war noch früh , man hatte die Säle eben
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wieder , wenn er mir auch seit jener Stunde, „Drei Jahre ist es her " sagte Elfriede, da ich mich von Ihnen verabschieden mußte, um doch etwas zu sagen. „ Drei Jahre und vier Monate ! " verbesserte eine Zeitlang gründlich vergehen mußte. Ich mag davon nicht reden ! Aber troß allem, was er. „Am Morgen des Johannistages mußte ich zu überwinden war, hat es das Geschick doch von Ihnen Abschied nehmen, und jetzt sind wir in der zweiten Hälfte des Oktober !" wohl gut mit mir gemeint, daß es mich auf„Gaben Sie in der Schule auch Rechenrüttelte, und mich zur Selbständigkeit wach rief. Kurz, ich war, was man so nennt, an stunden ?" fragte sie neckend. „Nein, aber die Stunden, die Jahre meiden Bettelstab geraten. Dornberg half mir auf, und ermutigte mich zu einer Prüfung, die ich ner Erinnerung, meiner Sehnsucht nach einem bestand ja, denken Sie, bestand ! Und da Wiedersehen, habe ich genau zu berechnen geer Direktor seines Gymnasiums geworden, trat wußt! Mein teures Fräulein , ich muß leider ich an demselben als Lehrer ein , und so bin heut zu Nacht schon wieder abreisen ! Noch ich Schulmeister geworden . Ach, gnädiges Fräu- | nicht in meine Berufsthätigkeit , sondern zu " einem anderen gerichtlichen Termin lein, es gibt auch für arme Schulmeister glückEin fröhliches Lachen wurde im Nebenſaal felige Augenblicke ! Und solch ein Augenblick ist vernommen, wo eine Gruppe von Herren und dieser, da ich Sie wieder ansehen darf!" Elfriede fühlte sich durch seinen Blick so im Damen in lebhaftem Gespräch beiſammen ſtand. „Der auch hier?" unterbrach sich Chlodwig Innersten getroffen, daß sie sich abwenden mußte. mit dem Ausdruck des Grolls und der VerUnd darf ich denn nun auch Sie fragen," fuhr er fort, wie es Ihnen ergangen ist ? Wie achtung. „Muß mir der nichtswürdige Gauner Sie leben ?" noch einmal unter die Augen treten ?" Wen bezeichnen Sie mit diesem Ehren„Achulich wie Sie! " entgegnete sie heiter. "1 Auch ich habe mich der Schulmeisterei zuge- titel?" fragte Elfriede erstaunt. „Wen anders , als jenen Bankier Bornwendet. Ich bin Gesanglehrerin." „Was ? Sie? Gesanglehrerin!" hofen! Er war mein Gegner vor Gericht, „ Ist das etwas ſehr Schlimmes ?" fragte derselbe, dem ich unterlegen bin. Den Prozeß fie lächelnd. hat er gewonnen , aber wer sonst die Sache kennt, ja selbst einer der Richter hat mir ver„Als Malerin hatte ich mir Sie gedacht! Haben Sie Ihre Kunststudien aufgegeben ?“ traut, die gute Meinung und das Rechtsgefühl wären nicht auf seiner Seite. Er ist es, der , gewiß nicht! Sie sind noch im vollen meinen unglücklichen Vater zu Grunde gerichtet Gange, aber sie wollen Zeit haben. Da ich nun in meinem äußeren Dasein auf mich selbst hat . Mit ein wenig Nachsicht , Rückſicht, geangewiesen war, und es mit dem Porträtmalen | schäftlichem Anſtand hätte er ihn vor dem Fall ach , warum rede nicht so schnell ging , als mein Geldbeutel ver- bewahren können, aber langte, so mußte ich vorerst dasjenige auszu- ich von solchen Dingen, da mir doch die Gebeuten suchen, was ich schon konnte , nämlich legenheit geworden ist, mit Ihnen zu sprechen!“ Elfriede hatte mit stiller Erbitterung diesen Singen. Unterrichtsstunden boten sich bald mehr, Anklagen zugehört , die ihr den , wenn auch als ich brauchen konnte. Ich gebe nur noch so unerklärten Widerwillen gegen den Mann nur viele , als sich mit meinen Malerſtudien verbestätigten. Jezt aber sah sie, daß ihre Untereinigen lassen. Nicht wahr, es ist ein schönes Bewußtsein, alles der eigenen Arbeit zu ver- haltung mit Chlodwig nicht nur gestört werden danken ?" sollte , sie empfand es auch schmerzlich , daß ihre Bekanntschaft mit Bornhofen dem Freunde „ Ja, mein teures Fräulein ! Und ich bin einen üblen Eindruck hervorrufen mußte. eigentlich erst froh geworden , habe zu leben erst angefangen , seit mir dieses Bewußtsein Man hatte sie entdeckt. Damen und Herren famen auf sie zu, begrüßten sie, hatten ihr viel gekommen ist. Das beste aber verdanke ich Ihnen , Ihrer Anregung , unseren Gesprächen zu sagen , und mit der Miene eines Siegers in jenen glücklichen Tagen des Waldlebens. näherte sich ihr Herr Bornhofen. Soll diese Zeit für uns ganz und gar verChlodwig , der sich die Geliebte plöglich gangen sein? Jezt erst weiß ich, wie viel ich ganz entrückt sah , blickte befremdet und erIhnen noch zu sagen hätte!" schreckt auf das Gewühl . Sein Freund befand
Die Tage des Waldlebens.
sich wieder an seiner Seite. „ Es handelt handelt sich sich | um ein Konzert," erklärte er. „Ich ſinge selbst im Baß mit. Der Komponist ist in plögliche Verlegenheit wegen des Lokals geraten , und Bankier Bornhofen hat sein Haus zur Disposition gestellt. Selbstverständlich ist die Mehrzahl der Mitwirkenden entzückt darüber , da sich ohne Zweifel eine brillante Gesellschaft daran schließen wird. Die Dame, mit welcher Sie sich unterhalten haben, ist unsere Solistin, und wird die Hauptstimme übernehmen. " " In Bornhofens Hause ? " rief Chlodwig im Innersten erschreckt. ‚Nun ja doch ! Er wirbt sehr stark um sie. Man sagt , sie sei eigentlich schon verlobt mit ihm. Ist es noch nicht der Fall, so wird es doch nicht mehr lange dauern bis dahin. “ DurchChlodwigs Gemüt ging ein Schauder. | Das war in diesem Augenblick mehr als ein Todesstoß für seine Hoffnung ! Für eine Hoffnung, die er im Stillen gehegt, die er unterdrücken zu müssen geglaubt , die plößlich bei Elfriedens Anblick wieder aufgetaucht war, um ihm mit Erfüllung zu schmeicheln , ihn über sich selbst zu erheben. Nun fühlte er sich wie vernichtet und fürchtete , dem Freunde schwer seine Erschütterung verbergen zu können. Der aber, als ein Beteiligter an dem muſikaliſchen Ereignis , hatte sich der aufgeregten Gruppe auf eine Weile angeſchloſſen, ſo daß Chlodwig in einer Seitengalerie sich etwas sammeln konnte. Er hatte übel von dem Manne gesprochen, der Elfrieden so nahe stand , er mußte um Entſchuldigung bitten, ſagte er sich. Wenn Elfriede | gar nichts für ihn selbst empfand , als etwa ein wenig auf die Erinnerung gebautes Wohlwollen , so wollte er sich von dem Vorwurf befreien, absichtlich den Ankläger des Mannes gespielt zu haben, den sie gewählt hatte. Und plöglich ſtand es ihm deutlich vor Augen, wie wenig er einer so talentvoll und bedeutend angelegten Natur in ſeinem unſcheinbaren Dasein | zu bieten habe ! Sie gehörte auf einen großen Schauplatz des Lebens . Sie hatte niemals eine Hoffnung in ihm aufgemuntert, sie hatte nichts an ihm verbrochen. Was in ihm selbst auch darüber zu Grunde gehen mochte , äußerlich mußte er sich als Mann faſſen und noch einmal ein Gespräch mit ihr suchen. Aber das war in diesen Sälen schwierig. Denn die Gefeierte blieb der Mittelpunkt, um den ſich immer wieder
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ein neuer Kreis drehte, und als sie das Haus verlassen hatte, bestieg sie mit einigen Damen einen Wagen, der sie seinen Blicken entführte. Er muß seinem Schicksal fürs erste überlassen bleiben, da die Geschichte sich um Elfriede zu kümmern hat. Als sie endlich in ihrem Stübchen angelangt war, sant sie erschöpft in das Sofa, denn sie hatte ein langes Drängen und Beſtürmen aushalten müssen. Und das nach einem Augenblick, da sie den Freund wiedergesehen , bei deſſen Anblick, bei dessen Stimme plötzlich in ihr aufgelodert war , was bis dahin nur wie verstohlene Funken in ihr geglimmt hatte. Das Anerbieten Bornhofens erſchien ihr, obgleich sie feinen Einblick in den Zusammenhang hatte, wie eine geplante Absicht. Wie hätte sie in dem Hauſe des Mannes singen , wie dasselbe nur betreten mögen, des Mannes, welchen der Freund so tief zu verabscheuen Grund hatte ? Niederschlagend war es für sie zugleich , daß Chlodwig sie in seiner Gesellschaft, daß er seine Zuvorkommenheit gegen sie geſehen, daß er von den Gerüchten , welche , wie sie wohl wußte, über sie und Bornhofen umherschwirrten, erfahren und ihnen Glauben schenken könne. Gar zu gern hätte sie Chlodwig noch einmal gesprochen. Aber wie sollte sie in der ungeheuren Stadt dazu gelangen ? Und abends schon wollte er abreisen ! Vor allem doch, er mochte davon erfahren oder nicht , die Genugthuung wollte sie ihm und sich selbst geben, den Plan Bornhofens zu vereiteln. Sie schrieb sofort einige Zeilen an den Komponisten mit der Erklärung , daß sie in seiner Kantate nicht mitwirken werde. Das, sagte sie sich, war kein Verbrechen , denn es wurde kein gutes Werk dadurch zerstört , und ein Ersag für sie war bis übermorgen wohl auch noch zu finden. Aber dachte sie dann an die neuen Beſtürmungen, da sie täglich mit so vielen Menſchen zuſammenkam , so ergriff sie in ihrer jetzigen Gemütslage ein solcher Ekel vor dem Geſellſchaftstreiben, daß sie in einer schleunigen Flucht die einzige Erlösung sah . Sie überzählte ihre Barschaft. Dieſelbe erſchien ihr ausreichend zu einer kleinen Reise. Als Ziel wählte sie das Häuschen der alten Hellers . Vielleicht durfte sie dort die innere Ruhe finden, an Chlodwig einige Zeilen der Rechtfertigung zu ſchreiben. Schnell packte sie das Nötigſte zuſammen, immer in Furcht, durch irgend jemand in der Flucht
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nur noch die Strünke der Stämme hervor. gehindert zu werden , und gelangte abends, innnerlich erschöpft, auf den Bahnhof. Die ganze Bergſeite nach der Thalſchlucht zu In sommerlicher Regenzeit hatte sie eine stand kahl, der Wald war niedergeschlagen, das Holz hin und wieder noch aufgeschichtet , verGegend verlassen, von der sie erst jest wußte, wie teuer sie ihr geworden war ; unter ſtrö- dorrtes Gezweig lag wüst über den Boden gestreut. Elfriede ging zaudernd durch dieſe menden Herbstgüssen , fröſtelnd in der schlechVerwüstung. Der Plaß am Felsen, wo sie den ten Fahrgelegenheit , die sie vom Haltepunkte Freund zuerst gesehen , lag öde da , auch die der Bahn nach dem Städtchen brachte, langte sie wieder an. Das Mütterchen begrüßte sie alte breitästige Buche war nicht mehr am Plaze. zwar freundlich, aber doch nicht so , wie das So muß denn wirklich alles Schöne zu Grunde gehen ? rief es in ihrem Herzen. Müssen wir erste Mal , denn es hatte selbst den Kopf und die Stätte unseres stillen Glückes so schnell das Herz voll von allerlei Trübsal. Da war zerstört sehen ? Soll, was wir rein und tief die Nachricht gekommen , daß ihre Schwieger tochter gestorben, und der Sohn mit den Enkeln erlebten, für alle Zeit verloren sein ? Knüpfen sich die holdesten Bande des Lebens nur, um ihrer Gegenwart recht bedürftig wären ! Aber sie konnte ja nicht fort, denn der alte Herr schmerzlich wieder zerrissen zu werden ? An war bettlägerig und fühlte sich sehr schwach. | eine Holzschicht gelehnt , stand fie und blickte über das Trümmerfeld. Thränen füllten ihre Und dazu hatte sie zu klagen über schlechte Dienstboten ach, sie wurden mit jedem Augen noch einmal. Denn jezt erst fühlte sie, daß sie Chlodwig liebte , mit ganzer Kraft Jahre schlechter und unzuverläſſiger ! Und es ihrer Seele. Das Wiedersehen hatte darüber wurde überhaupt immer miserabler auf der entschieden. Und nun, in dieſer trübſelig bangen Welt! Elfriede betrat ihr früheres Stübchen, Stimmung, erschien ihr auch ihre Liebe hoffin welches der Kutscher den Koffer gesetzt hatte. nungslos . Sie glaubte sich von ihm mißzachtet, Es war nicht gelüftet , die Vorhänge fehlten, für immer verworfen ! — Langsam , faſt unüberzähliger Hausrat ſtand ohne Sorgfalt oder willkürlich nahm sie den Weg zum Dorfe Ordnung umher. Sie konnte sich kaum enthinunter. Ein Wagen mit Feldfrüchten fuhr schließen, Hut und Mantel abzulegen, sank auf langsam dahin, das Gespann wurde geführt einen Stuhl nieder , und mußte es über sich) ergehen lassen, daß Thränen, bitter und reichlich, von einem nebenher schreitenden jungen Knechte. Wer unerwartet ihren Augen entſtrömten . Seine Züge kamen ihr bekannt vor , auch er ankommt, mit dem Gefühl, auch sehr unbequem stutte, und zog mit blödem Lächeln die Müße, anzukommen , kann den Wunsch nicht unterohne seinen Weg aufzuhalten. „ Girgl , bist drücken , so schnell als möglich wieder abzu- du's denn wirklich ? “ rief sie. Er nichte verreisen. Da das nicht thunlich war , blickte legen. Aus dem allerliebsten Geißbübchen war Elfriede reuig und ratlos in das trübe Wetter ein halbwüchsiger, aber schon recht langbeiniger hinaus, sah den Hühnern zu, die sich prüfend und reizloser Bursche geworden. Er stand als über den Schmuß der Straße versuchten, oder Knecht bei einem Bauern im Dienſt. Verlegen den wenigen Gestalten , welche durch Geschäft brachte er jetzt nur einige Antworten über die und Beruf gezwungen , unter Tüchern und Lippen. Toch erfuhr Elfriede , daß die alte Schirmen von Haus zu Haus eilten . Es war Trude gestorben sei, aber noch eine Genugthuung noch früh am Tage , und nach durchfröstelter erlebt habe. Denn der brave Gabriel NeunNacht sehnte sie sich nach etwas Erwärmendem zur Erquickung. So ging sie zur Küche, um sich selbst zu helfen, oder die Hausfrau zu unterstützen. Als nachmittags der Regen aufgehört hatte, rüstete sie sich zu einem Ausgange , um alte Lieblingsplätze aufzusuchen. Aber je näher sie der bekannten Waldgrenze kam, däuchte ihr die Gegend verändert. Sie betrat die Stätte des Waldes , aber nicht mehr den Wald selbst. Zwischen dem Unterholz und Gestrüpp sahen
töter war eingesteckt worden , und vermutlich lebenslänglich, weil er, nach dem Ausspruche Girgls, " Geschichten gemacht" hatte. Der Regen begann von neuem , und Elfriede wendete sich nach Hause. Sie setzte sich an das Lager des Kranken, suchte in sich selbst
nach Dingen, die ihn durch Geſpräch erheitern sollten. Aber die alte Frau war auch von der Geſellſchaft, und für sie schien jede Ablenkung unmöglich. Klagen , trostlose Schilderungen, Schlechtigkeiten ringsumher ! Als die Rede
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auf den gefällten Wald kam, berichtete sie, daß der Besizer desselben nun auch gestorben, und der heillojen Wirtschaft in seinem Hause damit. ein Ziel gesteckt sei . Elfriede horchte plötzlich auf. Der Verstorbene war Chlodwigs Oheim. Frau Heller hatte bei dem früheren Besuche sich gehütet, über den alten Gutsbesizer etwas mitzuteilen , da sie den Neffen desselben mit Elfrieden im Verkehr ſah . Jezt aber war ihr die Zunge gelöst , und sie erzählte von der Spielhölle, die er im Hause unterhalten, von den Gelagen mit seinen Kumpanen , und wie er all sein Hab und Gut so gotteslästerlich durchgebracht habe , daß für die Erben nichts und gar nichts übrig geblieben sei. Wenn Elfriede aus der Hauptstadt mit dem Plan abgereist war , in der Einsamkeit an Chlodwig zu schreiben , sich vor ihm zu rechtfertigen, so fühlte sie jezt die Unmöglichfeit eines solchen Versuches. Zwar in Gedanken schrieb sie diesen Brief immerfort, aber jede Fassung verwarf sie wieder. Es erschien ihr wie Zudringlichkeit , was immer sie ihm auch sagen mochte; es warnte sie eine ernſte Stimme vor dem ersten Schritte der Annähe rung. Und doch hätte sie vergehen mögen vor innerem Weh. Sie, die immer stark und mit Ausdauer auch harte Lebenslagen überwunden hatte, fühlte sich zum erstenmal im Innersten schwach, und diese Erkenntnis bedrängte sie nur noch empfindlicher. So vergingen mehrere Tage, freudlos , öde , nicht minder aufreibend, als wenn sie dieſelben im Treiben der Hauptstadt hätte durchleben müssen. Sie beschloß auch, zurückzukehren, sie wollte wieder gefaßt sein, und im Strome der großen Welt den Schmerz über ihre zerstörte innere Welt überwinden. Noch einmal ging sie auf dem Feldwege, jetzt zwischen kahlen Stoppelfeldern, unter grau bedecktem Himmel , der Waldstätte entgegen. Da tauchte aus dem hohen Gestrüpp eine Geſtalt vor ihr auf, und , wie aus der Erde gewachsen, stand Chlodwig vor ihr. Sie erſchrak über die unerwartete Erscheinung, und ein Er leiser Schrei entfuhr ihren Lippen. aber schritt mit ernstem Gruße auf sie zu, und schien sich über die Begegnung nicht zu wundern.
,,Sie sind zu dem alten Plaze zurückgekommen, gnädiges Fräulein, und ich auch !" begann er ruhig. „Wir wußten beide nicht, wie wir diese Gegend wiederfinden würden, wiewohl
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ich sie mir nach den empfangenen Forstberichten einigermaßen verändert vorstellen konnte. " Elfriede hatte sich bezwungen. „ Alles zerstört ! " sagte sie. „Die schönen Bäume !“ „Bäume und Wald wachsen aufs neue,"
entgegnete er, „ und ähnliche Thäler und Berge, ja schönere , gibt es überall. Wir , die wir los und ledig durch die Welt gehen , haben wenigstens den Vorteil , uns nach Gefallen Bäume und Schatten suchen zu können. “ Schweigend gingen sie eine Weile neben einander her. Dann begann er: „ Ein alter Bekannter von uns, Girgl genannt, sagte mir, daß er Sie wieder in der Gegend gesehen habe, und so wollte ich nachforschen , ob er wahr gesprochen. Sie fragen vielleicht , was mich hergeführt ? Mein Oheim ist gestorben, und hat mich wirklich zum lachenden Erben der fünf Tanten gemacht." Aber es war für beide nicht die Stimmung zum Scherzen da. Bald darauf hub er wieder an: Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein, wenn ich mich in Dinge mische , die — mich nichts angehen! Ich wurde einen Tag länger, als ich Ihnen angegeben, in der Hauptstadt zurückgehalten. Einige Stunden benutzte ich, um Sie aufzusuchen, denn ich fühlte die Notwendigkeit, mich zu entſchuldigen, gewiſſer Aeußerungen wegen , die ich über jemand gethan. Ich fand Ihre Wohnung verſchloſſen , und empfing die Nachricht Ihrer plötzlichen Abreise. “ „Ich bitte Sie, diese Entschuldigungen ganz zu übergehen!" sagte Elfriede. „ Eher war ich Ihnen eine Rechtfertigung schuldig. Meine plögliche Abreise war der Anfang dazu.“ Er sah sie überrascht an. „Diese Abreise soll doch wohl nicht im Zusammenhang stehen mit meinen Aeußerungen ?" Elfriede nahm ihre Kraft zusammen. „ Sie scheinen Freunde in der Hauptstadt zu haben," sagte sie. „Vielleicht wurde von denselben auch von mir gesprochen! Was sagten ſie ?“ Gnädiges Fräulein -- nun wohl! Ein
Bekannter von mir , der in einer Muſikaufführung mitwirken sollte, darin man auch auf Sie gerechnet hatte, teilte mir in der letzten Stunde unseres Beisammenseins mit, daß Sie Ihre Beteiligung plötzlich aufgegeben hätten. Es entstand Verwirrung und Aufsehen, zumal man sich bei der Lage der Dinge - Ihren Rücktritt nicht erklären konnte.“ „Und was verstand man unter dieſer
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Lage der Dinge ? Reden Sie ganz ohne Zunen alle seine Lebensgeister zu noch unbekannter rückhaltung !" Freudigkeit erwacht. Lag auch der Himmel grau „Man sagte, daß - Herr Bornhofen die und herbstlich über den Glücklichen, war auch Aussicht habe, Ihre Neigung zu gewinnen, daß der Wald niedergehauen , der Weg rauh und uneben , sie vermißten nicht die alte Wipfeler sein Haus „Das Gerücht ligt!" unterbrach ihn El- pracht, noch die verschwundene Sommersonne. friede mit Heftigkeit. „ Ter Mann ist mir „ O, du einzig Geliebte !" rief Chlodwig . „Du niemals auch nur von der geringsten Bedeusollst, wenn du mein bescheidenes Leben teilen tung gewesen, und ich glaube dies durch mein willst, doch nicht in die Wüste mit mir ! Kunst Betragen ihm und den Leuten gezeigt zu haben ! und eine geistige Welt haben auch wir in unSein Haus wollte ich nicht betreten. Um mich serer kleinen Residenz ; ein schönes Museum, dazu zu zwingen , wußte er jene muſikaliſche ein gutes Schauspiel, Anregung und frohes Aufführung schließlich in seine Räume zu locken Streben , und auch ein Stückchen von großer ich bin überzeugt, daß es ein abgekarteter | Welt, auf die du nicht zu verzichten brauchſt.“ Hier soll meine Welt sein! " rief fie, Plan war! Auch ohne Ihre Aufklärung würde. ich seine Schwelle nicht überschritten haben. Was indem sie ihn umschlang . Hier allein ! Die Sie mir aber mitteilten, bestätigte nur meinen große Welt, in der ich aufgewachſen, gilt mir nichts geheimen Widerwillen und bewog mich zu einem mehr, wenn ich in dieser ewig daheim bleibe! “ „Und denke nur nicht , daß du einen Schritte, der die Ueberklugen auch über meine Gesinnung ein wenig aufklären foll !" bloßen Bettelmann zum Liebsten hast !" fuhr Chlodwig hatte mit beglückender Ueberer im hin und her eilenden Gespräche fröhlich „Bin ich doch sogar ein Erbe! Zwar raschung und in tiefster Seele aufatmend zu- | fort. von diesem Grund und Boden und drüben von gehört , aber zu erwidern vermochte er im dem Hauſe meines Oheims gehört mir nichts ersten Augenblicke nichts . Auch Elfriede schwieg, und so schritten beide wortlos eine Weile nebenmehr. Das hat alles verkauft werden müssen, um die Schulden der alten munteren Graueinander hin. Sie hätten einander so viel zu fagen gehabt, das Herz hätte ihnen überquellen. bärte zu decken, die hier so löblich gewirtschafmögen, aber es schien so unſagbar schwierig tet haben. Aber mir sind doch die Abbilder ja sogar', zu der fünf Tanten geblieben auszusprechen, was denn doch nicht länger zu verhehlen war. Das letzte fühlte Chlodwig von meiner höchsten Ueberraschung, noch etwas Sekunde zu Sekunde mehr, und plötzlich blieb von den Hunderttausenden doch ein paar allerer stehen, und die Worte rangen sich von seinen liebste kleine Tausend ! Für einen armen SchulLippen : " Elfriede ! Lassen Sie mich alles auf meister ein unerhörtes Kapital ! Ach, Liebſte ! einmal sagen! " daß Besitz auch glücklich machen kann , fühle Sie schrat zusammen und ihr Herz pochte ich erst in dieser Stunde !“ „Er reicht doch nicht an das , was wir lebhafter. „Auf diesem Boden wanderten wir einst als Freunde, harmlos, faſt wie beglückte Kinder !" so fuhr er fort. „Meine Freund schaft hat sich befestigt, vertieft, ich liebe Sie! Liebe Sie mit jedem Herzensſchlage, mit jeder Regung meiner Seele, mit jedem Gedanken ! Ich habe die Kühnheit , Sie vom Geschick für mein Dasein zu verlangen ! Elfriede — entscheiden Sie über mein Geschick!“ Sie sah ihn an mit Augen, die sich feuchteten vor unendlichem Glückesgefühl, aber ihr schienen Worte noch zu fehlen. Endlich rief sie: „ Ach ! Ich hätte Ihnen selbst längst das Gleiche sagen mögen !" Nun aber brach das Entzücken des jungen Mannes in lauten Jubel aus , und indem er die Geliebte mit kräftigem Arm umschloß, schie-
innerlich schon besaßen!" entgegnete Elfriede. „Beide haben wir schon Ernstes und Hartes im Leben erfahren , aber unsere Kraft daran bewährt. Als wir uns fanden , warst du der jüngere , wiewohl wir gleichen Alters find. Nun aber sollst du mir der ältere ſein , denn du weißt zu handeln, weißt dich zu bescheiden und hast die hellen Augen des Lebensmutigen, die ich über mir weiß, und in die ich schaue, um mein Glück und Heil darin zu finden!" Arm in Arm schritten sie auf dem Wege dahin , der jezt nur noch mit Gestrüpp und aufgeschichtetem Holz eingefaßt war. Und dennoch fanden sie ihn schön , und die Stunde schöner als alle vergangenen aus den ersten Tagen ihres Waldlebens .
A. Lammers. Uneigennützige Schenkwirte.
Aneigennütige Bon
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Schenkwirte.
R. Jammers.
ie Schentwirte erfreuen sich im allgemeinen nicht des Rufes der Uneigennütigkeit. Man hat sie vielmehr im Verdacht, zur Erhöhung ihrer Einnahmen selbst bewußte und geflissentliche Beförderung der Trunksucht bei ihren Gästen nicht zu scheuen. Während der Arzt zwar auch nicht von der Gesundheit seiner Patienten lebt, sondern von ihrer Krankheit, der Advokat vom Streite über Mein und Dein, nicht von dem rechtlichen Wirken und dem Gerechtigkeitsſinn der Menschen, der Bäcker und der Megger von ihrem Hunger, der Schneider und der Schuster von der Empfindlichkeit ihrer Haut, ohne daß sie es deshalb darauf anlegten, den ihnen Erwerb verschaffen den Mangel künstlich hervorzubringen oder zu steigern : traut man dem Schenkwirt zu, daß es ihm nicht darauf ankomme , einen Nüchternen betrunken zu machen und einem Mäßigen den verhängnisvollen Hang zum Trinken, Bieltrinken und Immermehrtrinken einzuimpfen, wenn sein Geschäft ohne solche Nachhilfe nicht blühen will. Nun aber ist der Stoff, aus welchem
schon gewachsen ; das Lokal wird gemietet, der Branntwein gekauft oder auf Borg genommen und das ganze Geschäft ist im Gange! Früher freilich bedurfte es zur Eröffnung einer Schenke obrigkeitlicher Genehmigung. Aber mit der allgemeinen Gewerbefreiheit, die dem deutschen Volke zu lange vorenthalten worden war und deshalb schließlich allzusehr in Bausch und Bogen, ohne die nötigen Unterscheidungen und Ersatzmaßregeln sich Bahn brach, wurde der Schnapsausschank wenigstens vorübergehend von jeder Feſſel frei und wucherte daher allenthalben, wo nicht ein ganz wohlfeiler Landwein oder altgewohntes volkstümliches Biertrinken ihm wehrte, wahrhaft verderbenbringend empor. Schenkwirt wurde nun jeder, der nichts besseres anzufangen wußte, in einem anderen Fahrwasser bereits Schiffbruch gelitten hatte, oder Freude an diesem geschäftigen Müßiggang und ununterbrochenen Verkehr mit Kneipseelen fand. Das Gewerbe wurde in vielen Städten riesenmäßig überfüllt, ſo daß jeder einzelne Schenkinhaber faſt mit Notwendigkeit darüber aus sein mußte, die Neigung seiner Umgebungen zum Trinken Schenkwirte gemacht werden, an sich doch nicht zu befördern , um allezeit Gäste genug zu schlechter als die Menschenklasse, aus welcher haben und Gläschen genug abzusehen. In andere kleine Geschäftsleute oder Handwerker den Schenkwirten erhielt also die Trunksucht hervorgehen. Es muß also wohl an der Be- gewissermaßen ihre Werber von Fach, die von schäftigung liegen, die ihn verdirbt, wie den Tag zu Tag ihre Augen nach neuen Opfern Geldverleiher die ſeinige zum Wucherer zu gierig umherwarfen. Seitdem vor allem entmachen pflegt. Es liegt vornehmlich daran, deckt man die Gewöhnung an Branntweindaß der Erwerb durch Branntweinausschenken trinken auf dem Grunde so vieler Not und allzu leicht unternommen werden kann. Was so vielen tiefen häuslichen Unglücks, im Begehört denn auch groß dazu ? Ein Lokal, ginn so mancher heillosen Verbrecherlaufbahn. einige Faß Branntwein und ein Mensch hin- Der Staat fängt an, dagegen einzuschreiten; ter dem Ladentisch, der die Gläser füllt und er mildert durch Genehmigungspflichtigkeit und das Geld einstreicht. Der Mensch ist nötigen- | die Aufwerfung der Bedürfnisfrage ein wenig falls der Gastwirt selbst, da die Besucher von den Stachel des Eigennutes , der die bisher Kneipen dieser Art nicht durch übermäßig viel in Ueberzahl vorhandenen Schnapsschenken Bedienung verwöhnt sind, und wenn er rechnen, treibt, die Trunksucht im Volke zu befördern : schreiben und leſen kann, ist er ſeiner Aufgabe | aber ganz kann er ihnen, die mit den Ihrigen 4
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A. Lammers.
auf 10,500 und je einen Branntweinladen auf eben doch auch leben wollen, diesen Stachel nicht ausziehen, so lange er sich mit den in 25,000 Menschen. Ueber die günstige Wirkung Deutschland bisher versuchten und vorgeschlage= | dieser Abnahme der Versuchungsstätten auf die ländliche Bevölkerung gibt es nicht zweierlei nen Maßregeln begnügt. Dagegen ist in Schweden seit anderthalb Meinung. In den Städten, wo die Umgehung so viel leichter, die Verführung so viel gegenJahrzehnten mit Glück unternommen worden, den Schenkwirten die in ihrem Falle besonders wärtiger und mächtiger ist, konnte es so rasch gemeinwichtige Tugend der Uneigennügigkeit nicht gehen. Hier mußte noch etwas hinzuDer eine oder andere Leser einzupflanzen. kommen, was zuerst in Gothenburg denn wird ja schon von dem sogenannten Gothen- || auch sehr bald wirklich hinzugekommen ist. Die Stadt Gothenburg - in der Welt burger System vernommen haben, das hierauf bekannt durch Nordenskjölds aus ihr hervorhinausläuft. wie Deutschland Auch Schweden hatte gegangene Nordpolarfahrten, durch den benach in barten Trolhätta-Kanal, und engeren Kreisen damals, als es die Schenken freigab neuerdings durch das gleichfalls benachbarte früheren Zeiten den Branntweingenuß etwas zu merkwürdige Slöjd - Seminar in Nääs , eine harmlos angesehen und behandelt. Ein Geseg beun Pflanzschule für Handarbeitslehrer von 1809 erlaubte jedem Grundbesizer in Stadt und Land, für seinen häuslichen Bedarf ruhigte sich in der Mitte der sechziger Jahre über die stetige starke Zunahme der Armut in selbst zu brennen . Demgemäß gab es im Jahre ihren Mauern. Eine Untersuchungskommission 1830 nicht weniger als 173,000 Brennereien, wurde eingeseßt , und diese fand , daß die welche 60 Millionen Kannas oder ungefähr 160 Millionen Liter Schnaps zum Verbrauch Hauptschuld an der Ueberzahl der Schenken. herstellten. Dann sette um die Mitte der liege, die bei der bestehenden hohen Schanksteuer im Jahre 1864 fast 2400 Mark dreißiger Jahre die Mäßigkeitsbewegung ein, durchschnittlich auf jeden Wirt - dahin dränge, welche auch nie wieder ganz aufhörte zu wirken, wie in Deutschland die gleichzeitig entstandene. in der Verleitung zum Trinken das Aeußerste an Kunst und Bosheit aufzubieten. Nach der nach 1848. Sie erreichte im Jahre 1855 das Verbot der Hausbrennereien, und im Jahre Ansicht der Kommission tam es darauf an, 1861, daß nur noch mit Dampfapparaten ge- den Verkäufern von Schnaps das Interesse brannt werden durfte. So gab es denn 1870 an möglichst großem Absatz zu nehmen, den nicht mehr als 442 Brennereien im Lande. Verkauf auf Borg oder Pfand ganz zu unterGleichzeitig wurde vorgegangen mit hohen Ab- drücken, für geräumige, reinliche und gutgegaben und mit Beschränkung der Zahl der lüftete Schanklokale zu sorgen , sowie dafür, Schenken. Diese festzustellen hatte ein Geset daß in denselben stets auch Speisen zu haben von 1857 den Provinz -Statthalter ermächtigt ; seien. Auf Grund ihres Berichts traten eine zehn Jahre später ging die Befugnis auf die Anzahl der hervorragendsten und bemitteltſten Gemeinderäte über, nur noch abhängig von Bürger zu einer Aktiengesellschaft zusammen, der Genehmigung des Statthalters . Ein wei- um von der Stadtgemeinde das gesamte Schankteres Gesetz vom 21. Mai 1859 schrieb vor, recht zu pachten und nach gemeinnützigen Gedaß die Selbstverwaltungsbehörden die Zahl sichtspunkten zu verwalten. Auf Gewinn verder in ihrem Bereich zuzulassenden Schenken zichteten die Aktionäre : den überließen sie der feststellen, und wenn die übergeordnete Staats- Gemeindekasse; - Verluste verpflichteten sie sich behörde zugestimmt hat, dann dieselben öffent- in vorher festgesetter Verteilung zu decken. lich auf je drei Jahre an den Meistbietenden Gothenburg besaß damals auf rund 60,000 verpachten mit Vorbehalt des Urteils über Einwohner 61 Schenken. Von diesen erwarb seine Person. Dieses Gesetz vor allen hat die Gesellschaft bei der 1865 stattfindenden eingeschnitten. Namentlich auf dem Lande ist Versteigerung zunächst 40, und bis zum Jahre bis 1875 auch sämtliche von demselben sogleich ein solcher Gebrauch 1868 den Rest, gemacht worden, daß es für die kaum vierte- Lizenzen zum Ladenverkauf von Branntwein. halb Millionen Köpfe umfassende ländliche Be- Nun hatte sie es in der Hand, den auf die völkerung 1871 nur 324 Schenken und 136 öffentliche Trunksucht spekulierenden SchenkBranntweinläden gab , oder je eine Schenke wirt völlig abzuthun und an seine Stelle einen
Uneigennützige Schenkwirte.
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ſittlichen Sphäre auf einmal in die höchſte erhoben worden. Es betreiben nicht mehr mittelund bildungslose Leute in verzweifeltem Wettstreit um die Lasterpfennige der Säufer, sondern die festbesoldeten Angestellten einer Gesellschaft, welche zu dem ausdrücklichen Zwecke gegründet iſt, der Trunkſucht Grenzen zu ziehen. Sie betreiben es ähnlich, wie ein Vater die Lektüre eines von unerſättlicher Leſewut befallenen Kindes regeln mag : mit der Absicht, weise zu leiten und allmählich einzuschränken, was sich nicht füglich auf einmal abstellen läßt, was aber auch nicht ganz sich selber überlassen nur auf Gesellschaftsrechnung gegen bares werden darf, obgleich Lesen gewiß noch weit Geld verkaufen dürfen, während der Verkauf weniger als Branntweintrinken an sich ein von Bier, Thee, Kaffee, Selterswasser, Zigarren Laster ist, sondern ein Quell unsäglicher Freuden und Segnungen . u. s. f. ihr eigenes Geschäft ist. Nur 9 von den eingesetzten Schenkwirten oder SchenkenEs ist in den letzten Jahren Mode geworden, verwaltern vermochten daraus eine ausfömmdie Sommerreifen zur Abwechselung von dem liche Einnahme zu ziehen; den andern 31 überlaufenen Süden nach dem gar nicht so viel mußte die Gesellschaft Gehalte ausſeßen. Ein weniger schönen und großartigen Norden Eurovon ihr angestellter Inspektor kontrolliert den pas zu richten. Die Reisenden bringen aus Geschäftsbetrieb unter persönlicher VerantwortSchweden gewöhnlich den Eindruck mit, daß lichkeit für das Ganze. Nach dem Geschäfts- | dort viel ſtarke Getränke genossen werden, ſchon bericht für 1876 waren 26 Schank-Lizenzen weil der Bränvinsbord ( „ Branntweinstisch" ) unbenußt, 10 an Klubs und Speiſewirtschaften mit unentgeltlichem Imbiß jeder Hauptmahlabgegeben, 21 an Schenken; von den ihr eben zeit appetitreizend voraufzugehen pflegt ; und falls überlaſſenen Konzeſſionen zum Kleinhandel die Einbürgerung des „schwedischen Punsches“ mit Branntwein gebrauchte sie 7 selbst und als Nachttrunk auf Bier oder Wein bestärkt hatte 13 an Wein- und Likörhandlungen weiter diese Annahme. Allein wer neben der erverpachtet. Sie lieferte für das genannte habenen Natur auch den ſozialen Inſtitutionen Jahr einen Gewinn von rund 740,000 Mark einen Blick zu widmen nicht unterläßt, der an die Stadtkasse ab. wird bald gewahr, daß mit einem vielleicht Die andern schwedischen Städte haben nicht um etwas schwereren und verbreiteteren Uebel gesäumt, Gothenburgs Beispiel nachzuahmen. dort unendlich viel bewußter, entschlossener und Die Reichshauptstadt Stockholm ging im Oktober wirksamer gerungen wird als bei uns . Die 1877 dazu über ; von 90 Städten überhaupt uneigennüßigen Schenkwirte sind ein nationales haben schon 57 das Gothenburger System sich Inventarſtück, das wir uns zumal in den nördangeeignet, und darunter sämtliche Städte über licheren und östlicheren Städten des Vaterfünftausend Einwohner , mit Ausnahme der landes nicht rasch genug aneignen können . Studentenstadt Lund. Der Nachbarstaat Norwegen, in welchem man ſonſt troß oder wegen der Personalunion bekanntlich keineswegs sehr Charakter und Talent. für Schweden schwärmt, hat sich der AnsteckungsVon kraft dieses Vorgangs doch ebenfalls nicht entinſofern uneigennüßigen zu feßen , als deſſen Erwerb aus jeglicher Abhängigkeit von der Masse des verzapften Schnapses heraustrat, ſo daß diese ihm für ſein persönliches Wohlsein gleichgültig wurde. Die Gothenburger Aktiengesellschaft unter ihresgleichen eine der Gerechten, denen zuliebe das Institut der Aktiengesellschaften mit der Zeit wohl noch günstiger angesehen werden wird --- ließ von den übernommenen 61 Schenken zuvörderst 21 ganz eingehen. Die übrigen 40 gab sie an Leute, welche sie völlig in der Hand behielt und die den Branntwein
ziehen können. Im Jahr 1871 bereits wur den vom Storthing ausdrücklich zu diesem Behuf die nötigen gesetzlichen Vorbedingungen geschaffen, und 19 norwegische Städte behandeln die Schenken jest wie Gothenburg. Im skandinavischen Norden ist also das Gewerbe des Schenkwirts aus der niedrigsten
Ad. Wahrmund.
Wenn Charakter ein Talent hält, Trohen sie wohl einer ganzen Welt ; Sollt' aber der Charakter verderben. Geht bald auch das Talent in Scherben.
XA-PBrendemoun Fig. 1. Kristallpalaft, Gartenfront
Der Kristallpalast zu Sydenham. Bon Ludwig Freiherr von Ompteda.
üdlich von London, in der hügeligen Grafschaft Kent, lagert auf einer langgestreckten Anhöhe ein Ungeheuer aus Eisen und Glas. Es steigt in seiner mitt leren höchsten Wölbung bis zu 60 m empor und streckt sich von Süden nach Norden in einer Länge von wenig unter 1 km hin (Fig. 1 ). Dieses Weltwunder ruht über einem Garten von 112 ha oder etwa 450 Morgen. Es verdankt seine Entstehung der ersten Internationalen Ausstellung , zu welcher die zivilisierte Welt im Jahre 1851 nach London
Fig. 2. Blick ins Langschiff von Süden.
pilgerte. Die Glashalle dieser Ausstellung, das Werk des genialen Garten - Baumeisters Sir Joseph Paxton, war auf ihrer ursprünglichen Stelle in Hyde Park zum Abbruch verurteilt. Eine patriotische Aktiengesellschaft baute die großartige Schöpfung , in bedeutend erweiterten Maßen und in einer für die Dauer berechneten Konstruktion, in Sydenham wieder
die Vorführung derjenigen Wissenschaften und Kunstfertigkeiten, welche der Vermittelung des Auges zugänglich sind, durch Musik und Schaubühne, endlich durch ein Meisterwerk der hohen Gärtnerei , sollte der ästhetische Geschmack gebildet und der Sinn für edlere Vergnügungen entwickelt werden. Im Jahre 1854 wurde der Kristallpalast eröffnet ; er hat seitdem mehr als 50 Millionen Besucher aufgenommen. Die gesamte Anlage des „ Permanenten Palastes für Kunst und Erziehung" kostete 30 Millionen Mark, ihre Unterhaltung und Bewirtschaftung verschlingt jährlich 1,200,000 Mark. Wenn nun auch der innere Körper dieser großartigen Schöpfung mit einem unvergleichlichen , beispiellosen Reichtum des Schönen, Unterhaltenden und auch Wissenswerten ausgestattet ist, so wird dennoch, glaube ich, der Gesamteindruck , den wir beim ersten Eintritt und Umblick empfangen : der Eindruck der unfaßbaren , ungeheuren räumlichen Dimension und der überwältigenden
auf. Ihr Zweck war : ein universelles Institut für die allgemeine Erziehung und Bildung der Nation zu schaffen. Durch den unmittelbaren Anschauungsunterricht der besten Muster aller Zeiten in der Architektur und Skulptur, durch
verwirrenden Massenhaftigkeit des Inhaltes , auch beim längeren Durchwandern und eingehender Betrachtung der mächtigste und in der Erinnerung dauerhafteste bleiben. Suchen wir daher zunächst uns die
Ludwig Freiherr von Ompteda. Der Kristallpalaft zu Sydenham.
schwer begreifliche Ausdehnung und Massen haftigkeit dieses größten Glashauses und vielleicht auch größten Hauses der Erde durch einige Zahlen faßlich und anschaulich zu machen. Das Langschiff des Gebäudes , etwa 550 m lang, wird in seiner Mitte von einem Quer schiffe oder Transept durchschnitten , welches sich über das Dach hinaus zu einer Wölbung von beinahe 55 m erhebt und eine Grund fläche von 120 m Länge und 36 m Breite deckt. Jedes Ende des Langschiffes schließt
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wiederum ein Seitentransept von kleineren Verhältnissen ab. An diese lehnte sich auf jeder Seite ein Flügel an, der sich noch 200 m weiter erstreckte. Hiervon ist jedoch jezt nur der südliche Seitentransept nebst Flügel vorhanden; der größere Teil des nördlichen Transepts, mit allem was jenseits lag, brannte im Jahre 1866 ab und ist bis jest nicht wieder hergestellt. An jeder Langseite des Langschiffs läuft ein hoher, schmaler Chorgang, in welchem die Treppen liegen. Auf diesen folgt je eine niedri
Fig. 3. Mittleres Querschiff und Gartenterraffen. gere, sehr breite Seitengalerie ; das Ganze schließt. ein noch niedrigerer, zum Theil unterirdischer Umgang ab, der den Verkehr der Arbeiter und allen Transport rings um das Gebäude vermittelt. Die gesamte Masse des im Glaspalaste verbrauchten Eisens beträgt : 9,650,000 kg; die gesamte Länge der darin verwandten eisernen Säulen und Pfeiler: 25 km = 3,3 deutsche Meilen. Die umschließende Glasfläche bedeckt 37,5 Morgen und wiegt 500,000 kg. Legte man sämtliche Glasscheiben der Länge nach aneinander, so ergäbe sich die fast unglaubliche Linie von 387 km oder 51,6 deutschen Meilen.
Dieser gesamte ungeheure Raum wird im Winter durch Wasserheizung mit dem lieblichen. Klima von Madeira erfüllt. Die Leitungsröhren ziehen sich überall in der Grundfläche umher. Sie würden, auf einen durchschnittlichen Umfang von 0,33 m reduziert, eine Gesamtlänge von 80 km aufweisen. Das heiße Wasser legt in ihnen , von Kessel zu Kessel, einen Weg von fast 3 km zurück. In jeden Ofen münden Luftzüge aus dem Inneren des Gebäudes und durch fortwährende Verbrennung der zugeführten Luft wird die Atmosphäre unausgesett erneuert.
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Ludwig Freiherr von Ompteda.
breitet sich ein prächtiges in Marmor gefaßtes Zwei Eisenbahnen gehen von London zum Kristallpalast. Die unserige mündet am Fuße längliches Wasserbecken, die „Kristall -Fontäne" des Hügels, auf welchem die ungeheure Kuppel aus . Prächtige Farne und ein reicher bunter Blumenflor umkränzen das Ufer des gestreckten sich erhebt. Eine breite und hohe, etwa 240 m kleinen Sees , auf dessen Spiegel die Blätter lange, mit Glas bedeckte Kolonnade führt uns der Victoria regia und verschiedener hellroter, an das Gebäude, welches wir im südlichen blauer und weißer Nymphäen sich wiegen. Flügel betreten. Die hier befindlichen zahlDer Teich ist mit Goldkarpfen besett, denen reichen Erfrischungssälewerden durch eine ausgedie warme Temperatur ihres Elementes bedehnte Wand, den „ Schrein “ der Könige und sonders zuträglich erscheint. Wenigstens waren Königinnen (Fig. 7, S. 35), vom großen sie fruchtbar und mehrten sich. Nachdem ſie Langschiffe abgetrennt. Diese Sperrwand trägt dieses und ein anderes Baſſin im nördlichen die Standbilder sämtlicher Beherrscher Eng Flügel etwa zehn Jahre bewohnt hatten, erlands , von den angelsächsischen bis herab zur hielten sie eines Tages Waſſer, welches durch neuesten Zeit. Es sind Gipsabgüsse , deren langes Stehen in den Röhren vergiftet war. Originale das Parlamentsgebäude in Westminster schmücken. Vor ihnen, in der Mitte, Es erfolgte ein allgemeines Sterben und über 11,000 goldene Fischleichen wurden herauserhebt sich die Reiterstatue der Königin Viktoria, gezogen. von Marochetti. Jedoch werden unsere Blicke An der Westseite dieses lieblichen Mittelfaum längere Zeit durch diese erlauchte Verſammlung gefesselt werden. Denn indem wir punkts und weiter das Schiff entlang bis zum uns gen Norden wenden, thut sich der unendliche mittleren Transept ist ein unglaublicher ReichAusblick auf das ungeheure, unabsehbare Lang- tum von ausgezeichneten Werken der modernen schiff (Fig. 2, S. 28) vor uns auf. Unter feinem Skulptur in Nachbildungen versammelt. Alle Länder und Schulen sind hier vertreten. Biele von Menschenhänden geschaffenen Tache gibt große Porträtstatuen stehen an festen freien es, meines Wiſſens, eine Fernsicht, wie sie sich Pläßen, die Mehrzahl aber ändert häufig innerhier vor uns erstreckt , großartig und lieblich halb der nationalen Gesamtgruppe ihren Ort, zugleich. Die Wirkung ist völlig einzig. In um im Verein mit Wasser und Pflanzen dekoallen großen Muſeen und Sammlungen ergreift mich , trot dem Reichtum und Wechsel ihres rativ zu wirken. Es würde ein ermüdendes Inhaltes , über kurz oder lang stets das Geund vergebliches Unternehmen sein , hier aufzuzählen oder gar zu schildern. Von unseren fühl des sich wiederholenden Einerlei. Die Götterversammlung dort ist zu starr und tot, bekanntesten Meisterwerken begegnen wir dem Denkmal Friedrichs des Großen von Rauch die schönen Bilder, welche mein Auge aufnehmen soll, sind einander zu ähnlich und zu (Berlin) ; Leſſing von Rietschel (Braunschweig) ; die drei Buchdrucker von Launis (Frankfurt nahe. Ganz anders wirkt dieses Bild auf uns am Main). Aber das wesentliche und beſondere ein. Sein besonderer Reiz besteht im UeberInteresse dieſer Sammlung liegt nicht in ihrer fluß an Raum und Licht und in der weisen Auswahl und Menge , sondern in der AufVermischung von Kunst und Natur. Auf der großen Heerstraße durch das endlose Langschiff | ſtellung und Gesamtwirkung. Die Gruppe, welche uns einen der schönen, von Tritonen wandeln wir zwischen Bäumen, Pflanzengruppen umlagerten Brunnen (Fig. 4 , S. 31 ) und lebendigen Wasserstücken hindurch, deren vorführt und die verwundete Amazone frischer grüner Ton unser Auge stets von von Gibson (S. 36) , einem der bedeutendneuem für die kunſtvollen Architekturbilder und die zahllosen Nachahmungen der Meisterwerke der bildenden Kunst aus allen Zeiten stärkt und empfänglich macht. Scharen von kleinen Waldvögeln bewohnen seit vielen Generationen den Kristallpalast ; ihr Flattern und Zwitschern in den Bäumen und unter den Blumen erhöhet den natürlichen Eindruck dieses weiten bedeckten Gartens. Zu Füßen des Standbildes der Königin
sten englischen Bildhauer , gibt uns eine sprechende Anschauung dieser großartigen und gefälligen Anordnung. Vor uns steigt jetzt das mittlere Querschiff zu schwindelnder Höhe, indem es zugleich auf beiden Seiten wohl um die doppelte Breite des Langschiffs zurückspringt. Die Ausbuchtung zur Linken wird durch einen gigantischen amphitheatralisch aufsteigenden Halbkreis aus-
Der Kristallpalaft zu Sydenham. gefüllt , die große " Händel-Orchestra" . Sie faßt 4000 musikalisch gestimmte Menschen nebst ihren Instru menten, welche sich hier alle drei Jahre zu den großen HändelMusikfesten vollzählig versam meln. Aber auch
sonst wird dieses. Halbrund, dessen Durchmesser denjenigen der Kuppel über St. Pauls Kathe zweimal drale enthält, zu gro= Ben symphonischen Aufführun gen benut. Aus der Tiefe dieses Halbkreises schaut dräuend die mächtige Orgel mit ihren 4568 herab. Pfeifen In der gegen= überliegenden Ausbuchtung des Quer großen
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großartigsten und übersichtlichsten Jülustrationen, oder Bilderbücher der kunstgeschichtlichen Welt. In acht großen Abteilungen sind hier Musterstücke der verschiedenen Epochen und Entwickelungen, welche Architek tur , Skulptur und Wanddekoration seit dem der Anbeginn Zivilisation erfahren haben, in chronologischer Reihenfolge darJeder gestellt. enthält „Hof" verschiedene Abund teilungen
zeigt gegen das Langschiffzu eine reiche und charafteristische Fassa= de. Wir durch wandern hier mit gemächlicher Eile 3000 Jahre, beginnend vom äl= testen Aegypten und hinabstei
schiffs steigt eine nicht minder riegend bis zum senhafte Tribüne Schlusse des sechfür die Konsu zehnten Jahrmenten jener hunderts . Jm monströsen Drnördlichen Langschiffe selbst ist, chesterleistungen wiederum zwi rechts empor ; von ihr hat eine schen Wasser und im Konzerthalle für Pflanzen , Anschlusse an kleinere Musikaufführungen, jeden einzelnen Hof, ein reibis zu 4000 3uhörern, Platz ge= ches Museum der bedeutendfunden; links ein sten Bildwerke Opernhaus, welFig. 4. Brunnen, von Tritonen umlagert. des Altertums, ches ebenfalls 4000 Schaulustigen genügenden Platz gewährt. der Gotik und der Renaissance vereinigt. Wir betreten nun den nördlichen Teil des Im Aegyptischen Hofe imponiert uns der Konstruktion, die RiesenEinfachheit die sogedie an Langschiffes und gelangen links nannten Höfe der schönen Künste, die haftigkeit der Proportion und die massive
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Ludwig Freiherr von Ompteda.
Tüchtigkeit. Jedoch thut die Reduktion aller Größenverhältnisse , im Tempel von Darnak auf ein Drittel und im Grabe zu Beni Hassan gar auf ein Zehntel, der Mächtigkeit des Eindrucks erheblichen Eintrag. Von dort nach Griechenland ist ein Schritt aus dunkelm Schatten in hellen Sonnen schein ; hier ist alles einfach, klar und licht. Hier sprechen die größten Meisterwerke aller Zeiten zu uns : der Jason aus dem Louvre, die Juno Ludovisi, der Barberinische Faun, Laokoon und vor allem die Venus Victrix, Aphrodite die von Milo. Sie
sogar der französischen Vervollkommnung sich förderlich erwies . Wir schlendern durch den Römischen in den Alhalmbrahof, wo die Halle der Abencerragen und der Löwenhof uns bekannt begrüßen. Hier sind Statuen durch Mohammeds Satzungen verboten und wir bewundern nur das wirklich wunderbar seine Maßwerk. Damit sind wir an das nördliche Querschiff gelangt. Vor dem Brande rauschte hier ein mächtiger Palmenwald. Mit ihm ist der
enthüllt sich uns in der ursprünglichen und da= in der neben verbesserten Gestalt. In ersterer stand ſie im Louvre bis zum verhängnisvollen Jahre 1870. Man wußte, daß sie aus zwei Blöcken zusammengesett war; die Verbindung liegt unter einer Querlinie der Gewandung. Längst schon be=
Fig. 5. Im Renaissancehof.
haupteten einige Assyrische Hof, welcher früher jenseits sich Gelehrte: es fei dort eine unaufthat, durch das Feuer von 1866 zerstört. Wäre unsere Zeit nicht so sehr gemessen, natürliche Verso würden wir hier in das Aquarium der drehung des gött Leibes lichen Seefische und Schaltiere hinabsteigen, zu dessen wahrnehmbar. Aber niemand hatte gewagt, | Füllung 675,000 1 Seewaffer erfordert werden. Wir durchschneiden das Querschiff und das Heiligtum zu berühren. Jezt kam die gelangen auf der anderen, östlichen Seite des Belagerung durch die östlichen Barbaren. Die Palastes in den Romanischen Hof. Hier Venus Victrix wurde auseinander genommen, treffen wir unter einer ausgewählten interin zwei Kisten verpackt und still vergraben. nationalen Gesellschaft zwei Bekannte: den Als man sie später wieder aufstellte, zeigte sich, daß zwischen beiden Stücken eine Bleischicht ein schönen Kreuzgang von St. Maria am Kapitol zu Köln und einen marmornen Springbrunnen gegossen war. Diese hatte den Fehler veruraus der Abtei Heisterbach. sacht ; sie ward entfernt und das schönste Im folgenden, dem mittelalterlichen Götterbild der Welt in seiner ursprünglichen Hofe , sehen wir die Gotik in ihrem AufVollkommenheit wieder hergestellt. Und so zeigt gange , Glanze und Verfalle, getrennt nach doch die Kunstgeschichte wenigstens einen Fall, in welchem rauhe teutonische Einwirkung
ihren Hauptgebieten: Deutschland , Frankreich
Der Kristallpalast zu Sydenham.
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und Italien, England. In Deutschland nimmt, | in Bronzeguß aus dem venetianischen Dogenwie billig, Nürnberg den größten Raum ein, palaste, links eine Thür aus dem Palazzo Doria neben ihm das goldene Mainz. in Genua. Die Statuen sind von Donatello della Wir betreten jezt den prächtigen Renais Robbia und anderen Meistern des Cinque Cento. fancehof. Hier sind alle bekannten BerühmtEs folgt ein Vestibül , welches die späte heiten Italiens, Frankreichs , Spaniens und englische Renaissance aus der sogenannten Deutschlands in einer gedrängten Musterkarte Elisabethzeit (16. und Anfang des 17. Jahrvereinigt. Durch die Loggia (Fig. 5 links, S.32) hunderts) enthält. eintretend, sehen wir vor uns eines der Fenster Den Abschluß bildet nochmals Italien, deſſen der Certosa bei Pavia , rechts davon einen überreiche Fülle einen besonderen Raum erforderte. berühmten Fries von Lucca della Robbia : die Wir freuzen nun das mittlere Querschiff Sängerinnen, darunter einen Springbrunnen vor dem Konzert- und Opernhause. Der östliche
Fig. 6. Im Soologischen Garten. Teil des südlichen Langschiffs, in dem wir wieder | Papierhändler. Dort gibt es Photographieen, angelangt sind , ist von den sogenannten In- Bücher, ein Lesezimmer , die Post und eine dastrichöfen rings eingefaßt : Thatsächlich besondere Abteilung für „Touristen". An der sind sie kaum etwas anderes , als eine Reihe Wand hängt hier, zur allgemeinen Orientierung, großer Bazars ; fast alles ist hier verkäuflich. eine Karte von Europa in ortsangemessenen Die zu Grunde liegende Idee ist : eine " Per Dimensionen : 7 m im Geviert ; daneben ist manente Internationale Industrie-Ausstellung" ein Büreau für die Rundreisebillets der Herren zu schaffen. Die Durchführung ist natürlich Cook (Englands Gebrüder Stangen) , Pässe, feineswegs allseitig. Im französischen Hofe finden Zirkular-Kreditbriefe , kurz, kein Mittel fehlt, wir allerlei Phantasiewaren, sogenannte Pariser zur Ausarbeitung und Durchführung eines Artikel; dann folgen : Keramik, Glas, Wagen, gründlichen weit ausgreifenden Reiseplans . und an der Westseite : Chinesische Erzeugnisse, Auch das „ Pompejanische Haus " sei hier noch kurze Waren aus Sheffield und Birmingham. erwähnt , eine getreue und sehr vollständig Den Schluß bildet der 77 Stationers durchgeführte Nachbildung einer römischen Villa aus der Zeit des Kaisers Titus . Ruhen Court", die Niederlassung der Buch- und 5
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Ludwig Freiherr von Ompteda.
wir jet wieder vor dem Schrein der Könige und sehen das Langschiff entlang, so finden wir in der Baumlandschaft zur Rechten des großen Wasserbeckens eine ethnologische Ausstellung. Es sind Gruppen verschiedener , mehr oder weniger wilder Zweige der menschlichen Familie : Buſchmänner , Zulus, merikanische Indianer, Javanesen, Battas und Karaiben. Wir beobachten sie in ihrer Häuslichfeit, umgeben von der wilden Fauna ihrer Heimat : Hippopotamus, Giraffen, Vögel und Amphibien. Mit den erdrückenden Maſſen, die bis jetzt in flüchtigem Gedränge an uns vorübereilten,. ist jedoch der im Kristallpalaste angehäufte Bildungsstoff noch keineswegs erschöpft. In einer, baulich völlig getrennten Abteilung hinter den mittelalterlichen Höfen ist bereits seit 20 Jahren eine praktische Architektur- und Ingenieurschule" eingerichtet. Dieser ist kürzlich eine Schule für hohe Gärtnerei angeschlossen. Ein großer Teil der breiten Galerien, welche zu beiden Seiten das Langschiff begleiten, ist durch überwältigend reiche technologische und anthropologische Museen ausgefüllt. Außerdem können wir uns dort in eine große Pinakothek ziemlich mittelmäßiger Gemälde verirren , und uns an einer kunstvollen Sammlung lebendiger Gruppen von ausgestopften Tieren erfreuen. Nebenher findet dort faſt immer die eine oder andere vorübergehende Ausstellung statt. So fand ich eine sehr großartige Vorführung der Wolle und ihrer Fabrikate, während unten im nördlichen Langschiffe alle an dieser Industrie beteiligten Maschinen mit heftigstem Getöse und Geschnurre um die Wette arbeiteten. Augenblicklich wird dort die intereſſante Pariser elektrische Ausstellung wiederholt. Wir flüchten uns hinaus auf die großartigen Terrassen (Fig . 3, S. 29), die breit und prächtig vor der östlichen Gartenfront des Kristallpalastes lagern und von dort in mannigfachen Abstufungen in die Gärten abfallen, eingefaßt von schweren Steinbalustraden, unterbrochen von mächtigen Freitreppen, geschmückt mit gigantischen allegoriſchen Steinbildern. In die Futtermauern sind laubenartige Höhlen eingelaſſen, mit Kletterpflanzen überzogen und mit Topfgewächsen ausgeziert. Wasserbassins, Springbrunnen, Kaskaden, finden sich in stetem. Wechsel auf jeder der breiten Erdstufen, bis wir zuletzt in der Tiefe an den Ufern ver-
| schiedener Teiche und kleiner Seen angelangt ſind . Die Grundzüge dieſer großartigen Anlagen sind diejenigen des italienischen Gartens : Verwendung von architektonischem Schmuck in Terraſſen, Tempeln, Statuen, Vasen, peinlich mathema| tiſche Blumenbeete, gerade Wege, geschnittene Hecken, fünstliche Felsgruppen und geoDer geniale Schöpfer | metrische Fischteiche. der Gärten , welche wir jezt durchwandern, Sir Joseph Parton, hat diese steifen und strengen Regeln gemäß dem engliſchen Klima und Geschmacke gemildert ; er ließ vor allem die Wellenbewegungen des Rasens und die schönen. majestätischen freistehenden Baumbilder zur Geltung kommen. Mit großer Meiſterſchaft wird dann dieser italienische Charakter, gegen Norden hin, in den englischen Landschaftsgarten übergeleitet. Auf der zweiten Terrasse, in der Mitte des italienischen Blumengartens, haben dankbare Verehrer dem Vater des Kristallpalastes ein würdiges Denkmal errichtet. Im englischen Landschaftsgarten nimmt uns zuerst das Rhododendronthal auf, in jeßiger Frühlingszeit, wo Tausende und Aber| tausende von Blüten im prächtigsten Farbenspiele glänzen, ein entzückender Anblick ! Die Bodenanlage ist hier hügelig und lebhaft be wegt. Jegliche Kunst gärtnerei scheint ver schwunden zwischen Steinen , Farnkraut und bewachsenen kleinen Teichen. Herrliche Bäume in kräftigſter Entwickelung stehen, einzeln und in Gruppen, über die smaragdgrünen Rasenflächen verteilt. In diesen Gründen finden wir auch einen Kampfplag für Cricket und das nationale Bogenschießen. An geräumigen Turnplägen und Velocipedbahnen vorüber nähern wir uns dem Geologischen Garten. Wir stehen auf dem Großen Plateau", 16 m über dem Spiegel des darunter liegenden Sees . Dort unten sehen wir eine Reihe kleiner wilder und
wüster Inseln. Zwischen Bäumen , Klippen, Gestrüpp und Schilf, am Ufer und im Wasser, tauchen eine Reihe fremdartiger unheimlicher Figuren vor uns auf. Die Klippen selbst stellen ganz bestimmte geologische Formationen der Sekundär- und Tertiärperiode dar : Schichten von Steinkohle, Kalk, Sand- und Eisenstein. Sie sind nach wiſſenſchaftlichen Vorschriften hergestellt und ebenso sind ihre vorsintflutlichen Bewohner
Der Kristallpalast zu Sydenham.
auf ihnen verteilt. Riesenfrösche und Schildfröten, das Labyrinthodon und das Dicynodon hocken auf dem roten Sandstein, Ichthyosaurus und Plesiosaurus beleben den Lias. Im Dolith herrscht der Megalosaurus , eine Riesen eidechse , vom Maule bis zur Schwanzspite 13 m lang, mit einem Bauchumfang von 712 m, (Fig. 6, S. 33). Auf Klippen des Wealdenthons breitet der vierbeinige, mit furchtbaren Krallen bewehrte Pterodaktylos , mit scharfen Zähnen in seinem langen schweren Schnabel, seine weiten Flughäute aus. Man könnte in ihm das Urbild der gesamten Familie unserer Fabeldrachen vermuten. Der Versuch einer solchen Wunderschöpfung einer un
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und Velociped-Rennen , Herrn Wiljalba Frickels Zauberkünste , gefettete Kletterbäume und Laufbäume, eine Extravaganza " im Opernhause, ein Riesen - Luftballon , Musikkorps überall. Zulegt springen sämtliche Wasser und ein überwältigendes Feuerwerk erschüttert die Luft! Ohne Zweifel verlassen sämtliche 60,000 Besucher die zauberhaften Gärten unter den heitersten Eindrücken. Den Aktionären jedoch, von denen bisher noch kaum die Rede war, soll sich in ihrer wunderbaren Schöpfung keine Quelle ungetrüb-
Fig. 7. Schrein der Könige und Königinnen.
tergegan genen Welt durch die wissenschaftliche Einbildungskraft ist jedenfalls dankenswert . Aber er ist fühn. Viele dieser vorsintflutlichen großen Herren würden vielleicht sehr erstaunt sein , wenn sie aus der Kreide, in welche sie nach Joseph Scheffels Forschungen zu tief hineingeraten waren, wieder auftauchen und ihre eigenen Porträts im geologischen Garten zu Sydenham bewundern könnten.
ſammlungen sind als besonders stürbe= misch
Der Kristallpalast ist ohne Zweifel ein höchst populäres Institut. Zweckessen und Mäßigkeitsvereine, ostindische Fürsten und Schulfeste finden
kannt ; stets regt sich eine mürrische und laut murrende Opposition gegen die leitenden Die Ursache dieser bedauerDirektoren .
sich hier zusammen. Ein Besuch von 40,000 bis 50,000 Personen an Feiertagen ist nicht ungewöhnlich. Bankfeiertage mit schönem Wetter führen wohl 60,000 Menschen und darüber dorthin. An Sonntagen sind die Gärten immer noch geschlossen. Man denke sich nun diese unglaublich große Menge, gefesselt durch eine instruktive wissenschaftliche Ausstellung mit arbeitenden Maschinen , durch einen vorzüglichen Zirkus , durch eine Vorführung von 1500 der edelsten Hunde unter den Tönen der großen Orgel. Das Panorama der Belagerung von Paris , ein Cricketmarsch , Schwimm-, Boot
lichen Stimmung liegt ziemlich nahe. Die Dividenden sind nämlich höchst unbefriedigend. Die glänzenden Hoffnungen der verdienstvollen und patriotischen Gründer des großartigsten
ter
Freude erschlossen " haben. Die jährlichen Generalver
Bildungsinstitutes der Welt sind leider! unerfüllt geblieben. Was auch die Welt dort an Erziehung" gewonnen haben mag, die Aktioverloren. Als der näre haben jedenfalls Kristallpalast im Jahre 1854 eröffnet wurde, erschien er wie die Verwirklichung des Feenlandes, wie eine Heimstätte alles Edlen und Schönen auf Erden. Und zugleich wie eine im SpaSchule des Lernens, in der man
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zierengehen die Milch der Wissenschaft einsaugen würde. Das damals sehr unästhetische England hatte die sichere Aussicht: rein durch die Anschauung den ihm fehlenden Sinn für das Schöne auszubilden. Weltausstellungen waren zu jener Zeit in ihrer Jugendblüte und die Welt glaubte an ihre Wunderkraft. Man sparte bei der Anlage weder Mühe noch Kosten. Alles Alte und Neue wurde in den Kreis der Lehrmittel gezogen. Aber die gehoffte Wirkung dürfte doch wohl so ziemlich, wenigstens für das große Publikum, ausgeblieben sein. Das große Publikum ist bekannt lich ein Kind; es will sich, wenn es einen Feiertag hat, in England gerade so trivial und müßig unterhalten wie anderswo. Es ist eine träge Masse, ohne alle ernstere Wißbegierde. Es will weder angelsächsische Könige noch geologische Saurier studieren. Blondin , auf dem hohen Seile Thee kochend und irgend ein Wettrennen ist ihm unendlich viel lieber ; dazu möglichst massenhafte und rauschende Musik. Die Hunde schau zog zweifellos viel stärker als die wirklich hervorragende Wollausstellung. Es ist ja, leider ! wahr: daß die Götter Griechenlands tot sind. Trotz alledem ist der Kristallpalast eine der beliebtesten und berühmtesten Sehenswürdig keiten Londons . Ausländer, die wenig von England wissen, hörten dochschon von dem gläser nen Wunderwerke in Sydenham. Und diejenigen deutschen Reisenden, welche den Kristallpalast noch nicht kennen, werden den ihm gewidmeten Tag gewiß nicht zu den verlorenen zählen.
Paris zur Schreckenszeit. Bon Johannes Scherr.
1.
Eines Tages im Jahre 1760 warf JeanJacques Rousseau einen prophetischen Blick in die Zukunft und schrieb die Worte nieder : „ Wir gehen raschen Schrittes auf die Revolution zu." Als die Prophezeiung bekannt wurde , lachte man den Propheten als einen „Narren von Schwarzseher" aus. Wenige Jahre später , 1764, weissagte auch ArouetVoltaire die Revolution, welche ganz bestimmt im Anzuge sei ( , la révolution qui arrivera immanquablement" ) . In den Salons der Herren und Damen von Welt, wo man mit revolutionären Zündhölzern als mit einem modischen Spielzeug spielte, lächelte man achselzuckend dazu und sagte: „ Ce cher patriarche de Ferney hat in seinem Leben so viele gute Wige gemacht, daß man ihm schon einmal einen schlechten verzeihen kann. " Heutzutage braucht man bei weitem tein
Voltaire und kein Rousseau zu sein, sondern nur sehende Augen und hörende Ohren zu besigen , um vorhersagen zu können , daß an des 19. Jahrhunderts Neige ein Revolutionskrater sich aufthun dürfte von einem Umfang, einer Tiefe und einer Ausbruchsgewalt, womit verglichen die Eruption von 1789-94 in der Anschauung späterer Geschlechter nur wie ein harmloses Feuerwerk erscheinen möchte. Vorderhand muß man sagen, daß die Schwärmer , die Raketen , die Flammenräder und Mordkläpfe dieses Feuerwerkes immerhin Tod und Verderben genug gesprüht haben. So genug, daß man sich daran wohl ein Beispiel nehmen könnte. Selbstverständlich nicht , um sich warnen zu lassen , denn das thun ja die Menschen sehr selten oder nie. Aber doch, damit sich die Leute eine annähernde Vorstellung von dem bildeten , was ihnen oder ihren Kindern bevorsteht, wann eine nicht ferne Zukunft ihre logischen Schlußfolgerungen aus den Prämissen der Gegenwart ziehen wird. Daß so , wie die Sachen in Frankreich während des 17. und bis gegen den Ausgang des 18. Jahrhunderts hin sich gestaltet, d . h. mißgestaltet hatten, die Staatsumwälzung eine
Paris zur Schreckenszeit.
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exempel eine Ziffer einzustellen vergaßen: die unumgängliche Nothwendigkeit geworden war, darüber kann unter wissenden und redlichen Wirklichkeit mit ihren rauhen Thatsachen, Menschen kein Streit sein. Auch wenn Luderzprofaiſchen Bedürfnissen und gebieteriſchen wig der Sechszehnte nicht der Schwachkopf Forderungen, die Wirklichkeit mit dem wirklichen Menschen , welcher aus Gemeinem gewesen wäre, welcher er war, auch wenn er von weniger mittelmäßigen Ministern , als gemacht ist und die Gewohnheit seine Amme nennt". 3. B. der lächerlich überschäßte Necker einer gewesen ist, berathen worden wäre , hätte er den Aus solchen vergesslichen Enthuſiaſten und Ausbruch der ungeheuren Krisis doch nicht Phantasten bestand schon die Mehrzahl der im hintanzuhalten vermocht. Ein genialer König Mai von 1789 zuſammengetretenen französischen mit einem Stahlherz und mit einer Eisenhand | Nationalversammlung. Sie war zweifelsohne wäre vielleicht - aber auch nur vielleicht voll guten, voll besten Willens, dieſe Mehrzahl. imstande gewesen , die Lava der Revolution Sie ist auch sehr rüstig gewesen im Niedereinzudämmen und ihr den Weg vorzuzeichnen. reißen , und es galt wahrhaftig , gar vieles Aber die Eruption des kochenden Vulkans Abscheuliche, Scheuſälige, Göttern und Menschen selbst zu verhindern, würde auch ein NummerVerhaßte niederzureißen. Aber weil sie nicht Eins-Mann wie Cromwell unvermögend ge- mit der nöthigen Unterscheidung zu verfahren wesen sein. Mirabeau , wenn er am Leben wußten, brachten es die begeisterten Demolirer geblieben, hätte den Versuch einer Eindäm glücklich dahin , das Frankreich des Ancien mung und Wegweisung allenfalls planen und Regime in ein ungeheures Trümmerfeld zu unternehmen, aber sicherlich nicht durchführen verwandeln. Auf diesem wollten sie die konstitutionell-parlamentarische Monarchie à l'Angkönnen . Er war ja von der Skepsis und von der Lüderlichkeit seiner Zeit viel zu sehr durchlaise erbauen, allein die Stürme vom 14. Juli und vom 6. Oktober fegten die Fundamente fressen, als daß ihm etwas gelingen konnte, wozu die riesigste intellektuelle und sittliche des Kartenhauses fort. Troßdem boſſelte und leimte man dieses zusammen , so gut oder Kraft gehörte. Der Volksgraf ( le comte plébéien " ) , wie ihn seine Standesgenossen so schlecht es gehen mochte, und erklärte den spöttisch schalten, hatte davon selber das rich- | papierenen Bau im September von 1791 für vollendet. In Wahrheit und Wirklichkeit tige Gefühl und gab demselben Ausdruck in regierte dazumal in dem anarchisch hin- und Worten, welche von ebenso viel Selbstgefühl als Reue zeugten : „Oh, fürwahr , meine herwogenden Frankreich schon nicht mehr weder König noch Parlament, sondern vielmehr, und früheren Sünden kommen dem Gemeinwesen theuer zu stehen." zwar souverän-despotisch, der über die PöbelDaß die Grundstimmung der Gesellschaft rotten von Paris gebietende Jakobinismus . des 18. Jahrhunderts, von der Mitte desAm 1. Oktober desselben Jahres 1791
machte die verfassungschaffende Nationalverselben an, überall in der civilisirten Welt sammlung der gefeßgebenden Plaß , das will eine hochgradig idealistische gewesen ist , weiß jedermann und kann gar keiner Anzweifelung sagen, die geschulte und gemäßigte Phantasterei unterstellt werden. Die Philosophie des Zweifels, der unerfahrenen und maßlosen, der Reformwille dem Revolutionswunsch, der Konstitutioder Aufklärung, der Toleranz, hatte ihr Werk nalismus dem Demokratismus , das experivollbracht. Der Enthusiasmus , welchen das mentirende Tasten dem abstrakt - tolldreisten von Rousseau gepredigte sogenannte „ NaturHasten. Die 745 Gesetzgeber der „ Légisevangelium" den Herzen eingepflanzt hatte, trieb die Menschen zu freiheitlichen Anschauun- | lative " waren eigentlich nur dazu da, ihren Nachfolgern, den Konventsmännern, die Wege gen , philanthropischen Wünschen und hochzu ebnen und mit Redeblumen zu bestreuen. fliegenden Hoffnungen. Die guten Idealgläubigen machten sich selber und anderen Es ist geradezu märchenhaft, wie dazumal die Franzosen mittels gedunsener Phraseologie sich alles Ernstes weis , man hätte das goldene Zeitalter der Vernunft, Freiheit und Gerechtig- selbst und für eine Weile auch alle anderen Völker belogen und betrogen. Zum Beispiel: teit schon greifbar nahe vor sich. Schade nur, Einer der scharfstverständigen Deutschen jener daß alle die liebenswürdigen Phantasten und Enthusiasten in ihr glänzendes Zukunftsrechen- Tage, J. H. Merck , der Freund des jungen
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Goethe, war im Jahre 1791 nach Paris gekommen und ließ sich ganz widerſtandslos von der dort herrschenden Freiheitsphrase mitbenebeln. So ganz , daß er in der thatsächlich schon unter der Pöbelherrschaft stehenden Hauptstadt Frankreichs nichts wahrnahm als „Durst nach Wahrheit, Tugend und Menschengefühl“ . Er brannte darauf, sich in den Jakobinerklubb aufnehmen zu lassen, von welchem er behauptete, derselbe enthielte alle Menschen von Genie. und warmem Herzen “ . Ja , er ſah in demselben den Ort, wo der Grundstein zum Wohl der Nation und vielleicht des Universums bereitet wird". Wenn das einem nüchternen Deutschen begegnete, so braucht man sich doch wohl nicht darüber zu verwundern, daß heißblütige Südfranzosen, wie die in der Législative tonangebenden Girondisten gewesen sind, bis zum Delirium von dem Narrenwahn erfüllt waren, Paris müßte sich unschwer in ein perikleisches Athen verwandeln lassen , wenn nur erst der Königsthron umgestürzt wäre und es feinen „Monsieur Veto" und feine
schaft schon mit den grauenhaften Septemberschlächtereien von 1792, von welchen heutzutage nur noch die blödeste Unwissenheit behaupten kann, daß sie Frankreich von der fremden Invasion errettet oder wenigstens zu dieser Errettung beigetragen hätten. Systematisirt sodann wurde der „ Schrecken" , wie bekannt, durch Robespierre und durch den Lieblingsjünger dieses ?? Blutmessias " , Saint- Just. Aber der terroristische Diktator war, genau angesehen, nur das Werkzeug der Diktatur des Pöbels von Paris. Natürlich behauptete der Schreckensgräuel fortwährend , auf dem geraden Wege nach dem lltopien allgemeiner Glückseligkeit zu ſein, und ras'te und wüthete nur im Namen der neuen heiligen Dreifaltigkeit " Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ . Ein riesigeres Lügenluftschloß als dieses hat es wohl niemals gegeben auf Erden. Laßt uns zusehen, wie es unterhalb dieses Luftschlosses auf dem Boden der Wirklichkeit aussah , wie es zu und herging in dieser sainte ville de la liberté, égalité et fraternité Paris , deren Bewohner ja „Madame Veto" mehr gäbe. doch wohl, sollte man meinen , alle die verNun, die Schönschwäßer der gesetzgebenden Nationalversammlung hatten noch kein volles heißenen herrlichen Früchte des Utopismus Jahr lang geschwatt, als ihr Wunsch in Erzuerst hätten zu kosten bekommen müssen. In Wahrheit war die Gesammtfrucht des Schreckensfüllung ging. Aber während sie auf der Rednerbühne Blumenguirlanden gewunden und ſyſtems nur das allgemeine Elend und man mit Frau Roland, ihrer Egeria oder Pythodarf ungescheut sagen, daß „ La Terreur “ niſſa, plutarchiſches Pathos ausgetauscht hatten, die Hauptstadt Frankreichs in einen ungeheuren waren ihnen auf dem Wege nach Utopien moralischen Sumpf verwandelt habe, in einen andere schon zuvorgekommen. Mittels der Sumpf von Verarmung , Rohheit , Barbarei und Unzucht , welcher pestilenzische Miasmen pariser Commune “ vom 10. Auguſt nahm der Jakobinismus officiell von der Herrschaft | aushauchte und auf welchem Agiotage und über die Hauptstadt und das Land Besit. Er Tripotage, Wucher und Prostitution als giftließ den Girondismus noch eine Zeitlang fort geile Sumpfblumen schwammen . Hierfür wollen wir jest den geschichtlichen rednern, dann erwürgte er ihn. Schon zu Beweis der Wahrheit antreten *) . vor hatte er den Kopf des entthronten Königs ,,allen Tyrannen des Erdkreises als einen *) Ich brauche kaum anzumerken, daß ich es bei Fehdehandschuh hingeworfen" , wie die im Erbringung dieſes Beweiſes hier nur auf eine danton'schen Hyperbelton gehaltene Phrase flüchtige Skizze abgesehen habe. Um dem Gegenlautete. Noch in demselben Jahre schickt der als stande gerecht zu werden , müßte man ein Buch guillotinischer " Schrecken “ organisirte und tyranschreiben, und zwar kein kleines. Stoff dazu wäre in Ueberfülle vorhanden . Verarbeitung hat derselbe nisirende Jakobinismus die edelste Heldin der --- von anderen bekannten Werken über die franRevolution Charlotte Corday, dann die " Witwe zösische Revolution ganz abgesehen gefunden in Capet " Marie Antoinette und deren Todfeindin Mercier: Le nouveau Paris , 6 vols. Paris, An Manon Roland auf's Schaffot. Dieses fordert VII ; E. et J. de Goncourt : Histoire de la société française pendant la révolution . Paris , in Paris allein vom Herbste 1793 bis zum 1854 ; Mortimer - Ternaux : Histoire de la Hochsommer von 1794 einen täglichen BlutTerreur, 8 vols. Paris, 1863 seq.; Taine : Les tribut von 10 bis 60 und 70 Köpfen. Beorigines de la France contemporaine, tome II , gonnen hat 19 La Terreur" ihre GräuelherrParis, 1881 ; Wallon : La Terreur , 2 vols .
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2. der Häuser dunkel und feucht. Allerdings gab Das Paris jener Zeit war noch nicht die es auch schon elegante Quartiere mit Palais von reicher Architektur und opulenter Einrich = riesige Prachtstadt unserer Tage. Um den ganz gewaltigen Unterschied in räumlicher Betung , aber auch diesen fehlten noch die Behaglichkeiten modernen Komforts. Die Reiniziehung wahrzunehmen , braucht man bloß einen Plan der Stadt, wie sie noch zu Ausgang gungsapparate im Großen wie im Kleinen des 18. Jahrhunderts war , neben einen von waren sehr mangelhaft und wurden in Haus jezt zu halten. Die höchst beträchtlichen Erund Stadt nur lässig gehandhabt. Daher die weiterungen, welche Paris in der Zwischenzeit | zahllosen gleichzeitigen Klagen über die Unerfahren hat, springen sogleich in die Augen. sauberkeit von Paris . Zur Sommerszeit hatte man vollauf Ursache, über die Belästigung Ringsum haben dem alten Stadtkörper neue Quartiere sich angegliedert. Die Bevölkerungsvonseiten der Staubwolken sich zu beschweren, welche über die ungepflasterten Boulevards zahl ist von einer halben Million auf mehr dahinwirbelten. Auf den Wiesen und in den als 2 Millionen gestiegen. Mit der Vergröße Baumgängen der Champs - Elysées weideten rung der Stadt hat die Verschönerung Schritt noch Schafeheerden. Schlimm ist es bei Nacht gehalten. Das jeßige Paris mit ſeinen Straßen gewesen. Die Straßenbeleuchtung mittels Delund Pläßen, mit seinen Prachtgebäuden und lampen war so dürftig , daß auf die von den Monumenten, mit seinen Brücken und Quais, mit seinen Kirchen, Theatern und Kunstsamm- ❘ erleuchteten Magazinen und Läden ausſtrömende Helle gerechnet werden mußte. Da nun aber lungen, mit seinen Gärten und Parken, ein der hochgelobte " Schrecken “ Handel und Wandel, gerahmt durch eine Umgebung voll von landKauf und Verkauf so ziemlich auf Null herabschaftlichem Reiz und voll von Merkmalen des Reichthums und des guten Geschmacks, gebracht hatte, so vermochten die Händler eine Beleuchtung ihrer Läden nicht mehr aufzudarf unbedingt den Anspruch erheben , die wenden und schlossen demnach mit Anbruch der schönste aller Großstädte zu sein , und nichts Dunkelheit ihre Geschäftslokale . Auf die Straßen ist begreiflicher als der Stolz , womit alle Franzosen auf ihre Hauptstadt blicken, obzwar lagerte sich dann zumal eine Finsterniß, die aller die bombastisch = hyperbolischen Preis- und Welt zur Sorge und zum Aergerniß gereichte, mit Ausnahme natürlich der ungeheuer zahlSchmeichelnamen , womit ein Victor Hugo Paris bedacht hat, aus dem Erhabenseinsollen- | reichen Sippschaft der Diebe, Räuber, Einbrecher, Mörder und Dirnen , welche Sippden zumeist ins Lächerliche fallen. Das Paris der Revolutionszeit rechtfertigte schaft es ja sehr bequem fand, im Dunkeln zu noch in bedenklicher Weise seinen altrömischen munkeln. Das Salonsleben hatte aufgehört. Die Namen Lutetia , Kothstadt. Namentlich im Winter, wo die Pariser nicht leichthin „fla- | aristokratiſchen Quartiere, von deren Bewohnerniren " gehen konnten , sondern vielmehr müh- | schaft auf's Land oder in die Fremde geflohen fälig Schmutz und Unflat aller Art durchwaden war, wer nur konnte, lagen, wann die Nacht mußten. Waren doch die Straßen die Abgekommen, dunkel und öde. Die Pariser vom lagerungsstätten für Abfälle und Schmuzeanständigen Mittelstande sahen sich ihrerseits reien aller Art und Unrathhaufen wechselten bei der Theurung aller Brenn- und Beleuchda überall, insbesondere an den Straßenecken, tungsmaterialien genöthigt , schon mit den mit Kothpfüßen ab. Das Pflaster war durch Hühnern “ zu Bette zu gehen, froh, wenn die weg schlecht. Weitaus die meisten Straßen Nacht vorüberging, ohne daß mit dem Schreckenswaren eng und infolge der beträchtlichen Höhe wort Im Namen der Republik !" an die Hausthüre geklopft wurde, um für die Träger einer Haussuchungs- oder Verhaftungsbotschaft EinParis , 1873. Wallon : Hist. du Tribunal révolaß zu fordern. Die organisirte Pöbelei verlutionaire, 6 vols. Paris, 1880 seq. A. Schmidt : brachte die Abende in den Theatern , in den Tableaux de la révolution française , 3 vols. Leipzig 1867-71 . A. Schmidt : Pariser ZuSektionslokalen und in den Klubbs . Gerade stände während der Revolutionszeit, 3 Bde. Jena, wie nachmals wieder , 1870-71 , so ging es 1874-76 . E. Koloff: Das gesellige Leben vor auch 1793-94 am wildesten und wüstesten und nach der Schreckenszeit in Paris (in Raumers Histor. Taschenbuch f. 1863, S. 337 fg .). her in den von Weibern gestifteten und be-
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suchten Klubbs. Ja , es kam soweit , daß ſogar im Jakobinerklubb strafende Stimmen gegen das tolle Treiben der Klubbiſtinnen laut wurden, daß dort die „ Anmaßungen besoffener Megären“ scharfen Tadel fanden und der Konvent endlich dazu vorschreiten mußte , die Schließung der Weiberklubbs zu befehlen. Der Anblick von Paris war bei Tage kaum weniger düster als bei Nacht. Wie eine den Athem beklemmende Bleidecke lag der Schrecken auf der Stadt. Wenigstens mußte sich dieses Gefühl einem jeden aufdrängen, welcher weder von dem terroristischen Wahnſinn mitbefallen war, noch zu den Nußnießern und Ausbeutern dieses Wahnsinns gehörte. Alles sah eintönig, finster, schäbig, gezwungen, verzerrt, armſälig-komödiantiſch aus . In endloslangweiliger Wiederholung ſtand die Straßenzeilen entlang an den Häusern geschrieben : " Liberté, égalité, fraternité ou la mort ! " Ueberall waren die drei widerwärtigen Wahrzeichen der „ einen und untheilbaren Republik“ , die Galeerenmüße, die Pike und die Guillotine, auf Mauern und Wände gepinselt. Der Verkehr zu Wagen hatte fast ganz aufgehört : nicht nur die Karrossen der einheimischen Aristokratie und der fremden Gesandten waren verſchwunden, sondern sogar das Erscheinen von Fiafern ärmlichster Sorte war in der Wolle gefärbten Sansculotten ein Aergerniß. Denn " warum gehen die Sacré foutres et bougres von Aristokraten nicht zu Fuße wie wir andern ehrlichen Citoyens ?" Es konnte demnach unter Umständen — maßen ja alles und jedes „ verdächtig" war sehr gefährlich werden , ja ins Gefängniß, vor das Revolutionstribunal und von da zum - Rasoir national " , d . i . zur Guillotine führen , so man sich eines Miethwagens bediente. Die Reichen waren eingeferkert, guillotinirt oder emigrirt. Mit ihnen war natürlich der Lurus verschwunden und damit hatte die Nähr fähigkeit der mittleren und der unteren Klaſſen sehr beträchtliche Einbußen erlitten. Alle feinere Gewerbethätigkeit hatte aufgehört, der Handel, vollends der mit Lebensmitteln , war als ein Verbrechen angesehen. Zeitig schon im Jahre 1793 machten sich Stimmen laut , welche meinten, in einem „freien Staat bedürfe man eigentlich nur der Bauern und Handarbeiter und demzufolge müssen die Künstler, die Gelehrten, die Kaufleute und die Bankiers sammt
und sonders geplündert und weggesäubert werden“ . Natürlich reichte der Verſtand ſolcher Orakelsprecher der „ Sainte - Terreur " nicht weit genug, daß sie begriffen hätten, den Handel verpönen und vernichten hieße auch die Arbeit verunmöglichen. Eine unausweichliche, bald zu einer Skorpionengeißel gewordene Folge der Verkezerung der Handelsthätigkeit war, daß sich die ehrlichen Leute mehr und mehr davon zurückzogen und insbesondere der Lebensmittelverkehr allmälig ausschließlich in die Hände skrupelloser Gauner und Schurken kam, welche die herrschende Theurung mit raffinirtem Wucher ausnüßten und die armen Pariser bis auf's Blut schunden. Vom Frühjahr 1793 an flog die Skala der Lebensmittelpreise nur so hinauf. Das Steigen war ein wahrhaft ungeheuerliches . So kostete z . B. das Pfund Kalbfleiſch im Mai genannten Jahres noch 5 Sous , zu Anfang Juni's aber schon 22 Sous . Mit der wuche= rischen Vertheurung ging die gewiffenlose Verfälschung der Nahrungsmittel Hand in Hand. Alle Maßregeln der Schreckensregierung , der Noth zu steuern und dem Wucher zu wehren, erwiesen sich als unzulänglich oder als ganz nuzlos. Sie vermochte, ihrer ganzen Natur nach, nur Gewaltsamkeiten aufzuwenden. Sie dekretirte den Zwangskurs des schon vorhandenen Papiergeldes und fabricirte neue „Assignate" in Maffen. Innerhalb eines Jahres während der Diktatur Robespierre's, vom Juni 1793 bis zum Juni 1794 wurden die umlaufenden Assignate um etwa 5 Milliarden vermehrt. So ging es weiter und weiter bis zum Ende des Jahrhunderts , wo eine wahre Schlammflut gänzlich entwertheten Papiergeldes den Boden Frankreichs bedeckte. Wie die Entwerthung sich vollzogen, kann die Thatsache zeigen , daß noch am 1. December 1795 in Paris 1 Louisd'or nur 3500 Papierlivres fostete, am 1. Juni 1796 aber schon 23,000 Papierlivres . Das Tüpfelchen auf das i einer hirnverrückten Wirthschaft ſezte die Dekretirung des „Maximum " , der Unsinn des Unsinns, welcher gesetzlich vom Oktober 1793 bis zum Ende Juli's 1794 währte, wo diese von staatswegen und gewaltsam bestimmte Preisetarifirung der Nahrungsmittel, sowie verschiedener Machwaaren, als nicht nur gänzlich unfruchtbar, sondern auch als geradezu schädlich wieder beseitigt werden mußte. Hand in Hand mit der Entwerthung des Papiergeldes hatte das
Paris zur Schreckenszeit. Maximum die Theurung bis zum Unerträglichen gesteigert. Die Schwerenoth der Zeit fiel natürlich, wie unter ähnlichen Umständen immer , am wuchtigsten auf die anständigen Leute , deren Ehr- und Schamgefühl nicht soweit herunter war, daß sie sich, wie der Pöbel that, gänzlich auf die Fürsorge der Regierung verlassen und von den kommunistischen Abfütterungen von staats- oder kommunewegen auskömmlich profitirt hätten. Um seine Prätorianer, die Pöbelrotten von Paris , bei guter Laune zu erhalten, hatte der Schrecken, in Nachahmung des römischen Cäsarismus, auf Gemeinde- und Staatskosten die Hauptstadt so zu sagen zu einer kommunistischen Speiseanstalt gemacht. Die Hefe der Bevölkerung stand sich verhältnißmäßig ganz gut dabei. Für alle anständigen Menschen aber mußte es eine wahre Marter sein, wenn sie sich gezwungen sahen, an dieſem mit ungeheuren, geradezu märchenhaften Kosten und doch nur dürftig und schlecht beschafften Gemeinde- und Staatsalmosen theilzunehmen. Um die ihnen zugetheilte schmale Tagesration zu erhalten , mußten sie vor Tagesanbruch aufstehen und sich vor den Bäcker- und Meggerläden in die „ Queue“ , d. h. an's Ende der langen daselbst harrenden Menschenreihe stellen, welche nach der Ordnung der zuerst Gekommenen langsam vorrückte. Wer zu spät kam, hatte zu befürchten , nichts mehr vorzufinden. „ Welch' ein schmachvoller und herzzerreißender die Anblick sagt eine unserer Quellen unglücklichen Bewohner der Hauptstadt jeden Tag vor den Thüren der Bäcker und Meßger auf einander gedrängt und mit ihrer Reihennummer und Bürgerkarte in der Hand wie die Bettler an der Thür einer Herberge oder eines Klosters auf das bißchen Fleisch und Brot warten zu sehen, welches die Regierung ihnen verabreichen ließ und womit alle sich begnügen mußten. " Daß unter solchen Verhältnissen die Verbrechen aller Art außerordentlich zunehmen, daß Leichtfertigkeit und Lüderlichkeit zu kolossalem Umfang anschwellen mußten, bedarf keines Nachweises. Diebe , Fälscher , Räuber und Mörder hatten gute Nächte, denn die Polizei war ja vollauf beschäftigt mit der Jagd auf politisch „ Verdächtige " , auf angebliche „ Verschwörer gegen die Sicherheit der Republik" oder auf solche, die es werden könnten . Unter
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den grassirenden Lastern stand voran eine tolle Spielwuth. Der grauenhaft wuchernden Prostitution suchte der Konvent mit scharfen Dekreten Schranken zu sehen , aber umsonst. Die Theater, die Tanzplätze, die Gärten und Spazierwege wimmelten von Dirnen. Das Verderbniß der Jugend war schrecklich. Vom Oftober 1793 existirt ein Polizeirapport, demzufolge im zum Revolutionsgarten" umgetauften Tuileriengarten halbwüchsige Jungen. und Mädchen zum Skandal für die Vorübergehenden " fast öffentlich den infamſten Ausschweifungen sich überließen". Das waren die „spartanischen“ Tugenden, welche die plutarchische Phrasenmacherei der Konventsredner zuwegegebracht hatte. Noch widerlicher als die zur Schreckenszeit modische Verkuppelung der Unmenschlichkeit mit der Freiheitsphraſe war die Verquickung der Rohheit mit der Frivolität. Welcher fühlende und denkende Mensch sollte nicht empört sein beim Anblick des scheusäligen Bildes von Zuchtlosigkeit , welches der Hof Ludwigs des Fünfzehnten darbot ? Aber welcher fühlende und denkende Mensch fühlt sich nicht ebenso angewidert, wenn er das von dem Augen- und Ohrenzeugen und Mithandelnden Mercier (N. P. VI , 156 seq .) gezeichnete und gemalte Bild betrachtet, wie es im Konventsal zu und herging während der 25 Stunden , als über Ludwig den Sechszehnten das Todesloos geworfen wurde ? Dieſer Miſchmaſch von Tribunal, Taverne , Vorstadttheater und Lupanar war vielleicht die grausigste von allen Scenen der Revolution..
3. Der terroristische Versuch, das Christenthum abzuthun und eine Art von Heidenthum aufzuthun , fiel bekanntlich ganz dumm und abgeschmackt aus . Der von Hébert, Chaumette und Mitnarren inscenirte sogenannte „ Gottesdienst der Vernunft" war , vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes angesehen, ein unſäglich läppischer Blödsinn, vom Standpunkt der Sittlichkeit betrachtet , ein wüſtes Aergerniß. Diese " Göttinnen der Vernunft", welche man im Sigungssale des Konvents adorirte und in Notre-Dame inthronisirte ! Pfui! Und dieser Altar im Luxemburggarten, auf welchem in einer Prachturne von Achat das Herz des blutdürftigen Narren Marat als eine kostbare 6
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von Gracchusen, Brutusen und Katonen, von Reliquie aufgestellt war ! Dreimal Pfui ! Auch der am 8. Juni 1794 im Tuileriengarten Aspasien, Kornelien und Arrien. Vollblütige spektakelnde Mummenschanz, wobei Robespierre. Patrioten gaben ihren Söhnen die Namen als der Hohepriester des wieder anerkannten „ Freiheitsbaum“ oder „ Rothmüge“ und rich་ und wieder eingesetzten „Höchsten Wesens " von tige Sansculotten benamseten ihre Töchter Schreckens Gnaden sich spreizte, war nur „Nationalpike" oder „ Guillotine". Selbst die eine elende Posse. Majestät des Todes , sonst sogar Barbaren Wie wenig alle diese Gaukeleien der Fühlheilig, wurde schimpfirt. Von Leichengeleiten keine Rede mehr. Nur mit Noth konnte und Denkweise des französischen Volkes entman von den Tyrannen der Commune die sprachen, beweis't die Thatsache, daß dasselbe in Masse zur Uebung des Katholicismus zurückBewilligung erlangen , die Särge mit einem dreifarbigen Tuche bedecken zu dürfen. Die kehrte, sobald das Bekenntniß der Katholicität Friedhöfe mit ihren abscheulichen Maſſengräbernicht mehr lebensgefährlich war. Aber die sittlichen Verheerungen, welche gruben glichen Kloaken. Wie allem und jedem , so drückte der das terroristisch erzwungene Heidenthum in der französischen Gesellschaft und vollends in Schrecken auch der Tracht, dem Hausrath, der der parisischen angerichtet hat, sind furchtbar Lebensweise, den Umgangsformen seinen Stämpel auf. Die schreckenszeitliche Mode fiel da ins gewesen. Wie noch heute und wie allzeit wurde und wird die Mehrzahl der Menschen Schäbige und Schmierige, dort ins Alberne und Unsittliche. Die Frauen trieben die repu in ihrem Thun und Lassen durch die Hoffnung blikanische " Antifheit " ihres Anzugs immer auf den Himmel oder durch die Furcht vor der Hölle bestimmt. Die kenntniß und urweiter und weiter, bis diese Antitheit schließtheilslose Menge kann nur mittels der Reli- | lich zur skandalhafteſten Nudität wurde. Was gion mit der Moral in Beziehung treten und den Jakobiner und Schreckensmann comme il faut angeht, der trat einher in einer sogebleiben. Für die bildungslosen Maſſen waren nannten „ Camagnole", d. h. in einem Kamisol und sind überall und immer religiöse Vorstellungen der einzige moralische Zaum und oder Wamms von grobem schwarzem Tuch, welches , um recht à la mode zu sein, so Zügel. Nur weltfremde Büchermenschen wissen das nicht, nur faselnde Volksverführer geben fadenscheinig und schäbig sein mußte, daß, wie sich den Anschein , es nicht zu wissen. Als sich ein Publicist von damals zierlich ausnun der Schrecken die moralischen Bande reli- drückte, un pou ferré à glace n'y aurait pu tenir " . Dazu gehörten lange Beinkleider giöser Vorstellungen nicht nur gelockert, sondern geradezu verpönt und verboten hatte, als der von gleichem Stoff, eine blauweißrothe Weste, christliche Kalender, der christliche Gottesdienst, gegürtet mit der Kuppel eines gewaltigen die christlichen Sonn- und Feiertage, die kirch- Schleppsäbels, item ein möglichst bürstenborstiger Schnurrbart, endlich eine kurzhaarige schwarze lichen Taufen, Trauungen und Begräbnisse abgeschafft waren, da traten in Frankreich, „ Jakobinerperücke“ , auf welcher die rothe vornehmlich aber wiederum in Paris, alsbald phrygische Mütze saß mit ungeheuer großer die Folgen ein Folgen von ebenso sitten dreifarbiger Kokarde. verderblicher als von grotesk-lächerlicher Art. Und wie aus dem Anzug, sollte auch aus Die Ehe, dieser Grund- und Eckstein nicht dem Hausrath und den Wohnungseinrichtungen. nur aller Sittlichkeit, sondern auch der Civilialles Herkömmliche und Gewohnte verbannt sation überhaupt, wurde zu einem leichtfertigen werden. Auch hierbei wurde in lächerlicher Zuſammen- und Auseinanderlaufen, zu einem Weise antikisirt. Die Handwerker pfuschten reinbürgerlichen Vertrag ", welchen man mit Zimmer und Mobiliar zuwege, deren „ Antikeiner wahrhaft kynischen Formlosigkeit einging heit" vorzugsweise in ihrer Unbequemlichkeit Denn zur Ehescheidung bestand. Bald aber lag , wie die Kunst, so und wieder lös'te. bedurfte es ja nur der Erklärung, daß man auch das Kunsthandwerk brach. Tenn wer nicht mehr mitsammen leben möge. An die hatte noch Geld, Künstler und Kunsthandwerker Stelle der Taufe traten Namengebungen, in zu bezahlen ? Außerdem ging ja die von den welchen sich die theatralische Ueberspannung Terroristen systematisch organisirte Pöbelherder Zeit hochkomisch offenbarte. Es wimmelte schaft mit wachsender Wuth auf die Vernichtung
Paris zur Schreckenszeit.
alles Bestehenden und Vorragenden aus. Ist doch im Schoße des pariser Gemeinderathes, der jakobinischen Commune, alles Ernstes die Frage zur Debatte gestellt worden, ob es nicht räthlich und nöthig , die Thürme von NotreDame und überhaupt sämmtliche Kirchthürme abzutragen, maßen dieselben durch ihr unverſchämtes in die Höhe Hinaufragen dem Princip der Gleichheit hohnſprächen. Allenthalben und allzeit ist es auch ein kennzeichnendes Merkmal der Pöbelherrschaft gewesen , gegen das Schöne nicht nur gleichgiltig und verständniß los sich zu verhalten , sondern auch dasselbe zu hassen. Schönheit und Gemeinheit sind eben Gegenfäße , die einander ausschließen. Daraus erklärt es sich , daß die Schreckensſyſtemler von 1793-94 gegen alle Erschei= nungsformen des öffentlichen Wohlstandes, gegen allen Schmuck des Daseins , gegen alle Schöpfungen der Kunst förmlich wütheten. In dieser Barbarei kam so recht der Neid der geistigen Inferiorität und Sterilität , der Mittelmäßigkeit und Ohnmacht zum Vorschein, welcher immer und überall das Pöbelregiment
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| tribunal und demnach zur Guillotine führen. Ein Bürger, welcher so unglücklich war, LeRoy zu heißen , wurde aufgefordert , diesen fatalen Namen mit einem weniger anstößigen zu vertauschen, und nannte sich daher fortan La - Loi. Einer Bürgerin , welche Reine hieß, gab man zu verstehen, daß dieser Name sehr übel klänge in patriotiſchen Ohren, und sie vertauschte darum denselben mit dem wohl-
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klingenderen Fraternité - Bonne - Nouvelle . Die Sieurs, Messieurs und gar die Monseigneurs waren natürlich streng verpönt, ebenso die Mesdemoiselles und die Mesdames ; auf dem Boden eines freien Frankreichs sollten nur noch Citoyens und Citoyennes wandeln. Fort auch mit den feudalistischen Worten Palais, Hôtel und Chateau ! Wir brauchen in unserem reindemokratiſchen Staate nur noch Maisons. Wollte man zur Schreckenszeit in der Hauptstadt Frankreichs gute Geſellſchaft sehen, so konnte man solche nur in den Gefängniſſen suchen und finden. Dorthin, wo Tausende von ?? Verdächtigen " , Männer und Frauen, Greise und Matronen, Jünglinge und Jungfrauen , Tag für Tag des Looses harrten, durch die Guillotine gezehntet zu werden, dorthin hatten sich der franzöſiſche Esprit und die feinen Verkehrsformen geflüchtet. Dort wurden die Ueberlieferungen der französischen Heiterkeit, der französischen Plauderkunst, ja,
stigmatisirte und stigmatisirt. Auch den sonst so artigen und feinen französischen Umgangsformen zwang die terroriſtiſche Pöbelei ihre eigene Rohheit und Grob- | ſchlächtigkeit auf. Feines Benehmen, höflicher Ton, manierliche Ausdrucksweise machten des Aristokratismus verdächtig. Es sollte nur noch lauter Gleichheitsflegel und Bruderschaftsund auch die der franzöſiſchen Galanterie noch lümmel geben in der einen und untheilbaren in Ehren gehalten und gepflegt. Es darf nicht Republik. Im November von 1793 wurde verschwiegen werden, daß der Schrecken von das allgemeine Duzen von amtswegen einge kleinlicher Gefangenenquälerei in der Regel führt und anbefohlen. Buß und Benz, Hanns nichts wußte und nichts wissen wollte. Innerhalb der Gefängnissemauern verstattete er den und Hinnz, Jörg und Jokel, alle sollten mit einander Smollis sein , was ja schnurstracks Eingekerkerten große Freiheit. Damen hielten in den Korridoren ihren Hof, die Speisesäle gegen die französische Sitte ging, welcher zuertönten von dem Lachen plaudernder Gruppen, folge bekanntlich sogar Eheleute, sowie Eltern man führte Sprichwörter und Vaudevilles auf und Kinder, einander mit Vous anreden. Jezt duzte der Knecht seinen Herrn, die Magd und auf den Höfen waren Gesellschaftsspiele im Gange. Griff die Todesfaust in Gestalt ihre Herrin, der Lehrjunge seinen Meister, der der Boten des Revolutionstribunals in das Kanzleischreiber den Minister, der Soldat den General furz, die Rüpelei war Trumpf. bunte Treiben herein, so schickte man sich mit bester Manier in das Unvermeidliche und ver Nicht minder läppisch ist der Eifer geabschiedete sich von einander, als ob man sich wesen, womit der Sansculottismus gegen alle Denkmäler und Merkmale des Mittelalters , morgen wieder bei einer Vergnügungspartie des Königthums und der Kirchlichkeit anging. zusammenfinden würde. Natürlich fehlte es Selbst die vier Könige im Kartenspiel wurden auch an erschütternd tragischen Auftritten nicht ausgemerzt. Die Anwendung der Worte Roy und so war die Tragikomödie der Wirklichkeit, und Royale fonnte vor das Revolutionswelche in den Gefängniſſen ſich abspielte, jeden-
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falls gehaltreicher und interessanter als die Tragikomödie der Fiktion , welche in den 23 Theatern von Paris über die Bretter ging. Auch war dort das Publikum fraglos ein ge= wählteres als hier , wo der Sanscullotismus souverän den Ton angab. Wie bekannt, hat der Schrecken Zeit gefunden, auch als Theatercensor thätig zu sein und sich als solcher durch seinen der ganzen Vergangenheit gemachten Krieg alles gehörig lächerlich zu machen. Sintemalen schlechterdings um der lieben Freiheit willen ! nur Stücke aufgeführt werden durften, welche ſo oder so für widerköniglich oder widerkirchlich galten, und der Vorrath von neueren Dramen dieſer Sorte nicht ausreichte, so mußten sich die älteren stümperhaftest ſtümperhafteſtee Verpfuschung und grausamste Verstümmelung gefallen lassen , bis sie unter die terroristische Schablone paßten. Die französische Klassik erfuhr eine schmachvolle Sansculottirung. So recht zulukafferig war es auch, daß an den Kostümen der Schauspieler und Schauspielerinnen, gleichviel, in welchen Rollen sie auftraten, die Nationalfarben angebracht sein mußten. Wie mußte doch der französische Geschmack verwildert sein, wenn er es ertrug, daß Molières Tartufe mit einer tellergroßen dreifarbigen Kokarde am Hut und Racine's Phädra mit einem ebensolchen Ding an der Frisur auftrat. Das Schauspiel der Schauspiele, die eigent liche Haupt- und Staatsaktion war jedoch das Tagewerk der Guillotine, welche zuerst auf dem Grèveplaz „ arbeitete“ , dann von dort nach dem Revolutionsplatz (heute Place de la Concorde) , von da nach dem Marsfeld, von da zur Barrière du Trône und von da schließlich wieder zum Grèveplay wanderte. Ihre schönsten Tage" hat sie, sansculottiſch zu reden , auf dem Revolutionsplaze geſehen. Da hat sie ja Ludwig den Sechszehnten und Marie Antoinette, die Girondisten und Philipp Egalité, Charlotte Corday und Manon Roland, Bailly und Chénier, Desmoulins und Danton, Robespierre und Saint-Just „ weggesäubert “ . Bekanntlich ist die von Doktor Guillotin, einem Erzphilanthropen, erfundene oder vielmehr wiedergefundene - es gab schon im Mittelalter ein ähn-liches Ding - Guillotine zuerst in der Sigung der Nationalversammlung vom 10. Oktober 1789 als Hinrichtungsmaschine, als "möglichst schmerzlose", in Vorschlag gebracht worden, ohne jedoch sofort in ihrem ganzen Werth
erkannt zu werden “. Vielmehr hatte die „menschenfreundliche" Erfindung zunächst nur als aristokratisches Spielzeug etliche Bedeutung: modische Damen trugen goldene Miniaturquillotinen als Vorstecknadeln oder als Ohrbommeln. Auch hatte man auf gutgedeckten Tafeln kleine Guillotinen stehen , um Würste oder Geflügel oder Fische damit zu köpfen. In größerem Maßstabe fonstruirt , kam die Maschine zuerst auf dem Theater in Anwen= Dung . Im December von 1789 wurde nämlich ein neues Ballet , „Die vier Haymonsfinder", in Paris aufgeführt , dessen „ Spize " darin bestand , daß man den vier Haymonskindern auf der Bühne mittels der Guillotine die di Köpfe abschlug. Zweifelsohne sind gar manche von denen, welche über diesen „ prächtigen Spaß" lachten , unlange darauf alles Ernstes mit der Guillotine bekannt worden. Im März von 1792 beschloß die Gesetzgebende Versammlung die Einführung der Enthauptungsmaschine und als solche verrichtete sie ihren ersten Dienst am 21. August desselben Jahres, Abends 10 Uhr. Der Erste , dessen Kopf unter dem Messer der „ philanthropischen" Tochter Guillotins "le saut de carpe en avant" thun mußte, war ein armer Teufel von Schreiblehrer, Collanot d'Angremont, der Werberei und Treiberei für den Hof bezichtigt und darum zum Tode verurtheilt durch das Tribunal vom 17. August" , dem Vorläufer des Revolutionstribunals . Dieses seinerseits schickte bis zum Sturze Dantons in Paris 375 Personen unter das Fallbeil, aber vom Tode Dantons bis zum Fall Robespierre's , also binnen nicht ganz 4 Monaten nicht weniger als 2300. Man sieht , die Gläubigen der „ SainteTerreur durften sich mit einiger Befriedigung sagen : La Guillotine ne va pas mal. Auf einem niedrigen rothangestrichenen Brettergerüst erhob die Tochter Guillotins " ihre Fangarme, d. h. die zwei rothbemalten Pfähle, zwischen welche das in schiefer Richtung herabfallende Beilmesser eingeſcharnirt war. Tag für Tag wimmelt und wuselt rundum eine neugierige Zuschauermenge jeden Alters und Geschlechts . Die Zeit des Wartens auf die von der " Vorhalle des Todes ", der Concier gerie, heranrollenden Todeskarren vertreibt sie sich nach leichtlebiger Franzosenart mit Scherz und Lachen , während Händler und Händle-
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rinnen ſich mit ihren Körben und Tragbrettern Pausen zwischen den eintönig sich folgenden durch die Haufen drängen und mit gellendem Fallbeilschlägen schreien drunten die Verkäufer Geschrei, auch mit allerhand guten oder schlechten und Verkäuferinnen wieder ihre Kuchen, Früchte Wizen ihre Eß- und Trinkwaaren ausrufen und Liköre aus , als dächten sie , der Anblick und empfehlen. Man könnte glauben, eine des Blutgeströmes müßte den Appetit der schnatternde Heerde von Gänserichen und Canaille geschärft haben. Ist der lezte Kopf Gänsen vor sich zu haben, falls das Geschnatter der „ fournée “ des Tages gefallen, ſo reißen nicht etwas von dem Gemurr und Gebrüll sich entmenschte Weiber, die " Guillotinewäſcherinnen“ oder „ Guillotinefurien ", um die ihnen einer Tigerhorde an sich hätte. Auch geben ungeachtet der zahlreich anwesenden Kinderpreisgegebenen rothen Oberhemden der Hingeschlachteten, deren Köpfe und Rümpfe die und ungeachtet der leichtfertigen Späſſe aus Männermund nnd dem Lachgekreisch vonseiten Knechte Sansons in Körbe und Säcke packen, der Weiber die hunderte, die tausende von damit dieselben Karren , welche die lebenden schmierigen Rothmüßen ringsher um die rothe Schlachtopfer hergebracht , die todten zum Todesbühne der ganzen Scene ein düsteres, Grabe fahren . . . unheilverkündendes Aussehen. Da, horch, ein dumpfes Geraffel, welches vom Quai de la Conférence heraustönt und So war, in flüchtigen Umrissen gezeichnet, das Leben in Paris zur Zeit der Herrschaft das Herannahen der Todeskarren signalisirt. Die Menge beantwortet dieses Signal mit des Schreckens . Es hat niemals eine blutigere Satire auf die Freiheit gegeben, als dieses einem vielstimmigen „ Ah !“ und „Ha !" befinnlose und grausame Regiment eine geweſen friedigter Erwartung. Sie theilt sich, um der ist. Dasselbe konnte unmöglich etwas anderes Karrenreihe plaßzumachen. Die rothangestriche nen Fuhrwerke halten eins um das andere zuwegebringen als eine vollständige Zerrütam Fuße der Schaffottreppe und entladen sich tung aller privatlichen und eine totale Anarchie ihrer Lasten. Das Schnattern und Lachen aller staatlichen Verhältnisse. Schon im April von 1793 schrieb einer der kompetentesten verstummt. Jeder und jede stellt sich auf die Zehen , reckt den Hals und strengt die SehBeurtheiler und begeistertsten Anhänger der nerven an. „Patriotinnen" von Müttern Müttern Revolution, Georg Forster, aus Paris : „Alles halten ihre kleinen Kinder in die Höhe, hier ist blinde, leidenschaftliche Wuth und raſendamit auch diese möglichst viel von dem der Parteigeist. Wer obenauf schwimmt, sist am Ruder, bis ihn der Nächste, der für den Blutspiel profitiren. Einer oder eine der dem. Augenblick der Stärkste ist, verdrängt. Wenn Tode Geweihten steigt nach dem andern oder der andern die „ acherontische " Treppe hinauf, man nicht verfolgen, denunciren und guillotiwobei die terroristische Mode verlangt, daß die niren kann , ist man nichts. Du wünſcheſt, daß ich die Geſchichte dieser gräuelvollen Zeit Männer mit stolzer Gleichgiltigkeit, die Frauen schreiben möchte ? Ich kann es nicht. Oh, seit mit anmuthiger Gefaßtheit, ja sogar mit etwas ich weiß, daß keine Tugend in der Revolution Koketterie sich benehmen. Droben nehmen Sanson und seine Knechte das Opfer in Em- ist , ekelt sie mich an. Ich konnte , fern von allen idealischen Träumereien , mit unvollfompfang, schnüren ihm die auf den Rücken gemenen Menschen zum Ziele gehen , unterwegs bundenen Arme fester zusammen und schnallen es an das Brett. Dies wird nach vorwärts fallen und wieder aufstehen und weitergehen ; aber mit Teufeln, mit herzlosen Teufeln, wie umgekippt, Sanson berührt die Feder an einem der beiden ??Fangarme" der Guillotine, das sie hier sind , ist es nur eine Sünde an der Menschheit, an der heiligen Muttererde und Beilmesser fällt , ein dumpfes Geknirsch und an dem Lichte der Sonne." ein Kopf rollt in den Korb. Ist einer gefallen , wischt einer der Büttelknechte das Die große Lehre der Schreckenszeit ist diese : es war eine unausweichliche Nothwendig. rauchende Blut zusammen und sprißt Tropfen keit, daß die Franzosen an der im Namen der davon mit seinem rothen Besen auf die drunten
stehende Menge, welche zur Erwiderung auf diesen gräulichen Spaß die rothen Müßen schwenkt und Huſſah heult. In den kurzen
Freiheit ruchlos geübten Tyrannei sich verekeln mußten. So sehr, daß sie, wie bekannt, ganz bereit und willig waren, jeden beliebigen Deſpo-
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Freiherr von Duhn.
ruere in servitium tismus sich gefallen zu laſſen , falls derselbe , baum umtanzt hatten, novum " . Das ist auch eine jener vielen alten ihnen nur wiederum die Sicherheit von Blut und Gut, die Möglichkeit der Kultur , der Geschichten, welche immer neu bleiben. Arbeit und des Erwerbes verbürgte. Das war durchaus naturgemäß. Denn vor allem will und muß der Mensch leben, leben können, und eine angebliche Freiheit, welche die Grundbedingungen menschlicher Eristenz vernichtet, Der neue Satyr von Pompeji. ist ein Unding und ein Unsinn. Daher hat Von fein Staatsideal , sei dasselbe von dieser oder Freiherr von Duhn. jener Partei ausgeheckt, von obenher oder von untenauf gewollt, irgendwie Aussicht auf dauerhafte Verwirklichung , so es das Privatrecht m 31. März 1880 wurde im Beristyl und folglich auch die Brivatexistenz mißachtet eines vornehmen pompejanischen Hauses und antaſtet. Denn mächtiger, unendlich viel mächtiger als alle Ideen, Ideale und Idole die in nebenſtehendem Holzschnitte wiedergegebene zusammengenommen, ist im Menschen der Trieb, Bronzestatuette gefunden. Dieselbe, 0,52 m hoch, sich zu erhalten und sich fortzupflanzen. Die stand auf einer unförmlich großen MarmorLeute, die Völker wollen leben, möglichst bequem platte, mit dieser verbunden durch ein Bleirohr , welches, von hinten in den Schlauch und genüßlich leben sogar , bevor sie sich um dieses oder jenes Staatsideal , um Monarchie mündend , diesem das Wasser zuführte , das oder Republik, um Abſolutismus oder Parlader Mündung des letteren entströmte und ſo das in den Boden vertiefte Marmorbaſſin mentarismus, um Aristokratie oder Demokratie bekümmern , und wer ihnen die Möglichkeit speiste. Das Wasser war bestimmt, die südliche Sommerhiße in diesem luftigsten Raume des ihrer Existenz, und gar vollends einer bequemen und genüßlichen Existenz, garantirt oder auch Hauſes hier wie faſt in allen Häusern Pompejis nur zu garantiren scheint, der hat sie, dem zu lindern. Der arme Satyr - Wirkung des Weines und noch andauernde, unerschöpffolgen, dem gehorchen sie. Diese, wenn man will, allerdings brutale" Thatsache gibt die liche Freude an dieser edeln Gabe des Dionysos deutliche Erklärung, warum und wie die Franſtrahlt uns aus ihm entgegen, und der pomzosen nach der blutigen Gewalt- und Schreckens- | pejanische Hausbesizer verurteilt ihn, statt am herrschaft des Konvents oder vielmehr der Weine am wässerigen Element seine Freude Tyrannen des Konvents und nach der unſtäten, zu haben ! Wenn der alte Silen, der Waldesunfähigen , feilen und lüderlichen Regierung des Direktoriums ihren Nacken so rasch , so bereitwillig, mit solcher Beeiferung unter das eiserne Joch gebeugt haben, welches ein kühner und glücklicher Soldat ihnen auflegte. Summa: die Ueberspannung und Uebertreibung des Freiheitsprincips wirkt immer und überall selbstzerstörerisch, d . h . die Freiheit wird dadurch nothwendig zur Tyrannei , welche auf der schiefen Ebene der Willkür unaufhaltsam zur
Anarchie hinunterrutscht. Diese ras't und rumort dann eine Weile, d. h . gerade so lange, bis die Menschen, des unerträglichen physischen und moralischen Elends überdrüffig , jeden, aber auch jeden als Helfer und Heiland begrüßen , welcher die Fähigkeit , den Willen und die Kraft hat, sie von dem Unerträglichen zu befreien, und darum und dann sehen wir Völker, welche vor kurzem noch den Freiheits-
gott und Quellenhüter , einen Waſſerſchlauch trägt , oder auf ihm ruht und ſeinen Rauſch ausschläft, so entspricht das nur seinem eigentlichen Wesen, für einen Satyr dagegen verlangt der alte Glaube einen anderen Stoff ! Hat so der lezte Besizer dieser Statuette schon dem Sinne nach die Intentionen des Künstlers durchkreuzt, so noch mehr und empfindlicher künstlerisch. Die äußerst plumpe Bleiröhre steht im schärfsten Widerspruch mit der Feinheit des Werkes ; ihre übermäßige Stärke erzeugt unwillkürlich die Vorstellung, als bedürfe der Satyr dieser Stüße ; das nur in der Phantasie des Beſchauers beabsichtigte Gefühl leichter elastischer aber nicht ernstlich gefährlicher Unsicherheit wird zu körperlichem Schwanken, und entsetzt wenden wir die Blicke ab von solch krasser, einer modernen Realistik würdigen Wahrheit.
Der neue Satyr von Pompejt.
Es gab in der That Leute, selbst Künstler, welche den garstigen Bleitubus für statisch begründet hielten: wäre er das, so würde allerdings das sonst so reizvolle Werkchen keinen Anspruch darauf machen können, beim modernen Publikum seinen Triumphzug zu halten in einer Weise, wie es den nächstverwandten und vergleichbaren Werken : dem schönen jugendlichen Dionysos , bekannt unter dem Namen Narziß , dem tanzenden Satyr , dem mit erhobenen Armen tragenden Silen zu teil geworden ist. Eine richtige Würdigung erschwerend , trat ferner noch der erdige Ueberzug ungleicher von Dicke hinzu, der infolge einer chemischen Verbin= dung mit dem metallischen Oryd den bei weitem größten Teil der Oberfläche be= deckte und nur einzelne Teile, namentlich den
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eine solche fand sich. Ter treffliche, zu künstlerischer, empfindungsvoller Reproduktion eminent befähigte Bronzegießer Sabatino de Angelis nahm sich des neuen Findlings an, und mit großer Liebe und Geduld gelang es seiner nachbildenden Hand , dem Original die offenbaren wie die versteckten Formen abzufühlen, und unter Weglassung des Bleirohrs , mit Einschiebung einer neuen einfachen Baſis, das alte Werk zu neuem Leben zu erwecken. In der Nachbildung Sabatinos , welche dem beigefügten Holzschnitt zu Grunde liegt *), ist das Rätsel der Ponderation durch einfach praktische Exemplifizierung gelöst, und vor unseren Augen steht das Werkchen wieder mit jener natürlichen Freiheit und Leichtigkeit, wie sie dem Stande von Bronzefiguren im Gegensatz zu Arbeiten von Marmor naturgemäß eigen ist ; mit unseren Augen sehen und mit unseren tastenden Fingern nachfühlen können wir jest wieder alle die Feinheiten der reichbewegten Oberfläche, die meisterhaft leicht behandelte Ziselierung an Händen und Füßen , an Haupthaar und Rückenschwänzchen, womit der antike Künstler es verstand,
auch dem kleinen zum Schmuck des wohlhabenden Kopf, den Rücken, Privathauses berechte Hand und stimmten KunstFüße in der ganwerke Reize zu zen Reinheit ihrer äußerstsein durchverleihen, welche das Auge an gebildeten Form erkennen ließ; Schöpfungen selbst der vorsich größeren MaßDer neue Satyr von Pompeji. tigsten Behand stabes zu finden gewohnt war - nicht daß in Wiedergabe lung wollte es nicht gelingen, die Formen völlig im des einzelnen zu viel gethan wäre frei zu legen, und somit zum vollen Genuß selbst zu gelangen, oder eine Kenntnis des schönen Gegenteil, die Geseße, welche eine Ausführung Fundes weiteren Kreisen auf photographischem in so kleinem Maßstabe mit sich bringt, sind Wege zu ermöglichen ; die bisher vom Original wohl gewahrt ; das Detail der Adern, Sehnen, genommenen Photographieen sind als gänzlich Hautfältchen ist sehr diskret behandelt : die mißlungen zu bezeichnen, und nicht viel besser unter der Haut liegenden Körper find mehr steht es mit den beiden bis jetzt in der angedeutet durch sanfte Hebungen der Haut, Neapolitaner illustrierten Zeitung ?? Pompeji“ als förmlich modelliert. und in Fiorellis „ Notizie degli scavi " veran*) Gleiche Nachbildungen dieser wie anderer ſtalteten Publikationen, obwohl der letteren eine antiker Bronzen von der Hand Sabatinos ist der sehr geschickte Zeichnung zu Grunde liegt. Es Verfasser dieser Zeilen Kunstfreunden zu vermitteln bedurfte einer schaffenden Künstlerhand, und gerne erbötig.
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Feodor von Köppen. Im Frühling.
Auffällig ist bei einem Werkchen von so Die eingezogenen Zehen suchten in der Originalmeisterhafter Komposition , von so geschickter komposition jedenfalls festen Stand im Boden zu gewinnen , denn dieser Fuß hat wie ein Behandlung des einzelnen die Nachlässigkeit, Steuerruder darauf zu wachen, daß der Träger mit welcher die die Schlauchmündung fassende nicht in einem so wichtigen Moment ſeinen Hand, namentlich der unterſtüßende Zeigefinger geraden Kurs verliere ; das Schwergewicht des gearbeitet sind , besonders aber erschreckt uns Körpers und des noch ziemlich gefüllten und der Proportionsfehler der zu groß geratenen nach hinten ziehenden Schlauches ruht auf dem rechten Hand. Mochte letterer zwar durch einen größeren Gegenstand , etwa ein dem rechten Beine : elastisch gibt es nach, doch wird der straff gespannte auf wuchtigem Kniegelenk Schlauche sich entgegenkrümmendes Horn, unruhende Oberschenkel sicher reichen , um das merklicher gemacht werden , so bleibt er doch Gleichgewicht noch zu halten: um so sicherer immer bestehen ; es ist unmöglich anzunehmen, daß derselbe Künstler die Komposition erfunden wird der Strahl ſein Ziel treffen, je mehr jede Gewichtsverminderung im Schlauche durch die und zugleich es über sich gebracht habe, die natürliche Springfeder des rechten Beins wird selbe durch derartige Fehler zu verunzieren. ausgeglichen werden können. Die Komposition muß älter sein , als diese Helle innigste Freude an dem edlen Wein Wiederholung; sie muß an Vortrefflichkeit noch durchſtrahlt das Antlig ; wird ihr offener Aushöher gestanden haben. Wir sind bis jezt nicht in der Lage , dieselbe durch Parallel- | bruch in der Bewegung des ganzen Körpers noch hingehalten durch die vorsichtige Ruhe. repliken oder Weiterbildungen uns noch deutheischende Wichtigkeit des Momentes, so spricht licher vor Augen zu führen , als die pompejanische Statuette es thut : nach oben hinauf sie sich doch schon ahnungsvoll genug aus in ist sie jedoch nur ein Glied in einer langen dem vergnügten Wedeln des Rückenschwänzchens . Denn so ein Satyr ist ja doch ein halb Kette, deren Anfang sich an die Künstlerpertierisches Wesen, und er darf die Freude am sönlichkeit des großen Realisten Myron knüpft. Weinman denke an seinen Barberinischen Sein Marsyas , erhalten in einer MarmorGenoſſen in München — schon mit so unverreplik des Lateran , versucht zuerst das Prohüllter Sinnlichkeit zum Ausdruck bringen : das blem einer kontraſtierenden Bewegung, eines VorTierische am Menschen nicht am Menschen ſelbſt wärtsschreitens, dabei plößlich Festhaltens und darſtellen zu müſſen, war ja einer der Vorzüge Niedersinkens des retardierenden Oberkörpers antiker Kunst, um welche moderne Künſtler auf das nachgebende Tragbein in harter aber und Kunstfreunde leider oft genug Veranlaſſung deutlicher Sprache zu künstlerischer Firierung zu bringen : die Lösung war in den Grundhaben dürften, sie zu beneiden. zügen gefunden. Und mit jener glücklichen Unbefangenheit, jenem erfreulichen Glauben an bestimmte Höhepunkte , die zu überschreiten. ungestraft niemanden gegeben ist , welche die Im Frühling. antiken Künstler vor den modernen oft voraus Von hatten, wurde dies Schema auch später zu Feodor von Köppen. Grunde gelegt , und nur zweckentsprechend variiert. Wollte ein Künstler einen von den Hunden angefallenen Aktaion, oder einen bäuriDas Leben ist ein Frühlingstag, schen Satyr, der sich gegen eine ihn anDie Liebe ist sein Lerchenschlag. springende unschädliche Bestie wehrt, darstellen, Der Frühling sproßt, das Leben blüht, einen über weibliche Schönheit freudig erstaunt Es singt und klingt mir im Gemüt. zurückfahrenden Satyr, oder einen des süßen Weines frohen, welcher es nicht fertig bringt, Wir geh'n selbander, Hand in Hand, Bei Duft und Klang durch Flur and Land. seinen Schlauch vorwärts zu tragen, ohne von Zeit zu Zeit inne zu halten und voll herzWohl mir, daß ich dir bringen mag Den vollen Kranz am Frühlingstag ! licher Freude wieder zu kosten, sollte auch des Kostens vielleicht schon etwa zu viel geworden sein: fest steht der linke Fuß auf dem Boden.
Die
Romanti
ker
unter den Pflanzen . Von Carus Sterne.
un ja, es ist ein stolzes rf geworden," "Neve Bauwerk seufzte mein Freund, der alte Düsseldorfer Maler, „ aber weißt du, unendlich schöner war's doch, als da oben noch der morsche Krahn stand, gerade wie auf dem Memlingschen Bilde vor 400 Jahren, und rings um ihn ein grüner Garten, 180 Fuß über den anderen Gärten , und die denkst du noch daran,
G.HEVERYA Unter Ruinen.
Schwalben zwitscherten und schossen um uns herum in der blauen Luft, und dann schnitt unsere Führerin eine Rose von dem da oben blühenden Busch und gab sie mir zum Andenken - ich denke, ich habe sie noch. Wie lange wird es nun dauern , und man wird auch dem Straßburger Dom durch einen zweiten Turm die fehlende Symmetrie geben, und ihm damit seinen lieben historischen Charakter gleichfalls rauben und ihn ebenso fremd und lang7
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Carus Sterne.
weilig machen, wie alle dieſe wohlausgeführten | Schötchenpflanzen zu jenen Romantikern der modernen gotischen Kirchen. Man vergißt Pflanzenwelt gehört, die nirgends in der freien ganz dabei , daß so ein Bau doch seine vielNatur lieber wachsen, als auf verfallenem Ge mäuer oder alten Dächern ; aber ich glaube hundertjährige Geschichte hat, gewöhnlich aus strengen romanischen Fundamenten emporge- sicher, daß meine Liebhaberei für Mauer- und wachsen ist, dann seine Metamorphose zur Gotik | Ruinen-Botanik von jenen Jugendeindrücken durchgemacht hat , daß er endlich so geworden herrührt. In klaren deutlichen Worten wäre es vielist, wie er werden mußte, sei es , weil die leicht schwer genug zu sagen, worin der geheime Reformation dazwischen kam , oder das Geld ausging, oder ein drohender Krieg zur schleuni- | Zauber dieser pittoresken Botanik besteht. Die alten niederländischen und deutschen Maler, gen Vollendung und zum Abschluß der noch namentlich diejenigen der Nürnberger Schule nicht fertigen Türme drängte. Für mich be steht die Hauptschönheit so eines Baues eben haben ihn unstreitig viel tiefer empfunden, als unsere heutigen, die es verlernt haben, sich in seiner ehrwürdigen historischen Gestalt, an liebevoll in die Natur zu versenken und mit der sich so viele tausend Augen und Geneder Pinselspitze zu malen. Schon ein flüchtiger rationen erfreut und aufgerichtet haben. Und Blick in irgend eine Sammlung alter niederist die Ruinenhaftigkeit nicht zeitgemäßer als ländischer und deutscher Gemälde oder Kupferdiese, eine mittelalterliche Glaubensinnigkeit Heuchelnden modernen gotischen Bauten sind, ist stiche kann uns das lehren. Mit welcher Treue und Sorgfalt ist da jedes Blümlein und Hälmchen sie nicht zugleich malerischer und ehrwürdiger, als solche architektonische Galvanisierung verlebter des löcherigen Felsen und „ der Ysop, der aus Formen ? Wahrlich, die alte Wernerkapelle der Mauer sprießt“, abkonterfeit, augenblicklich bei Bacharach ohne Dach und Fenster ist mir für jeden erkennbar, der sich gewöhnt hat, die lieber als die Dome von Köln und Mailand | Natur ebenso „ nahe“ zu sehen. Man betrachte in all ihrer Pracht und Herrlichkeit ; ebenjogut die Dürer'schen Kupferstiche, wie da die harten. könnte man auch das Parthenon oder das Zickzacklinien der Felsen und Ruinen mit weichen. Pflanzenpolstern belegt sind, aus denen sich Kolosseum neu ausbauen . . . “ Ich ließ den wunderlichen alten Kauz polein zierlicher Wald von Halmen , Blumen, tern , aber meine Gedanken waren plötzlich Disteln erhebt , überragt von winterkahlen Bäumchen mit charakteristischem Geäſte. Ich zurückgebannt in jenen kleinen luftigen Turm erinnere z . B. an seine Geburt Christi , an garten, in welchem wir einst einen schönen Nachmittag verträumt hatten. Damals ich den heiligen Hieronymus in der Felsenschlucht, an Ritter, Tod, Teufel, um nur drei seiner erinnere mich deſſen, als ob es geſtern geweſen bekanntesten Stiche zu nennen. Man sieht wäre, sah' ich ein paar Meter unter uns auf einem Pfeilerbogen eine Staude Goldlack, leicht , alles ist auf die Silhouette angelegt, die sich wie das reizendste Spitzenmuster vom die ihren Duft bis zu uns emporſandte, und zwischen den steinernen Blumen der Pfeilerblauen Himmel abhebt , und unter Dürers frönungen, auf dem harten, vulkanischen GeHandzeichnungen finden sich prachtvolle Studien steine so üppig blühete, wie in der Erde des in dieser Richtung. Albrecht Altdorfer und Turmgartens, aus der ich sie entflohen wähnte. | noch einige andere unter den deutschen Kleinmeistern hatten ihm manches in dieser Richtung Später fand ich dieselbe Blume häufig auf den abgelernt, aber welcher neuere Maler, außer Altanen, dem Gemäuer und in den öden Fenstervielleicht Morit Schwind , hätte soviel Zeit öffnungen der rheinischen Burgruinen, und ich und Sinn für das intimere Naturleben übrig freuete mich an dem Gedanken, daß es die leßten Angedenken und Grüße der holden Burgfräulein und ehrbaren Schloßfrauen sein möchten. Bezeugt uns doch der alte deutsche Botaniker von Bergzabern (Tabernaemontanus ), daß die deutschen Frauen diese „ gelben Veiel " (Gelbveigelein) mit Vorliebe in ihren "Wurzgärten" gepflegt hätten. Bald darauf überzeugte ich mich freilich, daß eben das Gelbveigelein mit andern
gehabt, um sich auf solche Einzelheiten einzu= lassen ! Wenn selbst ein so genialer Maler wie Preller,merikanische Charakterpflanzen (Agaven. und Opuntien) harmlos zur Charakteristik der odysseischen Landschaften verwenden konnte, wie sollte man gar verlangen, daß ein Gebirgsund Architekturmaler sich um die ganz eigenartige Flora kümmern sollte, die auf Steinen
Die Romantiker unter den Pflanzen.
und Felsen, Mauern und Ruinen ſprießt! „ Ja, sind denn das überhaupt besondere Gewächse," wird hier mancher fragen, „ kommt denn nicht fast jede beliebige Pflanze, deren Samenkorn der Wind oder ein anderer Vermittler dahin trägt, auf Felsen, Mauern und Dächern fort?" Allerdings finden wir, wenn aus der Verwesung der ursprünglichen Bewohner und dem. herbeigewehten Staube eine Art Humus auf den Steinen entstanden iſt, Pflanzen aller Art in demselben wurzelnd vor , wir werden uns aber hier nur mit den typischen Fels- und
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| (Athene Hygieia) darstellte. Zur Erinnerung aber an die durch diese Mauerpflanze bekundete | Thatsache, daß sich die Göttin selbst um ihren Tempelbau bekümmert hatte, wurde, wie Plutarch im Leben des Sulla berichtet, angeordnet, daß die Mauern der Akropolis und des Parthenon niemals von der mit ihrer Entstehungsgeschichte verwachsenen und nach der jungfräu| lichen Göttin Parthenion genannten Pflanze | gereinigt werden sollten. Ich möchte hier auf eine andere, augenscheinlich stets mißverstandene griechische Pflanzenſage aufmerksam machen, nach welcher dieselbe Göttin den jungen Perdix, den sein Oheim Dädalus von der Zinne ihres Tempels gestoßen haben sollte, weil er ihn wegen | der Erfindung der Säge beneidete, mitten in der Luft auffing und an der Mauer sich feſt= klammern ließ, indem sie ihn in das Mauerkraut verwandelte, welches, wenigstens nach dem Zeugnisse der alten Botaniker, darnach außer Parthenium auch Perdicium genannt wurde. Ovid und andre haben die Sage gänzlich mißverstanden, wenn sie den Perdix in ein Reb| huhn verwandelt werden laſſen :
Ruinenpflanzen beschäftigen , die auf dem bei nahe nackten Gestein wurzeln , und anderen Pflanzen den Boden bereitend, dieſen Standort dem in der waſſerreichen Ebene vorzuziehen scheinen, Gewächſen, die alſo beſonders dafür organifiert sind, dem Winde und Wetter möglichst ausgesezt zu sein, und trockne Perioden leicht zu überdauern. Wer einmal unter den Ruinen Roms oder Athens, oder unter den Burgmauern des westlichen und füdlichen Deutschlands umhergewandert ist, der wird auf der feuchteren Schattenseite der Gemäuer überall ein dunkelgrünes spitzblättriges Kraut in dicken Büschen. aus den Fugen der senkrechten Mauern hervorquellen sehen, dessen Standort und Wachstumsweise so eigentümlich ist, daß die alten Griechen sich einen besonderen Mythus zur Erklärung dieses Vorkommens am ſteilen Gemäuer erſonnen haben. Als Perikles, so fabulierte man, durch seinen Baumeister Mnesikles die Propyläen der Akropolis von Athen aufführen ließ, da stürzte infolge eines Fehltrittes ein Mensch herab und erlitt lebensgefährliche Verlegungen. Plutarch sagt in seiner Lebensbeschreibung des Perikles, es wäre einer der Bauhandwerker gewesen, Plinius dagegen bezeichnet als den Verunglückten einen Lieblingssklaven des Perikles, und zwar denselben, welchen der Bildhauer Styppar aus Kypros in einer berühmten antiken Bronze, dem Splanchnoptes, dargestellt hatte, wie er mit vollen Backen das Feuer anbläst, über welchem er Kaldaunen röstet. Da die Aerzte keine Hoffnung für den Schwerverletzten gaben, war Berikles trostlos , aber in der Nacht erschien ihm die Burggöttin und zeigte ihm ein Heilfraut, welches aus den Mauern ihres Tempels herauswuchs. In der That bewährte sich die Heilkraft dieses Wundmittels und Perikles ſtiftete der Burgherrin neben ihren anderen Marmorbildern ein neues , welches sie als Heilgöttin |
„Dädalus sah ihn mit Neid und warf ihn hinunter von Pallas' Heiliger Burg und log, er wäre gestürzt ; doch Minerva, Schaffenden Geistern geneigt, fing ſchüßend ihn auf und verlich ihm Vogelgeſtalt und umhüllt ihn inmitten der Luft mit Gefieder." (Metamorphosen VIII. 250-253 .) Aber nicht in ein Rebhuhn (Perdix), jon dern in das an hoher Mauer zwischen Himmel und Erde schwebende Rebhuhnkraut (Perdicium) wurde offenbar der Knabe nach der ursprünglichen , später mißverstandenen Sage verwandelt, und damit verknüpfte sich dann leicht die Idee, daß Umschläge mit dem zerquetschten oder aufgebrüheten Kraute von Neubauten. stürzenden Bauhandwerkern heilsam sein möchten. Die alten Römer gaben der Pflanze den noch heute gebräuchlichen Namen Wandkraut (Parietaria) , welchen Namen, nach Aurelius Viktor Konstantin der Große im Scherze dem Trajan beigelegt haben soll, weil dessen Name in goldenen Buchstaben ebenfalls auf allen Wänden, selbst auf denen der nur von ihm ausgebesserten Gebäude wucherte. Wenn wir nun diese vielberühmte, den malerischen Anblick alter Ruinen bedeutend erhöhende Pflanze zerſtampfen und ihren ausge-
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preßten Saft chemisch untersuchen, so erhalten wir gleichzeitig die Erklärung, wodurch letzterer bei Fall- und Quetschwunden kühlend wirkt, und weshalb das Kraut mit Vorliebe auf alten Mauern wächst. Wir finden nämlich ansehnliche Mengen von Salpeter darin, und erkennen daraus , daß die Parietaria eine sog. Schuttpflanze ist, welche aus dem Verfall der architektonischen Herrlichteiten ihren Unterhalt gewinntnnd den auf alten feuchten Wänden entstehenden Mauersalpeter insich verarbeitet. Wenn man einen Blick indie verfallenen Höfe und Schuttwinkel alter Ruinen wirst, so kann man leicht die sogenannte Schuttflora, deren Angehörige sich meist durch Ueppigkeit des Wachstums und tiefgrüne Farbe des Blattwerks, sowie durch einen eigenen schweren Krautgeruch auszeichnen, näher kennen lernen. Mannshohe Verhaue und Dickichte von Nesseln, Melden, Kletten, Beifuß und Disteln umringen in den feuchterenWinkeln gern den Baum der Neuromantik, den Hollunder, unter welchem das Käthchen von Heilbronn „draußen am zerfallnen Mauerring" der Burg Strahl ihrem Herrn im Schlafe Rede stand. Eine Anzahl giftiger oder doch verdächtiger Pflanzen, wie Hundspetersilie, Schierling,Merfurialis, Spitklette, Belladonna, Stechapfel, Bilsenkraut, Nachtschatten u. a., mästen sich auf den trockeneren Schatthausen, alles in allem eine unheimliche Gesellschaft, aber zu den Ruinen gehörig, wie die Würmer zum Leichnam, zum Teil, wie man glaubt, von den Zigeunern, einer passenden Staffage der Ruinenhöfe, ausgesät. Adalbert Stifter , der für solche malerische Kontraste ein Auge hatte, hat uns mehr als einmal jene halbverfallenen Ritterburgen gezeichnet, in wel chen ein verfallendes Geschlecht haust, und einzelne Räume wohnlich, ja mit einem gewissen Prunke ausgestattet sind,
aus denen man dann unvermittelt auf öde Räume gelangt, in denen des Himmels Blau frei durch eingestürzte Gewölbe auf Schutt und Nesseldichichte blickt. Wir sagten von diesen Pflanzen, sie mästeten sich von dem Verfall , und doch sind das noch nicht die schlimmsten, denn viel gefährlichere Freunde sind die Schlingpflanzen, welche die Ruinen mit freundlichem Grün bedecken und liebend umschlungen halten, die Sträucher und Bäume, welche sich oben auf Mauern und Dächern ansiedeln, und durch ihre Wurzeln die Steine Wer hätte nicht auseinandertreiben! seine Augen am Gerank des Ephen erfreut, wenn er zum Symbol der treu Freundschaft erhoben, ausharrenden Baum und Burgruinen noch im Tode und Verfall fest umschlungen hält, und zerbröckelnde Schloßmauern, Türme und Abteien mit lebensfrischem Gewande umhüllt. Malerisch ist diese Umschlingung von Leben und Tod ohne Zweifel im höchsten Grade und die ganz und gar von Epheu umsponnenen Teile des Heidelberger Schlosses, die Abtei von Holy Croß (S. 54) in Irland, das Epheuhäuschen am Eingang
PUTTHER Palast in Benedig (Adiantum Capillus Veneris, 6. 57).
Die Romantiker unter den Pflanzen.
des „ Dörfchen" in Klein-Trianon sind eben soviele Juwele für die Augen der Touristen und Maler. Aber man darf sich nicht verhehlen, daß selbst diese unschuldigen Kletterpflan= zen, den Verfall durch der Zurückhaltung
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"Feigen zersprengenden Marmor Messalas . . ." Paläste, Zwingburgen, Tempel, Kastelle, alle die Monumente, die der Herr der Schöpfung dam
pflanzen, wie es Darwin bei den Bignonien beobachtete, mit ihren Ranfen überall umhertasten, um kleine Löcher oderRizen zu finden, in die sie alsbald hineinwachsen , aber dieselben wieder verlassen, wenn sie sich darin nicht festhesten können, und noch andere durch kleine Saugscheibchen sich befestigen. Derartige Pflanzen und andere, die sich mit wenig Erde auf dem Gemäuer begnügen, nehmen dort alsbald jedes Gebäude in Beschlag, von dem man sie nicht gewaltsam fernhält und sind eine Hauptursache des überaus malerischen Verfalls, in welchem sich z . B. in Indien die prächtigsten Paläste und Tempel nach wenigen Jahrhunderten befinden. Es ist die Rückeroberung des Menschenwerks durch das Naturleben, welches beim Anblicke der dadurch herbeigeführten innigen Mischung von Elementen der Kunst und Natur das Gemüt zwar mit Weh-
ren
schuf Ausschwizungen auch am glattesten Gemäuer festkleben können, während andre Kletter-
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terpflanzen unterstüßt, namentlich von klettern= den Ficus-Arten , die ihre Ranken mit Kaut-
mut erfüllt, aber doch auch mit versöhnlichen Stimmungen, wie sie in Matthissons Elegieen durchklingen. So erinnern die verfallenen Tempelruinen Kambodschas mit ihren aus grüner Umarmung hervorblickenden Buddhabildern in ihrem Durcheinander von Leben und Tod an unsere verwildernden Friedhöfe mit den alten, aus dichtem Gestrüpp hervorragenden Steinmonumenten ; sie erinnern uns an die Bergänglichkeit alles Irdischen, und daß allein das Lebende Recht hat. Unter den Holzgewächsen gibt es eine Anzahl von Pflanzen, die man wahrhaft als Mauerbrecherbezeichnen fann, indem sie ihre Wurzeln mit unwiderstehlicher Gewalt in die Fugen der Steine treiben und sie auseinandersprengen. In den Mittelmeerländern, in Kleinasien, bis nach Indien verrichtet diesen Dienst Schiwa des Zerstörers der wilde unfruchtbare Feigenbaum, von dem schon Martial nicht ohne Hohn über die Eitelkeit der Schöpfungen des Menschen jubelt:
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erheblich Feuchtigkeit beschleunigen. In tropischen Ländern wird der Epheu in seinem Werke von mancherlei anderen Klet-
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Alte Kirche (Asplenium Trichomanes, . 56).
zur ewigen Erinnerung und zum Preise seiner Thaten aufrichtet, unterliegen der unwiderstehlichen Kraft seiner Wur-
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zeln, und triumphierend entfaltet er das grüne | feuchten Wetterseite überzieht, und ihnen im Banner des Lebens hoch über dem unterliegenden Frühjahre und Spätherbst jene leuchtend grüne Menschenwerk. Ja er schont nicht einmal die Smaragdfarbe verleiht , welche Paul Potter und andere niederländische Maler so gern auf Grabgewölbe und Mausoleen, so daß sich im Vertrauen auf diesen Spötter der menschlichen Nichtigihren Gemälden wiedergegeben haben. Gleich keiten Juvenal (X, 146 ff.) lustig machte über : der Veilchenalge, welche die Gesteine der in ewigen Nebel gehüllten Bergspigen mit rost.... die Gier nach belobenden Titeln, braunen, duftenden Ueberzügen versieht, handelt Welche zu prangen bestimmt auf dem aschenbewohnenden Grabmal, es sich hier um einen ureinfachen , niedersten, Das zu zersprengen genügen die tückischen Kräfte einzelligen Organismus , den die modernen der Wildfeig. Botaniker das grüne Urkorn (Protococcus Gräber selbst haben Verfall und Schicksalsschläge viridis) genannt haben, und die arabischen zu tragen." EinesprePhilosophen chende Illu des zehnten stration zu Jahrhun diesen Verderts , die sen bietet ein sogenannten ,,lautern anspruchsvolles Brüder", Grabmal hatten daher dem so Unrecht auf nicht, wenn sogenannten dieses fie Gartenfirchhofe in Ruinengrün für eine Art Hannover (G. 56), Urpflanze, für aufdessen ge= waltige grünenden Quadern Staub, ein samt dem darauf ruhenden schweren Steinsarkophage von den Wurzeln einer
A Partner
Die Abtei von Holy Groß. (S. 52.)
zwischen den Steinen gekeimten Birke gehoben und auseinandergerissen sind, wie zum Hohne auf die an dem Sarkophage befindliche Inschrift vom Jahre 1782 : Dieses auf ewig erkaufte Begräbnis darf nie geöffnet werden." Ueberall derselbe Sieg des Lebendigen über das Tote, der uns wohlthut, und uns die Scharen wert macht, die ihn erringen. Suchen wir jest einmal den Gang zu verfolgen, in welcher die Besiedelung der nackten Steine und Mauern stattfindet, so werden wir eine besondere Reihenfolge in den sich ansiedelnden Ruinenpflanzen kennen lernen. Den Anfang macht in der Regel jene grüne Luftalge, die Mauern und Baumstämme auf der
Mittelding zwischen Mineral und Pflanze ansahen. Nicht viel höhere orga nische Ge-
bilde sind die ihm auf dem Fuße folgenden Flechten, welche aus ähnlichen einzelligen Algenkörnchen und Schimmelpilzfäden zusammengewebte schuppige Krusten und Ueberzüge auf Baumstämmen, Zäunen, Felsen und Mauern bilden, so daß man sie, da sie höheren Pflanzen durch ihre Verweſung einen Humusboden zurücklaſſen, die Pioniere der höhern Pflanzen genannt hat. Sie kommen in allen Nuancen von weiß, grau, grün, zitronen- und ockergelb bis siegellackrot und braunschwarz vor , und da sie in der Farbe zum Teil je nach der Jahreszeit bedeutende Abstufungen zeigen, so lassen sie Felsen und Mauern an diesem Jahreszeitenwechsel teilnehmen und sie in den feuchten Jahreszeiten
Die Romantiker unter den Pflanzen.
am farbigſten erscheinen. Ihr Anteil an der Färbung und Marmorierung der Oberflächen ist in der That kein geringer und viele Gebäude , wie z . B. der Straßburger Münster, verdanken ihre warme gelbe Farbe nicht am wenigsten der massenhaft auf ihren Mauern angesiedelten Wandflechte (Parmelia parietina) . Diese ersten Ansiedler auf Felsen und Mauern verlangen von ihrer Unterlage beinahe nichts als einige Mineralbestandteile, namentlich Kalk, indem sie im übrigen von Luft, Licht und Feuchtigkeit leben, aber sie hinterlassen bei ihrem Absterben ein Fleckchen Humus, auf welchem dann auch andere genügsame Pflanzen wurzeln können ; sie haben überdem des Steines Oberfläche angeäßt und rauh gemacht , indem sie seine kalkigen Bestandteile mittelst einer in ihren Zellen bereiteten organischen Säure, der Klee- oder Oralsäure, auflöſten und sich dadurch
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Malers würdigen Farbenteppich umgewandelt werden. Und wer nun erst genauer hinsehen wollte , der würde eine Mannigfaltigkeit und einen Formenreichtum, die des Studiums eines ganzen Lebens wert sind , in diesen kleinen Miniatur-Waldungen entdecken. Ziemlich leicht unterscheidet der Blick die meist nur an ganz feuchten Mauern , steinernen Brunnen - Orna= menten und hauptsächlich in wasserdurchströmten Felsklüften vorkommenden Lebermoose , deren bis zolllange grüne Lappen dem Steine fest
aufgeklebt erscheinen, von den sich frei erhebenden, aber stets gedrängtere Polster bildenden feinblättrigen Laub moosen, die in der feuchten Jahreszeit auf allen Dächern und Ruinenmauern mit einer Phalang gelbbräunlich schimmernder Lanzen, den Sporenurnen, daherziehen. Aber mit einem noch höheren Wohlgefallen haftet das Auge an den nächſt höherſtehenden Gewächsen, die den Moosen in der Besiedelung gleichsam in den Stein einfraßen. Daher kommt es ihnen auch gar nicht darauf an, sich gelegent- der Mauern zu folgen pflegen, den Farnfräutern. Schon in der freien Natur sind lich auf dem polierten Leibe einer Marmorſtatue oder auf dem gebleichten Schädel eines Ge- sie die beharrlichen Freunde der Steine und hängten anzusiedeln, und solches „ Moos “ vom Felsen, die sie mit ihren traumhaft zierlich ausgezackten Wedeln beschatten; als echte RoSchädel eines Gehängten war ehemals ein gemantiker fliehen sie vor dem Geräusch des schäßtes Wunderheilmittel. Jufolge dieser Auflösungskraft bestehen die gewöhnlich fälschlich | Tages in die heimlichsten Verstecke des Waldes und der Felsenklüfte. Gleichwohl hat sich eine unter die Moose gerechneten Flechten mitunter bis zu 50 Prozent aus Mineralsubstanz ganze Abteilung unter ihnen, die sogenannten (oralsaurem Kalk) , den man früher , nachdem Milzfarne (Asplenium), die man deshalb auch man ihn als Ueberzug auf Marmor-Bauwerken Steinfarne nennt, dazu verstanden , aus den Rizen der Felsen in die unsrer Mauern überund Bildsäulen angetroffen, für ein besonderes Mineral (Humboldtit oder Thierschit) angesehen zusiedeln, und die Ruinen zu ihren bevorzugten Standorten zu wählen. Hier ist nun wohl hat, bevor man wußte, daß er der Nachlaß . abgestorbener und verwitterter Steinflechten ist. an erster Stelle die Mauerraute (Asplenium Wir werden nachher erfahren , daß sich auch Ruta muraria) zu nennen , welche in ganz andere Ruinenpflanzen durch diesen charakteriſtiWest , Mittel- und Südeuropa aus allen Fugen alter Mauern ihre fingerlangen, zierlich wie ſchen Reichtum kalkbindender organiſcher Säuren auszeichnen. Raute zerteilten, grünen Wedel hervorstreckt, Den " Pionieren der Pflanzenwelt " folgen deren Unterseite sich schließlich dick mit schwarzbraunen Samenknöspchen (Sporen) bedeckt. Der zunächst die zierlichen Moose , deren feine Spuren vom Winde in die von den Flechten alte deutsche Botaniker Hieronymus Bock (Tragus) nannte dieſes immergrüne, neugierig zurückgelassenen Humuspolster geweht werden und dort feimen. Wohl jeder, dessen Auge aus allen Mauerrigen guckende, und vermutnicht gänzlich farbenmüde ist, hat an ihren je lich den Eidechsen nahe befreundete Kräutlein nach der Jahreszeit smaragdgrün, goldgelb oder schon vor dreihundert Jahren ein Miraculum Naturae, und setzte geheimnisvoll hinzu: „Dies goldbraun schimmernden Samtpolstern, die das eintönige Dach und Mauerwerk mit bunten Kräutlein ist nit wie andre Pflanzen, man muß Flecken oder mit einer vollständigen Velour- darin der Natur ihren Lauf lassen." Ein gleiches Aufsehen erregte in früheren Zeiten ihr natürtapete überziehen, seine Freude ; das troſtloſeſte Strohdach eines Baurenhauses kann von ihnen licher Gefährte und Nachbar , der aus den zu einem leuchtenden und des geschicktesten Mauerriten herabschlängelnde Haarfarn (As-
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plenium Trichomanes, S. 53), der an einem haardünnen, rotbraunen, glänzenden Stiele beiderseits lebhaft grüne Linsenblättchen trägt, also gegenüber der Mauerraute, deren Wedel gleich dem der meisten Farne doppelt gefiedert ist, nur eine einfache Fiederung zeigt. Man nannte das zierliche Gewächs auch roten Steinbrech, weil es sozusagen die Steine mit seinen Wurzeln durchbricht, und hielt es für das Pflänzlein, welches wider den Tod gewachsen wäre, denn wohl nur so Lassen sich die alten deutschen und holländischen Namen Widertod und Weddertod, die man ihm beilegte, deuten. Der ebenerwähnte Hieronymus Bod sagt, man nenne die Pflanze Widertod, ſollt' ,,als das Gewächs etwas weiteres können, als andere Kräuter"und
setzt hinzu : „Das gebe ich natürden lichen Magis zu,dieUrsach der natürli= chen Ding find fast wunderbarlich, wer dieselben in Acht neh men fann." Merk würdiger weise
Grabmal auf dem Gartenkirchhof in Hannover (S. 54).
haben die amerikanischen Botaniker Loomis und Asa Grey ganz fürzlich (1880) an dieser Pflanze ein eigentümliches, in unserer Flora ziem lich alleinstehendes Bewegungsvermögen entdeckt ; die sporentragenden Wedel derselben bewegen sich deutlich wahrnehmbar im Lichte immerfort hin und her, so daß für den naiven Beobachter allerdings eine besondre Kraft des Lebens in diesem kleinen Gewächse zu wohnen scheinen fonnte. Hatten die alten Herboristen diese Lebendigkeit wahrgenommen und dem Kräutlein darum eine eigene lebenerweckende Kraft wider den Tod beigelegt ? fast sollte man es glauben. Man vermutete eine Art Gegenpart in der ebenerwähnten Mauerraute und Bock schreibt darüber: „Die Weiber reden also von diesem Kräutlein, Mauerraute soll niederlegen (d . h. die Kräfte des Körpers) und abhelfen, dagegen soll das braune Härlein mit den Linsenblättlein wiederbringen und aufhelfen." Man nannte daher diese beiden Ruinenfarne auch Abthon und Wiederthon (Abthun und Wiedergeben) . Den dritten im Bunde dieser geheimnisvollen und kräftereichen Steinfarne bildet der schwarze Adiant (Asplenium Adiantum nigrum) mit pechschwarzem glänzenden Stiel und größerem doppelgefiederten Wedel : man unterschied ihn als schwarzen Adiant von dem ebengenannten roten und dem weißen der Mauerraute. Den eigentlichen Adiant werden wir alsbald genauer kennen lernen. Es wachsen noch manche andere AspleniumArten an Mauern und Felsen, ohne dem Laien besonders aufzufallen , so der einem Grase gleichende nordische Steinfarn (A. septentrionale) und die sogenannte Hirschzunge (A. Scolopendrium), welche am liebsten an den Innenmauern der Brunnen wächst, und einem gewöhnlichen unzerteilten grünen Blatte gleicht, aber auf der Unterseite mit braunen Sporenstreifen, wie eine Husarenuniform mit Schnüren, besezt ist. Am seltsamsten aber fällt wahrscheinlich unter all den zahlreichen Ruinen farnen der Schuppenfarn (A. Ceterach S.57) ins Auge, den man am häufigsten in Südeuropa, aber auch auf den Mosel- und Naheburgen und versprengt im mittleren Europa findet. Die fingerlangen, lebhaft grünen Wedel, die in der Regel anmutige Rosetten bilden, gleichen im Umriß einer groben Doppelsäge, deren Zähne einander nicht gegenüber, sondern in sehr auffallender Weise abwechselnd stehen, während die
Die Romantiker unter den Pflanzen.
Unterseite dicht mit braunen, sich wie das Gefieder eines Rebhuhus deckenden Schuppen be deckt ist. Ich glaube, daß dies das wahre Rebhuhnskraut (Perdicium) ist , in welches der von der Mauer gestürzte Erfinder der Säge (Perdix) verwandelt sein sollte, wenigstens finden sich hier die drei Elemente des Mythos (Mauerwuchs , Säge, Rebhuhns - Ansehen) unmittelbarer motiviert, als bei dem erst später an seine Stelle getretenen, weil häufigeren gemeinen Mauerkraut (Parietaria) . Man hielt das sauber aussehende Pflänzchen nebenbei für ein Zauberkraut und sammelte es, wie Diosforides erzählt, in mondlosen Nächten. Tieren, die davon fräßen, sollte es die Milz verzehren, deshalb gebrauchte man es bei Milzanschwellungen, und davon hat die gesamte Gruppe der Stein- und Ruinenfarne im engern Sinne den Namen Asplenium , von dem kretischen Namen des Gewächses Asoplenon, das Milzlose, erhalten. Gebührt aber den Asplenium-Arten der Ruinen der Preis des die Phantasie anregenden Seltsamen, so müssen wir den Preis der Schönheit dem herrlichen echten Adiant, auch Venusoder Frauenhaar (Adiantum Capillus Veneris ) genannt, zuerteilen. Seine haardünnen, schwarzbraunen, feinverästelten Wedelstiele tragen zarte, zitternde, am Unterrande mit braunen Halbmonden gezierte, maigrüne Blättchen, und schmücken in Südeuropa alte Mauern und Felsen, in deren Nähe Wasser fließt, mit der herrlichsten Dekoration, die es überhaupt geben kann. Die Palastmauern Benedigs (S. 52) sind damit ebenso verziert, wie die Steinterrassen von Isola bella und die alten römischen Wasserleitungen bis ins Gebirge hinein. Die zarte Pflanze scheint eine feuchte Luft zu ihrem Gedeihen zu erfordern , obwohl sie sonst die Eigenschaft hat, sich durchaus nicht vom Wasser beneßen zu lassen, ja wenn man sie ganz ins Wasser hinein steckt, kommt sie doch wieder trocken heraus, woher sie nach Theophrasi ihren alten Namen Adianton (das Unbeneßbare) empfangen hat. Die Spanier, welche den Ceterach Doradillo nennen , gaben dem Venushaar , seine zarte zitternde Erscheinung im Wortklange wiederspiegelnd, den Namen Culantrillo . In älteren Schriften heißt es, wie alle diese Mauerfarne, auch Steinbrech (Saxifraga) und lieh ihnen, wie wir oben sahen, seinen Namen Adiant, weil sie alle ihrer mehr oder weniger schwarz-
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glänzenden dünnen Stiele wegen für Haarmittel gehalten wurden . Die Poesie dieser Erschei nung aber fann GAEVER AN ich nicht eindring= licher schildern, Burg an der Mojel.6.56.) (Asplenium Ceterach als indem ich die Worte des Botanikers C. Bolle wiedergebe, mit denen derselbe in der Bonplandia das Auftreten und die Verehrung des Venushaars auf Madeira geschildert hat. „ Meilenweit," sagt derselbe, " läuft einer der die Küstenstädte speisenden Aquädukte, und wie ein maigrüner Streifen bezeichnet der Culantrillo seine Bahn. Wir folgen ihm an schwindelnden Abgründen entlang, wo dem Ziegenhirten schaudern würde, wohin nur der Orchillero (der Sammler der Orchilla oder Orseille) seinen. Fuß zu sehen wagt. An vielen Orten hängt der Fels über; erst gebückt , bald kriechend in dem unterirdischen Rinnsal, hin und wieder durch unterirdische Galerien, rücken wir vorwärts. Wir scheuchen das Steinhuhn aus unzugänglichen Klüften, den Falken aus seinem 8
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Klippenhorste. Endlich öffnet sich nach langem des Wassers Suchen die madre del aqua, Mutter", wie das Volk in seiner poetischen, dem Sinne nach arabisch gebliebenen Sprache sagt. Tief und dunkelnd dringt die wasserspendende Grotte in die Eingeweide des Gebirges. Ein uralter Vinatico oder wilder Feigenbaum beschattet die Wölbung ihres Einganges , föstliche Frische empfängt den Ermüdeten, mit unendlichem Wohlbehagen einen Trank schlürft, so labend, daß ihm jahrelang die Erinnerung daran Und nun im Gedächtnis bleibt.
lagert er sich neben dem Bassin vor der Höhle und hört , jedem andern Geräusche fern, nur das Wasser rauschen, die demantenen Tropfen langsam und rhythmisch von der Decke niederfallen. Das sind Bilder, die der bloße Gedanke an Adiantum Capillus Veneris in der Seele dessen weckt, der es im fernen Westen zu sehen gewohnt war. " Merkwürdig genug folgt der Culantrillo dem Menschen sogar in das Innere seiner Wohnungen und wird zu einem freundlichen Schmucke seines Familienlebens . „Fast in jedem Isleñohause," erzählt Bolle weiter, öffnet die Wand des Wohnzimmers sich zu einer gitterförmig durchbrochenen Holznische, in der die Pila, der Filtrirstein, steht. Das ist ein in Form einer oben offenen Halbkugel, aus porösem Stein geformtes Becken, welches täglich mit vom Aquädukt herbeigeführtem, oder aus den Zisternen geschöpftem Wasser gefüllt wird, damit dasselbe in einen darunter stehenden Krug durchsicere, aus dem es alsdann der Durstige flar und eiskalt mit dem unwandelbar danebenstehenden Glase oder einem metallenen Becher schöpft. Um der Pila ein gefälliges Aussehen zu geben und die durch den Ver= dunstungsprozeß hervorgerufene Frische noch zu steigern, pflegt man den Stein, ehe er in sein Amt eingesetzt wird , mit reisem sporentragenden Venushaar zu reiben. Die jungen Pflänzchen zögern nicht zu erscheinen, und bald ist die tropfende Halbkugel mit einem Walde der schönsten Wedel bewachsen, die nickend, wie grüne Straußenfedern nach allen Seiten hin überhangen und eine ebenso ursprüngliche, wie geschmackvolle Dekoration bilden." Nicht in gleicher Ausführlichkeit können begreiflicherweise hier die übrigen Mauerkräuter
geschildert werden , nur einige beständige Begleiter der bisher genannten mögen noch kurz charakterisiert werden. An Zierlichkeit der Erscheinung kommt den Farnen das ebenfalls am liebsten an nach dem Wasser abfallenden
Moosbewachsenes Tach eines Bauernhauses. (S. 59.) Mauern wachsende Cymbelkraut (Linaria Cymbalaria) mit seinen wehenden Ranken, welche kleine dreilappige Epheublätter schmücken, beinahe gleich. Es gehört aber nicht mehr zu den schlechten Pflanzen, die nicht Blüten kleiden," wie Petrarka , dem man tros alledem einen kleinen Stein- und Mauerfarn (Asplenium Petrarchae) des Thales von Vaucluse gewidmet hat, die Farne schalt, sondern es trägt kleine veilchenartige , hellviolette Blüten und würde sich als Ampelpflanze sehr hübsch machen, ,,wenn sie nicht so gemein an den Mauern wäre". Neben ihm fehlt selten eine Storchschnabelart (Geranium Robertianum ) , die zu Ehren des rothaarigen Knecht Ruprecht wegen ihrer rotbraunen, gefiederten Blätter Ruprechtsfraut getauft worden ist. An und auf den trockenen Mauern macht sich eine andere Pflanzengruppe bemerklich, die sehr wenig Feuchtigkeit braucht , weil sie mit derselben sehr gut haushaltet und wenig ausdünstet, die Familie der fast gar nicht transpi-
Die Romantiker unter den Pflanzen.
rierenden Dickblätter oder Crassulaceen. Wohl ein jeder kennt daraus die verschiedenen Arten des Mauerpfeffers (Sedum), der überall seine moosartigen, aber dickblätterigen Polster auf den Mauern ausbreitet, und grüne Quasten und Troddeln herabhängen läßt , die sich mit weißen, rosenfarbigen oder tiefgelben Blüten schmücken. Höher herauf im Gebirge wird er durch die meist prächtigen Erscheinungen der stattlichen Sempervivum- Arten abgelöst, die entweder in Lauchgrün oder auch ganz und gar in Scharlach oder Purpur gekleidet, kerzen gerade aus der auf dem nackten Fels ruhenden Wurzelblattrosette emporsteigen und ihre ansehnlichen Sternblüten entfalten. Alle diese Pflanzen haben einen an Oralsäure reichen Saft und lösen, wie wir ein gleiches von den niederen Steinflechten gehört haben, mit Leichtigkeit den Kalkgehalt ihrer Unterlage auf; aus gleichem Grunde scheinen auch verschiedene Arten von Sauerampfer und Sauerklee, Kaktus und Euphorbium vortrefflich aufMauern und Geröllunterlagen zu gedeihen. Ein ähnliches scheint ferner von den Steinbrech- (Saxifraga-)Arten zu gelten, die dem Sedum- Geschlechte nahe verwandt sind, und von denen einige auf Ruinengemäuer, dieMehrzahl aber auf den nackten Felsen des Gebirges vorkömmt, und von denen einzelne so viel Kalf aufnehmen, daß sie denselben in schneeweißen Schüppchen oder Zähnen auf ihren Blattoberflächen wieder ausscheiden. Aber wir können weder auf diese so bezeichnend Steinbreche genannten Arten, noch auf die verschiedenen Schötchenpflanzen, welche Felsen und Mauern für kurze Zeit mit einem Schaum milchweißer und gelber Blüten überziehen, näher eingehen, nur eines besonderen Falles wollen wir unter den Mauerblumen noch Erwähnung thun. Karl der Große, der in seiner väterlichen Art das Leben seiner Unterthanen bekanntlich bis ins einzelne regelte, erließ auch eine Verordnung, in welcher nicht nur die Nut- und Heilpflanzen, sondern auch die Ziergewächse aufgezählt wurden , welche in den Gärten der kaiserlichen Güter gezogen werden sollten. Erst neuerdings haben Modeblumen die lange getreulich konservierte altväterische Flora Karls des Großen in den Bauerngärten entstellt, aber eine seiner Vorschriften wird noch immer getreulich befolgt. Und der Landmann habe auf seinem Hause Jupitersbart (Barba Jovis) " heißt es kurz und bündig in diesem Capi-
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tulare de villis Karls des Großen. Es ist die Pflanze gemeint , die unsere Vorfahren Donnersbart oder Thorsbart nannten, und die nunmehr prosaischer als Hauslaub oder Dachwurz (Sempervivum tectorum) bezeichnet wird, weil sie die Landleute noch heute nach der Vorschrift des großen Fürsten auf ihre Steindächer pflanzen. Karl der Große hat den Zweck seiner Vorschrift nicht angegeben, aber wir wissen recht gut, wohin sie abzielte ; das ferzengerade Gewächs galt eben als Blizableiter in jenen alten Zeiten, und merk-
R RITHER
Ruine von Paulinzelle. (S. 60.) würdigerweise findet sich dieser Glaube auch in Indien noch heute. Eine andere Zierpflanze, welche man in Süddeutschland und Italien auf Gartenmauern und Dächern kultiviert, ist die Florentiner Schwertwurz (Iris florentina) , welche die geschätzte Veilchenwurzel liefert und während ihrer Blütezeit den Mauern einen schönen Schmuck verleiht. Hier würden sich die ornamentalen Agaven und Kaktusformen anschließen, sowie die Dornen- und Kapernsträuche des Südens , welche sich mit einer Handvoll Erde begnügen und den Mauern zugleich als Schußwehr gegen das Ueberklettern dienen. Und außer der Feige gehören auch noch mehrere hohe Bäume hierher, die sich zum Teil mit merkwürdig wenig Erde und Feuchtig teit begnügen können und geflügelte Samen
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Herr Oberft !
Welde gehorsamst!
besigen, welche vom Winde leicht auf die Zinnen der Türme und auf die höchsten Mauerteile getragen werden. Hier ist in erster Reihe die Birke zu nennen, welche mit ihren melancholisch niederhängenden Zweigen und der zierlichen Gittersilhouette Tausenden alter Ruinen als ein den Schmerz über den Verfall verklärendes Symbol dient, dann aber auch namentlich die Weißtanne, welche dem aufgelösten Schmerz der Birke gegenüber , die mannhafte Fassung, Sammlung und Erhebung über die Vergänglich keit ausdrückt. Wenn man sie in den Wäldern des Fichtelgebirges und Thüringens gesehen hat, wie sie mit ihren kräftigen Wurzeln den kahlen Steinblock umspannt, und auf ihm ihren festen Standpunkt sowohl, als Nahrung erlangt, so begreift man, wie sie auf den blanken Steinquadern, z. B. der Ruine von Paulinzelle (S. 59), in hoher Luft ohne alle Bodenfeuchtigfeit gedeihen kann. Es ist erstaunlich, wie knapp solche Bäume zu leben wissen, und ich sah einst im Gothaer Schlosse den Querschnitt einer
solchen auf der Ruine Paulinzelle gewachsenen schenkeldicken Weißtanne, aus der man eine Dose gedrechselt hatte, welche gegen hundertundfünfzig Jahresringe zeigte, so eng, als ob man einen Streifen starken Papieres hundertfünfzigmal um sich selbst gerollt hätte. Baumeister und Kommissionen für die Erhaltung der alten Baudenkmäler schwärmen natürlich dafür, die Gewächse, deren Wurzeln selbst die schwersten Quadern verrücken, gänzlich zu entfernen. Aber die Ruinen würden ihrer schönsten Zierden entkleidet werden, wenn man sie allgemein ihrer Bäume und Gesträuche berauben wollte. Wer den romantischen und pittoresken Zauber der Ruinen zu schäßen weiß, wird der Natur ihr Recht der Wiedereroberung des entzogenen Bodens nicht streitig machen, weiß er doch, daß gerade diese Mischung von Architektonik und ungebundenen Naturformen , dieses Ringen von Leben und Tod, von Frische und Verfall unser Auge fesselt und unser Herz mit Sympathie erfüllt.
Robert Byr. Andor.
61
Andor. Roman von Robert Byr. (Fortsehung.)
ie waren aufwärts gegangen und standen vor dem schlich-
sendete dann die scheltende Frau fort, für einen Rollwagen zu jorgen, um Ilka nach
ten Häuschen aus Tannen-
Hause zu bringen. Er setzte sich darauf neben diese, schlang
rinde, das zum Schuße des auf dem Madonnenbildes
ſeinen Arm um sie und legte ihren Kopf Das Mitleid , ſie ſo
Hügel errichtet ist. Umfangen vom Waldes-
an seine Schulter.
schatten steht die kleine Kapelle,
Schritte nur von den belebten Spazier
wehrlos vergehen zu sehen, preßte sein Herz müſſe er zusammen und es war ihm , als müsse
gängen, in stiller Einsamkeit, und es mochte
sein eignes Leben für das ihrige hingeben.
wohl die Ruhe dieſes Pläßchens zuerst sie wohlthuend umfangen und wieder hieher
Es gab nichts Traurigeres, als dies ſtumme, krampfhaft den ganzen zarten Körper durch-
gelockt haben , wo im heißen Gebete ihre Seele nach Frieden rang.
zuckende Schluchzen der nun wieder zur Besinnung Gekommenen, das er stoßweiſe wie
Auch heute hatte sie ihn hier gesucht,
ein Beben in seiner eignen Bruſt empfand .
wenige
aber der Sturm , der ihr Gemüt aufgewühlt,
Milde, tröstliche, innige Worte waren es ,
hatte ihren schwachen Körper überwältigt ;
mit denen er ihre Thränen zu stillen suchte.
die Ueberspannung ihrer Kräfte war in ein
„ Sie haben dir wehe gethan,
mein
gewöhnliches Nachlassen derselben umgeschlagen. Vor dem Bilde, wo sie auf den
armes Kind , die rohen Menschen , sie verstehen es nicht einmal, wie weh ; denn
Knieen lag, war sie zur Seite gesunken. So lehnte sie an einem Pfeiler, der die
sie selber würden nicht weinen im gleichen. Fall, sondern nur daran denken, zurückzu-
Bewußtlose stüßte und vor dem Fall zur Erde bewahrte. Der bleiche Tod lag auf dem starren Gesichte.
kraßen und zu stechen.
Aber verdienen ſie
es denn auch , daß du dir das Leid, das sie dir anthun wollen, so sehr zu Herzen nimmst ?
Unter der Hilfe der Herbeigeeilten cr-
Sie behandeln dich verächtlich, aber beim
holte sich Zlka alsbald ; doch blieb sie wie gebrochen, ohne Antwort auf die Vorwürfe
Himmel, du hast weit mehr Grund, auf ſie verächtlich herabzusehen.
Du sollſt nicht
der Mutter und nur von dem starken Arm | Thränen vergießen, meine süße Seele, denn Andors aufrecht gehalten, für den sie kaum ich werde dich rächen an denen, die dich einen matten Blick der Dankbarkeit hatte.
verleßten.
Sorgſam bis zur Bank geleitet , schloß sie in einer abermaligen Ohnmachtanwandlung
zurückfallen. "
Der Schimpf soll auf ſie ſelbſt
den Augen, die im Schmerze brachen, wie
Was sein Zureden nicht erreichte, das geschah infolge seiner Drohungen. Ihr Weinen stockte, sie überwand den Kampf
jene eines
und zwang sich sogar zum Sprechen.
die Augen, diese unſäglich traurig blicken-
zu
Tode verwundeten
Rehs .
Andor neste ihr mit Tau die Schläfe und
„ Nein, du mußt nichts von Rache sagen,"
Robert Byr.
62
bat sie mit zitternder und noch immer ver-
sich sorgfältig hüte, denselben auszusprechen .
" Es hat ja niemand
War das bisherige Schweigen vielleicht eine
sagender Stimme.
etwas gegen mich gethan, wozu er nicht voll- | falſchgreifende Rückſicht gewesen ? kommen im Rechte war. “ „ Der Elende!" rief er in entfesseltem Und meine Schwägerin ?
Willst du
Grolle aus .
„Ja, auf ihn fällt alles zurück.
Es war abscheulich, und ich werde sie zur
Sein Werk ist es , und der nichtswürdige Bube trägt die Geschichte seiner Ehrlosigkeit
Verantwortung ziehen."
noch selbst weiter, wie eine amüsante Anek-
auch ihr Benehmen gerechtfertigt finden?
„ Was willst du ihr sagen? D, es hat
dote.
Da, Ilka, hast du meine Hand, ſie
sie dann den bösen Spott hinwarf, da meinte
soll die Vollstreckerin deines Fluches ſein. “ Leise schüttelte sie den Kopf und faßte
ich vor Scham vergehen und in die Erde
sich mit Gewalt , die immer von neuem
ſinken zu müſſen. Aber weiß sie denn, daß ich die Verachtung nicht verdiene ? Habe ich
hervortretenden Thränen zu trocknen.
diese denn nicht kommen sehen ? Wußte ich
nehmbar, „ o nein, ich sluche nicht.
denn nicht, daß sie mich überall hin ver-
für ihn. “
mich erschreckt, mir weh gethan , und als
folgen werde ? Ihr seid so gut und verhehlt mir, wie die andern über mich denken, aber ich weiß es darum doch. , laßt mich nach Hause! Es ist ja alles eins , ob ich dort oder hier sterbe und ich werde mich
Ich fluche nicht," sagte sie kaum verIch bete
,,Du liebst ihn noch ?" " Sie bebte bei dieser Frage voll schmerzlich bitteren Vorwürfen . Ich bete auch für mich," sagte sie dann mit einem tiefen Seufzer. " Die gnaden-
fürchten, auch nur das Auge zu erheben,
reiche Mutter Gottes möge ein Wunder thun und mich ihn vergeſſen lehren.“ ,,Ein Wunder !" wiederholte Andor
um
dumpf und versank in Schweigen .
wenigstens ruhiger fühlen.
Wie soll ich
denn unter Leute gehen ? Ich werde mich
die spöttischen Blicke nicht sehen zu
Aber
müſſen ; ich werde immer das Zischeln zu | ſo hart der Kampf in seinem Innern auch hören glauben und auf Schritt und Tritt
sein mochte, lang währte er nicht und mit
mich von denen verfolgt glauben, die mit
edler Ueberwindung seiner selbst bot er seine
Fingern auf mich weiſen . Niemand will | Hilfe an. „ Dein Herz hängt alſo noch an Potyondi, so wenig er es verdient, und das mit mir verkehren, selbst ein Glas Wasser aus meiner Hand ist Gift.
Wo soll ich
mich verstecken, daß ich nicht immer an
ist es , was dich verzehrt.
Aber du ſollſt
nicht zu Grunde gehen darum, mein armes
meine Schande erinnert werde und an den, | Mädchen ! Vertraue mir, den Schimpf, den er dir angethan, soll auch er selbst wieder der sie über mich gebracht ?!" Sie schlug die Hände vors Geſicht und brach von neuem in Weinen aus . Schmerz
gutmachen. Ich werde ihn aufſuchen und werde ihn zwingen dazu, und wenn er auch
und Ingrimm rissen Andor diesmal mit
keine Schamröte mehr hat, die ich ihm ins
ſich fort, daß er jenes Verhältnis berührte,
Gesicht treiben könnte, ſo werde ich ihn auf andre Weise dazu bringen, sein Versprechen
über das er sorglich bisher jede Andeutung vermieden.
Sie selbst hatte desselben ja
bei dir einzulösen . Er wird zu wählen haben
Erwähnung gethan und Andor sagte sich mit Bitterkeit, daß ein Name darum noch
zwiſchen einer ehrenhaften Handlung und — ”
nicht aus der Welt verschwinde, weil man
Entschlossenheit aus seinen Augen drohte.
Er sprach es nicht aus, was in finsterer
Andor. ,,Nein, nein ―
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niemals ! " klang es von
Tief gerührt hatte er angehört, wie ſie
Ilka's Lippen sanft aber entschieden, daß
in unschuldsvoller Klarheit und sanftmütig
„Ich möchte
wie ein Lamm die Ursache zu allem Leide
„Aber nicht um seine Gefühle fragt es
in ihrem eigenen unzulänglichen Weſen suchte und dabei absichtslos ein Streiflicht
Andor
verwundert aufsah.
keine Fessel sein für ihn."
ſich, wo ein Verbrechen gut zu machen ist . " | auf jene Szene warf, „ Er hat keines begangen, Andor,“ ſagte
deren Schilderung
ihr jungfräuliches Schamgefühl immer ver-
sie ruhig und weich , „ denn daß er mich verließ , ist ja nur natürlich , weil er an
sagen mußte.
meine Liebe nicht glaubte.
Sie war ihm
dich selber an," rief er in aufflammender
nicht groß, nicht opferfreudig genug . Die Liebe, wie er sie verlangte, um sie bewun-
Begeisterung. Du bist eine Heilige !" ,,Ach, frevle nicht, Andor !" verseßte sie
dern zu können, mußte etwas Schrankenloses,
mit wehmütigemKopfschütteln . Ich bin nur ein armes, wehrlojes , verachtetes Mädchen."
Himmel und Erde Vergessendes sein, das wie eine Flamme emporschlug . Es ist ja wahr, daß ihm meine Liebe nicht genügen -konnte. Ich habe ihn innig o so innig
„Du entschuldigst ihn noch und klagst
,,Mit dem Reichtum in jedes Haus einkehrt, das du betrittst.
Ein Gut biſt du,
so edel und begehrenswert, daß jeder Mann,
in mein Herz geſchloſſen , aber es ist doch
und wäre er auch der stolzeste und höchſte,
wohl ein zu schwaches , zu mattes Gefühl
sich glücklich schätzen müßte, dich zu gewinnen.
gewesen, denn ſonſt hätte es mich blind ge- | Sieh' , Ilka , ich trage es schon lange in macht und alle meine Bedenken besiegt.
Die
mir, obwohl ich erst jest, nachdem du mein
Liebe, wie er sie meint, sieht vielleicht nicht
früheres Anerbieten abgewiesen, den Mut
so scharf.
habe , dir es zu sagen : der, den du ver-
Ich aber habe es schon in jener
Nacht, ehe noch der Brand ausbrach, ge- | teidigst, war deiner niemals wert, eben darwußt, daß er mich nicht liebt. Hätt' er's um nicht, weil er den Edelstein gar nicht gethan ,
er würde mich nimmermehr mit
zu schäßen wußte.
Du hast ihm deine
Vorwürfen überhäuft haben, daß mein Herz
Seele geboten , und die versteht derjenige
zu eng und zu klein sei.
nicht, der selber keine hat .
Es kann ja kein
Laß mich ver-
Menſch das seine weiter machen als es ist,
suchen, ob ich das richtige Verständnis für
und mehr fordern kann keiner , der drin wohnt, als daß er es ganz ausfülle, ganz allein . Vielleicht vielleicht hätte auch
sie habe und sie mir zuwenden kann. “ Ein schmerzliches Lächeln bezwang
sein Herz sich mir geöffnet, wenn er in mir gefunden hätte, was er suchte. Der Himmel
steigen wollten . Was willst du mit dem weggeworfenen
hat es nicht gewollt, der mich schuf ; er hätte sonst das meine größer und stärker gemacht. "
Mädchen ?" fragte sie weich. „ Es aufheben und zu meinem Weibe
kaum
die Thränen ,
die
wieder herauf-
„ Nicht groß genug ! Und du selbst hast
machen," entgegnete Andor rasch und mit
ihm heldenmütig deinen Ruf geopfert, den er
einem Nachdruck, der seine tiefe Erregung
in ſelbſtſüchtiger Erbärmlichkeit vernichtete!“ Schilt ihn nicht um etwas, das er ja
kundgab. Ilka erschrak, es war als wollte sie sich
nicht vorhersehen konnte ! Es war nicht böse
dem Arm , der sie umschlang , entwinden,
Absicht und ohne sein Dazuthun ist es gekommen."
ihre Wangen.
eine flüchtige Blutwelle ſchimmerte durch
Robert Byr.
64
,,Du Guter! du Edler !" sagte sie dann und drückte seine Hand. „ Sage , du Glücklicher und mache mich dazu !"
Der Erregung des Moments ganz hingegeben, bedauerte er nur, daß sie sich zu schwach fühle, um sofort zur selben Stunde noch Arm in Arm mit ihm über die Pro-
Leise schüttelte sie den Kopf.
menade und nach dem Brunnenhause zu
„Es kann nicht sein, du weißt es ja."
gehen; für den Abend zum Konzerte wenig-
„Weil dein Herz noch nicht frei ist ?
stens hoffte er , daß sie sich erholt haben
Fürchte nichts, Jlka, mein süßes Mädchen,
werde, und wäre es auch nur, dort auf eine Viertelstunde zu erscheinen. Alle Welt
ich werde es nicht für mich fordern, bis es sich nicht selbst mir schenkt. Ich werde nicht
sollte sie als seine Braut sehen und ihr als
eifersüchtig deine Gedanken bewachen, nur an
solcher achtungsvoll begegnen.
deiner Seite will ich stehen, der rechtmäßige
zunächst ganz seine Gedanken aus , und
Das füllte
Vertreter sein und jeden frechen Laut er-
Jlka's Bitten, er solle doch noch alles über-
sticken. "
legen, er dürfe sich nicht so in ein folgen-
""Und um mich willst du dich opfern ?" ,,Nein, du fassest es falsch auf, Ilka.
reiches Beginnen stürzen und ſie ſein Opfer nicht annehmen, blieben vergeblich. Sein
Ich habe dir geſtern das Idyll meines fünf-
Sinn war nur auf eines gerichtet, und das
tigen Leben ausgemalt, in dasselbe aber gehörst du hinein als Mittelpunkt, als Sonne.
gab ihm Töne der Ueberredung, vor denen. jeder Widerspruch verstummen mußte ; er
Ohne dich ist mein Haus leer und weiter nichts für mich als ein Eril."
überſah dabei, daß es nicht die Zustimmung
,,
Andor, du täuschest dich in deinem
Edelmute! Was kann ich dir sein? Du mußt
war , welche schwieg , sondern die Mattigkeit, die Schwäche, die Dankbarkeit, wie die Furcht, ihn zu kränken. Eine weit empfänglichere Zuhörerin fand
mir keine Schmeicheleien ſagen, sie beſchämen mich nur. Für dich ist ein so einfaches
er in der Mutter, die sich in eine Reihe von
Ding nichts.
Du brauchst eine Frau mit
Ausrufen höchsten Entzückens erging, als sie
Geist und Talent, eine Frau, die dich nicht herunterzieht, sondern in der Welt wirklich
und ihren Zweifel erst überwunden hatte.
an deiner Seite stehen kann, groß in ihren
ihre an Bestürzung grenzende Ueberraschung
Das traurige Aussehen ihrer Tochter und deren immer wiederkehrendes leises Kopf-
Anschauungen und in ihrem ganzen Wesen. Für dich gehört ein Mädchen, schön, lieb-
schütteln
lich und stolz zugleich, geschaffen für deine
wußte denn das Mädel gar nicht , welche
Stellung wie für dein Herz, ein Mädchen wie Zsuzsi, das du sicherlich lieben würdest- "
Baronin Beledényi ?
Ehre
ihr
brachte
sie geradezu auf.
widerfuhr ?
Ja,
Herrin auf Löfe, Es hörte sich an wie
,,Ein Mädchen wie meine Ilka ," fiel
ein Märchen und die verhätſchelte Prinzeſſin,
er ihr halb scherzhaft und doch auch in
der solch ein Glück in den Schoß fiel, zeigte
mächtiger, freudiger Bewegung ins Wort und schloß sie an sein Herz.
sich nicht einmal erfreut, wo sie doch plöt = lich ferngesund auf beide Beine springen
Sie lag ganz still an seiner Brust, aber ihre Lippen bot sie ihm nicht ; er drückte den Verlobungsfuß auf ihre Stirne und bemerkte in seiner Begeisterung nicht , wie fahl und feucht dieselbe war.
und am Arme ihre Bräutigams ſtolz dahin schreiten hätte ſollen, fie thun konnte!
das geringste, was
Indessen war auch Andor stumm gewor den. Er überließ es sogar Ilka allein, gestüt
Andor.
65 „Darf ich nicht wissen, was dich beun-
von ihrer Mutter, den kleinen Rollwagen zu
Bote vom Telegraphenamte gekommen; man hatte ihn von der Stadt Mailand" nach der
ruhigt ?" bat ſie ſanft . Ihre Mutter war aus dem Zimmer gegangen; das frohe Geheimnis mußte doch
Villa gewiesen, erst das Zuſammentreffen mit den Damen , die man ihm bezeichnet,
den Hausgenossen sobald als möglich mitgeteilt werden. Andor besann sich einen
hatte ihm weitere Fehlgänge erspart. Die Depesche mußte höchst unerfreuliche
Augenblick, dann sette er sich zu seiner Braut auf das Sofa.
Nachrichten gebracht haben; das entging Jlka nicht. Während ihre Mutter den Voll-
besteigen.
Mit dieser war nämlich noch ein
genuß ihrer neuen Stellung durch den Um-
„Ja," sagte er, „ du hast ein Recht dazu . So lange du mir eine Schwester warst, habe ich dir Einblicke in meine Verhältnisse
stand beeinträchtigt fand, daß die Promenade
gewährt, meinem Weibe darf ich sie noch
fast menschenleer und so niemand Zeuge war, wie ihr künftiger Schwiegerjohn neben.
weniger verweigern. Du sollst ja alles teilen mit mir und es hat auch mich so über-
dem Wägelchen einherschritt, schien er selbst
rascht, so verstimmt, daß ich die Nachricht
diese Begegnungen , welche er kurz zuvor
für mich behielt, die ich übrigens auch gar
noch so lebhaft herbeigewünscht , gar nicht
nicht verstehe. Ich kann mir nur denken, daß alles auf einem Mißverſtändniſſe beruht,
zu vermiſſen .
Zerstreut, ohne auf den ein-
das sich aufklären muß.
Oder was soll
geschlagenen Weg zu achten, folgte er, und obwohl er sich ab und zu mit ein paar
das heißen ?"
zärtlichen Worten an Ilka wendete , vermochte er doch die Gewitterwolke nicht zu
Er zog das Telegramm hervor, das er erhalten und las :
"i Mandl's Hypothek ist gekündigt.
bannen, die sich zwiſchen seinen Augen immer
Zah-
lung binnen acht Tagen zu leisten, bei ſon-
drohender zusammenzog . ,,Zu Mittag werde ich wieder hier sein,"
stiger Exekution .
Auf das Pfandobjekt Be-
ſagte er, in der Wohnung der beiden Frauen angekommen . Ich habe einiges zu besorgen,
schlag gelegt. Bin ratlos . brieflich . Potyondi. "
das soll mich aber nicht lange aufhalten . Vielleicht fühlst du dich später kräftig genug
alles geordnet!"
Näheres folgt
„Wie ist das möglich ? Du meinteſt ja
„Ich verstehe es nicht," erwiderte Andor,
zu einem kleinen Spaziergange, für abends aber zähle ich unter jeder Bedingung auf
der
deine Begleitung zum Konzerte . daß ich dich jezt verlasse ;
Worte nochmals überlas , als wenn er dennoch einen andern Sinn herauszufinden ver-
sind
wichtige
Angelegenheiten ,
Verzeihe aber es die
mich
rufen. “
die so
klaren und doch rätselhaften
suchte, auf Ilka's besorgte Frage. „ Es sind nicht vierzehn Tage, daß dies Geschäft zum
„ Oh, sie müssen schlimm ſein, “ äußerte
Abschluß gebracht wurde und nun sollte es
Ilka, die ihn ängstlich forschend anſah. „ Es
schon wieder umgestoßen werden ! Aus welcher Ursache ? Was kann dieser Mensch für einen
hat dich wie ein Bliß getroffen. “ „Ja, unerwartet fam's, " bestätigte er finster. „ Bah, wir werden ja auch damit
fertig werden ! " Er füßte ihre Stirne und wollte gehen ; ihre Hand aber hielt ihn zurück.
Zweck dabei haben ?"
„Kennst du ihn persönlich ?" „ So gut wie gar nicht. Adler hat das alles vermittelt. Er wird mir Auskunft geben.
Ich will sogleich bei ihm anfragen. 9
Robert Byr.
66
Die Sache ist jedoch unmöglich so , wie Potyondi sie telegraphiert.
an ihn telegraphieren. Du siehst, ich nehme denke die Dinge nicht so schwer auf,
Sein Brief wird wohl deutlich sein, aber bis er ankommt,
auch du an die Hauptsache."
kann ich doch nicht in dieser Unsicherheit bleiben."
bestand auf seinem Vorhaben auch noch, als
Jlka's Bitten blieben nuglos .
Andor
„ Ist nicht vielleicht deine Anwesenheit | im Laufe des Tages keine Antwort auf seine Wie,
Anfrage einlief. Und doch zeigte sich abends keine Möglichkeit, seinen Plan auszuführen .
Jest soll ich gehen und dich hier zurück-
Jlka's Fieber hatte sich gesteigert und sie war nicht im stande , das Konzert zu be-
nötig, dein persönliches Eingreifen ? wenn du selbst gingest ?"
lassen ? Nein!" sagte er entschieden.
„ Das
Wichtigste, was mir obliegt, ist für dich ein- | suchen. zustehen und die giftgeschwollenen Nachreden Ihre zitternde Hand aber hatte doch noch niederzutreten.
Sie sollen sehen, wie hoch
so viel Kraft, einen Brief an Susanne zu
ich dich schäße und sich vor meinem Kleinod | schreiben, nicht um der Freundin so schnell beugen. Der heutige Abend gehört dir, als möglich die Verlobung mitzuteilen, nein, meine Seele. " daran dachte das selbstlose Kind nicht, son=
,,
Andor, denke nicht an mich.
Es
handelt sich um dein Wohl, was liegt an
dern nur, um ihr die Angelegenheiten des Mannes auf die Seele zu binden, der ihr
mir! Es ist alles überhaftet und ich habe
höher stand als alle andern, selbst als der=
Es wäre
jenige , den dies arme kranke und sich in
dein Wort nicht angenommen .
Sünde von mir. Könnten dir nicht Unan- | allzu haſtigen Schlägen erschöpfende Herz nehmlichkeiten aus einem Versäumnis er nicht vergeſſen konnte. wachsen?" „Was kommen die in Frage ? Thörichtes Mädchen, du darfst dich nicht sträuben !"
V.
"! Du gibst also zu, daß Unannehmlich-
Auf der kleinen verandaartigen Terraſſe
keiten zu befürchten sind ?“ beſtand ſie, seine
eines jener winzigen Landhäuschen, die schon außerhalb der Stadt Baden gegen
Liebkosung abwehrend, auf ihrer Frage. „Nun ja," gab er beinahe unmutig zu.
das Helenenthal zu eine rege Spekulation
""„ Es würde mir vielleicht schwer werden, die
in das grüne Weingelände hineingebaut,
Summe in so kurzer Zeit zu stellen . Aber ich zweifle nicht , daß hier nur irgend ein
welches die fanfte Abdachung des Wiener Waldes bis zu den Laubwaldungen der steileren.
Viel | Höhen hinanzieht, ſaß Adler beim Frühſtück. Er gönnte sich die Sonntagsruhe und las leicht ist irgend eine weitere Erpressung beabsichtigt. Mir hat der Mann von An- zur Zigarre in aller Behaglichkeit sein
Formfehler oder dergleichen vorliegt.
fang nicht gefallen, Adler aber kann gewiß alles in Ordnung bringen."
Morgenblatt , deſſen lokalen Teil er an Frau v . Patka abgetreten hatte, als seine
„ Du glaubst, daß es in seiner Macht
Tochter von dem eben empfangenen Briefe
liegt?" fragte sie mit gespannter Aufmerkjamkeit.
aufsah und ihn durch einen Ausruf der Ueberraschung dem Studium der Börsen-
„Sicherlich ; mit einigem guten Willen muß er die Verlegenheit, welcher Art sie
berichte entzog . In schweren Flechten fiel ihr schwarzes
auch sei, beseitigen können.
Haar auf das helle duftfrische Negligee, das
Ich will sofort
Andor.
ihre zierliche Gestalt wie in Spizenkaskaden hüllte.
Innere Erregung hatte den rosigen
Hauch auf ihren Wangen lebhaft erhöht. „Ist es wahr, Papa," fragte sie lebhaft,
67 „ Um solche Differenz aufzufinden, muß
man ja die Goldwage nehmen !“ „Dorthin gehört er auch," sagte Sufanne mit Wärme.
" Er ist milde, groß-
,,daß „ daß Baron Andor Beledényi von einer
mütig, voll ruhiger Männlichkeit und Ener-
unangenehmen finanziellen Abwickelung bedroht ist ?"
gie, edel und liebenswürdig." ,,So, so ? liebenswürdig ?
Kann schon sein," meinte Adler mit dem Gleichmute eines englichen Ministers, der im Parlament interpelliert wird , ob
sind sie eigentlich auch alle
Ja , das
gegen ein
schönes Mädchen." Es war aber nicht die lette scherzhafte
er schon gehört habe, daß eine Horde Busch-
Wendung , welche Adlers
männer in Auſtralien Hungers gestorben sei
drückten ; er ließ vielmehr sein Auge überrascht und fragend auf seiner Tochter ruhen, die sich zu so eifriger Verteidigerin und Lob-
und erklärt, offiziell davon nicht unterrichtet zu sein. Susanne aber gab sich damit nicht zu frieden, wie ein zur Tagesordnung übergehendes Parlament, und erlaubte ihm nicht zu seiner Lektüre zurückzukehren, sondern legte ihre schlanke nervige Hand auf seine Zeitung, daß er dieselbe wohl oder übel auf dem Tische lassen mußte. Nichts da, ich habe Audienz begehrt und lasse mich nicht so abspeisen.
Gedanken aus-
sprecherin dieses Mannes aufwarf, der ihr ja eigentlich ganz fern stand. Sie selbst wurde jeßt nachträglich durch des Vaters Wiederholung der von ihr hervorgehobenen Eigenschaft ein wenig verwirrt und wich seinem Blicke aus . Noch war es nicht gar lange, daß sie eben diese Andor abgesprochen hatte ; seither aber war ihre
Was ist
Beurteilung seines ablehnenden Verhaltens
Kavaliers-
es gewiß ernste Ursachen geweſen, die Andor
paſſionen, Kavaliersſchulden, Kavaliersfatalitäten und ein Kavaliersende, - wie sie
abgehalten, einer so freundlichen Einladung nachzukommen, fand bei ihr leicht ein Echo .
alle nehmen. " ,,Aber er ist nicht wie alle andern."
Ja , im stillen hatte sie selbst schon mit seiner Rechtfertigung begonnen und ihm die Weigerung, eine ihm doch eigentlich unbekannte Dame zu besuchen, gutgeschrieben.
es denn eigentlich?" ,,Nun, was wird es sein?
milder geworden.
So ? Wodurch unterscheidet er sich denn ? Spielt er nicht ,
reitet er nicht , jagt er
nicht, veschwendet er nicht seine Zeit und sein Geld ? Schafft er etwas , bringt er Nußen? Lebt er nicht darauf los, wie wenn es gar kein Ende nehmen könnte und als
Jlka's Behauptung, daß
Die anfängliche Erbitterung war allmählich sogar in Wohlgefallen an seiner Handlungsweise übergegangen.
ob er ein besonderes Guthaben beim lieben.
Die langen Gespräche der Freundinnen konnten nicht ohne Einfluß auf Susanne
Herrgott hätte ? Führt er nicht eine glän
bleiben.
zende Haushaltung , hält er nicht Diener, Pferde und - Na, kurz und gut, auf den
jenen Gedanken zu entreißen , denen sie zu ihrem Nachteile nachhing, hatte sie dieselbe mit fröhlichem Geplauder und drolligen
Unterschied wäre ich begierig!" „ Der besteht in seinem Wesen, in seiner Geistesrichtung, in den Grundzügen seines Charakters ."
In dem Bestreben , die Kranke
Einfällen zu erheitern gesucht und dort, wo das Scherzen und Lachen einmal ein Ende nehmen mußte , gerne Andor zum Gegen-
Robert Byr.
68
stande gewisser Vergleiche gemacht, für welche
dem Wesen
sie nur die Anregung gab, während Ilka
daß er eine beleidigende Nachlässigkeit zu
ist gar nicht vorauszusagen,
sie im stillen weiterführen und so die Un- | zeigen beabsichtigte. “ würdigkeit desjenigen erkennen lernen ſollte, Adler wiegte nachdenklich den Kopf und
hatte Susanne gar wohl erkannt, aber mit
legte seine Zigarre auf den Taſſenrand. Ich wundere mich nur, woher du denn
dem
das alles weißt, “ ſagte er, „ du kennſt ihn
um den sie sich noch immer kränkte.
gleichen Scharfblicke war
auch
Das
ihr
eigenes Herz von der kranken Freundin er- | ja eigentlich auch gar nicht , so viel ich weiß." forscht worden. Indem Susanne sich selbst ,,Du vergißt, Papa, daß ich doch wiedervorgab, zu einem guten Zwecke Andors Erwähnung zu thun, hörte sie doch mit ge-
holt mit ihm zusammengetroffen bin.
heimem Entzücken die Schilderung seiner Vorzüge an und so hatte sich die schon im
lezt noch am Sagenbrunnen , wo wir ihm allein die Erlösung aus einer sehr häßlichen
Kinderherzen
Lage verdankten. “ ,,Das hat ihm nur einen Peitschenknall
aufkeimende
Bewunderung,
unter dem warmen Hauche von Jlka's innig
Zu-
anerkennenden Worten, zur vollen Blüten- | gekostet," entgegnete Adler wegwerfend . knospe geschwellt , die nur eines Sonnen„ Und doch Ilka stockte. Sie hatte um sich in ihrer ganzen
des Fruchtschiffs Erwähnung thun wollen,
Herrlichkeit zu entfalten. In dieser Stimmung empfand sie es
hielt es aber zurück und sagte statt deſſen :
geradezu wie eine persönliche Beleidigung,
gend, um ein Bild zu vervollſtändigen, das
blickes harrte,
,,und dann sind Zlka's Mitteilungen genü
als Frau von Patka, die nun doch auch ein | ſich aus den hunderterlei Zügen von selbst Urteil abgeben zu müssen glaubte , ihre zusammenstellt." Zweifel aussprach, ob denn der Erwähnte. " Es haben sogar schon die Photographen „ auch in eine Linie mit allen anderen gereiht den Malern das Schmeicheln abgelernt.“ werden dürfe, wenn es die Liebenswürdigkeit betraf. Von dieser Seite hätten sie doch keineswegs sehr
zu seinen
Gunſten
sprechende Beweise empfangen. Ja, ich war ungehalten," gab Susanne
„ Aber Jlka hat für ihn kein bestochenes Auge ; sie liebt, wie du weißt einen anderen, und ist ihm nur wie eine Schweſter zugethan."
„Es geschieht wohl auch hauptsächlich
auf die zum Schluſſe beigefügte Erinnerung
ihr zu liebe, daß du dich für dieſen Herrn
zu , doch indem sie sogleich im Tone der Zurechtweisung mehr als in dem der Selbst-
so intereſſierst ?" Die Frage klang nicht ganz frei von
anklage ausführte, „ weil ich mir thörichter- | Ironie , und Susanne hielt es für beſſer, dieselbe nicht direkt zu beantworten . weise in den Kopf gesezt hatte, einen augen blicklichen Einfall zu befriedigen, auf dessen
„Sie ängstigt sich wirklich ſo ſehr , die
Unzukömmlichkeit man mich nicht aufmerk-
arme Seele. Höre nur, was sie schreibt !" —
Wer auf den Charakter eines Menschen, den er nicht kennt, Schlüsse
Und nun las sie : „ Andor will die Sache
sam gemacht hatte.
ziehen will , darf doch nicht eine einzelne Handlungsweise allein , sondern muß alle Umstände in Betracht nehmen . Bei des Barons rücksichtsvollem und zuvorkommen
als weniger wichtig darstellen, aber ich habe doch so viel verstanden , daß sie von der größten und
einschneidendsten Bedeutung
für ihn ist , vielleicht könnte sie sogar ſein Ruin sein ; aber nicht wahr, das darf nicht
Andor.
geschehen ? Er meint, es hänge hauptsächlich alles von deinem Vater ab. O teure
69 ,,Nein, im Leben der Kunst."
„ ,
das
ist
wahr !"
stimmte Frau
Zsuzsi, biete doch all deinen Einfluß auf,
von Patka dem überzeugungsvollen Aus-
das Unheil von dem Manne abzulenken, der der verdient, daß man sich für ihn verwendet. "
spruche bei . „ Dieſen Troſt dürfen Sie uns nicht rauben, Herr Adler. "
,,So, verdient er das ?"
„Fällt mir nicht ein !" beruhigte sie der Angerufene. Was that' ich damit ? Ab-
„ Gewiß, Papa ! “ erklärte Susanne, den
nehmer fänd' ich auch keine.
Schlußfaß mit einem tieferen Erröten ver-
Wie schlimm Sie sind.
Daß doch alle
teidigend, das sich vielleicht durch das eigen- | geistreichen Leute den Fehler haben , jedem mächtige Einfügen dieser Wendung erklären mochte, die sie für gut befunden hatte, an
ihren Wiz fühlen zu laſſen. " Susanne unterbrach etwas ungeduldig
die Stelle der thatsächlich im Briefe stehen-
dieſen koketten kleinen Krieg , auf den sich
den zu sehen. Dort war von einem Manne die Rede, der uns beiden teuer ist". Das allerdings zum Vorlesen nicht
ihre Gesellschafterin gerne eingelassen hätte. ,,Das bringt uns ganz von der Frage Aus deinen Aeußerungen muß ich ab.
recht geeignet. Während Adler die Briefstelle anhörte,
entnehmen, Papa, daß du auch böse Folgen für Baron Beledényi voraussiehst. Hältst
hatte ein höhnisches Lächeln seine Lippen
du seinen Ruin für möglich ?“
war nun
gekrümmt , das zu einem harten Zug erſtarrte.
„Ich meine, er verdient, was über ihn kommt," sagte er mit dem Ausdruck tiefer Verachtung und Genugthuung . „Wenn einer ein Geldstück bekommt , er soll sich dafür
„Wenn er keine Hilfe findet , kann es leicht dazu kommen. " „Nein , Papa , das darf es nicht ! Du
wirst es verhindern . " "Ich ? Wie komm ich dazu ?" Susanne fing ihres Vaters emporfah-
ein Stück Brot kaufen , und er verliert's, geschieht ihm recht , daß er hungert. Ich hab' kein Mitleid für ihn, warum gibt er
dir doch auch nicht gleichgültig sein, ob ein
nicht besser acht !"
Mensch zu Grunde geht oder nicht.“
„Edle Sorglosigkeit ist auch ein schöner Die Helden unserer größten.
Charakterzug .
rende Hand und hielt sie feſt. „Du darfst nicht so sprechen.
Es kann
„ Mit der Menschenliebe käm' ich weit!"
Dichter haben ihn."
„ Dies ist aber kein so allgemeiner Fall . Du stehst mit dem Baron in jahrelangen.
„ Die Dichter, das ſind mir auch ſaubere Leute, die schaffen, wie der liebe Gott, alle
Beziehungen ; er ſeßt sein ganzes Vertrauen in dich."
nach ihrem Ebenbilde, da werden die HelMeine Helden den denn auch danach.
„Das ist seine Sache." „Man wird sagen , du habeſt es ge=
sind die praktischen Leute , die machen die Welt, wie sie ist, die anderen träumen sich
täuscht. “ Wenn ich mich
nur eine, die nicht war und nicht sein wird, so lange sie steht. "
wollte, was die Leute jagen, könnte ich bald
"/ Es eriſtiert doch noch eine ideale Welt neben der realen. “ In den Köpfen der Narren. "
um alles kümmern
vor ihrer Thür als Bettler stehen und dann würden sie erst recht schimpfen .
Wer da
baut an den Straßen, muß die Leute reden Lassen. ____ Ist auch ein Gedicht. “
Robert Byr.
70
" Aber du hast Verbindlichkeiten gegen
weil sie euch in eurem Papageienkäfig beſſer
die Familie. Hast du nicht selbst gesagt, du seist der Mutter des Barons verpflichtet gewesen ?"
gefiele als auf dem Tische.“ Welch ein Vergleich !" it er dir nicht poetisch genug ? Jd
„ Nu ja, Sie hat mich nicht zum Hause hinauswerfen lassen , nicht die Hunde auf
finde ihn sehr passend. Die schönsten Spekulationen würdet ihr einem ruinieren. "
mich geheht , sie hat mir erlaubt ihr eine
,,Du jagst ja aber , nicht du seist be-
Verbeugung zu machen und ihre parfümierten
teiligt, sondern jener Mandl. “ Adler sah die in Verwunderung fragend
Handschuhe zu küssen , ohne Entschädigung für den feinen Geruch. Ist alles aufnotiert
auf ihn gerichteten Augen seiner Tochter
in meinem Schuldbuche und soll redlich ab-
und in Verlegenheit
gezahlt werden an ihre Nachkommen,
springend, fuchtelte er mit beiden Händen .
wenn sie kommen."
rief er.
, "!
einmal
zu
mir
aufs
Schloß
Vater, ich begreife deine Erbitte-
rung," sagte Suſanne teilnahmsvoll seine Hand drückend . „Ich unterschäße nicht, was du unter fremdem Uebermute gelitten hast und was es wert ist , davor geschützt zu sein. Aber wendest du hier deinen Groll nicht gerade gegen den Unrechten? Du kannst keinen Grund haben, eben ihn zu verfolgen, oder dich auch nur an seinem Untergange zu freuen.
und Verdruß
auf-
„ Nu ja , der Mandl — der Mandl ! “ So geh zum Mandl. "
,,Warum nicht, wenn es sein muß." Mit einer scharfen Wendung kehrte sich Adler wieder seiner Tochter zu .
„ Das ist mir auch ein tapferer Held, der sich hinter die Frauenleute steckt," äußerte er höhnisch. ,,Das thut er aber gar nicht .
Ohne
sein Vorwissen hat Jlka mir geſchrieben und er hat seine Abreise nur verzögert, weil er
Auch wenn es ſich nur um eine | noch nähere Aufklärungen von seinem Verwalter erwartet. “
augenblickliche Verlegenheit handelt, wird es dir
wenig
Genugthuung
schadenfroh darin zu laſſen .
gewähren ,
ihn
Er persönlich
hat dir nichts gethan und ist im Gegenteile der Mann, dir eine rechtzeitige Hilfe auf richtig zu danken .“ Adler hatte seine Hand losgemacht, un-
,,Der wird ihn aufklären , hehe ! Kann mir die Aufklärung denken.“ ,,Sobald der Baron sie hat , wird
er
selbst kommen. "
,,Nur zu ! Soll mir angenehm sein. " Wirst du ihm einen erfreulichen Be-
wirsch wehrte er die ihm ſo inständig An- | scheid geben ?“ liegende ab. „ Natürlich , sehr erfreulich ! Ich freue „ Thut mir leid , aber ich kann nichts machen.
Wenn ich es früher gewußt, hätte
ich Mandl verſtändigen können , jezt iſt
" Du willst doch nicht sagen, daß du nicht zu
helfen ?"
wird sich unge-
mein freuen ; hehe!“ "In grimmigem Vergnügen rieb sich Adler die Hände, aber Susanne, die immer
alles schon eingeleitet. "
im stande bist ,
mich schon jest und er
hartnäckiger geworden war und deren schöne
entgegnete
Stirne sich in ganz krause Falten gezogen
Susanne, die sich so nicht abfertigen ließ.
hatte , war so leicht von einem Vorhaben nicht abzubringen. Sie trat ganz nahe
„Ach , was verſteht ihr vom Geschäft ! Ihr wäret im stande, einem die fetteſte Gans unter dem Küchenmesser wegzunehmen, bloß
an ihren Vater heran und ihre Stimme dämpfend , so daß sie nur von ihm
Andor.
verstanden ihm zu :
werden
konnte ,
flüsterte sie
71
auch erzählt von dir ?
Oder sollt' ich es
ausbezahlen dem Weibe , das nicht gewußt
„ Papa , ich will dir ein Wort sagen. Wenn es dir nicht taugt, so soll es wenig ſtens von mir nicht heißen , daß ich nicht
hätte, woher ?
Dir war es zugedacht und
auf deinen Namen habe ich es angelegt. "
„Und deine Tochter soll also Geschenke
Ich stelle ihm,
annehmen," entgegnete Susanne vorwurfs-
soweit es reicht , mein Eigentum zur Ver-
voll , und sich nicht einmal revanchieren dürfen? Wer bin ich denn ? Eine Bettlerin?
so viel that als ich konnte.
fügung. "
Nein Papa!
diesmal wirst
du
das
„Was hast du denn für ein Eigentum ?“ fragte Adler höhnisch.
Gegengeschenk besorgen und es muß eines
Noch leiser , wie ein Hauch nur , aber
sein, deſſen wir uns nicht zu schämen haben."
fest und bestimmt klangen ihre Worte an sein Ohr.
„ Das
wäre
ein fürstliches
Cadeau!
Erbe meiner Mutter, - oder
Nein, ein königliches ! Nein, auch nicht einmal ein König macht solche Präsente , er
willst du mich auch wie Daniel abfertigen ?
nimmt sie lieber -- als Zuschuß zur Zi-
Dann bleiben noch immer die tausend Gulden für des Schiffers Frau. "
villiste. " In seiner Verzweiflung über "das ihm zugemutete Opfer war Adler immer
„ Das
" Dummes Zeug ! Damit wirst du weit fahren.
Was sind
Verleumdungen.
das für Reden und
Pfui , schäme
dich,
so
etwas zu glauben und zu sagen !"
lauter geworden und
focht mit haſtigen
Armbewegungen gegen die Schwertſpißen, die er auf seine Brust gerichtet sah. Er hatte auch ein paar Schritte hin und her
So hastig Adler dies auch herausspru-
gethan, so weit es der enge Raum erlaubte,
delte, war er doch ernstlich erschrocken, seine
jezt hielt er vor Susanne , die sich wieder
in seinem
an ihren Play gesezt hatte und in ernster
Barte und sein Auge ging scheu umher. Die Summe, welche Andor für seine Rette-
Entschlossenheit seine lezte Antwort abDie Hände zusammenschlagend wartete.
rin ausgeworfen, hatte, wie Susanna, nach
über ihre unbegreifliche Hartnäckigkeit, rief
dem ihr Ilka davon erzählt, erraten konnte,
er : „ Aber, Kind , möchte es dir denn nicht gefallen, in Löke zu ſißen, — nicht in dem
Hand kraute nervös
unruhig
nie ihren Weg in die Tasche von Balog's Frau gefunden, und die Anspielung darauf hatte Adler in nicht geringe Verlegenheit gesezt. Es konnte ihm nicht daran liegen,
alten Hauſe, ſondern im Schloſſe, nicht geduldet, nicht als Gaſt, als Herrin und Gebieterin ?“
Aufklärungen gerade über diese Episode her-
Eine Purpurflut ergoß sich in Susan-
beizuführen. Der strafende Blick seiner Tochter schüchterte ihn ein und so ruhig er
nens Antlig , ihr Auge blißte einen Moment auf, dann senkte es sich auf den Brief
sonst vielleicht jedem derartigen Vorwurfe
in ihrer Hand, die ihn emsigst in das kleinſt-
die Stirne geboten hätte , vor ihr schämte | mögliche Format zuſammenzulegen trachtete. er sich, bei einer Unredlichkeit ertappt zu sein. „Ich weiß nicht , Papa , wie du auf Sie ließ sich kaum beschönigen ; so gut es ging, versuchte er es doch. „Hätte ich das Geld zurückgeben und dich verraten sollen ? Du selbst hast mir es verboten. Was hätten sich die Leute
solche Fragen kommst," sagte sie leise und in einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Befangenheit.
„ Baron Beledényi
denkt ge-
wiß nicht daran. Er kennt mich nicht einmal und ich will nur, daß ihm geholfen
Robert Byr.
72 wird und keinen Dank dafür .
Ja, Papa, | machen ist. Ich denke , es wird sich wohl arrangieren laſſen , zu allseitiger Zu-
du mußt mir sogar das heilige Versprechen
geben, ihm nie und niemals ein Wort da von zu sagen, daß ich bei der Sache be-
friedenheit, zu allseitiger Zufriedenheit. Was bekomme ich dann dafür?" Ich danke dir jezt schon aus vollem
teiligt bin." Erst die lezten wieder energischer gesprochenen Worte
rissen Adler
aus
der
Herzen !" entgegnete Susanne mit frohem Ernst , indem sie seine Hand küßte.
„Ich
Ueberraschung, in welche ihn das Mißver- | will nur sogleich Ilka beruhigen. “ ständnis verseßte, durch welches sich Susanne ,,Das ist mir noch nicht genug ," rief in demselben Maße verraten hatte, als sie
ihr Adler nach ; ihr weißes Morgenkleid
die nach ihrer Meinung sondierende Zu-
war aber bereits in der Thüre des Speiſe-
mutung ihres Vaters abzuweisen bestrebt war. Ueber dem Aerger, den ihm ihr ein-
zimmers verſchwunden .
dringliches Bestehen auf einem
all seine
Mit wohlgefälligem Blicke sah er ihr nach.
Im Geiste erſchien sie ihm bereits
Pläne kreuzenden „ unvernünftigen “ Wunſche
im wallenden Brautſchleier , in der Reiſe-
bereitete, war ihm der erste Eindruck ihrer
kutſche mit dem freiherrlichen Wappenſchilde,
lebhaften Parteinahme wieder entschwunden,
in Löke als Schloßherrin und in den ari-
jegt dafür, um so überzeugender wiederge-
stokratischen Salons
kehrt , bedurfte er keiner weiteren Beſtäti-
als die gefeierte schöne Frau .
von Wien und Pest Er rieb sich
gung. Die Sache war gewiß und Adler | halbzufrieden die Hände. Dann wandte er sich blinzelnd zu Frau wunderte sich nur, daß er ihr nicht früher schon auf den Grund gesehen.
Am Ende
von Patka herum , welche die interessanten
war ja die Idee gar nicht so übel, der An- | Lokalneuigkeiten der Zeitung, alle die für ſie gelegenheit eine solche Wendung zu geben, sonst so fesselnden Audienzen , Ordensverdaß die verschiedenen Intereſſen dabei ihren
leihungen, Raubanfälle und Verhaftungen
Ausgleich fanden. ihm selbst.
total vergeſſen zu haben schien und nachdenklich das blaue Band ihres koketten
Der Gedanke
gefiel
„I du mein !“ rief er. „ Warum nicht ?" | Häubchens, das sie nicht so ganz ohne Absicht aufgesezt , um den weißen Finger wickelte . schlau an, störte sie auch gar nicht , als und sah dabei seine Tochter vergnügt und
jie , auch diesen Ausruf wieder falsch auf-
m !"
sagte
er schroff.
" Wer hat
faſſend, seine Hand ergriff und eindringlich wiederholte :
mir denn immer von Marquis de Savagna vorgefaselt ? ― Ich meine das hätten
daß du
Sie doch sehen sollen. Wozu sind Sie denn
schweigst ! Und meine Bitte erfüllst du ? Ich
angestellt ?" Die Witwe seufzte , das Wort flang
„Ich habe also dein Wort ,
darf Ilka schreiben, daß alles in Ordnung ist ?" „Ja, so geschwind geht das noch nicht, da müssen doch auch noch andere gefragt werden."
„Ein Frauenherz," entgegnete ſie ſanft aufblickend, ist so unergründlich!" „Wie das Meer.
behaglich
Das bilden sich auch nur Narren ein, ausfüllen zu können,“ er-
„Na, ich will ſehen, was zu
gänzte Adler mit unerbittlichem Hohn und
,, wenn du nur willſt !" „ „Meinst du ?" sagte Adler ſchmunzelnd .
hart aus dem Munde des Witwers , dessen Haus nun bald ſo vereinſamt ſein ſollte.
Andor.
damit räumte er, seine Zeitungen zusammen
73
schlendernde Spaziergänger bemerkt, die so
raffend, den Plaß, der ihr nun allein ver-
eifrig die Damen zu lorgnettieren und sich
blieb, um der Trüglichkeit alles menschlichen
so Wichtiges zu erzählen hatten , daß sie
Hoffens ungestört nachzuhängen.
den im
Es war wohl ein zu stillem Nachdenken
Wagen schnell Vorüberrollenden
nicht bemerkten.
Er aber hatte Savagna
ganz besonders geeigneter Ort mit seinem
und an dessen Arme Jenö wohl erkannt
hübschen Blick durch das dichte Weingeranke auf die Stadt und über die sich weithin
und bei dem Anblicke der letteren war er einen Moment nahe daran gewesen, halten
dehnende fruchtbare Ebene
voll zierlicher
zu laſſen und dem in ſolch ſorgloſer Gecken-
Häuschen, üppiger Gebüschgruppen und unabsehbaren im Duft des Horizontes ver-
haftigkeit dahintänzelnden Offizier mit der Frage entgegenzutreten, ob er nicht Lust
schwindenden Ackerfeldern , denn kaum eine Stunde später saß Andor eben so schweig-
habe, seiner interessanten Erzählung von dem Brande und der abenteuerlichen Ret-
sam und in sich verloren auf demselben
tung
Korbstuhle der kleinen Terrasse.
Nachspiel anzufügen.
noch ein
kleines ,
etwas
ernsteres
Er war ins Speiſezimmer gewieſen wor-
Nur die Erinnerung an Ilka's Bitten
den und durch dessen offene Thür hinaus-
und das Bewußtsein des gesicherten An=
getreten, um den durch einen Besuch augen
rechts
blicklich in Anspruch genommenen Hausherrn hier zu erwarten.
eine Szene hervorzurufen, deren seine nun doch nicht mehr so hochschwellenden Ge-
Die endlich eingelaufene ausweichende
fühle zum Ausgleich eigentlich kaum noch
auf sie ,
hielten
ihn
davon
ab,
Depesche Adlers, der die leßte Aussicht auf
bedurften.
Indem er sich verachtungsvoll
die Möglichkeit eines Mißverständnisses zerstörende Brief Potyondi's und die sich fieber-
abwendete, gelang es ihm aber nicht so leicht, auch seine Gedanken in eine andere.
haft steigernde Unruhe Jlka's hatten ihn
Bahn zu lenken und so sehr war er ver-
schließlich gedrängt.
doch zu beschleunigter Abreise Am Morgen in Wien einge-
tieft in dieſelben, daß sich ihm anfangs das Bild der Geliebten mit den Tönen verwob,
troffen und alsbald von Adlers Abwesenheit unterrichtet , hatte er sich noch im
die an sein Ohr schlugen. Er meinte sie wieder , wie an jenem
Laufe desselben Vormittags nach dessen buen retiro auf den Weg gemacht, unbe-
Klange der Zigeunerfideln mit blißenden
kümmert um die sonntägliche Ruhe, die er mit seiner Geschäftsangelegenheit zu unterbrechen
beabsichtigte.
Sie
war
lärmenden
Abende
in
Bukraház ,
beim
Augen und roten Wangen sich im Csárdás drehen zu sehen. Wie sie zierlich dahin
wichtig
schritt, sich vor ihrem Tänzer wiegte, neckend
genug , um darüber jede Rücksicht gegen denjenigen beiseite zu sehen , der sie so
zurückwich und ihm jezt zum wilden Wirbel an die Brust flog. Und Jenö war es, der
eigentümlich eingeleitet hatte. Und doch, so sehr sie geeignet war,
sie in seinen Armen aufnahm, der Bube.
all seine Gedanken in Anspruch zu nehmen,
dazu sang die Geige ihr wunderbares herz-
D, er hätte ihn zermalmen mögen !
Und
17 Hej ! Huj ! magyarember" , daß der alte Onkel Rainald wie ein Jüng-
beschäftigte Andor in diesem Augenblicke | berückendes ein ganz anderer Gegenstand .
Auf seiner
Fahrt vom Bahnhofe nach dem Landhause❘ ling hingeriſſen, jauchzend einfiel. Ja, das war das stolze jubelnde Lied vom Heimathatte er zwei langsam dem Parke zu10
Robert Byr.
74
land , in dem das heiße Ungarblut über-
dem Verlaufe der Dinge zu schließen be-
quoll und in dessen Sehnsuchtslaut sogar
gann .
der wilde Racheschrei gegen den Unwür-
Arrangeur seiner Angelegenheit waren nicht
digen, dessen er sich schämen mußte, hin-
mehr ganz dieselben , sein Vertrauen war erschüttert und dies drückte sich auch deut-
schmolz . Träumerisch lauschte Andor der Weise, die in täuschender Dämpfung wie aus dem
Seine Gefühle gegen den seltsamen
lich in seiner Miene und Begrüßung aus, als Adler endlich seinem Warten ein Ziel
Wäldchen oberhalb des Hauſes klang, nach kurzem Uebergange, das Thema variierend,
sezte.
noch einmal aufnahm und dann plößlich mitten im Saße , wie ein ungelöſtes Aufschluchzen der Verzweiflung abbrach.
dieser seinen Gast willkommen . Als er hochgetragenen Hauptes und noch im vollen Nachgefühle der stattge-
Es verging noch eine Weile, ohne daß jemand Andor's Einsamkeit störte und er
habten Unterredung, ins Haus zurückkehrend, Andors Ankunft erfuhr, hatte er zufrieden
wollte schon ungeduldig
vor sich hingenickt und dann dem Kammer-
werden ,
als er
Um so harmloser und vergnügter hieß
aus der Tiefe des Gartens den Hausherrn | mädchen Befehl gegeben, Frau von Patka auftauchen ſah, der dienstfertig seinem Be-
aufzutragen, daß noch ein Gedeck auf den
ſucher die Pforte öffnete, und sich von dem
Mittagstisch gelegt, das Menu ein bißchen
ſelben mit ſo tiefen Bücklingen verabschie- | verſtärkt und Champagner in Eis gekühlt werden solle. dete, als ob mit dem herablaſſenden Händedrucke eine noch viel wertvollere Zusicherung gegeben worden wäre.
Andor hatte die
Auf die Entgegnung , Frau von Patka sei in die Kirche gegangen , wies er das
wichtige und einflußreiche Persönlichkeit gar | Mädchen an, selbst Sorge zu tragen und nicht erkannt, die es vorzog, statt vor den erst als er so seine Vorbereitungen für das neugierigen Augen der Residenz in das
zu feiernde Fest getroffen, suchte er den
Haus des Finanzmannes zu treten , ihn | Helden desselben auf. Das Verhältnis zu diesem hatte eine hier in seiner unbeobachteten Zurückgezogenheit aufzusuchen und vermochte ein bitteres Lächeln nicht zu unterdrücken, indem er
weitere Veränderung erfahren , ganz abgesehen von der noch bevorstehenden. Vom
sich seines Oheims Miene vergegenwärtigte,
ersten Worte an sezte sich Adler auf den
wenn die Zeitung in der Rubrik Auszeichnungen ihm Nachricht von den wohl un-
Fuß bequemer Vertraulichkeit und Andor, den dieser Verkehr von völlig Gleich und
ausbleiblichen Folgen dieſes Händedruckes | Gleich doch einigermaßen befremdete, vermochte selbst durch eine vermehrte Förmbringen würde . Und Andor fragte sich, ob auch er Ur- | lichkeit in seinem Wesen die Schranken nicht aufrecht zu erhalten. Adler blieb
sache haben werde, heute von Adler in der
jelben vertraulichen Weise zu scheiden. Er war nicht in der Lage , Orden und Titel zu vermitteln und einen Dienst mit einer
ungestört in seinem behaglichen Sichgehen= laſſen.
jo begehrten Gefälligkeit zu erwidern, die gewöhnliche Provision aber schien dem em-
erwartet," fuhr er nach der Begrüßung lächelnd fort. „Konnte mir denken, daß
Sie überrascht waren. Solche Unannehmaus | lichkeiten kommen zuweilen vor ; man muß
porwachsenden Geschäftsmanne nachgerade nicht mehr zu genügen , wie Andor
Habe Sie eigentlich halb und halb
Andor.
75
Sogar ein
nahm denn auch die erste Gelegenheit wahr,
gebrochener Fuß ist ja noch einzurichten . Man hinkt ein wenig , das gibt sich aber
darauf zu kommen , indem er die Frage, wie er seine Zigarre finde und ob sie Luft
mit der Zeit.
Play und eine gute Zigarre suchen. "
habe, mit der ihn Adler, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, hinhielt, absichtlich überhörte. Sie nehmen also, wenn ich Sie zuvor
Er faßte, in dieser Weise fortplaudernd, die Reise, das Wetter und sonst noch alles
recht verstanden habe, dieſen mir unbegreiflichen Zwischenfall nicht so schwer ? War-
mögliche berührend, Andor unter dem Arm
um haben Sie denn aber Ihre telegraphische Antwort nicht bestimmter gefaßt?"
sie nur nicht zu ernst nehmen .
Na, ich denke, so weit sind
wir noch nicht.
Aber kommen Sie, lieber Baron, wir wollen uns einen bequemern
und führte ihn durchs Speiſezimmer, das ja den dienstbaren Geistern überlassen wer-
„ Ach richtig, Ihre Affaire ! " rief Adler,
den sollte, in einen hübschen hellen Salon
wie wenn er jegt erst an den ihm mittler-
mit ein wenig seltsam geordneter Einrichtung , deren Mitte ein kostbares Klavier
weile ganz entfallenen Zweck dieses Beſuches erinnert worden wäre. Und nun entwickelte ganz
bewundernswerte Zungen-
einnahm .
er
„ Hier stört uns niemand. Meine Tochter ist mit ihrer Tante in der Kirche und wird
fertigkeit über die Ursachen der Verzögerung und Stiliſierung seiner Antwort.
dann wohl einen Gang durch den Park
Der verspätete Empfang der Anfrage , die
mit ihren Sonntagsgästen machen . Wir haben Zeit, uns auszusprechen ," erklärte Adler .
nötige Zeit , sich zu unterrichten , höchst wichtige Geschäfte, welche diese Angelegenheit in den Hintergrund drängten, Mandl's
Er drückte sorgsam die Thüre hinter sich zu, geleitete Andor zu einem bequemen Eck-
Zweideutigkeit, die keineswegs ganz unverbrüchliche Verschwiegenheit mancher Tele-
pläßchen amFenster, schob ihm eine Zigarrenkaſſette zu , präsentierte selbst den kleinen
graphenbeamten , der Wunsch, die Sache nicht publik zu machen, und noch allerlei
Leuchter und warf sich schließlich in den tiefen Fauteuil , den er sich seitwärts an
solche Angaben rasch durcheinander gewirbelt und zu einer ganz ansehnlichen Kugel
das kleine Tischchen herangezogen , welches
zusammengeballt , rollten jeden Vorwurf, Einwendung unwiderstehlich wie jede
mit seinen Rauchrequisiten gewissermaßen das neutrale Terrain zwischen ihm und seinem Besuche bildete.
Noch glomm jede
eine
nieder. Es war ein Zeichen von großer Zähigdieser Begründung
gegenüber
Zigarre für sich , wie aber schon jezt die
keit ,
abgestreifte Asche von beiden in dieselbe Muschel fiel , so ruhten dort wohl schließ
Andor schließlich kopfschüttelnd der Meinung blieb : das ändere aber an der Sache
lich auch die ausgebrannten Enden friedlich vereinigt nebeneinander.
Dies ganze Vorspiel hatte Andor nur
nichts ; im Gegenteile schien sie ihm nur bedenklicher, nachdem er die Bestätigung empfangen, daß es sich nicht, wie er noch
mit einiger Ungeduld über sich ergehen lassen. Es schnitt ihm das herbe Wort,
gehofft habe, lediglich um ein Mißverständnis handle.
mit dem er sonst wohl begonnen hätte, ab und verzögerte die Auseinanderſeßung, um die es ihm vor allem zu thun war ; er
daß
„ Ach, bewahre ! " schwichtigende Antwort.
lautete Adlers
be-
„ Bedenklich könnte sie nur in dem Falle werden , wenn sich
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78
das Geld zur Befriedigung der Gläubiger nicht beschaffen ließe."
gemacht, aus dem ihm eher ein Nachteil erwachſen konnte.
,",Nun könnte dieser Fall ja aber ein treten , da Sie mir selbst die Schwierig keiten vorgestellt haben. " ,,Ganz richtig, die bestanden und bestehen
„ Ich begreife nicht , was Sie mir da mit für einen Trost geben wollen ," ſagte er, und ebensowenig, wie Sie diese unerhörte Klausel aufnehmen konnten."
,,Sie haben sie selbst unterschrieben. "
noch." ,,Nun, was dann ?"
„ Auf Ihren Rat, aber es scheint, daß
„ Das könnte allerdings einige unangenehme Folgen haben. Der Besizer der
Sie nur den Nußen der andern Partei im Auge hatten."
Hypothek hat sich das Recht vorbehalten,
Adler zeigte sich von dieser Aeußerung
mit Abkürzung der geseßlichen Frist, vier-
des Mißtrauens nicht im geringsten belei-
zehn Tage nach Aufkündigung seines Ka-
digt und gewann seiner Zigarre in aller
pitals, gegen den etwa zahlungsunfähigen
Ruhe sichtlich Geschmack ab.
Ich kann nur heute wiederholen, was
Schuldner gerichtlich vorzugehen und die erekutive Feilbietung zu veranlassen. "
ich damals sagte, ich halte die Bedingungen
Was, das soll wirklich möglich sein?"
des Darlehens für billig und mögen Sie
"!Warum nicht ? Der Vertrag hat volle
herum fragen, bei wem Sie Lust haben, glauben Sie mir , man wird Ihnen dieselbe Antwort geben. Streng, wenn Sie
Rechtskraft. "
Das gleichmütige Achselzucken Adlers reizte Andor, bei dem der seit den leßten achtundvierzig Stunden zurückgedämmte Unmut ohnehin schon eine bedeutende Schwer-
wollen , ja , das sind die Klauseln, aber wer hätte daran denken sollen , daß sie so rasch geltend gemacht würden ?"
kraft erhalten hatte.
,,Sie wußten es , denn Sie kannten.
„Das ist aber doch Wucher gemeinster Art, denn vergeblich zerbreche ich mir den
diesen Menschen und empfahlen ihn." ,,Du lieber Gott , wenn ich für jeden,
Kopf, um einen andern Grund zu diesem
mit dem ich Geschäfte mache, gleich sollte
sonst unerklärlichen Vorgehen zu finden," sagte er scharf. Es war also nur die
die Hand ins Feuer stecken , hätte ich mir
Absicht, die Summe meiner Schuld um
längst verbrannt alle Finger ! Sie brauchten Geld, ich habe Ihnen einen Mann ge-
einige Tausende zu erhöhen , welche dieses ganz fiktive Hypothekardarlehen einleitete.
bracht, der es Ihnen billig anbot, weiter geht es mich nichts an."
Ich bin jezt in der gleichen Lage wie zuvor, nur habe ich mehr zu bezahlen."
Andor ward es schwer, seinen Unwillen. zu bemeistern und seine Ausdrücke innerhalb der Grenzen der Höflichkeit zu halten.
„Doch nicht ganz in der gleichen Lage,“ „Früher war
„ Das ist - allerdings eine sehr kluge
es Wechselschuld und diesmal hat der Gläu-
und bequeme Auffassung , die Ihnen, im
biger ein Pfand in Händen, an das er sich halten kann. "
allgemeinen angewendet , das Leben leicht machen muß. Indes bin ich nicht ganz in
Andor sah ihn zuerst ohne Verständnis an ; er hatte erwartet , daß ihm ein über-
der
sehener Vorteil angeführt werde und wurde statt dessen auf einen Umstand aufmerksam
wortlichkeit trifft und ich an Ihrer Stelle wenigstens würde mich verpflichtet halten,
wendete Adler schlau
ein.
Lage ,
mich ihr
anzuschließen .
Ich
glaube, daß auch Sie eine Art Verant-
Andor.
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sei es auch nur, um selbst den leisesten Schein | Verdienst , mich, statt zu warnen , in dieeines Einverständniſſes von mir abzuwälzen, dieser Angelegenheit eine andere Wendung
selbe gelockt zu haben."
zu geben."
zu
„ " Das will ich auch recht gerne thun," erklärte sich Adler auf diesen bittern Aus-
Jezt war nach seiner Ansicht der rechte Moment gekommen .
Er war aufgesprungen und im Begriff gehen,
Adler
aber hielt ihn zurück.
wiewohl ich, wenn ich empfind-
" Was Sie für ein heißblütiger Herr
lich wäre, mich jetzt gegen alle weitere Beteiligung verwahren müßte."
sind ; ein echter Kavalier !“ sprach er ihm Habe ich Ihnen nicht gesagt, man zu.
„ Sie werden also von diesem Mandl
muß solche Fatalitäten nicht allzu ernſt nehmen ? Es wird sich schon ein Weg fin-
fall bereit,
Aufschub verlangen ?" fragte Andor, seine
. den lassen , um aus jenen ohne Schaden
scharfe Auslassung beinahe bereuend. Das wird nichts nüßen. "
herauszukommen.
„Aber vielleicht kann man dem Wucherer mit einem neuen Opfer die Gier stillen .
Am Ende ist es vielleicht einzig
Was
sag '
ich ,
ohne
Schaden ? Vielleicht sogar mit Vorteil . Seien Sie nur nicht so ungeduldig .
"Ihre
ungenügenden Antworten
die
wollte Andor entgegnen, doch fiel im Adler
drückende Bedingung abkaufen. Um Ruhe zu haben, stimme ich allem zu." Adler schüttelte den Kopf.
ins Wort und drückte ihn mit einem Ausdruck von Bonhomie in die Kissen zurück,
darauf abgesehen und ich soll nur
„Ist umsonst,“ wiederholte er. „ Mit dem Mandl ist nichts zu machen. Ich
die Andor nicht wenig befremdete. „Kann
man
denn
ausführlich sein,
habe schon gesprochen mit ihm und daraus
wenn Sie alles überstürzen? Sie bleiben doch zu Tiſch bei uns . Man ist auf dem
können Sie sehen, daß mir Ihre Ange-
Lande und wenn uns so liebe Gäste über-
legenheit nicht gleichgültig ist. Aber er sagt, er brauche das Geld und könne nicht warten.
raschen , läßt man sie nicht so leicht fort. Da haben wir Zeit , alles ausführlich zu
darauf.
besprechen .
Ist ja auch möglich, daß es wirk-
Gott, wenn ich so hißig wäre !
lich ihm anervertraute Kapitalien sind, mit | Ich müßte mich jeden Tag zehnmal schießen. denen er nur in aller Geschwindigkeit ein
Wäre ein Vergnügen ! Und wofür ? Ist es
fleines Geschäft hat machen wollen eigene Rechnung und Gefahr.'
Zigarre da ausgehen ließen.
für
doch nicht einmal wert, daß Sie die schöne Rauchen Sie
Die Gefahr trifft scheint's mich allein.
nur in aller Gemütsruhe weiter und lassen
Ich kann das nicht spaßhaft finden, Sie müßten denn geneigt sein, mir dieselbe ab-
Sie sich den Genuß daran nicht stören . Wir bringen dabei alles gütlich in Ord-
zunehmen." „Das wäre denn doch eine Unvorsich
nung."
tigkeit, die man nicht so ohne weiteres begeht, auch nicht für eine Kundschaft, mit
sicht abgeschnitten !" Lächelnd wiegte Adler den Kopf auf
,,Sie haben mir aber doch jede Aus-
der man so lange in angenehmer Geschäfts- | den Schultern ; er wußte wohl, warum er ſo bis zum äußersten gegangen , wenn er
verbindung steht."
„Ich sehe nun ,"
rief Andor, seinem
Unmut Ausdruck gebend, „ daß ich in eine Falle gegangen bin und Ihnen gehört das
auch von den Regeln
der
Peripetie sich
keine theoretische Vorstellung machte. „ Ich habe nur geſagt, daß man, was
Robert Byr. Andor.
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sie verlangen , nicht so ohne weiteres thut,
muſikaliſches Genie.
auch nicht um der alten Freundschaft willen. Aber in einem besondern Falle könnte
Auf Ehre, sie ist vollkommen, das kann ich sagen als ihr Vater, ohne unbescheiden zu sein. "
Und ihre Erscheinung !
man schon ein solches Opfer bringen und es wäre dann eigentlich, genau genommen,
„Ich gratuliere !" sagte Andor, über diejen väterlichen Enthusiasmus lächelnd .
auch gar kein Opfer. " ,,Sie sprechen in Rätseln."
„Ich wünsche , daß auch die Beständigkeit zu ihren rühmenswerten Eigenschaften zähle,
Wird Ihnen gleich verständlich sein.
daß sie nicht so eilig wie Mandl den Sinn
Ich kann hunderttausend Gulden so mir
wechsle und ihren Gläubiger auf Rück-
nichts , dir nichts aus meinem Geschäfte nicht entbehren."
bezahlung dränge." Adler lachte vergnügt auf.
„Auch nicht für kurze Zeit ?"
„Sat keine Gefahr !"
rief er.
„ Als
„Thut mir leid, unſere Fonds müssen | Mitbesiyerin von Löke wird sie sich das immer flüssig sein.
Aber es ist da ein
anderer Ausweg geboten. Die Summe ist beiläufig gerade die Mitgift, welche ich
Kapital nicht selber aufkündigen.“ ,,Wie verstehe ich das ?" Adlers
pfiffiger
Blick
ruhte
durch-
Sie
dringend auf Andor, der aufmerksam und
wird einmal noch mehr bekommen ; vorläufig jedoch muß ihr die Kleinigkeit
ernst geworden war , was Adler für eine Maske hielt, denn seiner Ueberzeugung
haha ! die Kleinigkeit genügen.
nach mußte er längst verstanden worden
meiner Tochter auszusetzen gedenke.
dieselbe fest anlegen und
Wenn sie Ihre Hypo-
thek und Pfandschuld einlösen will, habe ich nichts dagegen. " „ Aber bester Herr Adler, das wäre ja
sein.
Aber der Herr Baron wollte nun
offenbar seinen Vorteil ebenfalls wahrnehmen und das mißfiel dem geriebenen Geschäftsmanne durchaus nicht .
Der Plan, die Mit-
ein ganz willkommenes Arrangement !“ „ " Das mein' ich auch, haha, das mein'
gift der Tochter aus der zukünftigen Gattin eigenem Besiße zu schneiden, war zwar be-
klopfte
sonders klug ausgedacht, immerhin konnte
familiär ſeines künftigen Schwiegersohnes Knie.
man aber doch einen Schritt entgegenthun. " ,,Es kommt vor ," erklärte er nach-
„ Dann will ich nur hoffen , daß Ihr Fräulein Tochter auch einverstanden ist ist..
giebig , „daß der Gatte das Dispositionsrecht über die Mitgift seiner Frau erhält, und damit läge es ja ganz in Ihrer
ich
auch !"
kicherte
Adler
und
Ich freue mich sehr, ihre Bekanntschaft zu
machen, die Schilderungen ihrer Schönheit | Hand, die Modalitäten zu beſtimmen .“ und Liebenswürdigkeit haben meine Neu"In meiner ?" wollte Andor fragen, aber ehe er es noch aussprach , war ihm gierde erregt." „ Man hat Ihnen nicht zu viel gesagt, " ging Adler lebhaft auf die von der
der Worte Sinn klar. Der Laut erstickte. Erst nach einer kurzen Pause öffneten sich
Höflichkeit diktierte Phrase ein . Sie ist ganz apart . Was für ein Talent !
seine Lippen
Was für ein Geist ! Und welche Erziehung ! Ich habe für ihre Ausbildung nichts ge-
mit Ihrem Gelde zugleich auch Ihre Tochter auf Löfe intabulieren zu lassen. Ich danke, die Zinsen kommen mir zu hoch."
spart.
Sie spricht vier Sprachen, liest alle
möglichen wissenschaftlichen Werke, ist ein
verächtlich lächelnd wieder. ,,Sie beabsichtigen,
„Ja so !" sagte er.
(Fortsetung folgt .)
H.GÜNTHER.S
Kleiner Belagerungszustand.
on Oskar
letsch.
Aus dem Leben der Kleinen.
Von Oskar Pletsch.
Wit Reimen von Viktor Blüthgen.
I. Kleiner Belagerungs zu fl and .
ühr' ich mir ein Breichen, Mehlvany Eichen , Zucker, Milch und Butter ' nein, Da leck' ich noch die Finger rein.
Zucker, Milch und Butter ' nein, Da leck' ich noch die Finger rein. da bin ich doch erschrocken. Purr Nun denken die Tauben, ich wollte sie locken. Jest lassen die auch mich nicht in Ruh' . Und ich wette, es kommen noch mehr dazu. Ich traue mich gar nicht umzudreh'n : Die eine muß auf dem Tischrand steh'n, Dicht hinter mir ― ich höre sie gurren und immer mit ihren Flügeln schurren. Ich glaube sie können mir nichts thun, Bloß picken - freilich das alte Huhn, Das mir mal hat aus der Hand gepickt, Das hat mich schön in den Finger gezwickt ! Es wäre beinahe Blut gekommen. Ach, hätte mich jemand hier fortgenommen ! Die Mutter ist auch ich weiß nicht wie Sie ist wieder drüben bei der Frau Scheiben ; Da brauchte sie doch nicht so lange zu bleiben. Die Kaße sieht mich so an - das Vieh! -
Natürlich ! Wenn man im Topfe rührt, Da kommen die Kazen anspaziert. Die hören mit ihren großen Ohren Wer weiß wie weit. Da ist man verloren . Man sollte sie nur wie Hunde ketteln ! Miau, miau - ihr braucht nicht zu betteln. Einen großen Napf, den lecken sie aus Marsch fort, und fangt eine fette Maus ! Heute früh unter dem Borſtebeſen Da ist schon wieder eine geweſen. Nun sist hier jede vor mir und lungert, Als wären sie beide ganz verhungert. Sie sind ja gewiß viel kleiner als ich, Aber essen können sie fürchterlich. Ich möchte sie mit dem Löffel schlagen ; Aber ich glaube, dann kraßen sie mich. Wüßt' ich genau, sie fürchteten sich: Na da wollt' ich die zwei schon jagen !
Rühr' ich mir ein Breichen, Ein Mehlpamp und ein Eichen ; Zucker, Milch und Butter ' nein, Da leck' ich noch die Finger rein.
Rühr' ich mir ein Ereichen, Ein Mehlpamp und ein Eichen,
Das Nibelungenlied im Jahre 1782. Von
Werner Hahn.
3 sind nun hundert Jahre, seitdem das Nibelungenlied aus einer fast dreihundertjährigen Verborgenheit in der öden Stille der Archive wieder ans Leben gezogen wurde. Eine flüchtige Ankündigung des geheimnisvollen Schages allerdings war schon eine kleine Reihe von Jahren vorher erfolgt. Es war aber weder das Lied als Ganzes , deſſen Herausgabe Bodmer 1757 ins Werk sette, noch trugen die Bruchstücke, die er nebeneinander stellte , den Titel, der zur Kennzeichnung des Ganzen unentbehr-
lich
ist.
Erst Bodmers Landsmann , den
Schweizer, C. H. Myller (auch die Schreibweise Müller findet sich von seiner eigenen Hand) , seit 1768 Profeſſor der Philosophie am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, vollbrachte die That, die wir als Wiedergeburt des Liedes für das deutsche Volk bezeichnen. können : die erste Druckherstellung des Ganzen. Lernen wir dieses Ereignis den Mühen nach, die es machte, und der Art nach, wie es ausgeführt wurde, näher kennen ! Anfertigung von Handschriften des Nibelungenliedes hat bis in den Anfang des sech11
82
Werner Hahn.
zehnten Jahrhunderts stattgefunden. Als ver- | „ St. Gallen" genannten, nahm das als Lied Quelle für Geschichte. mutlich legte ist die sogenannte Ambras Wiener Die Poesie des deutschen Volkes aber ging Handschrift zu verzeichnen,,,Ambras", nach dem tiroler Schlosse dieſes Namens, bei Inns jahrhundertelang ihre Wege, ohne von diesem größten Liede der Vergangenheit beeinflußt zu bruck gelegen , wo sie zuerst aufbewahrt, und Wiener" nach dem Aufenthalt, der ihr mit sein, ja ohne nur Kunde von ihm zu haben. vielen Kunst und Wissenschaftsschäßen seit Opitz, Schottel im siebzehnten Jahrhundert wuß1805 gegeben worden. Kaiser Maximilians I. ten noch aus den Werken der Geschichtschreiber davon. Allmählich erlosch auch dieses Wissen. Fürsorge hat ihr das Dasein gegeben. Und um die Mitte des achtzehnten JahrZum Druck gelangte das Nibelungenlied in den ersten Jahrzehnten nach Erfindung der hunderts war es eine völlig neue Entdeckung, Buchdruckerkunst nicht. Eine ähnliche Teildie mit einer Handschrift des Liedes gemacht nahme, wie z . B. für Parzival, der schon 1477 wurde. Bodmer machte sie im Jahre 1756 gedruckt wurde, war für das Nibelungenlied nicht durch Vermittelung zweier Herren , die nachmehr vorhanden. Nur Einzelne, Wenige gab einander der alten und reichen Bibliothek der Grafen von Hohenems nahestanden , Wocher es, die nach ihm nochfragten und von ihm wußten. und Zellweger. Hin und wieder namentlich blätterte in Es war die Handschrift, die nach dem der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts ein einsamer Forscher noch in den Pergamenten bald darauf erfolgten Aussterben des Mannesund Papieren : Geschichtsschreiber, welche die stammes der Grafen von Hohenems (1759), Kunde entfernter Jahrhunderte daraus zu zuerst durch Schenkung einer Enkelin des letzten schöpfen beslissen waren . Daß man poetische Grafen von Hohenems , der Gräfin von WaldWerke als Quellen für Geschichtskunde nußte, burg , an den Advokaten Frickart gelangte, dann (1816) durch Kauf in den Besiz des lag damals im Geiste der Zeit . Das fünfzehnte Jahrhundert ist das eigentliche BlütenFreiherrn Jos. v. Laßberg überging , des eifzeitalter der historischen Zeitgeſänge. Man rigen und verdienten deutſchen Altertumforschers, endlich nach dem Tode dieses letteren ( 1855) stellte in Folge davon alles Epische unter diesen Gesichtspunkt. Hieß es doch vom „ Par der fürstlich Fürstenbergschen Bibliothek zu zival" als das Dichtwerk 1477 gedruckt wurde : Donaueschingen einverleibt wurde. Man nennt „ es soll die Historie des Kaisers Ludovici Pii sie gewöhnlich die Hohenems -Laßbergsche Handunter verdecktem Namen in ſich halten ! " Dichtete schrift und bezeichnet sie in der Schrift mit dochKaiſer Maximilian selbst den „ Tewrdannkh “, dem Buchstaben C. den "Weiszkunig" , jenen als Geschichte seines Es ist eine Bergamenthandschrift, überaus persönlichen, diesen als Geschichte seines poli- schön , sorgsam und kostbar hergestellt , und enthält , wie alle seitdem entdeckten und ganz tischen Lebens, unter Umkleidung der Personen erhaltenen Handschriften , außer dem Nibeund Thatsachen in allegoriſchen Gestalten ! Wie lungenliede auch das in den Reimpaaren der vielmehr mußte das Nibelungenlied als Quelle hösischen Epik abgefaßte Gedicht, das kurzweg für die Geschichte geschätzt werden, da es des allgemein Menschlichen und menschlich-Wahren die "Klage", umständlicher die „ NibelungenDie Handschrift hat so Kräftiges, ferner des topographisch- Genauen klage" genannt wird. 120 Blätter umfaßt. Als Bodmer sie zur so viel, auch des geschichtlich-Bekannten einiges Benutzung empfing, fehlten jedoch bereits sechs, ganz richtig enthält! In einer lateinisch geziemlich in der Mitte der Handschrift. Eine schriebenen Geschichte der Völkerwanderung von W. Lazius († 1565) finden sich wörtliche Abbedeutende Unterbrechung des Zusammenhangs an derjenigen Stelle , wo die Könige von drücke einiger Strophen (wie der Verfasser angibt) aus einer sehr alten Pergamenthand- | Burgund die Fahrt zu den Hunnen teils beschließen, teils ausführen, war damit verbunden. schrift, namentlich aus den Erzählungen der Es war aber nicht aus diesem , ſondern Kämpfe zwischen Burgunden und Hunnen. (wie wir sogleich hören werden) aus einem Auch der als Historiker beſonders rühmenswerte anderen Grunde, daß Bodmer sich entschloß, Aegidius Tschudi (geb. 1505 , † 1572), der die Druckausgabe, die er ungesäumt in Angriff selbst im Besitz einer älteren Handschrift war, der nach ihrem späteren Aufenthaltsort nahm, bruchstückweise einzurichten. Zusammen-
Das Nibelungenlied im Jahre 1782.
hängend gab er nur, was in der Handschrift auf jene Lücke folgte. Er schuf dafür den Titel Kriemhilden Rache und die Klage; zwey Heldengedichte aus dem schwäbischen Zeitpunkte," 1757. Nur im Anhange fügte er kleinere Abschnitte, wenig strophenlange Proben aus demjenigen Teile hinzu, der der Lücke vorangeht: einige Strophen, in denen Hagen dem König Gunther und seinen Mannen Auskunft über Siegfried gibt, andere, in denen Kriemhilds und Siegfrieds erste Begegnung erzählt wird u.ſ. w. „Strophe" sagte ich. Doch in Bodmers Sinne und nach der Art seiner Ausgabe ist der Ausdruck nicht richtig. Was nämlich die Schreibweise jener Handschrift betrifft, so ist sie insofern wie Prosa eingerichtet , als die Verse nicht abgebrochen, die Breiten der Blätter vielmehr gleichmäßig ausgefüllt sind. Allerdings sind Halbverse, Verse und Strophen gekennzeichnet, jene (die Verse und Halbverse) durch einen Punkt zwischen den Worten , die Strophen außerdem teils durch einen längeren Zwischenraum auf der Linie , teils durch rot gezeichnete große Anfangsbuchstaben. Bodmer übersah diese Merkmale , weil er die Form des Nibelungenlieds der der Klage mehr gleich dachte , ferner weil die Kennzeichnung der Strophenanfänge durch Rot in der Handschrift etwas Verwirrendes hat, da außer ihnen auch die Eigennamen innerhalb der Strophen ebenso gemalt sind. Kurz, Bodmer ließ im Druck die Halbverse nach Art ganzer Verse abbrechen. Die Strophenform blieb unberücksichtigt. Die Aussichten, die Bodmer von seinem Ausgabewerk sich machte, waren sehr matt. Er sprach von einigen „ Neugierigen“, denen er zu dienen gemeint habe. Mehr als Bruch stücke zu geben , hielt er aus allgemeinen Gründen nicht für rätlich. „Man siehet keinen Anschein," sagt er, „ daß der erste Teil jemals ganz gedruckt werde." Und fährt dann aus seiner eigenen Ueberzeugung fort : „ Es ist in der That für den Ruhm des schwäbischen Zeit punktes am besten gesorget , wenn man nicht alles , was noch in dem Staube verborgen lieget, an den Tag hervorziehet." Bodmer hatte sich nicht geirrt. Die Ausgabe von "Kriemhildens Rache" ging fast unbeachtet vorüber. Die überall hin verbreitete Gottschedsche Richtung that um ihrer Parteistellung willen nichts zur Unterstützung der Schweizer Bestrebungen. In den Züricher
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„ Freymüthigen Nachrichten von neuen Büchern “ fanden nur kurze Zeit unbedeutende Erwähnungen statt. Nicolai in Berlin, der damals mit Moses Mendelssohn die „ Bibliothek der schönen Wissenschaften" herausgab, besorgte eine Besprechung : sie war ganz oberflächlicher Art ; die Sache zu erfassen, lag seinem Geiste zu fern. Daß Lessing die Ausgabe kennen lernte, erfahren wir nur aus Briefen an ſeine Freunde. Zuerst an Gleim , dessen Muse sich damals dem preußischen Grenadier" dienstbar machte. Lessing spricht (6. Febr. 1758) von einer Sammlung alter Kriegslieder, der er obliege. „ Ihretwegen (fährt er an Gleim fort) habe ich sogar das alte Heldenbuch durchgelesen , und diese Lektüre hat mich hernach weiter auf die zwei sogenannten Heldengedichte aus dem schwäbischen Jahrhundert gebracht , welche die Schweizer jest herausgegeben haben. Ich habe verschiedene Züge daraus angemerkt, die zu meiner Absicht dienen können , und wenigstens von dem kriegerischen Geiste zeugen, der unsere Vorfahren zu einer Nation von Helden machte. Beiläufig habe ich aber auch gesehen, daß die Schweizer eben nicht die geschicktesten sind, dergleichen Monumente der alten Sprach- und Denkungsart herauszugeben. Sie haben unverantwortliche Fehler gemacht, und es ist ihr Glück, daß sich wenige von den heutigen Lesern in den Stand seßen werden, sie bemerken zu können." Näheres erfahren wir aus Lessings Briefe an Moses Mendelssohn (2. April 1758) . "Jest schweise ich in der Sphäre der historischen Ungewißheit herum und Sie glauben nicht, mit welcher Menge von nichtswürdigen Kleinigkeiten mein Kopf jetzt angefüllt ist. Der einzige Vorteil , den ich davon wegbringen werde, ist dieser, daß ich das alte, schwäbische Deutsch gelernt habe , und die Gedichte darinnen, welche die Schweizer ans Licht bringen, mit vieler Leichtigkeit nunmehr lese. Ich wollte daher, daß Herr Nicolai nicht schon die Fabeln der Minnesinger *) und die Kriemhilden Rache rezensiert hätte, ich würde Verschiedenes dabei zu erinnern haben, welches zeigen könnte, daß die Schweizer dieser Arbeit bei weitem nicht so gewachsen sind, als sie glauben. Sie haben in ihren glossariis, die sie dem alten Dichter beifügen, sehr grobe Fehler gemacht. "
*) Boners Fabeln ( „der Edelſtein ") sind ge= meint, die durch Bodmer und Breitinger um dieselbe Zeit eine Ausgabe erfahren hatten.
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Werner Hahn.
Dies ist alles, was sich an Wirkungen der Bodmerschen Ausgabe von Bruchstücken des Nibelungenliedes durch Denkmale der Zeit belegen läßt.
Als acht Jahre darauf die erste deutsche Litteraturgeschichte von Michael Huber ausgearbeitet wurde, fand Bodmers That keine
Ye fiftit verratenwart. gevatgorgelbe herwider andenrin dem vierden morgen zwen vnd drized man irfylt bi tem vnige he il nolchenf fachman zehovenen das warew boatgetan. Guntherdem ichen/ im were widerlat. uzapen flamebonden/ alfe Awolden dan. A Con luge wihs den föwen/grozeriam vnlat. dowaren dagonilge Gunthere man. die wollen nicht dermere ivones watgefchehen. vr-lop fi gewunneu / dasfifurfoldengram vno lahen dasfiz weven luggers man. Man mohtegivzgehinde /wo bififtite fehen. helme noIch i bronne) fibonden ofow march Den &da here betwungen/ferideshane. End ina gillebreht in vncherylane, fichberate vondemLande manich viter arch. gre vonnorhague/oa erhrimhane Diebowenertogriye yn the fifian gam erbat im Geten vilap fiwolden romandas Lane. onersprachdarunder herre lat Ensfem, Wolmichsprach chynemihile/dazichte con mangens Enz wir gegen mere ow yentotenfive terminen lieben runden sowol tar Gordane la haber ita vinetarzwizzetmangenterkine. alle minherfifrit /tie den fividen min. Ivanceviat livgegaſt/vnoInvoger. afwil ichhoher mutes ( prach o tunnigione fin. denw da willentatent greinlichy fer. 1 teberfrune erhagene degenhet n bag, Die wellent zu to riten/mit her indie lant. derkynich begunde zommen/wo er div mevebeamt. Dazich ingernediene /End noch nie wartgelap. not lat michgenigen an minen licon man amhiez de mem vaten /zernherbergen Turn. erfoldefnie enhelten habichprunhile thegetan. wie molte fich spfit a vorbewann , Dashat michfie gerowen sprachdasetelwp, er oderanderieman / dazfito trugen an ochhar egsozerblomen / darumbe mmon lyp Daz wart fro mfelben grozemleide getan. Daz ichz legereite / daz befwarte Im den mit. tvnuchmit fmenfrivndon (runendegre. Dashat vil vol erroken(8 deganpunebnargile. hagne vou trony in niegenwen he repachi werder el verfilmerhernachdien tagen, nach heten ezgelaten bef vniges man. kriembile liebw vowers fulti mir fagen. tomolde ethagne / nievel rates abegem. me ichin moge dienen an fifteenween man & iftagelAliUlfit/runene umt. das clinich gernefrowel baz idyniemanengan. tobegonde Hagen /derhelt von miterlant. wie gat fouuredlichen der kunich nofineman I thwerean alle forge sprachto day del torp. baz im teman neme informe finenlup dazHilfe ichimmer rotzon her in teman irgetan. prachtunich Gunther/mir it on folden left. ober niht wol Wolgen finer vine, to were immer ficher/der degen kuneburgut, Ludgat vnd logerhalone widerfae. yronesprach obagne v halet ofwan. fi Wellen offenliche rien) in minlant dayman in moge verfniden (irfilemuchwen lan dofprachderdegen kone/daz fol fifnærhane, mitwiegoranen hiten fol why vndersen. Padyallen wren even mitAlizevnderstan. ichwilinzchute/ mmmer riten vndegen ich in nochDegenen als ichin han germ . Sirachdubist min machsobinichordin ichlege in wille ir burge/vnd ochirlane. ichbeville air oftrivel maden lieben min. ayich erwince/deff min hovlerwwerphant daz du wolbehitelt mit den lieben man. JMnd wer retien (Polthieheim beltan. Sifeitim kondiv mere/ou vil tager meren vedan. vadelav michzu in viten mitden dieichhan 91fprachminman utbilne ourzil Reach genlich. das ich vgerne diene/dazlazerchivfeben to avden lantdaachen au emobungefluch von nurfol inern vienden/wizzerlategelchehen. abareteficher reke indem blue al gemet Sowel michautremer (sprachder krauch w da von infereinstormekein wafenrueverfnet, alscher erufliche 8helte were vro. I woch binich inforgen forenne er- infurte fe in yallchenag im nefe derbugetuwe TRAN vho va atgarhuze vonbeltebande gar, torachderherre fifre folk leweforgo m. dazich on verticle don minen lieben man, ofchikten fi die reise mitdan hnchen dan. her wasichausser forgerikevmbfilio han Afteundden finen a fehenne watgen. 7 ch made & vfgenade vil liderfruntar, tre ersichbereiten devon lane. dazovdine triwebehalteft and mir efdesreben führen Parthchgemar, da manda mach verpen denminen hobe man Dofprach farbefiftit/vat min herfigmont, dazLe chouchboren ock ofgonargetan . hithie belikan war pomen in kurzer font, Verkleinerte Nachbildung einer Seite der Hohenems Münchener Handschrift des Nibelungenliedes (die Anfangszeile ist im Original rot).
Erwähnung . Michael Huber ist der Vater des aus Schillers Leben bekannten Ludwig Ferdinand Huber. Er hatte bis zum Jahre 1766 in Paris gelebt und war daselbst lebhaft
um die Ausbreitung der deutschen Litteratur in Frankreich bemüht gewesen. Als er um jene Zeit seinen Wohnsit nach Leipzig verlegte , gestaltete sich sein Haus sogleich als
Das Nibelungenlied im Jahre 1782.
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Sammelplay der Fremden von Bedeutung. zustellen. Auch für Klopstock gab es noch eine Die Abfassung jener Litteraturgeschichte, fran- Reihe von Jahren ſpäter ( 1774, als er die „ Gezösisch geschrieben, hatte aber noch in der Zeit lehrten Republick " abfaßte) nur „ Minnesinger" . seines Aufenthalts in Paris stattgefunden und Dies waren die Zustände der Zeit, in war daselbst im ersten Bande seiner " Choix welcher C. H. Myller sich zur Herausgabe des poëdes Nibesies alleSA MLUNG Lungenmandes" liedes enterschienen, DEUTSCHER chlog. GEDICHTE unter dem Mit BodTitel: mer verDisAUS DEM XII. XIII. UND XIV. IAHRHUNDERT. glichen, ist cours es einganz anderer préliminaire sur Schwung ERSTER BAND. l'histoire des Verde la poëtrauens, WELCHEK ENTHALTET: sie alleder fich mande . " DER NIBELUNGEN LIET. benun ENEIDT. Hier hat, merkbar GOT AMUR. wie gesagt, macht. Bodmers PARCIVAL. Myller . DER ARME HEINRICH. „Kriemlebte der VON DER MINNEN. hilden · Zuversicht, . DIS IST VON DER WIBE LIST. Rache" daß „so. DIS IST VON DEM PFENNINGE. Erwäh lange die nung nicht Teutsche GEINDIGIT I M ANFANG DES FEBRUARS 1784 erfahren: Sprache ein VerDen erhabenen, hohen und vortrefflichen GOENNERN, deren Liberalität wir die Ausgabe von einer sehen, das menschdiefes Gedichtes fchuldig find, fage ich hiermit im Namen des Publicums den gehorſamſten Dank. aber die lichen Hier ſchlieffe ich denjenigen namentlich ein, der uns eine durch koftbare Verwendungen erhalgleich dar- tene Copie diefes Gedichtes überlaſſen hat, ich meyne den Beförderer alles edeln und guten, den Zunge ge= auf erschie Herren BODMER, deffen Namen kein Deutſcher ohne Rührung der Dankbarkeit nennen follte. sprochen nene deutMöchte er bald Deutſchlands alte Dichter gerettet und feine langen Bemühungen gekrönet fehen ; wird, dem ſche Ueber- möchte er fo lange leben, *) und feines Lebens genieffen. Berlin, den VIII. O& tober MDCCLXXXII. gegen= setzungvon wärtigen *) Geboren a 1698 Ebeling Jahrhun die dert (,,Kurze Geschichte Erkennt der deutlichkeit schen aller folCHRISTOPH HEINRICH MYLLER. Dichtgenden Profeñor der Philofophie und Gefchicine am Käniglichen Gyrenafium. kunst") erzufallen Verkleinerte Nachbildung des Titels und der letzten Seite der Vorrede von Myllers fannte, werde." Sammlung deutscher Gedichte, Band I. und durch Nicht nur eine dahinzielende Anmerkung gut zu machen das ganze Nibelungenlied, sondern auch andere suchte. Daß jedoch Ebeling ,,Kriemhilden Rache" Dichtungen des schwäbischen Zeitalters , sollten näher kannte, läßt sich aus der Art, wie er die nacheinander durch den Druck veröffentlicht werden. Bemerkung macht, nicht ersehen. Es war damals allgemeine Gewohnheit, alles , was aus dem Eine ?? Sammlung deutscher Gedichte aus "schwäbischen Zeitalter" bekannt wurde, unter dem zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ", auf drei Bände bezeichnet, war ins dem Namen „Minnesänger“ einander gleich
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Werner Hahn.
helm II . mit sechs Louisdor. Die Zahlung von drei Louisdor war vielfach gewählt. Doch hatten sich auch einige, darunter der Verfaſſer Die ersten Verbündeten , die Myller für des „ Philosoph für die Welt “ Engel, und der seine Absicht gewann , waren Bodmer und damals schon beliebte Liederkomponist Reichardt, Boie: Bodmer , der durch seine Stellung in mit einer Zahlung von 1 Thaler 8 Groschen der Schweiz für die Erlangung von Hand- begnügt. Den Sommer des Jahres 1782 hinschriften besonders wichtig war , und Boie, durch wurde der Druck des Nibelungenliedes der durch Fürsprache und Vorbereitung des besorgt, dabei 500 Exemplare abgezogen. Am Unternehmens in dem von ihm redigierten 23. Oktober lieferte Spener in Berlin, der „Deutschen Museum" starke Hilfe leistete. Eine Drucker, die Auflage ab. Gesellschaft sollte gegründet werden . Wer ihr Der Nibelungen Liet , ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert. beitrat , verpflichtete sich zu dreimaliger Zahlung von drei Louisdor in Jahresterminen. Zum ersten Male aus der Handschrift ganz abgedruckt. 1782. Wenn sich dreißig Teilnehmer fänden, hielt In Groß-Quart Format war es abgedruckt Myller das Unternehmen für gesichert. Er und umfaßte 152 Seiten. selbst war der erste , der die Zahlung leistete. Bald gingen Meldungen ein. Als besonders Die Pflichteremplare an die Mitglieder bereitwillig traten Gleim in Halberstadt, der Geſellſchaft wurden versandt. König Friedrich II . vor allen empfing mit einem unterProfeſſor Bernouilly in Berlin, Staatsminister von Schlieffen in Kassel hervor. Bodmer thänigsten , französisch abgefaßten Schreiben Myllers (vom 19. Oktober 1782), das Dedikaversprach die Abschrift des Nibelungenliedes tionsexemplar. Die Akten der Kabinetsvorträge auf seine Kosten. Man fing an, die Herausund Beschlüsse aus dieser Zeit sind noch vor gabe für gesichert zu halten. König Friedrich II. handen. Da findet sich neben dem Auszug von Preußen wurde (14. Dez. 1780) um die Erlaubnis der Dedikation angegangen : eine Erdes Briefes von Myller des Königs Randbemerkung gut " . Infolge davon erging unlaubnis, die umgehend (15. Dez.) erteilt wurde. gesäumt die vom Kabinettssekretär Eichel aufAber dem muntern Anlauf entsprach der gesetzte französische Antwort , worin in sehr Fortgang nicht. Noch immer war nicht genug höflicher Weise die Befriedigung über die Geld vorhanden , um die Vollendung des Zusendung ausgesprochen und dem Unternehmen Werks mit Zutrauen erwarten zu können. Am 9. April 1781 waren es nur hundert guter Fortgang gewünscht wird. Dem Könige Thaler, die einstweilen auf der Berliner Bank wird es eine Freude sein, zu erfahren , daß niedergelegt wurden. Man bedurfte mehrerer seine Zustimmung den Profeffor Myller in Neue Veröffentlichung in Zeit der Fortsetzung der litterarischen Forschungen Zuschüsse. ſchriften und auf fliegenden Blättern fand | unterstüße. unterſtüße. ( Je serai bien aise , si mon statt. Um größeren Erfolges sicher zu sein, suffrage vous sert d'encouragement , à continuer vos recherches littéraires . ") beschloß man auch kleinere Anteilzahlungen zu Ich muß hier unterbrechen. Der Wunsch, gestatten. Die kleinste war auf 1 Thaler 8 Groschen gestellt : auf den Preis , für den den Verlauf der äußeren Dinge, die um des hernach als Gegenleistung die Einlieferung Werkes willen in Bewegung gesetzt waren, bis zu einem Ruhepunkt zu führen, hat den Leser eines Exemplares versprochen wurde. Aus der Rechnungsablegung, die nach der Druckvollen- von dem inneren Verhalt des Werks zu sehr dung des ersten Teiles der Sammlung von fern gehalten. Myller im Oktober 1782 ausgegeben wurde, Bodmer, wie oben angegeben , hatte es sind 158 Exemplare zur Verteilung gekommen. übernommen , die Abschrift auch derjenigen Unter den zahlenden Teilnehmern stand mit Teile der Hohenemser Handſchrift zu beſorgen, 10 Louisdor Staatsminister von Schlieffen die er vordem unberücksichtigt gelassen hatte. obenan und zwar mit der ausdrücklichen Be- Vorerst galt es, der Handſchrift nur überhaupt merkung, daß er nur sechs Exemplare bean- wieder habhaft zu werden. Es war im Jahre spruche; daran reihte sich der Prinz von 1779 , als die ersten Bemühungen deswegen Preußen, nachmaliger König Friedrich Wil- betrieben wurden. Da zeigten sich auf dem Auge gefaßt. Dem Nibelungenlied war darin der erste Abschnitt im ersten Bande eingeräumt. (S. Abb. S. 85.)
Das Nibelungenlied im Jahre 1782.
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Schlosse von Hohenems ganz andere Verhält | ordnet in großen Haufen, wie geschrieben wird , „ faſt vermodernd “ übereinander. Es war schwer niſſe und Zustände, als vor dreiundzwanzig Jahren der Sache dienlich gewesen waren . sich darin zurechtzufinden. Derselbe Wocher, dem Der lezte Graf von Hohenems war gestorben. Bodmer vor Jahren die Entdeckung verdankte, Das Schloß gehörte zum Besiß der Erbtochter erwies sich wieder als willfährig. Persönlich bedes Hauses, die an den Grafen Harrach vergab er sich aufs Schloß. Endlich, nach langem mählt war. Graf Harrach hatte über die Suchen, kam das Nibelungenlied in seine Hände. Es war aber nicht dieselbe Handschrift, Bibliothekschätze einen Beamten gesezt , der in allen Wiſſenſchaften sich als „ Fremdling" zeigte. deren Bodmer sich vordem bedient hatte. Die Handschriften und Bücher lagerten ungeDie Verschiedenheit beider Handschriften.
Weilheit ,von denen Gedichtege urtheilt,vielzu vortheil Er urtheilt hest,non Hochgelähſter, lieber getenuer. In Bereigerung der Teut,chem. 2. 12. 16.und14 secule, Coren ,Cordeihr unswonder Shabet, Grecheſobrainschrhaltet.Meiner ſichtnach, ut Achenichteinen Schußspulver, ་་་ werden.Fer weech ;ünderedienſtennicht chleuteder aus dem Burger Beckert,gezegen Meitner Bücher demantung wenigſtend, würde ich, veralteichen alverdeszäägnicht 1 üülten inoldernheräine, Hewißen.Das wir dieren eingeſendteHennebermagdezen, Fin Fizikesort,inder dortigen ger den Bibliothes .Abnerten dute Nuch.Frege verchricht. abersolchen micht;fürs FustguädigerKönig. རི 1 : ད འའའ བཏུ རིམ ན དུ beüer 1794 Brief Friedrichs des Großen an Profeffor Myller. (S. 88.) war zu groß, als daß sie nicht sofort hätte bemerkt werden müssen. Zwar auch eine Pergamenthandschrift, aber nach allen Seiten von jener früher benutten abweichend . Nichts von Kunst in der Schrift , nichts von Kostbarkeit in der Ausführung. Bloß um der Sache willen, scheint es, ist geschrieben. 58 Blätter in Folio sind eng gefüllt. Was das Techniſche der Schreibweise betrifft, ist nur ein Merkmal vorhanden, wodurch sie sich vor C auszeichnet. Die Verse sind hier nicht wie dort durch einen Punkt , sondern (in unserer heutigen Weise) dadurch voneinander getrennt, daß sie auf der Linie abgesezt werden. Stellenweise trägt die Schrift Spuren großer Flüchtigkeit, besonders gegen die Mitte. Hernach wird sie wieder sorgfältiger. Es iſt die Handſchrift, die man in ſpäterer Zeit, teils nach den beiden Aufenthaltsorten, dem ersten, wo sie gefunden, und dem zwei ten, wo sie jezt aufbewahrt wird, die Hohenems Münchener Handſchrift benannt, teils kurz mit dem Buchstaben A bezeichnet hat. (S. Abb. S. 84.) Nicht bloß diese äußeren Abweichungen, sondern auch, daß im Wortlaut Verschieden heiten obwalten, mußte Bodmer sofort merken. Ihrer sind zu viele und zu bedeutende. Sie drängen sich der oberflächlichen Vergleichung auf. Ein Gutes war mit dieser Entdeckung immerhin verbunden. Die Lücke, die in C störend
gewesen war, fonnte nun ausgefüllt werden. Wohl oder übel, wie man die Sache ansehen mochte, Bodmer mußte sich mit dem begnügen, was ihm geboten war. Die Abschrift des ersten Teiles (bis zu der Stelle, wo der Druck vom Jahre 1757 begonnen hatte) wurde nach A besorgt. Bei der Uebersendung derselben, im Frühjahr 1781 nach Berlin , unterließ Bodmer nicht , den Sachverhalt mitzuteilen. Myller leider that in dem, was seiner Beeinen sorgung anheimfiel, einen Schritt großen großen Schritt Schritt weiter. weiter. Er verschwieg nicht bloß den Ursprung des . Gedruckten aus zwei verschiedenen Schreibquellen, sondern bezeichnete geradezu das Gedruckte als aus Einem pergamentenen Koder herrührend. Jahrelang waren die Gelehrten dieser Unrichtigkeit preisgegeben. Erst 1807 besaß Jakob Grimm die Sicherheit des Blicks, daß er die Zuſammensetzung der Myllerschen Ausgabe aus zwei Handschriften behaupten konnte, ohne freilich damals schon die Handhabe zur nähern Feststellung zu haben. Erst drei Jahre später hat v. d . Hagen vollständige Aufklärung darüber gegeben.
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Werner Hahn. Das Nibelungenlied im Jahre 1782.
Was die Druckeinrichtung betrifft, so wählte | Zweifel gehegt worden, durch zwei nicht unMyller die Darstellung der Verse nach dem wichtige Umstände unterſtüßt ; teils, daß in den Vorbild der zweiten Handschrift. Jedem Verse, Kabinettsakten Andeutung davon nicht enthalten d. h. dem zweigeteilten Langverse, wurde eine ist, weder eine Anlage des Sekretärs, noch ein besondere Linie gegeben. Vermerk in den Auszügen aus den laufenden persönlichen Vorträgen, teils durch den WiderDas Nibelungenlied, wie mangelhaft immerhin, war nun doch im Drucke wieder vorhanden, spruch dieser Aeußerung des Königs in Sprache, Ton und Gedanke gegen jene aus dem Oktober jedem zugänglich. Und — fragen wir, welche Wir1782. Zarnde sagt jedoch : „ Genauere Unterfungensichunmittelbar darauf wahrnehmen ließen! Als Wichtigstes, jedenfalls als Intereſſan= | suchung des Originals hat ergeben, daß an testes wird in ausführlicher berichtenden Litte- der Authentizität desselben nicht zu zweifeln ist. “ Dürfte einem Zweifel Raum gegeben werraturgeschichtswerken gewöhnlich die Anekdote von dem jezt in Zürich unter Glas und den, so müßte an eine Mystifikation gedacht werden : an den unsauberen Uebermut entweder Rahmen bewahrten Briefe Friedrich des Großen eines Mißachters der Bestrebungen, denen Myller erzählt, worin dem Nibelungenliede nicht der Wert " eines Schusses Pulver" zugesprochen sein Leben gewidmet hatte, oder eines Neiders sein soll. „ Anekdote“ sage ich. Denn in der des Ruhmes, den er zu ernten im Begriff war. Denn allerdings die Sache stand nun aufArt, wie gemeinhin darüber berichtet wird, muß vieles teils genauer, teils überhaupt richtig | fallend anders als vor anderthalb Jahren. gestellt werden. Selbst in der Litteraturgeschichte Die Zahl der Teilnehmer war gestiegen. Sechs Robert Königs, die an dieser Stelle (in Betreff Reichsstädte und dreizehn Universitäten hatten sichverpflichtet. Die Geldmittel waren vollauf da. des mitgeteilten Handschrift Faksimiles ) unter Freilich, gegen die Zahl derer, die, in der Beihilfe desjenigen gelehrten Forschers gearLitteratur mit ihrem Urteil hervortretend, entProfessor Zarncke in Leipzig, der zum beitet ist erstenmal mit gewissenhafter Genauigkeit und vollweder gleichgültig an den Mitteilungen vorüberſtändiger Quellenangabe die Richtigstellung der gingen, oder sich dagegen aussprachen, war es Sache bewirkt hat —, ist der Thatbestand, welimmer nur noch eine kleine Gemeinde, die zu cher das Nibelungenlied betrifft, ungenau gegeben. Johann Christoph Adelung Myller hielt. äußerte sich 1784 (im zweiten Bande seines Der wohlwollend zustimmende Brief des Königs, der auf die Zusendung des Nibelungen„Magazin für die deutsche Sprache“ ) in demselben Sinne , wie dieses Königsschreiben. lieds erfolgte (Oft. 1782) , iſt oben erwähnt. Myllers Sammlung nahm darauf ungestörten Er nannte die Gedichte „schal , weitſchweifig, Fortgang. Ein halbes Jahr darauf ( April 1783) | gedehnt, matt, unpoetisch.“ Herder geſteht noch 1793, daß er von den " langen epischen Ge wurde der zweite Teil des ersten Bandes versandt. Es war dem Prinzen von Preußen dichten " die wenigsten gelesen habe. Klopstock gewidmet und enthielt zwei Reste der mittelwar ihnen bis an seinen Tod nicht nahe getreten. Wieland gab sofort nach Erscheinen. alterlichen Poesie : ein allegorisches Gedicht des des Nibelungenliedes in seinem „Merkur" eine vierzehnten Jahrhunderts „ Gott Amur" und das ritterlich höfische Epos „ Eneidt “ aus dem Ankündigung und begleitete sie mit wohlwollenman kann sagen – Phrasen, gibt auch den Schluß des zwölften Jahrhunderts . Beinahe ein Jahr dauerte es nun , bis der Schlußteil das Versprechen , „ ſeinen Lesern ein andermal von diesem Liede eine nähere Notiz zu geben," des ersten Bandes , Parzival enthaltend , aus der Druckerei fertiggestellt war. Er war „ Bodläßt es aber beim Versprechen. Bei Goethe blieb das Exemplar, das Myller ihm persönmers Schatten" gewidmet. Der Erwecker und lich übersandte, ungelesen. langjährige Pfleger dieser Bestrebungen war Es mögen außerdem mancherlei entmutiim Alter von 85 Jahren am 23. Jan. 1783 gestorben. Vom 10. Februar des Jahres 1784 an gende Ereignisse eingetreten sein , von denen. fanden die Versendungen dieſes Schlußteiles statt. Unter dem Eindruck dieser Zusendung des Parzivalistjenes Schreiben des Königs entstanden, das umstehend in Faksimile-Nachbildung zu lesen ist. Es sind an der Echtheit dieses Schreibens
sich Kunde nicht erhalten hat. Kurz, Myller kündigte im August 1785 den Schluß des Unternehmens an, nachdem soeben erst der zweite Band fertig aus der Druckerei hervorgegangen war. Myller zog sich zwei Jahre
Edwin Bormann. Aprilliedchen.
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darauf aus seinen Berliner Verhältnissen zu- | Aufklärung über das germanische Altertum rück und begab sich, den Rest seines Lebens geworden ist. Heute hat ein Jeder Gelegenheit, in Ruhe zu genießen, in sein Vaterland. Der das Nibelungenlied teils in der Ursprache, Stadt Zürich ist bei seinem Tode ( 1807) sein teils in Uebersehungen kennen zu lernen. litterarisches Eigentum zugefallen. Hat sich das Urteil nun geklärt ? Hat man Dies ist die Geschichte des Eintritts des die Handhabe zur Unterscheidung der HandNibelungenliedes — nicht ins deutſche Volk, wohl | schriften , zur Wertschäßung ihrer Abweichunaber in einen Teil der gelehrten Kreise desselben. gen in Betreff des Liedes, das sie enthalten, zur Unmittelbar nach dem Beginn des UnterFeststellung des Liedes aus den Handschriften, zur Einreihung des Liedes in die Geschichte nehmens geriet die Sache wieder ins Stocken. der Poesie, in das Leben der Dichter gewonnen ? Es dauerte Jahrzehnte lang, bis sie langsam Noch immer stehen Parteien einander neue Freunde an sich zog. Allmählich aber gegenüber. Sie stüßen sich auf drei Handtraten ſie nun in immer größeren Maßen hinzu . Ein halbes Jahrhundert war vergangen, schriften : außer jenen zwei näher beschriebenen da begann das Lied ein ergiebiger, mächtiger noch auf B, d . i. die sogenannte St. Galler. und lebendiger Mittelpunkt für viele zusammen Sie halten ihr Panier noch immer gegeneingehende, großartige Bestrebungen , nationale, ander. Nicht daß sie noch mit neuen Mitteln künstlerische und wissenschaftliche, zu werden. und mit sich steigernden Kräften kämpfen! Zu gleicher Zeit aber erhoben sich in der Jede führt ihre Ansichten bis auf Silben und Wiſſenſchaft auch Kämpfe, nicht vereinzelte und Buchstaben aus ; aber die Gründe, deren man gelegentliche, sondern prinzipielle, hartnäckige, sich zur Stüße derselben bedient, gelten nur um alles , was irgend an einem Liede sich innerhalb der Partei. Jede rühmt sich des unterscheiden und näher bestimmen läßt : Kämpfe Sieges, mißachtet die andere als überwunden. über die Art , Gattung und Form der Dich Univerſitäten haben sich, je nach ihrer Hintung, über den Wert der allmählich mehr und neigung hierhin und dorthin, gegenübergestellt. mehr entdeckten Handschriften, über das VerStehen wir mit dieser kampfgerüsteten hältnis der Dichtung zur Geschichte des Volkes, und doch kampfermüdeten Teilung am Ende zum Mythus und zur Sage der Vorzeit, über dessen , was das Nibelungenlied der Wissendie Einreihung, ſei es des Liedes , sei es der schaft aufgibt ? am Ende deſſeu, was die Wiſſenverschiedenen Handschriften in die Zeit des schaft dem Nibelungenlied gegenüber vermag? 12. , 13. oder gar 14. Jahrhunderts . Beschränkt waren die Mittel und Kräfte, mit denen die ersten Schritte zum Werk der Aprillied chen. Zukunft damals gemacht wurden. Sind sie Bon jezt, nachdem hundert Jahre vorübergegangen Bormann. Edwin sind, groß und weit geworden, um endgültige Resultate zu erzielen ? Mit Täuschungen und auffallenden Unzulänglichkeiten trat das NibeDer Regen rauscht hernieder Und dunkle Wolken zieh'n lungenlied aus der Vergessenheit wieder hervor. Wo eben lufterweckend Haben wir jest Sicherheit und Umfaſſung des Die Frühlingssonne schien. Urteils, um der Täuschung überhoben zu sein ? Bald glüht mein Herz und leuchtet Damals that man den ersten Blick in eine Im Ingendsonnenschein ; Bald brausen Lenzestürme, völlig neue Welt. Man hatte noch gar keine Bald zischen Blite drein. Möglichkeit zur Feststellung eines Urteils . Nur Mag fürmen noch und brausen empfindend, entweder zustimmend oder ablehnend, Was immer branfen will! fonnte man sich dem Liede gegenüber verhalten. Das Jahr ist jung - ich selber Bin noch ein Stück April. Man that es, wie immer die Empfindung eintritt, unwillkürlich. Heute steht man am Ende eines Zeitalters, dessen emsige Arbeit der Aufstöberung und Wiederherstellung der handschriftlichen Schäße im weitesten Umkreise gewidmet war , und das außerdem reich an
Schon duften junge Blüten, Schon hebt die Bruft sich frei; Schon naht mit leisem Gruße Dein holder Bauber, Mai!
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F. Ch. B. Avé-Lallemant.
fahren sei , und daß sich dazu noch fünfzehn leichtfertige Abenteurer als Passagiere hinzugesellt hätten. Mitten auf dem offenen Meere F. Ch. B. Avé- Lallemant. brach ein schweres Unwetter herein , das dem Schiffe den Untergang drohte. Der Schiffsfapitän bestand nun darauf, daß zur Erleichte em Kenner unseres deutschen Kulturlebens, Dem der einen weiteren Blick in die Kulturrung des Schiffes und zur Abwendung der drohenden Todesgefahr die Hälfte sämtlicher und Litteraturgeschichte des deutschen Volkes dreißig Passagiere über Bord geworfen werden noch vor und seit dem Mittelalter gethan hat, entgeht nicht der große Einfluß , den die spe- sollte. Der weise Aben Esra begriff, daß zifisch jüdische Litteratur, sogar auch mit ihrer gegen den Machtspruch nichts eingewandt werKabbala , als der auf Grundlage der orien= den könne, und daß es besser sei, wenn fünftalischen Emanationslehre baſierten und erst seit zehn über Bord geworfen würden , als daß dem 12. Jahrhundert philoſophiſch weiter ausalle dreißig umfämen , schlug aber die Entgebildeten jüdischen Geheimlehre , gehabt hat. scheidung durch das Los vor , wozu er die Oft wird er auch selbst auf das Seltsamste Genehmigung des Kapitäns erhielt. Aben Esra stellte nun alle dreißig Passagiere in einen überrascht , wenn er in den bis zur Unkennt lichkeit entstellten alchymistischen und anderen. Kreis nach folgender Ordnung : Bier Schüler, fünf Abenteurer, zwei Schüler, abergläubischen und Zauberformeln die kaum geahnte Grundlage jener Lehre findet und mit der ein Abenteurer, drei Schüler, ein Abenteurer, ein Schüler, zwei Abenteurer , zwei Schüler, weiten Verbreitung durch das Volk den echten spezifisch deutschen Typus des Volksaberglaubens, drei Abenteurer, ein Schüler, zwei Abenteurer mindeſtens auf den ersten Blick, ausgeprägt zu und zulezt zwei Schüler und ein Abenteurer. Bezeichnet man die Schüler mit A und die finden glaubt. So ging es noch im vorvorigen Jahre bei der von dem bedeutenden österreichischen | Abenteurer mit B , so ergab sich die Stellung Historiker von Krones teilweise publizierten schematisch so : AAAA . BBBBB. AA. B. AAA. B. A Handschrift des Criſchtoffenn Schtanngel BB . AA . BBB. A. BB . AA. B. ( Khunst vnnd erzenney püechel " ) von 1545, in welcher als Mittel für die Entdeckung des Zählt man nun von dem ersten der vier Diebes im Traum ein unter das Kopfkissen voranstehenden Schüler bis zum neunten Paſſazu legender Zettel mit der Inschrift : gier, schießt diesen aus und zählt weiter bis BZOMBTOXILA zum neunten, bis zuleßt fünfzehn ausgeschoſſen empfohlen wird. sind, so findet sich, daß sämtliche Abenteurer Eine namentlich im 17. Jahrhundert, be- (B) ausgeschieden und die Schüler (A) am sonders im dreißigjährigen Kriege, weit durch Leben erhalten worden sind. das Volk verbreitete Spielerei hat die gleiche Der eigends hierfür zuſammengeseßtehebräiEntstehung , oder ist mindestens der Kabbala sche Vers läßt sich hier nicht wiedergeben , so nachgeahmt, in welcher, als bezeichnender Grundwenig wie er volkstümlich werden konnte. Bei zug, die Buchstaben des hebräischen Alphabets, dem Interesse , welches das Schema aber im welche nach der Reihenfolge auch einen bestimmVolke erregte, fand man den lateiniſchen Herameter heraus : ten Zahlenwert haben , nach ihrer doppelten Populeam virgam mater regina tenebat ¹), Geltung entweder als Buchstabe oder als Zahl oder den deutschen Vers : beliebig umgestaltet und zusammengefügt wer"" Eo du etwan bist gefallen hart, den. Der berühmte Grammatiker Rabbi Elias Steh widr, Gnade erwart. " Levita, Bachur genannt († 1549 hochbetagt zu Venedig), erzählt am Schluß seines Werkes 1) Wahrscheinlich nach diesem alten Hexameter Sepher Harkabah, daß der als Kommentator, ist der Pappel (populus alba) und deren Knospen Grammatiker, Philoſoph, Arzt, Dichter, Kabba- die Eigenſchaft als wichtiges Ingredienz zur Herensalbe (vergl. „ Der Magnetismus " a. a. D. S. 42) list und Astronom hochberühmte Rabbi Abraham beigelegt worden , wie denn auch namentlich viele Ben Rabbi Meyer Ben Esra, gewöhnlich Aben Verſe des Virgil zu Zauberſprüchen und Orakel Esra genannt (12. Jahrhundert) , einmal mit herhalten mußten. (Vgl. Peuschel, Physiognomie 2c. fünfzehn seiner Schüler über das Meer ge- Leipzig 1769. S. 397). Zur populären Von
Kabbala.
Bur populären Babbala.
In diesen beiden Versen galten die fünf Bokale als Zahlen, also : a = 1, e2, i = 3, 0 = 4 und u 5. Weiter variierte man eben auch nach den Vokalen, sobald man die siebente Person ausschießen wollte, nach dem Hexameter: Rex anglicum gente bona dat signa serena. Oder nach dem deutschen Vers : „Es war in uns Elend ohn Maß, Aber Christ hat geendet das. " Andere Schriftsteller des 17. Jahrhunderts führen nun dieselbe Geschichte zwischen 15 Chriſten und ebensoviel Türken oder Juden auf. So ſagt der „ Schauplaß der Betrieger" (Hamburg 1687) S. 237 : „Die Regel dazu zu Zum Exempel der finden ist nicht schwer. Personen waren 12 und der 11 sollte allemahl sterben , so mache 12 Strichlein in einen Circul, und fange an zu zehlen wo du wilt, durchstreich allezeit das Eilffte , bis 6 davon ausgetauscht sind, so wirſtu folgende Ordnung überkommen :
2 Unschuldige 1 Schuldiger 1 Schuldiger 3 Unschuldige 4 Schuldige 1 Unschuldiger." Der erwähnte Schauplatz der Betrieger handelt S. 238 die Sache noch viel weitläuftiger ab, namentlich nach Egesippus Buch 3 Kap. 18 und Josephus Buch 6 Kap. 71 und 72 mit der Kasuistik des letteren aus seinen, Josephus, Erfahrungen bei der Zerstörung Jerusalems durch Titus Vespasianus, Eine sehr ernste praktiſche Seite, auf welche auch der „ Schauplag" hinweist, gewann dieser Schematismus im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert beim Arkebusieren menterischer Kriegs- und Landsknechte, wenn die Meuterer nicht bestimmt ermittelt werden konnten,
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die 24 Nonnen je drei in den acht Zellen nach den Außenseiten des Klosters wohnten, nach folgender Ordnung : 3. 3. 3. 3. A. 3. 3. 3. 3. so daß sich stets neun Nonnen auf jeder Seite befanden. Während die Aebtissin mittels täglicher strenger Kontrolle die eingeführte Ordnung aufrecht erhielt , gelangten eines Tages vier Studenten vor das Kloster und erhielten, als Nonnen verkleidet , heimlich Einlaß zu den Nonnen. Die Verteilung dieses Zuwachses geschah nun so, daß jedesmal in den mitleren Zellen fünf Nonnen und in allen Eckzellen zwei sich befanden, also 2. 5. 2. 5. A. 5 . 2. 5. 2. und sich nun in jeder Zellenreihe neun Nonnen befanden. Als schließlich die vier Studenten Langeweile im Kloster empfanden , machten sie sich heimlich davon unter dem Geleite von vier Nonnen. Nun verteilten sich die zurückgebliebenen zwanzig Nonnen wieder in anderer Weise, damit in jeder Zellenreihe neun gezählt werden fonnten, nach folgender Ordnung: 4. 1. 4. 1. A. 1 . 4. 1. 4 .
schließt der , Schauplay ' in „Solchergestalt ―― waren die vier Studenten behaglichem Ton nicht allein, sondern auch noch dazu vier Nonnen aus dem Kloster hinweg und fand die Aebtissin doch einmal wie das andere auff jedem Viertel des
und dann der zehnte Mann, ob schuldig oder unschuldig, aus den aufgestellten Reihen büßen mußte und wobei dem Blick und der Gunst des Profoßen wohl ein weiter Spielraum gegeben sein mochte, wie man aus Leonhard Frunspergers Kriegsbuch (Erfurt 1596) und E. 25 fg. der guten alten Zeit" von Scheible
Klosters ihrer neun und konnte nichts merken; Vnd wenn sie gleich fragte, warumb denn bald drey, bald vier, bald fünff, in dieser oder jener Zelle sich befinden ? Gaben ihr die Nonnen zur Antwort , fie giengen je bißweilen aus jederem Viertel aus einer Zell in die andere zusammen und beteten miteinander. Also kunte die Aebtiſſin auf ſolche weise auch nichts weiteres aus der Sache machen, sondern mußte damit
(1847) ersehen kann und auf der Tafel 1 dazu bildlich dargestellt findet.
zufrieden seyn , wann sie nur jederzeit auff jederem Viertel ihre neun Nonnen fand, wurde
Eine fernere und komische Spielerei teilt nun aber der „ Schauplay“ noch S. 543 mit. In einem Nonnenfloster wohnten 24 Nonnen mit einer Aebtissin. Erstere hatte in der Mitte des viereckigen Klosters ihre Zelle inne, während
also die gute Aebtißin durch der Studenten und der Nonnen Liftigkeit stattlich veriret, und bekamen die vier Studenten ein gut Viatikum aus diesem Nonnen-Kloster. "
A. Bunkel.
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Weber ansteckende Krankheiten . Von
A. Kunkel.
uf einem Gebiete der praktischen HeilAuf kunde hat in der letzten Zeit der stille Fleiß der Gelehrten aussichtsvolle Früchte getragen: es ist dies das interessante Kapitel von der Entstehung der ansteckenden Krankheiten. So merkwürdig es für den Laien auch klingen mag, die eigentliche Wirkungsweise der Heilmittel hat für uns noch viele dunkle unaufgeklärte Seiten , und was wir von den wertvollsten Errungenschaften in unserem Arzneiſchaße besitzen, verdanken wir zum guten Teile nicht der klaren wissenschaftlichen Erkenntnis , sondern dem glücklichen Griffe eines sanguinischen Arztes. Daß Morphium und Chloral schlaferregend, Chloroform betäubend, Chinin gegen das Fieber wirkt, ist nicht etwa aus der chemischen Natur dieser Stoffe und unseres Körpers zuvor abgeleitet worden, im Gegenteil: die eigentümliche Wirkſamkeit dieser Medikamente ist auch jezt noch nicht voll und ganz aufgeklärt. Durch einen glücklichen Zufall wurde gelegentlich von einem kühnen und nüchternen Mann ein solcher Fund gemacht, und was so im Laufe der Jahrhunderte von den Geheimniſſen der Natur gleichsam weggestohlen und zusammengetragen wurde , das macht einen wesentlichen Teil des wertvollen Inhaltes unseres jezigen Arzneischazes aus. Daraus ſollen aber nur die Laien nicht einen Vorwurf für die medizinischen Gelehrten ableiten. Denn wenn auch jezt noch ein fleißig gebautes Feld nicht in der gehofften Weise fruchtbar ist, so trägt das anliegende Stück Land um so reichlichere Frucht und kann nicht morgen schon auf dem ersten die Saat so auf gehen, daß wir bald reiche Ernten einführen können ? Wir werden selbst durch spätere Mitteilungen unser oben ausgesprochenes, in dieser Kürze hart erscheinendes Urteil wesentlich mildern müſſen. Anderseits aber werden gerade die nachfolgenden Mitteilungen über ansteckende Krankheiten eine glänzende Ehrenrettung für die Bestrebungen der wissenschaftlichen Forschung sein ; selbst für den, der nur die greifbaren Früchte am Baume der Erkenntnis gelten läßt. Daß die ansteckenden Krankheiten, wie Masern, Pocken, Diphtheritis u. s . w. durch
Uebertragung eines schädlichen Stoffes auf den gefunden Organismus entstehen , ist eine so sichere und unbezweifelbare Beobachtung, daß alle Welt damit als mit einer gut beglaubigten Thatsache rechnet. So alt und allgemein aber auch diese Erkenntnis ist , so war doch die Frage nach der Natur dieses auſteckenden Stoffes bis vor kurzer Zeit noch eine ganz offene. Man hatte sich mit allerlei Mutmaßungen beholfen, die aber bei der damals noch beſtehenden Unmöglichkeit eines sicheren Beweises eben Mutmaßungen blieben. Wir wollen die Periode des langen Streites , der über diesen Punkt unter den Gelehrten sich entspann und aus dem allmählich die Wahrheit sich erhob, hier überschlagen und von all dem, was wir jest Sicheres wissen , das Interessanteste hier wiedergeben. Bei einer Reihe von ansteckenden Krankheiten hat man im Organismus der Erkrankten außerordentlich kleine, lebendige Gebilde angetroffen , die im gesunden Körper nicht aufzufinden sind und denen man insgesamt den Namen Bakterien (Stäbchen) gegeben hat, weil dies ihre gewöhnliche äußere Form ist. Man rechnet sie zu den Pilzen und nennt sie speziell Spaltpilze. Sie sind von außerordentlicher Kleinheit, so daß sie nur mit den stärksten Vergrößerungen unserer Mikroskope geſehen werden können und dies bedingt hauptsächlich die Schwierigkeit ihrer genauen Beobachtung. Sie sind ungemein lebenszähe und vermehren sich, wenn sie einen günstigen Nährboden gefunden haben, außerordentlich rasch , in der Art gewöhnlich , daß ein größeres älteres Stäbchen in mehrere kleinere (meist unter eigentümlichen Gestaltsänderungen, Sporenbildung) sich zer= teilt. Das Vorkommen dieser Körperchen in bestimmten Krankheiten und das Auftreten immer derselben Form in derselben Krankheit ist durchaus konstant, so daß ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Krankheit des befallenen Organismus nicht mehr geleugnet werden kann. Nun könnte man aber sagen, diese Gebilde sind nicht die eigentliche Krankheitsurſache ; ſie sind nur etwas Zufälliges , weil sie eben in dem kranken geschwächten Körper leichter aufkommen als in dem gesunden. So finden wir in dem morschen Holze eines alten hohlen Baumes immer eine Menge von Insekten und Insektenlarven . Würde man gleich folgern, diese Insekten seien die Ursache der Trockenfäule des Baumes, so wäre das ein sehr vor-
Weber ansteckende Krankheiten.
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eiliger und auch unrichtiger Schluß. Denn sie in einen empfänglichen Organismus gelangen, und zwar auch thatsächlich muß der Baum zur Ansteckung. Sie beginnen jetzt in dem wieder durch eine Pilzansteckung - frank sein, | infizierten Körper, in dem sie einen geeigneten ehe gewisse Insekten , die von dem morschen Nährboden finden, zu wachsen und sich zu vermehren. Von der anfänglich geringen Zahl Holze leben, sich darauf ansiedeln können. Man wird leicht erraten , wie hier durch den Verleidet der Organismus nur wenig und ist darum scheinbar gesund. Erst wenn die Ansuch der Entscheid gebracht wird . Man muß häufung durch immer rapidere Vermehrung zusehen , ob man durch Uebertragung des weiter und weiter geht, wird der Organismus Schmarozers auf gesunde Individuen die frankhaften Erscheinungen künstlich hervorrufen kann. in seinen normalen Verrichtungen allmählich mehr und mehr gestört und endlich kommt die Diesen Versuch hat man nun an Tieren Krankheit zum vollen Ausbruche. Die tiefen hundertfach mit dem erwarteten Erfolge ausStörungen, die sich in dem befallenen Körper geführt. Man hat gefunden Tieren das pilzausbilden, werden von den sehr lebensfähigen haltige Blut franker Tiere eingeimpft und hat überall vorhandenen Schmaroßern hervorgerufen. so willkürlich die Krankheit immer von einem Die Mittel, durch welche der kranke Organis Tiere auf das andere fortpflanzen können. mus sich von den Eindringlingen wieder beAm Eklatantesten ist folgender Versuch. Für den Milzbrand, eine Krankheit unſerer Haus- | freit, sind uns noch ganz unbekannt. Vielleicht säugetiere, die von denselben auch auf den dafür spricht manche verwandte Erscheinung sind es die chemischen Stoffe , welche die Menschen übertragen wird, fennt man genau Pilze durch ihre Lebensäußerungen erzeugen, die ihm eigentümlichen Bakterien. Diese hat selbst wieder , die sie zuletzt zum Absterben man außerhalb des Organismus künstlich züchten gelernt und mit diesen künstlich gezüchteten bringen. Doch einerlei , sie verschwinden allBakterien konnte man mit fast sicherem Erfolge mählich, wenn die Krankheit mit Heilung endigt. Wenn nun auch der allgemeine Entwurf in gesunden Tieren Milzbrand erzeugen. Es dieses Bildes richtig erscheint , ſo ſieht man ist nun von großem Intereſſe, das Auftreten doch, wie viel noch an der ganzen Ausführung der Infektionskrankheiten sich genauer anzusehen, weil gerade in dem Verfolg der Einzelheiten fehlt , sowie man die Einzelfragen aufſtellt. Wir kennen noch nicht einmal die Wege sicher, die beste Probe auf die Richtigkeit unserer neuen Erklärungsweise liegt. Eine sehr merk- auf welchen die Bakterien in den Körper gelangen. Wir wissen, daß direkte Einimpfung würdige Erscheinung ist zuerst die, daß außer ins Blut und daß Einatmung der Bakterien ordentlich kleine Mengen des Giftes zur Anals Luftſtäubchen ansteckend wirkt, aber warum steckung genügen. Wenn jemand, der für das gewisse Krankheiten auf beiden Wegen, andere Pockengift empfänglich ist, nur wenige Minuten wieder nur durch direkte Aufnahme des Giftes mit einem Pockenkranken zusammenkommt , so in das Blut übertragen werden, und ob überist er höchst wahrscheinlich schon infiziert. Das haupt die angegebenen zwei Wege die einzigen Gift kann hier kaum in anderer Weise als staubförmig durch die Einatmung in den Körper sind , das sind alles noch ungelöste Fragen. Ebenso launig ist die ganz verschiedene Empfänggelangen ; wie außerordentlich gering ist hierbei lichkeit der Menschen für dieselbe Infektion. diese Menge. Noch rätselhafter und unerklärlicher mußte bisher das erscheinen , daß nicht | Manche können ungestraft tagelang mit Kranken verkehren, bei anderen wieder genügt die unmittelbar nach Aufnahme des AnsteckungsDoch stoffes auch die Krankheit ausbricht; immer flüchtige Berührung zur Ansteckung. wir wollen hier nicht Fragen aufwerfen, sondern vergeht bis dahin eine gewisse Zeit, meist eine Aufklärung geben und darum sei noch eine Reihe von Tagen, oft mehrere Wochen. Man Seite unseres Themas wegen der wichtigen nennt dieſes Intervall scheinbarer Gesundheit praktischen Aussichten hier kurz besprochen. die Inkubationszeit und sagt , die Krankheit Man hat in neuerer Zeit eine Reihe aufsei während dieser Zeit gleichsam nur verborgen ― latent im Körper. Die Er- fallender Versuchsergebnisse gewonnen, die mit verschiedenen längst feststehenden Erfahrungen flärung für beide Thatsachen ist uns jezt sehr nahe gelegt. Wenige Bakterien , die für eine gut übereinstimmen, und die uns die Aussicht eröffnen , neue Mittel zur Bekämpfung der gewisse Krankheit spezifisch sind, genügen, wenn
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A. Bunkel. Ueber ansteckende Krankheiten.
Ansteckungskrankheiten an die Hand zu bekombesteht also darin, daß wir dem menschlichen men. Das Wesentliche dieser neu gewonnenen Körper, der ganz eminent ansteckungsfähig für Einsicht ist, daß geringe Abweichungen in den die Menschenpocken ist , eine ganz harmloſe, äußeren Bedingungen, unter welchen diese Pilze örtlich verlaufende Form der Pockenerkrankung gezüchtet werden, ihre für Menschen und Tiere einimpfen und überstehen lassen, ihn aber dadurch schädlichen Eigenschaften durchaus verändern, seuchenfest für die furchtbare Erkrankung der so daß bei Einimpfung des modifizierten Giftes Menschenpocken machen. Es schüßt also auch das ganz andere (und meist viel weniger bösartige) | Ueberſtehen der veränderten leichten Krankheitsform vor der ursprüglichen schweren Erkrankung. Krankheitsformen auftreten. Das allen be Die Schußkraft einer ähnlichen Impfung kannte Beispiel ist das der Kuhpocken und der Menschenpocken. Die menschlichen Pocken sind wird jezt zum Segen der Landwirtschaft immer für die Menschen exquisit ansteckend : die Ueberausgedehnter benützt. Die Lungenseuche der tragung des Giftes geschieht wahrscheinlich in Rinder iſt außerordentlich ansteckend und rafft Werden Kühe oft in wenigen Wochen den Viehſtand ganzer Staubform durch die Luft. Dörfer hinweg. Impft man mit dem aus den mit dem Gifte der Menschenpocken infiziert, so tritt bei ihnen nur eine örtliche Erkrankung Lungen gepreßten Safte von Tieren , die an dieser Krankheit gefallen sind , gesunde Tiere an der Impfstelle auf, die sogen. Kuhpocke, meist wird irgendwo an der äußeren Haut Pusteln ganz von der Art , wie sie an den so entsteht das Schweifende dazu benußt Impfstichen bei geimpften Kindern sich entUeberträgt man jezt rückwärts wickeln. an der Impfstelle ein Geschwür, das meist dieses Kuhpockengift, durch die gewöhnliche Art | nach kurzer Zeit vollständig verheilt ist. Aber die geimpften Tiere sind jest seuchenfest gegen der Abimpfung auf den Menschen, so bekommt die Infektion mit Lungenseuche. Hier bedingt auch der Mensch nur eine örtliche Erkrankung, Das Pockengift hat also, der Ort der Ansteckung verschiedene Erkrankungen, die Impfpustel. die für das Leben des Tiers von ganz verindem es durch den Tierkörper gegangen ist, schiedener Bedeutung sind . Aber das einmalige eine seiner bösartigen Eigenſchaften, auf dem Ueberstehen seiner Krankheitsform schüßt die ganzen Körper den Pustelausschlag hervor Tiere vor der lebensgefährlichen Ansteckung zurufen , verloren und weiter ist eine wesent liche Abänderung noch darin vor sich gegangen, der Lungen. daß die Kuhpocken nicht mehr durch die Luft Zu diesen schon länger bekannten Thatansteckend wirken, sondern nur durch Impfung sachen sind nun in der allerjüngsten Zeit wertAber- und volle neue Beobachtungen hinzugekommen, die fortgepflanzt werden können . , das Verdienst große unendlich das ist das auf diesen bisher dunklen Weg wenigstens sich der englische Arzt Jenner, der Erfinder der einiges Licht werfen. So wurden Proben von Schußpockenimpfung, erworben hat -einMensch, Milzbrandgift, das sich bei direkter Einimpfung der die Kuhpocken überſtanden, ist damit geschüßt | erquisit ansteckend und bösartig erwies , begegen die Ansteckung durch Menschenpockengift. stimmten äußeren Einwirkungen, die verändernd einwirken sollten, ausgesezt ein Beobachter Das ist ja eine ganz geheimnisvolle und meisten der Seite dunkle noch gibt längeres Erwärmen auf eine höhere Tempeuns bis jetzt ansteckenden Krankheiten, daß ein Individuum, ratur, 55º C., an . Während nun die Tiere, die mit dem ursprünglichen Gifte geimpft das einmal eine bestimmte Krankheit durch gemacht hat , dadurch vor weiterer Infektion wurden, sämtlich nach kurzer Zeit zu Grunde mit derselben Krankheit meist fürs ganze Leben, gingen, bekamen die mit dem veränderten Gifte wenigstens für eine lange Reihe von Jahren angesteckten Tiere nur eine örtliche Erkrankung, geschützt ist. Wer einmal Masern oder Schar ähnlich wie bei den Schußpocken, die nach kurzer lach überstanden hat, der bekommt diese Krank- Zeit vollständig geheilt war. Die geimpften heiten, auch wenn er sich ohne Scheu der An- Tiere waren aber danach unempfänglich für steckungsgefahr ausſeßt, nicht zum zweitenmal die Ansteckung mit echtem Milzbrandgift. Von wieder. Man sagt, der Körper sei durchfeucht verschiedenen Seiten ist der Erfolg dieses Verund damit seuchenfest, immun geworden. Das suches bestätigt worden. Ganz das Gleiche merkwürdige und ausgezeichnete Schuzmittel, wird vom septikämischen Gifte des sog. Wunddas wir in der Kuhpockenimpfung besigen, brandes oder dem Fäulnisgifte angegeben.
A. C. E. Baldamus. Besorgte Mutterliebe.
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Faulende tierische Substanzen enthalten massen- das grausame Wegschießen der Brutvögel im hafte Bakterien, die aus der Luft als Stäub- | April und Mai an ihm selber sich rächt. Denn mit dem trockenen, zähen, kaum genießbaren chen dahin gekommen, sich nun rasch vermehren. Impft man Tiere mit solchen Flüssigkeiten, so Frühlingsbraten — dem wirklichen Feinschmecker ein Greuel hat er sich um die „ unvergleichgehen sie meist rasch unter den Erscheinungen der Blutvergiftung zu Grunde. Man hat lich schmackhaften, zarten und saftigen Herbstbraten" von 3 oder 4 jungen und um die feiauch mit diesem Gifte die oben beschriebene Prozedur Erwärmung auf 55 ° C. vor- sten, fleischigen alten Schnepfen gebracht. Freilich genommen und damit geimpft. Die Tiere - ich weiß es aus eigener Erfahrung - freibekamen wieder örtliche Geschwüre, die sie leichtlich übt der „ Anstand auf die Waldschnepfe “ im Frühjahr eine große Anziehungskraft und überstanden. Sie waren aber danach seuchenkeineswegs allein der sehr überschäßten Jagdfest geworden gegen die Einimpfung auch des beute halber. Der echte Jäger ist stets zubösartigsten Fäulnisgiftes. gleich ein Naturfreund , wie der Dichter, der den Wir brauchen nur kurz aufmerksam zu Solch machen auf die Aussichten, die damit eröffnet , feuchten Aprilabend“ besungen hat. Wenn es uns weiterhin gelingt, werden. ein stiller, lauer Frühlingsabend mit Drosselgesang und Schnepfenstrich, der, nach J. F. Mittel zu finden, durch welche wir dem Menschen eine geringe örtliche Erkrankung erzeugen, um Naumann, geeignet ist, den Naturfreund in die seligste Stimmung zu versehen," tritt mir eben ihn damit vor einer schweren allgemeinen Anaus weiter Ferne, aus der Jugendzeit, mit steckung zu schützen und das ist uns ja bei den Blattern längst gelungen , dann haben voller Gegenwart vor die Seele. Im sagenreichen Harze war's . Ich war in den ersten die ansteckenden Krankheiten , die immer als drohendes Gespenst ganze Bevölkerungen in Studentenferien zur Aushilfe meines erkrankten oberförsterlichen Oheims in einer „Köthe" Schrecken versehen, ihr schlimmstes Gesicht verein loren. Das ist das Günstige des jeßigen Stand - ❘ wochenlang die Holzabfuhr überwachend punktes in dieser Frage, daß wir den Weg leidenschaftlicher, bereits geübter, praktischer Ornitholog. Noch bedeckte der Schnee fußhoch den sehen, auf welchem durch redliche Arbeit weiterer Schlag und die am Rande desselben im UnterErfolg zu erreichen ist. Gewiß werden die holze stehende Köthe, die ich mit einem alten experimentellen Pathologen mit Eifer sich der Köhler und einem Forstwarte teilte. Da, in Sache weiter unterziehen und der Erfolg wird einer dunkeln Wolkennacht, brauste der Föhn wie bei jeder ernsten Anstrengung nicht ausund in der Morgenbleiben : Multi pertransibunt et augebitur durch die alten Eichen scientia. mit dem letzten Schnee Winter der war frühe spurlos hinweggefegt. Und nun, wie ich es später in den Hochalpenthälern, freilich weit großartiger, erlebte, nun begann es plötzlich zu schwellen , Besorgte utterliebe. zu knospen, zu sprossen, zu klingen und zu Von singen; was der laue Südsturm fräftig begonnen, die warme Sonne des 3. April vollendete R. E. E. Baldamus . es in wenigen Tagen : das plötzliche, fröhliche selige Wiedererwachen der Natur aus dem langen Winterschlummer. Schon beim ersten Sonnenlso zwischen den "? Ständern ?" Gehört der Alio wadere Künstler zu den Schnepfenjägern blicke jubelten der lustige, launige Kleiber und die bewegliche Tannenmeise ; die Buntspechte und hat er den rührenden Akt kluger Mutterliebe wohl gar selbst beobachtet? Dann hoffentlich übten Balzſpiel und Balzflug ; auf dem Klafternicht mit der Flinte unterm Arme ! Sicher hat holze tummelte sich die behende Bachſtelze, der er sie als weidgerechter Jäger nicht erhoben, traute Zaunkönig , der im Moose der Hütte wenn er auch nur einmal das angstvolle „ dak, seinen Unterſchlupf und sein Nest hatte, schmetdaf" der erschreckten Eltern und ihren schwankenterte unermüdlich seine kleine hübsche Fanfare. Und als die Sonne zur Rüste ging, da sette den, von Furcht und Besorgnis gelähmten Kreisflug um das Versteck der Kinder herum beobachtet hat. Selbst wenn er nicht wüßte, daß
sich unser gezähmtes Rotfehlchen auf die schräge die Köthe ist ein hügelförmiger, Thüre
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A. C. E. Baldamus. Besorgte Mutterliebe.
mit Moos und Rasen verstopfter Holzbau- und „ bedankte sich bei uns für die Hege und Pflege," wie mein alter, fohlengeschwärzter Hüttengenoß meinte - er ruht längst, längst unter Moos und Gras! ,, is do, Herr Studiosus" - meldete mein Forstwart„die Schneppe is do ! " Ich ergriff mein Gewehr und folgte dem eilig Voranschreitenden hinaus auf den Schlag. Der herrlichste der Waldsänger, die Singdrossel, schlug zum Entzücken schön. Ich fühlte es mehr, als ich es hörte faum ver= nahm ich den rührend elegischen Gesang meines Lieblings , des Rotkehldie chens: Jagdlust mein hatte Ohr Der= stopft. Kaum dem an Strichplatz angekommen, zog sie mir entgegen, die Unglückliche, langsamen, wuchtelnden, eulenartigen Fluges , gerade in mein Blei - die
Doch wohin habe ich mich verloren ? Ja, die Erinnerungen aus der Jugendzeit, sie thun's dem Alter an. Uebrigens war man in der ornithologischen und Jägerwelt stets verschiedener Ansicht über die Fortschaffungsmethode der bedrohten Schnepfenfinder seitens der Mutter. Man will nämlich auch beobachtet haben, daß jene von dieser zwischen Schnabel und Hals eingeklemmt forts getragen worden seien. Der verstorbene, gelehrte und zugleich durchaus
praktische Revierförster E. Diezel, der "stets seinen. Homer und Horaz in der Rodtasche und trug" zugleich ein tüchtiger Naturforscher, Förster und Jäger und weitberühm
Schnepfe, ihr Junges tragend.
erste und legte Waldschnepfe, welche ich geschossen. So oft ich später auch Gelegenheit hatte: ich ging niemals mehr mit der Flinte auf die Frühjahrsschnepfenjagd, obschon ich erst viele Jahre später meines Freundes Emil Diezel Ansicht darüber kennen lernte. Wer sein Jagdrevier mit dem wohlschmeckendsten Federwilde bevölkern will, der soll es im Frühjahr schonen ; denn es brüten von Anfang oder von Mitte April ab Waldschnepfen an Orten , wo man es kaum vermutet - ichspreche aus vieljähriger Erfahrung undmit der Brutschnepfe geht natürlich auch die Brut verloren. Der treffliche Diezel schonte im Frühjahr und schoß nach 2 oder 3 Jahren 60 fette Waldschnepfen in seinem Revier!
ter Hundedressierer war, führt in seinem vortrefflichen Buche : „Er" fahrungen aus dem Gebiete der Nie-
derjagd" gültige Autoritäten für beide Fortschaffungsarten auf und kommt (in der Naumannia) nach den Beobachtungen eines gleichfalls K. bayrischen Revierförsters, welcher diesen Transport mehrmals zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedene Weise bewerkstelligen sah," zu dem Schluffe : „daß die alte Schnepfe ihre Kinder nur, wenn sie noch ganz klein sind, zwischen Schnabel und Hals, späterhin aber wie auf unserem hübschen Bilde zwischen den Ständern trage." Auf beiderlei Weise thun's auch andere Vögel unter gleichen Umständen. Und weshalb auch nicht ? Was in der Welt ist wohl findiger und erfinderischer als die Mutterliebe?
Joseph Bürschner. Ein moderner Charakterspieler.
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Charakterspieler.
Von Joseph Kürschner.
Die außerordentliche Menge Deffen , was auf theatralischem Gebiete hervorgebracht wird und die Schnelligkeit, mit der die Schöpfungen auch der größten Darsteller vorübergehen, machen es erklärlich, daß die Reklame gerade für die Schauspielkunst eine so große Wichtigkeit erlangthat. Das Strebertum unserer Zeit kommt kaum irgendwo präg nanter zum Ausdruck als in der Theaterwelt,
hervorragenderen Angehörigen feines Standes fließenden Quellen nur spärliche Ausbeute geben. Nur zweimal, vor längerer Zeit, brachten etwas bekanntere Blätter sein Porträt, nur hier und da tauchte eine biographische Notiz auf, das Konversationslerifon erinnerte sich seiner erst in den Supplementen und die, ge= wöhnlich ziemlich prätentiös auftretenden eingehenden kritischen
wo die Betriebsamkeit Würdigungen einzelner in dem Geschick rastlos Leistungen fehlen bei vorwärts zu kommen, ihm fast gänzlich. Troßoft eine Virtuosität erdem und alledem weiß Jeder, der nurhalbwegs reicht, der man in ihrer eine Kenntnis der TheArt eine gewisse Beaterverhältnisse besitt, wunderung nicht versagen kann. Und wie wer Lobe ist und ich das für erklärdaß seine schauspielelich, in der Lage der rische Bedeutung keine Dinge und der Natur geringe. Dieser Künst der Sache für begründet ler ist eben mit unhalte , so möchte ich entwegtem Streben auf Theodor Lobe. sein Ziel losgegangen es eben deswegen doch Aber nichtsdesto- und hat seine vollen Kräfte ausschließlich auf auch verzeihlich finden. weniger ist es für den aufmerksamen Beobach- die Erreichung dieses Ziels gerichtet : darin ter der modernen Theaterverhältnisse eine liegt die Erklärung für seine Bedeutung, wie für wahre Freude , inmitten der Streber und seinen Erfolg. Man kann gar nicht einmal ſagen, daß er in dem, was er an äußeren Mitteln Helden von Reklame Gnaden eine Persönlich keit zu finden, die der erwähnten Art Karriere mitbringt, für die Ausübung seiner Kunst bezu machen fremd ist, die durch ihre Talente reits ein nennenswertes Material besige eher das Gegenteil . Und als ich das Verund deren Schöpfungen selbst wirkt, ohne Zu hilfenahme der löschpapierenen Posaune. Eine gnügen hatte, ihn zum erstenmal zu sehen, was außerhalb der Bühne und in meiner eigenen solche Persönlichkeit von vornehmer Zurück haltung in allem , was nicht ausschließlich Häuslichkeit geschah , da war ich , offen ge= künstlerische Förderung ihrer Popularität an- standen, erstaunt, in dieser untersetten Gestalt, langt, ist Theodor Lobe , von dem man der es, wie Laube ganz richtig bemerkt, an mehr erzählen hören als lesen kann. Auch Repräsentation fehlt, den bekannten Charakterwer sich berufsmäßig mit der Geschichtsschrei- darsteller vor mir zu sehen. Allein wenige bung des modernen Theaters befaßt, findet Worte, ein kurzes Gespräch genügen, um den bei ihm , daß die sonst so reichlich über die Mann von Geist, den klaren Denker, den stetig. 13
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Joseph Bürschner.
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auf seiner Bahn mit eiserner Energie Fort nicht darin, jedes Blatt ist eine durchgearbeitete schreitenden zu erkennen. Noch mehr empfängt in sich vollendete Leistung. Man beschaue sich man diesen Eindruck auf der Bühne von Lobe : nur z . B. das Dreiblatt der Juden : Nathan, er reproduziert nicht allein, wie viele seines Stan Shylock (S.98) und Rabbi David Sichel (Freund des, erkommentiert die Charaktere, löst manches ! Frit, S. 99), man vergleiche damit den heuchT ihrer Rätsel und zeigt sie in ihrer ganzen lerischen Laroquette (99) aus Guzkows Urbild Tiefe, indem er sie darstellt. An einigen Stellen des Tartüffe, den gleisnerischen Marinelli in sind seine Farben etwas schwer , aber es ist Lessings Emilia Galotti, den boshaften Jago teine, bei der man nicht die Empfindung hätte, und den unglücklichen Lear, den König Philipp daß sie aus innerster Ueberzeugung des Dar- und Cromwell, Mazarin und Perin (Tonna stellers angebracht sei. Dieses tiefe Durch Diana), Tiberius und Kreon (Antigone), seinen dringen, ernste Abwägen seiner Darstellungen, Geßler, Richard III . ( S. 100) und Mephistopheles zu deren Verständnis er (S. 99), Rudolf II. und Friedrich Wilhelm I. (Zopf eben auf diesem Wege geund Schwert, S. 101 ), oder langt, im Gegensate etwa zu Ludwig Devrient, der aus dem jüngsten Repertoir den Ernest (Wilde Ehen), mehr in fühn genialischem Berent (Ein Falissement), FlugeseinePositionen nahm, Doktor Weller (Spielt nicht dagegen ähnlich dem vermit dem Feuer, S. 100), standesscharfen Seydelmann Giboyer (Ein Pelikan), -gibt seinen Leistungen Fabricius (Die Tochter des etwas ungemein InterHerrn Fabricius, S. 100) 2c. essantes , Fesselndes und Und alles Lobe und doch vielfach Bedeutendes . Man erkennt dieses bedeutende nicht Lobe; jede Figur eine andere in Tonfall und GeDurcharbeiten besonders bärdenspiel, Auffassung und auch in dichterisch geringeren Partieen, wo er dem Darstellung und überall doch das gleiche treibende Autor überlegen , ihn erMotiv: die Seele und der gänzend, vorhandene Lücken. Geist des Künstlers . Nicht ausfüllt, das Charakterbild immer war Lobe Charakterrundet und mit zahlreichen
spieler im engeren Sinne, charakteristischen Einzelhei@hylod. ten erfüllt , ohne in die er hat sich durch das RollenMäßchenmacherei sog. virgebiet des Komikers durchtuoser Darsteller zu verfallen. Es geht etwas gearbeitet , bevor er in jener Eigenschaft Großes durchseine Leistungen, etwas Einheitliches Ruf und Bedeutung erlangte. Die eigentund Sicheres, das seine künstlerischeTechnik ebenso liche Uebergangsrolle wurde für ihn der Mephisto, dessen Ironie und Satire die Wansehr bekundet, wie eine seltene Menschenkenntnis, delung begünstigte. Dieser " Schalk unter den aus der heraus er seinen Gestalten den Odem Geistern, die verneinen," gehört denn auch mit voller Lebenswahrheit einbläst. Diese Sicher zu seinen besten Leistungen, und Holtei , der heit in der Kenntnis auch der verborgenen Falten des menschlichen Herzens, wie in der des alte theaterkundige Holtei, dem es noch vergönnt rein menschlichen Ausdrucks der Affekte und war, der ersten Weimarischen Faustaufführung beizuwohnen , bei der La Roche den Mephiihrer Nuancen nach Stellung und Charakter stopheles gab , hat ihr die Ehre einer, das Derer, bei denen sie sich zeigen macht ihm Wesen des Künstlers Lobe sehr gut beleuchtenauch die Vielseitigkeit möglich, mit der er das Gebiet der Charakterrollen von einem Pole bis den kritischen Bemerkung zu Teil werden laſſen. zum anderen beherrscht. Die Porträtgalerie Er fand den Lobeschen Mephisto prägnant im seiner Charakterköpfe ist reich ausgestattet und Ausdruck, schlagfertig in der kurzen Replik, glockenrein in unermüdlicher Volubilität. Nach wirkt geradezu frappierend durch die Fülle der verschiedensten Physiognomieen ; aber Skizzen sind Holtei hat Lobe für den Baron aus der Heren-
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küche einen ganz aparten, zuversichtlich ent- und von vornherein jeder Gegeneinwendung schiedenen Klang der Stimme, der mit schnei- den Faden abschneidet. Der infernalischen dender Schärfe sich freche Unfehlbarkeit anmaßt Schlauheit seiner Aussprüche verbietet sich eo ipso alle Widerrede; sie dringt schmerzhaft ins Ohr bei denjenigen Doktrinen, derenWeltklugheit sichleider nicht immer wegleugnen läßt, mag es flugs Satan sein, der sie stößt. Jedes Wort Stich, jeder Lehrsatz Wunde ins Gemüt
der ausein eine des
Hörers ; vollendet auch die pantomimisch illustrierte Begleitung des tief durchdachten, makellosen, rednerischen Vortrags . So weit der alte Holtei . Und wie nun hat sich das Leben des Künstlers entwickelt, dessen Name auch die zukünftige Theaternicht geschichtsschreibung David Sichel. Laroquette. wird übergehen dürfen, wo ihren eigenen Beruf auszubilden und wünschten, ward er geboren , wer waren seine Eltern, ihn eine wissenschaftliche Karriere einschlagen wie wurde er zu dem, was ist er ? Fragen, berechtigt bei Jenen, die unser zu sehen. Zu dem Zweck beInteresse in tieferer Weise zog Lobe das Gymnasium in anregen, an deren Thun wir Liegnit. Nachdem jedoch 1847 Anteil nehmen und die in sein Vater gestorben war, trat diesem Falle der Antwort nicht er für einige Zeit in ein vergeblich harren sollen. BreslauerHandlungshaus ein, Die Geschichte ist ziemlich bis ihn aus diesen beengenden einfach und von den herkömmVerhältnissen die Liebe zum lichen Schauspielerbiographieen Theater befreite, der er nach im allgemeinen nur wenig manchen vergeblichenVersuchen verschieden. Ein Schlesier von endlich (1849) bei der Truppe Geburt (geb. 8. März 1833 seiner Mutter Genüge leisten zu Ratibor), lag die schaudurfte. Da ihm aber seine spielerische Karriere Lobe schon Mutter in der guten Absicht, durch seine Herkunft nahe. ihn zu seiner alten Laufbahn Seine Eltern waren bei dem zurückzuführen, möglichst wenig Theater, der Vater dirigierte und nur in fleinen Rollen früher , die Mutter später beschäftigte, sagte er ihr den eine Bühne und da seine MutDienst auf und versuchte in ter die Schwester Dessoirs Ueberall Berlin sein Heil. war, verbanden ihn verwandtwegen seiner großen Jugend schaftliche Beziehungen auch zurückgewiesen, gelang es ihm Mephistopheles. mit diesemHeroen der deutschen endlich, in Eisleben ein EnSchauspielkunst . Trotzdem hatten es die Eltern gagement zu finden, das ihm, der später für nicht im Sinn , den begabten Knaben für neun Monate in Frankfurt 18,000 M. erhielt,
100 monatlich 10 Thaler eintrug. Die Unterkunft war damit gefunden und Erfolg blieb nicht aus, dennoch war die Freude eine nur furze. Ueber Nordhausen gelangte er mit der fleinen Gesellschaft auch nach Greußen und dort ereilte seinen Direktor das Schicksal in Gestalt des Bankerotts. Unter den kümmerlichsten Verhält nissen, von bitterm Elend bedrängt, machte Lobe sich nun auf, ein neues Engagement zu suchen, das er nach längerer Wanderschaft endlich in Halle a. S. fand. Zwei Monate später fam er nach Erfurt und von hier bald darauf an das Krollsche Etablissement in Berlin und schließlich nach Leipzig, wo sein Stern zu steigen begann. Trefflich aufgenommene Gastspiele verschafften ihm eine Berufung an nigsstädter Theater in Berlin, das
Joseph Bürschner.
ersehnte auch der
Monate später mit dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater ebenda vertauschte , wo er nun bis 1858 wirfte, ausgenommen eines Jahres, während welchem er Mitglied des Hamburger Stadttheaters war. Hatte sich Lobe schon in Berlin als Komiker und
Regisseur in nicht gewöhnlicher Weise ausgezeichnet, so that er das noch mehr am Petersburger Hoftheater (1858-1867) , auf dem er auch erst in jüngster Zeit wieder mit seltenem Erfolg gastierte und dessen Direktion ihm , neueren Nachrichten zufolge, angetragen worden sein soll. Hier erkannte Publikum und Kritik und sprach es aus, daß Lobes Wirken für die deutsche Bühne ein höheres sei, als das eines bloßen Fabricius. Komikers, man fand, daß er eine ungleich reichere Darstellungsgabe besite, das Kö als er entfaltete, weil ihn das geistige Element er einige seiner Aufgabe viel stärker feffele, als das drastische, ja selbst das dramatische und er sei einer der wenigen, in deren Komit keine Erniedrigung liege. Es wird der jüngeren Generation des Theater-
publikums, die Lobe als Richard III., Jago, Shylock 2c. bewundert, gewiß eigentümlich sein zu hören, daß der Künstler damals auch seiner großen Virtuo sität im Vortrag des Couplets wegen gerühmt wurde. Hier war nach den Berichten von Augenzeugen Satire, durch die Hebel der Parodie und Persiflage sein HauptRichard III. Dottor Weller. zweck, den er mit geradezu bewunderungswerter Sicherheit stets erreichte. Petersburg war, dem das Pensionsrecht nach Obgleich Lobe der lezte Ausländer in 15jähriger Dienstzeit zustand, verließ er aus
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Gesundheitsrücksichten doch 1867 die nordische In dieser neuen Stellung vollzog sich nun Residenz, und übernahm die Direktion des auch der vollständige Uebergang Lobes vom Stadttheaters zu Breslau, wo er 1869 auch Komiker zum Charakterspieler und Laube klagt eine von ihm begründete und nach ihm be- in seiner Geschichte des „ Wiener Stadttheater" nannte Bühne, das Lobetheater eröffnete. bitterlich über die Zähigkeit, mit welcher der DarDas Inslebenrufen dieses Theaters bil- steller seinen Kontrakt, der ihm erste Charakterrollen verhieß, eingehalten wissen wollte. Aber det in mehr als einer Beziehung einen wich wenn schon es an Reibereien nicht fehlen tigen Punkt im Leben unseres Künstlers , da es ihm einerseits die Möglichkeit schauspielerimochte, mußte der Direktor dem Schauspieler scher Leistungen fast ganz raubte und ihm doch zugestehen , daß er erprobt und fest und andererseits Gelegenheit gab, seine erprobten sicher sei. Wenn er ihm Mangel an WandRegiekenntnisse noch zu erweilungsfähigkeit vorwirft, so hat tern und zu vergrößern, auch sich das in den letzten Jahren geändert. Aber auch Lobe wird seinen mannigfachen Verdiensten ehrlich genug sein, seinem eheein neues zuführte. Denn als ein Verdienst darf es wohl gelmaligenDirektorguteBildungsten, daß Lobe in Breslau neben einflüsse zuzugestehen, die seine dem schon bestehenden und von künstlerische Eigenart noch mehr als bisher zu vollem Ausdruck ihm geleiteten Stadtheater eine brachten. So kann wohl als zweite Bühne eröffnete, die der lachenden Muse zu größerem eine Doppelleistung von DiRechte verhelfen sollte, als es rektor und Mitglied Lobes Kaiser Rudolf in Grillparzers bisher geschehen und möglich " Bruderzwist im Hause Habsgewesen war. Die Eröffnung burg" angesehen werden, mit des Theaters fand am 2. August dem der Darsteller am Wiener 1869 mit einem Prolog und Stadttheater seinen ersten bes der Aufführung von Lessings „Minna von Barnhelm" statt ?? deutungsvollen Triumph errang. Als Laube 1874, theaterund bald zeigte sich in der Folge die Richtigkeit der Vormüde, seiner ureigensten Schöpfung verdrießlich den Rücken aussetzungen, die Lobe bei seiner wandte , trat Lobe an seine Gründung geleitet hatten. Es Stelle, jedoch nur für kurze Zeit. fann nicht geleugnet werden, daß das Personal nicht durchaus Seiner Ansicht nach war das Friedrich Wilhelm 1. Institut auf eine falsche Basis höchsten Ansprüchen genügte, auf einer Provinzialbühne mußte notwendig die gestellt und ohne deren totale Umänderung Mittelmäßigkeit einen breiteren Raum einnehmen, unhaltbar. Diese Einsicht hat sich in der Folge mußten hervorragende schauspielerische Einzelauch bewahrheitet. Eine große Wiener Zeitung erklärte bei Lobes Rücktritt von der leistungen zu selten gebotenen Genüffen gehören. Allein diese in der Natur der Sache begrünWer Lobes Vergangenheit kennt Direktion : und sein Wirken am Stadttheater mit unbedeten Mängel machten Inszenierung, Ausstattung und Ensemble vergessen , die Lobe in fangenem Gemüte beobachtet hat, wird seinen musterhafter Weise zu gestalten wußte. beabsichtigten Rücktritt unzweifelhaft fast noch lebhafter bedauern als jenen Heinrich Laubes. Dieser Erfolge ungeachtet war die Lust Denn Lobe war Laube, Strackosch und Lobe in des Regierens bei Lobe auf die Dauer doch nicht im stande, die Lust zu spielen zu untereiner Person. " Seit 1880 ist Lobe erster Charafterdarsteller und Regisseur des Stadttheaters drücken und so legte er 1872 das Direktionszu Frankfurt a. M., wo man den Wert seines szepter nieder, um dem Werberuf Heinrich bei jeder neuen Rolle betont Engagements Laubes zu folgen , an dessen neubegründetem und seine Bedeutung ebenso wie anderwärts Stadttheater in Wien er ein Engagement als in Tragödie und Lustspiel gleich sehr hochachtet. Charakterspieler und Oberregisseur annahm.
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Julius Stinde.
Von größerer Wichtigkeit sind dem spiritistischen Forscher dagegen die Vorgänge übernatürlicher Art , welche unter gewissen BeJulius Stinde. dingungen erlangt werden können und somit den Anschein einer Gesezmäßigkeit beanspruchen. ohl gibt es Gespenstergeschichten, aber an Zu diesen Bedingungen zählt in erster Linie einer Naturgeschichte der Gespenster fehlt die Anwesenheit eines Mediums. Ein Medium ist ein Mensch, zu dem nicht es immer noch. Vergebens sieht man sich nach einem Werke um, das eine systematische Benur die Geister eine persönliche Neigung haben, sondern er muß auch im Besige eines Krafthandlung der Gespenster enthielte, eine Spezi überschusses sein, deſſen ſich die Geister bemächfikation ihrer äußeren Merkmale, Beschreibungen ihres Charakters brächte und Auskunft über tigen, um mittelst desselben handgreiflich werden zu können. Nach der Lehre der Spiriten wohnt die Orte ihres Vorkommens gäbe, wie es sich in dem Menschen ein Fluidum , ein feiner für eine Arbeit geziemt, die auf Wiſſenſchaftlichkeit Anspruch zu erheben gedächte. Dieser ätherischer Halbstoff, der Perisprit genannt wird . Wunsch erscheint um so berechtigter , als der Merken die Geister nun, daß ein Mensch reichGeister und Gespensterspuk sich neuerdings in lich mit Perisprit versehen ist, oder daß derselbe, um einen trivialen Ausdruck zu gebrauchen, gewissen Kreisen einer Beachtung erfreut, die ihm nur loſe ſißt, ſo ziehen sie den Periſprit Zeit aufzu unserer Symptom ernſtes als ein wie einen Sack an und spuken dann nach fassen ist. In Amerika, England, Frankreich, Spanien und auch im Lande der Denker, in Maßgabe ihrer individuellen Fähigkeiten. Das Medium, welchem der Perisprit oder ein Teil Deutschland , haben sich Vereine gebildet , den desselben von einem Geiste entlehnt worden, Spuk nicht nur philoſophiſch , sondern auch naturwissenschaftlich zu ergründen. Die Anliegt so lange bewußtlos und ohumächtig da, bis es dem Geiſte beliebt, das Nervenätherhänger der modernen Geisterlehre nennen sich Spiriten oder auch Spiritisten ; ſie zählen nach | gewand seinem Eigentümer zurück zu er= statten. Hunderttausenden und verfügen über eine perio = dische Litteratur, welche in dreiunddreißig ZeitOhne Medium gibt es keine Manifeſtationen, schriften für die Ausbreitung des Spiritismus und sollten daher Geiſter irgendwo einen Unfug sorgt. ausüben , so sind zehn gegen eins zu wetten, daß jemand zugegen ist, der von seiner heimDas Haupterfordernis eines Spiriten ist, daß er an Geister glaubt. Es muß in ihm lichen Mediumschaft keine Ahnung hat. die Ueberzeugung an Wesen feststehen, die sich Zuweilen fahren die Geister auch direkt in vom Menschen dadurch unterſcheiden , daß sie das Medium, welches dann von höherer Macht keinen Körper besigen , und Dinge verrichten, getrieben , mit einem Bleistift niederschreibt, zu deren Erklärung die bisherige Kenntnis was der Geist zu offenbaren wünscht, oder das Medium verfällt in einen Zustand der Verder Natur und ihrer Geseze nicht ausreicht. Diese Wesen sind eben die Geister und zwar zückung und der Geist bedient sich seiner Sprechwerkzeuge zur Mitteilung , oft des harsträudie Seelen Verstorbener , welche ihre Existenz bendsten Unsinns. durch verschiedene Kundgebungen darthun. Diese Geister machen sich entweder durch Henry Riddle, Magister Artium und SupeKlopfen bemerklich , durch unheimliche Töne, rintendent in New York, hat ein 344 Seiten starkes Buch herausgegeben , das die Mitteidurch Werfen mit Steinen oder anderen Gegenständen und bezeugen durch ihr unnüßes Ve- lungen enthält , welche seine Tochter in ihrer
Physik des Uebernatürlichen . Von
nehmen , daß die Lust am Schabernack den Eigenſchaft als Schreibmedium von Geistern Grundzug ihres Charakters bildet. Die Physik aus dem Jenseits enthielt. Es waren Geiſter des Uebernatürlichen hat bis jetzt aus der hervorragender Kapazität , deren schriftliche artigen freiwilligen Kundgebungen neckischer | Kundgebungen Mr. Kiddle veröffentlicht. NewGeister keinen Vorteil ziehen können, denn diese ton kam in sein Haus, Lord Byron, Martin haben eine solche Freude am Trug , daß sie Luther , Abraham Linkoln , Swedenborg und den Experimentator auf alle nur denkbare Weise | Mozart verſchmähten ebenfalls nicht, ſich_einhinter das Licht führen und äffen. zustellen. Aus dem alten Testament erschienen
Physik des Lebernatürlichen.
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Moses und Rebekka, aus dem neuen Johannes der Täufer , Paulus , Petrus und Pontius Pilatus. Auch Shakespeare war zu wiederholten Malen anwesend. Er bereute, Theaterstücke geschrieben zu haben und nannte sich ein verlorenes Schaf. Den "Hamlet " bezeichnete er als ein allzu sentimentales Stück und es demütigt ihn tief, daß es Leute gibt, denen ſeine Dramen noch heute Vergnügen bereiten. Napoleon Bonaparte schrieb : „ Rettet eure Seelen. Liebet einander. Flieht das Böse.
beweisen, so haben alle Schlüsse der spiritistischen Philosophie , einſchließlich der seltsamen Logik, von der soeben ein Pröbchen mitgeteilt wurde, Geltung, und die Wiſſenſchaft des Wahnsinns ist fertig. Diese Beweisführung nun liegt der Physik des Uebernatürlichen ob.
sich in den konvusen Werken Jackson Davis ', des Propheten, angehäuft findet. Daß auch die Geister von Robinson, Don Quichotte, Werther und Odysseus nicht nur citiert wurden, sondern auch ganz geläufig schrieben , macht den Spiriten keine Sorge, denn sie sagen : diese Persönlichkeiten sind nicht als bloße dichterische Fiktionen zu betrachten , sondern sie lebten dereinst wirklich und offenbarten sich dem be-
nur als von Geistern herrührend erklären. Quod erat demonstrandum . Die Entlarvung des Mediums Mr. Englinton bestärkt den Verdacht, daß der Betrug in ſpiritiſtiſchen Manifestationssitungen eine hervorragende Rolle spielt, in hohem Grade. Mr. Englinton gab Geiſtererscheinungen in München , denen Männer beiwohnten , deren. Namen in der Kunstwelt den besten Klang haben. Man versammelte sich und setzte sich, „Kette" bildend, um einen Tisch, auf welchem | die Requiſiten lagen : eine Spieldoſe mit Schlüfsel, Papier und Bleistift, eine Guitarre, eine Posthorn und ein aus starkem Papier angefertigtes Sprachrohr. Kaum waren die Lichter ausgelöscht , als
Die Geister schreiben nicht nur mit den Händen der Medien, sie sprechen nicht allein, indem sie sich der Sprechwerkzeuge der Verzückten bedienen , sondern sie werden in der Thut Gutes . Ich bin gering und unbedeutend, Nähe besonders begabter Medien sogar ſichtebenso nichtig im Geiste, wie ich klein an Körund tastbar. Sie läuten mit Glocken, schlagen per war und verächtlich als Mensch. " die Trommel, ziehen Spieldosen auf, klimpern Guitarre , treten in Mehlschüsseln , in denen Merkwürdigerweise bleiben die Geister stumm , so bald man sie über die Beschaffen- | der Abdruck ihrer Füße zurückbleibt, lecken die heit des Ortes befragt , an dem sie sich auf- | Hände der Anwesenden, kneifen, stoßen, schlagen halten und ebenso betrübend ist es , daß sie und werden in günstigen Fällen derart sichtbar, wie dies Professor Crookes aus ihrer Vergangenheit nur das mitteilen, daß man ihnen - den Puls fühlen und Haarlocken abthat was in jedem Konversationslexikon zu finden ist und nur mit den allgemeinsten Phrasen schneiden kann. Ein hervorragendes Medium ist der Ameantworten , sobald positive Mitteilungen von rikaner Mr. Slade. In seiner Gegenwart ihnen erwartet werden. Das heißt dieser Umschreiben die Geister auf Schiefertafeln , die stand ist insofern auffallend, als die Spiriten unter den Tisch gehalten werden, ja es gelingt die zweifelhafte Ignoranz nicht dem Medium, sondern den Geistern zuschreiben ; für jeden ihnen sogar noch zu schreiben, wenn die Tafel Nichtspiriten erklären sich dagegen die Geschmack- | mit einer zweiten bedeckt und fest verschnürt wird. Die Physik des Uebernatürlichen erklärt losigkeiten der Geisterdiktata durch den Bildungsdiesen Vorgang in der Weise , daß der Geiſt grad der Medien , denn dieselben Geister berühmter Verstorbener schreiben und reden sogar | sich ganz klein macht , zwiſchen die beiden aufeinanderliegenden Tafeln schlüpft und nun in ganz anderem Sinne in Amerika wie in Frankreich. In Frankreich bedient sich Luther | das zwischen dieselben gelegte Schieferstückchen handhabt. Wenn man nicht annehmen will, der Phrasen, wie sie das „ Buch des Geistes " daß die Medien sehr geschickte Prestidigitateure von Allan Kardec, dem geistigen Führer der und diese Annahme ist den Spiriten französischen Spiriten, enthält ; in Amerika ist sind ein Greuel so läßt sich die erwähnte Schrift ihm dagegen der Schwulst geläufig , wie er
treffenden Dichter mediumiſtiſch, dessen Hand sie während des Schreibens leiteten. Man sieht, daß, wenn einmal die Existenz von Geistern zugegeben wird , es auch nicht schwer fällt, alles mit ihrer Zuhilfenahme zu erklären, wozu man Lust hat. Gelingt es nun weiter, die Existenz der Geister vollkräftig zu
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in der Dunkelheit ein furchtbarer Lärm begann. Die Glocke läutete, die Guitarre flog klingend durch die Luft, oft sogar den Anwesenden an die Köpfe. Püffe wurden ausgeteilt, die Spieldose leierte und die leeren im Zimmer stehenden Stühle wurden mit lautem Getöse umgeworfen. Der Veranstalter dieses Spektakels war der Geist Tony, der bei Lebzeiten Clown in einem Zirkus gewesen und, wie ersichtlich, seine alten. Faxen im Jenseits noch nicht vergessen hatte. Tony rief häufig in den Skandal hinein. Es meldete sich aber auch ein ruhiger, beson nener Geist, namens Ernest, der mit sonorer Stimme durch das papierne Sprachrohr redete. Als nach einer halben Stunde Licht gebracht wurde , stügt das Medium die Ellbogen auf den Tisch und verhüllte sein Gesicht mit einem Taschentuche. Wahrscheinlich um das Lachen zu verbergen. die Bei einer der nächsten Sitzungen alle in ähnlicher Weise, zu dem gleichen Preise von hundert Mark, verliefen brachte ein Profeſſor H. einige künstliche Blumen mit, die einen Ueberzug von Schwefelcalcium erhalten hatten und die Eigenſchaft besaßen, im Dunkeln zu leuchten. Außerdem war der Spieldosen schlüssel auf der einen Seite über dem Lichte schwarz gemacht worden. Das Sprachrohr legte man auf einen Tisch, der hinter dem Medium ſtand . Mr. Englinton sollte nun sein Hauptstück zeigen, welches darin bestand, daß die Geister ihn bis an die Decke des Zimmers hoben, an welcher er einige Zeichen mit dem Bleistift krigelte. Vorher aber waren ihm an jedem Fuß und an die linke Schulter eine leuchtende Blume befestigt. Als nun das Medium sich erhob, forschte man nach den drei leuchtenden Blumen , fand aber deren nur zwei, weil jene an dem Fuße, mit welchem Englinton auf dem Tisch stand, durch Herunterschlagen des Beinfleides verdeckt worden war.
Im Eifer des Spukens vergaß Englinton jedoch die leuchtenden Blumen an seinen Füßen, denn die ihm Naheſizenden sahen nun deutlich, wie er mit je einem Fuße nach den leeren Stühlen haschte , die er zur Ergänzung des Lärms hin und herwarf. Jezt auch gelang es ihm , das Sprachrohr zu erreichen und als dies in seinem Besig war , stellten sich auch die Geisterstimmen von Tony , dem munteren Clown , und Ernest , dem würdigen Bariton, | ein. Nachdem Licht angezündet, ſah Mr. Eng| linton, daß seine rechte Hand eine verräteriſche Schwärze zeigte , die den Anwesenden sofort klar machte, daß nicht der Geist Tony, sondern das Medium ſelbſt die Spieldoſe aufgezogen | haben mußte. Mr. Englinton verschwand ſofort aus München .
Daß Betrügereien, von Art der vorliegenden, kein würdiges Objekt für die Physik des Uebernatürlichen sind , bedürfte wohl kaum einer Bestätigung, aber die Spiriten strengster Observanz denken über den Fall anders. Neckische und böse Geister verblenden die Medien mitunter derart , daß sie sich zum Betruge verleiten laſſen. Solange daher nicht ein direkter Schwindel nachgewiesen ist , werden die unerklärlichen Phänomene den Geiſtern zugeſchrieben. | Und selbst , wenn ein Medium ertappt wird, wie es bei Mr. Englinton der Fall war, darf | er noch lange nicht als Schwindler bezeichnet werden, denn, als er sich zum Truge hergab, stand er unter der Herrschaft böser , ſchadenfroher Geister. Warum hatte Mr. Englinton sich auch mit einem verstorbenen Zirkus - Clown eingelaſſen ? Allen Enthüllungen und Entlarvungen gegenüber bleibt jedoch der Geister- und Gespensterglaube unerschüttert und zwar trösten die Spiriten sich damit, daß, wenn auch einige Manifestationen nichts anderes sind , als grobe Täuschungen, es dennoch unerklärliche Erscheinungen gibt , um dem Spiritismus Rückhalt Dagegen bemerkte der Nachbar rechts vom zu gewähren. In der That kommen höchst Medium , daß Englinton , während er starke Zuckungen simulierte, nach dem Herabkommen rätselhafte Dinge in der Gegenwart von Medien vom Tische, die linke Hand seines Nach- vor, allein ehe die natürliche Lösung derselben barn rechts und die rechte Hand seines sich als absolut unmöglich herausstellt , wird Nachbarn links so dicht zusammenge- es gut sein, die Geister so lange aus dem führt hatte, daß er nun beide Hände Spiele zu lassen, bis sie unzweifelhaft als solche mit seiner linken Hand bedecken konnte. erkannt werden. Vorher wird man sich Mühe Dadurch blieb ihm seine eigene Rechte zu allen geben, dem Spukunwesen auf die Spur zu kommen . Zu den Rätseln des spiritischen Geisterbeliebigen Verrichtungen frei und es erfolgten nun die gewöhnlichen Possen. unfugs gehört der Abdruck von Händen in
HT
Ficknick im Walde.
on Th. Ser.
Physik des Lebernatürlichen. Paraffin. Das Medium begibt sich hinter einen Vorhang, hinter welchem auf einem Tische eine Schüssel mit geschmolzenem Paraffin und eine andere mit kaltem Waſſer ſtehen. Taucht man eine Hand abwechſelnd in das flüssige Paraffin und in das Wasser , so erstarrt das erstere und bildet einen wachsartigen Ueberzug , der abgelöst als Hohlform dient. Wird darauf Gips in die Form gegossen , so erhält man einen Abguß der Hand. Zu bemerken ist jedoch, daß die Hand aus der Paraffinform nur da durch befreit werden kann, daß man leßte an den Seiten mittels eines Messers abtrennt und deshalb muß eine absolut unversehrte Form auf Vorgänge durchaus ungewöhnlicher Natur deuten. Wenn nun gar dem Medium ein Sack von Tüll oder Gaze über den Oberkörper gezogen wird , damit es seine eigenen Hände nicht in die geschmolzene Masse tauchen kann, so läßt sich, wenn dennoch eine Handform resultiert, die Anfertigung derselben nur mit Hilfe der Physik des Uebernatürlichen erklären. Das Einschmuggeln einer bereits fertigen Form ist unbedingt ausgeschlossen, da das Medium genau untersucht wird ; außerdem bestimmen gewisse Leute das Gewicht der Paraffinschüssel, an welchem nach der Situng nur so viel fehlen darf, als die Hohlform wiegt. Natürlich kann nur ein Geiſt ſeine Hand eintauchen und abformen, da das Medium erstens seine Hände unter dem Tüllſchleier hat , zweitens keine unverlette Form zuwege bringen kann und drittens die heimliche Unterschiebung einer bereits fertigen Form durch die Gerichtskontrolle vollständig ausgeschlossen ist. Die Paraffinhände gelten bis jezt als ein fester Beweis für die Fähigkeit der Geister, sich vermittelst des Perisprits eines Medium zu verstofflichen, und sind eine kräftige Stüße der wundersamen Lehre von den wesenlosen Existenzen , die sich eines weſenlosen Stoffes des mehr als hypothetischen Perisprits bedienen, um aus dem Weſenlosen in das Wesenhafte überzugehen. Behauptet auch die Physik des Uebernatürlichen: Aus Nichts und noch einmal Nichts wird Etwas, so hatte für mich der alte Spruch „Aus Nichts wird Nichts" mehr logische Kraft in sich, als der spiritische Gallimathias , und ich sagte mir daher : „ Die Geiſterhandformen müssen durch irgend einen Kniff hervorgebracht werden, auf dessen Ermittelung es ankommt,
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um den Schwindel, der seit Jahren mit den materialistischen Geisterhänden getrieben wird, zu entlarven. Einer meiner Freunde, der außerordentliches Geſchick zum Komödieſpielen besigt und in gymnastischen Verrenkungen geübt ist, übernahm die Stelle des Mediums , denn zu dem Experiment der Geisterhände gehört eine große Geschwindigkeit des Körpers. Der Sigungsraum war ein leeres Eßzimmer , in welchem sich eine transportable spanische Wand und ein Tisch befanden , auf dem die genau gewogene Paraffinſchüſſel , ein Gefäß mit kaltem Wasser und eine schwach brennende Lampe standen. Für die Zuschauer wurden erst kurz vor dem Beginn der Sizung Stühle in das Zimmer hereingestellt. In einer Ecke stand ferner auch ein Harmonium. Das Zimmer, der Tisch, die spanische Wand wurden auf das Sorgfältigſte untersucht. Es fand sich kein Apparat irgend welcher Art, der auf eine natürliche Beihilfe schließen ließ. Die Zuschauer nahmen auf ihren Stühlen Platz und das Medium trat vor.
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Zunächst wurde es seines Roces entledigt und genau nach etwaigen Hilfsmitteln durchDas Medium wandte seine Taschen sucht. um , zum Beweis , daß es keine vorher angefertigte Form bei sich habe. Hierauf banden zwei Herren seine Hände über dem Rücken zusammen, während zwei andere Anwesende die Enden der Schnüre mit ihren Siegelringen ansiegelten. Zur größeren Sicherheit wurden die beiden Handgelenke des Mediums noch mit dünnem Kupferdrahte aneinander gefesselt. Als dies geschehen, wurde der Oberkörper des Mediums in ein großes Stück Tüll eingehüllt, das nicht nur mit starkem Garn festgenäht , sondern obendrein mit einer Gürtelbinde umwunden wurde, die ihrerseits auch wieder mehrere Siegel erhielt. Nun wankte das Medium an den Tisch, vor welchen zwei Unbeteiligte die spanische Wand schoben und noch einmal war es Zweiflern gestattet , das Medium zu untersuchen. Man fand nichts. Die Anwesenden nahmen Plaß auf den Stühlen und mußten sich zur Bildung der magnetischen. Kette die Hände reichen , nachdem ihnen eingeschärft worden war , die Kette auf keinen Fall zu durchbrechen , da die Geister dem . Medium ſonſt Schaden an Leib und Seele zufügen könnten. Erleuchtet war das Zimmer nur von dem kleinen Lämpchen, welches auf dem 14
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Julins Stinde. Physik des Uebernatürlichen.
Tische hinter der ſpaniſchen Wand ſtand, ſo | ſich auf den Fußboden seßte und den Kollodiumdaß das außerordentliche mystische Düster, das handschuh mit dem Munde hervorholte. Die den Geistern angenehm ist, herrschte. An dem dünne Tüllhülle erschwerte diese Operation, ohne Harmonium hatte ein Muſiker Platz genommen sie jedoch unmöglich zu machen ; die Hauptsache aber war, daß das Medium hinreichende Geund feierliche Harmonieen erklangen . Nun begann das Medium zu wimmern, schwindigkeit und gymnastische Gewandtheit beals würde es von den Unsichtbaren malträtiert, | ſaß, um Kopf und Fuß nahe genug aneinander dann stieß es plößlich einen wilden Schrei aus zu bringen. Das Wimmern diente nur zur und verstummte. Nach einer langen Pause Erhöhung des Effektes, wogegen der laute Aufschrie das Medium wieder laut auf und man schrei mir als Zeichen galt, das es dem Medium hörte, wie dasselbe zu Boden fiel. Nun wurde gelungen war, nicht allein den Handschuh zu Licht gebracht und die spanische Wand entfernt. gewinnen, sondern denselben auch mittels des Das Medium lag bewußtlos auf der Erde und Holzröhrchens aufzublaſen. Den aufgeblaſenen in dem mit kaltem Wasser gefüllten Gefäße | Handſchuh tauchte das Medium nun abwechſelnd in Paraffin und Wasser , bis er eine Form --- schwamm die Paraffinhohlform einer riesig großen Geisterhand. Nur langsam kam das hatte, die fest genug war, um das Auslösen Medium wieder zu sich. Die Tüllumhüllung, der Kollodiumhand durch Schütteln, Saugen die Siegel, die Schnüre nnd der Kupferdraht und Spülen in dem kalten Waſſer zu gestatten. waren unversehrt. Daß die Hohlform in WirklichDer zweite laute Schrei zeigte an, daß die keit aus dem vorhandenen geschmolzenen Pa- | Form gelungen und der Handschuh entfernt worden war. Das Medium hatte denselben aus raffin gewonnen worden war, ergab die Wage. Auf welche Weise war es nun dem Me- | Bequemlichkeitsrückſichten in eine dunkle Ecke ge= dium möglich geweſen, mit gefeſſelten Händen, | schleudert, wo es denselben ſpäter unbemerkt aufeingehüllt in Tüll, der bei jedem Befreiungs- | nahm , denn die Verwunderung über die Geiſterversuch zerreißen mußte, die Form einer Hand zu hand war so groß, daß niemand an eine nocherhalten, welche einer wahren Teufelskralle glich? malige Untersuchung des Schauplates dachte, an dem die Geister sich manifestiert hatten. Die Erklärung des Experimentes ist folgende : Ueber eine von einem Bildhauer modellierte Um den an der Situng Teilnehmenden GeTeufelshand mit langen Nägeln, Runzeln und legenheit zu geben, ihren eigenen Scharfsinn zu Warzen war eine elastische Leimform genommen üben, wurde die Erklärung des Experimentes auf eine spätere Zeit verschoben. Dies Verworden, in welche ich sogenanntes Ledercollodium, eine Mischung von zähem Kollodium und etwas sprechen ist nun hier eingelöst, und zwar Schwarz auf Weiß. Ricinusöl, derart goß, daß nach dem Trocknen ein Kollodiumhandschuh erhalten wurde. Ein Somit wäre eine Phänomen der übernatürlichen Physik auf höchſt natürlichem Wege herdünnes Holzröhrchen wurde dort eingesetzt, wo vorgebracht, das in den Kreisen der Geſpenſterder Arm anfängt, und luftdicht mit Seidengläubigen bisher den Geistern zugeschrieben wurde fäden umschnürt. Diesen Handschuh, der im und die Annahme, daß umherreisende Medien, aufgerollten Zustande nur sehr wenig Raum einnimmt, verbarg das Medium unter dem Gummiwelche für Geld Geister citieren, ſich zu ihren zug - seines Stiefeletts . So genau nun auch Zwecken schlauer Taschenspielerkniffe bedienen, hat eine weitere Bestätigung erhalten . das Medium untersucht ward, dachte doch niemand daran, daß die Geisterhand in dem Schuh Troz aller Entlarvungen ich erinnere versteckt sein könne, und das wichtigſte Requisit | hier nur an die Bestrafung eines Engländers, zum Spuken entging der Kontrolle. der Geisterphotographieen anfertigte , an den Damit das Medium ungestört blieb und Mr. Englinton, an Mrs. Florence Cookes, die in London gefaßt wurde, als sie „ Geist niemand unberufener Weise hinter die spanische spielte" findet der Geisterglaube von Tag Wand schauen konnte, wurde die „Kette“ gespielte" schlossen und vor dem Unterbrechen derselben zu Tag mehr Verbreitung, und Hand in Hand dringlich gewarnt. Es wäre auch zu komisch mit demselben die Physik des Ucbernatürlichen, die ein gar wunderliches Kapitel in der Gegewesen, dem Medium bei seiner Arbeit zuzusehen, denn kaum fand es sich allein, als es schichte der menschlichen Verirrungen bildet.
„Eine Minute später tritt ber Roch ein, ein Bild faffungslosen Jammers" (
Der
H GUNTHER. 109).
Gänsebraten. Von
Bernhard Wagener.
78 war, wenn ich mich nicht täusche, Boje ENummer drei, an der wir vertaut lagen.
des Sauerteigs spielte. Auch bei uns an Bord, denn drei Jahre strammerer Zucht hatten an
Wir hatten neunzehn Monate westindischer Station hinter uns und wenn man bedenkt, daß
diesem Jünglinge so gut wie keine Spuren hinterlassen, wenigstens in moralischer Beziehung nicht ; als Seemann war er der anstelligste von allen. Mit jedem seiner Vorgesetzten stand Gottlieb Winter auf dem gespanntesten Fuße; am heftigsten haßte er den ersten Offizier und noch heute morgen hatte er beim Scheuern der Schiffswand die Gelegenheit ergriffen , diesem Gewaltigen an Bord durch das offen gelassene Ochsenauge eine reichliche Ladung Seewasser auf die Koje zu schütten. Es war vorbedachte
unsere Brigg nur die Kunst des Segelns verstand und daß wir ein wohlgezähltes Groß Schiffsjungen im ältesten Jahrgange an Bord hatten, wird man zugestehen, daß wir angesichts der heimischen Boje Nummer drei einigen Grund hatten, uns erleichtert zu fühlen. Es stand noch ein dunkler Tag bevor, die Inspizierung übermorgen, aber dieser Leidenskelch wurde durch die angenehme Aussicht versüßt, daß wir unmittelbar darauf außer Dienst stellen sollten. Sie kennen den Schiffsjungen im ältesten Jahrgange von damals nicht : lassen Sie mich darüber schweigen! Aber die Geschichte nötigt mich, Sie mit Gottlieb Winter bekannt zu machen. Gottlieb war ein Berliner Kind. Nachdem er sich im elterlichen Hause als hoffnungsloser Taugenichts erwiesen, wurde er in der Reezengasse zu einem Schuster in die Lehre gegeben, dem er nach einem halben Jahre entlief, niemand wußte wohin. Etliche Wochen später tauchte er in Danzig auf, um sich als Schiffsjunge zu melden. Man sezte sich mit den Eltern in Verbindung und erhielt umgehend die nötigen Papiere mit dem väterlichen Segen. So wurde Gottlieb Schiffsjunge der Kriegsmarine und es wird genügen, wenn ich sage, daß er in dieser fragwürdigen Gesellschaft von Stund ab die Rolle
Bosheit gewesen, denn er hatte, wie der aufsichtführende Unteroffizier versicherte, zu der Unthat gelacht, und deshalb war Gottlieb mit Bordarrest auf unbestimmte Zeit bestraft worden. Eine Stunde später erlitt der Junge beim Verholen einer Troffe eine oberflächliche Kontusion am Knöchel und da er über Schmerzen klagte, nahm ihn der Arzt in das Lazarett, wo die Wunde mit Bleiwasser behandelt wurde. Auf diese Art war Gottlieb, wie man glaubte, für den Rest des Borddienstes im Hafen un schädlich gemacht. Unser Kapitän war ein Seemann jener alten Schule, die es in mehr als einem Exemplare vom Jungen eines Kauffahrers zu der unermeßlich breiten Goldborte der Admiralschargen gebracht hat; im Dienste streng , polternd , aber im Grunde des Herzens ein humaner Charakter. Er fonnte für ein Original
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Bernhard Wagener.
gelten, denn er verstand die Kunst, sich in allen Lebenslagen mit dem denkbar geringsten Aufwande von Höflichkeit zu behelfen. Der in
Bouillon aus frischem Fleisch, würdigten die Gemüse mit den delikaten Würstchen als Beilage nach ihrem ganzen Werte, endlich vertieften wir uns in einen reizvollen Roſtbraten, ſolchen Dingen erfindungsreiche Seemann hatte ihm den Beinamen „Alibaba“ verliehen. wobei jene geistreichen Tischgespräche , welche Der Kapitän war verheiratet. Als wir den meisten Messen zur außerordentlichen Zierde gestern zu Anker gingen, hatten Frau und gereichen, die Situation angenehm belebten. Die Offiziersmesse hängt, von den auch Tochter am Bollwerk gestanden und mit Tüchern sonst im Leben gebräuchlichen Thüren und gewinkt ; nachdem wir dann die Stengen glück Treppen abgesehen , mit der Außenwelt auch lich an Deck geholt, natürlich auch die Segel festgemacht, war der Alte an Land gegangen. durch ein sogenanntes Skylight zusammen. Es ist das ein großes Loch in der Decke, auf Heute war in der Messe des Kapitäns Fawelches zwei Glasfenster dachförmig gelegt miliendiner, vermutlich in richtiger Würdigung paſſen ; dieſe Oeffnung ist im obersten Schiffsdeck der Thatsache, daß es im Hotel teurer und und die Messe bezieht durch sie das Tagesweniger gemütlich zu ſein pflegt ; um der Sache indessen einen feierlichen Anstrich zu geben, er- licht, bei gutem Wetter auch frische Luft, wobei durch die sinnreiche Einrichtung eines „Windfreute sich unser erster Offizier der seltenen Ehre, als Gast geladen zu sein. sackes “ nachgeholfen wird . Da das Deckslicht Da in dem engen Leben an Bord auch die während unserer Mahlzeit offen war, so konnten. fleinsten Vorgänge Bedeutung gewinnen , so wir alles hören, was auf dem Oberdeck passierte waren wir über alles, was für dieſes FamilienEs war zu Anfang totenstill gewesen; eine diner in Szene geſetzt wurde, sorgfältig unter- ; Weile später klang aus der Kajüte des Kapirichtet. Zu den Eigentümlichkeiten des Kapitäns heftiges Läuten zu uns ; eilige Schritte täns gehörte seine Vorliebe für Gänsebraten über das Deck folgten. Wir waren so ahnungsund weil die Jahreszeit günſtig und die lange Entbehrung und der erste Mittag im Kreise der Familie dieser Gelegenheit eine besondere Weihe gaben, so hatte sich die gnädige Frau der Fürsorge unterzogen, eigenhändig eine jener Gänse zu kaufen, welche der Stolz jeder Hausfrau sind. Nach spätern Angaben des Kochs wog das Tier fünfzehn Pfund und lieferte allein drei Pfund Fett ; der Geschmacksrichtung des Kapitäns entsprechend, war an Stelle der sonst wohl gebräuchlichen Aepfel eine Füllung mit süßem, rosinenreichem Pudding gewählt worden ; Augenzeugen versicherten , daß der Braten im letzten Stadium der Vollendung an zarter Bräunung und an Knusprigkeit der Haut nichts zu wünschen übrig ließ. Darüber war es drei Glas geworden, oder um die Zeitrechnung des Schiffes auf das bürgerliche Leben zu übertragen , halb sechs Uhr. Der Horniſt hatte die üblichen beiden Signale geblasen und wir in der Offiziersmesse ſeßten uns mit dem behaglichen Bewußtsein zu Tische, nach einer mehr als sechswöchentlichen Seetour zum erstenmale wieder in den kulinarischen Genüssen , welche der Hafen bot, schwelgen zu dürfen. Unser Messevorstand hatte sich sehr an
| los, oder wenn man will, so andächtig in un| seren Rostbraten vertieft , daß wir eines Gemurmels von Stimmen nicht achteten, das aus der Kampanje herabklang. Aber nun griff das Verhängnis rücksichtslos in unſer idyllisches Stillleben ein: die Bootsmannspfeifen gellten plöglich durch die Schiffsräume und Kommandorufe ertönten . „Alle Mann auf!“ Man kann sich vorstellen, mit welchen gemischten Empfindungen wir unseren Braten im Stiche ließen , in die Kammern stürzten, um den Säbel anzulegen und alsdann an Deck stiegen. Aber das allgemeine Geräusch, welches dies Durcheinanderwimmeln der Schiffsbesayung verursachte, wurde noch übertönt durch ein dem fernen Donner gleichendes Grollen aus der Kajüte des Kapitäns, in das sich die sanfteren Laute weiblicher Stimmen mischten. Der erste | Offizier war schon an Deck; er machte haſtige | Spaziergänge von Steuerbord zu Backbord und seine ungeduldigen Blicke flogen nach dem Großluk hinüber, aus dem die Mannſchaft im dichten Strome emporquoll. „ In Divisionen antreten !" befahl er. Die regellosen Massen streckten sich vor dem Maſte zu zwei langen Reihen aus , lautlos der Dinge wartend , die kommen sollten. gegriffen ; wir überwanden eine vortreffliche
Der Gänsebraten.
„Die Herren Offiziere und die Unteroffi- | ziere!" folgte ein Kommando. Wir bildeten um den ersten Offizier den bekannten Dreiviertelskreis und mit dem berechtigten Unwillen über die unterbrochene Mahlzeit kämpfte in uns allen die Neugierde auf dasjenige, was an der Störung die Schuld trug. Und nun hörten wir die Kunde von folgendem schaudervollem Ereignisse : Man erinnere sich gefälligst, daß bei dem Kapitän Familiendiner war. Die Gesellschaft | hatte ungefähr gleichzeitig mit uns der Suppe und dem Gemüsegange nur eine flüchtige Aufmerksamkeit gewidmet ; der Steward wechselte die Teller und verschwand , um den mehr erwähnten Gänsebraten zu holen. Nach der langen Trennung war so viel zu erzählen, daß | das Ausbleiben des Aufwärters eine Weile unbeachtet blieb. Seiner alten Gewohnheit | gemäß nahm der Kapitän Tranchiermesser und Gabel zur Hand und als die Damen diese gefährlichen Instrumente zur Gestikulation verwenden sahen, wurden ſie erst auf die unnatürlich lange Unterbrechung des Diners aufmerksam. Die Glocke wurde gezogen und der Läufer davon geschickt, um an der Kombüse Eile zu empfehlen. Es trat eine neue Pause ein , während welcher die Unterhaltung nur mühsam fortgeschleppt wurde. Der Kapitän goß den Bratenwein in die Gläser, trank das seinige zur Hälfte leer, und da der erste Offizier dem Alten an einer ungewöhnlichen Rötung des Gesichtes anmerkte, daß ein Ungewitter im Anzuge war, bat er um die Erlaubnis , noch einmal läuten zu dürfen . Diesmal trat der Steward ein, aber bleich, --mit schlotternden Knieen, und ohne die Gans. " Der Koch sagt , die Gans wäre gestohlen!" meldete der Unglückliche ſtotternd. Alles erhebt sich wie auf Kommando von den Sißen: großes Tableau! „Der Koch soll kommen !" donnerte der alte Herr, dem die Stirnadern bedrohlich anschwollen. Der Steward verschwindet eilig und mit einem erlösenden Atemzuge ; eine Minute ſpäter tritt der Koch ein , ein Bild faſſungslosen Jammers . Sein Bericht ist von niederschmetternder Kürze. Die Gans hatte soeben ihr Dampfbad verlassen ; duftend, fettglänzend, in allen Reizen des wohlgelungenen Bratens lag ſie auf der Schüſſel. Nun war noch ein Gefäß für Kartoffeln aus der Lade zu nehmen ; es dauerte vielleicht eine halbe Minute, daß der
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Koch der Kombüse den Rücken drehen mußte, aber als er sich wieder umwandte , fiel sein entsegter Blick auf die leere Schüffel ; landfartenartige Fettflecke bezeichneten die Stelle, wo der Braten gelegen hatte. Niemand war in der Nähe bemerkt worden, es hatte sich kein eiliger Tritt hören lassen : das ganze Ereignis grenzte an das Wunderbare ! Aber der Kapitän wußte besser , wo an
Bord eines Schiffsjungen- Schulschiffes die Ursache solcher Wunder zu suchen war. Da die Gans doch einmal verschwunden , brachte der erste Offizier kein Opfer, wenn er den Säbel umschnallte und die Mannschaft an Deck pfeifen ließ. „Lassen Sie Ihre Divisionen mit Kleidersäcken antreten, wenn der Thäter nicht auf der Stelle ermittelt werden kann oder sich freiwillig meldet ! Ich werde mit dem Stabswachtmeister das Schiff besichtigen !" Damit schloß der Vorgesezte seine Rede. Die Divisionsoffiziere traten zu ihren Abteilungen und verlangten den Namen des Gänſediebs zu erfahren. Es wurde allen schwer, bei der komischen Situation den Ernst des Dienstes zu bewahren; die Leute verbissen sich das Lächeln nur, wenn man sie mit dem Blicke firierte. Natürlich blieb diese Frage erfolglos ; der Uebelthäter meldete sich nicht und feiner wußte ihn zu nennen ; die Schar der Jungen glich an unschuldsvoller Reinheit ebenso vielen Säuglingen . Einer der Offiziere hatte den geistvollen Einfall , sich die Hände zeigen zu lassen, um nach Fettspuren zu suchen, aber ungeachtet vieler in Bezug auf Reinlichkeit fragwürdiger Exemplare fand er keine Indizien. Es wurde nun eine Musterung der Kleidersäcke befohlen und während die Leute jene unbehilflichen, schwarzen Säcke an Deck schleppten, stieg der erste Offizier in Begleitung des Stabswachtmeisters in das Zwiſchendeck hinab. Er hatte noch nicht die unterſte Stufe der vom Achterluk niederführenden Treppe erreicht, als ihm etwas einfiel. Er steckte den Kopf wieder durch das Luk und rief : „ Winter !" Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann besann sich der Stabsarzt, der an Deck zurückgeblieben war und meldete : Winter liegt an einer Kontusion des rechten Fußknöchels im Lazarett ! “ Der erste Offizier nickte stumm vor sich hin und verschwand unter Deck. Er durchmaß
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Bernhard Wagener. Der Gänsebraten.
boten. Das Getümmel verlief sich endlich zunächst den Raum seiner ganzen Länge nach, ohne sich aufzuhalten, bis er nahe dem Gallion wieder und der verschwundene Gänsebraten bilden zum Lazarett eingerichteten Raum erreichte. dete heute vorn ebenso wie achtern das ausEs herrschte lautlose Stille ; eine einzige Koje schließliche Tagesgeſpräch. war nur belegt ; der Kranke hatte sich das Kissen des Kopfendes in die Höhe gezogen Am nächsten Morgen ereignete sich etwas Unerhörtes. und las in einem Buche. Der Falkenblick des Als der Koch des Kapitäns früh um sieben Gestrengen erkannte in dieser Lektüre sofort Uhr an seine Kombüse trat , um Kaffee zu Witschels Morgen- und Abendopfer , was für bereiten, starrte dem Entsetten von der Herdjeden, der mit den Neigungen der Schiffs jungen im allgemeinen und Gottlieb Winters platte die verschwundene Gans entgegen, freis im besonderen vertraut war, sofort ein starkes lich traurig verändert, denn an Stelle des fettVerdachtsmoment abgab. Aber es schien das glänzenden, lieblich gebräunten Bratens lag dort nichts als ein ſorgſam ſkelettiertes Knochenfriedlichste Stillleben zu ſein, was hier herrschte ; unter der wollenen Decke ragte ein nackter gerüst. Und um eine der Rippen war ein Fuß hervor, der in der Gegend des Knöchels länglicher Papierstreifen befestigt, auf welchem der Koch die Worte las : mit voluminösen Bandagen umwickelt war . „Aufgestanden !" herrschte der erste Offizier Sie war nicht leicht auf einmal zu bezwingen, den Jungen an, der mit äußerstem Erstaunen. Doch mußt' ich schon zu Größ'rem mich bequemen ! Vergönn' es mir, Dir meinen Dank zu bringen auf dieſen unvermuteten Besuch blickte. Die Und denk des Worts vom Geben und vom Nehmen ! Sache schien nicht ganz leicht ; Winter brachte Es ist selbstverständlich, daß dieser neue zwar beide Beine aus dem Bett, aber es mußte einen Stein erbarmen, zu sehen, unter welchen Frevel wiederum zu Untersuchungen der weitentsetzlichen Schmerzen er es versuchte, sich auf- | ſchweifigsten Art Anlaß gab ; man verglich recht zu erhalten; er kroch schließlich auf einem Handschriften, forſchte nach poetischen Talenten, Beine und beiden Armen an der Koje entstellte über den Appetit der Jungen am nächlang und ächzte herzbrechend. sten Tage Beobachtungen an : alles vergebens ; „Sehen Sie sorgfältig nach , Stabswacht noch heute ist dieses rätselhafte Ereignis für meister!" befahl der Vorgeseßte wieder, worauf diejenigen, welche darunter gelitten haben, in tiefes Dunkel gehüllt ! dieser gefürchtete Mann der Bordordnung eine Untersuchung begann, deren Details sich nicht Aus dem windbeutligen Winter ist mit der wiedergeben lassen. Zeit ein ehrbarer Maat geworden, der seinen Um es kurz zu machen , so nahm diese Zivilverſorgungsschein und ein Amt genommen ganze Affaire eine reichliche Stunde in Anspruch. Während an Deck die Kleidersäcke aushat. Ich habe über diese Geschichte einmal mit ihm gesprochen und ihn aufs Gewissen und wieder eingepackt wurden , ohne daß den Inspizierenden auch nur der schwächste Bratengefragt, ob er etwas davon wüßte. Er lächelte geruch in die Nase stieg , blieb unter Deck, sonderbar dazu und kam dann mit halben Andeutungen heraus. " In der Kombüse war nachdem das Lazarett fein Resultat ergeben auch ein Backofen, " meinte er, der an dem hatte, kein Winkel, keine noch so versteckte Ecke bis in die Tiefen der Lasten und des Helle- | Tage des Diners nicht benutzt wurde. Die gats hinab, übrig, wo nicht alles Vorhandene Gans kann recht gut den Tag über darin geumgewühlt worden wäre. steckt haben. Wunderbar, daß niemand auf den Gedanken kam, dort zu suchen. “ „ Und Es blieb alles fruchtlos . Als der erste dann?" wollte ich wissen. „ Nun,“ räumte er Offizier nach beendeter Untersuchung in der zögernd ein, „ nachts, wenn alles schläft, kann Kajüte des Kapitäns seine Meldung machte, man sie schon unbemerkt herausgeholt haben. hatten die Damen den alten Herrn soweit beruhigt, daß er von weitern Versuchen , den Zum Verzehren gehörte freilich ein einſamer Ort, Uebelthäter zu ermitteln , Abſtand nahm ; inwie eine geschlossene Kammer oder etwas dergleichen ! auch ein gesunder Magen! “ sezte er dessen wurde für die nächsten drei Tage jede Beurlaubung von Mannschaften an Land verlachend hinzu, " Gänsebraten sättigt sehr!"
April.
Der
Sammler.
Inhalt: Gedenktage im April. Unser Hausgarten. Upril. Don G. U. Fintelmann. Trachten der Zeit. Neues aus der Saison. Von Jda Barber. Küche und Baus. April : Jahreszeit des Eßbaren. Speise. zettel für April. Jum Kopfzerbrechen : Preisrätsel (Schlüsselrätsel. - Anagramm von £. Maurice. Rätselsonett von E. Bacmeister. Silbenrätsel von A. Engel. Auflösungen zu Heft 6. Auflösung zur Salonmagie in beft 6. Chemische Kleinigkeiten. Aus der Autographen Mappe der Redaktion. Mitarbeiter des siebten Heftes (E. v. Ompteda, A. Ch. B. Uvé-Callemant, Carl Reinecke , Fr. v. Duhn , J. Kürschner , A. Kunkel, Oscar Pletsch, J. Scherr, Otto Roquette, Werner Hahn, 2. C. E. Baldamus). Eine Jahresencyklopädie. Unsere Künstler. Albanesischer Hauptmann. Der gestirnte Himmel im Monat April.
C Gedenktage im April.
1. 1730 geb. Cal. Geßner, deut. Dichter. 2. 1640 geft. Paul Flemming, deut. Dicht. 3. 1783 geb. W. Irving, amerit Schriftft. 4. 1849 Legte Sigung d. Frants Vorparl. 5. 1794 6. 3. Danton guillotiniert. 6. 1797 geb. 8.A.Thiers. Franz. Staatsm. 7. 1347 Stiftung der Universität Brag. 8. 1341 Petrarca als Dichter getrönt. 9. 1804 geft. 3. Neder,franz. Finanzmin. 10. 1741 Schlacht bei Molwitz. 11. 461 geft. Leo der Große. 12. 1809 A. Hofer erstürmt Innsbrud. 13. 1598 Ebitt von Rantes. 14. 1629 geb. Ch. Huyghens, holl. Aftron.
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13. 17. 19 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.
1788 geft. G. E. Buffon, franz. Naturf. u. 18. 1521 Luther in Worms. 1560 geft . Ph. Melanchthon, Reformat. 1831 geft. Lafontaine, Rom. Schriftst. 1736 geft. Prinz Eugen, öftr. Feldherr. 1809 Schlacht bei Edmühl. 1564 geb. 2. Shakespeare, engl . Dicht. 1547 Schlacht bei Mühlberg. 1595 geft. T. Taffo, ital. Dichter. 1711 geb. D. Hume, engl. Philosoph. 1764 geb. J. F. Cotta, deutsch. Buchh. 1853 geft. 2. Tied, deutscher Dichter. 1622 Schlacht bei Wisloch. 1725 Friede zu Wien.
F. Thiersch . 81.
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. A. Fintelmann. Unser Hausgarten.
Anser
Hausgarten. Von
6.
A. Finkelmann.
April. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Thale grünet Hoffnungsglüd; Der alte Winter, in seiner Schwäche, 3og sich in rauhe Berge zurück. Goethe.
Noch hören die Nachklänge der rauhen Jahreszeit nicht ganz auf. Sonnenschein und Regen wechseln ab , oft in den kurzen Zeiträumen einer Stunde, ja Schneeflocken und Graupenhagel sind nicht selten : doch ist der April der erste Monat, welcher den Frohsinn und Glanz des Frühlings verbreitet. An vielen Stellen schmückt sich der Garten mit lieblichen Blumen. Das duftende Veilchen , Primeln und Aurikeln erfreuen Auge und Herz. Im Schuße des noch schattenlosen Ge= büsches bilden die weißen Osterblumen, Waldröschen von den Kindern genannt, schneeige Teppiche , denen rosafarbene Abarten zarte Nüancierungen verleihen. Sie fordern durch ihre Fülle zum Binden der ersten großen Sträuße auf. Neben ihnen erscheinen auch gelbe Anemonen, und niedliche Gräser bilden schon zarte Aehren . Die Kätzchenträger unter den Fig. 18. Bäumen und Sträuchern entwickeln ihre wolligen Blumen, und die zierliche Daphne (Fig. 18) haucht lieblichen Wohlgeruch aus. Zu ihnen gesellen sich Mandeln mit hellrosenroten Knospen nnd Blüten. Aus den Blütenästen aller dieser Sträucher werden große Bouketts zusammengestellt, die im Schuße des warmen Zimmers weiter gedeihen und durch das Hervordringen der gelben Staubbeutel aus den grauen Hüllen der Käßchen einen eigenen Reiz erhalten. Für den Gartenfreund ist der April der ge= schäftreichste Monat. Nicht nur im Gemüse-, Obstund Blumengarten ist zu graben , zu säen und zu pflanzen, auch die im kalten Zimmer überwinterten Gewächse und solche , die den Schmuck der Wohn-
räume bilden, erfordern vermehrte Arbeit . Neues Leben regt sich in ihnen , junge Blätter kommen hervor und die wachsenden oder sich neu bildenden Wurzeln suchen nach Nahrung , die ihnen die alte Erde ihrer Gefässe nicht mehr gewährt. Die Zeit der Zufuhr frischer Nahrungsstoffe, des Verpflanzens, ist gekommen . Man beginnt mit dem Anschaffen der dazu nötigen Erdarten, der Lauberde , der grob stückigen Heideerde , des Sandes, welche am leichtesten aus Handelsgärtnereien bezogen werden, und der außerdem erforder= lichen Materialen, nämlich der Holzkohlen und der als Düngemittel ebenso wirk samen, wie in ihrer Anwendung reinlichen Hornspäne. Diese letteren wer den für kleinere Pflanzen in recht feinem Zustande angewendet, und nur für große Exemplare, die eben nicht in jedem Jahr verpflanzt werden müssen, benügt man auch die grobe Qualität , die eine lange Zeit gebraucht, bis sie für die Pflanzen genießbar wird. Ist der Ballen ganz mit Wurzeln durchzogen und die Pflanze gesund, so ist geraten , ein etwas größeres Gefäß für dieselbe zu bestimmen. Pflanzen, Daphne. in deren alten Erdballen erst wenige Wurzelspizen die inneren Flächen des Topfes berühren, werden entweder gar nicht verpflanzt, oder sie erhalten dieselbe Größe der Töpfe und frische Erde. Man muß dies lettere immer thun, wenn die wenigen Wurzeln auch schlecht sind und die Erde säuerlich riecht. Nach der vorsichtigen Untersuchung des Ballens wird der neue Topf bestimmt , darauf geachtet , daß er von innen und außen rein ist und dann für guten Wasserabzug gesorgt. Ein gewölbtes Topfscherbenstück wird auf das Abzugsloch des Gefässes gelegt, darauf kommt eine Schicht zerstückelter Holzkohlen und auf diese so viel Erde, daß der darauf gesezte Ballen mit seinen, obern Wurzeln 2 cm unter dem Rande des Topfes bleibt. Der alte Ballen wird
Ida Barber. Trachten der Beit. vorher mit einem ſpißen, blumenſtabähnlichen Holze ringsherum gelockert , durch Entfernen der alten Erde am oberen Rande und der Abzugslage in eine rundliche Form gebracht und durch Verkürzen der nunmehr lockeren Wurzeln so weit verkleinert, daß in dem neuen Gefäſſe auf allen Seiten ein hohler Raum von etwa 2 cm Durchmesser zur Aufnahme der frischen Erde bleibt. Dieſe muß in Bezug auf ihren Feuchtigkeitszustand so sein , daß sie beim Zusammendrücken in der Hand keine Klöße bildet, sondern nach dem Aufhören des Druckes ziemlich locker wieder auseinanderfällt. Sie wird unter wiederholtem Aufſtauchen des Topfes gleichmäßig in den Zwiſchenraum gebracht und mit dem Zeigefinger oder dem Daumen mäßig angedrückt. Bei größeren Gefässen wird die eingefüllte Erde mit einem flach geschnittenen, abgeſtumpften Holze gleichmäßig fest verteilt. Beſondere Aufmerkſamkeit iſt dem Gießen der frisch verpflanzten Gewächse zuzuwenden. Draußen im Garten wird gesät und gepflanzt, soweit es die rauhe Märzluft nicht zur Ausführung kommen ließ, nur Bohnen, Gurken und Mais werden für den nächsten Monat aufbewahrt. Die Erbsen müssen schon behäufelt und mit Reisig besteckt werden. Zur Erhaltung der Küchenkräuter teilt man die Stauden des Schnittlauchs, des Esdragons, des Thymians , des Beifuß und pflanzt ſie von neuem . Majoran , Porree , Sellerie , Zwiebeln werden ausgepflanzt. Von Erbsen, Spinat, Kerbel, Salat wird eine zweite Saat gemacht. Im Obstgarten wird der Wein geheftet , die Feigen werden aufgedeckt , die Bänder und Pfähle der jungen Obstbäume nachgesehen. Das Beschneiden und Anpflanzen der Bäume und Fruchtſträucher wird vollendet. Die des Winterſchußes bedürfenden Sträucher sind ihrer Hülle entledigt. Die Rosen werden aufgedeckt, geschnitten und an ihre grüngestrichenen Stäbe geheftet, und bei dieser Gelegenheit die Wurzelsproffen ausgerissen . Beim Schneiden der Rosen läßt man an den starken Seitentrieben 3 bis
2
Trachten
Neues
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5 Augen stehen und entfernt das schwache oder beschädigte Holz. Einige Sorten vertragen aber dieſen kurzen Schnitt nicht ; ſie wachſen an und für sich stark und blühen durchaus nicht , wenn man ihnen zu viel Holz nimmt. Die Triebe der Persian Yellow, der schönen Theerose Maréchal Niel, der Gloire de Dijon , der Belle Lyonnaise behalten zehn , zwölf und mehr Augen an den einzelnen Trieben. Nach dem Aufrichten der Rosen wird der Blumengarten in allen Teilen in Ordnung gebracht. Wo über Winter die Grasnarbe ausgegangen ist, wird frischer Samen gestreut , eingehackt und an= getreten. Es sind dies in der Regel die schattigſten Stellen des Gartens , daher thut man gut , den Boden durch Düngen zu verbessern und solche Grasarten zu wählen , die auch im Schatten gedeihen. Es sind dies Poa nemoralis und Agrostis stolonifera. Beide sollten wenigſtens der etwa gekauften Samenmischung noch besonders zugefügt werden . Die Wege , durch den Frost gelockert , müssen festgewalzt, die Graskanten bestochen werden. An den Laubengängen und Mauern werden die Schlingpflanzen geheftet ; zu Ende des Monats sind die Buchsbaumeinfaſſungen in Ordnung zu bringen . Auf die Blumenbeete kommen jezt die Pflanzen , die den Frühlingsflor bringen sollen : Vergißmeinnicht und die roten Silenen, die farbenprächtigen Stiefmütterchen, Lack und Winterlevkoyen. Die Georginenknollen werden zerteilt und ausgepflanzt in Gruppen oder reihenweis in 1-1,20 m weiten Abständen. Die prächtigen Gladiolen werden 6-7 cm tief ausgepflanzt , aber auch die noch leer bleibenden Beete werden gedüngt und geglättet, denn überall muß es im Blumengarten jezt schon heiter und frühlingsmäßig aussehen , beginnen doch schon die Bienen ihre Thätigkeit und durch alle Zweige schlüpfen die Vögel, nach Baupläßen für ihre Nester suchend. In der Nähe des Hauses, in geſchüßter Lage können Oleander und Lorbeeren , Granaten , Hortensien, der neuseeländische Flachs und andere halbharte Gewächse aufgestellt werden zur neuen Kräftigung nach den Leiden des Winterquartiers.
der
aus der
Beit.
Saison.
Von Ida Barber. Der heurige Fasching gab uns Gelegenheit, prächtige Ball- und Gesellschaftstoiletten zu bewun dern, die Saison war trot Brand und Börſenkrach so belebt wie je ; schöne Damen in farbenreichen, künstlerisch schön ausgeführten Gewändern schmückten die Ballsäle, in den Zeitungen las man nach jedem Eliteball spaltenlange Berichte, in denen ausführlich skizziert wurde, was jede der Patronessen getragen. Industriellen und Konkordiaball , jener durch die Anwesenheit des Hofes, dieſer durch die der Künstlerwelt seit Jahren als Magnete für die fashionable Welt gekannt, erwiesen wieder ihre oft gepriesene
Anziehungskraft ; und wer nur einigermaßen Luft und Sinn dafür hatte , Modestudien zu machen, konnte auf ihnen reichliches Material sammeln. Die jüngeren Damen trugen zumeist farbige Gaze- oder Tüll-Illusionskleider , mit Moiree oder Atlas drapiert , die älteren Atlas - Moiree oder Samtroben mit abstehendem Devant , das entweder mit echten Spißen oder in Perlen gesticktem Tüll gedeckt war . Die Perlenstickerei schien sich einer besonderen Gunst zu erfreuen; ganz neu ist die Art , Spitzen mit Atlasperlen , die in der Farbe der Robe ge= wählt werden , auszunähen ; auf blau , rosa oder 15
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3da Barber. Tradhten der Beit.
blaßgrün ist der Effekt solcher Stickereien ein wahrhaft glänzender. Mit Blumen schienen die Ballroben heuer wie übersäet; manches Kleid glich einer lachenden Frühlingslandschaft, auf der sich alle die lieblichen Kinder Floras Rosen , Veilchen , Nelken, Narzissen und Päonien ein Rendezvous gegeben zu haben schienen. Pour comble de luxe sah man gar oft noch zwischen den Blumen Schwalben und sonstige leicht befiederte Tierchen , die tro alles Protestierens unserer Tier- und Humanitätsfreunde der Mode immer und immer wieder zum Opfer fallen. Die schönste und geschmackvollste Ballrobe, die wohl in dieser Saison hier das Licht der Lampen erblickt, war die im Salon Morin für die Kronprinzessin Stephanie gefertigte blaue Atlasrobe, deren reich mit Points d'aiguille besettes Devant, seitwärts Paniers , von himmelblauem Samt begrenzten. Die Damen der Aristokratie trugen heuer im Haar auffallend wenig Blumen- oder Federschmuck, dagegen Brillantagraffen, Brillantsterne, Kämme mit Brillantlisièren in wahrhaft verschwenderischer Pracht. Diese cache- peignes werden verstohlen zwischen das in Puffen arrangierte Haar gesteckt, je 3 oder 4 übereinander. Nicht jeder kann sich den Lurus einer solchen Brillantdekoration gönnen , sie dürfte deshalb, so lange die Imitation sich nicht ins Mittel legt , wenig populär werden. Auf dem „ Industriellen Ball " sahen wir beispielsweise die Brillantkämme nur bei der Kaiſerin Elisabeth ; auf dem wenige Wochen später stattgefundenen Polen: und Konkordiaball schien das mot d'ordre erteilt , als müsse jede Dame mit einem halben Dußend solcher Brillantenkämmchen erscheinen. Unsere Frühjahrsmoden anlangend , läßt sich wohl schon voraussehen , was in nächster Saison getragen wird; die beiden sich geltend machenden Richtungen der engen, fußfreien und der bauschigen, halbrunden Kleider sind indes so diametral ent gegengesetzt, daß kaum die eine neben der anderen wird bestehen können. Die französische Mode verlangt immer noch möglichst knappanliegende Röcke, die, um noch enger als eng zu erscheinen , statt der Plissees mit gesteppten Längsfalten gedeckt sind. Unten sind diese Jupons mit einem breiten in Rosenfalten gelegten Volant umrandet. Die deutsche Mode will dagegen mehr weite, abstehende, im Genre bouffant gearbeitete Robe , denen man Tournüre oder wohl gar in Bälde den Reifrock, wenn auch in den bescheidensten Dimensionen geben wird. Heute will man von Stahl und Fischbein noch nichts wissen ; doch er kommt so sicher wie das Amen im Gebet. UnsereTheaterdamen, die ja stets als Toilettenköniginnen oder richtiger Modepioniere gelten, haben wiederholt den Wallfischgräten ihre Beachtung ge= schenkt. Sarah Bernhardt hat alle ihre neuen, hier bei der Morin gefertigten Kostüme in Panierform bestellt, selbst den Schlepproben fehlt die halbweite Tournüre nicht . Die Frühjahrsstoffe scheinen in mehr farbenreichen Mustern aufzutreten als die der letten Saison. Blumige, façonnierte, auch gestreifte Dessins
sieht man viel auf grauem oder schwarzem Grunde. Die schon vor Jahren beliebten Pompadourkostüme dürften da leicht wieder ein Auferstehungsfest feiern ; man garniert sie mit dunklem Samt oder dichten Wollspißen , mit abgepaßten Bordüren oder einfarbigen, zum Fond der Robe passenden Wollrüschen, deren Ränder in Zackenform ausgeschlagen werden. Sogenannte Porzellainemuster , möglichst in kleinen Dessins , werden sowohl für Foulard , wie dichtere Wollstoffe ge= druckt; neben diesen Eintagsmoden der Saison, die, so schnell sie kommen, auch wieder verschwinden, dürften sich die guten , englischen Cheviots, die chachemires allemands und Diago doppelbreiten nales behaupten. Glatten Stoffen sind vielfach türkische oder sonst buntfarbige Bordüren angewebt , auch wohl façonnierte Kaschemirs, ganz mit schwar zen Jais Perlen durchstickt. Wenn schon der Jais lange genug zu den Modeartikeln par excellence gehörte und in der That endlich einem anderen , weniger in die Augen fallenden, solideren Dekorati onsobjekt den Plaz räumen fönnte, sehen wir ihn doch nochin gewohnter auf allen Konfet tions der kommen: den Saison , auf Hüten, Schleiern, Kleidern, Mänteln, Schürzen, Pompa= dours, ja auf Krägen und Manschetten , die man demnächst aus farbigem Atlas fertigen, mit weißer oder schwarzer Spize umranden wird. Warum man die seither beliebten, weißen Lingerieen durch die farbigen Satinkragen ersehen will, ist schwer einzusehen. Jedenfalls dürften fie kleidsamer sein, als die jest wohl nur als ein Uebergangsstadium anzu sehenden schwarzen Halsrüschen, die wohl Blondinen noch allenfalls kleiden, für Brünetten aber geradezu unschön sind. Kommt man in eine Gesellschaft, in der mehrere so schwarzberüschte Damen anwesend find, die wohl gar noch schwarze Roben tragen, so
Küche und Haus. läuft man unwillkürlich Gefahr, eine Leichenbittermiene anzunehmen und etliche Kondolenzworte zu sprechen. Warum Trauer anlegen, wo wir es nicht nötig haben ? Die Mode sollte stets darauf Bedacht nehmen, heitere, freundliche Formen zu schaffen ; ſie ſoll durch ihr Gebilde den Gesichtsausdruck erhellen, veredeln, nicht ihn trüben und verfinstern. „ Ernſt iſt das Leben, heiter sei , wenn auch nicht die Kunst, doch wenigstens die Mode. " Ohne daß sie es beabsichtigen mag , ruft sie zwar oft unsere Heiterkeit wach. Da sieht man jezt beispielsweise die kurz à la Maintenon frisierten Lockenköpfe von Alt und Jung tragen und manche wohl im vierten oder fünften Dezennium stehende Dame, die es nicht vergessen kann , daß auch sie einst schön gewesen , opfert willig ihr volles Haar, um kurze Löckchen à la Maintenon , die ja die Wunderkraft beſißen sollen , ewig jung und schön zu machen, tragen zu können. In gleicher Weise zur Heiterkeit Anlaß gebend, ist die Mode der jetzt mehr als im Vorjahre be liebten Stelz- und Schnabelschuhe. Warum denn um alles in der Welt einem breit angelegten Fuß, der vielleicht gar der Träger eines noch breiter angelegten Körpers iſt , in zwei fingerbreite Stiefelchen hineinzwängen ? Wir lachen über die trippelnd und wackelnd einherschreitenden Chinesinnen undsind selbst im besten Zuge , in den gleichen Fehler wie sie zu verfallen. Ein graziöser , leichter Gang ist wahrlich mehr wert , als ein schmal zusammengezwängtes Füßchen ; warum also , frage ich wieder, die Mode der schmalen Spitzschuhe, die notwendigerweise einen elastischen leichten Gang unmöglich macht ? Sprechen wir schon von Modeerzentrizitäten, so dürfen wir des leider immer mehr in Aufnahme kommenden Schnürens nicht vergessen. Müſſen wir denn alle, die uns die Natur nicht à la Bernhardt als Bindfaden geschaffen, spindeldünne Taille haben. Gar oft hört man von zerschnittenen Lebern , von Brust- und Athembeschwerden, die nur infolge des engen Schnürens entstanden. Keine Macht der Welt kann unsere Modedamen davon abbringen, Panzer- und Fischbeintaillen zu tragen, man preßt und schnürt, daß gar oft der dünne Oberstoff, der einen so gequälten Körper deckt , Mitleid zu haben scheint und Miene macht , auseinander zu plazen. Als die vor etlichen Monaten anläßlich des internationalen Schriftstellerfongresses hier weilenden Franzosen das Lob der graziösen Wienerinnen in allen Tonarten sangen , nahm Jules Lermina ingeistreichironisierender Weise anscheinend die Partie seiner Landsmännin der seit Jahren in Wien als Miederkünstlerin berühmten Madame Weiß ; ihr allein , sagte er , gebühre das Verdienst d'avoir fait les Vienneoises si graçieuses ." Die wenigsten fühlten den Stich, man glaubte einfach, der gute Lermina habe ein wenig Reklame für Madame Weiß machen wollen ; dessen bedurfte es wohl nicht , wie denn auch sicher diese Absicht dem französischen Gelehrten fern gelegen ; in Wahrheit fiel es den Franzosen auf, daß unsere Damen, von einem falschen Schönheitsideal irre geleitet, gar eine oft ihre Gesundheit auf's Spiel ſeßen, um Wespentaille zu haben.
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Hoffen wir, daß die für den Sommer signaliſierten , rund abſchließenden Gürtel- und Blouſentaillen einen Umschwung zum Besseren herbeiführen . In England trägt man bereits Kleider mit breiten, durch ein Metallschloß gehaltenen Ceintüren und wie die englischen Moden bei uns von Jahr zu Jahr mehr in Aufnahme kommen , dürfen wir auch wohl hoffen, daß dieſe ſehr praktiſche und gefällige Tracht sich allhier bald einbürgern werde. Die Hut und Kapotformen zeigen ein wenig veränderte Form. Verheiratete Damen tragen möglichſt kleine , vorn mit einer Benoitonschleife geschlossene Hütchen , junge Mädchen altdeutsche Formen mit breitem , seitwärts aufgeſchlagenem Rand. Federn sieht man zumeist einfarbig , das zeither beliebte Ombré ist ganz außer Kurs. Die kleinen , bis zur Nase reichenden Schleier werden allgemach durch längere , das ganze Gesicht einrahmende erſeßt ; ſtatt des ſchwarzen, in der That für die Haut sehr unvorteilhaften Tüll werden farbige zum Kleide oder zum Hut passende genommen. Charakteristisch für die Frühjahrshüte überhaupt ist, daß sie weniger aus schwarzen , als farbigen Stoffen gearbeitet werden. Gezogene Atlashüte, mit Jais oder Stahlperlen , benähte Köpfe, gelten für hochfein ; das Bavolet deckt zumeist einfarbige, möglichst breite Feder, deren Spigen fransenartig nach innen fallen. Zum Schluß noch ein Wort über unsere Frühjahrsmäntel. Die Dolmanform scheint sich überlebt zu haben ; die meisten Konfektions sind an liegend, zweireihig , vorn mit breitem Shawlfragen. Die Rückennaht ist vom Taillen schluß an mit einem nach innen gerichteten Plissee garniert, das in Längsfalten bis zum Saume reicht. In Samt oder Samtbrokat fertigt man hübſche, runde Mäntel , ähnlich den früheren Talmakrägen. Sie dienen als leichter Ueberwurf zu jeder eleganten Toilette, die durch den fest anliegenden Paletot ge= drückt werden würde. Kaschemir - Konfektions sieht man in farbigen Futter (blau, rot, violett) in Form der Regenmäntel. Als alleinige Garnitur dienen große, farbige Glasknöpfe, zum Futter paſſend, oder goldschillernde Metallboutons. Mehr als je sieht man auch zu Roben diese Knopfsorten verwendet, fast hat es den Anschein, als ob auch die mit Gold soutachierten und gestickten Kleider wieder in Aufnahme kommen sollten.
Küche
und
Haus.
April. Jahreszeit des Eßbaren. Wer junges Fleisch liebt , mag sich an Schafund Ziegenlämmer, zahme und wilde Ferkel halten ; auch ſind ſchon junge Haſen zu haben. Unter dem Hausgeflügel behaupten sich noch junge Tauben und Poularden , während Gänse , Enten und Hühner abnehmen. Vom Federwild gibt es noch Auer-, Birk und Fasanenhähne. Forellen sind jezt vor1) Die Hasen im letzten Speisezettel hatten noch keine Existenzberechtigung!
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Küche und Hans.
züglich , dagegen sind außer den Aeschen die Bärse | mit Bechamelsauce und Kartoffeln. Gemüse von und Karpfen bis Anfang, Zander bis Ende Juli Brunnenkresse mit gebackenem Kalbshirn. Roaſtbeef mit Salat und Stachelbeeren. zu vermeiden . Frösche nnd Flußkrebse sind schon 14) Französische Suppe. Rosenkohl mit empfehlenswert , obschon der April ein „R“ hat. Die Frösche kann man entweder backen und als Kalbskoteletten . Gefüllte Tauben mit gebratenen Garnitur benüßen oder auch als Ragout mit holKartoffeln , Salat und Johannisbeeren . Kabinettsländischer Sauce geben, in welchem Falle man das pudding mit Weinschaumsauce . 15) Sauerampfersuppe mit verlorenen Eiern. Gericht im Blätterrand auf die Tafel bringt. Krebse werden auf besonders feine Weise mit Wein ſtatt Karauſchen mit Butterſauce und Kartoffeln. Spargeln des Wassers und mit Hinweglaſſung des Kümmels mit Zunge. Schweinsfilet mit Salat und Katharinenbereitet. Für die Seekrebſe (Hummern) , die oft, pflaumen. schon gekocht, verwendet werden, teilen wir hier ein 16 ) Reissuppe. Rinderbrust mit Kräuterſauce, Kennzeichen für ihre Frische mit. Man kann sich Kartoffeln und Gurken. Gefüllter Kopfsalat mit zwar schon auf den Geruch verlassen ; noch sicherer Schinken. Ente mit Salat und Aprikosenkompott. aber ist das Ausdehnen des Schwanzes. Sind die 17) Suppe mit Markklößchen. Fischsalat. Hummern nämlich erſt unlängst gesotten worden, Rinderfilet à la jardinière mit Mixedpickles. Griesso gibt er nicht leicht nach und zieht sich wieder mehlspeise mit Kirschsauce. zurück. Zu den jungen Gemüſen des vorigen Monats 18) Suppe mit Sago . Kiebigeier. Farcierte Rinderzunge mit Kapernſauce und Kartoffeln, Brechkommen jezt Spargel, Kohlkeimchen, gewiſſe Kräuter spargel mit Spickgans. Glasierter Kalbsrücken mit wie Kerbel , Portulak , Dragon u . s . w. zu Frühlingsſuppen und von neuen Salatarten Pimpernell, Salat und Preißelbeeren . 19) Türkische Weinsuppe. Gebackener Zander. Scharbock , Brunnenkreſſe. Von Obst gibt es nur Falscher Hase mit Kartoffeln, Salat und Erdbeeren. noch Aepfel nnd Birnen. Mit den Nüssen ist es vorbei. Reis à la Malta. 20) Legierte Graupensuppe. Frikaſſee von Speisezettel für April. Tauben. Sauerampfer mit gebackenen Kalbsfüßen. 1) Suppe mit Spargel . Karauſchen mit DillHammelskeule à la Daube mit Kartoffeln , Salat sauce und Kartoffeln. Rosenkohl_mit Rauchfleisch. und Essigpflaumen. Hammelsteule mit Salat und Pflaumen. 21 ) Suppe mit Fleischklößchen . Blumenkohl 2) Suppe à la reine. Kalbsfricandeau mit mit Zunge. Rumpſteaks mit gerösteten Kartoffeln, und Salat. Kirschtörtchen. Spinat. Lammbraten mit gerösteten Kartoffeln und Salat. Cremetörtchen. 22) Kräutersuppe mit Eierklößchen . Forellen, 3) Suppe mit Eierkäse. Lachs mit Remou- blau , mit Butter und Kartoffeln. Morcheln mit gebratenen Nieren. Schnepfen mit Salat und Aepfeln. ladensauce. Spargel und Morcheln mit Schinken . Polnisches Spraszy mit 23) Hühnersuppe. Rinderbraten auf Wildbretart mit Kartoffeln, Salat und Johannisbeerkompott. Kartoffeln. Auflauf von Makkaroni, Schinken und 4) Kräutersuppe mit Croutons. Beefsteaks Parmesankäse. Hühner mit Salat und Melonenmit Kartoffeln à la Figaro . Waldschnepfen mit kompott. Salat und Preißelbeeren. Weingelee. 24) Legierte Nudelsuppe. Gebackene Muränen. Gemüse von Hopfenkeimchen mit Saucischen. Kalbs5) Hühnersuppe. Kiebißeier. Rinderbruſt mit Wirsingkohl. Gebratene Tauben mit gerösteten steaks mit Kartoffeln, Salat und Kirschen. Kartoffeln, Salat und Stachelbeeren. 25) Suppe mit gebackenen Mehlerbsen . Schwedische Pastetchen. Schinken in Burgunder mit 6) Suppe mit Einlauf. Schleihen mit Biersauce und Kartoffeln . Spargel mit Zunge. RoaſtKartoffelcroquettes und Salat. Zitronenmehlspeise beef mit Salat und Apfelkompott. à la Lyonnaise mit Weinschaumſauce. Gerösteter Karpfen mit 26) Taubensuppe. 7) Suppe mit Leberpfanzel. Lammragout mit Remouladensauce. Rosenkohl mit Würstchen. LammSauerampfer. Schweinskeule mit Kartoffeln und Salat. Marmeladenauflauf. braten mit gerösteten Kartoffeln, Salat und Quittenkompott. 8) Suppe von Maronenpüree. Forellen blau, mit Butter und Kartoffeln. Blumenkohl mit 27) Suppe mit geschnittenem Eierkuchen. Kleine Schinken. Hammelkarree mit Salat und Kirschen. Kalbsfricandeaur mit Spinat. Gebratene Hühner 9) Hamburger Aalsuppe. Omelette mit Kalbsmit Salat, rohgerösteten Kartoffeln und Aprikosenkompott. Zimtröhren mit Schlagsahne. nieren. Artischocken mit Zunge. Kalbsschnißel mit gebratenen Kartoffeln und Salat. Engliſche Schnitte. 28) Suppe à la Crécy mit Ente. Rindfleisch mit Morchelsauce , Kartoffeln und roten Rüben . 10) Suppe mit Schwemmklößchen . Aal mit Champagnersauce und Kartoffeln. Spinat mit Eiern Spargeln und Mohrrüben mit Cervelatwurst. Hamund Briſolets. Rinderbraten mit Salat und Prünellen. melskeule mit Salat und Katharinenpflaumen. 11 ) Suppe mit Kalbfleischpüree. Fischwürstchen 29) Suppe mit Wurzelpüree. Mayonnaise mit Madeiraſauce. Gemüse von Hopfenkeimchen von Geflügel. Teltower Rüben mit Spickgans . mit Lammkoteletten. Gebratene Hühner mit ge= Boeuf à la mode mit Kartoffeln , Salat und rösteten Kartoffeln, Salat und Melonenkompott . Preißelbeeren. 12) Lachssuppe. Hammelzungen mit Morcheln. 30) Suppe mit Nudeln . Zander mit feinen Kräutern und Eiersauce. Kalbsnierenbraten mit Gespickte Kalbskeule mit Kartoffeln und Salat. Mohnpudding mit Weinsauce. Kartoffeln , Salat und Prünellen. Omelette mit Marmelade. 13) Suppe mit Spargel und Eierkäse. Zander
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4
Zum
Kopfzerbrechen.
2 z
Schlüsselrätsel
Silbenrätsel. Preisrätsel. Der große Anklang, den unsere RätselVon A. Engel. tafel gefunden hat, bestimmt uns, für die Mein Erstes ist bei Männern meist von Lösung des umstehenden Schlüsselrätsels, in Kraft, dem jeder Gegenstand einen Buchstaben des Es schütte stets das deutsche Vaterland, Alphabets bezeichnet (vgl. Band 1, .491), Nicht gern jedoch hat man's als Eigen= drei Preise auszusetzen. Die Preise bestehen schaft, aus einem Exemplar des reich illustrierten Es löste leider schon des Staates Band. und kostbar gebundenen Prachtwerkes Hellas Mein zweites wogt und rauscht ohn' und Rom" von Jakob von Falke und zweiUnterlaß, mal je 10 Bänden der „ Collection SpeAuf seinem Rücken fahren Schifflein auf mann" nach Wahl unter den bereits erschie nenen Bänden. Die Preise werden zwei und nieder, Wochen nach Ausgabe dieses Heftes unter den Der Wanderer, der sonst eilig geht fürbaß, Stärkt durch ein Bad sich hier die müden Einsendern richtiger Lösungen verlost. Der Glieder. Ausweis er= Wenn nun folgt im Brief= Rebus. das Mägdtastendes nächlein liegt an stenheftes. Der des Erwähl durchdas Rätten Brust, sel dargestellte Und sie mein Satz beginnt in Erstes hält der untern Ede gar leben . des Rahmen warm um= und setzt sich wunden, dann nach oben Dann däucht fort. mir wohl, in ihrer Liebes Anagramm. lust, Beseele stets 3st sie das den Schüler Zweite mit dem ich, So lohnt Lekten eng später ihn verbun ficherlich Das den. Zeugnis deffen was ich werd', Im Sterben liegt Wird mir der ein Mann, der Fußzum Kopf verkehrt. stets mein 2. Maurice. Erstes war, Auf einem Lager, das mein Ganzes ist, Rätselfoneff. Doch da im Leben Gott er bracht' Gebete dar, Wirddroben er mein 3 weit' und Dritt's Von E. Bacmeister. als Christ. Dem Nichts läßt sich mein erstes Wort vergleichen, Mit teinem Sinne kannst du es erfassen, Auflösungen zu Heft 6. Doch ist es wichtig über alle Maßen, Homonym: Derwisch. Dem Armen ist's so nötig wie dem Reichen. ZusammenRebus : Je lieber das Legfpief: Umgeben rings von Gärten, Wald und Kind , je schärfer die Teichen Rute. Erhebt mein zweites fich auf grünem Rasen, Tobolsk, Silbenrätsel: Ein stolzer Bau mit schönen Prunkgelassen ; Amur, Ursula, Sichem, Am hohen Thore prangt das Wappenzeichen. Eduard, Nijmegen, Dela Das Ganze nahm gefangen deine Sinne, ware , Moses , Aarau, Rebekka, Kattegat = TauWenn allzu fühne Hoffnung du genährt, Jedoch verwirklicht sahst du es noch nie. send Mark. (Siehe auch Weltpost dieses Heftes, in Es ist bestimmt, daß es in nichts zerrinne, dem über das Hätsel beWeil es den wohlgeschäßten Grund entbehrt, richtet wird. Ein Trugbild der erhißten Phantasie.
Sucke ger
Auflösung zur Salon Magie in Heft 6. -- Chemische Bleinigkeiten.
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Auflösung zur Salon- Magie in Heft 6. Der Invalide hielt in seiner Hand den Teller, neigte den Kopf herunter und drückte die Stirn gegen den Fuß des Weinglases. Dann preßte er mit dem Teller das Glas sanft gegen die Stirn, machte mit dem Kopfe und den beiden Gegenständen eine rasche Bewegung nach rückwärts, balancierte das Glas auf der Stirne, sette den Teller langsam zur Seite, ergriff nun das Glas und leerte das felbe auf das Wohl der Gesellschaft.
Chemische Kleinigkeiten. Im Anschluß an die mehrfach in den früheren Heften gebrachten physikalischen Spielereien, bieten wir unse ren freundlichen Lesern heute auch die Anleitung zu einigen recht origi= nellen chemischen Expe rimenten. Das erste der ſelben dient einer durch ihr Aussehen anziehen den Kristallbildung,
Fig. 1. Pyrophyrisches Eisen.
welche aufder nebenstehenden Zeichnung (Fig. 2) abge= bildet ist und sich sehr leicht auf folgende Weise er: zielen läßt : Man zerstoße in einem Mörser (am besten aus Porzellan) 50 Gramm Cyan - Quecksilber und 400 Gramm Jod. Durch das Stoßen nimmt das zunächst bräunliche Pulver eine grelle zinnoberrote Farbe an. Das Ergebnis der entstehenden Vermischungen und Zusammensetzungen bildet mit großer Schnelligkeit Dämpfe, die sich, wenn man das Pulver in eine gut Glasflasche verdeckte bringt , zu herrlichen weißen Kristallen verdichten. Ein weiterer Versuch, den man leicht mit einem gewöhn lichen Metall machen fann, ist die Herstellung selbstzündenden Eisens. Zu diesem Zwecke füllt man eine flaschenartige grüne Glasröhre mit pulverisiertem trockenem Draleisen , erhißt es dann bis zum Glühen und leitet über das Eisen einen Strom Wasserstoffgas , unter dessen Einfluß, wie dem der
Fig. 2. Kristallbildung.
Hite bildet sich ein schwarzes Pulver von größter Feinheit. Sodann schmilzt man die Glasröhre zu, um das Pulver vor der Einwirkung der Luft zu bewahren. Während das Pulver sich unter diesem Verschluß dauernd erhält, beginnt es bei Deffnung der Röhre sofort zu brennen und ergießt einen förmlichen Funkenregen, der einen ungemein schönen Anblick gewährt (Fig. 1). — Ein drittes originelles Experiment ist folgendes : Man thue in eine Por-
Fig. 3. Versuch mit Ammoniat.
zellanmörfer eine kleine Quantität Quecksilber und feine Sodiumplättchen. Stößt man das Ganze mit dem Klöpfel, so entsteht Sodium-Amalgam, dessen Bildung sich durch Knistern und das Hervortreten einer Flamme kundgibt. Sodann thut man genanntes Produkt in eine Glasröhre, die mit einer Lösung von Chlorhydrat-Ammonium und Wasser gefüllt ist, wor auf das Quecksilber in Form einer metallischen Hefe in die Höhe steigt und oben zur Röhre herausläuft.
Aus der Autographen-Mappe der Redaktion.
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Aus der Autographen- Mappe der Redaktion . Mitarbeiter des flebten Heftes.
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Werner Hah .
Line Jahresencyklopädie. Das Bibliographische Institut in Leipzig, welches durch seine lerikalischen Spezialitäten ſich längst einen bedeutenden Ruf auf dieſem Gebiete erworben hat , gibt seit 1879 zu dem in seinem Verlage erschienenen Meyerschen Konversationslerikon auch ein Jahressupplement heraus , das sich in Anordnung, Ausstattung , Preis 2c. durchaus dem Hauptwerk anschließt und dieses vor jedem Veralten schüßt. Es ist somit für den Besizer des großen Lerikons unentbehrlich , andererseits aber auch eine Jahresencyklopädie von hervorragender Bedeutung , die jeder Gebildete, der sich für seine Zeit interessiert, besißen muß. Was nur immer im lestverflossenen Jahre sich ereignet hat, hier findet es gewissenhafte Buchung in übersichtlicher Form. Von der außergewöhnlichen Reichhaltigkeit des Inhalts gibt schon der diesem Hefte beigelegte Prospekt einen hinlänglichen Beweis ; daß das Gebotene zugleich vollſtändig und gut ist, verbürgen einerseits die bedeutenden Schriftsteller, welche als Mitarbeiter fungieren, andererseits können auch wir nach genauerer Einsicht die Trefflichkeit, Zweckmäßigkeit und denkbar größte Nuß-
Chaldeans
barkeit des Unternehmens nicht genug rühmen. Somit mag dieses dritte Jahressupplement , von dem z . 3. 6 Lieferungen vorliegen, allen Besißern des großen Lexikons als Ergänzung und Nachtrag empfohlen ſein, nicht minder aber allen Denen , welche die Gesamtheit der Ereignisse 2c. 2c. des Jahres 1881-82 zusammengefaßt in einemBande aufgezeichnet wünschen . Unsere Künstler. Außer den zum Tert gehörigen Illustrationen führen wir unseren freundlichen Leſern in dieſem Hefte wieder zwei Kunſtblätter und einige sonstige Holzschnitte vor. Die letteren sind der auf S. 60 befindliche prächtige Kopf „Herr Oberst ! Melde gehor: samst ! " nach einer Zeichnung von Hack 1, deſſen Griffel wir bereits im 5. Hefte ein originelles Blatt ver: dankten und der auf Seite 120 befindliche Albanesische Hauptmann von H. Schlittgen , der nach den Vorgängen der lezten Jahre für viele Leser auch sachlich von Interesse sein dürfte. Was die Kunstbeilagen anlangt, so handelt es sich zunächst um eines der reizenden Blätter Oskar Pletschs , des
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Der gestirnte Himmel im Monat April.
begabtesten Kindermalers, der hier zum erstenmal vor unsere Leser tritt, und um das stimmungsvolle " Picknick im Walde" von dem Landschafter Theod. Her, das schon heute auf die Freuden des Sommers hindeutet, die uns in Bälde bevorstehen. Den Kommentar zu Pletschs Kleiner Belagerungszustand", dem noch mehrere Bilder aus der Kinderwelt von dem gleichen Künstler folgen werden, hat Viktor Blüthgen in anmutiger Weise gegeben. Zu der Biographie Pletschs mag bemerkt sein , daß der hervorragende Illustrator am 26. März 1830 zu Berlin geboren und ein Schüler Bendemanns in Dresden ist. Früher abwechselndin Dresden undseiner Vaterstadt wohnend,
lebt Pletsch seit 1872 in Lößnit bei Dresden. Seine Kinderbüchersind überall heimisch und verdienen es zu sein, ebenso wie seine Zeitschrift " Deutsche Jugend", die er in Gemeinschaft mit Lohmeyer herausgibt. Th. Her ist ein Württemberger, geb. 30. Juli 1838 zu Roth und unter Nehers Leitung in Stuttgart gebildet. 1868 ging er nach Paris , um dort die venetianische Schule und Delacroix zu studieren, dann nach München zu Ramberg. Seine stimmungsvollen Gemälde erinnern in ihrer Technik an die Franzosen. Unsere Hausmusik bringt diesmal einen Walzer von Karl Reinede, dem am 23. Juni 1824 zu Altona geborenen vortrefflichen Komponisten und Klaviervirtuosen, der nach großen Kunstreisen und nach Anstellungen in Kopenhagen, Bremen, Köln, Barmen und Berlin 1860 als Kapellmeister des Gewandhaus Orchesters und als Lehrer des Konservatoriums nach Leipzig berufen wurde, wo er auch jetzt noch wirkt. Reinecke ist ein feinsinniger Künstler, der sich auch durch Ausgaben alter Meister nicht geringe Verdienste erworben hat.
Der geftirnte Simmel im Monat April.
S H ohlRiay Jaen ina gi
ARBrendamourHA. sc. Albanesischer Hauptmann.
Um die Mitte des April neigt sich im Nordosten das Sternbild der Zwillinge dem Untergange zu und mehr gegen Norden kann man noch die strahlende Capella im Fuhrmann tief am Horizont erblicken. Im Süden stehen die unansehnlichen Sternbilder des Becher und des Raben. Im Osten ist Bootes schon hoch über den Horizont hinaufgekommen und nordöstlich davon erblickt man das schöne Sternbild der Krone, dessen helle Sterne wie ein Kranz gruppiert sind. Daran reiht sich gegen den Horizont hin das Sternbild des Herkules, welches dadurch merkwürdig ist, daß sich unsere Sonne gegen dasselbe hinbewegt. Unmittelbar am nordöstlichen Horizont wird dasselbe Sternbild der Leier sichtbar, dessen Lage durch den hellen Stern Wega leicht aufgefunden werden kann.
Verantwortl. Herausgeber : W. Spemann in Stuttgart. Redakteur : Joseph Kürschner ebenda. Nachdruck, auch im Einzelnen, wird strafrechtlich verfolgt. -- Uebersetzungsrecht vorbehalten. Drud von Gebrüder Kröner in Stuttgart.
G
Die
römische
Frage.
Yon Rom, Anfang März. 13 1871 Italien nach der Einnahme Roms durch das Garantiegesetz der katholischen Welt eine Bürgschaft für die geistliche Unabhängigkeit ihres kirchlichen Oberhauptes gab und alle Staaten , mit Ausnahme der Republik Ecuador, sich dabei beruhigten , hielt man die römische Frage für gelöst, umsomehr, als Pio Nono, troß seiner heftigen Proteste, sich die Vorteile des Gesezes, mit Ausnahme der ihm ausgesetzten Rente, bestens zu Nuze machte. Plöglich ist die totgeglaubte Frage wieder aufgelebt, eine Reihe von Schriften darüber sind erschienen, deren innerer Wert ebenso gering als das politische Interesse, das sie erregen, groß ist , weil sie nur der Ausdruck dafür sind, daß die Frage noch erst zu lösen ist 2) . Gestellt ist sie zuerst von Cavour in seiner großen Rede vom 25. März 1860, in der er Rom als Hauptstadt Italiens forderte, aber dabei den Vorbehalt machte, daß dies durch friedliche Mittel und im Einverständnis mit Frankreich sich vollziehen müsse. Er versuchte damals eine direkte Unterhandlung mit Antonelli durch einen befreundeten Geistlichen, die ziemlich weit gediehen gewesen sein soll, als eine Indiskretion sie verriet, worauf die Sache seitens der Kurie fallen gelassen und abgeleugnet ward. Cavour konnte die Republik in Frankreich nicht voraussehen und wäre schwerlich mit der Art einverstanden gewesen, mit der 1870 Besitz von Rom genommen ward, indem die
1) Wir verdanken diesen Artikel der Güte einer vorzüglich unterrichteten , hochgestellten Persönlichkeit in Rom und sind überzeugt, daß er auch da, wo man die Anschauungen des Verfaſſers zu teilen nicht gewillt ist , gerechtes Aufsehen erregen wird . D. R. 2) So : Rom als Hauptſtadt Italiens . Artikel des Osservatore Romano. Freiburg, Herder 1872. La situation et le dernier mot sur la question papale. Paris 1881 vom seither verstorbenen Grafen Conestabile. Il Papa e l'Italia von Ricotti, Bischof von Montefiascore, beide anonym erschienen, leßteres von Leo XIII. zwar nicht inspiriert, aber vor dem Druckt gelesen und gutgeheißen. Bonghi, Leone XIII . e la quistione papale. Nuova Antol. 1. Jan.
mezzi morali sich in die Bomben an der Porta Pia verwandelten. Aber noch mehr , sehr gute italienische Patrioten teilten seine Ansicht über die Notwendigkeit Roms als Hauptstadt nicht, sie behaupteten die Unmöglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens von Königtum und Papsttum in derselben Stadt, geschweige einer Verſtändigung beider darüber, sie sahen auch, davon abgesehen,keine Stärkung für das Königtum von einer Stadt voraus, die nur republikaniſche und päpstliche Erinnerungen, aber keine monarchischen Traditionen hat, denn das römische Kaiſertum war nur die Korruption der Republik. Man hat behauptet ), die italienische Regierung habe Anfang 1867, um sich von der kompromittierenden Bevormundung der Aktionspartei zu befreien, dem Papst insgeheim das Auerbieten gemacht, ihm seinen damaligen Besitſtand zu laſſen, Florenz definitiv zur Hauptstadt zu erklären und dies Abkommen einer europäischen Sanktion zu unterbreiten, sei aber damit von dem Starrsinn Pio Nonos abgewiesen worden. Dies ist unrichtig und widerlegt sich schon dadurch, daß damals Ricasoli Ministerpräsident war, welcher aufs entſchiedenſte für Cavours Roma capitale war. Aber richtig ist, daß 1870 das damalige Ministerium keineswegs beabsichtigte, die Hand auf Rom zu legen, der Präsident deſſelben, Lanza, ſagte sogar, als man ihm bemerkte, daß es unmöglich sei, der Aktionspartei gegenüber still zu sigen , „ dann machen wir ein zweites Mentana" . Erst als die Einsicht sich Bahn brach, daß dabei die Existenz der Dynastie aufs Spiel gesezt werden würde, kam man zögernd zu dem Entſchluß, zu handeln, und auch dann hielt es schwer, dem König Viktor Emanuel den Befehl zum Vormarsch auf Rom zu entreißen, der ſich ſchließlich damit beruhigte, 1) So Valbert in der Revue des deux Mondes 1 févr. La question Romaine et le Prince de Bismarck, ähnlich Deutsche Rundschau, 1. März . Die römische Frage und das Garantiegeseß, wo der vorgeschlagene Kompromiß dahin angegeben wird, daß dem Papst die Hälfte Roms mit einem Streifen Land zuerkannt werde, der ihm die Verbindung mit dem Meere sichern würde. 16
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Die römische Frage.
daß ihm keine Wahl bleibe und Cavour noch in
nuar in Erinnerung gebracht hat. Anderseits hat sich z . B. das Konklave in vollſter Ungeſtörtheit vollzogen, die Depesche des Fürsten Bismarc von 1872, wodurch er die Mächte aufforderte, künftig in Erwägung zu ziehen, ob der gewählte Papst die notwendigen persönlichen Bedingungen in sich vereine, um ihn wichtige Regierungsrechte den einzelnen Staaten ausüben zu lassen, fand nirgends Anklang . Das Garantiegeſet ſchien also seiner Bestimmung durchaus zu entsprechen. Inzwischen aber vollzog sich in Italien ein politiſcher Umschwung , der nicht ohne Rückwirkung bleiben konnte. Die gemäßigte Partei der Sella, Minghetti, Bonghi, Visconti- Venosta ward geschlagen und die Linke kam ans Ruder. Es trat also das Gegenteil dessen ein, was Cavour prophezeit, daß wenn man Rom habe, die konservativen Elemente die Oberhand gewinnen würden , ſo daß er selbst auf der Linken werde siten müssen. Statt dessen ist die Regierung so weit nach links hinabgeglitten, daß, wie Fürst Bismarck ganz richtig in seiner Reichstagsrede vom 29. November v . J. bemerkte , ein Weiterschreiten in dieser Richtung nicht mehr möglich ist, ohne zur Republik zu kommen. Dies konnte nicht ohne Einfluß auf das Verhältnis der Regierung zum Garantiegeset bleiben. Um dieſem volle Wirksamkeit zu sichern, war eine Atmosphäre nötig, in welcher dasselbe ſich ſicher fühlen konnte, wenn lichen Besitzungen verlor, an Unabhängigkeit ge- | dies geschah, so war eine allmähliche Annäherung wonnen, als Souverän hatte er stets verwundbare der beiden feindlichen Gewalten vielleicht möglich. Punkte, wegen derer er die anderen Mächte scho- | Statt deſſen gewann die radikale Strömung imnen mußte, von allen weltlichen Beziehungen losmer mehr die Oberhand , demzufolge war man gelöst, hat er in dieser Hinsicht nichts mehr zu weit entfernt , nach Beseitigung der kirchlichen Privilegien der Kirche die Freiheit der Beweverlieren, das Papsttum ſtreifte ſeinen bisherigen italienischen Charakter großenteils ab und wurde gung, namentlich für ihre Korporationen zu gewähren, welche Minghetti in seinem Buche „ Staat umsomehr universell. Und da das Garantie und Kirche“ mit ſtaatsmännischem Geiſte vergesetz die Person des Papstes unbedingt schüßt, langt, die Einziehung der geistlichen Güter fam so war er unverwundbar ; während der Höhe des deutschen Kirchenstreites donnerte Pius IX . unwesentlich den Wucherern und Spekulanten zu gute, welche die Masse des plötzlich auf den verfroren gegen den modernen Attila, prophezeite, das Steinchen werde kommen, welches die Lawine Markt geworfenen Grundbesitzes zu Schleudergegen ihn entfesseln werde und der mächtigeKanzpreiſen kauften, ja die kleinen Grundbesißer verler verlangte vergeblich von der italienischen Reloren durch die auf 33 % Prozent geschraubte gierung, daß sie den Papst für seine Akte verant= Grundsteuer vielfach noch was sie hatten, nach wortlich machen solle, wie noch kürzlich Mancini amtlichen Ausweisen haben wegen Steuerrückständen von 1873-1879 35,074 Familien von in seiner Depesche an de Launay vom 10. Ja Haus und Hof gehen müssen. 1870 traten in die 3) Der König soll Cavour auf dem Totenbett Gerichtsgefängniſſe 174,512 Gefangene, 1879 : gefragt haben : Faut-il aller à Rome ?" und der 235,620. Der Niedergang und die Entartung Minister, unfähig noch zu sprechen, mit einer Kopfder neueren italieniſchen Litteratur iſt unleugbar, bewegung geantwortet haben, welche Viktor Emanuel Wizblätter und Romane leisten Unglaubliches in als Bejahung auffaßte.
seinem letzten Augenblick an der Notwendigkeit festgehalten hatte , Rom zur Hauptstadt zu machen 1 ) . Sella gab, als der Beschluß gefaßt wurde, seinen Proteſt zu Protokoll und auch der auswärtige Miniſter Visconti-Venosta hatte die schwersten Skrupel und Zweifel an dem Gelingen des Unternehmens. Da nun die Haltung des Papstes jede Verständigung unmöglich machte, er selbst ja auch durch jedes Abkommen, ſelbſt internationaler Art, den Fall der weltlichen Macht anerkannt hätte, während er die Herstellung derselben im alten Umfange von einem allgemeinen Umsturz hoffte, so blieb der Regierung, um die Erregung der katholischen Welt zu beruhigen und derselben die Gewähr zu geben, daß die geistliche Hoheit des Papstes durchaus unangetastet bleibe, eigentlich kein anderer Weg über, als der, den sie eingeschlagen, nämlich durch ein Geset diese Bürgschaften festzustellen . Ueber die Zulänglichkeit der einzelnen Bestimmungen des Garantiegesetes läßt sich streiten, indeß wird nicht in Abrede zu stellen sein, daß es während der zehn Jahre, die es besteht , jeden Konflikt zwischen Italien und der Kurie verhindert hat und daß niemand behaupten kann, die Ausübung der geistlichen Unabhängigkeit des Papstes ſei irgendwie beschränkt. Im Gegenteil hat derselbe, indem er seine welt-
Die römische Frage.
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Laszivität und der Atheismus wird offen ge- | zubahnen , um seine Kraft allein gegen die italienische wenden zu können ; deshalb hat er sich predigt, das Blatt der italienischen Loge vom großen Orient brachte kürzlich einen Hymnus gegen Deutschland versöhnlich gezeigt, deshalb in an Satan, der schließt: Frankreich zu so vielem geschwiegen, was sein Vorgänger laut als Sakrileg angeklagt hätte. Heil dir, o Satanas, Besiegt hast du Jehovah Seine Encyklika über die Ereignisse des 13. Juli Die Gottheit der Priester. machte sehr viel mehr Eindruck als das Zirkular Und solche Predigt findet mehr Anklang in den Mancinis und er betonte bald darauf, daß er Massen, als die der Waldenser und Methodisten, aus Furcht vor Störungen nicht habe wagen die Leo XIII. so viel Schmerzen macht, daß er können, die neuen Heiligsprechungen im St. Peter vorzunehmen , obwohl der dazu benußte Saal, fast in jeder Encyklika darüber klagt. Diese Strö mung mußte auf Parlament und Regierung zu- wie Schreiber dieses als Augenzeuge ſagen darf, rückwirken, um sich die Gunſt der Radikalen nicht | schon einer gewaltigen Menge Zutritt erlaubt. zu verscherzen, mußten die Ministerien der Linken Diese Ereignisse sind es gewesen, welche zualle deren Kandidaten unterstützen, man sah Abge- gleich mit der Entfremdung, welche zufolge der ordnete, die wegen Betrug bestraft waren, andere, tunesischen Expedition zwischen Italien und Frankdie sich in Eisenbahngründungen und beim Verreich eintrat, die römiſche Frage wieder haben aufkauf der geistlichen Güter ein übelberüchtigtes | leben lassen. Die Kurie betont, daß das GaVermögen erwarben. rantiegesetz gar keine Garantie bietet, nicht bloß, Strafbare Schwäche der Regierung hat denn weil die Regierung zu schwach ist, es wirksam auch zu dem Tumult der Nacht vom 13. Juli auszuführen, sondern weil es ein einseitig erv. J. geführt. Es mag dahin gestellt bleiben, laſſenes italieniſches Gesez ist, das von denselben Faktoren aufgehoben werden kann, die es gegeben. ob einige Heißsporne im Vatikan nicht einen Konflikt wünschten, offiziell sollte das Leichenbegäng- haben. „Wer garantiert die italienische Garannis Pio Nonos, wie er verfügt, einfach gehalten tie ?" fragte Antonelli. Die Kurie macht eben und bei Nacht vollzogen werden. Als aber die deshalb aufs neue geltend, daß nur der Besig einer Regierung von der Gesellschaft der katholischen weltlichen Macht die geistliche Unabhängigkeit Interessen benachrichtigt ward, daß deren Mit- des Papstes sichern könne. Als solchen fordert die glieder und viele andere folgen wollten, war es genannte von Leo XIII . gebilligte Schrift Ricottis mindestens Rom und einen gewissen Umkreis, geboten, Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Umſomehr, als Pius IX. speziell bei den Römern verwie früher About fagte: Rome est un jardin. haßt war, was sich begreift, wenn man bedenkt, daß Gleichzeitig trat vielfach das Gerücht von der Abreise des Papstes auf. Bald sollte er unter seinerRegierung etwa 37,000 Menſchen aus nach Miramare, bald nach Fulda oder Salzpolitischen Gründen ins Gefängnis oder in die burg gehen, oder gar dem Fürsten von Monaco Verbannung gewandert sind. Aber der Minister des Innern war wie der Unterstaatssekretär verMontecarlo abkaufen. Leo XIII. ist nun ebenreist und der Quästor, der an ersteren um In- sowenig einer Komödie als eines unüberlegt hastigen Schrittes fähig , er weiß sehr wohl, struktionen telegraphierte, erhielt keine Antwort. daß abreiſen leicht, aber wiederkommen schwer So war der Tumult faſt unvermeidlich und der sein würde, daß er in einem andern Staate Minister des Auswärtigen hat vergeblich die sehr viel mehr abhängig sein würde, als jeßt, ganze Schuld auf die Katholiken zu schieben in Rom und nicht entfernt so viel Freiheit hätte gesucht. Leo XIII. konnte nun mit sehr viel mehr Recht sich als Gefangenen hinstellen als als das Garantiegesetz ihm gewährt. Anderseits darf man die Worte seiner officiellen Reden vorher, denn wenn man die Leiche seiner Vornicht auf die Goldwage legen ; wenn er seine Lage gänger beschimpfte, welche Bürgschaft hatte er, unerträglich nennt, so meint er, daß sie prekär daß es ihm selbst besser gehen würde , wenn er ist und daß leicht Ereigniſſe eintreten können, den Vatikan verließ ? Und er benußte diese Gewelche ihn nötigen würden Rom zu verlassen. legenheit, welche ihm die Schwäche der italieniEr betrachtet den König Humbert als der Herrschen Regierung gab, nach Kräften. Sein Beschaft der Revolution verfallen , welche jeden streben ist von Anfang an gewesen, mit den ausAugenblick über die Monarchie wegschreiten kann, wärtigen Regierungen, mit denen Pius IX. auf wenn die Radikalen sich stark genug fühlen , die dem Kriegsfuß stand , beffere Beziehungen an-
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Die römische Frage .
dünne royalistische Maske abzuwerfen. Er weiß, tisch gesinnten Arbeiterbevölkerung bewohnt wird. daß mit dem Sturz des Königtums auch in Be- Auch hievon abgesehen könnte kein italieniſches zug auf den Vatikan der Status quo unmöglich Ministerium ein solches Zugeständnis dem Parwerden würde und ist entschlossen, sich keinem lamente vorschlagen, ohne Gefahr zu laufen, eine persönlichen Angriff auszusehen. republikanische Schilderhebung hervorzurufen. Wie soll man aber aus dieser Lage heraus- | Der Partei der Zelanti wäre ein solches Ereigkommen ? Ohne Zweifel würde dieselbe erhebnis vielleicht nicht unlieb , da ſie hofft, daß aus lich anders sein, wenn das Garantiegeseß durch dem Uebermaß des Uebels die Heilung kommen ein internationales Abkommen der Großmächte werde , und daß , wenn der Papst erst persönlich sanktioniert wäre, aber selbst wenn ein solches vergewaltigt und flüchtig sei, eine Restauration. möglich wäre, so würde doch sofort die Frage aus dem Umsturz hervorgehen werde , aber entstehen, wer bei einer Verlegung desselben einschwerlich wird Leo XIII . , der ein ruhig rechnenzuschreiten berechtigt sein sollte und wer geneigt der Kopf ist , diese Absicht teilen oder auf ein Wunder der Vorsehung hoffen. Er wird mit sein würde, ein solches Recht auf seine Kosten zu üben? Indes hiervon abgesehen ist ein derartiger den Drohungen der Abreise wahrscheinlich einen Vertrag selbst unmöglich, da Italien, das vor Druck auf den König und die konservativen 1870 vielleicht auf einen solchen eingegangen Elemente der italienischen Gesellschaft üben wäre, dies heute niemals thun wird. Die Dewollen, weil er weiß, daß im Grunde seine pesche Mancinis an de Launay vom 10. Januar Abreise auch der Regierung sehr unangenehm sein. erklärt, fein italienisches Ministerium könne die würde, da sie ein Vacuum schaffen würde ; sie würde der Welt beweisen , daß der Papst doch leiſeſte auswärtige Einmischung in einer Frage erlauben, welche Italien fest entschlossen sei , als nicht frei ist, wenn er das Exil der jezigen Lage streng innere und von der nationalen Souverävorzöge, die Radikalen würden gestärkt, die Genetät allein abhängige zu betrachten. Italien setzgebung würde offen antikatholisch werden und doch iſt Italien schließlich ein durchaus katholiwiſſe, wie oft das Papsttum fremde Interventiosches Land . Das jezige Miniſterium wird sich nen herbeigeführt habe und wolle diese sich nicht erneuern lassen. - Mag man nun auch danun freilich schwerlich dazu herbeilassen, den Status quo irgend wie zu Gunsten des Papgegen geltend machen, daß die Frage der geist stes zu ändern , aber wäre es nicht unter einem lichen Unabhängigkeit des Papſtes doch keine rein andern Ministerium möglich ? Hier tritt als italienische ist, sondern internationales Interesse hat, so steht doch fest , daß jeder Versuch einer ein bedeutsamer Faktor das neue Wahlgesetz ein, das die Zahl der italieniſchen Wähler von 600,000 auswärtigen Einmischung dem entschlossensten auf über zwei Millionen bringen wird. Das ErWiderstand Italiens begegnen würde und schwer gebnis desselben ist noch unberechenbar , jede lich wird irgend eine andre Macht geneigt sein, einen Bruch mit Italien herbeizuführen um ein große Erweiterung des Wahlrechts ist wie Lord. Derby 1867 sagte, „ein Sprung ins Dunkle“ . besten Falles höchſt zweifelhaftes Ergebnis zu Manche meinen , das Ergebnis werde ziemlich erreichen. In noch höherem Maße muß Italien jeden Versuch zur Herstellung der weltlichen Gedasselbe bleiben, andere sehen einen großen Erfolg der Radikalen voraus ; aber die Ansicht ſteht walt in noch so beschränktem Umfange zurückweisen , mögen früher einſichtige italienische Pa- | keineswegs vereinzelt, welche davon eine Stärkung der conservativen Elemente im Parlamente hofft. trioten dagegen geweſen ſein, Rom zur Hauptstadt Wahlgefeße mit sehr breiter Basis begünstigen zu erklären, so ist es nach elf Jahren heute doch stets die Extreme , es ist daher sehr wahrſcheinvollständig unmöglich , den einmal gethanen lich, daß in den großen Städten Italiens die Schritt zurückzuthun , die Dynaſtie Savoyens Radikalen die Oberhand bei den Wahlen erhalwürde damit ihre Krone aufs Spiel setzen mit ten werden, wie in Deutſchland der Fortschritt ; der Gewißheit, sie zu verlieren, die Folge wäre aber auf dem Lande ist es anders . Es kommt eine Republik, die nicht vor dem Vatikan stehen ferner in Betracht, daß das Gefeß eine Vertretung bleiben würde. Selbſt die Ueberlaſſung der leoninischen Stadt mit einem Streifen Landes bis der Minoritäten eingeführt hat , allerdings nur da, wo ein Wahlbezirk fünf Abgeordnete durch zum Meere ist unmöglich , schon weil der Papst diesen Besitz gar nicht behaupten könnte und Listenabstimmung zu ernennen hat, aber es fragt dieser Teil Roms von einer besonders demokra- | sich noch, ob nicht der Senat dies Prinzip auf
Die römische Frage.
die Bezirke von vier Abgeordneten ausdehnen wird, die sehr viel zahlreicher sind, und ob nicht die Regierung wie die Kammer dies annehmen werden, um das Gesetz nicht im letzten Augenblick scheitern zu lassen. Auch dann wird nicht daran zu denken sein, daß die klerikale Partei eine Mehrheit erhalten könnte, aber sie würde immerhin durch eine Anzahl von 50—60 Abgeordneten vertreten sein, wenn sie sich überhaupt entschließt, in den Wahlkampf einzutreten. Pius IX. hatte bekanntlich den Katholiken vollständige Enthaltung von aller Teilnahme am politischen Leben mit dem Worte nè elettori. nè eletti geboten, dies hat sich unter seinem Nachfolger schon dahin geändert , daß die Klerikalen an den Gemeinde und Provinzialwahlen teilnehmen, und jezt hat ein Cirkular des Kardinalstaatssekretärs Jacobini die Bischöfe beauftragt, dafür zu sorgen, daß überall die nach dem Wahlgesez berechtigten Gläubigen sich in die Listen eintragen lassen. Die Voce della Verità hat es zwar als eine Verläumdung der Absichten des Papstes zurückgewiesen, daß damit die Teilnahme an den Wahlen angebahnt werden solle, thatsächlich steht die Sache nur so, daß Leo XIII. noch schwankt. Die Macht der Dinge aber wird . dahin treiben, daß, wenn auch nicht gleich bei den ersten Wahlen, schließlich die klerikale Partei überall da in den Wahlkampf eintreten wird, wo sie Aussicht zu siegen hat. Bei der Lage der italienischen Parteien aber kann eine Fraktion von 50-60 Mitgliedern von erheblichem Gewicht werden, zumal sie je nach ihrem Vorteil mit der Rechten oder der Linken stimmen würde, sie kann dabei den Sturz von Miniſterien entscheiden. Fast noch wichtiger aber wäre die Thatsache, daß die Klerikalen überhaupt an dem politischen Leben Italiens wieder teilnehmen. Diese Annäherung ist keine plötzliche, die schroffe Scheidung zwischen den Kreisen der Neri und denen , welche sich der neuen Ordnung der Dinge angeschlossen haben, besteht nicht mehr in dem Grade wie in den ersten Jahren nach der Besißnahme Roms. Der Fürst Torlonia hat die große goldene Medaille, welche das Ministerium der öffentlichen Arbeiten ihm für seine großartige Austrocknung des Fucinischen Sees verliehen , angenommen , den König um eine Audienz gebeten, um ihm dafür zu danken, und wenngleich er dabei betonte, daß er der Sache des Papsttums , dem seine Familie alles verdanke, nicht untreu werden könne, so kommt
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er doch , wenn er Leo XIII . am 31. Dezember seine Glückwünsche zum Jahreswechsel gebracht hat, am 1. Januar zu gleichem Zwecke in den Quirinal. Ebenso erscheinen die Borghese, Colonna und Doria bei Hofe, demzufolge mischen sich auch in den Salons die bisher feindlichen Elemente, und es liegt auf der Hand, daß dieſer Fusionsprozeß durch eine Teilnahme der Klerifalen am politischen Leben sehr beschleunigt wer den würde. Damit wäre der Boden für eine Annäherung von Papsttum und Königtum gegeben, welche sich bisher prinzipiell als feindliche Mächte gegenüberstanden , wenngleich über eine Menge laufender Fragen tägliche Beziehungen stattfinden , wie dies der Natur der Verhältnisse nach unvermeidlich ist. Leo XIII . kann in dieser Beziehung zwar nur sehr vorsichtig vorgehen, er hat mit seinen Zelanti zu rechnen , die er mehr fürchtet als alle andern ; ihm schwebt das Schick= fal Clemens XIII . vor, von dem er wenigstens annimmt, daß er feines natürlichen Todes ge= storben, er ißt nur, was aus seiner genau beaufsichtigtenKüche kommt und ihm vorgekostet wird . Aber wenn er nur langsam vorgehen darf, ſo behält er sein Ziel im Auge. Indem er einerseits Italien doch fühlen lassen will, daß das Papsttum eine Macht ist, mit der es noch rechnen muß, verschließt er sich doch nicht der Einsicht, daß die Geschichte nicht einfach rückwärts zu schrauben ist. Personen, welche in der Lage sind , den Papst genau zu beobachten, sind der Ansicht, daß er im Herzen von der Unmöglichkeit der Herstellung der weltlichen Macht überzeugt ist und sie nur fordert. aus Furcht vor den Zelanti und um schließlich etwas zu erhalten. Dieses " Etwas" wäre ein Konkordat mit der italienischen Regierung , wodurch das Garantiegeseß revidiert und erweitert würde, so daß der Papst dann sich wirklich mit voller Unabhängigkeit in Rom zu bewegen im stande wäre und nicht als Unterthan des Königs von Italien erschiene. Daß leßterem, der weiß, daß die Radikalen , wie neulich eines ihrer Organe sagte, Königtum und Papsttum gemeinsam zerstören wollen, wie man zwei Eier aus einer Schüssel ißt, ebenso wie den ruhig denkenden konservativen Elementen eine solche Lösung sehr er wünſcht ſein würde, braucht nicht erst betont zu werden. Ob und wann es dazu kommt, hängt zu sehr vom Gang der Ereignisse ab, als daß sich darüber Bestimmtes vorausſagen ließe, aber die genannten Faktoren der Versöhnung sind vorhanden. Und obwohl Papst, ist Leo XIII.
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Barl Bartsch .
¦ Am 8. Januar trat der Dichter die Rückreise über Weimar an, wo er drei Tage verweilte. Er präsentierte sich bei Hofe und nahm bei der Herzogin Amalie die schönen Zeichnungen, die sie aus Italien mitgebracht hatte, in Augenschein. Am 11. Januar ging er nach Jena , während seine Frau noch blieb. folgenden Tage begann er seine Vorlesungen wieder. Aber gleich darauf stellte sich Fieber ein, von Seitenstichen begleitet. Den dritten Tag (14. Januar) warf er Blut aus . Einige Schillers Krankheit im Jahre 1791. | starke Aderläſſe, Blutegel, zweimal Vesikatorien auf der Brust verschafften ihm Luft. Am 15. Von schrieb er seiner Frau, sie möge zurückkehren ; Karl Bartsch. auch seine Schwägerin Karoline kam bald darauf. In den ersten sechs Tagen der Krankheit konnte er keinen Bissen Nahrung zu sich nehie schwere Krankheit, von welcher Schiller men ; er war ſo ſchwach, daß, wenn man ihn vom Die im Jahre 1791 befallen wurde , hat für Bette nach dem Sopha trug, er ohnmächtig wurde. das Leben des Dichters die traurige Be- Am neunten und siebzehnten Tage erfolgten deutung , daß seine Geſundheit dadurch aufs Krisen. Die Paroxysmen waren immer von tiefste und dauernd erschüttert wurde. Von den starkem Phantasieren begleitet. Erst acht Tage vierzehn Jahren, die ihm das Schicksal noch nach Aufhören des Fiebers vermochte er einige Stunden außerBett zuzubringen ; es stand lange vergönnte, war fein einziges ganz frei von förperlichen Leiden. Aber jene Krankheit hatte in an, ehe er am Stock herumkriechen“ konnte. In Jena erweckte sein Zustand allgemeine ihrem Gefolge auch eine erfreuliche Erscheinung: Teilnahme. Die Studenten stritten sich, wer sie zeigte dem Dichter, wie geliebt und verehrt er war, nicht bloß im Vaterlande , sondern weit bei ihm die Nacht wachen dürfe ; einige thaten über die Grenzen Deutschlands hinaus. es dreimal die Woche. Der Herzog schickte Schiller war am 31. Dezember 1790 mit ihm sechs Flaschen Madeira, die neben Ungarwein vortrefflich bekamen. seiner Frau über Weimar nach Erfurt gereift, Langsam erholte er sich, der Schmerz und wo sie im Gasthof zum Schlehdorn (jezt Rhei nischer Hof) wohnten. Er verkehrte haupt die Spannung auf einer bestimmten Stelle der sächlich mit seinem alten Gönner und Verehrer, Brust, bei starkem Einatmen, Husten oder Gähnen, dauerten fort. den Coadjutor Dalberg, auf deſſen Veranlaſſung Am 2. April war er so weit gekräftigt, er am 3. Januar in einer Sigung der kurfürstlichen Akademie nüzlicher Forschungen zu Erfurt daß er zu längerem Aufenthalte nach Rudolzum Mitgliede derselben ernannt wurde. stadt gehen konnte. Er hatte sich so erholt, Am Abend fand ein Konzert statt. In daß er wöchentlich drei bis viermal spazieren diesem wurde Schiller plötzlich so unwohl, daß reiten durfte. Er erwartete nur frische Kräuter, er in einer Sänfte nach Hause gebracht werden um nach der Verordnung seines Arztes abmußte. Es war ein heftiges Katarrhfieber, wechselnd Selterwaſſer mit Milch und frischen das ihn nötigte, einen Tag das Bett und meh- | Kräuterſäften zu gebrauchen. Aber zu Anfang Mai kehrten die Anfälle rere Tage das Zimmer zu hüten. Allerdings blieb es bei dem einen Anfall, aber dieser war wieder. Nach Schillers eigener Angabe (in dem Briefe an Körner vom 24. Mai) war so heftig, daß Schiller und sein Arzt (es war Dalbergs Arzt) vor dem Seitenstich und einem es „ ein heftiges Aſthma , wahrscheinlich von Krämpfen im Zwerchfell erzeugt, auf das sich higigen Fieber bange waren" . Der Arzt ereine Schärfe geworfen hatte". griff die verkehrte Maßregel, das Fieber zurückUnter den wiederholten und periodisch zurückzutreiben, statt den Katarrh zur Entwickelung kehrenden Anfällen waren zwei besonders fürchkommen zu laſſen, damit Schiller bald wieder in Gesellschaft gehen könne. terlich. Der Atem wurde so schwer, daß Schiller, doch ein guter Italiener ; als ihm kürzlich während des litterarischen Feldzugs der „ Post“ für die weltliche Macht jemand bemerkte, der Schuß des mächtigen deutschen Kanzlers sei doch nicht zu verachten, erwiderte der Bapst : Preferisco i Buzurari (Spottname der Piemontesen) .
Schillers Brankheit im Jahre 1791.
über der Anstrengung Luft zu bekommen, bei jedem Atemzuge ein Gefäß in der Lunge zu zersprengen glaubte. Bei dem ersteren stellte sich ein starker Fieberfrost ein, so daß die Extremitäten ganz kalt wurden und der Puls verschwand. Man wendete die kräftigsten Mittel an : besonders zeigten sichOpium, das er in starken Dosen bekam, Kampher mit Moschus, Klystiere und Blasenpflaster wirksam. Die dringende Gefahr der Erstickung machte einen Aderlaß am Fuße notwendig. „Am Dienstag wurde Starke (der Leibarzt Karl Augusts ) in der Nacht von Jena abgeholt; er traf mich aber schon und besser in einem wohlthätigen Schlafe. Starfes Urtheil von dieser Krankheit ist, daß Krämpfe im UnterleibeundZwerchfell zum Grunde liegen, die Lunge selbst aber nicht leide." Den Dienstag glaubte der Dichter nicht zu überleben ; jeden Augenblick fürchtete er, der schrecklichen Mühe des Atem=
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wieder von Rudolstadt ab 1). Schiller schlief an diesem Tage ruhig bis 12 Uhr mittags ; auch der übrige Teil des Tages verlief leidlich, so daß keine weitere Anwendung von Opium notwendig wurde. Des Nachts schlief er allerdings erst gegen 3 Uhr ein, von 4 Uhr dann aber ruhig bis zum Mittag . Der Verlauf des 14. war leidlich, nur wenige schwache Rückfälle von Engbrüstigkeit zeigten sich. Bis gegen 2 Uhr nachts konnte er nicht in Schlaf kommen, weil die Krämpfe sich regten. Dann schlief er mit weniger Unterbrechung bis gegen 9 Uhr morgens. Er war in Be-
handlung des Rudolstädter Arztes, Rat Conradi, der mit den von Starke verordneten Mitteln , einem auflösenden Tranke aus einfachemweinsaurem Kali und
Glaubersalz 2 )fortfuhr und dann Chinarinde in Defoft anwendete. Als Schiller am 24. Mai an Körner schrieb, war er „so ziemlich wiederher gestellt". In die holens zu unterliegen ; die Stimme lezten Tage des Mai fällt ein eigenhatte ihn schon verSchiller in Karlsbad. händiger, undatierlassen und zitternd Aus H. Düngers Schillers Leben" (Leipzig, Fues ' Verlag. 1881). fonnte er bloß ter Brief des Dichschreiben, was er gern noch sagen wollte. ters an Starke. Die Datierung ergibt sich darDer erste heftige Anfall war , nach dem 1) Der Brief Conradis vom 14. , der dies erBriefe vom 24. Mai, " Sonntag vor achtzehn härtet, stammt mit andern auf diese Krankheit be= Tagen". Dies muß ein Schreibfehler Schillers züglichen Briefen von Schiller und seiner Frau aus sein; es soll heißen " Sonntag vor vierzehn dem Nachlasse von Starkes (Starks ) Enkel, meinem Tagen". Dann stimmt alles : der Sonntag verstorbenen Kollegen Hofrat Start in Heidelberg. Die Briefe eignen sich, wie der jezige Besißer der fiel auf den 8. Mai, der fürchterliche Dienstag auf den 10. Mai. Damit stimmt ein Brief selben, Professor E. Martin in Straßburg, bemerkt, nicht zur Veröffentlichung. Ich habe sie für die von Schillers Frau an des Dichters Schwester, Darstellung des Verlaufs der Krankheit mit Be= Christophine Reinwald (vom 23. Mai) : „ Gewilligung von Frau Hofrat Stark, noch ehe sie in andere Hände übergingen, benutzen dürfen. stern vor vierzehn Tagen war der traurige 2) Compositum e Tartaro tartarisato cum Anfang der Krankheit. Seit dem Dienstag darsale mirabili." Die oft schwierige Entzifferung auf ist kein so heftiger Anfall mehr gekommen. " der in den Briefen verzeichneten Mittel verdanke Starke reiste am 13. Mai , vormittags, ich meinem Kollegen von Dusch.
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Karl Bartsch.
aus, daß Schiller erwähnt, er habe das Decoc- | bestandteil Asa foetida), Extract. Gentianae, tum Chinae jest zwölf bis vierzehn Tage Extract. Angusturae, gelöst in Aqua Vagenommen, Conradi aber am 14. Mai schreibt, | lerianae, Essentia castorei, Spiritus nitri er wolle noch einige Tage mit dem auflösenden dulcis, Syrup. aurentiorum. Die GewichtsTrunke fortfahren , dann aber Decoctum bestimmungen für die einzelnen Mittel sind Chinae nehmen lassen. hier nicht angegeben. Außerdem soll genomAus dem Briefe entnehmen wir, daß nach men werden morgens und abends ein Pulver mit Cremor Tartari (?), Sal polychrestum Starkes Abreise zwar keine heftigen Anfälle von Engbrüstigkeit sich zeigten, daß aber den (Glaseri, schwefelsaures Kali), Pulv. Castor. , noch kein Tag verging , an welchem sich nicht Sacch. alb. Endlich wird Seidelbast zur auf mehrere Stunden aſthmatiſche Beschwerden Blasenerzeugung auf dem Arm oder einem einfanden, gewöhnlich, doch nicht immer , nach Bein, und Klystiere und Bäder verordnet. Am 12. Juni folgte ein neuer, doch nicht dem Essen, in der Verdauungszeit. Derspannende Schmerz auf der rechten Bruſt dauerte fort. Der so heftiger Krampfanfall . Unter denen , die in Verehrung sich der Schlaf war ziemlich gut, aber von unruhigen MeiStarke's sich erbat Pflege des Dichters widmeten, befand sich ein Träumen begleitet. Er junger Livländer , Karl Graß , der in Jena nungsäußerung und Rat, wie er es ferner halten studiert hatte. Er war ursprünglich Theologe solle, ob es vielleicht gut wäre, auf der leidenden gewesen, hatte aber dann sich der Malerei geStelle ein künstliches Geschwür durch Seidelbast zu unterhalten, ob er Molken trinken oder lieber widmet. Jegt eilte er aus der Schweiz hermit den auflösenden Pillen fortfahren solle. bei. Ein Brief von ihm an Schiller aus dem Jahre 1795 enthält eine hierher fallende Stelle, Leider nahm schon im Juni die Krankheit die auf die Zeit zurückblickt, wo Groß der Pflege aufs neue einen weniger günstigen Verlauf; die Anfälle kehrten stärker wieder. Zwar be- des teuren Kranken sich widmete. „Ich sehe noch, “ schreibt er, „jeden einzelnen fand Schiller noch am 7. Juni ſich ſo wohl, Moment unverrückt und deutlich vor mir. Wie daß er, wie seine Frau in einem am 8. abends an Starke gerichteten Briefe schreibt , er sich wir am Bette saßen und Ihnen vorlaſen und am Abend auf das Schloß tragen lassen durfte, was wir lafen ; wie wir die Mondlandschaft um eine Komödie mit anzusehen. Er befand vor Ihnen aufstellten ¹ ) ; dann wieder , wie sich auch da leidlich und war weder der Zug Ihre Gattin an Ihrem Bett kniete und die Thränen verbarg und Ihre Hände sie umluft ausgesezt noch von der großen Hiße beschwert. Allein die darauf folgende Nacht war schlangen; wie Sie mit mir Malaga und auf unruhig, er konnte nicht schlafen, atmete schwer, Wiedersehen tranken ; dies alles und was Sie hatte fliegende Hiße und empfand plötzliches mir sagten und was ich empfand , dies alles Zusammenschnüren des Halses . Am 8. Juni, ist mir so gegenwärtig wie von gestern her. " Wie lebhaft die Erinnerung an jene Tage vormittags 112 Uhr, stellte sich ein heftiger in dem jüngeren Freunde haftete, bezeugt noch Krampf ein, und der Druck auf der Brust mehr ein Brief, den er nach des Dichters Tode wurde so stark, daß Schiller plößlich aus dem an die Wittwe desselben richtete. Bette sprang. Zum Glück dauerte dieser angstvolle Zustand nur kurze Zeit. Zwar kehrte "Ich befand mich, " heißt es hier, „ in seinem Zimmer und hatte, indem ich am Fenster gegen 2 Uhr nachmittags das krampfhafte Gefühl wieder, aber weniger stark. stand und las , mir das Bild des Leidenden und das Edle und Große, welches seine Form Die angewendeten Mittel waren nach einander Opium, äußerlich und innerlich, in ziem und seine Züge umschwebte, tief eingeprägt. Er hatte, so viel ich weiß, etwas Opium genomlicher Quantität, Kampher, Moschus, Asa foetida und Naphtha. Starke, der auch dem oben men, die heftigen Krämpfe zu ſtillen, und lag erwähnten Briefe Schillers einige Mittel beigeda , leicht entschlummert , wie ein MarmorSie befanden sich im Nebenzimmer, bild. schrieben hat ), verordnete eine krampsstillende wo ich Ihnen die Schillersche Uebersetzung Arznei aus Aqua foetida Pragensis (Hauptdes zweiten Buches der Aeneide vorgelesen 1) Er verordnete neben Pyrmonter noch Selzer Wasser, Milch und Eidotter, und Pillen aus Quaſſiapulver und fel Tauri inspissatum. ¹) Ohne Zweifel ein Bild von Groß ſelbſt.
Schillers Krankheit im Jahre 1791 .
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hatte ¹), und von Zeit zu Zeit kamen Sie an die | ergreifenden Totenfeier wurde. Als dann durch Thüre, sich nach Schillern umzusehen. Sie sahen | Profeſſor Reinhold in Jena an Baggesen die ihn also da liegen und nahten leise auf bloßen Nachricht gelangte , Schiller lebe noch , werde Strümpfen, und ebenso leise knieten Sie mit sich aber kaum je wieder ganz erholen, zumal gefalteten Händen vor seinem Bette hin, Ihr da er von Nahrungsſorgen gedrückt ſei ( er beloses dunkles Haar floß über die Schulter. zog als Professor an der Universität Jena einen Still weinte Ihr Auge. Sie hatten es wohl Gehalt von 200 Thalern !) , da las Baggesen faum bemerkt , daß noch jemand im Zimmer diese Stelle dem Erbprinzen Friedrich Christian war. Der ohumächtige Kranke schlug indessen von Augustenburg vor, und dieser, tief ergriffen, etwas die Augen auf, er erblickte Sie, mit Leiden- bot in Verbindung mit Schimmelmann dem schaft umschlangen plötzlich seine Arme Ihr Dichter ein Jahresgeschenk von 1000 Thalern Haupt , und so blieb er auf Ihrem Nacken auf drei Jahre an. Das Anerbieten geschah ruhen, indem ihn die Kraft von neuem verließ.“ in einer so edlen, zartfühlenden und schonenden Im Anfang Juli hatte sich Schillers Zu- | Art, daß Schiller es nicht ausschlagen konnte. „Nehmen Sie dieses Anerbieten an, edler stand so weit gebessert, daß er daran denken konnte, in das ihm vom Arzt empfohlene Mann," schrieben die edlen Geber am 27. Nov. Karlsbad zu gehen. Ehe er dahin abreiste, „Der Anblick unſerer Titel bewege Sie nicht es war Starke nochmals in Rudolstadt. Nach abzulehnen. Wir wissen dieß zu schäßen. Wir seiner Rückkehr von dort fällt ein undatierter kennen feinen Stolz, als nur den, Menschen zu sein, Bürger in der großen Republik, deren GrenBrief von Schillers Frau. Wir erfahren daraus, daß auch jezt die Anfälle zwar nicht ganz aus- zen mehr als das Leben einzelner Generationen, blieben, aber doch schnell vorübergingen. mehr als die Grenzen eines Erdballs umfassen." Es handelte sich nun hauptsächlich darum, Schiller antwortete zuerst in einem Briefe wie der Leidende die Reise nach Karlsbad zurückan Baggesen ( 16. Dezember) und drei Tage nachlegen sollte. Es scheint Starkes Ansicht ge- her direkt an den Herzog und an Schimmelmann. "Zu einer Zeit , wo die Ueberreste einer wesen zu sein, daß Schiller reiten sollte. Schiller und seine Frau waren mehr für Fahren, na- angreifenden Krankheit meine Seele umwölkten mentlich aus dem Grunde, weil er beim Reiten und mich mit einer finstern traurigen Zukunft der Sonne mehr ausgesezt sei, auch die Stel- schreckten, reichen Sie mir wie zwei schützende Das Genien die Hand aus den Wolken. lung weniger verändern könne und die Gleichheit großmütige Anerbieten , das Sie mir thun, der Stellung ihm besonders beschwerlich war. Auch bat er Starke um ein paar empfehlende Zeilen erfüllt , ja übertrifft meine kühnsten Wünsche. Die Art , mit der Sie es thun , befreit mich an Dr. Kappe, den Badarzt in Karlsbad. Die Reise wurde in furzen Stationen zu- von der Furcht, mich Ihrer Güte unwerth zu zeigen, indem ich diesen Beweis davon anrückgelegt. Die Erscheinung Schillers in Karlsnehme. Erröthen müßte ich, wenn ich bei einem bad veranschaulicht eine uns erhaltene Zeichnung, die den Dichter reitend darstellt (S. 127). Der folchen Anerbieten an etwas anderes denken Aufenthalt brachte zwar, wie zu erwarten, keine könnte, als an die schöne Humanität, aus der Herstellung , doch Erleichterung. Indes noch es entspringt, und an die moralische Absicht, im September blieben die Krampfanfälle nicht zu der es dienen soll . Rein und edel, wie Sie geben, glaube ich empfangen zu können.“ ganz aus, auch die Kurzatmigkeit hielt an. So hatte die schwere Krankheit dieses Infolge des schlimmen Anfalls am 10. Mai hatte sich durch die Zeitungen das Gerücht verJahres die schöne Folge gehabt, dem Dichter, breitet: Schiller sei gestorben. Ein Kreis von wie er an Körner schreibt, die längst gewünschte Unabhängigkeit des Geistes zu geVerehrern des Dichters in Kopenhagen, unter ihnen Graf Schimmelmann und der Dichter Bag- | währen “ . Er gewann nun Muße, um dem Studium der Kantischen Philosophie, die ihn gesen, der 1790 Schiller in Jena persönlich kennen gelernt hatte, veranstalteten in der Nähe damals mächtig anzuziehen begonnen hatte, die nächsten Jahre ganz zu widmen und somit die von Kopenhagen eine Schillerfeier , die nun durch die Kunde von seinem Tode zu einer philosophische Durchbildung seines Geistes zu vollenden, die den Dichter Schiller erst auf den 1) Daran hatte Schiller gerade in Rudolstadt, als es zu An= Höhepunkt seines dichterischen Schaffens führte. fang April beſſer ging, gearbeitet. Brief an Körner vom 10. April. 17
Friedrich von Hellwald.
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Yon
nach
Kairo
Suez.
Von Friedrich von Hellwald.
M
itte Juni feiern die Aegypter ein eigentümliches Fest. In der Nacht des 17. Juni bringt nämlich ein Engel von Allahs Throne einen goldenen Tropfen herab, den er in die noch immer unerforschten Quellen des oberen Nils wirft, was sofort das so wohlthätige Anschwellen des Stromes bewirkt. Es ist dies die Nacht des sogenannten heiligen oder goldenen Tropfens n Leelet - en - nuktah", und der echte Moslem glaubt noch heute ebenso fest an diese Legende , der es an poetischem Reiz nicht fehlt, wie seine Uebrigens genießt Vorfahren aus der Zeit des Islam. der alte heilige Nil die Verehrung der ganzen Bevölkerung Aegyptens schon seit unvordentlichen Zeiten. Denn von ihm hing die Wohlfahrt des Landes ab : er durfte nur seine Wasser zurückhalten oder in zu großer Fülle ausschütten, und es war das Land von der gräßlichsten Hungersnot heimgesucht. Da-
her pfleg die ten alten Aegypter alljährlich vor der Epoche des Nilsteigens demFlußgotte mannigfaltige Versöhnungsfeiern zu bieten; unter anderm warfen sie eine in kostbare Gewänder gekleidete, mit funkelndem Geschmeide geschmückte Jungfrau in die Fluten des Nils, um den etwaigen Zorn der Flußgottheit zu besänftigen, auf daß diese das Land nicht darben laffe. Als Aegypten durch die Araber erobert wurde, schafften sie dieses Menschenopfer ab, aber die besagte Nacht blieb auch ihnen heilig und sie pflegen sie unter Gebeten und FeierEs steigt lichkeiten aller Art zu verbringen. der Nil indes bloß in Oberägypten sehr schnell, sonst wird sein Wasser durch große und kleine Kanäle meilenweit in die Landschaft sowohl des rechten wie des linken Ufers hingeleitet, so daß der Zuwachs in Unterägypten anfangs unmerk-
Typus eines Arabers.
Unverschleierte Kairenserin. lich und in Kairo erst in den ersten Tagen des Juli wahrnehmbar ist. Seine halbe Höhe hat er um den 15. August, seine größte Höhe zwischen
Von Bairo nach Suez. dem 20. und 30. September erreicht. Auf seinem höchsten Stande verharrt der Nil un-
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gefähr vierzehn Tage , also etwa bis Mitte Oktober, und gegen Mitte November ist er wieder
Vor der Prozession (S. 132). 1 den kleinen Bairam , welcher auf den Ramaauf die halbe Höhe seines Steigens gesunken. Um jene Zeit feiern die Mohammedaner don, den allgemeinen Fastenmonat, folgt und
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Friedrich von Hellwald.
ein Genuß- und Freudenfest ist, um die Gläubigen für die dreißigtägigen Entbehrungen zu entschädigen. Viel großartiger ist das sogenannte große Bairamfest zur Mahnung an das jährliche Opfer der Mekkapilger auf dem Berge Arafat in der Nähe der heiligen Stadt. Mit dem Abgange der großen ägyptischen Bilgerkarawane ist der Brauch verbunden, daß ein edles Kamel mit einem goldgestickten Zelte ausgerüstet wird, das zwei kalligraphisch ausgestattete Koranexemplare enthält. Von dem Augenblicke an, wo das Prachtzelt aus dem Atelier des Schneiders hervorgeht bis zum endgültigen Abzuge der Bilgerkarawa ne , ungefähr zehn Tage, wird das „Mahmal", d. h. das in phantastischer Art mit Tüchern und Fähnchen und sonstigem
Zierat aufgepußte Kamel
große Plaz vor der Citadelle ist schon zeitlich früh mit einer unabsehbaren Menge von Menschen erfüllt, welche die Ankunft der Pilgerprozession erwarten (S. 131). Für die äußere Physiognomie Kairos am charakteristischsten ist die am Abhange des Dschebel Mokattam sich erhebende eben erwähnte Citadelle ; sie ist das politische Zentrum . Kairos, und unvergleichlich wertvoll als Belvedere durch das auf jedem Punkte derselben sich aufrollende originelle, ja wahrhaft einzige Panorama. Ein selten reicher Blick belohnt denjenigen, der abends , wenn die Sonne zur
Rüste geht, etliche hundert Fuß an dem Mokattam hinaufsteigt, unver denn gleichlich schön, bunt , reizend und anziehend, wie ein Mär chen, groß und umfassend ist Welt! diese Endlos zieht sich die Stadt nachOsten hin, zahllos sind ihre Kuppeln mit zierlich maurischer Ar-
mitseiner heiligen Bürde unter ansehnProlicher Don zession Station зи Station innerbeit, zu Hunhalb der Stadt derten zählen begleitet. Eine ihre Minarete, dieser Statio die mit schlanPalmen nen ist die fen Cita große wetteifern , und durch das delle, wo das Gewirr von Kamel mit seiner ganzen Straßen und solennen BePläßen sieht gleitung einen man deutlich die farbige كردى Tag halben und eine Nacht Menschenunter militärimenge wogen. Ornament an einem Minaret. An die Vorscher Ehrenbewachung zubringt. Des anderen Tages geht städte schließen sich prachtvolle grüne Gärten die eigentliche Mahmal-Phantasie an und der mit südlicher Vegetation , in deren Schatten.
Von Bairo nach Suez.
133 Paläste und Landhäuser stehen, dann wiederum durchkreuzen kühle Alleen hoher Bäume die Sarazenenstadt, hinter ihr aber fließt der alte herrliche, der treue Vater Nil, in deſſen Nähe der Feind lauert und hereinDenn nur ein zubrechen droht.
Kolonnade der Amru-Moschee (S. 135).
schmaler Streif Grün jenseits des Stromes, und die Wüste Afrikas breitet sich zum unabsehbaren Meere aus . Furchtbar und doch schön, abschreckend und an sich ziehend zugleich ist dieses Bild , diese Majestät des Todes. Strahlend in der Farbenglut des Südens sinkt die Sonne am fernen Erdenrand und übergießt die seltsamen Formen der leblosen Ferne mit ihren Lichtern, und wie in einen Purpur getaucht entzünden sich die Pyramiden, uralte Zeugen des menschlichen Schaf fungstriebes ! Und dennoch geht es , wie ein guter Beobachter schon vor vielen Jahren bemerkt hat, dem fremden Ankömmling mit Kairo ungefähr genau so wie mit Venedig. Seine Phantasie, sagt er, ist erregt durch Hunderte von Beschreibungen und Darstellungen, die er in sich aufgenommen, seine Einbildungskraft aufs höchste gesteigert in Erwartung der Wunder, die seiner harren, und nun er da ist, erkennt er, daß es eigentlich am besten wäre, fönnte er mit all diesen vorgefaßten Meinungen tabula rasa machen, um unbehelligt durch dieselben auf der eigenen Spur einhergehen zu können . Der erste und unmittelbare Eindruck ist freilich der völliger Betäubung , denn man befindet sich in der That inmitten einer ganz neuen Welt und wird zu Tausenden umwogt von Gestalten, deren jede einzelne in Europa angestaunt würde. Der fernste Süden schickt seine Söhne, glänzend schwarz wie Ebenholz und Zähne von Elfenbein, die Wüste Arabiens ihre Bewohner; aus Sudan und Nubien, aus Syrien und Persien kommen die Menschen, die hier seine Umgebung bilden, die weiße und die schwarze Rasse kreuzt und mengt sich, die nächsten Verwandten des Affen-
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Friedrich von Hellwald.
geschlechtes neben den Geschöpfen höchster Entwickelungsstufe , die Bibel und das Märchen, Geschichte und Romantik, Altertum und modernste Gegenwart ,
Himmel und Boden, Natur und Kunst reichen sich die Hand und bilden eine Kette, die den Neu-
ling festhält , daß er starr und bewegungslos hineinblickt und wieder hineinblickt in dieses Kaleidoskop undsich mehr wie einmal verwundert an die Stirne fährt , als 201 wollte er sich ver gewissern , ob er träume wachend träumend oder wache. Da erblickt er den bedächtigen مہر بانی Muselmann auf sei nem weißen LangBallonfenster in Kairo. ohr, den hochauf geschossenen schlanfen Araber, den weiße und grelle Farben liebenden Neger, den bedauernswerten „ Sais ", der jedem Wagen vorlaufen und den flüchtigen Hufen gleichen Schritt halten muß; den Nilbootmann und den Wasserträger, der seine Ladung in bocksledernem Sacke auf dem Rücken trägt und sich durch das Aneinanderschlagen der Blechschalen und den Ruf „Moje !" bemerkbar macht; die verhüllte Dominofigur der Haremdame; den schmußigen Fellah im blauen Kittel; den gewaltigen Kawaß, umgürtet mit einem Säbel und stolzem Selbstbewußtsein; den blinden Bettler, der den rührenden Ruf: Ihr, die ihr sehend seid, gebt mir, dem Blinden !" erschallen läßt ; den Eseltreiberjungen, der neben seinem galoppierenden Onokephaliden einherläuft , stundenlang ; den dunkelgekleideten Kopten, diesen Abkömmling der ältesten Bewohner des Landes , dessen Ahnen den christlichen Glauben treu vererbt , trotz aller Verfolgungen , die ihnen schismatische Glaubensgenossen und die Intoleranz der türkischen Eroberer bereiteten , heute freilich nicht mehr im Geruche besonderer Heiligkeit stehend; das Weib des Fellah, das unverhüllten Antliges,
ein nacktes Kind rittlings auf der Achsel tragend, Gemüse feil hält ; den Gaukler, der seine Kunststücke vor einer Schar zerlumpter Rangen proudziert; den ernsten Schreiber , meist am grünen Turban und am altägyptischen Schreibzeug im Gürtel erkennbar; den Haawi ", der das Geheimnis jener Phillos, deren Schlangenkunststücke schon Herodot erzählt , überkommen hat, und wie sie alle heißen und aussehen mögen, die abenteuerlichen Episodisten des bunten bewegten Lebens, denen der Fremde verwunderte und erstaunte Blicke nachsendet, wenn sie an ihm vorüberhuschen . Nicht minder überrascht schweift sein Auge in diese winkeligen Gassen und Gäßchen, mit Häusern ohne Thüren und mit seltsamen balfonartig vorspringenden
Arkade an der Tulun Moschee (S. 135). Fenstern, oft Brandstätten und Ruinen ähnlicher als menschlichen Wohnungen, in deren Labyrinth sich alles drängt, was Beine hat, vom Kinde, das sich im Staube aufsichtslos wälzt, bis zum Greise, der am Stabe einherschwankt, von der Kaße und dem herrenlosen Hunde bis zum
Don Bairo nach Suez.
Kamel, das schwerbeladen daherfeucht; in der Bazare schmutzige, niedrige Gewölbe, in denen alles, was zum Haushalte und zum Lurus gehört, die einfachsten Geräte, die kostbarsten Gewebe und Juwelen,
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Doch verlassen wir die größte Stadt Afrikas und eilen wir auf den Flügeln des Dampfes rasch jener Stelle Aegyptens zu , an welcher
ausgeboten werden ; der Blick haftet auf den Moscheen, von denen einige, wie die Tulun (S. 134) und Amru = Moschee (S. 133), noch die Spuren der berühm ten maurischen Architektur zeigen, andere mit moderner Pracht überladen sind, wieder andere geschmack- und stillos , eher Scheunen und Stallungen gleichend. Alles das besteht noch, aber es macht den Eindruck des Verfalles . Mit Wehmut nur gedenkt man der Worte jenes Märchens, dessen man sich in Kairo so gern erinnert : Wer Kairo nicht gesehen hat, hat nichts gesehen ; sein Boden ist Gold, sein Himmel ein Wunder, feine Weiber gleichen den schwarzäugigen Jungfrauen, die das Paradies bewohnen; wie sollte es auch anders sein, da Kairo die erste Stadt der Welt ist! Das mag, wie unser Beobachter treffend meint , das Kairo der Vorzeit gewesen sein , nicht die heutige Residenz der ägyptischen Vizekönige, welche äußerlich wie in ihren sozialen Verhältnissen in einem Uebergangsprozesse begriffen ist, der die malerische Wirkung beeinträchtigt, indem er die alte Metropole am Nil jener an der Seine ähnlich zu machen strebt.
Fellahdorf bei Kairo (S. 136). die moderne Technik eines ihrer größten Wunder vollbracht hat : der Landenge von Suez. Die Entfernung zwischen Kairo und dem Städtchen Suez beträgt 200 km, welche die Eisenbahn in sechs Stunden zurücklegt. In der
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Friedrich von Hellwald.
nächsten Umgebung Kairos stoßen wir noch hier und da auf ein Fellahdorf (S. 135), das heißt auf einen Haufen von Lehmmauern ohne Thür und Fenster, die sich nur stellenweise zu einer Art großen Taubenkobel aufbauen , in der irdene Krüge eingebettet scheinen , während schlanke Dattelpalmen ihre Wipfel darüber hin in die
Lüfte wiegen. Bald aber wird das bebaute und bewohnte Land immer schmäler, bald sind es eigentlich nur noch grüne Zungen , welche die Kultur in das Sandmeer der immer näher heranrückenden Wüste hinaussendet , Zungen, die glücklicherweise, dank der Energie der Bebauer und dank dem „ Süßwasserkanal “ , immer
Station El Kantara am Suezkanal (S. 138). größer werden. Dieser Süßwasserkanal hat daher seinen Namen, daß er den Bewohnern von Suez aus Kairo frisches Nilwasser zum Trinken zuführt ; er ist die Grundbedingung und der Leitfaden für alle Fortschritte der Vegetation, die einen schmalen Saum entlang seinen Ufern bildet. Darüber hinaus ist alles Wüste ; mit Ausnahme von etwas halbverdorrtem Ginstergestrüpp hört aller Pflanzen-
wuchs auf; die Luft über dem Boden zittert und flimmert wie über einem heißen Herde, doch ist die Hize erträglich , denn man atmet die reine Wüstenluft, in welcher die Bruſt ſich freier hebt , so frei wie bei uns nur auf den Bergen, zu denen der Hauch der Grüfte nicht dringt. Dennoch ist der Reisende froh, endlich in Nefische , der kleinen Kreuzungsstation vor Ismailia anzulangen , wo kühlende Ge-
Von Bairo nach Snez.
tränke und Eis bereit stehen. Der Zug fährt dann in einer kleinen halben Stunde nach Ismailia am Suezkanal, einer freundlich aussehenden aber eigentlich ein ziemlich fümmerliches Dasein fristenden neuen Stadt, um gleich wieder auf demselben Wege zurück nach Nefische und von hier südlich nach Suez zu dampfen. Auf dieser ganzen, fast 100 km langen Strecke hält sich die Eisenbahn beständig in der Nähe des Süßwasserkanals und des ziemlich parallel damit lau-
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Die Stadt liegt in völliger Wüste, der jeder Fußbreit Boden erst abgerungen werden mußte. Daher die Dürftigkeit der Vegetation, selbst in dem was hier euphemistisch Garten heißt. Außerhalb der Stadt nichts als Sand, Felsen, Himmel und blaues Meer; das letztere mit den weißen Segeln und mit der Begrenzung durchsteile macht Felswände das Bild noch erträglich. Eine verwitterte, zerklüftete Felsmasse im Osten fesselt unseren Blick; es ist der Sinai, das bekannte Wahrzeichen aus der Geschichte des MonoKein theismus. Wäldchen, fein Baum spendet dort drüben Schatten ;
fenden Suezkanals, dessen Richtung man an den Mastspitzen und Kaminen der Schiffe erkennt, die Ansicht von Suez. auf ihm dahinfahren. Endlich erblickt man zur Linken eine sengende Sonnenstrahlen fallen schier scheitelrecht große blaue Wasserfläche und im Westen taucht auf den nach befruchtendem Naß lechzenden eine Hügelkette auf, die immer näher und näher Boden. Ein kleiner Palmenhain, ein Asyl inmitten des starren Todes , winkt vom Fuße rückt, bis sie sich endlich dicht an die Bahn des Berges herüber. Fast möchte man an erstreckt. So gelangt man nach Suez.
Ein Schiff im Suezkanal. die Neckerei einer Fata Morgana glauben, doch es sind die sogenannten Mosesquellen, eine Quellengruppe inmitten hübschen Pflanzenwuchses, die namentlich wegen der Entstehung
der trichterförmigen Bassins naturhistorisches Interesse bietet. Suez selbst sieht schlimm aus ; die Stadt ist einem unrettbaren Ruin verfallen ; der Bau 18
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Friedrich von Hellwald.
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Schleusenwert bei Ismailia. des Kanals hat ihr das Dasein , die Eröff nung desselben aber den Todesstoß gegeben. Der Kanal, dieses gigantische Werk der Neuzeit, hat eine Breite, welche, nach dem Augen maße geschäßt , zwischen 70-130 Schritte schwankt. Er ist jedoch nicht in seiner ganzen Breite fahrbar und das eigentliche Fahrwasser durch Holzblöcke markiert. Von fünf zu fünf Seemeilen sind Ausweichestationen errichtet, da des engen Fahrwassers halber stets nur ein Schiff die Strecke zwischen zwei solchen Stationen passieren kann. Die Stationen stehen untereinander in telegraphischer Verbindung und signalisieren durch Semaphore den Schiffen die entsprechenden Aviso . Der Suezkanal ist .130 km lang , die Trace von Suez bis an die Bitterseen im allgemeinen gerade südnörd
lich , biegt aber dann etwas gegen Westen, indem sie den Timsahsee durchschneidet. Von der Station El Kantara amMenzalehsee ( S. 136) ist dieselbe wieder schnurgerade bis Port Saïd, dem blühenden mediterraneischen Endpunkt des Kanals. Seine Umgebung ist trostlos, Sandwüste, stellenweise versumpft, ohne Vegetation. In dieser unabsehbaren Ebene erheben sich nur einige unbedeutende Sandhügel , welche, gleich den Schneewehen , ihre Gestalt dem Spiele des Windes verdanken. Fata Mor gana ist immer sichtbar , und zwar scheint es , als wäre die Sandebene am Horizonte durch einen Wasserstreifen begrenzt , hinter welchem sich kleine Sandhügel erheben. Bei geringer Aenderung des Beobachtungsortes seiner Höhe nach ändert sich auch die Breite
Von Kairo nach Suez.
des Wasserstreifens ; je tiefer der Beobachtungsstandpunkt , desto schmaler die auf optischer Täuschung beruhende Erscheinung. In einer Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaft hat der berühmte Erbauer des Kanals, Herr Ferdinand von Lesseps, seinerzeit einige interessante Mitteilungen über diese Wasserstraße gemacht, welche einen der imposantesten Marksteine in der Geschichte des Weltverkehrs bezeichnet. Darnach passieren Schiffe bis zu fast 9 m Tiefgang ohne Schwierigkeit. Die Strömungen erreichen zwischen Suez und den bitteren Seen eine Geschwindigkeit von 1 m auf die Sekunde, zur Zeit der Hochfluten gelegentlich noch ein Zehntel mehr. Zwischen Suez und den Bitterseen geht der Strom zur Flutzeit nordwärts , zur Ebbezeit südwärts . Zwischen den Bitterseen und Port Saïd aber wechselt er mit der Jahreszeit ; im Winter findet ein langsamer Abfluß des überflüssigen Flutwassers nach dem mittelländischen Meere statt; im Sommer, wo täglich Tausende von
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Kubikmetern aus dem Kanale und den Seen verdunsten, bildet sich ein umgekehrter Strom vom mittelländischen Meere nach den Seen zu, welcher das verlorene Wasser ersetzt. Sehr be= merkenswert ist der Einfluß, welchen der Kanal auf das Klima seiner Nachbarschaft geübt hat. Von 1854 bis 1870 regnete es in der Umgebung desselben höchstens einmal. Jezt taut es stark und regnet wenigstens zweimal im Monat. Die Bewohner von Suez beklagen sich weniger als früher über die Hiße des Sommers und längs dem Kanale bildet sich eine Vegetation, die ihren Ursprung den neu hervorgerufenen atmosphärischen Niederschlägen verdankt. Und nun noch ein Wort über Lesseps, den merkwürdigen Mann. Am 7. November 1854, ein paar Monate nach dem Regierungsantritte des Vizekönigs Mohammed Saïd, mit dem er seit zwanzig Jahren befreundet war, landete Lesseps in Alexandrien. Er hatte eine Denkschrift über die Durchstechung der Landenge von Suez bei sich. Die freundliche Aufnahme, die
Wasserwerk zu Ismailia. er beim Vizekönig fand , ermutigte ihn, und als er den ägyptischen Herrscher einmal bei guter Laune traf, teilte er ihm den ganzen Plan mit. Mohammed Saïd hörte ihn mit
vielem Interesse an, machte einige in der Sache begründete Einwürfe, die Lesseps widerlegte; endlich sagte er: „ Ich bin überzeugt, ich nehme Ihren Plan an, das ist nun eine ab-
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Barl Stieler. Vier Lieder.
gemachte Sache; Sie können auf mich zählen." aus finanziellen und Handelskreisen, von ParlaDas war am 15. November 1854. Die Konmentsmitgliedern und in der Presse ; aber zessionsurkunde wurde vierzehn Tage darauf | Lord Palmerston war und blieb dem Unteram 30. November 1854 — erteilt, und Leſſeps | nehmen abgeneigt und die Rücksicht auf die bereiste nun zunächst mit seinen Gefährten | durch ihn repräsentierte englische Regierung Linant und Mougel auf Kamelen von Suez hielt auch die franzöſiſche von thatkräftiger aus die Strecke zwischen dem Roten und dem Unterstüßung ab. Er war also bei der AusMittelmeere. Die auf der Reise angestellten führung seines genialen Planes ganz auf ſeine Beobachtungen und Meſſungen beſtärkten Lesseps eigene Thätigkeit angewiesen, eingedenk einer in seiner Ueberzeugung von der DurchführMahnung des ersten Vizekönigs von Aegypten, barkeit des Unternehmens. Im Januar 1855 „Denken Sie daran, mein junger Freund" hatte ihm dieser einst gesagt „daß wenn reiste er nach Konstantinopel, um die groß Sie im Laufe Ihres Lebens etwas sehr Wichherrliche Bestätigung des vizeköniglichen Konzessionsfermans zu erwirken, ohne ihn jedoch zu ertiges zu erfüllen haben , Sie dabei nur auf langen. Er erhielt nur die schriftliche Anerkennung sich allein zählen dürfen. Wenn Sie zu zweien von der Pfortenregierung, daß die Durchstechung sind, so ist schon einer zu viel dabei. “ Um ſo der Landenge von Suez jedenfalls ein verdienstgrößer ist das Verdienst Lesseps , das große liches und nüßliches Werk sei. Um so mehr Teil- Werk dennoch durchgeführt zu haben, welches nahme fand Lesseps in Frankreich. Auch in Lon- für alle Zeiten als eines der gewaltigsten Denkdon erhielt er viele zustimmende Erklärungen | male menſchlichen Schaffens daſtehen wird.
Vier
Lieder . Bon
Karl Stieler. Ein Spielmann. Ein Spielmann zog des Wegs einher Dem horchten alle, alle; Der macht das Herz so leicht und schwer Mit seinem süßen Schalle. Der kam zu einer holden Frau Und sang um ihre Minne: Da neigt die schöne Frau ihr Haupt Und sagte leis: ,,Halt inne !" ,,Denn sieh, wie stark auch Liebe ist, Noch stärker ist die Treue; Wie tief auch meine Wonne wär' Noch tiefer wär' die Rene !" ,,Mein Lieben all' , das ist für den, Dem ich es zugeschworen Doch geht mir Euer süßer Sang Wohl ewig nicht verloren !"* Da dankt er ihrer weißen Hand, Und zog auf seinen Wegen ; Am nächsten grünen Lindenbaum St er zu Nacht gelegen. Bwei dunkle Augen sah'n ihm nach, Die ganz voll Thränen waren Ihm aber dünkt, er hätt' noch nie Ein schön'res Leid erfahren ! Am Bache. Ich hab' mich ganz an Dich verloren, Und wo ich gehen mag und sein : Auf ftiller Flur, beim Lärm der Thoren Auf allen Wegen bin ich Dein. Ich seh den Abend und den Morgen Nar mehr im Schimmer Deines Blicks ; Du bist die Fälle meiner Sorgen, Du bist der Odem meines Glücks.
Ich ward wohl ganz ein Weltversäumer Und fließt die Beit doch wie der Bach, Die Woge ruft : Wach' auf, du Träumer! Doch nimmer, nimmer werd' ich wach !
Ohne Rast. Am Abend war ich heimgekommen, Still faß die alte Mutter dort ; Ich sah bei ihr kurz und beklommen Da sprach sie leis : ,, Du willst noch fort ?" ,,Ich weiß es wohl, zwei braune Augen, Die sind Dein Glück und sind mein Harm; Will's Dir daheim denn nimmer taugen ? Glänzt unser Feuer Dir nicht warm ?“ Ich sah sie an und ließ sie sagen, Wie eine Wunde brennt ihr Wort; Ich hab' den Mantel umgeschlagen Der Nachtwind rauschte und ging fort!
Nächtliche Wege. Das ist ein seltsam Gehn : Die Tritte schallen, Ich hör den Herbstwind wehn Und Blätter fallen. Die Bäche rauschen fumm, Die regenfatten, rundum Ich zieh' dahin Nur Schatten, Schatten ! Gewölk voll dunkler Kraft 3ch zich' so trübe Verstummt vor Leidenschaft Verirrt vor Liebe!
LEA
里 Die Fabrit in ihrem gegenwärtigen Zustande.
Die
W Bündhölzerfabrik in Jönköping. Von an muß ganz besondere Konnexionen aufzu M weisen haben, um die Erlaubnis zum Eintritt in die inneren Räume der weltberühmten Fabrik zu erlangen. Ich hatte solche - und so gelang mir dies , jedoch auch erst , nachdem ich die Versicherung abgegeben hatte, daß ich als Nichttechniker ganz außer stande sei, die Konstruktion der hier aufgestellten Maschinen zu erforschen und — zu verwerten. Dies alles vermochte ich mit gutem Gewissen, und so ward mir noch die Ehre zu teil, von dem technischen Direktor der Fabrik selbst umbergeführt zu wer den und durch diesen die eingehendsten Erläuterungen zu empfangen. Die Fabrik, welche bis vor circa zwölf Jahren in einem einzigen Holzgebäude Raum fand, nimmt jezt mit allen ihren Maschinen räumen, Nebengebäuden, Magazinen u . s. w. ein ganzes Stadtviertel für sich allein in Anspruch und bildet , da hier an 6000 Arbeiter und Arbeiterinnen , außer zahllosen Ingenieuren , Technikern , Beamten u . s. w. bei hohen Löhnen und Gehältern beschäftigt werden, die Veranlassung, daß sich das einst ziemlich unbedeutende Städtchen Jönköping zu einem der wohlhabendsten Handelsplätze Schwedens entwickelt hat. Sobald man durch das stets verschlossene Gitterthor in den ersten Hofraum eintritt,
G.
. Hilder.
erblickt man mächtige, haushohe Anhäufungen von Espenhölzern und erfährt mit Staunen, daß diese nur etwa den zehnten Teil desjenigen Rohmaterials enthalten, welches im Laufe eines Jahres zu Zündhölzern umgewandelt werden soll. Diese Espenhölzer werden in der waldreichen Umgebung von Jönkö ping geschlagen und mittels eigens konstruierter Fahrzeuge eingebracht. Augenblicklich geben diese Waldungen noch Vorrat auf eine lange Reihe von Jahren, aber schon ist die Möglichkeit eines dereinstigen Versiegens dieser Quelle in Betracht gezogen und daher der Ankauf neuer Waldungen vorgesehen worden. In den ersten von mir betretenen Arbeitsräumen wurden die noch rohen Rundhölzer in Cylinder von 0,15 m Höhe zerschnitten und sodann einer Maschine übergeben, welche diese nach Abtrennung der Borke in Bandstreifen von der Breite der Cylinderhöhe und 0,25 cm Stärke gewissermaßen abschälte. Aus diesen Bandstreifen, bei denen die Holzfasern parallel der schmalen Seite laufen, werden jest direkt die zu Zündhölzern bestimmten Holzstiftchen geschnitten ; es geschieht dies mittels einer
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G. O. Hilder.
Maschine, welche einige Aehnlichkeit mit der bekannten Häckselschneidemaschine zeigt, und in welche die Bandstreifen von Holz in ähnlicher Art eingelegt werden, wie in diese das zu schneidende Stroh. Aehnlich wie die Häckselteilchen springen auch hier die abgeschnittenen , vierfantigen Hölzchen von 0,5 cm Länge aus der Maschine und werden in einem bereit gestellten, auf Rollrädern ruhenden, umfangreichen Kasten aufgefangen. In einer Minute liefert jede dieser Art Maschinen 15,000 Stück solcher Hölzchen. Selbstver ständlich
wird diese, wie alle noch später zu erwähnenden Maschinen durch Dampfkraft in Betrieb gesezt. Sobald ein Kasten mit Hölzchen gefüllt ist, fährt man denselben in den Lufttrockenraum wo den Hölzchen bei einer Temperatur von circa 75 ° C. während der Dauer von 4-6 Stunden möglichst jeder Feuchtigkeitsgehalt entzogen wird. Bis vor einigen Jahren verwendete die Fabrik ausschließlich durch jahrelanges Liegen in der freien Luft getrocknete Hölzer, aber teils hat die enorme Erweite rung der Fabrik die Vorräte an solchen ver brauchen lassen , teils hat sich auch herausgestellt, daß das neue Trockenverfahren billigere und dauerhaftere Ware liefert. Nunmehr müssen die getrockneten Hölzchen von allen Splittern und scharfen Kanten befreit werden, was durch ein gegenseitiges Sichbeschleifen derselben in den sog. Schleiftrommeln geschieht. Diese Apparate bestehen aus Trommeln von etwa 2 m Durchmesser, die um ihre Are drehbar sind und in welchen die hineingeschütteten Hölzchen zwei Stunden lang ge hörig durchgeschüt telt werden, so daß
Aussehen der Fabrit vor zwölf Jahren. sie infolgedessen aneinander vollständig abreiben. Selbstverständlich verlassen die
Schneiden der Zündhölzchen. Hölzchen die Trommel freuz und quer durcheinander geworfen und beanspruchen daher behufs
Die Bündhölzerfabrik in Jönköping.
fernerer Bearbeitung der Ordnung in parallele Schichten. Diese wird mittels eines Schüttelapparates bewirkt, der aus zwei übereinander passenden, hölzernen Rahmen von ca. 0,80 m Länge, ca. 0,60 m Breite und 0,15 m Höhe besteht ; der obere Rahmen enthält statt des Bodens ein starkes Drahtgitter
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von solcher Maschenweite, daß die zufolge des Schüttelns hindurchfallenden Hölzchen gezwungen werden, eine ganz bestimmte Lage in dem in entsprechende Fächer eingeteilten unteren Rahmen einzunehmen. Jezt sind nun zwar die Hölzchen geordnet, dieselben müssen aber für die demnächstige Behandlung auf Platten mit einem
AClass
Das Paraffinieren der Zündhölzer. Abstand von 0,5 cm voneinander festgestellt werden. Für diesen Zwed sind mit Blech bekleidete Holzplatten in den angeführten Abständen mit 1000 trichterförmigen Durch bohrungen versehen worden. Ueber diese wird nun ein Rahmen mit aufrechtgestellten Hölz chen gesetzt und dieser dann gehörig geschüttelt; alsdann fallen je 1000 Hölzchen in die Durch bohrungen und werden in diesen durch eine ein fache Klemmvorrichtung festgehalten. Da die Hölzchen mit mehr als 3/4 ihrer Länge über die Platte hervorragen, so gewinnt diese jest das Ansehen einer Art Bürste oder Egge. Je 50 so vorbereitete Platten werden in aufrecht stehende, schrankartig eingerichtete Rollwagen geschoben und von jest an in diesen nach den ferneren Arbeitsräumen befördert.
Die nächste Behandlung der Hölzchen bildet nunmehr das Paraffinieren. Das Paraffin befindet sich in einem flachen Blechkasten und wird über einem Holzfeuer dauernd in dünnflüssigem Zustande erhalten. Dicht neben dieſem Blechkasten ist eine von demselben Feuer stark — aber nicht bis zum Glühen erhißte Eisenplatte angebracht, auf welche ein Arbeiter die dem Rollwagen entnommene Platte mit den Hölzchen aufdrückt, so daß die Poren dieser letteren erweitert und zur Aufnahme des Paraffins cmpfänglich gemacht werden. Hierauf werden die Platten mit den Hölzchen in den flüssigen Paraffin getaucht und sodann zum Empfang des Zündstoffes mittels der bereit stehenden Rollwagen wiederum weiter befördert. Der Zündstoff besteht aus einem zähen, breiartigen
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G. O. Hilder.
Gemisch von rotem chromsauren Kali, Glaspulver, chlorsaurem Kali, Schwefelblumen und Gummilösung, deren Verhältniszahlen von der Fabrik geheim gehalten werden. Die Mischung dieser Bestandteile geschieht mittels eines Apparates, wie solcher in genau gleicher Konstruktion in den Schokoladenfabriken zum Zusammenreiben und Kanten der Schokoladenmasse gebraucht wird. Die fertige Zündmaſſe wird ſodann auf Walzen aufgetragen, ähnlich wie dies mit der Druckerschwärze in den größeren Druckereien zu geschehen pflegt und werden auch die mit Zündmasse versehenen Walzen einer Maschine eingefügt , welche mit der Truckmaschine in ihren Hauptteilen vielfache Aehnlichkeit zeigt. Die hier eingesezte Platte mit den Hölzchen wird ganz wie beim Letternſaß unter die entsprechend sich drehende Walze geschoben und empfangen die Hölzchen ſomit sämtlich Köpfchen von Zündstoff. Während aber der Letternsatz in der Druckmaschine verbleibt, bewegt sich die Platte mit den nunmehr fertigen Zündhölzchen von selbst aus der Maschine, um von Arbeitern wieder in den Rollwagen eingesett zu werden. Die Zündhölzchen werden jezt noch 30 Minuten lang dem Lufttrockenraum übergeben und müſſen ſodann behufs ihrer Verpackung in Schachtelu ordnungsgemäß von den Platten gelöst werden. Diese Arbeit wird in einem Schüttelapparat etwa umgekehrt wie das oben erwähnte Ein-
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überaus eigenartig konstruierten Maschine, deren Leistungsfähigkeit fast an die in Wigblättern zuweilen zur Darstellung gebrachten Phantaſieſtücke erinnert, hergestellt. In dieſe Maſchinen werden nämlich außer dem erforderlichen Material an Kleiſter, Leim, Papier u. sſ. w. dünne Holzstreifen von 1,30 cm Breite und ca. 4 cm Länge eingefügt, welche sofort vor den Augen des Beſchauers zerschnitten, gefalzt, geleimt und derart zusammengebogen werden, daß dieselben innerhalb weniger Sekunden die Geſtalt der bekannten Zündholzſchachteln mit Schublädchen und Umhüllung gewinnen. Außerdem werden diese Schachteln noch innerhalb derselben Maſchine mit blauem Papier, wie auch mit dem bekannten gelben Etikette beklebt, so daß sie sich, eine hinter der anderen , gleich einer bunten Schlange fix und fertig aus der Maſchine herauswinden, um sogleich lagen- und ſchichtenweiſe geordnet in einem bereit gestellten Behälter aufgefangen zu werden. Diese Maschinen, welche meiner Ansicht nach schon das Menschenmögliche leisten, sollen, wie mir mitgeteilt wurde, demnächst durch andere von noch größerer Leistungsfähigkeit erseßt werden. Was dies zu bedeutend haben mag, er-
scheint schwer begreiflich. Die in Folge der Neuerung ausrangierten Maschinen, die ein Ka| pital von vielen Tauſend Kronen repräſentieren, gelangen ebenso wie zahlreiche Vorgänger in die Rumpelkammer, um dort, verborgen vor der treiben in die Platte vorgenommen , so daß Welt, das Geheimnis ihrer Konstruktion zu be man jezt die Zündhölzchen wieder in Rahmen -sie haben sich, obwohl nur wenige dicht aneinander gefügt und aufrecht stehend | wahren Jahre im Gebrauch, bereits mehr als bezahlt erhält. Bei dieser Gelegenheit will ich einer in den gemacht. Wir haben nunmehr fertige Zündhölzer und Arbeitsräumen mehrfach gemachten Bemerkung dazu gehörige Schachteln, es handelt sich jezt erwähnen, der nämlich, daß zu Boden fallende Arbeitsprodukte niemals aufgenommen werden, nur noch darum, die Füllung der leßteren vorselbst dann nicht , wenn deren Anzahl einen zunehmen. Bis vor kurzem konnte dies nur durch Menschenhände geschehen, jetzt gelangen gewissen Wert repräsentiert. Auf meine beaber auch für diese Arbeit Maschinen bewun zügliche Bemerkung wurde mir der Bescheid,
derungswürdiger Art zur Verwendung. Ju daß die Arbeitsleistung der in der Fabrik auf diese Maschinen werden zunächst in gehöriger gestellten Maschinen als eine so bedeutende beAufnehmen dem mit der rechnet worden sei, daß | Menge sowohl Schachteln als Zündhölzer ---wohl geordnet — eingebracht ; worauf die Mazu Boden gefallener Gegenstände verbundene Zeitverlust, die Gesamtleistung der Fabrik schine die Schachteln, eine nach der anderen, öffnet und in dieſelben aus einem entſprechenmehr schädige, als der Verlust dieser Gegenstände. Schon hieraus kann man sich eine den Behälter die Zündhölzer hineinfallen läßt . Die so gefüllten Schachteln werden jetzt tüchtig Borstellung von der Großartigkeit des Geschäftsbetriebs in der Fabrik machen. geschüttelt und dadurch die Zündhölzchen in denselben fest gelagert. Schließlich erhal Die zum Verpacken der Zündhölzchen erforderlichen Schachteln werden in einer ten die beiden Seitenflächen der Schachteln
Die Bündhölzerfabrik in Jönköping.
hier noch den Anstrich von amorphem Phosphor und sodann gelangen die wiedergeschlossenen Schachteln wohlgeordnet und geschichtet in einen Rollkasten. Wie diese Schachteln nunmehr in Paketen zu 10 Stück und diese ferner zum Versandt in Kasten von Blech oder Holz weiter verpackt werden, kann hier übergangen werden, nur verdient es Erwähnung, daß zur Anfertigung des hierzu erforderlichen Materials ebenfalls Maschinenkräfte in weitgehendster Weise verwertet werden. Um sich von der Großartigkeit des Betriebes dieser Fabrik eine allgemeinere Vorstellung machen zu können , sollen hier noch einige Spezialangaben Play finden. Die Fabrik besindet sich augenblicklich im Beſiß einer Geſellſchaft von fünf Mitgliedern, von denen jedes angeb= lich, im Durchschnitt, einen Reingewinn von ca. 240,000 schwedischen Kronen jährlich zu verzeichnen hat. Es erscheint dies auch keineswegs übertrieben, wenn man erfährt, daß alljährlich 15 Milliarden Zündhölzer angefertigt und für den Fabrikpreis von nur 10 Dere (1114 Pfennig) für 500 Stück auch abgesezt werden. Augenblicklich arbeitet die Fabrik an einer Bestellung von 50 Millionen Stück für Japan und China, während schon Unterhandlungen in Bezug einer neuen Bestellung für Nordamerika mit einem Generalunternehmer schweben. Täglich bewegen sich fünf voll be lastete Eisenbahnzüge von der Fabrik auf einer eigens erbauten Verbindungsbahn nach dem Stadtbahnhofe, um ihre Waren von dort weiter bis zu den nächstgelegenen Hafenorten befördern zu lassen. Die Einrichtungen der Fabrik gestatten es dieser zur Zeit, sich alle Bedürfnisse an Maſchinen, Werkzeugen, Geräten u. s. w. ſelbſt anzufertigen, so daß also mit derselben noch großartige Maschinenbau - Anstalten, Tischlereien, Schlosser- und Schmiedewerkstätten, ja Hütten und Bergwerke in direkter Verbindung stehen. Eine zur Fabrik gehörige lithographische Anstalt fertigt außer den laufenden Druckarbeiten an Kontobüchern, Rechnungen, Anzeigen u. s. w. das ganze Jahr hindurch ausschließlich die gelben Etiketten und berechnet für diese letteren allein die Summe von 36,000 Kronen. Die Trefflichkeit, mit welcher das Ganze von vornherein angelegt worden ist und noch fortdauernd betrieben wird, äußert sich auch in dem unausgesezten Bestreben nach Verbesse-
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rungen und Erweiterungen. Rücksichtslos wird, wie bereits angedeutet, das Alte verworfen und dafür das verbesserte Neue eingeführt, sobald dieſes leztere die Probe der Brauchbarkeit beſtanden hat. Um auf diesem Wege fortschreiten zu können, hat die Fabrik einen höchst begabten Ingenieur mit einem Gehalt von 15,000 Kronen angestellt, welchem dafür einzig und allein. die Verpflichtung obliegt, alle seine Neukonstruktionen und Erfindungen nur an diese Fabrik zu verkaufen und das Geheimnis derselben zu bewahren; es versteht sich außerdem von selbst, daß ihm für seine Arbeiten noch ganz bedeutende Summen besonders vergütet werden. Mustergültig ist auch die Art und Weise, | wie die Fabrik für ihre Arbeiter ſorgt. Dieſelbe | beſißt ihr eigenes Krankenhaus mit Apotheke und ärztlichem Personal, wie auch eine Altersversorgungsanstalt ; ebenso wird für Berunglückte und die Hinterbliebenen verstorbener Arbeiter mit reichen Mitteln Sorge getragen. In einer Speiseanstalt wird für kaum glaublich geringe Preise Vorzügliches geboten. Ich besuchte eine Theeküche, wo mir für den Preis von 3 Dere (334 Pfennig) ein Glas des hier mit besonderer Vorliebe genossenen Getränkes | nebst Zucker verabreicht wurde ; es wurde mir dabei gesagt, daß man die Theeblätter direkt aus China beziehe und darum für einen so geringen Preis unter Anrechnung aller Unkosten das Gebotene liefern könne. Wie beherzigenswert , besonders da der Genuß von Thee noch mehr wie der von Kaffee der Sucht | nach geistigen Getränken ſteuert. Bei der wunderbaren Geschwindigkeit, mit welcher hier die denkbar vorzüglichste Ware pro| duziert wird, ist es auch nicht zu verwundern, daß keine andere derartige Fabrik in der ganzen Welt für gleiche Preise gleich gute Ware zu
liefern vermag ; wenn troßdem in allen Ländern Fabriken entstanden sind, welche sog. „schwedische Zündhölzer" anfertigen, so vermögen diese doch nur ihr geschäftliches Dasein zu fristen, wenn sie das Publikum entweder bei Waren von geringerer Qualität durch niedere Preise locken oder dasselbe mittels nachgeahmter Etiketten über - dem Markenschuß zum Troße die Herstammung geradezu täuschen. Welchen Zweck sollten anders die in schwedischer Sprache verfaßten Etiketten der beispielsweise in Deutschland gefertigten Zündhölzer wohl haben ? Der ungeheure pekuniäre Erfolg, welchen die Jönkö 19
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Wilhelm Kunze. Bwei Röslein .
pinger Fabrik aufzuweisen hat, veranlaßte natür lich ganz besonders die Schweden selbst, Unternehmungen ähnlicher Art zu gründen, eine feineswegs unglückliche Idee, in anbetracht, daß hier ja überall echte Schweden" gefertigt werden. Aber das genügte noch nicht, man wollte auch noch " echte Jönköpinger" Zündhölzer liefern, und demzufolge gründete eine Aktiengesellschaft in Jönköping eine zweite Zündhölzerfabrik, ihre Spekulation auf die vermeintliche Berechtigung gründend, daß sie ein an die Firma der älteren. berühmten Fabrik erinnerndes Etikett annehmen dürfe. Diese Rechnung war aber ohne den Wirt gemacht; denn auf Antrag der älteren
Zwei
Fabrik wurde die neue Gründung durch die Gerichte belehrt, daß deren Verfahren zum Nachteil der ersteren eine Täuschung des Publikums enthalte und die neue Fabrik daher ein zweifellos unverfänglicheres Etikett zu wählen habe. Welchen Einfluß diese Entscheidung auf die Aktien der neuen Fabrik haben mußte , soll hier nicht weiter entwickelt werden , wohl aber lehrt uns der Erfolg der älteren Fabrik, daß alles wahrhaft Gute, mit Intelligenz und Thatkraft begonnen und mit strenger Redlichkeit durchgeführt , überall und zu allen Zeiten glänzender Resultate sicher sein fann.
Rösle in.
Von Wilhelm Kunze. Bwei Röslein hegt mein kleiner Garten Bur Sommer- und zur Winterszeit, Bwei Blümlein, sanft und still -bescheiden, In schlichtem, anspruchslosem Kleid.
Sie hütet stets die beiden Blümchen Vor Kälte, Sturm und Wintersnot, Und sieh! - der Himmel läßt sie prangen Gar lieblich frisch in zartem Rot.
Ihr reines Antlitz alle Tage Mir unschuldsvoll entgegenlacht, Sie knospen hold und wissen nimmer, Wie felig mich ihr Blühen macht.
Ihr Röslein, blühet auf zu Rosen Und bleibt bescheiden, sanft und rein, Dann werdet ihr zwei schöne Blumen Im bunten Kranz der Schöpfung sein.
Und die ste pflegt und ihrer wartet Mit füßer Lieb' und treuem Sinn, Die niemals ruht, für sie zu sorgen, — Das ist die beste Gärtnerin.
Erfüll', o Gott, des Herzens Hoffen ! O schütze sie an Seel' und Leib : Die beiden Röslein - meine Kinder, Und ihre Hüterin - mein Weib!
Frühling .
Don J. Trojan.
O regt euch nicht und sprecht kein Wort ! Hört an, wie süß es klingt, Was von dem Birkenzweige dort Der kleine Vogel singt.
,,Er freut sich recht von Herzensgrund : Vorbei ist Winters Not, Nun Veilchen blüh'n und Primeln bunt und Maßlieb, weiß und rot. Er singt so recht aus voller Brust : Vorbei ist Winters Schmerz ! Seht ringsumher die Frühlingsluft Und öffnet ihr das Herz !"
G
(
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M •M/
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7
50
Ac, del c
Petetup Fa 1.Kleinmahel.
Ernst Wichert.
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Sin
renger
Richter.
Von Ernst Wichert .
beseßte Kreisgericht selbst, dessen eine nicht größere Nachbarstadt sich erfreute, so war es doch eine Kommiſſion desselben. Der einzige Richter , Rat Elpen , verfügte selbständig in Grundbuch-, Vormundschafts-, Bagatell- und Polizeiſtrafſachen , führte Untersuchungen und hatte ein Gefängnis unter sich. Er war in seinem Orte ein mächtiger Mann und auch vermöge seiner Stellung ganz dazu angethan, den ein Teil der Stadtbefestigung nach dem geſellſchaftlichen Mittelpunkt in dem Kreiſe darkleinen Flüßchen zu, das hier die Stelle eines zustellen, der in solcher Abgeschiedenheit leicht Grabens vertrat. Aber diese Reste und einige einen natürlichen Zusammenhalt zu finden pflegt. Markthäuser mit „Tauben" reichen aus , ihm Ein Mann von ruhigem Temperament, noch heute ein altertümliches Gepräge zu geben. mittelmäßigen Anlagen und geringen Ansprüchen Vor zwanzig Jahren, als die Eisenhahn noch konnte sich mit diesem Posten wohl fürs Leben nicht nahe vorbeiging und selbst die Chauffee- | begnügen und auch eine strebsame Kraft ihn verbindung nur nach einer Richtung hin geohne Schaden einige Jahre als Durchgangslungen war, fehlten auch noch die neuen GeAber Rat Elpen war station gelten laſſen. bäude, die nun nach dem Bahnhofe zu eine ein vorzüglicher Jurist und auch sonst ein geistig moderne Vorstadt zu bilden anfangen und mit ungewöhnlich begabter Mensch, und hatte doch ihren hellgetünchten Wänden und roten Dächern von seiner ersten Bestallung her als Einzeldem Reisenden entgegenleuchten. Man muß richter in dem kleinen Städtchen gesessen, bis von der anderen Seite her, an der Ruine der sein Haar ergraut war. Er stand jezt in der alten Ordensburg vorüber, durch die lange Mitte der Fünfziger, und man erinnerte sich nicht, Scheunenstraße und den Thorbogen eintreten, gehört zu haben, daß er auch nur den Wunsch um sich ganz in das Städtchen von damals äußerte, nach einem größeren Orte versezt oder zu verseßen. in ein höheres Amt befördert zu werden, viel Es lag freilich weitab vom Weltverkehr, weniger sich darum bewarb . Ja, es war glaubhaft versichert worden, er habe die schmeichelaber im Landkreise hatte es doch seine Bedeutung. Nicht nur wurden dort jährlich zwei | hafteſten Aufforderungen zur Meldung wiederKram- und zwei Viehmärkte abgehalten , die holt erhalten und stets in eine Veränderung Leben brachten, sondern auch die gewöhnlichen seiner amtlichen Stellung zu willigen abgelehnt. Wochenmärkte führten stets viel Landvolk zu Der Präsident des Obergerichts hatte oft, wenn er zur Revision erschien, sein lautes VerwunFuß und Wagen hinein, und im Winter, wenn der Schlittweg gut war , verkehrte dort die dern darüber ausgesprochen, ihn noch auf der ganze wohlhabende Gutsnachbarschaft, um sich alten Stelle zu finden. Er könnte längst im Obertribunal zu Berlin sigen, wenn er gewollt nach Kräften zu vergnügen. Auch hatten im Städtchen mancherlei Behörden ihren Siß, und hätte, sagte er sogar einmal vor Zeugen, die es hatte sich von ältester Zeit her das Gericht es eifrig weiter erzählten. Es hätte den Gerichtseingesessenen wohl gebewahrt, an das nun lange Jahre nicht nur fallen können, zur Besorgung aller ihrer kleinen die Bürger, sondern auch die Bewohner des und kleinsten Angelegenheiten einen so vorzügplatten Landes im Umkreise von einigen Meilen lichen Richter zu besigen, der überdies als ein gewiesen waren. charakterfeſter und durchaus biederer Mann perWar es auch nicht das mit fünf Richtern as ostpreußische Städtchen, in dem man sich's eine Weile gefallen lassen wolle — sein Name thut nichts zur Sache , ist uralt. Von seiner ältesten Zeit ist freilich nicht viel mehr übrig geblieben , als die schöngewölbte Kirche, der Turm mit dem Satteldach, die Grundmauern des Rathauses auf dem Markt und
Ein strenger Richter.
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sönlich im höchsten Ansehen stand . Aber ihre | Karten, saß stets bis in die Nacht hinein bei Bescheidenheit kam doch nicht über den Zweifel seinen Akten und Büchern. Seine Vermögensfort, ob er eigentlich ihretwegen bleibe . Die lage konnte ihn an die kleine Stadt nicht binden. Er war schon seit Jahren Witwer, hatte, nachKlügsten glaubten daran am wenigsten. Es waren unter den angesehenen Bürgern und dem mehrere Kinder in frühem Lebensalter ge= Gutsbesitzern mehrere, die ihn schon gekannt , storben waren , nur seinen ältesten Sohn am hatten, als der Herr Assessor" im Städtchen Leben erhalten , der in furzem selbständig werden mußte, und durfte sich um die Auseingezogen war. Sie wußten, daß er, was damals noch gar nicht Bedingung solcher An- stattung einer Pflegetochter nicht besorgt sein, die ihm überdies die Haushälterin ersparte. stellung war , in Berlin das große Examen Es war nichts , das ihn halten mußte. Jest gemacht und diese Stelle nur vorläufig angenommen hatte, wohl um bald heiraten zu freilich war er in dem Alter, in dem auch können, da er verlobt war. Er behandelte es ein anderer seine Lebensgewohnheiten nicht so damals selbst gar nicht als ein Geheimnis, daß leicht mehr ändert. Aber ein Rätsel blieb er man ihm „ oben “ den Entschluß, sich auch nur allen, die ihn kannten, doch nichtsdestoweniger. vorübergehend in so enge Verhältnisse einzuZum Einsiedler hatte der Mann ursprünglich nicht die mindeste Anlage gehabt. Als er spinnen, ein wenig übel genommen und daß er ganz und gar nicht die Absicht habe, darin ins Städtchen fam, war er ein lustiger, frischer länger als dringend notwendig auszuharren. Mensch gewesen, der sofort Umschau hielt, wo Seine Kollegen beim Kreisgericht sprachen später sich ein gesellschaftliches Talentchen entdecken ließ, und Leben in die träge Masse zu bringen mit dem größten Respekt von ihm , als von wußte. Seine junge Frau unterſtüßte ihn aufs einem „ wiſſenſchaftlich durchgebildeten“ Juristen, freundlichste in der Bemühung , alle brauch. den seine beträchtliche Arbeitslast nicht hindere, schriftstellerisch thätig zu sein. Es seien in den baren männlichen und weiblichen Elemente geersten juristischen Zeitschriften Abhandlungen aus sellig zu vereinen. Er regenerierte die alte Ressource, richtete im nahen Wäldchen einen seiner Feder abgedruckt, die weithin gerechtes Aufsehen erregt hätten ; man habe ihn im VerVergnügungsplaß ein, arrangierte gemeinsame Spazierfahrten zu Wagen und Schlitten, brachte dacht, an einem größeren Werke zu arbeiten, Quartetts zusammen, gründete eine Philharmodas seine Gewissenhaftigkeit nur immer noch nicht abschließen könne ; seine Erkenntniſſe wurden als nie, dirigierte ein Liebhabertheater. Die ersten vier oder fünf Jahre konnte im Sommer und Musterleistungen geachtet. Und ein solcher Mann war Einzelrichter in einem ostpreußischen LandWinter nichts Gemeinſames unternommen werden, ohne daß der Stadtrichter an der Spiße städtchen geblieben ? Er sollte sich da wirklich war. Seinem Einfluß gelang es sogar, ein behaglich fühlen können, jeden Ehrgeiz verloren. haben, einen größeren Wirkungskreis zu suchen, | namhaftes Kapital zum Ausbau des Lokals aus innerem Bedürfnis mit ſo beſcheidenen Verder Ressource und zur besseren Einrichtung des hältnissen vorlieb nehmen? Das Kopfschütteln daran stoßenden Schüßengartens aufzubringen ; war sehr gerechtfertigt. er war dann der eifrigſte Baumeister und GärtUnd es gab auch sonst feine irgend gener. Den bisherigen Dekonomen, einen ſchläfrinügende Erklärung. Rat Elpen war nicht der gen und ungefälligen Menschen, wußte er troß Philister geworden, der sich als Präses auf der des Murrens einiger alter, an seine Art gewöhnter Stammgäste zu entfernen und ſeßte Bierbank der Honoratiorenkneipe wohl fühlte. an seine Stelle einen großstädtisch erzogenen Er besuchte das Gasthaus gar nicht, hatte nur mit wenigen Herren einen freundschaftlichen UmKellner, dessen flinke, junge Frau die Küche gut verstand. Ein so flottes Leben war nie gang. Man sah ihn allabendlich ganz allein. vorher im Städtchen gewesen, und die ganze seinen Spaziergang zur Stadt hinaus antreten, und es wagte nicht leicht jemand, ſich dabei zu | Nachbarschaft in immer weiterem Kreiſe nahm ihm zu gesellen, obschon er niemand unfreunddaran sehr befriedigt teil. lich abwies. Man mutete ihm eben nicht gern Der Umschlag war ganz plößlich gekommen. eine Unterhaltung über so gleichgültige Dinge Man wußte ziemlich genau den Zeitpunkt zu, wie sie den kleinbürgerlichen Kreis zu be- anzugeben. Bald nach dem Brande der Resschäftigen pflegten. Er spielte weder Kegel noch source, hieß es , sei Elpen ein ganz anderer
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Mensch geworden. Nicht daß man diese Aende- | Als er zu sich kam , war die erste Frage nach rung mit jenem Unglücksfall in irgend einen dem Kinde. Man beruhigte ihn . „ Gott sei Dank," rief er, „doch wenigstens dieſes junge dazu fehlte jede Zusammenhang brachte Dasein erhalten. Aber der Mann, die Frau sichere Handhabe -, aber man rechnete mit .. es ist entseglich! “ — Er erzählte , der dem Ereignis, das ja auch seiner Zeit die ganze Defonom habe in dem brennenden Bett gelegen, Stadt in große Aufregung versezt hatte, so daß es wahrscheinlich im Schlaf von dem Dunst bes lange eine bequeme Marke für die Erinnerung an dies und das bleiben konnte, was etwa furz täubt. Die Frau müsse aufgesprungen sein, sich über die Wiege geworfen haben. Sie sei vor oder nachher geschah. Das Feuer war ohne Besinnung und nicht zu erwecken gewesen. nämlich in der Nacht ausgebrochen , nachdem Er habe das Kind unter ihrem schüßenden nur am Abend zuvor in dem schönen neuen Leibe vorgezogen. Keine Sekunde länger durfte Saale die Generalprobe zu der Festlichkeit abgehalten war , mit der die Ressource einer bleiben, wenn er nicht sein Rettungswerk geweiht werden sollte. Es war unbemerkt gänzlich vereiteln wollte. Mann und Frau geblieben, bis die Flammen zum Dach hinaus- | mußten ihrem Schicksal überlaſſen werden . Das Haus brannte nieder. Man fand schlugen. Der Dekonom hatte hoch oben seine unter dem Schutt die verkohlten Leichen, Elpen Wohnung. Er war mit seiner Frau spät zur hatte schwere Brandwunden davongetragen ; er Ruhe gekommen und wahrscheinlich bald fest eingeschlafen, so daß er die Gefahr nicht merkte. hatte lange daran zu furieren; auch schien seine Als man ihm zu Hilfe eilen wollte, brannten Brust gelitten zu haben. Das Kind nahm schon die Treppen. Die Löschvorrichtungen er- seine Frau ins Haus ; ihrer trenen Pflege ge= wiesen sich als ganz unzulänglich. Elpen, der lang die Erhaltung dieses jungen Lebens . durch das Tuten des Nachtwächters aus dem Diese schöne Rettungsthat steigerte noch die Verehrung, die man dem wackeren Manne zollte. Bett aufgetrieben war, mühte sich vergeblich, Man dankte ihm so viele frohe Stunden; nun die Sprize in Gang zu bringen. Er arbeitete hatte er sich herrlich auch in der Not bewährt. an dem Pumpenſtocke bis zur Erschöpfung, erDie vielen Beweise der Anerkennung und aufgriff selbst den Feuereimer , um Wasser zu gießen, ordnete die Mannſchaft und rief ihr richtigen Zuneigung waren ganz geeignet, bei ihm das Gefühl seines Wertes zu erhöhen und zu: „ Das Haus ist nicht zu retten; aber es sind Menschen in Gefahr sie können nicht hinab. ihn mit freudigem Stolze zu erfüllen : aber Löscht das Feuer hier am Treppenaufgang nichts davon war bemerkbar. Im Gegenteil um Gotteswillen , nicht gezögert ! Reicht die wehrte er jede auf den Vorfall bezügliche AeußeEimer von Hand zu Hand ! Hierher — hierher, rung in fast beleidigend rauher Weiſe ab, und Leute! " Man gehorchte willig, aber dem das nicht wie jemand, der in dem Bewußtſein wütenden Elemente war nicht Halt zu ge- aufopfernder Pflichterfüllung seinen beſten Lohn bieten. Da hatte Elpen Kopf und Schultern findet , sondern wie ein Schwerverletter , der unzart an den eigenen Verlust erinnert wird. mit nassen Säcken behängt und umwickelt und „Und der Mann die Frau!" sagte er immer, sich zum Entseßen aller Anwesenden in das „wer bringt die ins Leben zurück ? Das Kind brennende Gebäude gestürzt. Man hielt ihn für verloren. Die Anstrengungen, das Feuer ist eine Waise. Es steht noch sehr dahin, ob es mir einmal dankt. " wenigstens auf der unteren Treppe auszugießen, Diese düsteren Betrachtungen , von denen. wurden verdoppelt ; einen Augenblick drang man bis in den oberen Flur vor, im nächsten schon er gar nicht mehr schien loskommen zu können, mußte man wegen des erstickenden Qualms waren sehr auffallend bei einem Manne von weichen. Aber da kam er hinab. Er taumelte, sonst so heiterer Gemütsart. Man konnte sich wohl vorstellen, daß ihn der Entschluß, sich in sank nieder. Man trug ihn ohnmächtig ins das brennende Haus zu wagen, furchtbar aufFreie. Krampfhaft hielt er unter den raugeregt haben müſſe, daß der Eindruck, den er chenden Säcken einen Gegenstand an die Brust gedrückt. Man zog ihn aus seinen Armen von der Unglücksstätte empfangen, ihn in nachhaltiger Weise schmerzlich berührte , daß der — ein Kind. Es lebte. Er hatte mit eigener Anblick des kleinen Mädchens sein mitleidiges Lebensgefahr das Kind des Oekonomen gerettet Herz immer von neuem bewegte. Aber das ein Würmchen, erst wenige Monate alt.
Ein strenger Richter.
Unglück war doch einmal geschehen. So nahe hatten ihm die beiden Menschen, deren Tod zu beklagen war, doch nicht gestanden, daß ihr Verlust ihm etwas bedeuten konnte. doch? Die hübsche Frau vielleicht ? Es war natürlich, daß man diese Möglichkeit nicht außer Betracht ließ. Aber selbst der kleinstädtische Klatsch konnte kein einziges Verdachtsmoment begründen ; niemand erinnerte sich einer Thatsache, aus der auf dergleichen engere Beziehungen zu schließen gewesen wäre, das häusliche Verhältnis auf beiden Seiten hatte stets das glücklichste geschienen. So wollte sich durchaus keine Erklärung für die augenfällige Veränderung finden , die mit Elpen seit der Unglücksnacht oder seit jener Krankheit vorgegangen war. So viel galt für gewiß : er war seitdem ein anderer geworden, hatte sich mehr und mehr aus der Gesellschaft zurückgezogen, mit seinen Büchern beschäftigt. Man erwartete allgemein, er werde ſich nun so bald als irgend möglich in eine andere Stadt verſeßen lassen und verwunderte sich nicht wenig, daß er im Gegenteil zu verstehen gab , er habe als Jurist abgeschlossen und gedenke sich nicht mehr von der Stelle zu rühren. Man glaubte nicht daran ; aber als dann ein Jahr nach dem anderen verging und weder in seiner Stimmung noch in seinen erkennbaren Absichten eine Aenderung erfolgte, endlich gar bekannt wurde, daß er eine Berufung ans Appellgericht abgelehnt habe, mußte man wohl seine Versicherung für ernst gemeint halten. Die Sache war unbegreiflich. Mit der Zeit aber gewöhnte man sich's ab, sich darüber Gedanken zu machen. Es war nun einmal so, er wollte es nicht anders . Am Ende war ja auch das Städtchen nicht so übel, und wenn er, weiß Gott aus welchem Grunde, sein Vergnügen daran fand, ſtill für sich und zurückgezogen von der Welt zu leben, tonnte er's ja nirgends beſſer haben. Für die Jüngeren wurde er ein Sonderling, dem man möglichst wenig in die Quere kommen müsse. Gesellschaft gab er nicht und besuchte er nicht . Wer bei ihm auf dem Gericht zu thun hatte, fand einen ernsten, aber stets wohlwollenden Richter. Daß er seiner Frau ebenso rätselhaft erschienen war wie allen anderen, glaubten die älteren Freundinnen annehmen zu können. Sie hatte sich anfangs ziemlich leichthin ausgesprochen: sie wisse nicht, was ihm in den Sinn
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gefahren sei ; man müsse ihn so gehen lassen und nicht durch Widerspruch reizen; er werde sich von selbst wieder zurecht finden. Später hatte man wohl bemerkt, daß sie beunruhigt war. Dann gab häusliches Leid , Krankheit und Tod der Kinder, ihr den natürlichsten Be-
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weggrund , sich von aller lustigen Geſellſchaft fern zu halten. Doch brach sie den Verkehr mit den befreundeten Familien nicht gänzlich ab; Besuch war bei ihr immer gern gesehen, selbst in den lezten Jahren, als ein schweres Herzleiden sie peinigte. Sie schien durch ihr liebenswürdiges Wesen ihres Mannes Sonderbarkeit vergessen machen zu wollen. Rat Elpen erzog Mathilde wie sein eigenes Kind. Sie wußte lange Zeit nicht anders , als daß sie's sei. Vielleicht zeigte er sich gegen sie milder und nachsichtiger als gegen seine eigenen Kinder. Sie erinnerte sich nicht, von ihm jemals einen Schlag erhalten oder auch nur ein böses Wort gehört zu haben. Als sie erfuhr, in wie trauriger Weise ihre Eltern geendet hätten, wirkte die Mitteilung auf sie faum betrübender, als wäre ihr etwas der Art von Fremden erzählt worden. Gütigere Eltern, als die ihr gegeben waren, konnte ſie ſich ja gar nicht wünschen. Nur fühlte sie nun noch stärker das Bedürfnis, sich dankbar zu bezeigen. Als die Rätin starb , war sie erst siebzehn Jahre alt. Sie war ihr die treueſte Pflegerin in der Krankheit geworden, hatte die kleine Wirtſchaft mit Umſicht geführt. Nun bat ſie den Papa so hatte sie ihn nie aufgehört zu nennen - er möchte ihr erlauben , auch ferner den Haushalt zu besorgen ; sie wolle alle Mühe aufwenden, ihm eine Wirtin zu ersegen. "Wird dir's nicht zu mühsam bei mir werden?" hatte er gefragt. Ich will dich lieber auswärts in eine Pension geben, wo du dein junges Leben genießen kannſt einige Jahre wenigstens. " Davon hatte sie nichts wissen wollen. Unter Thränen hatte sie versichert, daß es ihr nirgends so wohl sein könne als in dem Hauſe ihres teuren Wohlthäters, daß sie fern keine Freude haben werde in dem Gedanken, er ſei ganz allein. Sie kam nur seinem eigenen Wunsche entgegen . Es änderte sich also in dem Verhältnis nichts . Rat Elpen war aber nach Ablauf des Trauerjahres in genauester Weise besorgt , Mathilde durch seine Lebensgewohnheiten nicht zu beengen. Er hielt darauf, daß sie den Umgang mit ihren Freun-
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dinnen fortsetzte und an deren Luſtbarkeiten | kopfscheu werden müßten , wenn sie die besten teilnahm. Er empfahl sie dem Schuß der Partien ausschlage. „ Aber wie kann ich einen Frau des Arztes , einer freundlichen Dame, die heiraten, den ich nicht liebe?" antwortete sie ; Töchter ungefähr in ihrem Alter hatte , und „ es drängt mich gar nicht, dein Haus zu verlassen, wo ich mich so wohl fühle." Er wiegte stattete sie an Geburtstagen so reich mit Ballgarderobe aus, daß an ſeinem ernſtlichen Willen, | bedenklich den Kopf. „Höre,“ sagte er sehr erregt, wenn ich glauben müßte, daß du ihr kein Vergnügen zu versagen, gar nicht zu zweifeln war. Dieses zärtliche Bemühen um meinetwegen ... Es wäre das Verdrießlichſte, was du mir anthun könntest. " Sie füßte seine ihr Wohlergehen rührte sie immer von neuem tief. Ihre eigenen Neigungen zogen sie wenig Hand und versicherte, daß er im Irrtum sei. zu Tanz und Spiel , aber sie sah wohl ein, „Wenn du es so willst, Papa," sagte sie, " werde ich nur an mich denken. Bis jetzt ist aber daß er sich bedrückt fühlte in der Vorstellung, ihr ein Hindernis zu sein, und gab deshalb die Versuchung, dir untreu zu werden, noch freundlich nach. Wenn sie sich wohl wie ein nicht groß geweſen. “ Das konnte übrigens wohl wahr sein ; Elpen. frohes, junges Ding zeigte, mit glückstrahlendem Gesicht in einem neuen Kleide präsentierte, hatte darüber so seine eigenen Gedanken, die in der heiteren Schilderung ihrer Ballerobeer nicht laut werden laſſen durfte. Er meinte rungen erging, fonnte er selbst seine grämliche nämlich, ihr Herz könne sich bereits längst entStimmung ganz vergessen. Sie studierte nun schieden haben und deshalb gegen jeden Anförmlich darauf, ihm die Ueberzeugung zu sturm gerüstet sein. Er hatte auch einen ganz bestimmten Verdacht : sein Sohn war der heimschaffen, daß sie sich glücklich fühle. Vielleicht die froheste Stunde hätte sie ihm lich Begünstigte. durch die Nachricht bereitet, daß sie ein VerJustus war vier Jahre älter als Mathilde. Schon als Kinder hatten sie die innigste löbnis mit einem braven Manne eingegangen Freundschaft geschlossen, als sie beide noch sei. Es war bekannt, daß sein Testament im glaubten , daß sie Geschwister wären. Ihr Depoſitorium des Kreisgerichts lag , und er hatte sich auch gelegentlich geäußert , daß er liebstes Spiel war Mann und Frau. Als der Sohn und Tochter nach seinem Tode völlig geweckte Knabe dann erfuhr, daß Mathilde ein gleich stellen werde. Bei seiner Bedürfnislosig- Pflegekind seiner Eltern sei, eine Waise, hatte feit hatte er Ersparnisse machen können ; min- er seine Aufmerksamkeiten verdoppelt, um ihr zu gefallen , die zärtlichste Neigung für das destens auf eine gute Ausstattung war zu rech nen. Es fehlte Mathilde denn auch keineswegs kleine Mädchen zu erkennen gegeben . Einmal an Verehrern , die sich alle Mühe gaben, zu hatte er sich in Lebensgefahr gebracht, weil sie beweisen, daß sie ernstliche Absichten auf das gelbe Mummeln, wie man hier zu Lande die hübsche und liebenswürdige Mädchen hätten. Wasserrosen nennt, zu haben wünschte, die auf dem Mühlenteich blühten ; und ein andermal Sie schien aber niemand auszeichnen zu wollen und fast ängstlich jeden Schein zu vermeiden, hatte er's ſehr zu seinem Schaden im Kampfe als ob ihr ein Antrag erwünscht sei . Da war mit drei Jungen aufgenommen, die ihn höhnten, der Sohn des Mühlenbesizers , ein hübscher weil er lieber mit dem Mädchen, als mit ihnen junger Mensch, nach dem alle Mädchen schielten ; Räuber und Soldaten spiele. Die Rätin war mit dieſem freundlichen Verhältnis ganz einer legte es recht darauf an, es herauszubringen, ob er sich Hoffnung machen dürfe. Aber sie verstanden gewesen ; auf ihren Sohn konnte es behandelte ihn nicht freundlicher als jeden an- in der Zeit der dummen Streiche nur den günstigsten Einfluß üben . Elpen aber schien deren Tänzer und schien gar nicht zu bemerken, anders darüber zu denken. Es beunruhigte ihn daß er täglich sechsmal unter ihrem Fenster augenscheinlich, wenn er die Kinder zärtlich mitvorüberging, einen Gruß abzufangen. Dann einander verkehren sah; er suchte Justus mög faßte sich der Posthalter, ein wohlsituierter Mann, ein Herz und brachte förmlich seine lichst von Mathilde fern zu halten, feſſelte ihn länger als nötig in seiner Stube bei der ArBewerbung an, doch nur um einen Korb davon zutragen. Einem Gutsbesizer aus der Nachbar- beit , beschäftigte ihn auswärts und ließ ihn oft genug hören : ein Junge solle nicht mit schaft ging es nicht besser. Nun ließ es der Rat an Vorstellungen nicht fehlen, daß die Leute | Puppen spielen, der gehört auf die Straße zu
Ein Atrenger Richter.
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seinesgleichen. Justus hatte einen offenen Kopf, hätte, sich auszusprechen, ob sie ihm mehr als lernte leicht. Des Vaters Unterricht hätte ihn schwesterlich zugethan sei ; nur daß er an der Mutter Sarg tief bewegt ihre Hand über die erſten Gymnasialklaſſen hinaus fördern können; aber Elpen schickte ihn gleichwohl in faßte und ihr zuflüsterte : „Wir bleiben einander doch!“ die städtische Bürgerſchule, um ihn sechs Stunden Justus hatte die Rechte studiert und sich des Tages unterzubringen, und trieb außerdem mit ihm alte Sprachen. Die Mutter wünschte, | dann praktiſch vorgebildet. Seinem Vater ſchien er viel zu viel Gewicht darauf zu legen, möglichst sich von ihrem einzigen Sohn nicht trennen zu dürfen und hätte es gern gesehen, wenn ein schnell die Befähigung zu einer festen Bestaltüchtiger Hauslehrer für ihn angenommen würde, lung im Staatsdienst zu erwerben. Nach seinem Wunſche hätte er, wenn er schon überhaupt in der ihn wenigstens bis zur Sekunda brächte. die väterlichen Fußstapfen trat, seiner BefähiAber der Rat hatte davon nichts wiſſen wollen. gung gemäß ein Mann der Wissenschaft werden. „ Wenn er Brüder hätte ! “ sprach er sich aus . „Nun aber allein im Hause, und schlimmer sollen. Justus promovierte als Doktor, um als das, mit dem Mädchen zuſammen, das doch ihn wenigstens so weit zufrieden zu stellen, wurde dann aber Referendar. In der zunicht seine Schwester ist daraus kann nichts Kluges werden." Es ging ihm selbst nahe | lässig kürzesten Zeit machte er die verschiedenen genug, den Knaben fortlassen zu müssen, aber Stadien des Vorbereitungsdienstes durch. Und nun hatte er in Berlin sein Staatsexamen mit er that , was er für seine Pflicht hielt und Auszeichnung bestanden und stellte sich in der gab ihn nicht einmal in der nur wenige Heimat als Aſſeſſor vor. Er durfte mit BeMeilen entfernten Gymnasialstadt, sondern stimmtheit darauf rechnen, im Laufe eines Jahres in Königsberg in Pension. Nun brachte Justus doch die Ferien im irgendwo als Richter angestellt zu ſein. Baterhause zu. Wenn Rat Elpen erwartet Elpen lobte diese Eile gar nicht. Schon am ersten Tage sprach er sich so eifrig gegen hatte, er werde sich durch das längere FernInsnestkriechen" aus , daß sein von Mathilde entfremden, so täuschte er das zu frühe sich sehr. Gerade die Trennung schien den seine Absicht , einem unliebsamen Entschlusse Reiz des kurzen Zusammenseins zu verstärken. vorzubeugen , nicht unbemerkt bleiben konnte. Er that, als ahnte er von seines Sohnes In diesen Wochen ließ sich ihm die Freiheit, über seine Zeit zu verfügen , nicht gut ver- Herzensangelegenheiten gar nichts . „ Du bist kümmern, und er verfügte über sie fast aus- noch jung," sagte er, hast nichts zu versäumen; schließlich zu gunsten der Pflegeſchwester. Noch arbeite, wo es dir gefällt, wo man dich nach nicht siebzehn Jahre alt , wurde er Student deinen Fähigkeiten verwendet. Freue dich, ganz Der Vater schickte ihn auf auswärtige Univer- ungebunden zu sein , allenfalls nach ein paar sitäten. Durch vier Semester sah er die Hei Jahren von eigenen Mitteln leben zu können. mat gar nicht. Als er dann aber zu den Du wirst nicht der Thor sein, dir das juristische großen Ferien heimkehrte, zeigte sich's, daß das Scharwerk aufzulegen, dich mit deinen fünfundMädchen ihm nicht gleichgültiger geworden war, zwanzig Jahren in einer kleinen Stadt zur wenn sich auch die Form des Umganges än- Ruhe zu sehen. Ich weiß, was das bedeutet. Du solltest dich an der Universität habilitieren, dern mußte. Im Gegenteil schien die eben es ist noch nicht zu spät dazu . Auf zwei aufblühende Knospe ihn mit ganz neuer Gewalt in ihren Bereich zu ziehen. Mathilde Stühlen zu ſizen, hat seinen Vorteil. Und wenn war schüchtern, zurückhaltend, nicht mehr die du dann Professor bist und hoffentlich zugleich muntere Spielgefährtin und offenherzige Freun- Rat am Obergericht, ſo ſieh' dich nach einer din. Er fühlte wohl, daß sie ihm das nicht guten Partie um. Glaube mir, mein Junge, mehr sein könnte, aber zugleich auch, daß sie du wirst die Wahl haben.“ Justus lächelte dazu . Er wußte besser, was ihm etwas anderes, noch mehr das Herz Beer wollte. Nur leichthin antwortete er : " Du friedigendes werden müßte. Nicht schon in diesen Wochen, in irgend einer unbestimmten gibst mir sonderbare Ratschläge, Vater . E3 Zeit, deren Kommen aber ganz gewiß wäre. Er that auch in den folgenden Jahren bei erneuertem Wiedersehen nichts, was sie genötigt
scheint so, als sollte ich nachbringen, was du selbst versäumt hast. Kann man weniger ehrgeizig sein, als du dich dein ganzes Leben lang 20
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gezeigt hast ? Bis zu deiner Beſcheidenheit | ſich aber darein finden, ſo iſt's ihm ſicher das bringe ich's schwerlich." liebste, ich heirate dich." „Ich, ich!" knurrte der Rat. „Das ist Sie hatte doch schärfer gesehen. „ Glaube etwas anderes, das hat seine beſonderen Gründe, nur,“ sagte sie, „so gut er mir ist, das gerade ist er immer bemüht gewesen, zu verhindern. die dir, Gott sei Dank ...“ Er preßte die Lippen Eine Schwester sollte ich dir sein, nichts anderes. aufeinander . „Sprechen wir nicht von mir. “ Ich kann mir's nicht erklären, aber es iſt ſo. Der Assessor meinte seinen Weg zu kennen. Er hat mir's nahe genug gelegt, daß ich eine Er hatte seinen Plan fertig mitgebracht und ließ sich nicht irre machen. So viele Jahre andere Wahl treffen möchte ; ich hätte ihn dann aller Sorge deinetwegen überhoben. Aber ich stand ihm das Ziel aller Wünsche so fest vor konnte meinem Herzen nicht solchen Zwang anAugen, daß er jetzt, ganz nahe daran, nicht thun. Ich fühlte ja, daß du mich liebtest. Und geneigt sein konnte, umzukehren, weil der grämdir oder keinem will ich angehören. “ liche alte Mann ihm ein anderes bestimmte, Er meinte, sie müsse sich getäuscht haben. das für ihn nichts Lockendes hatte. Er war mit dem Entschlusse nach Hause gekommen, sich „Deine Beobachtungen sind ganz richtig," ents gegnete er, aber deine Auslegung trifft nicht Mathilde ohne weiteres Zögern zu erklären. Täuschte er sich über ihre Neigung nicht, und zu. Er hatte gegen dich Vaterpflichten übernommen, mußte strenge darüber wachen, daß wie hätte das geschehen können - ? so blieb nicht zweifelhaft, wie er ferner sein Leben einunser Verhältnis ein geschwisterliches blieb, dazurichten hätte. mit jedes von uns volle Freiheit behielte, in reiferen Jahren über sich zu entscheiden. So Voll Zuversicht ging er abends Mathilde in den Garten nach, wohin sie sich mit ihrer Handarbeit begeben hatte, sezte sich zu ihr in die dichte Rosenlaube und brachte das Gespräch gleich auf den Hauptpunkt, um den sich alle seine Gedanken bewegten. Was bedurfte es auch hier einer vorsichtigen Einleitung? War es ihm doch außer Zweifel, daß das liebe Mädchen seine treue Gesinnung kannte und sich ihm aufbewahrt hatte. Er brauchte nicht zu fragen, ob sie ihm gut sei. Das wußte er. Nur ob sie nun seine Braut heißen, ob sie ihm als sein Weib für's Leben angehören wolle ; darüber hatte sie sich zu entscheiden. So zog er ihr denn sanft die Arbeit fort, mit der sie sich bei seiner Annäherung übereifrig beschäftigte, ergriff ihre Hände und trug ihr mit den einfachsten Worten seine Bitte vor. Und dann wartete er nicht einmal auf Antwort, sondern schloß sie an seine Brust, küßte sie und gab ihr die zärtlichsten Schmeichelnamen. Mathilde widersetzte sich auch gar nicht. Auch ihr war's, als geschähe etwas , das durchaus geschehen müßte. Sie konnte nur sagen : „ Nimm mich , ich bin dein, so lange ich lebe. “ Ihr zweites Wort aber war: „Was wird dein Vater davon denken ?" „O, er liebt dich wie ſein Kind, “ beruhigte er, „keine Schwiegertochter kann ihm genehmer ſein. Nur daß ich dich ihm jezt schon zuführe, wird ihn ein wenig überraschen. Ging's nach seinem Sinn, so heiratete ich so bald nicht. Muß er
habe ich seine Absicht erkannt und stets geachtet. Mein ganzes Verhalten dir gegenüber legt davon Zeugnis ab. Nun wird er uns gern seinen Segen geben." „Das wolle Gott!" sagte sie. Denn ohne feinen Segen . . . “ Sie schmiegte sich an seine Brust. „ Ich weiß nicht , wie ich's ertragen könnte, mich von dir trennen zu müſſen, Juſtus, aber gegen seinen Willen dürfte ich die Deine nicht werden." „Mathilde !" rief er , " wir haben sicher derart nichts zu befürchten. Wenn aber wider alles Erwarten ein unbegreiflicher Eigenſinn —“ „Nenn's nicht so," bat sie. „ Achte seinen Willen, wie ich ihn zu achten entschloſſen bin. Ich liebe dich von Herzen, Justus , du weißt es ; aber ich kann nicht undankbar sein gegen den teuren Mann, der mir zeitlebens der gütigste Vater gewesen ist, der einmal sein Leben gewagt hat, das meinige zu retten. Wenn ich sein Kind wäre und du wärest nicht sein Sohn - ich wüßte nicht, was ich in solchem Fall thäte. Vielleicht ..." Sie senkte die Augen und umarmte ihn. " Aber hier spricht eine stärkere Pflicht mit. Wenn er's nicht will, weshalb kann er's nicht wollen , wenn nicht seines Sohnes wegen , den er zärtlich liebt ? Soll ich zum Dank, daß er mich aus den Flammen getragen, seinen einzigen Sohn seinem Herzen entfremden ? Nein, Justus , das darf nimmer geschehen."
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„Aber mit was für Gedanken quälſt du dich ?" sagte er, ihre Hand ſtreichelnd. „Ich kann dir gar nicht folgen." " Mir liegen sie schon lange im Sinn," antwortete sie, „ darum erscheinen sie nun so fertig. Du hast deinen Vater seit vielen Jahren immer nur nach langen Zwischenräumen kurze Zeit gesehen und dann war ja auch ich da und leitete deine Aufmerksamkeit ab. Ich aber war unausgesezt in seiner Nähe , konnte ihn dauernd beobachten. Er durfte nicht sprechen, um von mir verstanden zu werden . Glaube mir, er ſieht in unserer Vereinigung nicht das glückliche Ereignis , dessen wir uns erfreuen. Ich kann seine Gründe nicht einmal ahnen, aber ich bin überzeugt, daß irgend ein schwerer Kummer sein Gemüt niederdrückt und daß mit ihm in irgend einem Zusammenhang auch seine Abneigung gegen diese Verbindung steht." Justus lachte. „Was so ein Köpfchen sich nicht zusammenreimt ! Aus alledem entnehme ich nur für mich, wie sehr ich der Gegenstand deiner zärtlichen Sorge gewesen bin. Darauf bin ich stolz. Nun aber wollen wir aller Unruhe rasch ein Ende machen. Treten wir so gleich Hand in Hand vor den Vater, und du sollst sehen, daß wir noch diesen Abend unsere Verlobung froh im Familienkreise bei einem Glase Wein feiern. “ Sie sah ihn mit einem innigen Blick an, schüttelte aber den Kopf. „ Nein, geh' erst allein zu ihm," bat ſie, „ thu mir die Liebe. Ich möchte ihn nicht so überrumpeln, zu einem Ja oder Nein nötigen. Und wenn es morgen doch ein Nein sein sollte, Justus ... vergiß nicht, daß dein Vater es ist, der es spricht. Wir bleiben einander auch dann noch viel.“ Er mußte sich wohl in ihren Willen fügen . Jedenfalls wollte er schnell die Gewißheit haben, daß Mathilde sich irrte. Er verabschiedete sich von ihr mit einem Kuß und suchte sogleich seinen Vater in deſſen Arbeitszimmer auf. Mathilde hatte ihn durchaus nicht eingeschüchtert, aber eines unbehaglichen Gefühls konnte er sich nicht erwehren. Er hatte sich's so ganz anders gedacht. Nun meinte er am besten die Situation mit einem raſchen Wort zu klären. „ Vater, “ ſagte er, „ laß dir eine frohe Mitteilung machen: ich habe mich soeben verlobt. " Der Rat, der bei seinem Eintritt aufgestanden und ihm entgegen gegangen war, stutte sichtlich und hemmte den Schritt. „Du ?"
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„Mit einem braven und schönen Mädchen, das ich liebe, so lange ich denken kann — mit Mathilde. " Die Wirkung dieser Eröffnung auf den alten Herrn war eine beängstigende. Sein Körper schien von innen her einen Ruck zu erhalten, der ein Zucken aller Muskeln hervorbrachte. Das Gesicht verzog sich schmerzlich, der Blick wurde flimmernd und unsicher. „Also doch doch!" sagte er, nach Luft ringend . " Es wird mir auch das nicht gespart !" Justus eilte auf ihn zu, legte den Arm um seine Schulter und stüßte ihn so. " Wie geschieht dir, Vater?" rief er. „Mein Gott! sollte Mathilde doch mit Grund geargwöhnt haben, diese Verbindung wäre dir unlieb ?" Der Rat faßte seine Hand und drückte sie frampshaft. Unlieb ? Sie ist unmöglich!" „ Vater -!"
nun
„Aber daß es so weit gekommen ist, daß Aber nein, du mußt mir glauben,
Justus, diese Verbindung ist unmöglich. " Der Assessor war sehr bleich geworden und zitterte leise . Nur mit Mühe hielt er an sich. „Vater," sagte er nach einer Weile mit erzwungener Ruhe, „ ich glaube in dieſem Falle nur meinem Herzen. Ich liebe Mathilde und erfenne kein Hindernis an, das sich unserer Vereinigung in den Weg stellt. Am wenigsten von deiner Seite hätte ich einen Einspruch befürchtet. Er kränkt mich tief, denn ich kann ihn mir nur erklären aus deinem Mißtrauen gegen die Wahrhaftigkeit meines Gefühls für das Mädchen. Es thut mir weh, daß meine Wahl dich nicht befriedigt , aber ich habe gewählt und bin selbständig.“ Elpen schien sich nur schwer zu bezwingen, ihn aussprechen zu lassen. Nun legte er ihm die Hände auf die Schultern, streckte die Arme, sah ihn fest an und sagte: „Aber weißt du denn nicht, Juſtus , daß du mein einziger geliebter Sohn bist , dem ich doch nicht aus Launenhaftigkeit einen Herzenswunsch versagen würde?" " Um so unbegreiflicher, Vater " „Und Mathilde," fuhr er fort , ist sie mir nicht stets mein liebes Kind gewesen. hat fie's nicht fühlen müssen, daß ich ihr recht von Herzen zugeneigt war ?" „ So ist es, ſo iſt es . Aber gerade des" halb
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„Sollst du mir vertrauen , daß ich zu euerem Besten handle. Was geschehen, überrascht mich nicht. Ich habe dieses Unheil heraufziehen sehen, wie ein schweres Wetter, das lange drohend am Horizont steht. Es ist nicht abzuwenden, aber man hofft doch, es könnte vorüber gehen, wenn der Wind unerwartet umschlägt. Und nun war alles Hoffen vergebens es ist da, es steht über unseren Häuptern. Was thun ?" Justus fühlte sich beängstigt. So an allen Grundfesten erschüttert, ſo gänzlich außer sich hatte er seinen Bater nie gesehen. Und doch war er entſchloſſen, nicht einen Schritt zu weichen. „ Du wirst dir selbst sagen, " antwortete er, „daß ich dich nicht verstehen kann . Deine Bedenken sind mir rätselhaft. Du behauptest, diese Verbindung sei unmöglich. Unmöglich ? Was heißt das ? Wo liegt das Hindernis , wenn nicht in den beteiligten Personen ? Nenne es ! Wie ich auch mein Hirn martere, einen zwingenden Grund für deinen Widerspruch zu entdecken ein einziger Fall ließe sich denken ... Bater ! die Frage muß in diesem Augenblick : Ist Mathilde deine Tochter ?" erlaubt sein Elpen schien überrascht zu werden, als trete plöglich etwas in seinen Gesichtskreis , was er sich nie vorgestellt . „Meine Tochter ?" fragte er verwundert. „Dir ist ja bekannt . . .“ Nun begriff er, was Justus meinte. „Nein, nein !" rief er, den Kopf schüttelnd. „ Nicht das! dann freilich . . . Aber nein, Mathilde ist ihrer verstorbenen Eltern Kind , nicht meine Tochter durch die Bande des Bluts, nicht deine Schwester. " Justus atmete erleichtert auf. „ Dann aber gibt's feine Unmöglichkeit, Vater - " „ Doch, doch ! Es wäre vielleicht klug ge= wesen, wenn ich diesen sonderbaren, doch sehr erklärlichen Verdacht festgehalten hätte. Der Grund hätte dir genügen müssen. Ich konnte dich nicht hintergehen. Nun sei aber auch über" zeugt „ Nein, Vater ! " unterbrach Justus lebhaft. " Von Ueberzeugung kann hier nur die Rede sein, wenn ich selbst geprüft habe. Mein Gewissen kann ich dir nicht anvertrauen, und gewissenlos würde ich handeln, wenn ich deines Einspruchs wegen Mathilde nicht Wort hielte. Es scheint, daß du irgend ein Geheimnis bewahrſt. Laß mich's wissen ! Wenn du mir Schweigen auferlegen mußt ich werde schweigen. "
Elpen kämpfte sichtlich schwer mit sich. „Ich kann's nicht sagen," versicherte er. „Hab' ich's so lange getragen wie eine drückende Laſt, um es am Ende doch in einer schwachen Stunde abzuwerfen zum Unheil für uns alle? Und wenn dir, meinem Sohn, meinem Freunde . . . nicht gegen Aber schweigen könntest du nicht Mathilde. Und wenn sie erführe . . . “ ein Schauer schien ihn zu überlaufen. „ Nein ! Sie würde nicht nur den Geliebten verlieren, auch den Bruder. Dringe nicht in mich ich muß schweigen. “ Justus gelang es nicht, ihn umzustimmen. Höchst aufgeregt verließ er das Zimmer und eilte zu Mathilde zurück, die ihn schon mit Bangigkeit erwartete. Sie sah ihm vom Gesicht ab, was er zu berichten hatte und brach in Thränen aus . „ Es soll nicht sein," sagte sie. „ Dann liebst du mich nicht ! " rief er. Er wollte sie umarmen, aber sie entzog sich ihm sanft, drückte ihm die Hand und entfernte sich, ohne weiter ein Wort zu sprechen , aus dem Garten. Rat Elpen ergriff Hut und Stock und stürmte zum Hause hinaus auf die Straße. Im Zimmer war ihm die Luft zu beengt, er glaubte nicht atmen zu können . Wenige Schritte vor seiner Hausthüre kam ihm ein fremder Herr entgegen. Er trug den schwarzen Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, den Hut tief in die Stirn gedrückt. Der dunkle Bart gab von seinem Gesicht wenig zu erkennen . Er blieb stehen und schien den Rat ansprechen zu wollen. Dieser aber ließ einen flüchtigen Blick! über die Gestalt hingleiten, wendete sich rasch wieder ab und eilte weiter. Es wäre ihm unlieb gewesen , wenn man jezt den Richter zu irgend einem amtlichen Geschäft angerufen hätte. Er schlug seinen gewöhnlichen Spazierweg ein, durch die lange Scheunengaſſe auf die Landstraße hinaus . Er sah strenger und finſterer aus als je. Erst ging er mit langen Schritten, als könnte er nicht schnell genug die Stadt im Rücken haben ; allmählich aber mäßigte sich seine Eile, er blieb auch wohl stehen, setzte den Knopf des Stockes an den Mund, starrte eine Weile vor sich hin, schüttelte den Kopf und setzte in Gedanken versunken langsam Fuß vor Fuß, um nach einer Minute wieder kräftiger auszuschreiten. Als er endlich umkehrte, fing es schon an zu dunkeln.
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„ Ja. Aber es war doch so gut, als ob Kurz vor der letzten Scheune trat wieder der fremde Herr seitwärts vor. Er mußte ich fortgejagt wäre. Ich empfand es so." „Kommen Sie, mir nach zwanzig Jahren. ihm nachgegangen sein und da auf ihn gewartet haben, denn seine Absicht war es offen- darüber Vorwürfe zu machen, daß ich als Vorbar, ihn diesmal nicht vorüber zu lassen. steher meine Pflicht that ? " „Nein, Herr Rat. Ich mache niemand einen Seinen Weg kreuzend zog er den Hut. Der Vorwurf. Ich will nur an mich erinnern. Rat, so aus seinen Träumen aufgeschreckt, wich aus . Aber der Fremde folgte ihm . „Was Und gewissermaßen haben Sie doch in mein wollen Sie?" fragte er nun. Schicksal eingegriffen. O — oh ! ein Vorwurf „Herr Rat Elpen ?" fragte der Mann. ſoll das nicht sein. Ich bin ins Ausland ge„Der bin ich." gangen - nach Amerika, habe mich dort anTäuschte mich also nicht. Allerdings im fangs sehr kümmerlich durchgeschlagen , dann Lauf der Jahre - " abwechselnd auch bessere Tage gehabt. Zulett " Was wünschen Sie , mein Herr ?" fiel hätte ich mit meiner äußerlichen Lage wohl zufrieden sein können. Es trieb mich doch zuElpen barsch ein. „ In Gerichtsangelegenheiten bin ich vormittags auf dem Gericht zu sprechen." rück, immer dringlicher. Wenn man so allein " Es ist nicht gerade eine Angelegenheit — “ ist auf der Welt, Herr Rat, und das Leben ?? Dann kommen Sie zu mir nach Hause. " | eigentlich recht ſatt hat und sich's überlegt, ob man noch irgendwie nüßlich “ „Das war meine Absicht. Da ich Sie „ Aber das alles klärt mich noch nicht daraber ausgehen sah - " über auf —“ „Laufen Sie mir auf der Straße nach. Ich bin bei meinem Spaziergang nicht gern gestört. “ „Weshalb ich mich an Sie wende , ganz recht, und so spät am Abend . Aber ich will Herr Rat, ein sehr unglücklicher Menſch — “ „Haben da vor anderen nichts voraus .“ Er schon morgen in der Frühe fort und möchte ging weiter. heute noch über etwas Gewißheit haben. GeDer Fremde blieb an seiner Seite. „Herr statten Sie mir eine Erkundigung, Herr Rat ?“ Rat - !" "„ Nun - ?“ "! Wie ich gehört habe ... ist die neue Res,,Nochmals : was wünschen Sie, meinHerr?" " Sie kennen mich nicht mehr." source gleich nach dem Bau abgebrannt." Elpen stuzte. „ Nun - ?" Elpen warf ihm einen forschenden Blick „Ich interessiere mich doch gewissermaßen zu. „ In der That "? Sehr begreiflich, Herr Rat. Es ist lange dafür, Herr Rat. Bei dem Brande sollen zwei und her --- und jezt in der Dämmerung verunglückt sein." Menschen „ Allerdings. " man verändert sich auch gleichsam von innen heraus, wenn man schwer mit dem Leben zu „Der neue Dekonom und seine Frau. Ein Kind, heißt es, ist gerettet worden . “ kämpfen gehabt hat." " Mein Herr „Aber was geht mich das an ?" „Nichts , nichts . Ich wollte nur daran Durch Sie, Herr Rat. O, das war eine erinnern, Herr Rat , daß in der alten Resedle That. Wenn ich source ein Dekonom angestellt war, der Ewers „Lassen Sie das, Herr Ewers, lassen Sie " hieß und der das," wehrte Elpen unwillig ab. " Ich wollte auch nur Gewißheit haben, ob Elpen blieb stehen und fixierte ihn scharf. und der nichts taugte , wie Sie be= das Kind noch lebt. Ein Mädchen, nicht wahr? " haupteten," fuhr der Fremde, immer mit etwas Man sagte mir schläfriger Stimme, fort. „ Sie mögen wohl " Das Kind lebt in meinem Hause. " recht gehabt haben, Herr Rat. " „Das ist also richtig und zuverlässig." „Der Mann sind Sie?" „Außer Zweifel, mein Herr." Sie näherten „Der bin ich, Herr Ratoder oder vielmehr : sich dem dem alten Stadtthor. „ Wenn ich jetzt der bin ich gewesen. Denn ſeit Sie mich hier | für Ihre Begleitung danken dürfte fortgejagt haben - " „ Nur noch einen Augenblick , Herr Rat. Da ich nun Gewißheit habe, daß das Mädchen „Sie sind damals in aller Form entlassen worden." lebt und sich in Ihrem Hause befindet . . .“ Er
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öffnete zwei Knöpfe an seinem Rock, schob die Hand unter die Klappe und suchte nach etwas in der Brusttasche. „ Es ist ja wohl natürlich, daß ich ... da der Vater des Mädchens doch ge= mein Nachfolger in dieser Stelle war wiſſermaßen ein Kollege — und so unglücklich geendet hat, bevor er für das Kind etwas verdienen konnte ... daß ich da eine Kleinigkeit Er zog ein versiegeltes Päckchen vor und hielt es dem Rat hin - „ eine Kleinigkeit zum Andenken , das ist ja wohl natürlich. Bitte, nehmen Sie, Herr Rat. " Elpen schob seine Hand zurück. " Was soll ich damit ?" fragte er verwundert. „Sie vertreten ja Vaters Stelle bei dem Mädchen, werden am besten beurteilen können, was weiter zu thun ist. Wie gesagt , eine Kleinigkeit, Herr Rat, für amerikanische Ver hältnisse. Aber es war fein rechter Segen in der Arbeit. In den lezten Jahren erst, als ich ernstlich entschlossen war . . . Sie können dies ohne Bedenken für das Kind annehmen wahrhaftig ohne Bedenken." Der Rat schien doch anderer Meinung zu
Ewers suchte ihm das Päckchen unter den Arm zu schieben. „ Ich bitte Sie, Herr Rat, nehmen Sie. Warum sollen die Leute wieder " von der alten Brandgeschichte — “ Elpen wehrte ihn mit dem Ellbogen ab. „ Sie haben Ihren Beſcheid . Kein Wort weiter! " Der Fremde seufzte. " Sie sind ein harter Mann. Aber ich muß mich fügen. Entschuldigen Sie meine Dreistigkeit." Er blieb stehen und zog den Hut. Elpen eilte weiter. „ Adieu, mein Herr. Morgen also." Er sah nicht zurück. „ Wunderlich, “ murmelte er leise vor sich hin, „ daß der in Amerika den Einfall hat . . . und gerade heut dieses Zuſammentreffen, heut! Soll das eine Mahnung sein - ? Vielleicht. Ich will's dafür halten. " Er trat in sein Haus ein. Mathilde deckte den Tisch zum Abendessen. Sie hatte gerade ein Brett mit Gläsern in der Hand, als Elpen
durchs Zimmer ging. Sie gaben einen zitternden Klang; die Hand hielt das Brett nicht ruhig. Dann begrüßte sie ihn, aber in der freundlichen Weise wie sonst, und zündete in seiner sein. „Ich weiß nicht, was das bedeuten soll,“ Arbeitsstube die Lampe an. Er mochte ihr nicht sagte er , die Hände in die Tasche steckend . „Wie in aller Welt kommen Sie darauf ... ins Gesicht sehen, nahm ein Aktenstück auf und Aber Ihre Gründe mögen Ihnen genügen, blätterte darin. Er hätte ihr gern ein gutes wenn Sie mir auch nicht einleuchten. Wie ich Wort sagen mögen . Aber wie konnte er das ? glaube aus Ihrer Rede schließen zu müssen, Von der Begegnung mit dem Fremden sprach wollen Sie aus gutem Herzen für die Waise er nicht, obgleich die Sache sie wohl anging. etwas thun. Dagegen kann ich nichts haben. Das konnte später geschehen , wenn sie einen Nur muß es auch in der richtigen Form ge- geordneten Weg nahm. Bei Tisch verhielt er sich anfangs ganz schehen. Ich finde es mindestens sehr sonderDann, als die Stille zu peinlich schweigend. Straße der bar, daß Sie an mich hier auf das Anliegen stellen , von Ihnen irgend eine wurde, fing er von einem zweifelhaften RechtsWertsache für einen Dritten anzunehmen. Ich handel zu sprechen an. Justus sollte ihm seine Meinung sagen. Das Gespräch wollte aber bin Jurist und an strenge Formen gewöhnt. In solchen Fällen trenne ich den Richter vom nicht in Gang kommen . Sobald Mathilde das I Notwendige in der Wirtschaft besorgt hatte, Privatmann nicht. Ich nehme nichts an, ohne seinen Inhalt und meine Legitimation geprüft sagte sie gute Nacht und zog sich auf ihr Stübchen zurück. Justus ging, die Arme über zu haben. Kommen Sie morgen aufs Gericht, verlautbaren Sie Ihre Erklärungen zu die Brust gekreuzt, auf und ab. Elpen behielt Protokoll, und das Weitere wird sich finden. " seinen Play, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und trommelte mechanisch mit den Fingern auf Der Mann ließ sich so nicht abweisen. „ Das gerade möchte ich vermeiden," entgegnete den Tisch. er, immer heimlich flüsternd. „ Die Sache geht „Vater," begann endlich Justus, „ hast du niemand etwas an , es braucht keine Menschen- | dir's anders überlegt ? " Der Rat blickte wie erschreckt auf. „,, Was ?" seele davon zu wissen. Mich und Sie geht es an, keinen sonst, Herr Rat. Ich habe zu Ihnen „Kannst du fragen ? Mathilde leidet schwer, vollkommenes Vertrauen, Herr Rat - " und ich ..." Er biß die Lippen , um nicht „Was soll das, Herr -?" weich zu werden .
Ein strenger Richter.
Elpen stand auf und reichte ihm die Hand. Ich habe mir's anders überlegt," sagte er. Bater !" rief Justus freudig. ,,Nein, nein ! so nicht," dämpfte der Alte. Ich habe mich nur überzeugt, daß ich dir eine Aufklärung schuldig bin, damit du selbst dein Urteil finden kannst. Wenn du gehört haben wirst, was ich dir zu sagen habe, wirst du's begreiflich finden, daß ich zögerte, mich zu eröffnen. Es ist wahrscheinlich, daß ich in der Schäßung meines Sohnes viel verliere, aber ich sehe ein, daß ich diese Einbuße erdulden muß, wenn ich dir nicht herzlos erscheinen will. Welche Thorheit, sich einzubilden, daß man sein eigener Richter sein kann. Wie schwer man sich auch bestraft, es bleibt immer noch ein Rest, mit dem man nicht fertig werden kann. Und zulezt ist doch kein Ausweichen
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Es herrschte eine Weile tiefes Schweigen. Der Rat schien zu überlegen, wie er seine Mitteilung einleiten solle, und nicht zum Entschluß kommen zu können. Endlich sagte er: „Es ist am besten , ich gebe dir mit einem Wort das Resultat voraus . Der Kommentar fügt sich dann leichter an. Höre also : ich trage die Schuld an dem Tode der Eltern Mathildens." Justus sprang auf und streckte die Arme „ Vater — ! “ wie abwehrend vor sich hin. ſchrie er auf, „ das ist unmöglich !“ Der Rat gab ihm mit der Hand einen Wink, sich niederzulassen. Im Augenblick ſchien er selbst keinen weiteren Laut aus der Kehle bringen zu können ; er schluckte heftig , ſeine Augen waren feucht. Allmählich gewann er wieder die Herrschaft über sich. " Laß mich fortfahren! " sagte er. " Der Fall liegt an sich möglich, der bittere Kelch muß bis auf die Neige geleert werden. “ ganz einfach. Deine gute Mutter und ich, wir hatten die ersten fünf Jahre unserer Ehe Justus blickte ihn ganz verstört an. „ Vater, du erschreckst mich, “ sagte er. „ So spricht ein sehr glücklich in dieser Stadt verbracht. Von Mann , der mit irgend einer schweren That Sorgen wußten wir wenig . Ich hatte die sein Gewissen . . . “ beste Aussicht, bei der nächsten Vakanz zu einer Elpen schüttelte den Kopf. „Nicht mit höheren Stelle berufen zu werden, die mir einen einer schweren That, was man so nennt. Sie Wirkungskreis von weitem Umfange ſicherte und wiegt nicht schwer nach dem Geset . Nur die mein Ehrgeiz durfte ohne Unbescheidenheit noch Folgen ... In dieser Welt stehen Ursache und darüber hinausfliegen. Ich war ehrgeizig, aber Wirkung nicht immer in billigem Verhältnis ; auch lebenslustig. Warum nicht diese Ueberzur Schuld kommt oft das Unglück und gibt gangszeit, in der das Amt sehr mäßige Anihr ein anderes Maß. Das Gewissen sollte forderungen stellte, möglichst vergnüglich durchdarunter nicht leiden dürfen. Oh! wenn ich leben ? Wir waren jung und hatten allerhand nicht Richter gewesen wäre -! Du bist Jurist. geſellſchaftliche Talente. Man stellte uns rasch in die Mitte, und wir waren gern bereit, die Du weißt, daß man von einem juriſtiſchen Gewissen spricht. Das Ding läßt sich schwer de- | Leitung zu übernehmen. Konnte es vorläufig finieren, aber es ist da und thut oft genug nicht an anderer Stelle sein, so schmeichelte mir seine Schuldigkeit. Wenn aber einmal nicht . . . es schon, vor dem kleinſtädtiſchen Publikum die erste Violine zu spielen. Justus, magst du nie erfahren, wie weh das thut." „Ich war Vorsteher der Ressource, leitete Der Assessor war ruhiger geworden , obden Reparatur- und Ausbau des Hauses, entgleich sein Herz noch immer laut schlug. „ Gib warf das Programm für die Festlichkeit, mit mir nicht Rätsel auf, Vater," bat er, die ich der die Räume nun eröffnet werden sollten und doch nicht zu lösen vermag. Ich kenne dich zu war eifrig bei den Proben zum Konzert und gut ! Was auch geschehen sein mag, ich werde Liebhabertheater. Der Eröffnungstag war vielden Ehrenmann, den ich liebe, deshalb nicht leicht etwas voreilig anberaumt, die Handwerker verlieren." konnten nur mit Mühe fertig werden , und Elpen deutete nach seinem Arbeitszimmer.namentlich war im großen Saal an unserer Sie begaben sich dorthin. Der Rat wendete Bühne noch kurz vor der Probe von den den Lehnstuhl von seinem Schreibtisch ab und Zimmerleuten gearbeitet worden. Ueberall lagen auf dem Brettergerüst Hobelspäne , aber auch sezte sich darauf, die Lampe im Rücken. Sein Reste von Tapeten , mit denen die Kulissen Sohn nahm in einiger Entfernung auf dem Sofa Plaz und stüßte den Kopf in die Hand. | beklebt waren, und Stücke von Purpurgardinen,
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die am anderen Vormittage zur Drapierung des Proszeniums verwendet werden sollten. Es war in all diesen Wirren eine sehr luftige Probe gewesen ; sie hatte bis in die Nacht hinein gedauert. Nach ihrer Beendigung und nachdem die Lampen ausgelöscht waren, schloß ich hinter dem Schauspielervölkchen selbst den Saal und behielt die Schlüssel. Meine Frau war mit anderen vorausgegangen. Schon auf der Straße fiel mir ein, daß ich nachmittags vom Gericht aus nach der Ressource gegangen war und ein Aktenstück mitgenommen hatte, aus welchem ich mich auf einen zum anderen Tag anberaumten Termin vorbereiten wollte. Es war irgendwo liegen geblieben. „Ich hätte es auch am anderen Morgen abholen lassen können, aber meine Gewissenhaftigkeit that Einspruch. Der Dekonom besaß einen zweiten Schlüssel zum Saal, konnte früh Leute einlassen, die dann ohne Aufsicht blieben! Das Aftenstück konnte in unrechte Hände kommen, verlegt, beschädigt werden. Es wäre mir dann unangenehm gewesen, einzugestehen, daß ich Amt und Vergnügen nicht gehörig auseinander gehalten habe. Ich beschloß also , umzukehren, öffnete nochmals die Thüre und trat ein . " Im Saal war's ganz finster. Ich tappte an der Wand entlang in der Richtung nach der Bühne, stolperte über Stühle und Bretter und fand dann zwar den Aufgang zum Podium , stieß dort aber überall an , verwickelte mich in Schnüre und mußte befürchten, die Kulissen zu zerreißen. Ich trug eine Büchse mit Streichhölzern bei mir und meinte, es sei nur nötig, eines davon anzuzünden, um mich über die Stelle, an der ich mich befand und den Play, auf dem das Aktenstück lag, zu orientieren. So schaffte ich mir denn Licht. Aber das Gesuchte war nicht so rasch zu finden; es mußte von jemand, der's damit gut meinte, irgendwo verwahrt sein. Ich strich ein Hölz chen nach dem anderen an und leuchtete mit der kleinen Fackel in alle Winkel. Eigensinnig ließ ich nicht nach, bis ich das Faszikel endlich unter einigen darübergeworfenen Garderobestücken gefunden hatte. Befriedigt trat ich im Dunkeln meinen Rückweg an. Als ich so langsam Schritt vor Schritt über die Bühne ging, bemerkte ich am Boden vor einer Kulisse einen hellen Schein, etwa wie Glühwürmchen. Ich eilte hinzu und bückte. mich. Es lag dort ein kleiner Haufe Hobel-
späne und einige derselben schwälten. Sollte ich im Eifer des Suchens ein noch glimmendes Streichhölzchen fallen gelassen haben, sollte unbeachtet der Phosphor abgesprungen sein und die Späne entzündet haben? Ich erschrak, zögerte aber keinen Augenblick , die kleine Flamme auszutreten . Als ich keinen Funken mehr bemerkte, warf ich den Brennstoff auseinander, um mich zu überzeugen , daß jede Spur des Feuers getilgt sei . Ich stand auch noch eine Weile und beobachtete die Stelle, entdeckte aber auch nicht den schwächſten Lichtſchimmer. Völlig beruhigt verließ ich wieder den Saal , verschloß ihn und ging nach Hause. Ich hielt den Vorfall für so unbedeutend und gänzlich abgethan, daß ich nicht einmal meiner Frau davon erzählte. Du magst dir vorstellen, Justus, mit welcher Empfindung ich in der Nacht den Wächter Feuer rufen hörte. Sogleich kam mir wieder in den Sinn, was ſich im Saal ereignet hatte ; eine unheimliche Ahnung trieb mich ans Fenster. Ich sah den Feuer-
schein aus der fraglichen Richtung her. Wächter, wo ist das Feuer ? rief ich hinab. Die Ressource brennt ! war die Antwort. Entseßliche Gewißheit ! Was dann geschehen, hast du tausendmal erzählen gehört. Man hat deinen Vater als den Retter in der Not gepriesen. Du weißt nun, was mich so waghalsig in die Flammen jagte. Die beiden Unglücklichen konnte ich ihnen nicht entreißen, nur das Kind . . . und es war ein Wunder Gottes, daß ich es noch lebend herausbrachte. “ Er bedeckte die Augen mit der Hand und saß ſo eine Minute lang, den Kopf leise auf- und abbewegend, als ob er weinte. „Zwei Menſchenleben," murmelte er mit zitternder Stimme. Justus fühlte sich von Empfindungen und Gedanken bestürmt , die sein Urteil eher verwirrten als klärten. Sein Herz war bedrückt, es pochte ängstlich : Das also war's ? Was war's ? Es ließ sich gar nicht faſſen , übersehen. So ein Nichts und dicht daneben die himmelhohe Schreckgestalt. Tiefes Mitleid ergriff ihn , das war wieder das erste flare Gefühl. Es leitete ihn auf den Weg, der den einzigen Ausgang zur Freiheit versprechen konnte. „Vater," sagte er, es ist doch nicht gewiß, daß das Feuer im Saal ausgebrochen ist niemand kennt seinen eigentlichen Herd - du
Ein strenger Richter. es hast sicher jedes Fünfchen ausgelöscht gibt tausend Möglichkeiten . . . “ „ Ganz recht: tausend Möglichkeiten, “ wiederholte der Rat. " Glaubst du, ich hätte mir das alles nicht selbst vorgehalten ? Man ist sehr erfinderisch, wenn es die eigene Verteidigung gilt. Aber alle diese Erwägungen halten nicht Stich. Vielleicht, wenn nur das Haus niedergebrannt ! Man baut's wieder auf. Aber zwei wäre Menschenleben-""1 „ Gerade deshalb kann man Gewißheit fordern," wendete Justus ein, wenn man sich eine Schuld zuschreiben soll." „ Gewißheit! Was willst du ? Wir Menschen verlangen für jedes Ereignis einen zureichenden Grund. Umgekehrt aber : wenn wir einen völlig zureichenden Grund für ein Ereignis haben, dürfen wir ihn leugnen ? Es könnte gewiß. auch viele andere Gründe geben Aber was spricht für sie? Wo ist ein greifbarer Anhalt ? Dieſen einen kennen wir, er ist selbst eine Thatsache, die sich nicht fortschaffen läßt. Ich müßte Gewißheit haben, daß nicht ein Funke sich versteckt hat, daß nicht noch an einer anderen Stelle im Saal unvorsichtig Feuer ausgestreut war , dann könnte ich mich freisprechen. Solche Gewißheit ist unmöglich zu erlangen. Wenn du als Richter zu entscheiden hättest , Justus , und wüßtest , was du jezt weißt dein Spruch wäre nicht zweifelhaft. Du sprächest ohne Bedenken dein Schuldig." "„ Aber ich bin dein Richter nicht , " rief Justus, ich bin dein Sohn, und mein Herz kann kein Schuldig sprechen, so lange mein Kopf nicht die Möglichkeit leugnet, daß das Unglück auch eine andere Ursache gehabt haben kann. “ Elpen stand auf und reichte seinem Sohn gerührt die Hand. „Ich habe schon meinen Richter gefunden, " sagte er, einen sehr strengen. Richter. " „Einen zu strengen, Vater. Wenn deine Voraussetzung wirklich zutreffen sollte , was nur Gott weiß was ist deine Schuld? Im schlimmsten Falle eine leicht verzeihliche Unachtsamkeit, eine Unvorsichtigkeit, die jedem anderen ebenso hätte begegnen können " „Wir wollen doch nicht zu nachsichtig entschuldigen," fiel der Rat ein. „ Die Unvorsich tigkeit war groß, heute erscheint sie mir ganz unbegreiflich. Und ich hätte mich nicht so leicht beruhigen sollen , nachdem die Folgen schon bemerkbar geworden waren . Nein, nein!
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ich habe fahrlässig gehandelt. Aber ich deutete dir's schon an : die Schuld ſteht außer Verhältnis zu dem daraus entstandenen Unheil auch nach meiner Schätzung. Es war eine traurige Verkettung von Umständen, die diesen Erfolg herbeiführte. " „Und doch willst du dein Gewissen mit der Verantwortlichkeit für dieses - ~ Unglück beladen, Vater? Das wäre grausam. “ Ich bin mit meiner Selbstanklage noch nicht am Ende, “ sagte Elpen seufzend. „ Der Teil, der zurückbleibt , ist der bedenklichste. " Justus sah ihn zweifelnd an. „Ich habe - " Er wurde durch ein Klopfen an der Thüre unterbrochen. Es wirkte etwa wie unerwartetes Geräusch , wenn am Kamin eine Gespenstergeschichte erzählt wird. Es war nichts , als daß die Dienstmagd sich bemerkbar machen wollte. Sie reichte ein kleines Paket ein, das eben abgegeben sei. „Von wem abgegeben ?" fragte der Rat, ungehalten über die Unterbrechung. "„ Von einem Herrn, der seinen Namen nicht nannte. Er sagte, der Herr Rat kenne ihn . schon." Elpen besichtigte unter der Lampe die Adresse. Sie bewies , daß das Päckchen für ihn bestimmt sei. Unten in der Ecke stand : " Morgen zu öffnen ! " doppelt unterstrichen. „Sofort zurückgeben ," sagte er , „ es soll ja von unbekannten Leuten nichts angenommen werden." „Der Mann drückte mir's in die Hand und schloß sogleich wieder die Thür ," entschuldigte sich die Magd . „ Ich finde ihn nicht mehr." „Wie sah er denn aus ? " fragte Elpen . Sie beschrieb ihn. „Dachte ich's doch! " rief er, „ derselbe lästige Mensch." Er winkte der Magd sich zu entfernen und warf das Paket unwillig auf den Tisch. „Fatal ! Als ich von meinem Spaziergang zurückkehrte , wollte mir ein Fremder etwas zur Verwahrung übergeben. Ich wies ihn ab. Da hat er sich nun so geholfen." Justus schien auf diesen Zwischenfall kaum zu achten. Er hatte den Kopf in die Hand gestüßt und sah finster vor sich hin. „ Da hat man nun morgen unnütze Scherereien," fuhr der Rat fort. Das da gehört unzweifelhaft aufs Gericht — ich kann's nun 21
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ſelbſt deponieren und ein langes Protokoll dazu schreiben. Unverschämtes Volk!" Er ging eine Weile im Zimmer auf und ab. " Kommen wir auf die Sache zurück," begann er wieder. „Du ,,Du sagtest Vater - " „Ich sagte, meine Verschuldung gehe tiefer. In der That , es ist so. Was wäre meine
Und wenn ich die Waise zu mir ins Haus nahm . . .“ „ Tu bist ihr allzeit ein gütiger Vater gewesen." „ Ja, das war das Geringste, was ich für sie zu thun vermochte. Ich konnte mich doch
damit nicht loskaufen. Es gelang mir auch nicht mich selbst zu betrügen. Im ersten Pflicht gewesen zu thun, wenn ich mir bewußt Augenblick nur - bis es zu spät war, ehrlich war , aus Fahrlässigkeit den Brand gestiftet heraus die Wahrheit zu offenbaren. Das zu haben ? " hätte sogleich, ohne alles Zögern geschehen sein ?? Vater - !" müssen. Und dann doch nicht darüber hinweg können, immer den einen Gedanken im Kopf „Sprich nur aus , was du denkst. Ich umwälzen müssen, täglich mehr und mehrhätte mich zur Anzeige bringen, die Unterbei jedem Richterſpruch in der Achtung suchung selbst auf die wichtige Ursache bringen müffen." vor sich selbst hinabsinken müſſen ... welche " Welche Zumutung an sich selbst, Vater. " Qual! Ich sah ein, daß ich keine Ruhe finden. könne, bevor ich mich selbst aufs strengste beDie Zumutung eines ehrlichen Mannes an straft hätte. Ich wählte die empfindlichste sein Rechtlichkeitsgefühl. “ „ Nein, nein ! Niemand iſt verpflichtet sich Buße , die ich mir erdenken konnte : ich verselbst zu beschuldigen. “ urteilte mich, jedes ehrgeizige Streben in meinem Amt aufzugeben, auf jedes Fortkommen „Auch der Richter nicht , dessen heiligste als Jurist zu verzichten, zeitlebens in diesem Aufgabe es ist, der Gerechtigkeit zu dienen, der Wahrheit zum Siege zu helfen ? “ elenden Nest Richter zu bleiben und es doch „Wenn man jemand der That verdächtigt | in meiner untergeordneten Thätigkeit an strenghätte ... wenn Gefahr gewesen wäre, daß ster Pflichttreue nicht fehlen zu laſſen. Dieser ein Unschuldiger hätte leiden müssen - vielleicht Entschluß kostete die schwerste Ueberwindung. dann ... Ich habe jede Versuchung niedergekämpft. Ich „ Vielleicht, Justus ? Laß doch dein Urteil hoffte so das Geheimnis mit mir ins Grab nicht so kläglich durch deine kindliche Neigung nehmen zu können ... es durfte mir nicht bestechen. In diesem Falle wäre ich ein rechter erspart bleiben, mich vor dem liebsten Menschen, Schurke gewesen, wenn ich geschwiegen hätte. vor dem eigenen Sohn zu erniedrigen." Aber auch so schon wiegt's schwer genug, daß Justus sprang auf und warf sich an seine ich nicht sprach. Ich war der Richter, ich | Bruſt. „ Du erniedrigſt dich in meinen Augen hatte die Untersuchung zu führen . Eine Amtsnicht, Vater," rief er. „Wie rührt mich diese handlung zum Schein ! Und zuletzt selbst das peinliche Gewissenhaftigkeit! Nun erklärt sich Resultat beglaubigen : die Ursache des Brandes dein ganzes rätselhaftes Verhalten als Jurist ist nicht zu ermitteln gewesen ! Fühlst du nicht und Mensch. O, wenn man wüßte — “ die ganze Unwürdigkeit dieses Verfahrens ? " „Man würde gerechter urteilen als du," ""Eine menschliche Schwäche , Vater - " unterbrach Elpen. " Aber ich begreife das „Ja , ja eine menschliche Schwäche. du bist mein Sohn." Er drückte ihm die Damit beschönigt man's vor sich selbst, so lang Hand. „ Du wirst mich wenigstens nicht mehr es geht. Wenn ich mich anzeigte, hatte ich mißverstehen , wenn ich deinem Herzen eine eine Strafe zu erwarten. Vielleicht eine geringe Wunde schlage." Justus erschraf. Erst jest erinnerte er Strafe nach gewöhnlichem Maß. Aber selbst wenige Tage Gefängnis ... “ er ſchüttelte sich sich wieder der Veranlassung dieser traurigen sie hätten mich vernichtet. Ich wäre als Eröffnungen, ohne sich sogleich in den Gedankengang des Alten finden zu können. „ Du Richter unmöglich geworden, hätte meinen Abſchied nehmen müſſen, oder erhalten. Und ich bleibst dabei, Vater," fragte er ängstlich, „ daß hing an meinem Beruf mit Leib und Seele, Mathilde und ich -?" „ Wie wäre eine Vereinigung durch die hatte die ehrgeizigsten Pläne. Ich dachte auch an meine Familie Weib und Kind, Justus. Ehe möglich, “ fiel der Rat ein. „ Dein Vater
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trägt die Schuld an dem Tode ihrer Eltern. Dürfte ihr das verschwiegen bleiben ? Und wenn sie es erfährt — “ "„ Sie darf es nie erfahren," rief Justus. Wir würden ihren "„Du hast Recht. Frieden stören und ihr nehmen, was sie jest hat - was ihr auch bleiben kann , wenn sie nicht deine Frau wird . “ „ Nicht meine Frau-,“ ſtöhnte Justus. Es ist mir etwas ganz Undenkliches, Vater. Mathilde liebt mich." „Willst du sie hintergehen ? Hätte sie erfahren, was geschehen, sie würde sich mit Abnie wäre scheu von mir abgewandt haben ein zärtliches Gefühl für dich, meinen Sohn, in ihrem Herzen entstanden - nie ! Welchen Segen könnte eine Ehe haben, die so gleichsam erschlichen ist ? Ich kenne deinen Hang zur Aufrichtigkeit. Das Geheimnis würde dich unausgeseßt quälen , und einmal würde sicher die Stunde kommen, wo du es von der Brust wälzen müßtest. Dann wäre Mathilde gebunden. Bist du so sicher, daß sie dir verzeihen könnte? Nein! ihretwegen darf ich's nicht zulassen. Ich bin zu tief in ihrer Schuld.“ Justus drückte die Hand auf die Augen. „Vater," sagte er nach einer Weile , " es ist zu viel plöglich auf mich eingestürmt, ich bin verwirrt, sehe nicht klar weder rechts noch links. Laß mir Zeit zu ruhiger Ueberlegung - ich entscheide mich noch nicht. Das Eine nur sage mir : willst du unter allen Umständen überzeugt sein , daß ich handele, wie ich muß?" "Ich verlange keine Rücksicht auf mich,“ antwortete Elpen , „ in dieser Hinsicht ist die Freiheit deiner Entschließungen ganz unbeschränkt." Die beiden Männer schüttelten einander bewegt die Hand. „Gute Nacht, Vater. " " Gute Nacht, mein Sohn. " Er sank in den Seffel, als Justus die Thür hinter sich geschlossen hatte. Ich werde ihn doch verloren haben," sprach er dumpf vor sich hin. Die " gute" Nacht, die sie einander wünschten, kam beiden nicht. Justus blieb noch lange wach, schritt stundenlang die Stubendiele auf und ab und regte sich innerlich immer mehr auf. Dann warf er sich zwar aufs Bett, konnte aber nicht einschlafen. Immer wieder überrechnete er die Aufgabe, die sein Vater ihm gestellt hatte und konnte das Resultat
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nicht stimmend finden. Ich habe Mathilde mein Wort gegeben, sagte er sich tausendmal, und Mathilde liebt mich. Darf ich zurücktreten, ohne einen Grund nennen zu können ? Darf ich von ihr Entsagung fordern, ohne ihr Herz umgestimmt zu haben? Sie müßte ja allen Glauben an mich verlieren ! Das Urteil meines Vaters ist befangen. Nur darin hat er recht , daß Mathilde über das Schicksal ihrer Eltern nicht aufgeklärt werden darf, nachdem sie meine Frau geworden. Jezt aber . Ich darf ihr nicht verschweigen, was ich weiß. Sie muß erfahren , was geschehen ist , selbst auf die Gefahr hin, daß ihr Herz sich von uns abwendet oder daß ihr Pflichtgefühl der Neigung gezwungene Schranken setzt . Wenn unser Verhältnis ein geschwisterliches geblieben wäre, hätte ich andere Pflichten. Jezt ist es Gewissenssache, ihr die Wahrheit zu enthüllen. Mag sie entscheiden ! So ein wenig beruhigt schlief er endlich ein, um jedoch schon am frühen Morgen wieder zu erwachen. Von neuem wälzte er die Last, die auf seinem Herzen lag, hin und her, ohne doch zu einem anderen Schluß zu kommen . Er wußte, daß Mathilde gewohnt war zeitig aufzustehen und in der kleinen Wirtschaft zu schaffen. Als er ins Wohnzimmer trat, stand der Kaffeetisch schon geordnet, Mathilde war nicht sichtbar. Er vermutete sie im Garten und täuschte sich nicht. Er fand sie in der Laube. Das Buch, das sie mitgenommen hatte , lag uneröffnet auf ihrem Schlüsselkörbchen. Sie sah recht bleich aus und die Augen schienen gerötet. Wahrscheinlich hatte auch sie eine schlechte Nacht gehabt. Sie erhob sich und wollte aus der Laube treten. „ Bist du heute schon so früh " auf ?" fragte sie; „ dann will ich sogleich Er bat sie zu bleiben, setzte sich ihr gegenüber und sagte: „Ich weiß nun den Grund, Mathilde , weshalb mein Vater unsere Verbindung nicht meint segnen zu können . Es ist ein sehr achtbarer Grund, und er liegt nicht in dir und nicht in mir, sondern in ihm, oder wenn du willst in einer Verkettung von Umständen , die Macht über ihn hat. Ich sage dir alles, was ich weiß vielleicht um dich für immer zu verlieren. Prüfe selbst . Ich kenne dein freundliches Gemüt. Kann es die Schatten, die darauf fallen müſſen , nicht verscheuchen, so muß unsere Liebe verzichten. Wir
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werden dann wenigstens einander ein reines Andenken bewahren.“ Mit so viel Schonung für seinen Vater, als irgend ohne Eintrag der Wahrheit geschehen konnte, trug er nun den Fall vor. Er knüpfte daran keinerlei Betrachtungen, gab nur die Thatsachen, freilich immer vorsichtig ab wägend , was davon für sicher gelten konnte, was nur nach der Auffassung seines Vaters über jeden Zweifel hinaus war. Mit dem lezten Wort stand er auf und machte Anstalt sich zu entfernen . Mathilde hatte unbeweglich dagesessen, die Hände im Schoß gefaltet. Nur von Zeit zu Zeit zuckten ihre Augenwimpern und Lippen, Schweiß tropfen traten auf ihre Stirn, wie von innerer Beängstigung hinausgetrieben. Als er schwieg, sah sie auf und schien zu erschrecken . Sie griff nach seiner Hand und sagte: „Ach ! wie leid er mir thut !" Justus blickte sie liebevoll an. Ich wußte. es," antwortete er, ?? du würdest ihm herzliches Mitleid nicht versagen. Aber noch bemitleidenswerter bist du selbst , Mathilde , wenn dieses unselige Geheimnis Sie drückte seine Hand und schüttelte den Kopf. „Muß ich's denn so empfinden?" fragte sie. Ist das Kindespflicht, wenn man seine Eltern nie gekannt hat - und stets ohne sie so glücklich gewesen ist in der Liebe und Sorge guter Menschen ... kann ich nun plöglich mein Geſchick beklagen und über einen Verlust jammern , den ich nie gefühlt habe ? Ich bin ganz ehrlich, Juſtus . Es ändert sich mir nichts , als daß ich nun weiß , wie unglücklich mein Wohlthäter ist." Und seine Schuld Mathilde ?" „Die kann ich nicht von ihm nehmen . Sie wird immer so groß sein, als sie ihm erscheint. Aber ich kann ihm sagen ..." Sie stockte. „Was,Mathilde, was ? Sprichlieber Engel." „Nein ich will nicht voreilig sein. Vielleicht, wenn ich's überlege ... Geh jest, Justus. Deine Nähe verwirrt mich. Ich
muß mit mir allein sein, mit meinem Herzen beraten." Justus seufzte. „Warum folgst du nicht seinem ersten Antriebe. Sage meinem Vater, daß du ihm verzeihst. " Sie sah ihn mit ihren ernsten Augen zweifelnd an. O, das !" sagte sie. „Habe ich zu verzeihen kann ihm meine Ver-
zeihung helfen ? Er wird auch meinem Wort nicht glauben. Die That nur ... Ich bitte dich, laß mir Zeit, Justus . Ich weiß nicht, was ich thun darf. “ Er füßte ihre Hand und ging. Eine Stunde hielt er sich auf seinem Zimmer. Dann trieb's ihn hinab. Er fand ſeinen Vater am Kaffeetisch sitzen, über eine Zeitung. gebeugt. Die Mundtaſſe ſtand noch ungefüllt daneben . Er nickte Justus zu. „Mathilde kommt noch nicht, " sagte er; sie ist sonst so pünktlich." „Warte heut nicht auf sie," bat der Sohn. Der Rat blickte rasch auf. „Warum nicht?" fragte er wie erschrocken. Justus legte die Hand auf seine Schulter. „ Vater - sie weiß alles.“ Der Alte griff in sein graues Haar. Justus ! Sie weiß du hast ... ?" " Und sie verzeiht. " „Sie kann nicht verzeihen. Ihre Eltern „Wenn du sie gehört hättest, Vater!" „Das ist ihr milder Sinn, ihr Großmut. Was konnte sie dem Sohn anders sagen ? Aber der Stachel in ihrem Herzen, glaube mir, wird tiefer und tiefer Die Thür hatte sich geöffnet. Mathilde eilte hinein und mit ausgebreiteten Armen auf Rat Elpen zu . Sie schmiegte sich an ihn, füßte ihm Stirn und Wange und Hand und rief : „Nein , es ist kein Stachel in meinem Herzen. Du bist mein gütiger, treuer Vater so hab' ich dich stets erkannt. Sei mir's auch gib uns deinen jetzt ! Ich liebe Justus Segen." Elpen schluchzte wie ein Kind. Du willst du kannst ..." sagte er mit erstickter Stimme. ich kann ! " versicherte sie und „Ich will streckte die Hand nach dem Geliebten aus, der glückstrahlend seitwärts stand. „Das ist die That, " sagte Justus, Bater und Braut mit seinen Armen umschließend. „ Ich wußte es, nur die Wahrheit konnte retten. “ „ Du Rat Elpen vereinigte ihre Hände. nimmst ihn mir nicht," sagte er, „ du gibst ihu mir. Nun bin ich frei. “ Der Gerichtsbote wurde gemeldet. „Herr Rat, nehmen Sie's nicht für ungütig," entschuldigte er, wenn ich so früh ins Haus komme. Aber es ist etwas passiert. “ Auf Elpens Gesicht mochte er wohl ge= lesen haben, wie unlieb es ihm war, jezt mit
Ein trenger Richter. „Was Amtsgeschäften behelligt zu werden. ist passiert?" fragte derselbe vortretend . „Es ist draußen am Mühlenteich einer gefunden, Herr Rat. " „Gefunden ?" „Ja - tot. " „ Nun - ? “ " Und der Wachtmeister, der ihn schon beoder." sichtigt hat, meint: entweder „Was heißt das ? “ " „Er ist nämlich erschossen. Und es kann allenfalls auch sein, daß ihn ein anderer erschossen hat, aber der Revolver liegt dicht neben ihm , als ob er ihm etwa aus der Hand gefallen ist. Da möcht' ich doch eher dafür " halten „Wer ist's ?"
„Man kennt ihn nicht. Der Wachtmeister will ihn gestern in der Stadt herumlaufen gesehen haben. Ein Mann mit grauem Haar es ist eine Schande.“ Dem Rat stieg plößlich eine Ahnung auf. Er preßte die Lippen zusammen und sah zur Erde. " Es muß schon in der Nacht geschehen „ sein," fuhr der Bote fort, die Leiche ist ganz kalt. Der Gesell vom Wassermüller will auch zwei Schüsse gehört haben, gerade als er sich schlafen legte. Der Wachtmeister möchte nun wissen, ob der Herr Rat - " „Ich komme sogleich, " sagte Elpen. „Bestellen Sie den Aktuar ; es wird nötig sein, ein Protokoll aufzunehmen ." Der Seine Vermutung bestätigte sich. Erschoffene war der Mann, der ihn am Abend zuvor in der Scheunenstraße angesprochen hatte, sicher auch derselbe, von dem das in seinem Hause abgegebene Päckchen herrührte. An seinem Selbstmord konnte nach dem ganzen Befunde fein Zweifel sein. Der Rat ordnete wegen Fortschaffung der Leiche das Erforderliche an. Dann eilte er in seine Wohnung zurück. Er nahm von seinem Schreibtisch das geschlossene Paket , das dort von gestern noch unberührt lag, und bat Justus mit ihm aufs Gericht zu kommen. Dort wurde es in Gegenwart von Zeugen eröffnet. Es fielen amerikanische Wertpapiere heraus ,
auf denen nicht unerhebliche Zahlen standen, Auch ein wie ein flüchtiger Blick zeigte. Schreiben war beigefügt.
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Es lautete : „ Verehrter Herr Rat ! Wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich nicht mehr am Leben. Mit meinem Leibe geschehe, was die Geseze bestimmen, meiner Seele sei Gott gnädig. Vor meinem Tode habe ich ein Bekenntnis abzulegen . Eine schwere Schuld liegt seit länger als zwanzig Jahren auf mir, ich kann sie nicht länger tragen. Ich habe das Feuer in der Ressource angesteckt in dem Verschlage unter der Treppe. Es ist aus Bosheit geschehen , weil ich den Posten als Dekonom verloren hatte und meinem Nachfolger sein Brot an derselben Stelle nicht gönnte. Ans Leben wollte ich ihm nicht, Gott der Allmächtige weiß es. Aber er hat's so gefügt, daß meine Schlechtigkeit einen solchen Lohn hatte. Ich war dieselbe Nacht noch auf und davon gegangen, aber in der Zeitung las ich , daß zwei Menschen verbrannt seien und Sie das Kind gerettet hätten. Ich ging nach Amerika , hatte aber keine Ruhe mehr Tag und Nacht. Es wollte mir auch nicht gelingen, etwas zu erübrigen ; erst als ich beschloß für das Kind zu arbeiten, sammelte sich ein kleines Vermögen an. Das lege ich nun in Ihre Hand, Herr Rat, für das Mädchen, nachdem ich mich überzeugt habe, daß es lebt und bei Ihnen gut aufgehoben ist . So thu ich, was ich kann, um wenigstens einen Teil meiner Schuld abzuzahlen. Es ist nicht nötig, daß das Mädchen erfährt, von wem das Geld kommt , oder irgend ein anderer. Ich hoffe, zu dem Mädchen, wenn's nicht ganz arm iſt, wird sich ein braver Mann finden , und dem Gelde, das ehrlich verdient ist, wird in so unschuldigen Händen der Segen nicht fehlen. Dank für alles, was Sie an der Waise gethan. Möge sich's Ihnen reichlich einbringen ! Amen. " Immer leiser und unsicherer wurde die Stimme des Rats ; zulezt schien er nur
mit Anstrengung die Worte aus der geschnürten Kehle herauszubringen . Er war im Gesicht weiß, wie die kalfgetünchte Wand der Gerichtsstube; die Hand mit dem Blatt sank hinab und die Augen verloren allen Glanz. Nun rang sich ein schwerer Seufzer aus der Brust und der ganze Körper fiel ohnmächtig im Stuhl zusammen. Justus , der ihn schon während des Lesens ängstlich beobachtet hatte, sprang zu und hielt ihn an den Schultern aufrecht. Vater, wie geschieht dir ?" rief er. „Ein Glas Wasser - - schnell !" Der Bote
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Ernst Wichert. Ein strenger Richter.
lief danach. Aber vor seiner Wiederkehr hatte Elpen sich schon notdürftig erholt. „ Eine
Justus schwieg.
„ Es gibt eine Gerechtigkeit in uns, “ fuhr Elpen fort, „die nicht irrt ; was Irrtum iſt, Anwandlung von Schwäche —, “ ſagte er recht matt , „ laß uns nach Hause gehen , Justus . | berührt sie nicht. Laß meiner Buße ihr Recht. " Verschließen Sie diese Papiere, Herr Sekretär Oben am Fenster stand Mathilde und nickte es mag darüber im geordneten Wege verfügt freundlich hinab. werden." „Darf sie erfahren, Vater - ?" Gewiß! Wir dürfen ihr jest nichts vorJustus führte ihn. Lange ging er schweienthalten." gend und in sich gekehrt, auf den Arm seines Mathilde, als sie gehört hatte, was ge= Sohnes gestützt. Auch Justus wagte nicht zu sprechen. Im Innersten bewegte ihn der Ge- schehen war , fiel ihrem Pflegevater um den danke, daß ein so reiches geistiges Dasein | Hals und küßte ſeine Hände. „ Ich kann dich gestört und gehemmt werden konnte durch den deshalb doch nicht lieber haben," rief sie. „Mir Wahn einer Schuld. Diese Vorstellung ließ hast du Unheil in Heil verwandelt, und dafür ein Gefühl der Freude darüber, daß sein bin ich dir ewig dankbar. Vielleicht wenn du Vater nun auch von dem eigenen Gewissen dich nicht verschuldet geglaubt hättest , wäreſt du nicht in das brennende Haus eingedrungen, freigesprochen sei, nur schwer aufkommen. Endlich, schon in der Nähe des Hauses, sagte er: würdest du mich nicht auf deinen Armen „ Daß dies nicht einen Tag früher ans Licht hinausgetragen haben. Und wenn doch, du gelangt ist ! Uns allen wäre viel Kummer erhättest mich vielleicht nicht in dein Haus aufspart worden. " genommen, oder nicht so gütig wie dein eigenes „Nein, es ist gut so," entgegnete der Rat. Kind erzogen." Sie reichte Juſtus die Hand " Ich denke, in der Hauptsache hat sich nichts und sah ihm liebevoll in die Augen. „ Vielleicht hätten wir dann einander nicht gegeändert. " „Wie, Vater — ?" funden. Kannst du das ausdenken, Juſtus ? Und dir ist's doch auch eine Freude , Papa ! „ Es widerstrebt mir anzuerkennen , daß dafür wollen Sie soll dir so groß werden ein zufälliges Ereignis an dem etwas soll wir schon sorgen — daß sie alle Trübsal aufzum guten oder bösen umwandeln können, was in uns eine Thatsache ist. Ich will nicht um wiegt, die du dir selbst bereitet haft. Du wirst sie nicht miſſen wollen des Segens wegen, ein Nichts gebangt haben , und ich habe auch aus ihr aufgegangen ist. “ der nicht um ein Nichts gebangt. Die Möglichkeit einer anderen Entstehungsursache des Feuers Rat Elpen zerdrückte eine Thräne in seinem "" Du sprichst aus meinem Herzen,“ war ja doch niemals ausgeschlossen. “ Auge. Die Möglichkeit, Vater! Aber nun es ge- sagte er gerührt. Er zog beide an sich. „ Meine Kinder!" wiß ist Was ist gewiß? Ich könnte fragen: wer von uns beiden , Ewers oder ich, war im Irrtum ?" Bald nach der Hochzeit ließ er sich pen"1 sionieren. Er nahm seinen Wohnort in der „Aber der Mann legt ein Geſtändnis ab „ Daß er den Brand gestiftet hat. Sicher Univerſitätsstadt und gab sich mit Eifer wiſſenschaftlichen Arbeiten hin. Das Buch, das er that er alles dazu, um den beabsichtigten Erunter der Feder hat, verspricht dem Juristen folg herbeizuführen. Aber gab's für ihn keine Jm einen berühmten Namen zu machen. solche zufällige Möglichkeit, die ihn vereitelte ? Wenn der Zunder verlöscht, der Funke erstickt wäre, ehe er das Holzwerk ergriff? Und wenn der Mann, der sich mit Recht sein lebenlang für einen Brandstifter gehalten hat, nun mein Bekenntnis erfahren hätte, dürfte er seine Hände in Unschuld waschen und sich beschweren, daß er der Narr seines Gewissens gewesen ? "
Hause der Kinder steht für den Alten allzeit ein hübsches Stübchen bereit. Er pflegt es den Sommer über nicht leer zu lassen. Justus hat aber auch die beste Aussicht, bei nächſter Vakanz an das Gericht der großen Stadt Dann wird Mathilde versett zu werden. Sohn und Vater die Wirtschaft führen.
Otfried Mylins. Das amerikanische Bergschaf.
Das
amerikanische
167
Bergsch a f.
Von Otfried Mylius.
Is ist eine eigentümliche Erscheinung in der Tiergeographie, daß gewisse Tierfamilien beinahe in jedem Kontinent ihre eigenen charakteristischen Vertreter haben. Eine solche
Tierfamilie ist auch diejenige des Schafes, welches eine ganz besondere Veränderlichkeit im Habitus aufweist, so daß wir bis zur Stunde noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen
1881 Peale
Kopf eines Bergschafes. können, von welcher seiner Arten die ungemein vielen und mannigfaltigen Raffen und Varietäten des gezähmten Schafes abstammen. Dagegen ist es Thatsache, daß beinahe alle hohen
Gebirgsketten unserer Erde von wilden Schafen bewohnt werden , welche von den besten Naturforschern in sechs verschiedene Arten eingeteilt sind. Diese sind: der Ar=
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Otfried Mylins.
gali , Ovis Ammon , in allen bedeutenden Gebirgen Asiens heimisch ; der Burrhal , Ovis burrhel , der oberen Himalayas ; der corsicanische Muflon , Ovis musimon ; das afrikanische Wildschaf , Ovis tragelaphus ; der Steinbock unserer europäischen Alpen, Capra Ibex ; und das amerikanische Bergschaf, das Bighorn oder Cimmaron der Felsengebirge und der Sierra Nevada , Ovis montana, welches uns als das ſchönste, stärkste und intereſſanteſte der sämtlichen wilden Bergschafe erscheint. Der Verbreitungsbezirk des
derb , aber behaglich weich und schwammig und liegen so glatt an , als wären sie sorgfältig mit Kamm und Bürste geſtrählt. Die während des größeren Teils des Jahres vorherrschende Färbung des Bergschafs iſt ein brännliches Grau , welches im Herbst ins Bläulich - Graue spielt; der Bauch und ein großer augenfälliger Fleck auf den Keulen sind weiß ; der Schwanz, sehr kurz wie beim Rotwild , ist schwarz mit einem gelblichen Saum. Die Wolle ist immer weiß und wächſt unsichtbar in schönen Spiralen unter den
amerikanischen Bergschafs erstreckt sich , nach Baird , von der Region des oberen Missouri und Yellowstone durch die Felsengebirge und die denselben ostwärts angrenzenden Höhenzüge bis zum Rio Grande und den merifanischen Grenzgebirgen von Chihuahua und Sonora herab, zieht sich westwärts bis zu
ſtraffen glänzenden Stichelhaaren. Das Gehörn des Bocks ist von ungeheurer Größe; es mißt in seinem größten Durch. messer zwischen fünf und sechs und einem halben Zoll rhein. und hat, nach der Krümmung gemessen, eine Länge von zwei und einem halben bis drei Fuß rhein. Das Gehörn ist von gelblich weißer Farbe und in der Quere gefurcht wie bei unserem zahmen Widder. Der Querschnitt in der Nähe der Basis ist im Umriß so ziemlich dreieckig und verflacht sich gegen die Spiße hin. Vom Kopfe austretend frümmen sich die beiden Hörner erst sanft nach rückwärts und auswärts, dann vorwärts und nach außen, bis sie ungefähr drei Viertel ' eines Kreises beschrieben haben und bis die abgeflachten stumpfen Enden beider Hörner. etwa zwei Fuß auseinander stehen. Das Gehörn des Weibchens ist auf seiner ganzen Länge plattgedrückt , weniger gekrümmt als dasjenige des Bockes und weit kleiner, denn es mißt der Krümmung entlang kaum einen Fuß. Ein Bock und ein Weibchen des Bergschafs , welche in den Modoc-Lavabetten, nordöstlich vom Mount Shasta, erlegt wurden, ergaben folgende Maße : beim Bock beim Schaf
den Küstengebirgen des Washington Territory, von Oregon und Kalifornien und folgt den Höhenzügen noch bis in das westliche Mexiko hinein. In jener ganzen ungeheuren Gebirgsregion, welche nach Ost und West durch die Wasatch Gebirge und durch die Sierra Nevada begrenzt wird und sich in zahllosen Hochgipfeln bis zu 12000 Fuß Meereshöhe erhebt, wohnt noch heute oder verweilte ehedem das Bergschaf. Im Vergleich zum Argali , welcher in anbetracht seiner Körpergröße und seines ausgedehnten Verbreitungsbezirks vielleicht das bedeutendste aller wilden Schafe ist , zeichnet sich das nordamerikanische Bergschaf vor jenem dadurch aus , daß es etwas größer, und daß sein Gehörn regelmäßiger gekrümmt und minder weit auseinander stehend ist. In den wichtigsten charakteristischen Merkmalen stimmen aber beide so wesentlich überein, daß mehrere Naturforscher sie nur für Spielarten derselben Spezies halten und Cuvier die Vermutung aufstellt , der Argali könnte von Asien aus auf dem Eise über die Beringsstraße gesezt sein und sich über den Westen des nordamerikanischen Kontinents verbreitet haben. Vergleichen wir aber das wilde Bergschaf mit den bestbekannten zahmen Rassen, so ergibt sich, daß es mehr als zweimal so groß und schwer ist und anstatt eines bloßen Wollfleides ein dickes Ueberkleid von Stichelhaaren, der Behaarung des Rotwilds ähnlich und eine dichte Unterdecke von seiner Wolle hat. Die Stichelhaare sind zwar ziemlich grob und
Höhe an den Schultern (in rheinl. Maße) . Umfang an den Schultern Länge von der Nase bis zur Schwanzwurzel . Länge der Ohren . . Länge des Schwanzes . Länge der Hörner, der Krümmung entlang . Entfernung der Hörner von Spitze zu Spize Umfang der Hörner an . der Basis
3' 6" 3′11″
3' 0" 3' 34"
5′ 10 ″ 0' 43/4" O 42 "
4' 32" 0′ 5″ 0′ 42″
2′
9″
0' 11
2′52 ″
1′
4″
0′
6″
"
Das amerikanische Bergschaf.
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welches gewöhnlich ein prächtiger alter Bock Die Maße eines von Audubon in den Wenn die Rudel zichen, bleiben die ist. Felsengebirgen erlegten Bockes weichen nur Jungen gemeinhin in der Mitte der Herde wenig von den obigen ab. Das Gewicht von Audubons Exemplar war 344 Pfund , was Die Paarungs- oder Brunstzeit geborgen. vielleicht das Durchschnittsgewicht für aus- scheint ebenfalls in den Spätherbst zu fallen, gewachsene Böcke bildet ; die Weibchen sind unge= denn wenn man in dieser Zeit einen starken fähr um ein Drittel leichter. Bock schießt, hat er einen solch penetranten Gegenüber der Ausdruckslosigkeit unserer unangenehmen Geruch, daß das ſonſt ſo ſchmackzahmen Schafe in Größe, Farbe, Kleidung und hafte Wildbret nur für einen hungrigen InHabitus erscheint das wilde Bergschaf kühn, dianer genießbar ist. Während des Frühjahrs zierlich und anmuthig wie ein Hirsch und gibt und Sommers gehen die erwachsenen Böcke in jeder Bewegung die Kraft und großartige in gesonderten Rudeln von drei bis zu zwanzig Anlage seines Charakters zu erkennen. Das Stücken und werden gewöhnlich äſend am zahme Schaf ist scheu , das Bergschaf kühn ; | Saume der Gletscherwiesen und Almen oder zwischen den burgartigen Häuptern der hohen das zahme ist immer mehr oder weniger Berggipfel augetroffen. Allein ob sie sich ruhig ſchmußig, das wilde dagegen so glatt und rein wie die Blumen seiner Bergweiden. äsen oder zu ihrem Vergnügen an den wilden. Das Vorkommen des nordamerikanischen Klippen auf und abklettern , stets erfüllen ihre edlen Gestalten und die Kraft und Schönwilden Bergschafs wird zuerst erwähnt 1797 durch den katholischen Miſſionär Pater Picolo | heit ihrer Bewegungen den Beschauer mit lebin Monterey, welcher es bezeichnend genug als hafter Bewunderung. Die Rudel der Mütter „eine Art Rotwild mit schafsartigem Kopfe und Jungen stehen meist etwas tiefer in der und in der Größe einer ein- bis zweijährigen Nähe der Baumgrenze und sind scheuer als Kalbel“ ſchildert und die Bemerkung anfügt, die Rudel der Böcke. Das Bergschaf wählt unverkennbar seier habe von dem Fleisch dieser Tiere gegessen und es sehr zart und schmackhaft gefunden. nen Standort mit Rücksicht auf Sonnenschein, einen weiten Ausblick und vor allem auf Mackenzie hörte auf seinen Reisen im Norden die Indianer dieſes Tieres als des „ weißen Sicherheit vor den Angriffen der Wölfe. Seine Büffelz “ erwähnen ; und Lewis und Clark Weidegründe sind die schönsten der Hocherzählen, daß sie am Oberlauf des Missouri matten und Rasenbänder voll Maßliebchen, zur Zeit eines empfindlichen Mangels an Gentianen und purpurnem Bryanthus und Lebensmitteln „ eine Menge wilder Schafe ge- liegen bald auf den felsigen Leisten und Vorsehen haben, welche aber zu scheu waren, um sprüngen an den Seitenwänden der Cañons, wo reichlicher Sonnenschein herrscht, bald in erlegt werden zu können . “ Einige der energischeren Jäger vom Stamme den schattigen Gletscherthälern , an den Ufern der Kah - Ute - Indianer jagen das Bergschaf der Ströme und Seen , wo der samtene alljährlich in den zugänglicheren Teilen der Rasen am schwellendsten ist. Hier äsen sie kalifornischen Alpen , in der Nähe der Pässe, sich als glückliche Wanderer den ganzen Somwo dieses infolge der fortgesetten Nachstellunmer hindurch und weiden sich vielleicht ebengen nachgerade äußerst scheu geworden ist ; allein so sehr an der Schönheit wie an der Schmackin der rauhen Wildnis jener Piks und Cañons, haftigkeit der ihnen zu Gebote stehenden alpiwo die schäumenden Zuflüsse des San Joanen Flora. quin und des King- River entspringen, fürchtet Wenn aber die Winterſtürme ihre hochgelegenen Weidegründe mit tiefem Schnee be das Bergschaf keinen Feind als den Wolf und ist argloser und nahbarer als seine zahmen decken, dann scharen sie sich zusammen wie die Verwandten. Vögel , ziehen nach wärmeren Gegenden und Das Bergschaf thut sich im November und steigen meist an der Ostflanke des Gebirges zu den rauhen vulkanischen Hochebenen und Dezember zu großen Rudeln bis zu fünfzig Stücken, Männchen, Weibchen und Junge, zu- baumlosen Flächen des großen an die Sierra sammen und bleibt wohl auch den größten stoßenden Beckens herab . Sie übereilen sich Teil des Mittwinters hindurch so gesellig beiaber nie und scheinen sich auch nicht vor sammen unter der Führung eines Leittieres, den Stürmen zu fürchten , denn sie liegen 22
Otfried Mylius.
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manchmal in größeren oder kleineren Rudeln bei heftigen Schneegestöbern ganz in die Schneewehen eingebettet und hungern tagelang, und nur die stärkeren Tiere ziehen dann zu den vom Wind durchtosten Höhenzügen herab, wo Büsche und dürres Büschelgras ihnen eine dürftige Aesung liefern , und scheuen dann selbst die Nähe des Menschen nicht.
Im Mai und Juni wirst das Bergschaf seine Jungen in den einsamsten und unzugänglichsten Felsenwildnissen , noch hoch über den Horsten der Adler , zuweilen in Meereshöhen von zwölf bis dreizehntausend Fuß. Das Mutterschaf scharrt an irgend einem sonnigen , vor den Winden geschüßten Ort, welcher eine weite Aussicht gewährt , eine
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Kopf eines Merino Hammels. eirunde Höhlung im Boden zwischen lockeren verwitterten Steintrümmern und Sand , und ein solches Loch ist die Wiege des jungen Bergschafs, und hier schläft es, hoch oben in den Wolken , von Wind und Wetter umtost, in dünner Luft, in sein wolliges Kleid eingehüllt , gesäugt von einer liebreichen , starken, warmen Mutter, welche das zarte Junge vor den Fängen des Adlers und den Zähnen des schlauen Coyote beschützt. So wächst das zierliche Ding allmählich heran und lernt bald die
büschelförmigen Felsengräser und die Blätter der weißen Spiräen abweiden ; seine Hörner beginnen bald auszutreiben und noch vor Ende des Sommers ist es stark und flink genug, um der Herde auf allen ihren Wanderungen zu folgen. Die Standorte des Bergschafs sind immer Gegenden, wo neben außergewöhnlicher Stille eine ungemeine Dürftigkeit des Tierlebens herrscht. Nur selten findet man seine Rudel in Gegenden , wo auch Rudel von anderen
Das amerikanische Bergschaf.
Wiederkäuern : von Rotwild, Gabelgemsen u. s. w. vorkommen , sondern nur kleinere Nager , wie Erdeichhörnchen (der Tamias Lysteri der Naturforscher) und höchstens Murmeltiere. Der Jäger kann daher, wenn er in jene Gegenden. gelangt, das Bergschaf desto ungestörter beob achten. Es ist kein Zugtier, aber seine Lebensweise bringt es mit sich, daß das Tier wandert , nicht nur nach der Jahres-, sondern auch nach der Tageszeit. Genaue Beobach Beobachtungen von zuverlässigen und in naturhistori scher Beziehung geübten Jägern haben darge than , daß die Rudel der Bergschafe von den höheren Punkten, wo sie den Tag über stehen, am Abend und nach Sonnenuntergang herab wechseln, um nachts in den tieferen Gründen und auf berasten Felsenleisten sich zu äsen, und daß sie dann mit Tagesanbruch wieder zu ihren Felsen-
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Rudel, ein Tier hinter dem anderen, die Jungen stets in der Mitte des Zuges , ganz genau dieselbe Richtung ein; eines springt mit derselben Ruhe und Sicherheit wie das andere, und hält genau den vom Leittier eingeschlagenen Weg ein. Ganz in ähnlicher Weise sezen sie über reißende Bergströme und Stromschnellen und zwar meist unterhalb der Wasserstürze, indem sie auf den dort liegenden Rollsteinen und Felsen in wohlbedachten Sprüngen vom einen zum anderen seßen und jeden Sprung so richtig bemessen, daß ihnen auch der schmalste Fußhalt genügt, um sich einen Augenblick darauf im Gleichgewichte zu erhalten und Kraft zu einem neuen Sprunge zu sammeln. Bei solchen Gelegenheiten tritt die ganze Geschmeidigkeit und Kraft, das volle Selbstvertrauen und die edle Individualität dieses Tieres am glänzendsten zu Tage.
schroffen hinaufsteigen, wie man Aehnliches auch bei den Gemsen unserer Alpen beobachtet hat. Bei diesem Auf- und Abstieg der Bergschafe nun kann man die ungemeine Sicherheit ihres Ganges, die Kühnheit und Weite ihrer Sprünge,die Sicherheit, mit welcher sie im Auf- oder Absprung die kleinsten Borsprünge oder Platten erreichen, auf denen sie nur einen Fußhalt faſſen können, bewundern. An den steilsten und glattesten Gletscherschliffen steigen sie mit einer raschen Reihenfolge kurzer steifbeiniger Sprün ge empor oder herab, als ob sie Schwingen hätten. Eines
Fales
EVANS Schafe auf der Schneegrenze des Shasta-Gebirges.
springt dicht hinter dem anderen und tritt genau auf dieselbe Stelle ; das Leittier voran, welches gleichsam den Weg sucht, schlägt das ganze
Man erzählt vom Bergschaf, es stürze sich, gleich dem Steinbock der zentraleuropäischen Alpen, von der Stirn jäher Abgründe herab,
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Otfried Mylius.
weil , wenn auch das mächtige Gehörn des Bockes dem Tiere ein solches Wagnis erlauben würde , das Weibchen selbst bei seinem geringeren Gewicht es nicht wagen könnte, sich auf sein kürzeres und schwächeres Gehörn zu stürzen, ohne dieses zu zerbrechen und sich den Schädel zu zerschmettern. Dennoch behaupten einzelne Jäger, solche Salti mortali bei Böden von Bergschafen selbst gesehen zu haben. Wir lassen die Frage hier unerörtert, wollen aber nur konstatieren, daß man unter den ziemlich häufig zu findenden Schädeln eingegangener Böcke von Bergschafen manche findet, deren starkes Gehörn zwar verlegt ist, aber nicht so sehr von derartigen gewaltigen Sprüngen auf den Kopf, als vielmehr wahrscheinlich infolge von Kämpfen, welche die starken Böcke in der Paarungszeit untereinander führen. Die Gewalt und Sicherheit des Sprunges der Bergschafe hat offenbar noch einen anderen Grund, welcher bei einer genauen anatomisch-physiologischen Untersuchung ihres Fußes sogleich augenfällig wird und das Rätselhafte und Geheimnisvolle ihrer Sprünge und ihrer Sicherheit beim Auf- und Abstieg erklärt : das Bein und der Fuß des Bergschafs haben ungemein starke Muskeln und der breite hintere Teil der Sohle des Hufs nüßt sich nicht ab und wird nicht flach und hart, wie der Huf des zahmen Schafs und der des Pferdes, sondern wölbt sich konver zu einem weichen elastischen Kissen, welches nicht nur durch seine Federkraft die Wucht des Sturzes mildert, sondern auch auf glatten Felsen gut eingreift und festhält , in die kleinsten Bertiefungen eindringt und sich diesen wie den leichten Vorsprüngen anpaßt. Auch die härtesten Teile des Hufrandes sind noch verhältnismäßig weich und elastisch ; die Zehen lassen ein ungewöhnliches Maß von sentrechter und seitlicher Bewegung zu, spreizen sich weit und gestatten dem Fuß, sich noch vollkommener den Unregelmäßigkeiten der Felsenoberfläche anzupassen, und steigern gleichzeitig das Vermögen des Eingreifens und Festhaltens. Dies erklärt zum großen Teil die Sicherheit und Schnelligkeit dieser Tiere im Klettern. Das Bergschaf liefert ein äußerst wohlschmeckendes und nahrhaftes Wildbret und eine sehr weiche und zähe Haut , welche zu haltbarem Leder wie zu einem warmen Belze vergerbt werden kann, und dies, in Verbindung Jeal mit dem Umfang des Tieres, welches gegen zwei Zentner Fleisch liefert, und der Mühe Bergschafe einen Abhang herabstürzend. und Gefahr, welche mit seiner Jagd verbunden ist, erklärt zur Genüge, warum ihm von indianifalle dabei gerade auf sein Gehörn und breche schen, halbblütigen und weißen Jägern mit mittels desselben die Wucht des Sturzes. Biele Naturforscher verweisen dies in das Ge- solcher Beeiferung nachgestellt wird. Unter den biet der Fabel, sowohl beim Steinbock als Indianern sind die Modocs und die Pah-Utes die geschicktesten und erfolgreichsten Bergschaf beim Bergschaf, aus dem einfachen Grunde,
Das amerikanische Bergschaf.
Jäger , oder sind es vielmehr gewesen , als dieses scheue Wild in ihren Jagdgründen noch zahlreicher war. Man findet in den Höhlen der sogen. Lavabetten und des Mount Shasta, sowie in den oberen Cañons der Alpen gegen über von Owens Valley noch heute eine Menge Schädel und Gehörne aufgehäuft , welche von den durch jene Indianer erlegten Tieren her rühren , und die vielen schweren Pfeile mit Spitzen aus Obsidian , welche man auf einigen der höchsten Gipfel fand , bezeugen deutlich, daß der Krieg gegen jene Tiere dort lange fortgedauert hat. In den zugänglicheren Gebirgszügen , welche sich quer durch die Wüstenregionen des westlichen. Utah und Nevada hinziehen, pflegten zahlreiche Indianer früher bandenweise zu jagen, wie Rudel Wölfe , und erfreuten sich eines schönen Erfolges, da sie mit der Topographie jener Jagdgründe und mit der Lebensweise, den Instinkten und Gewohnheiten ihres Wildes genau vertraut waren. Beinahe auf allen
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und es gelang ihnen zuweilen, das edle Wild in diese Umzäunung hineinzutreiben. Diese Treibjagden erforderten natürlich eine große Menschenmenge , oft mehr als ein ganzer Stamm mit Einschluß der Weiber und Kinder auftreiben konnte, und die Indianer sahen sich daher gezwungen, den Höhenkämmen entlang, über welche die Schafe nicht entweichen sollten, Reihen von scheinbaren Jägern aus Steinen,
Höhenpunkten der Gebirge von Nevada findet man noch heute kleine nestartige Einfriedigungen oder Ansize aus rohen Feldsteinen, in welchen einer oder mehrere Indianer im Hin terhalte lagen, während ihre Gefährten die tiefer liegenden Hänge und Hochebenen abtrieben, weil sie wußten , daß die beunruhigten Bergschafe immer nach der Höhe flüchten und daß sie aus geringer Entfernung geschossen werden konnten, wenn man sich nur bei gutem Winde an sie anschlich und sie zwang, auf ihren gezwungenen Wechseln nach oben zu treiben. Noch größere Indianerbanden pflegten auf beherrschenden und von den Bergschafen häufig besuchten Höhenpunkten (z. B. dem Mount Grant im Wassud-Gebirge, westlich vom WalkerSee) große Treibjagden auf Bergschafe zu veranstalten. Sie errichteten nämlich an irgend einer besonderen, mit bezug auf die wohlbekannten Wechsel der Schafe günstig gelegenen Stelle einen Corral (Umzäunung) mit hohen Wänden und langen auslaufenden Zuleitungsflügeln, welche vom Thore aus divergierten,
Bergschafe von Indianern gejagt. sogen. Steinmännchen, aufzurichten. Aber auch diese Stroh oder vielmehr Steinmänner erfüllten ihren Zweck (was dem Scharfsinn oder der Spürkraft dieses vorsichtigen Wildes übrigens keinen Abbruch thut), denn wer nicht um das Geheimnis weiß, der fann, wenn sich eine Anzahl Indianer lebhaft zwischen diesen Steinpuppen umhertreibt , aus einiger Entfernung auch diese nicht mehr von Menschen unterscheiden und der ganze Bergrücken scheint dann von Jägern zu wimmeln. Die weißen Jäger können heutzutage gott-
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H. Ehrlich.
lob! dieser Maſſenjagd sich nicht mehr bedienen, Schüßen vergeudet, denn wenige Tiere beſißen da das Wild seltener und scheuer geworden ein zäheres Leben als das Bergschaf, das , wenn es nicht schwer getroffen ist, unter dem ist. Die amerikanischen Jäger sind freilich keine Weidmänner nach deutschem Brauch, Sporn der Augst noch die lezte Kraft zuwelche ihren Wildstand schonlich behandeln und sammenrafft und mit verzweifelter Schnelligkeit nach oben flüchtet , oder kopfüber vom einen rationellen Abschuß einhalten , sondern meist sogen. pot-hunters oder Küchenschüßen, nächsten Abhang in irgend eine unzugängliche welche nur zu ihrem physischen Unterhalte Schlucht hinunter stürzt, wohin ihm entweder jagen, aber die Natur und die Standorte dieses der Schüße gar nicht folgen kann , oder in edlen Wildes verhindern schon ein schonungs- | welcher er, wenn es ihm wirklich gelingt, dort hinabzusteigen , seine Beute zu einem formloses Hinmorden , wie beim amerikaniſchen losen Klumpen zerschmettert findet, an welchem Bison. Die Jäger der Felsengebirge und der nur die ekelhaften Aasgeier sich gütlich thun nordwestlichen Gebirgsketten können das Bergkönnen. schaf nur auf der Birsch oder auf dem Anstand erlegen, und so ist die Ausbeute immer eine beschränkte. Selbst da wo die Bergschafe noch ziemlich häufig sind , ist ein glücklicher Schuß auf der Birsch doch meist nur ein Die Musiker Glücksfall, und der Anstand daher ergiebiger. Dieser wird methodisch dadurch betrieben, daß in der modernen Gesellschaft. der Jäger sich zunächst genau mit den Wechseln Von vertraut macht , auf welchen die Bergschafe H. Ehrlich. abends ins Thal herabsteigen , um sich zu Diese Wechsel sind nicht schwer zu finden, weil die Bergschafe, wie schon erwähnt,
immer im Gänsemarſche ziehen und im allge meinen dieſelben Päſſe einhalten, so daß ihre Fährten leicht erkennbar sind. Hat nun der Jäger diese begangenen Wechsel gefunden , so muß er, und wenn er auch viele Meilen weit zu steigen hätte, mit einem Umweg so hoch wie möglich in der Nähe dieser Fährten an den Berghängen geräuschlos hinansteigen und ſich mit gutem Wind und ganz unsichtbar sehr nahe bei der Fährte in den Hinterhalt legen und den Tagesaubruch erwarten. Ehe näm lich die Sonne am Horizont der östlichen Berge erscheint , verlassen die Bergschafe ihre Weidepläße nicht. Dann aber ziehen sie ohne Uebereilung bergan, und nun gelingt es einem ruhigen und sichern Schüßen leicht , während das Rudel noch immer sich äſend in langer Linie heraufsteigt , einen oder zwei Schüsse anzubringen. Das Rudel naht ziemlich arg= los, denn diese Tiere fürchten merkwürdigerweise mehr die Gefahr , welche von unten fommt. Aber der Schüße darf nicht ungeduldig sein , nicht zu früh und nicht zu weit zielen. Der Schuß muß auf höchstens 30 bis 40 Schritte abgegeben werden und gut gezielt sein, so daß das Wild wo möglich im Feuer zusammenbricht , sonst ist die Mühe
Dem Freunde wahrer Bildung , der alle Künste gleichmäßig schäßt, und nach ihrem Wesen und Bedeutung forscht, drängt sich bei der Betrachtung über die jetzige allgemeine, die anderen Künste zurückdrängende Verbreitung der Musik öfter die Frage auf : ob diese Verbreitung aus einem idealen Bedürfnisse entstanden ist oder aus dem Verlangen nach Aufregung; ob im Kunstgenusse das Gefühlsleben vorwiegt und das Streben, deſſen Ausdruck zu finden, oder ob der Anteil an der Kunst vorzugsweise durch jene starke und rasche Auspannung der Nerven erregt wird, in welcher die Tonkunst vor den Schwestern den Vorrang behauptet? Eine Erörterung der Frage steht nicht im Zusammenhange mit dem eigentlichen Zweck unſerer Studie ; nichtsdestoweniger müssen wir auf die Frage selbst und zwar gleich beim Beginne unserer Untersuchung hinweisen ; es ist wichtig, daß bei der Beurteilung der Stellung des Musikers in der Gesellschaft die beiden oben angeführten Gesichtspunkte vom Leser im Auge behalten werden. Die Seelenlehre, welche sich auf Erfahrung und nicht auf abstrakte Voraussetzungen stüßt , wird in dem Charakter und dem Gebahren jedes bedeutenderen Individuums das Ergebnis verschiedenartigster Wechselwir-
Die Musiker in der modernen Gesellschaft.
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Ausnahmestellung errungen hat. Der 22jähkungen sehen : der ursprünglichen Anlagen, der rige Meister war in der ersten Zeit ſeines äußeren Verhältnisse, Erziehung u . s. w., der Verwendung der Eindrücke, je nach der geiſti- Wiener Aufenthalts nur als Klavierspieler und Improvisator bekannt ; seine ersten Kompoſigen und der sittlichen Erkenntnis des thätigen tionen erschienen erst zwei Jahre nach seiner Individuums . In noch höherem Maße müſſen die gesellschaftlichen und künstlerischen Gewohn- Ankunft . Aber nicht bloß daß ſeine merkwürdige Persönlichkeit, die selbstbewußte, troßig herausheiten ganzer Generationen durch das gleich zeitige Wirken verschiedenartiger Triebfedern er- fordernde Kraft, der „hohe Ton, " den er vom klärt werden. Aenderung in Trachten und Mo- ersten Augenblick anschlug , den Leuten imponierte, und daß er auch durch die Unterſtüßung den , in der Wahl der Nahrungsmittel , der Mahlzeiten sind ebensowenig von gewissen la- des Fürst Erzbischofs von Köln nicht gleich) auf Erwerb angewiesen war : er hieß Ludwig tenten geistigen Einwirkungen zu trennen, als van Beethoven und dieses Wörtchen wurde als umgekehrt gewiſſe geistige Strömungen von Aenderungen in der Lebensweise, die fast unsicht= | Adelsprädikat angeſehen. Welchen Einfluß aber dieser Irrtum auf die Wiener Geſellſchaft bar nach und nach, aller Kontrolle und Erklärung sich entziehend, mit einemmale da und ausüben mußte , kann nicht klarer dargelegt werden, als durch den Hinweis, daß bis 1848 festgestellt sind. Blickt man auf die Stellung des Muſikers die Prozesse der Adeligen vor einem eigenen in Deutschland zu Ende des verflossenen und Gerichtshofe geführt wurden, daß Beethoven. Anfang dieses Jahrhunderts zurück, und be- bei einem Streite mit seiner Schwägerin an trachtet man die, welche er heute einnimmt : dieſen Gerichtshof ging und von ihm nach der welch ein unermeßlicher Abstand ! welch eine Prüfung der Bedeutung des „van “ an den Kluft der Anschauungen, Verhältnisse und Be- bürgerlichen gewiesen war. Hätte in jener ziehungen ist ausgefüllt worden ! Der Musiker, Zeit das Genie genügt , dem Musiker ¹ ) der sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Aufnahme in die vornehmen Kreise zu sichern, behaglichsten gesellschaftlichen Stellung erfreute, warum hat sie Schubert, der um so viel später war Gluck; aber seine Pariser Triumphe, die Gekommene, selbst Karl Maria von Weber nicht gefunden ? Protektion der Königin Marie Antoinette und Selbst wenn man Beethovens Ausnahmedes französischen Adels, und sein Reichtum, der stellung als nur seinem Genie gewährt annähme, ihm Unabhängigkeit sicherte, verliehen ihm in den Augen der Wiener Geſellſchaft gewiß ebensoviel, | ſo iſt ſie noch immer nicht zu vergleichen mit der, wenn nicht noch mehr, Ansehen als die Erkenntwelche jetzt bedeutende schaffende und ausführende nis seines Künstlerwertes . Wie ging es damals Tonmeister, wie Richard Wagner, Brahms, Joachim, Liszt, Rubinstein, einnehmen . Ja ſelbſt dem himmlischen Mozart ? Der Leser bedarf weniger Bedeutende und Berühmte ſtehen heute wohl keiner historischen Darlegung! Und mit geſellſchaftlich höher und angesehener als die welch vornehmer Herablaſſung ward Haydn, der Gründer der Instrumentalmusik, behandelt, bis Besten im Anfange des Jahrhunderts. die Kunde aus London kam von seinem Orden schmückte die Brust Haydns, des Allbeliebten, für seine Kaiserhymne erhielt er Triumphe, der Aufnahme bei König Georg III., und daß der famose Prinz- Regent, der nach eine goldene Tabaksdose. Welcher Hofkapellmeiſter, welcher berühmte Virtuoſe oder Sänger malige König Georg IV., bei sich Konzerte erhält heutzutage nicht einen Orden, wenn er veranstaltete, die Haydn dirigierte (und wofür ihm das Honorar nicht bezahlt wurde). nicht gerade persönlich „ mißliebig " ist ? Wenn Man könnte vielleicht einwenden, daß in wir nun einen Blick auf die geschichtliche Entdiesen Verhältnissen schon mit Beethovens Anwickelung der heutigen Verhältnisse werfen, so bieten sich folgende Thatsachen : kunft in Wien eine Aenderung eintrat , und Der erste Anlaß zu der gänzlichen Aendaß dieser große Meister von seinem ersten Erscheinen eine Aufnahme in der vornehmen Ge- derung in der Stellung der Musiker iſt unsellschaft gefunden hat, die ihn sofort über alle Musiker erhob. Aber bei einiger Prüfung des 1) Und mußten nicht Goethe und Schiller geSachverhalts wird ein jeder sich überzeugen, adelt werden um der gesellschaftlichen Gleichberechti daß nicht das Genie Beethovens allein diese gung willen ?
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mit einem Saße über die gewöhnlichen Schranken, leugbar von Paris ausgegangen und über und durchbrach die, welche man absichtlich höher Wien nach Deutschland gedrungen , und der zu stellen versuchte ; die Hochadeligen, welche es Träger und Verwirklicher der franzöſiſchen versuchten, ihn den Standesunterschied fühlen Ideen von Gleichberechtigung der Geistes- und Geburtsaristokratie iſt in Deutſchland unstreitig zu laſſen, mußten den Stachel seines treffenden Liszt gewesen. Die Pariser Salons gaben in und immer eleganten Wißes fühlen und — sich den Jahren 1827-45 den Ton an, und sie bescheiden ; denn ihre eigene Geſellſchaft ſtand auf öffneten ihre Thüren weit, um die berühmteſten | seiner Seite und freute sich seiner Wiße. Allerdings und das muß betont werden - verMänner der romantischen Schule auf das glänzendste zu empfangen. Viktor Hugo , La- liehen ihm nicht seine unvergleichlichen künstlerimartine (später auch Alfred de Musset) als schen Leistungen allein den Glanz und das Recht, alles zu wagen, sondern auch, und gegenüber Dichter, Franz Liszt als Musiker waren die Helden des Tages und der Salons. Sie alle der Aristokratie in noch höherem Grade, der Ruf seiner unerhörten Erfolge in der Pariser neigten zuerst zum katholischen Myftizismus vornehmen Gesellschaft. Ein Künstler, für den, und zur dichterischen Verherrlichung konservativster Politik; die beiden erst Genannten als er im 23. Jahre stand, alſo kaum dem Jünglingsalter entwachſen war , eine hochgewurden erſt ſpäter liberal, dann revolutionär, borene, schöne, geistvolle und über jeden Tadel endlich demokratiſch und um die Volksgunſt ſich erhabene Tame Gemahl, Kinder und die glänbemühend ; Liszt aber (gleich Alfred de Musset) zendste Stellung verlassen hatte, um sein unist bei allen seinen Wandelungen im geistigen gewisses Los zu teilen , mußte ja als eine Leben gesellschaftlich den aristokratischen Neigungen treu geblieben. dämonische, bezaubernde Persönlichkeit erſcheinen, Als Liszt das erste Mal in Deutschland er- vor welcher alle, für andere musizierende schien (1838 in Wien, dann Berlin u. s. w.), | Geſchöpfe geltenden Gesetze in nichts dahin stand der Adel noch im Vollbesige politischer schwanden ! Mit solchen Gedanken betrachtete und gesellschaftlicher Vorrechte. Nur was er ihn ganz gewiß der größte Teil des Publikums , protegierte, fonnte auf glänzenden Erfolg rechnen, besonders die Frauen ; aber zu seinem Lobe Bestrebungen, denen er nicht Anteil schenkte, muß auch gesagt werden: er hat die Ausnahmeblieben im Dunkeln . Allenfalls der Dichter oder stellung, die ihm das Geschick anwies, nicht für Schriftsteller durfte, besonders wenn er die seine Person allein benügt, er hat durch seine politische Leier schlug, oder über alles wißig ganze Haltung in der Gesellschaft, durch sein zu spotten verstand, den Einfluß des Adels überBenehmen gegen die Kunstgenossen vielfache Besehen, und an die Nation “ oder „ das Volk“ beweise gegeben, daß er nur als der berufenste Vertreter der allgemeinen Künstlerrechte ange= rufen ; aber die anderen Künste, besonders die Muſik, mußten von der Sonne der Adelsgunst sehen sein wollte. Auch gab er den Nachfolgern, beschienen werden, wenn sie nicht frieren sollten. besonders der jüngeren Generation, das Beispiel, wie echte Künstler sich allgemeine Der Musiker, und ganz besonders der ausübende, war angewiesen, sich hohe Protektionen Bildung erwerben müssen und feiner geistigen. zu erwerben; den Fremden, die Empfehlungen Bewegung teilnahmslos fernstehen dürfen. brachten, erleichterte die Gastfreundschaft die Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen Liszts in Wien entfaltete sich in Deutschland die von Erreichung des Zieles, besonders den Parisern, den Bewohnern der Stadt, welche damals in Schumann hervorgerufene Bewegung . Dieser Kunst, Litteratur und Mode das Szepter führte ; herrliche und edle Künstler hat zuerst das unaber die geſellſchaftliche Schranke zwischen der endliche Sehnen der deutschen jungen Muſiker Aristokratie und den mit ihrer Protektion Benach anderen Ausdrucksmitteln, nach anderen ehrten stand immer fest 1) . Da kam einer, sprang Formen, nach poetischer Lebensauffassung begriffen, ihm Worte verliehen und durch die 1) Thalberg („ Ritter von" ) , der Sohn des Gründung der Neuen Zeitschrift für Musik" Fürsten Dietrichstein und Kaiserl . Kammervirtuose, eine bestimmte Richtung gegeben. Niemand, der genoß eine besonders angenehme Stellung in der Wechselwirkungen zu erkennen und zu verfolgen Wiener vornehmen Geſellſchaft ; doch war sie nicht im stande ist , wird bestreiten, daß der Einannähernd mit der zu vergleichen , die Liszt gleich fluß, den Schumann eine Zeitlang durch die bei seinem Erscheinen eroberte .
Die Musiker in der modernen Gesellschaft.
"Neue Zeitschrift" ausübte, auf die Entwicke lung der Musik ein ebenso großer war , als der seiner Kompositionen ; diese wurden erst lange nachdem seine Schriften Verbreitung gefunden hatten, allgemein bekannt . Und wie er auf die Bildung der jungen Künstler gewirkt, wie er diese zum Studium der Litteratur an-
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allen deutschen Künstlern der Musiker jezt die vorteilhafteste Stellung in der Gesellschaft einnimmt und nicht etwa, weil er die anderen an Bildung oder ſittlichem Wert überragt, sondern weil die Musik jest die weitest verbreitete, die von der Gesellschaft am meisten gepflegte Kunst ist, weil der Musikdilettantismus vorherrscht. In früheren Zeiten war die Tonkunst eine Art von geregt hat, ist noch gar nicht genug gewürdigt Hofkunst in Deutschland , wo nur der Weimarworden. Schumann und Mendelssohn waren gebildete Männer, die gründliche Schulstudien sche Hof für Dichtkunst Sinn und Verehrung mit geistvollster Auffassung verbanden und den bewies ; alle kleinen Fürsten und auch die reichen Kavaliere hielten Orchester und Kapellmeister; Beweis gaben, daß die Zeit, welche zur Erwenn sie selbst Musik „ trieben “, so geschah das langung humanistischer Bildung verwendet wird, aus persönlicher Liebhaberei (, diletto " ), also der Kunst nicht verloren geht. Während Liszt dem Musiker die gesellschaftliche Gleichberechti aus Kunsttrieb. Heute ist die Musik eine gegung in den eleganten Kreiſen erkämpfte, haben | ſellſchaftliche Notwendigkeit, ein Kitt, der fremdartige Stoffe zusammenhält ; sie gehört zur ErMendelssohn und Schumann ihn für das Bürgerziehung , mehr als die Kenntnis der vaterrecht der gebildeten Welt erzogen, und somit vielleicht noch Höheres geleistet. Denn in den ländischen Litteratur. Der bedeutende Muſiker ersten Jahren nach Liszts Erscheinen genoß ist heute das Mitglied der feinen Gesellschaft, er teilt ihre Rechte und ihre - Verpflichtungen. eigentlich nur der fremde Virtuose mit seinen Und diese sind manchmal derart, daß sie der Manieren, oder der einheimische junge „ intereseigentlichen Stellung des Künstlers , ja seinen sante" Virtuose die Vorteile beſſerer gesellschaft Vorrechten widersprechen. So kurz auch die licher Stellung ; und es dauerte geraume Zeit, Milliarden- und Gründerzeit gedauert hat, ihre bis sie auch den Komponisten zu teil ward, während ja in Paris jeder Künstler jeden Nachwirkungen sind noch bemerkbar. Die Steigerung mancher Bedürfnisse, besonders des nach Faches , der sich auszeichnete, von der besten Außen-Scheinens , des Repräsentierens, blieb auf Gesellschaft freundlichst empfangen ward . Allergleicher Höhe, und faſt mehr noch bei den Künſtdings bildete in der französischen Hauptstadt der „Salon“ ein neutrales Gebiet für alle lern im allgemeinen (d. h. nicht etwa bei den Gesellschaftsschichten; Ständeunterschiede gab es Muſikern allein) als bei den Geldleuten. Dieſe verloren mit dem Gelde auch die Bedeutung : dort seit dem Jahre 1830 nicht mehr. In jene aber behielten sie und meinten wenig Deutschland hat erst das Jahr 1848 den Ansie zu erstens die Mehrzahl von ihnen fang der Gleichheit herbeigeführt , und die höhen, wenn sie zur Schäßung des künſtleriFrüchte , welche die oben genannten großen Künstler gepflanzt haben, gedichen nach und schen Wertes die des materiellen Gewinnes gesellten. So entstand aus der geſellſchaftlichen nach zur Reife; der gebildete Musiker gehört heute zur guten Geſellſchaft. Gleichberechtigung das Streben nach Prunk ; so war ein unbestreitbares, dem Künſtler allein Eine Prüfung und Darlegung der Veränderungen, welche seit dem Jahre 1848 in der angehöriges geistiges Vorrecht von ihm geopfert, deutschen Gesellschaft stattgefunden haben und um ein zweifelhaftes, zwitterhaftes Recht dafür zu gewinnen . „Haus zu machen," die vornoch in diesem Augenblicke um sich greifen, nehmsten und elegantesten (nicht immer die würde uns weit abseits führen von dem eigent lichen Zwecke dieser kleinen Studie. Wir begeistreichsten und gebildetſten) Leute bei sich zu empfangen und zu bewirten, ward ein Hauptfinden uns ja auch noch in einem Zersetzungsprozeſſe. Die alte Geſellſchaft der Haupstädte streben vieler Künstler ; und da die berühmten hat sich aufgelöst, die neue noch nicht fest ge= Musiker am meisten mit der eleganten Gesellbildet ; die geistigen Atome wandern noch hin schaft verkehren, mußte auch dieſes Streben bei und her, und das Parteiwesen, auf das wir | ihnen sich noch stärker entwickeln. Um ihm zu noch zu reden kommen, läßt das unabhängige genügen, ist raſtloſer Erwerb unumgänglich notKünstlerbewußtsein nicht zur vollen Entfaltung wendig, und auch die edelste Kunstrichtung wird gelangen. Eines aber steht fest : daß unter unmerklich ein Geschäftsbetrieb, der jede nicht. 23
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H. Blümner.
auf unmittelbare Zwecke gerichtete Thätigkeit zurückdrängt. Dieſe unmittelbaren Zwecke sind nicht etwa immer rein materieller Art, vielmehr oft mit dem oben angedeuteten Streben nach höherer geſellſchaftlicher Stellung , nach Einfluß verbunden. Dieses führt notwendigerweise zu Nebenbuhlerschaften, Gegnerſchaften, zu Kämpfen des Ehrgeizes, der Herrschsucht, die ihrerseits wieder bis in die Kunstprinzipien dringen, so daß bei den Parteiſpaltungen, die jezt in Deutschland vorwalten , die Grenzen zwischen den künstlerischen Ueberzeugungen und dem Streben nach der Hegemonie in der Gesellschaft selbst vom unparteiischen und ruhigen Beobachter nicht genau bestimmt worden sind. Diese Erscheinung ist durchaus nicht selten im Parteileben; je gebildeter und bedeutender die Menschen sind, um desto mehr und verschiedenartigere geistige Triebfedern wirken in ihnen ; nur der Geistlose , Unbedeutende oder Rohe wird von einer einzigen Leidenschaft getrieben. Daß die Erscheinung im Musikleben greller erscheint , weil so viele es nur vom Gemüte ausgehend betrachten, darf auch nicht verwundern ; je ideeller der Gegenstand ist, um den die Menschen streiten , um deſto erbitterter streiten sie.
Leistungen sich der Ehren würdig zu erweisen, ihren Platz zu behaupten und den Gleichſtrebenden als ein großartiges schwer zu erreichendes Muster zu erscheinen. Sie müssen selbst um eigensüchtiger Zwecke willen das Gute fördern ; um ihre Stellung in der Gesellschaft zu erhöhen, müssen sie ihre Stellung in der Kunst festigen. Den Nachstrebenden aber fällt die schwere Aufgabe zu, durch höhere Leistungen, durch geistige Bildung, also durch Entfaltung der edelsten Kräfte dieſelben geſellſchaftlichen Vorteile zu erreichen. Und man braucht kein Optimist zu sein, um zu behaupten, daß troß aller kleinlichen Leidenschaften, die das Musikleben aufregt, die Bildungsgeschichte der modernen Gesellschaft den Musiker zu den beſten Elementen geistiger Entwickelung rechnen muß.
Syrakus. Von H. Blümne r.
ohl für einen jeden, der nicht bloß mit Thöricht, ungerecht, allen Erfahrungen der Woh offenen Augen, sondern auch mit offenem Bildungsgeschichte widersprechend wäre es, aus der Betrachtung der eben geschilderten ThatHerzen die klaſſiſchen Stätten Italiens und Grieſachen des Muſiklebens peſſimiſtiſche Schlüſſe | chenlands besucht, wird sich in den vollen Becher ziehen, nicht erkennen zu wollen, daß hier ein der Freude über das Schauen all des Schönen tarker, durch die allgemeinen Verhältnisse herbeiund Herrlichen, was uns von den Reſten alter geführter Gährungsprozeß vorwaltet, bei dem Kultur und Kunst noch zu bewundern verdie Elemente sich erst nach und nach klären, gönnt ist, ein Wermutstropfen mischen. „ Wir tragen die Trümmer ins Nichts hinüber und und das Beste den Niederschlag bildet. Jede klagen über die verlorene Schöne !" Man kann im Leben Peſſimiſt ſein — der Verfasser selbst ist es bis zu einem gewissen Ruine und das meiste , was uns von der Grade — aber die Kunst hat mit dieser Weltalten Welt übrig geblieben, ist ja nichts weiter anschauung nichts zu thun. Schlimme Leidenmacht schon an und für sich einen etwas schaften können, wenn sie mit Thatkraft und melancholischen Eindruck ; und daß die Trümmer Ausdauer verbunden und vom Glück begünstigt klaſſiſcher Bauwerke uns leichter zur Wehmut ſind, große, ſelbſt dauernde Erfolge erringen, stimmen als manche andere, als beiſpielshalber zu Macht, Reichtum und Ehren gelangen, die Ruinen von Theben, Ninive oder Babylon, Reiche zertrümmern und gründen. Aber in der das hat ja wohl seinen guten Grund . Wiſſen Kunst hat nur das Schöne und Gute Beſtand, wir doch, daß das , was hier im Schutt liegt, und nur das Beste und Schönste lange Dauer. was vielleicht noch tief unten im Erdboden verWenn die großen Musiker durch ihre glänzende Stellung verleitet werden, Aeußerlichkeiten einen größeren Wert beizulegen, als sie ihnen zugestehen sollten, so müssen sie doch zu gleicher Zeit doppelte Kraft entwickeln, um durch ihre |
borgen schlummert, Leben von unserem Leben “ ist, wie Ernst Curtius, da er zum erstenmal die Ausgrabung von Olympia öffentlich anregte, es so schön ausgedrückt hat. — Aber das ist es nicht allein , was dem Touristen in Hesperien
Syrakus.
manchmal den heitern Blick zu nachdenklicher | Trauer wandelt ; mehr noch ist es der Gegen- | sag zwischen dem Einst und dem Jezt, welcher oft schneidend wie eine grelle Dissonanz die Harmonie der Seele stört, daß erst in allmäh❘ lichem Ausklingenlassen der einzelnen Töne der ruhige Gleichklang wiederhergestellt werden kann. Nicht überall macht sich dieser Gegensat in solcher Schärfe geltend ; am wenigsten vielleicht in Rom , wo Mittelalter und Renaissance alles gethan haben , um uns den Verlust dessen , was das Altertum geschaffen, wenn auch nicht vergessen zu machen, so doch zu erleichtern und bei der heutigen Stadt das alte stolze Beiwort der ewigen" nicht wie Hohn erscheinen zu lassen. Aber um so stärker ergreift uns der Abstand einer großen Vergangenheit von einer schalen Gegenwart an Stätten, wo einst große herrliche Städte , geschmückt mit allem, was Architektur und Kunst Herrliches geschaffen, berühmt durch ihre Geschichte , Herscherinnen auf dem Meere , Siegerinnen im Männerkampfe , sich erhoben und wo heute ein erbärmliches kleines Städtchen
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der Ostküste der Insel entlang nach diesem südlichsten Punkte des Schienenweges gebracht ? Eine weite, Meilen im Umkreis messende, felsige Einöde auf dem Festlande, da wo die stolze Stadt gelegen; und drüben auf dem kleinen Eiland , von wo sie einſt ihren Ausgang genommen, als ihr der bescheidene Raum der ersten Ansiedelung zu eng geworden war, das heutige Siracuſa : eng zusammengepfercht, unansehnliche Häuſer, ſchmale, winkelige Straßen, ein paar ausgestorbene Pläße, das Ganze umgeben von Festungswerken , welche einst wohl zu den respektableren Schöpfungen der Fortifikation gehören mochten, heute aber dem ersten Angriff einer modernen Kriegsflotte ohne weiAls Seume teres die Thore öffnen müßten ! an diesem Zielpunkt seines „ Spazierganges “ mit dem Ritter Landolina auf der höchsten Stelle von Epipolä saß, von wo aus man das ganze Terrain der alten Stadt übersehen kann, da blickte letterer, ein alter, für seine Vaterſtadt und deren Ruhm begeisterter Mann über das große, traurige Trümmerfeld hin und sagte : und dann mit einem „ Das waren wir !"
mit einigen spärlichen Ruinen das einzige ist, was außer dem großen Namen das erbarmungslose zermalmende Schicksal noch übrig gelassen hat. Ein solcher Ort ist Syrakus. Für welchen gebildeten Menschen hätte nicht dieser Name auch neben Athen, Sparta und anderen Hauptstätten der griechischen Geſchichte seit früher Erblickte Jugend einen vertrauten Klang ? man doch schon als Knabe mit dem treuen Freunde in Schillers Bürgschaft " schimmern in Abendrots Strahlen von ferne die Zinnen von Syrakus “ , wozu sich die lebhafte Phantasie der Jugend leicht ein glänzendes Bild ausmalte ; dann hörte man im Geschichtsunterricht und las im Thufydides und Livius die ergreifende Tragödie vom Untergange des attischen Heeres , die glänzende Verteidigung der Stadt durch Archimedes und den Tod des
Blick herunter auf das kleine Häufchen Häuſer, welches heut Syrakus heißt : „ Das sind wir !" Welcher Besucher von Syrakus vermöchte ihm den tiefen Seelenschmerz, der in diesen Worten liegt, nicht nachzufühlen ! Dennoch gehört ein Besuch des Trümmerfeldes von Syrakus zu den lohnendſten Ausflügen auf Sizilien ; nicht bloß , weil die unvergleichliche Lage an dem weithin erglänzenden Meer, mit der schneebedeckten Pyramide des Aetna im Hintergrunde , auf einen jeden von unvergeßlichem Eindrucke bleiben wird , sondern auch weil die noch vorhandenen , wenn auch so spärlichen Reste des Altertums ganz geeignet sind, unser höchſtes Intereſſe in Anspruch zu nehmen, um so mehr, als sie großenteils durchaus eigenartig sind und ohne Analogien in den Ruinen anderer Städte des griechischen und römischen Altertums dastehen .
großen Mathematikers mit jenen klassisch gewordenen lezten Worten ; und wieder fand man sie , da man von den Räubereien des
Am wenigsten bietet die eigentliche Stadt, das heutige Syrakus. Es ist , wie gesagt, jenes Inselchen Ortygia, auf welchem das heutige Siracusa, das ein schmaler Damm mit dem Festlande verbindet , gelegen ist. Nur etwa vier Kilometer im Umkreise messend war die Insel zur Anlage eines festen und zugleich für den Handel bestimmten Plazes durch ihre Lage zwischen zwei Meeresbuchten, welche von
Verres las, noch lange nach jenen Zeiten des Glanzes als eine große und prächtige Stadt. So steht Syrakus vor unserem geistigen Auge, die schönste aller griechischen Städte , wie ſie Cicero nennt. - Und was sehen wir heute, wenn uns die Eisenbahn von Catania her an
H. Blümner. 180 selbst, ohne künstliche Nachhilfe die vorzüglich sten Hafenanlagen darboten , wie geschaffen. Der Spaziergang an der einen dieser Buchten, dem ehemaligen großen Hafen , gehört heute noch zu den anmutigsten Partien des Städt-
liche Sage des Altertums , kam vom fernen Peloponnes her; verfolgt vom Flußgott der Ebene Olympias , dem Alpheios, welcher von Liebe zu der schönen Nymphe entbrannt war, flüchtete sie sich unter dem Meere bis hierher, wo sie der ver= liebte Flußgott erreichte. Eine hohe steinerne Brüstung faßt sie im Halbfreis ein; noch immer ist sie fischreich, wie einst zur Zeit Ciceros, der sie preist, aber ihr ehemals süßes Wasser hat sie verloren, angeblich seit einem Erdbeben im Jahr
Syrakus.
chens, zumal hier auch noch die verhältnismäßig elegantesten Quar tiere liegen; aber das weite Hafenbecken, in welchem einst die größten Kriegsflotten bequem manövrierten und es heut noch fönnten, liegt einsam und verlassen da ; nur ein paar Segelschiffe ankern dort und selten, in der Regel nur einmal wöchent lich, landet der Dampfer, welcher die Fahrt um die Südseite der Insel, nach Terra nuova (dem alten Gela) und Girgenti (dem alten Agrigent) unternimmt. Hier war es , wo der letzte Verzweiflungskampf geführt wurde , der mit der gänzlichen " unüberwindlichen jener Vernichtung Das Flotte" endigte, auf welche die Athener so stolze Hoffnungen gebaut hatten. Einen schöneren Blick über den Hafen genießt man von dem halbkreisförmigen Gitter aus, wel ches oberhalb das Bassin der einst so berühmten Quelle Arethusa (S. 181 ) abschließt. Der Ort, wo die Quelle sprudelt, liegt dicht am großen Hafen, ist aber von diesem durch die Stadtmauer geschieden, so daß man unten bei dem Quellbassin selbst den Ausblick nach dem Meere entbehrt. Die Quelle selbst, so lautete die lieb-
1170, wo sie plöglich salzhaltig ge= worden sein soll. lauschiges Ein Pläßchen bleibt sie troßdem, ganz betragen sonders dazu die schönen Büschel der Papyrusstauden bei, welche am Rande des Bassins wachsen, freilich nicht in so imponierender Größe und Schönheit als drüben auf dem Festland am Anapo und der Kyane, wo dichte, bis zur Höhe von fünf Innere des Kaftells Euryalos (S. 184). aufsteiMetern Gebüsche gende von Papyrus das Bett des kleinen Flüßchens fast ganz verengen. Es sind die einzigen Stellen in Europa, wo die merkwürdige Pflanze, welche in der Kulturgeschichte des Altertums eine so wichtige Rolle spielt, noch gedeiht ; und gern nimmt sich der Reisende ein Blättchen des Papiers , welches der kundige Kustode des Museums von Syrakus aus dem Mark der Stengel genau
Syrakus.
nach antiker denken mit.
Vorschrift
fertigt ,
zum An-
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Dede. Außer dem nach Südosten zu abfallenden Terrain , das fruchtbar und angebaut ist , bedeckt kein freundliches Grün, keine Anpflanzung von Del- oder Mandelbäumen, wie sie z . B. in Girgenti so anmutig das weite Feld des alten Akragas bekleiden , die Stätte , wo sich
Das Städtchen selbst bietet sonst dem Fremden wenig Sehenswürdigkeiten . Sieht man ab von dem in vieler Hinsicht sehr bemerkenswerten , obgleich in unwürdiger Weise aufgestellten Museum, so ist es namentlich der Dom Santa Maria del Biliero , welcher des Besuches wert ist. Er steht auf den Ruinen eines schönen alten Tempels, dorischen wahrscheinlich der Artemis ; eine Anzahl wohlerhaltener Säulen sind teils in die Mauern des Domes verbaut, teils im Innern. desselben als Träger des Gewölbes verwandt. Sie verdienen Beachtung, weil sie der besten Zeit des dorischen Stiles, dem sechsten Jahrhundert v. Chr. angehören ; freilich muß EX man sich dabei von dem störenden Eindruck, welSyrakus: Riviera. chen die barocke Fassade und das überladene Ineinst jene glänzenden Stadtteile Achradina , Tyche und nere der Kirche machen, Neapolis erhoben : als dürrer, gänzlich emanzipieren. unfruchtbarer Fels, wo kaum ein Die Reste eines anderen, paar Grashälmchen auf dünner ebenfalls einst sehr mäch Erdfrume gedeihen, so liegt fast das tigen Tempels sind unbedeutender und mehr ganze Terrain vor uns, mit wenigen zerstreuten Häusern oder Bauernnur für den Archäologen von Interesse. höfen, einigen Klöstern von schlichter Tie Quelle von Arethusa (S. 180). Verlassen wir da= Bauart, von etlichen Sträßchen durchkreuzt. Wo lag hier der große Marktplag her das Inselchen und begeben wir uns über die Zugbrücken nach dem Festlande und mit seinen Säulenhallen , seinen öffentlichen weiter zu dem Hochplateau , welches sich Gebäuden, seinen Tempeln ? — Spurlos vernicht mehr die Stelle kann in Form eines Dreiecks , dessen Spize nach schwunden. Westen zu gerichtet ist, lang hin erstreckt, man ermitteln ; kaum daß hier und da rechtüber dreiundreißig Kilometer im Umkreis eckige Spuren im Felsboden die Stelle verraten, wo einst ein Haus lag , oder tiefe messend , und das uns die Stätte bezeich Geleise in alten Straßenzügen als stumme net, auf der einstmals die alte Stadt , als ihr Ortygia zu klein geworden war, sich aus- Zeugen den einstmaligen lebhaften Wagenverkehr breitete. Der erste Eindruck, den man hier der Großstadt bekunden. Aber in dieser weiten Felswüste gibt es empfängt , ist der gänzlicher Verwüstung und |
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doch immer noch einige Stellen, welche geeignet sind, unsere Anfmerksamkeit auf das lebhafteste zu fesseln. Vor allem die berühmten Steinbrüche. Man kennt die Rolle , welche jene gewaltigen Latomien , aus denen die große Stadt sich ihr Baumaterial holte, in der Geschichte von Syrakus gespielt haben ; man kennt vor allem aus Thukydides jene furchtbare Episode des peloponnesischen Krieges , wo die gefangenen Athener mit ihren Verbündeten in diese
Steinbrüche geworfen wurden , wo Tausende, eng zusammengepfercht, ohne Schuß, den von oben herab sengenden Sonnenstrahlen preisgegeben, diefurchtbarsten Qualen erduldeten, von Hunger und Durst, Don der Hize am Tage und der Kälte bei Nacht, von der verpesteten Luft der unbeerdigt verwesenden Leichen gepeinigt, zu einem großen Teile umkamen. Diese Stätten des Elends
Wälder von Fruchtbäumen, schwerbelastet von rötlichen Granatäpfeln oder mit den goldenen, im grünen Laub sich lieblich halb versteckenden Orangen, gedeihen hier in wahrhaft tropischer Ueppigkeit, genährt durch die Treibhaustemperatur dieser tiefen Höhlen , wo nirgends ein
Latomia del Paradiso (S. 183). falter Luftzug Zutritt erhält, wo die Sonne einen großen Teil des Tages fast senkrecht ihre brennenden Strahlen hinabwirft , welche, von den Felswänden abprallend , verdoppelte Wirkung ausüben. In starkem Kontrast zu dieser anmutigen Kultur des Bodens stehen die rechts und links und vor und hinter dem Besucher
A. Das „ Ohr des Dionyfios" (S. 183).
haben die Zerstörung, welche die Stadt betroffen, überdauert ; wir finden heute noch acht solcher Steinbrüche auf dem Plateau von Syrakus, die meisten davon auf dem Gebiet von Achradina ; die interessantesten darunter sind die Latomia dei Cappuccini, die ihren Namen von dem nahegelegenen Kapuzinerkloster hat, und die Latomia del Paradiso (s. o. Abb.). — Es ist schwer, dem Leser von der wunderbaren Beschaffenheit dieser Steinbrüche, welche durchweg unter dem Niveau der Hochebene liegen, so daß man nichts von ihnen gewahr wird , bevor man nicht an ihren Rand gekommen ist, eine deutliche Vorstellung zu geben. Besuchen wir zuerst die Latomia dei Cappuccini . Auf schmalem Wege steigt man zwischen drohenden Felswänden hinab, immer tiefer und steiler, bis man, auf dem Boden der Latomie angelangt, sich plötzlich in eine andere Welt versett glaubt. Man steht inmitten eines herrlichen Gartens ; dichte
sich auftürmenden , oft sogar oberhalb schräg überhängenden Felsmassen. Fast beängstigend erscheinen uns diese hohen Mauern, in denen man hier und da Risse , vielleicht durch Erdbeben bewirkt, bemerken kann ; unwillkürlich ergreift einen das Gefühl , als könnten dieſe kolossalen Massen über unseren Häuptern zusammenstürzen und uns in ihrem Schutt begraben. Aber auch diese drohenden Felswände sind wieder freundlich mit grünen Bäumen besezt, und aus allen Spalten und Rigen sproßt üppiges Pflanzen- und Strauchwerk hervor. Welch anderes Bild mochten freilich diese Steinbrüche bieten , als sie noch lediglich zu Gefängnissen bestimmt waren ! Ausbruchsicher waren
Syrakus.
fie freilich mit den schroffen, bis zu zweiunddreißig Meter Höhe ansteigenden Felswänden und dem einzigen schmalen Zugange : hier konnten wenige Mann leicht Tausende sicher bewachen , die in den weiten und zahlreichen Abteilungen des Steinbruches , in den tiefen, seitwärts sich anschließenden Höhlen , schmalen Schluchten u. s. w. untergebracht waren ; denken wir uns all dies ohne die heutige üppige Vegetation, so nackt und kahl, wie es im Altertum sicherlich der Fall war, dann erschei diese nen uns seltsamen Steingebilde auch jetzt noch als das, wozu sie der grausame Haß der erbitterten Syrakusaner bestimmt hatte: Begräbnisplätze für Lebendige! Jener andere Steinbruch, welcher den Namen Latomia del Paradiso (S. 182) führt, nähert sich diesem Eindruck auch in
heutigen seinem Zustande, um so mehr, als er weniger reich bewachsen ist, wie der
183
Tyrann von Syrakus seine Opfer bringen ließ, um in einem angeblich oberhalb der Grotte befindlichen Kämmerchen, wohin jeder Ton infolge der wunderbaren Akustik des Gewölbes deutlich drang , die heimlichen Gespräche der Unglücklichen zu belauschen. Das ist freilich späte Fabel ; immerhin ist die Akustik in dem sehr hohen Raume eine ganz merkwürdige ; eine zufällige Folge der Methode , die beim Abtragen des Gesteins befolgt wurde. Man sprengte nämlich (jedenfalls durch Keile) die Felsen meist in zwei frummen, oben
spit zusammenlaufenden Linien, wie man das auch bei den anderen beob Latomien achten kann. Den Spuren vonHäm mern und MeiBeln kann man hier wie anderwärts noch vielfach nachgehen. Die Latomia del Paradiso liegt bereits auf dem Gebiet des einst
bedeutendstenTeialten les der Stadt, der sogenannten NeaderKapuziner, und polis ; es ist das daher mehr wildromantisch und erheut der fruchthaben erscheint. barste Teil des Das Amphitheater bei Eyratus (S. 184). Besonders bizarr ganzen Plateaus ; mit seinen Del-, Wein- und Wiesenpflanzunwirkt dabei ein gleich einem mächtigen Turm sich erhebender isolierter Felspfeiler von fünf- gen, welche durch Wasserleitungen, die noch undzwanzig Meter Höhe , auf dessen Spite mit den alten Aquädukten in Verbindung stehen, frisch erhalten werden , sticht er angeman noch die Reste von Mauern eines aus dem Mittelalter herrührenden Warttürmchens bemerkt. Verschiedene Grotten stehen mit diesem Steinbruch in Verbindung ; die berühmteste darunter ist diejenige, welche den Namen „ das Ohr des Dionysius " (S. 182) führt. Man glaubte nämlich, daß die sehr eigentümlich und in der That ungefähr in Form eines Ohres angelegte Grotte (die auch weiter nichts als ein kleiner Steinbruch ist) eben jener Platz sei, wohin der
nehm gegen das kahle und graue Einerlei des übrigen Plateaus ab. Hier liegt am Südabhang das griechische Theater , in mächtigem Halbrund in den natürlichen Felsboden hineingearbeitet ; es ist das drittgrößte unter allen bekannten Theatern und vermochte nach ungefährer Berechnung 70,000 Menschen zu fassen . Noch sind Reste von 46 in dem gewach senen Fels ausgehauenen Sitreihen erhalten,
184
H. Blümner. Syrakus.
welche nur durch einen einzigen, 22 m hohen Umgang nach der 14. Reihe unterbrochen werden; die obersten Sigreihen sind zerstört, man berechnet die ursprüngliche Gesamtzahl auf 63. Acht radial laufende Treppen zerlegten den ganzen Zuschauerraum in neun Keile ; jeder derselben führte eine durch Inschrift kenntlich gemachte Bezeichnung , teils von Gottheiten entlehnt, teils von Angehörigen des Königshauses . Leider hat sich vom Bühnengebände gar nichts erhalten. Großartig aber ist der Blick, welcher sich von den Sißen des Theaters aus auf Syrakus und den großen Hafen bietet mit der hier grünen Ebene im Vordergrunde. Einst, als hier noch alles von prächtigen Bauten bedeckt war, als fern die Marmortempel herüberblickten, der Hafen von Schiffen wimmelte , muß dieser Aussichtspunkt ebenso entzückend als für den patriotiſchen Syrakuſaner herzerhebend gewesen sein. Ich unterlasse es, von dem nicht weit vom Theater gelegenen Amphitheater ( S. 183 ) zu sprechen, einem Bau aus römischer Zeit, der zwar zu den beſſer erhaltenen gehört, aber gegenüber dem Kolosseum, den Amphitheatern von Verona, Pompeji , Puteoli 2c. nichts besonders Bemerfenswertes darbietet ; ich übergehe auch verschiedene andere, mehr für den Altertumsforscher als für den Touristen interessante Altertümer, die sich teils hier , teils an anderen Punkten des ausgedehnten Terrains noch in Trümmern erhalten haben. Wenden wir uns zuletzt noch nach der westlichen Spitze des Plateaus , wo wir wiederum etwas in seiner Art durchaus Eigenartiges finden . Der hier belegene Bezirk hieß im Altertum Epipolä und diente wesentlich Befestigungszwecken. Zahl reiche Reste der großen Mauer des Dionysos lassen sich hier noch bequem verfolgen , solid gearbeitet und von beträchtlicher Dicke ; das Hauptinteresse aber konzentriert sich auf die Ruinen der äußersten Weſtſpige , welche heut den Namen Mongibellesi führt (angeblich eine Reminiszenz an die Ghibellinen) . Hier findet man nämlich gewaltige Reste jenes von Dionysius I. angelegten starken Forts , das den Namen Euryalos ( „ breiter Nagel“ , von der Form des Bergrückens ) führte . Freilich ist es nicht mehr möglich, die Anlage dieses Forts ( S. 180 ) im einzelnen noch zu erkennen ; man ſieht verschiedene unterirdische Gänge mit Thüren, eine
große, künstlich in den Fels gehauene und von | einer mächtigen Mauer durchzogene Schlucht; am Ende derselben einen maſſiven Bau aus Quadersteinen, welcher jedenfalls als Kaſtell isoliert stand und durch bewegliche Brücken mit den anderen Festungswerken in Verbindung | ſtand . Troz des Mangels eines deutlichen Zusammenhangs der einzelnen Trümmer ſind diese , von bedeutender Technik Zeugnis ablegenden Ruinen für uns sehr wertvoll , da wir überhaupt nur sehr wenig Reste griechi| scher Befestigungskunst erhalten haben. Wer sich vor dem Scheiden von Syrakus noch einen ebenso dankbaren als lehrreichen Totalüberblick über die alte Stadt verschaffen will , der steige hier vom Euryalos aus noch eine halbe Stunde weiter westwärts zu dem auf steiler Felshöhe gelegenen Dörfchen Belvedere. Nicht leicht wird es eine schönere und bedeutungsvollere Aussicht geben , als sie sich | hier bietet : in der Ferne das blizende Meer und die ganze Küste von Agosta bis zum alten Kap Pachynum ; im Vordergrund die wilden Trümmer des Kastells , die gewaltigen Quadern der alten Mauern ; weiterhin das fahle Feld der Verheerung, wo einst die Stadtteile Tyche und Achradina standen ; rechts nach der Ebene hinunter, im Gebiet der ehemaligen Neapolis , die lieblichen Delwaldungen und | Kornfelder ; zu den Füßen die Ebene, die das Plateau vom Meere scheidet, hier und da durchsest mit Bäumen und Wiesen; drüben, schon etwas undeutlich dem Blick, die heutige Stadt, | eingerahmt von den beiden Häfen; links aber in duftiger Ferne die majestätischen Umrisse des Aetna. Wer möchte hier nicht träumen, daß die Ruhe des Todes , die jetzt über dieſen Gefilden zu liegen scheint, nur ein Schlaf ist, aus dem Syrakus dereinst erwachen wird, um wieder die große Welt und Handelsstadt zu werden , die sie einst gewesen! - An allen, von der Natur gegebenen Vorbedingungen dazu fehlt es wahrlich nicht ; ist doch der Hafen der größte und beste von ganz Italien ! Hoffen wir, daß einst, wenn es dem neuen Königreich gelungen sein wird , Sizilien die lange verlorene Kultur des Bodens im vollsten Umfange wiederzugeben, dann auch Syrakus wieder seine alte Bedeutung erhalten und neues Leben aus den Ruinen blühen werde.
che
Fis
Accoss
acro.So.
Frühlingsbild von Karl Fröschl.
Andor.
185
Andor. Roman von Robert Byr. (Fortsetzung. )
er falte Spott schreckte Adler nicht ab.
des Fräuleins nicht erfüllen zu können, so schmeichelhaft er an und für sich sein mag.
ver=
Ich würde fürchten, der unwiderstehlichen
„Lassen
Sie
uns
nünftig reden, Baron Beledényi,“ begann er , „Ihr Vorteil ist bei der Sache " „Ich verzichte darauf," fiel Andor ein
Liebenswürdigkeit
der
Dame
gegenüber,
meine Festigkeit zu verlieren und müßte dann, um sie wieder zu gewinnen , mich gewaltsam des Unterschieds unserer Anschauungen
und erhob sich. Was er unter anderen Umständen viel-
und Neigungen erinnern,
leicht komisch gefunden hätte , fand jezt eine ganz andere Aufnahme in seinem ver-
unauslöſchlich eigen ſind .“ „ Aber Sie kennen sie ja gar nicht!
Nicht seine
Sehen Sie sich doch wenigstens ihr Bild
Lachluſt, ſondern sein Widerwille wurde erregt, und sein Gefühl als Mann von
an ," rief Adler und wollte ihm mit aller Ueberredungskunst eine von der Konſole
Ehre, Edelmann und Ungar ; der ganze Magyarenstolz empörte sich gegen die Zu-
genommene Photographie aufdrängen , bis Andor endlich die Geduld verlor . Sein
mutung, die ein Mensch dieſer Sorte ihm zu stellen wagte. Nur mit Mühe hielt er
Sarkasmus machte einem wuchtigen Nachdrucke Plaß und so wehrte er Adlers
an sich, und die äußere Form eisiger Ruhe fest, als sich Adler auf's höchste überrascht,
eifrige Bemühungen ab. " Ein Wort für viele.
und noch ganz ungläubig , seines Armes bemächtigte.
Engel sein an Schönheit und sonstigen Eigenschaften, sie wird doch niemals BaEhe ich meinem alten ronin Beledényi .
ſtimmten , reizbaren Gemüte.
,,Aber was fällt Ihnen ein! Sie wer-
die uns nach
Geburt, Abstammung und Erziehung wohl
Sie möge ein
den doch nicht im Ernste gehen wollen ? Kann man denn nicht wie Männer unter-
Wappenſchilde die Schmach anthue, es feil-
einander mit Ihnen sprechen ? Was ist's
Händen zerbrechen."
denn weiter ? Als Freund will ich Ihnen wohl und als Vater sorge ich für meine
„ Sie werden es bereuen !" stieß Adler mehr betrübt als drohend aus.
Ich suche mir einen verständigen
„Ich werde nur bereuen , mit Ihnen
Schwiegersohn, meine Tochter hat, was sie wünscht und Sie bekommen eine Frau, die sich sehen lassen kann, bei Gott ! Sie sollen
jemals in Verbindung getreten zu sein,“ entgegnete Andor mit stolzer Ruhe.
sie doch nur erst kennen lernen !"
fiel , schlug noch ein anderes Geräuſch an
Tochter.
„Ich bedaure, mir dieses Vergnügen versagen zu müssen, wie auch den Wunsch
zubieten,
will ich es lieber mit
eigenen
Als hinter ihm die Thüre ins Schloß
Adlers Ohr . Es war wie der Klang einer zerreißenden Saite. 24
Robert Byr.
186
Betroffen fuhr er herum und schritt auf die entgegengesette Thüre zu. Sie war nur angelehnt .
rasch
gegen die tiefe Demütigung zu wehren, aber die Bitternis derselben wirkte wie ein
In dem anstoßzenden kleinen Boudoir
lähmendes Gift und benahm ihr die Kraft dazu.
lag die zu Boden geglittene Geige neben der Cauſeuſe und auf derselben Susanne,
Ins Herz getroffen, niedergeschmettert, wand sie sich unter strömenden, von heißer
die Stirne auf den gekreuzten Armen und das Gesicht in den Kissen vergraben , wie
Scham erpreßten Thränen.
ſie ſich in wilder Aufregung, unter ſtrömenden Thränen, hingeworfen.
gehört ! " rief Adler bestürzt, als er ſie ſo
Sie war nicht, wie ihr Vater voraus-
„ Susanne, mein Kind !
aufgelöst vor sich sah. Er wollte ihr Haar streicheln, ihre Hand
gesezt hatte, mit Frau von Patka zur Kirche | faſſen, ſie entriß ihm gegangen, aber auch ruhig am Schreibtische zu sißen war ihr nicht möglich gewesen. Von dem
angefangenen Briefe
an Ilka
Du hast alles
dieselbe mit einer
Gebärde des Abscheus . Doch überkam ihn dabei nicht die Empfindung seiner eigenen Schuld , die eine
hatten ihre stark bewegten Gefühle sie auf
solch tief verleßende und beschämende Wen-
gejagt.
dung eigentlich herbeigeführt , er ſah nur
Süße Sehnsucht; Unruhe , frohes
Leben schwellten ihre Brust und verlangten | die Wirkung und klagte den für ſein Vernach einem Ausdruck, wenn auch nicht in ständnis unfaßbaren Hochmut und die sträf= Worten, so doch in Tönen , die das won-
liche Hartnäckigkeit als Urheber an.
nige Geheimnis dem Himmel zutrugen und doch den Menschen nicht verrieten . So hatte Susanna nach ihrem geliebten In-
pelnd, rang er die Hände und rief :
Unsicher um die Weinende herumtrip-
„Was hat er dir angethan ! Gott hat
strumente gegriffen . Unterbrochen im Spiele durch die Meldung des erwarteten und nun
ihn geschlagen mit Blindheit !"
doch so überraschend gekommenen Besuches, hatte sie dann im Schwanken zwischen dem
Hand fuhr empor wie zum Schlage , doch
Da erhob sich Susanne plöglich,
die
nur um der Rechten zu ermöglichen , das
Wunſche , ihn zu begrüßen und einer be- | kleine Medaillon mit dem schwertgeteilten die ihr diesmal | Halbmond vom Armbande zu reißen . Sie schleuderte es verächtlich zu Boden, daß es größere Zurückhaltung zu üben riet , so lange in ihrem Zimmer verweilt , bis es in eine Ecke rollte, aus den naſſen Augen greiflichen Befangenheit,
zu spät war , dasselbe durch den einzigen Ausgang zu verlassen . Es schien ihr un-
blißte ein Strahl wilden Hasses .
Wie eine
begegnen und im nächsten war die Mög-
Erinnye stand ſie da und in glühender Leidenschaftlichkeit heischte sie : - vernichte ihn! Er ist auch „ Vater,
lichkeit verpaßt.
einer wie alle !"
möglich, in diesem Augenblicke Andor zu
Darnach war sie Zeugin
des ganzen Gespräches geworden und hatte, was sie anfänglich an Evaneugierde geſündigt, um das Vorgehen ihres Vaters in
VI. Aufwärts im schönen Thale der Raab,
der Geschäftsangelegenheit zu kontrollieren, zum Schluſſe furchtbar gebüßt. In wilder
wo noch hochragende Berge den oberen Fluß-
Erregung , mit empörtem Stolze war sie daran gewesen , hervorzustürzen und sich
kegel
lauf begleiten, liegt auf einem ſpißen Felseine weithin sichtbare Ruine ;
dort
Andor.
187
decke das durch schmale Fenster spärlich
stand vor Jahrhunderten die Wiege der Beledényi's .
einfallende Licht zu verschlucken scheint. Es
Heute ist der Stammſiß des Geschlechtes
ist als ob auch die Gespenster , ihres ein-
verlaſſen , ein Ort , wo die Sage , die sich
samen Sizes auf dem Burgberge müde,
der Vergangenheit bemächtigt,
mit herunter gezogen wären in dies „ neue“
nur noch
Gespenster hausen läßt und kein anderer | Haus , das schon zur Zeit seiner Erbauung Laut erschallt als der Schrei des Geiers , nicht mehr jung gewesen sein konnte, ſonder einſam ſeine Kreiſe um die Trümmer zieht.
dern bereits die Hauptzüge des allen Frohsinn einschüchternden , und sich starr ab=
Tief unten in der grünen Mulde haben sich die Nachkommen jener kühnen Streiter
schließenden Alters trug . Und doch war es nicht immer gries-
angesiedelt, über deren Leichen die Horden Solimans II. die rauchenden Trümmer der
grämig gewesen. Bilder und Jagdtrophäen an den Wänden des Flurs und Stiegen-
alten Burg als Ehrendenkmal hinterließen .
hauses mit erläuternden Inschriften hielten
Das Plateau einer ſanften Anhöhe, die
die Erinnerung wach , daß es einſt fürſtliche Tage gesehen , heitere Scharen willkommener Gäste hier aus und eingingen,
nur wenig den Flußrand überragt , ward zum neuen Size gewählt.
Sie trägt immer
noch Spuren starker Umfassungsmauern, | glänzende Feste gefeiert wurden und Jubel hinter denen sich die tapfere Schar von und Becherklang ein Echo zwischen diesen Verteidigern leicht auch gegen einen über- | mächtig dicken, kalten Mauern fanden, die zähligen Feind halten konnte, zur Zeit aber nur geeignet schienen , Gefangene fest zu ist Beledvár keine Festung mehr . Der | halten und ihre Seufzer zu ersticken. Die Bewohner des Marktfleckens beMarktflecken hat sich den Abhang hinab ausgebreitet, die alten Befestigungen sind
wahrten in ihrem Gedächtnisse auch jetzt
verbaut oder von Grün überwuchert , ein Teil des herrschaftlichen Parkes nimmt die
noch Vorstellungen einer glanzvollen Epoche ; aber freilich hatte dieselbe nur kurz ge-
Stelle ein, wo einſt Wall und Graben liefen und das in einem ausspringenden Winkel
dauert , dann war alles wie ausgelöscht und erstorben und in der seither verflosse-
der ersteren erbaute neue Schloß hat freien
nen Frist von mehr als einem Vierteljahr-
Ausblick über den freundlichen Ort zu seinen | hunderte hatte kein froher Laut die tiefe Füßen und das breite Thal erhalten. Kerkerstille unterbrochen und keine FestAltersgrau sind
nun auch schon die
Mauern dieſes neuen Schlosses . kein freundlich heller Bau ,
Es
ist
wie ihn die
fackel mehr die Schatten gestört , die sich in den öden Gängen und einsamen Gemächern , wie über die Menschen ,
die
massiges Viereck , das einen großen Hof und zwischen den beiden kurzen, nach dem
einst darin gelebt , und ihre Schicksale gelagert. Nur die Gespenster zogen nicht aus ;
oberen Marktplaße ausspringenden Flügeln noch einen schmalen Vorhof umschließt.
sie schlurften Treppen auf und Treppen ab und huschten um die Ecken der langen
Düſter ſind
Gänge
Korridore und von ihnen ging flüsternd die
mit ihren schweren Kreuzgewölben, in denen jeder Schritt unheimlich widerhallt , nieder
Rede unter dem Gesinde des Hauſes und der Bewohnerschaft des Ortes , daß sich
Gegenwart schafft , sondern ein finsteres,
die steingepflasterten
die Zimmer , deren dunkelbraune Balken- | mancher schon bekreuzte , wenn er hinter
Robert Syr.
188 den Fenstern des
westlichen
Erkers
eine
ganz vom Golde der Abendsonne umflossene Frauengestalt wahrzunehmen glaubte, oder
seines
Vaters
und
in
den
Schwester deſſen gestörten , lancholie versunkenen Geiſt.
Augen
der
in tiefer Me-
in dem Wagen , der an ihm vorüberfuhr,
Und doch konnte die blaue Iris dieser
das liebliche und so seltsam träumerische
Augen in dem warmen Glanze der Freude
Mädchengesicht erkannte, das bald ſo freund-
und faſt kindlichen Frohſinns aufleuchten,
lich grüßte und jedem Kinde zunickte, dem
wenn ihr Blick auf den Zügen eines Men-
dabei Blumen, Bonbons, Früchte mit frei
schen ruhte, dem Viktorine von Herzen zu-
gebiger Hand zugeworfen wurden ,
wieder so sonderbar weltverloren in eine
gethan war . Andor las darin nur Glück und unendliche Zärtlichkeit , nie hielt der
unabsehbare Ferne hinauszuschauen schien,
düstere Schatten , der sich wohl zuweilen
bald
als ob die Augen gar nicht lebendig, son- | über die unenthüllte Welt ihres Innern senkte, vor diesem Anblicke stand. dern von Glas und unbeweglich wären.
Man erzählte sich überhaupt gar wun-
Die
innige
Geschwisterliebe stammte
derbare Dinge von dieſen Augen ; sie sollten | noch aus der Kindheit und hatte ſich ſelbſt Unsichtbares erkennen, durch Mauern und
durch die Jahre der Trennung nicht ver-
wohl gar in die Zukunft sehen können,
mindert.
Wie Zwillinge waren sie mit-
Pflanzen zum Verwelken bringen ,
einander
aufgewachſen
Tiere
starr
machen und Menschen verzaubern und was ihnen der Aberglauben noch alles
in
dem fremden
Hause, wohin die Mutter sie mitgenommen, während ihr ältester Sohn nach ihrer
nachsagte , der ja unerschütterlich an der
Wiederverheiratung unter der
Ueberzeugung
ein düsteres
schaft und Führung eines entfernt Ver-
Geschicke der Familie von Geschlecht zu Geschlecht verfolge. Vor hundert Jahren
wandten, der in Siebenbürgen lebte, blieb .
war der Herr des Schloſſes tot von der
doch durch Kränklichkeit in der Entwickelung
Jagd heimgebracht worden, sein Sohn fiel in den französischen Kriegen , der Enkel
zurückgeblieben und bald sogar von dem Bruder überholt, doch auch von ihm ge-
war in einem
hätschelt und liebevoll bevormundet.
festhält ,
Duelle
daß
erschossen worden
und dessen Nachfolger hatten ja noch alle
Vormund-
Zwei Jahre älter als Andor, war Viktorine
Die
Hingebung, mit der sie an ihm hing, gab
gekannt.
Das war eine eigentümliche Ge- | sich in rührenden Szenen kund, ſo oft der heranwachsende Jüngling, den seine Studien schichte gewesen . Glück und Sonnenschein waren einvon Hauſe fortriefen , von ihr schied , und es konnte sie weder ein Geschenk oder die gezogen in Beledvár mit einer jungen blendend schönen Frau ; wenige Jahre weiter und das Schloß war verödet ; das
Erfüllung eines Lieblingswunsches , noch der Hinweis auf ihre zurückbleibenden
schöne Weib war fortgezogen , Wahnsinn
jüngeren Brüder über den Verlust trösten .
umnachtete den Geist des Mannes .
Später
Niemand verstand das arme Kind so wie
hatte die Witwe einen andern geheiratet ;
Andor, mit dem lebte sie ein gemeinsames
eine lange Zeit verging und als dann ein zeln die Kinder zurückkehrten auf das
Seelenleben. Selbst die Mutter hatte nicht den gleichen Anteil an diesem zärtlichen
Schloß , da ſah jeder auf der Stirne des jungen in sein Erbe tretenden Barons die
Herzen. Sie war oft zu ungeduldig bei dem langsamen Verständnisse , dem eigen-
Furche des heroischen und zähen Charakters
tümlichen geistigen Entwickelungsgange des
Andor.
Mädchens und selbst über deſſen körperDie schöne stolze Frau liches Gebrechen.
189
zwar meist, wo eine stärkere Gemütsbewegung vorausgegangen war.
empfand es wie ein ihr zugefügtes Unrecht,
Da Rápolt behauptete, daß auch solche
daß sie eine hinkende Tochter haben sollte, und alle unjäglichen Anstrengungen des
Rührszenen, wie sie jedesmal beim Wieder-
lieblichen Geschöpfes, diesen Anstoß für das
sehen und Abschiednehmen zwischen Viktorine und Andor stattfanden , die gleiche
Mutterauge zu beseitigen, die Schmerzen,
Wirkung ausübten , so wurden solche Be-
angethanen
gegnungen immer mehr eingeschränkt. Das
Zwang empfand , konnten die Gräfin mit dem unverschuldeten Fehler nicht ganz ver-
freundliches ; Andor sah sich, ohne Veran-
Da trat Andor mehr denn ein-
lassung gegeben zu haben , zurückgestoßen,
die es
söhnen.
bei
dem sich selber
Verhältnis zwischen den beiden war kein
mal als ritterlicher Verteidiger des Schwe-
von seinem Bruder faſt absichtlich vermie
sterchens auf und trug es liebkosend auf seinen Armen davon.
sammentreffen unvermeidlich und nie von
Nach der Mutter Tod war Rápolt in Löke erschienen und hatte Viktorine mit
den , beinahe rauh behandelt , wo ein Zu-
ihm
aufgefordert,
die
Schwester
wieder
Vielleicht wäre dies bei
einmal zu begrüßen und in Beledvár einzusprechen . Mehr als ein Jahr war seit
Andors Anwesenheit nie möglich geworden,
seinem leßten Besuche daselbst verstrichen
sich genommen .
ohne seine Stüße aber, ließ sie sich willen-
und nicht ohne leise Bitterfeit im Herzen
los fortführen. Eingeschüchtert und in Schmerz versunken hatte sie keinen Wider-
fuhr Andor in das Schloß ein, das ihm
spruch gewagt. Damals war es zum ersten mal geschehen, daß sie in jene tiefe träumerische Melancholie verfiel, während welcher
seiner Väter war.
fie wie vollkommen abgeschnitten von der
ſein Gesicht und ſchwelgte in Seligkeit. Ja, das Glück leuchtete aus ihren Augen, aber
Welt und in ferne Gegenden versezt schien,
feine Heimat bot, obgleich es der Stammſiß
Nun war er wieder da , wieder hielt ihn Viktorine zärtlich umfangen , streichelte
an nichts Anteil nahm und nur für Musik | auch aus jedem Zuge dieses unbeschreiblich Empfänglichkeit zeigte. schönen Gesichtchens , dessen Farbenanhauch Rápolt machte diesen Zustand gegen vom zartesten Rosenblatte genommen schien jeinen Bruder geltend, der ohnehin keinen und dabei doch so frisch war, daß kein Un-
eigentlichen festen Wohnsiz und in Löke
eingeweihter diese ätherische Erscheinung un-
selbst ärztliche Hilfe nicht in unmittelbarer Nähe hatte. Zu Beledvár konnte in dieser
heilbarer Krankheit verfallen glauben konnte .
Beziehung besser gesorgt werden, auch ver-
Prozeß des
sprach Rápolt anerkannte Kapazitäten zu Rate zu ziehen.
daß das neunundzwanzigjährige Mädchen einem frisch erblühenden Kinde von fünf-
Der sonderbare Zustand, den die einen
So täuschend verhüllte hier die Natur den
zehn glich,
unaufhaltbaren Kräftezerfalls,
das ein Maler zum Vorbilde
Somnambulismus, die anderen unter Hin weis auf die Schwäche und das Fußleiden, mit dem sie ihn in Verbindung brachten, eine Rückenmarkskrankheit nannten , hatte
eines
sich später wieder gehoben , doch waren immer neue Rückfälle eingetreten und
winde das Thal entlang gepeitschten tiefhängenden Wolfen durchbrochen und das
aus den Wolken niederschwebenden
Engels nehmen konnte . Verklärt von der Freude , als ob ein Strahl der Abendsonne die vom Herbst-
Robert Byr.
190
durch seine dunklen Paneele noch mehr ver-
drucke.
düsterte Gemach plötzlich erhellt hätte, so
traurig sein !"
daß auch sie in blendender Beleuchtung erschien, schmiegte sich Viktorine in des Bruders traulich um sie gelegten Arm. ,, Andor , wie gut ist's, daß ich dich wieder habe !" versicherte sie ihm nun schon zu wiederholtemmale. „ Nicht daß ich Rápolt
Armer Andorkó , du darfst nicht
Sie streichelte ihm wieder das Haar und die Wange und legte die ihrige an seine Brust. Andor schämte sich beinahe dieser Beweise inniger Anhänglichkeit.
Denn nicht
die Liebe zu seiner Schwester hatte ihn hier-
anklagen möchte , o nein , er ist gut und freundlich gegen mich und erfüllt meine
hergeführt , wie er sich gestehen mußte , er
Wünsche
war vielmehr gekommen , den immer so
bis auf einen : wenn ich nach
schroffen Bruder in seinem Hause aufzu-
dir verlange.
Aber ich fürchte ihn doch. Er ist so heftig, so herrisch und immer ernst.
suchen, in diesem Hause, das sein Thor so
Ich habe immer das Gefühl, als dürfte ich seine ernsten Gedanken mit meinem einfäl-
Familie verschloß.
tigen Geplauder nicht stören.
Es ist nicht
vor er seinen Widerwillen dagegen über-
wie bei dir
ungastlich vor dem jungen Sprossen der
Es hatte einiger Kämpfe bedurft ,
be-
da denke ich nicht an die
wand , doch als jeder andere Versuch, sich
Geduld, die man mit mir haben muß, ich suche nicht erst nach Worten, wie wenn ich mich in einer fremden Sprache ausdrücken
vergeblich blieb, mußte er diesen lezten Ausweg wählen.
sollte.
Ich weiß , mein Lied iſt dir recht
war er an Adlers entgegengestreckter Hand
und ich verstehe das deine. Deine Stimme ist mir Gesang . - Ist es lange her , seit ich ihn nicht mehr gehört? O wohl, lang
hend , das in derselben lag , und er hätte
lang!
Oder nicht ?
Ich weiß es nicht mehr. Du bist da und du bleibst -nicht wahr , du bleibst ein Weilchen bei deiner armen Viktorine ?
Hörst du , wie der
Wind pfeift ! Jezt kommt der Winter und es wird so kalt und häßlich hier , da bist du gekommen , mich fortzuführen in ein wärmeres Haus . “
„Gewiß, wenn du fort willst, sollst du
aus seiner unangenehmen Lage zu befreien,
Stolz gehobenen Hauptes
vorübergegangen, das Anerbieten verschmä-
wohl auch nicht anders gehandelt , selbst wenn er noch frei und unabhängig gewesen wäre. Nun aber mußte er auch darauf bedacht sein, aus Eigenem die in so kurzer herbeizuschaffen. Frist fällige Summe Denn daß sein bisheriger Ratgeber und Retter sich in einen offenen Feind verwandeln müsse , sagte ihm die ruhige Ueberlegung , sobald dieselbe erst wieder in ihr Recht getreten war.
Dennoch bereute er
mit mir kommen. Magst du in Löke sein? Du , Jlka und ich, wir wollen dort mit ein-
sein Verhalten nicht, der Schlag hatte ja
ander hauſen, und ſo nahe zusammenrücken,
und in dieſem begann er allmählig schon
ſeiner Meinung nach bloß Adler getroffen,
den geheimen Feind zu erkennen , der ihn daß um das warme Fleckchen herum aller Schnee schmilzt und jahraus jahrein vor | eigentlich durch geheuchelte Ergebenheit, beFreude die Sonne lacht." reitwilliges Ebnen des abſchüſſigen Weges, weitausgreifende Manöver , listige Vorspie„Ach, ich sehe sie, ich sehe sie ! Aber ein schwarzer Flor hängt darüber ," sagte sie ,
gelungen dorthin gebracht, wo er jezt von
aus der Fröhlichkeit plößlich in Weh- | einem recht geschickt
mut umschlagend und mit seltsamem Aus-
gezogenen Neze um-
fangen stand . Wohl konnte er die Ursache
Andor.
191
dieſer Gegnerſchaft nicht ergrübeln, und da | vorsichtig zurückgezogen und ihn auf die des anderen verwiesen und so die harte er den wirklichen ursprünglichen Zweck, die einfache Verdrängung aus seinem Eigen tum , nicht erkannte , so war er geneigt,
Wahl entschieden . Noch klangen die Worte des Grafen Ferry Bürck in Andors Ohren
ihm denjenigen zu unterstellen , der sich ja
und es wäre ihm unmöglich geweſen, dieſe
ſchließlich unumwunden kundgegeben hatte .
willenlose
Der war nunmehr vereitelt , den alten
Puppe
in
den Händen
einer
herzenskalten und um ihre Habe ängstlich
Namen und Besit für seine Tochter hatte
besorgte Frau, die zudem noch Ilka so grau-
Adler bei ihm nicht eingetauſcht und mochte
sam beleidigt hatte , auch nur um den ge-
sie jezt anderswo ſuchen ; daß sein Verbün-
ringsten Dienſt anzusprechen, ſelbſt wenn es
deter oder war es vielleicht gar nur sein Vertreter? aber nun mit aller Uner
sein Leben gegolten hätte.
der gewiß gern geholfen hätte ,
durfte er
bittlichkeit auf seinem Schein bestehen und
das Unmögliche nicht zumuten ,
ſo ſtand
ſein erlistetes Recht betreiben wolle, konnte
ihm nur noch der Weg zu Rápolt offen. Leicht war es ihm nicht geworden, sich
nicht bezweifelt werden.
An ein Nachlassen.
Seinem Cheim,
oder nur Verlängerung des Termines war
mit diesem Entschlusse zu befreunden, doch mußte er ihn fassen, wollte er nicht eines
nicht zu denken .
störrischen Gefühles wegen Gefahr laufen,
der Forderung , an eine billige Abfindung
Andor ließ daher auch keinen Moment
alles zu verlieren .
Jeßt, da er es über-
ungenügt verstreichen. Er unterrichtete Ilka
wunden, empfand er eine Hast , auch den
nur in einigen flüchtigen allgemeinen Worten von dem Mißlingen seines Versuches bei Adler und der nun ins Unbestimmte ver-
zweiten Schritt zu thun und bald alles hinter sich zu haben , die ihn die Mittheilung, der Herr des Schlosses sei von der
zögerten Rückkehr, und suchte sich unverweilt mit anderen Geldvermittlern in Verbindung
Jagd noch nicht zurückgekehrt, fast mit Unmut aufnehmen ließ.
Aber entweder waren die Ver-
Auf eine Weile vergaß er wohl, was
hältnisse momentan wirklich nicht günstig,
ihn bedrückte, über die Freude des Wieder-
die Summe zu groß und die Haſt , welche er verrieth, Mißtrauen erregend , oder der
sehens, und es legte sich die Ungeduld, während er mit seiner Schwester plauderte. Diese
zu sehen.
Einfluß des Mannes, der eine Beleidigung
fand jedoch mit der wunderbaren Feinfüh-
zu rächen hatte, war bereits thätig gewesen:
ligkeit der Liebe alsbald die Aenderung in
überall fand Andor nur Bedenken , Aus-
ſeiner Stimmung heraus und bat ihn, ihr
flüchte, achselzuckendes Bedauern ; die Agen ten kamen mit leeren Händen und schweiß-
seinen Kummer mitzuteilen. „Denn du hast Sorgen, leugne es nicht,
triefenden Stirnen zurück, alle ſeine Bemü-
ich höre es an deinem Herzschlag . horch!"
hungen in Wien und dann später auch noch in Pest blieben erfolglos .
So rasch,
„Ja, Sorgen gibt es wohl, wenn aber
Darüber waren jedoch mehrere Tage
das Herz rascher schlägt, so kann das nur
vergangen , die Zeit schritt unaufhaltsam vorwärts und er mußte endlich , was er
in Freude sein," suchte er sie zu beruhigen.
bisher vermieden , zur Freundeshand seine
lobung, seinen Zukunftsplänen , in denen
Zuflucht nehmen. Die nächste war die seines Bruders . Die des einen hatte sich bereits
ſprach seine Hoffnung aus , Ilka bald ge=
Und nun erzählte er ihr von seiner Ver-
ja nun auch sie ein Pläßchen gefunden, und
Robert Byr.
192
nesen und an seiner Seite glücklich zu sehen. I
„Kannst du es nicht verschieben ?" fragte
Er verwunderte sich nur , daß Viktorine so still blieb . War sie mit seiner Wahl nicht
sie ängstlich.
einverstanden ? Sollte auch sie von Vorur
noch alles in Ordnung bringen , damit ich morgen weiter kann .“
teilen befangen sein? Du sagst nichts ?
„Nein, meine Seele.
Ich muß heute
Schon jo bald !"
Nimmst du keinen
Anteil an uns ?" fragte er fast gekränkt.
Ich komme ja wieder und hole dich,"
„Wie soll ich mich freuen ?" entgegnete sie leise und traurig. Ich sehe ein Bild,
tröstete er die Traurige. Während die beiden noch darüber ver-
die
handelten, trat Rápolt ein. Man hatte ihm
Sonne scheint darauf, aber
schwarzer Schleier hängt
darüber -
ich "1
kann ihn nicht wegziehen ; er ist Sie sprach nicht aus.
die Ankunft seines Bruders bereits gemeldet, was aber keineswegs dazu beitrug, jeine vorherverkündete Verstimmung zu vermin-
Wie war das doch gewesen? Zum zweitenmale hatte sie — beinahe mit den gleichen
dern.
Worten
kleinen ebenmäßigen Geſtalt war sie zu erkennen. Diese schlanke behende Figur trug
dasselbe gesagt.
War das eine
Ahnung ? eine Art Traumwachen ? oder eine
In jedem Zuge des stark markirten
Gesichtes ,
in jeder raschen Bewegung der
jener melancholiſchen Anwandlungen , die
einen charakteriſtiſchen Kopf ; Adel , Kraft,
ihr oft angeflogen kamen, wo die aus dem
Verstand und Wille waren darin ausge-
Gemüte aufgestiegenen Schatten Form und
prägt , aber auch die Neigung zu Willkür
Geſtalt anzunehmen schienen ? Ein seltsames Bangen fühlte Andor an sein Herz heran-
und Zornmütigkeit. Gewiß war es nicht die scharfe Luft allein, der er stundenlange
schleichen , es ward aber sofort wieder von
ausgesezt gewesen, die das leichtaufwallende
der friſchaufzuckenden Ungeduld verdrängt,
Blut bis in den Nacken und über die hoch-
als Viktorine, mit einem leichten Schauer sich
gewölbte Stirne getrieben, daß es dort so-
aufrichtend, nach der Thüre deutete und sagte : „ Er kommt heim und ist übellaunig
gar noch rot durch das vorzeitig dünn gewordene und ganz kurz geschorene schwarze
über die schlechte Jagd."
Haar schimmerte.
Mit Erstaunen betrachtete Andor die
Er blickte nicht eben freundlich, als er
Schwester, doch im nächsten Momente ſagte
des ihm entgegengehenden Bruders Hände-
er sich, daß es zu solcher Ankündigung eben nicht der Gabe des Hellsehens bedürfe. Er
teten sich ganz und gar an die Schwester,
druck entgegennahm, und seine Worte rich-
vermeinte jezt ebenfalls Räderknirschen und
als er auf deren teilnehmende Bemerkung,
Hufschläge zu
sie sehe ihm an, daß er Verdruß gehabt,
vernehmen ,
und
aus der
Raschheit derselben konnte die vom feinen
den
Gehör unterstüßte Erfahrung leicht auf eine schwirrende Peitsche und die Ursache des
Lauf ließ . ,,Das ist auch wieder so einer, der sich
dieselbe regierenden Mißmutes schließen.
hinter dich steckt und den du in Schuß
„ Das ist wohl nicht der günstigste Mo-
in ihm
grollenden
Gewitter
freien
machen,"
nimmst, dieser Garader Schweinehirt . Mit allem schlechten Gesindel der Gegend hält
meinte er, „ und ob sie auf eine besonders
er es und bestiehlt mich , der Wildschüß.
freundliche Aufnahme zählen dürfen, bleibt zweifelhaft. "
Und wenn man ihn zur Rede ſtellt, wird er noch frech , daß man nahe daran ist , sich
ment , meine
Mitteilungen
zu
Andor.
an ihm zu vergreifen ; aber ich werde diejen Elenden prügeln lassen , daß er an mich denken soll !" „ Nimm dich in acht , deine politischen
193
„ Darf ich fragen ,“ nahm Andor nach ihrer Entfernung das Wort,,, was du gegen eine Uebersiedlung Viktorinens hast ?
Sie
ist jetzt lange genug bei dir geweſen , um
Gegner könnten da prächtig Kapital daraus
nun auch wieder auf eine Weile, oder wenn
schlagen," mahnte Andor, dadurch aber seinen Bruder keineswegs besänftigend .
sie will, auf immer zu mir zurückzukehren . Ich darf doch auch mein Bruderrecht geltend
„Ohne deine Fürbitte," fuhr derselbe, | machen . “ Sie
noch immer gegen Viktorine gewendet, fort,
gehört
nach Beledvár !" jagte
„ hätte ich den Hund längst zum Teufel gejagt. “ | Rápolt hart . Er lehnte ſich mit dem Rücken gegen den fen, obwohl kein Feuer darin Und ihn zum Räuber gemacht," wendete sie milde bittend ein.
brannte, und nötigte so auch seinen Bruder,
,,Sei er's. am Galgen."
stehen zu bleiben. „ Das sehe ich nicht ein ,"
Dann hängt er doch eher
" Du bist furchtbar aufgeregt, man sieht es dir an," sagte sie teilnahmsvoll. Wie dir die Freude !" Das flang da gegen fast wie ein Vorwurf. „ Soll ich mich nicht freuen, wenn Andor da ist ?
Und er ist so freundlich und
will mich mit sich nehmen. "
entgegnete
derselbe lebhaft ; „ bis jezt mag es vielleicht der Fall gewesen sein , da ich nur ab und zu in Löke einsprach. Deine politische Thätigkeit aber hält dich ebenfalls oft und lang genug von hier abwesend und das arme Mädchen muß in der Einsamkeit vertrauern . Bei mir wird Viktorine nicht allein sein.
" Wenn auch nicht heute, doch in kurzer Zeit ," ergänzte Andor dieſe Ankündigung. „ Erlaubst du es ?" fragte Viktorine, wie
Ich gedenke mir eine Häuslichkeit zu gründen , mich fest in Löke niederzulaſſen , da soll sie Gesellschaft und Pflege finden.
Du
ein Kind sanft und bittend. Um so rauher | wirst unter ſolchen Umständen selbst den und kürzer lautete die Antwort darauf. Nein ." „ Dann müssen wir es ohne Erlaubnis ins Werk sehen , Kleine , und entfliehen,“ versuchte Andor zu scherzen , des Bruders Weise mißfiel.
obwohl ihm
Vorteil für sie einsehen und deine Zuſtimmung geben." ,,Nein, niemals !" Andor fühlte sich von diesen schroffen Antworten verlegt , wollte aber seinen Gefühlen nicht nachgeben ; er war als Bitt-
Dieser aber zeigte keine Lust zur heitern Auffassung der Sache, er gab keine Ant wort, sondern forderte die Schwester auf,
steller gekommen und sein Streit gab eine schlechte Einleitung für sein Anliegen. ,,Nun gut," sagte er, " wir wollen uns
nachzusehen, daß das Mahl gerüstet werde. | über diesen Punkt vorläufig nicht ereifern. Es war nur ein Vorwand, da sich Viktorine Vielleicht ergibt sich eine Verständigung von nie mit der Haushaltung befaßte , aber so ruhig und wohlwollend Rápolts Worte im Vergleich zu den früher gesprochenen auch flangen , wagte sie es nicht , dem deutlich gegebenen Befehle zu widersprechen.
Sie
zögerte nur einen Moment, leistete dann aber schüchtern Gehorsam.
selbst, wenn ich dir erst meine Verhältnisse und die darauf bezüglichen Pläne mitgeteilt habe.' Darf ich fragen, ob es das ist , was dich eigentlich hierherführt ?“ Die Rolle als Bittsteller fiel Andor doch schwerer als er gedacht.
Er war nicht ge= 25
Robert Byr.
194
wohnt, einem andern Manne so gegenüber | lange,“ ſagte er, seinen Unmut kaum zurückzu stehen, und selbst seinem ältern Bruder
haltend, „ nicht einmal ein eigentliches Dar-
gestand er das Recht nicht zu , in solcher
lehen , ich fordere nur , daß du für mich
Art und Weise mit ihm zu sprechen .
Der
Gedanke an den drängenden Termin allein,
einstehst , bis ich eins finde.
Es handelt
sich vielleicht nur um Wochen, um Tage."
Demütigung
„ Es thut mir leid , aber ich bin nicht
hinzunehmen und einzugestehen, daß er Hilfe
in der Lage, über eine so große Summe zu disponieren," jagte Rápolt falt.
konnte
ihn bestimmen ,
die
zu suchen gekommen sei. In kurzen und den Sachverhalt nur
Ich muß sie aber haben, wenn ich
allgemein andeutenden Worten erklärte er
dieses Löke , auf das du mich verweiſeſt,
die Zwangslage, in welche ihn Adler und
nicht verlieren ſoll. “ So suche sie. Ich bin kein Geldver-
dessen Genossen heimtückisch gebracht, ohne jedoch des Ausgleichs Erwähnung zu thun, der ihm nahe gelegt worden war. Er be-
leiher."
schränkte sich auf die Thatsache und erbat sich des Bruders Beistand.
gethan und mit welchem Erfolge .
Schweigend und ohne mit einer Regung seine Gedanken zu verrathen oder dem Spre-
leste, von dem ich eine Gefälligkeit begehrte mein Bruder war. "
chenden entgegenkommend das Geständnis
„ Ich habe dir schon gesagt, daß ich es Glaube
mir ," fügte Andor bitter hinzu, „ daß der
Ich bin nicht der einzige .
Warum
zu erleichtern , hatte Rápolt zugehört , wie wenn ein Fremder auf der Landstraße ihn
wendest du dich nicht an Ferry Bürck ?“ Herb auflachend wendete sich Andor ab
angesprochen hätte. In seiner ablehnenden Haltung lag auch schon seine Antwort.
und warf sich in den nächſten Lehnſtuhl . „Wahrlich , wir spielen Zimmervermieten ," ſpottete er. „"/ Es ist nur wenig
Mit einem Worte, du wünschest ein
Anlehen . Meines Wiſſens bin ich aber nicht | Kindliches verpflichtet , dich zu unterstützen.
Du hast
Löfe und bist damit ganz selbständig gestellt . Auf Beledvár ist dir nichts
angewiesen.
an diesem
Spiele.
Der eine
schickt mich zum andern. Bei euch kann man Unbrüderlichkeit lernen . “ ,,Und bei dir Leichtsinn, Unklugheit und
Die Herrschaft ist unbestrittenes Majorat
Verschwendung.
und in meinem unabhängigen Besit.
selbst gebracht, beweist es, welche Mißwirt-
appanagiere Viktorine und
Ich
Die Lage, in die du dich
kann nicht ge- | schaft du geführt und wie unvorsichtig und
nötigt werden, auch noch für einen andern | gedankenlos in den Tag hineingelebt wird. Ein Mensch von deinen Anlagen hat nicht
aufzukommen , der sein eigenes Vermögen nicht zu verwalten weiß . “
sein Ungeschick, seine Unfähigkeit und Mangel
Einen solch bündig abschlägigen Bescheid
an Talent zur Entschuldigung für ein zweck-
hatte Andor nicht erwartet. War er denn ein fechtender Handwerksbursche , ein Bettler , den man so in einem Anfall übler
loſes , müſſiggängeriſches Daſein. Wenn du dir nicht Aufgaben wählst , nicht Grenzen
den Arme und die Arbeit, die es für jeder
und Ziel steckst, ist es einzig deine Schuld .“ ,,hältst du nicht noch einige Vorwürfe bereit ? Ich habe sie vielleicht verdient, mög-
mann gebe , wenn er nur wolle , weiter schicken durfte ?
lich , daß ich zu verschwenderisch, zu vertrauensvoll war , aber ich fühle mich auch
Laune mit einem Hinweis auf seine gesun-
„ Es ist ja kein Geschenk, das ich ver-
nicht zum ängstlichen Rechenmeister geboren
Andor.
oder zum Staatsanwalte, und besser steht es
195
aber belehre nicht darüber, was einem Bele-
unſereinem an , ſich von einzelnen hinter- | dényi zukommt oder nicht. Laß dir genügen gehen lassen, als sich von allen Menschen an dem Almojen des Namens , der deine mißtrauisch
und hartherzig abzuschließen. Ich halte es immer noch für ehrenwerter,
Blöße deckt." Starr vor Bestürzung war Andor da-
zu Grunde zu gehen, als andere zu Grunde | gestanden, jezt brach auch bei ihm der Sturm zu richten, und diese Anschauung ist meiner tiefster Empörung los . Meinung nach auch bei allem , was man dagegen einwenden mag, der edle Charakter
" Unmensch ! Du beschimpfst deine eigene Mutter !" Ich wollte, sie wär' es nicht . '
zug unserer ganzen Nation . Welche Fehler wir auch haben mögen, wir sind kein Volk von Schacherern und eigennütigen gewinnjüchtigen Kleinigkeitskrämern . Dir aber läßt es nicht hübſch, glaube mir, einem, der in Not zu dir kommt, Hilfe zu verweigern und dafür mit Spott und weisen VerhalDas ist nicht tungsregeln zu beteilen.
„Was hat sie dir gethan ?" „Mich um Vater und Mutter ge= bracht, die Pflichtvergessene. " „Lüge ! verruchte Lüge !" Mit verschränkten Armen war Rápolt wieder an seinen Plaz zurückgetreten . Stolz sagte er : „ Ein Beledényi lügt nicht .
wie ein Ungar, wie ein Edelmann, wie ein
Sieh auf
diese Bilder und suche deine Züge unter
Beledényi gehandelt !" „Was weißt du von den Beledényi's und ihrer Art ?" brauste Rápolt auf.
All
ihnen.
Geh' in den Saal hinüber , dort
hängen noch ihrer mehr.
Suche , ſuche !
die anklagenden Worte , von denen er sich
Und wenn du einen gefunden hast, der dir gleicht, auch nur einen, dann zeih' mich der
getroffen fühlte, entfesselt und wendete sich
Lüge . '
der Unmut , der in ihm kochte, war durch
nun gegen den nächsten Angreifer. du sie mir lehren?" "Ich, ja," entgegnete Andor fest, der
ältere
Vertreter
des
Unwillkürlich folgte Andor der Anwei-
Willst
sung ; sein Auge wanderte zu den drei Bilwenn
Hauses seines
dern , die
über dem braunen Getäfel an
den Wänden hingen. Aber es bedurfte nicht erst dieses prüfenden Blicks , der in der
Namens nicht eingedenk ist. " Zornglühendtrat Rápolt einen Schritt vor.
hereinbrechenden Dämmerung keine Einzeln-
„ Du ? " rief er, alles vergessend, „ du bist nicht einmal ein Beledényi !"
heit mehr zu unterscheiden vermochte, längst war ihm ja selbst dieser eigentümliche Fami-
Verwundert
lienzug bekannt, den Rápolt so ausgesprochen mit seinen Vorfahren gemein hatte
mehr als
entrüstet
über
diese seltsame Behauptung blickte Andor auf. „Was soll das heißen ? Ich habe mich unseres Blutes nicht unwürdig gemacht."
und der sich sogar in leiser Andeutung bei Viktorinen wieder fand , indes auch nicht
„Kein Tropfen fließt davon in deinen Adern. Du bist kein Beledényi. “
beiden Brüdern herrschte, die sich in dieser
die
entfernteste Aehnlichkeit
zwischen den
„ Rápolt ! " rief Andor aufspringend, aber die Mahnung blieb wirkungslos auf diese jähe Natur.
inhaltschweren Stunde so feindlich gegenüberstanden. Dort die kleine bewegliche Gestalt
,,Geh' zu denen, die deines Vaters Söhne
Gesichtsschnitte seiner Familie , den Kennzeichen seiner Raſſe , und hier der große
sind, dort findest du auch den Deinen . Mich
mit dem dunkeln energischen Kopfe , dem
Robert Byr.
196 .
kräftige Bau, das helle Auge und der un-
sieben Jahren, als ich es schon mit ansehen .
verkennbar blonde germanische Typus, der
mußte, wenn ich es auch noch nicht im vollen
ihn Fremden gegenüber, zuweilen ſelbſt zu
Sinne verstand .
Und
wem verdanke ich
ſeinem geheimen uneingestandenen Mißver- | dieſen unauslöſchlichen Eindruck ? Derjenignügen, immer schon den Bürcks zugezählt.gen , die ich -Ah!" Er unterbrach sich. Und nun die Charaktereigenschaften und die des Temperaments !
Es war als ob seine knirschenden Zähne das Wort zermalmten .
Mit Macht hielt Andor den häßlichen
„Beweise, Beweise ! " rief Andor außer Es ist doch nur eine Unwahrheit,
Zweifel, der ihn beschleichen und übermannen
sich.
wollte, von sich ab.
eine Verleumdung , mit der Seele vergiftet !"
„Nein, nein !" rief er sich selbst und seinem Bruder zu . "
" Es ist der Haß, der „
man deine
,,Die Verläumdung ? Nein, die Wahr-
unnatürliche Bruderhaß, der mir den Na- | heit hat dies gethan . Dein Anblick thut men bestreiten will ." es mit jedem Augenblicke neu . Geh' zu „Ja , ich hasse dich ,“ bekannte Rápolt mit schneidender Stimme,
aber nicht weil
du ihn trägst. Mein Vater wußte, was er that, als er dir ihn ließ . Er wandte die
Rainald und frag' ihn, ob ich lüge !" „ Ja, das will ich thun . Und wenn er
nichts zu antworten vermag, dann will ich weiter suchen und fragen und müßte ich
Schande ab von dem Geſchlecht , das ihn | die Wahrheit aus den Gräbern herausscharren. Und wenn ich sie habe, dann führt und stolz auf seine Reinheit war . Die Schande blieb geheim ,
aber sie hat
ihn wahnsinnig gemacht und getötet . Verwunderst du dich noch, daß ich keine Liebe für dich fühle, daß ich das Band, welches mich mit dir verknüpft , als Schmach em-
sollst du dich zu ihr bekennen. Beim allmächtigen Gott, das sollst du ! “ Er war fortgestürzt. Als Ripolt nach einer Weile das Gemach verließ , da sah er im Stiegenhause
pfinde und verfluche ? Verwunderst du dich
Viktorine weinend
noch, daß ich dir das Recht auf meine
lingsbruders hängen .
am Halse ihres LiebFinster trat er zu
Schwester nicht abtrete, sie vor jeder Be- | ihr heran und faßte ihre Hand, aber seine rührung mit dir behüten möchte , daß ich | Stimme
klang
nicht hart und
drohend,
dieses Haus vor dir verschließe ? Für den Eindringling ist kein Plas darin !"
eher gütig und in ruhiger Bestimmtheit. ,,Komm mit mir !" sagte er und führte
Andor taumelte , wie wenn er einen Schlag auf den Kopf erhalten hätte mit
im Antlig wankte Andor die Stufen hinab
einem jener schweren Streitkolben, die Rá-
und aus dem Thore.
polts
zu
Zeugen aufgerufene Vorfahren
die Willenlose hinweg.
Den bleichen Tod
Ja, das Volk hatte recht :
es gingen
dereinst geführt . ,,Und um deinen Haß zu befriedigen,
Gespenster um in dem düsteren Schloß zu Beledvár und er - hatte eines davon mit
schrichst du vor dem Abscheulichsten nicht zurück," stöhnte er auf. ist der Verrat, „Das Abscheulichste
eigenen Augen geſchaut .
die Hintergehung des Vertrauens, die That selbst und nicht die Bezeichnung derselben. Ich war noch ein Kind , ein Knabe von
VII.
Mit dem heulenden Winde, der zu Beginn der Nacht in einen wilden Weststurm
Andor.
197
überging, hätte Andor um die Wette dahin-
Der langbeinige Gast hatte die für ihn
eilen mögen , und um die namenlose Un-
hergerichtete Wohnung zwar dieſen Sommer
ruhe , die ihn ergriffen , nur einigermaßen zu befriedigen, war er zu Fuß aufgebrochen
nicht mehr bezogen.
legt, bis ihn der Diener mit dem Wagen einholte. Der Nachtzug, der vom Platten see herauffam, war noch zu erreichen, aber
feuchten Mauern des Wohnhauſes warnten, schon mit Eintritt des Frühjahrs wieder von Löke übersiedelt. Er mußte Vieh und
dennoch verrannen viele Stunden , ehe er in Pápa anlangte und die langſamen Gäule
Felder, Knechte und Bauleute unter seinen
des Mietwagens ihn endlich nach Bukraház brachten.
dem kleinsten, notdürftig dem Bodenraume ober dem Schafstalle abgewonnenen Käm-
Rainald
aber war
seinem Beispiele nicht gefolgt und allen und hatte schon eine weite Strecke hinter- | Einwänden entgegen, die ihn vor den noch
Augen haben und begnügte sich lieber mit
Die Pußta , über die er sonst nur in
merchen , bis der Wiederaufbau so weit
flüchtigem Laufe seines Fünferzuges hinzu sausen gewohnt war , schien ihm diesmal
war, ihm ein passenderes Unterkommen zu bieten.
einen ganzen Weltteil zu umspannen. Durch
Noch war der Hof nicht in voller Ord-
das vom Morgen gebrachte traurige Regen-
nung ; Kalkgruben, Sandhaufen , Ziegel-
gerieſel ächzten die baufälligen Kutschen- | schichten und Steinvorräte, Werkzeuge und räder in dem tief einſinkenden Geleiſe da- | Holzstämme verrieten die Thätigkeit, welche hin, als ob ſie eigentlich nicht vom Flecke kämen , denn ringsum blieb es grau, wo-
bei günstiger Witterung hier noch herrschte, der Herr des Hauſes aber saß schon wie-
hin man sah, nirgends erschien ein Haus,
der auf dem behaglichen Winterplaße, zu-
nirgends ein Wegzeichen, an dem man ihn messen hätte können .
nächst dem neuen Ofen, der manchen mißtrauischen Blick betreffs seiner erst zu er-
Da !
endlich der Sagenbrunnen und
die einsame Tanya dabei .
Noch eine Ewig
probenden Leistungsfähigkeit hatte
und fluchte
hinzunehmen.
über die
Unzuverlässigkeit
der
Langsamkeit
keit und jezt humpelte das Fuhrwerk, durch
und
Arbeiter ,
dessen morsches Lederdach das Wasser rann,
Launenhaftigkeit des Himmels , der gerade
die
in das neue Thor von Rainalds Gutshof.
diesen Sommer zu einem naſſen gemacht,
grüßte wie sonst
über das Krachen des frischen Holzes der
den immer Willkommenen , und trübselig
Dielen und Geräte und über tausenderlei
Kein
helles
Eljen
jahen sich in diesem Wetter selbst die erst
Dinge, wiewohl ihm gar viele davon troß
im
Trümmern erſtandenen Baulichkeiten an,
ihrer Neuheit nicht so ganz mißfielen. Auch er fand so im stillen mancherlei, woran er
welche der dem Altgewohnten treu zuge
sein Behagen hatte, wie Frau Margit an
thane Besizer, mit einziger Ausnahme der in jungem Ziegelrot prangenden Dächer,
ihrem neuen eisernen Sparherde, der nach ihrer Behauptung Wunder leistete , oder
genau wieder in der früheren Weise her stellen hatte lassen. Sogar das Storchen
der alte Erdös an dem amerikaniſchen Kunstschlosse , zu dem wieder im Kastell auf-
nest konnte ein scharfes Auge in der grauen
gebauten Speicher, das ihm , wie er schwur,
Laufe des Sommers wieder aus den
Luft auf dem ausgebrannten Kaſtellturme
der Teufel selber
wiedererkennen , das weit umher bekannte
sollte, obwohl er nach der armſeligen Ernte
nicht mehr
aufmachen.
alte Wahrzeichen von Bukraház.
vorläufig leider noch nichts zu verwahren hatte .
Robert Byr.
198
Das war denn freilich ein triftiger | zehn Uhr ! Deine Hände sind so kalt , du zitterst. Ja , mein lieber Sohn ! Gleich
Grund zum Mißvergnügen und bedauer licherweise nicht der Rainald
mürrisch
einzige ,
dreinjah ,
und wenn und
sogar
sollst du eine Tasse Kaffee haben oder einen Löffel Suppe eine Eierspeise , was du
seinen Neffen nicht mit dem gewöhnlichen
willst."
Enthusiasmus umarmte, so wußte er auch hierfür ganz genau die Ursache. Und er
Schick lieber eine Flasche Wein, das wärmt am besten.“
säumte in der That nicht lange, sie anzu-
„Ich danke Euch ; wirklich, liebe Tante, ich brauche nichts ; ich könnte unmöglich
geben. „ Na , kommst du einmal !
Du machst
essen."
mir schöne Geschichten !" begann er sofort zu zanken . „ Was ist das mit Löke ? Wucher-
,,Du hörst ja , er braucht nichts von uns . Keinen Löffel Suppe , fein Glas
ſchulden, Kapitalskündigung, Erekution, das Mobiliar mit Beschlag belegt , eine ganze
Wein. Die Lökeer sind zu stolz , um bei uns etwas anzunehmen . Sie machen alles selber auch Bankerott. "
Bande Schufte da eingerückt , daß man feinen Schritt mehr machen kann , ohne auf das Ungeziefer zu treten . Ebadta ! Und von wem muß ich das alles hören ?
Andor faßte beide Hände des Cheims und drückte sie herzlich. ,,Sei mir nicht böse," bat er.
„Hätte
Wer bin ich? Der Niemand . Oder irgend
ich dir zu deiner Sorgenlast noch die meine
jemand . So einer, den man gar nicht fennt, um den man sich nicht fümmert,
mit aufbürden sollen ? Ich hielt es ja auch gar nicht für notwendig oder auch nur für
ein Baum im Wald, an dem man vorbei geht, wenn es regnet, weil man auch noch
wichtig genug , solange alles den gewöhnlichen Verlauf hatte . Von der Wendung,
vom Blig getroffen werden kann , wenn
die es genommen, bin ich ja ſelbſt erſt ſeit
man untersteht . Wahrlich, den Ofen schlag ' ich nicht ein zur Ehre deines Besuchs ;
einigen Tagen unterrichtet. Hätte ich sie voraussehen können , so würde ich nicht
hätte ich ihn erwartet, das Thor wäre zugesperrt geblieben. Geh' nur vorbei ; bleib'
unterlassen haben , mir deinen Rat zu erbitten, des kannst du sicher sein. “
draußen ; werde naß , wenn du durchaus willit !"
hättest du dich zuerst an mich wenden sollen.
„ Aber Rainald , wie kannst du nur so
Was Rat ?
Wenn du in Not warst,
und nicht an die Juden.
Wer ist dein
reden !" fiel seine Frau jezt vorwurfsvoll
nächster Nachbar ? Jch. Wer ist dein Onkel ?
ein.
Ich.
" Sieh doch nur , wie
er aussieht.
Jesus, wie blaß er ist, als ob er die ganze Nacht nicht ein Auge zugethan hätte !" Andor zwang sich zu
einem
matten
Wer ist zuerst hiehergeeilt, als ich
abbrannte , Hilfe bringen? du ? Wer hat mit mir sein Saatkorn getheilt ? Du. Mein Gott ! mir scheint, es ist so klar, wie
Lächeln.
Regenwasser, von wem du verlangen hättest
„ Das wird wohl so sein, Mama," sagte er. Ich bin die Nacht durch von Beled-
müssen, was du brauchst. " ,,Du hättest doch die
vár gefahren. "
schaffen können ."
Und hast nicht geschlafen und nicht gegessen; vielleicht nicht einmal etwas War-
Hab' ich nicht Obligationen ? brauch' ich die im Kasten ?"
mes noch im Leibe und jezt ist es schon
Summe nicht
Wozu
„ Sie sind den Augenblick, wie du ja
Andor.
weißt , wertlos .
Adler hat es dir vorher
199
mächtige Wolken daraus auf und alle zer-
gejagt.“ " ,,Der gottverdammte Schurke ! Er hat
flogen sie in durchsichtigen Rauch. Seine Frau benüßte die eingetretene
ſie mir aufgeschwägt . Er ist Schuld an allem . Habe ich dich nicht immer gewarnt,
Pauſe, um ihr Angebot von Speiſe und
aber du
besser.
es auch diesmal abgelehnt wurde, um doch
Jezt hast du ein lebendes Beispiel an dir
in der Küche nachzusehen, daß das Mittag-
selbst.
essen bald fertig werde.
gönnen, die du an diesem auserwählten
Mit einem großen Fluche , der schier kein Ende nehmen zu wollen schien, machte
Volke
sich Rainald Luft, und es hatte dies auch
verstandest es
natürlich
Wahrlich, wenn ich mich nicht so ärgern würde, ich könnte dir die Erfahrung
Gottes
gemacht .
Wie
ein Hanf
Trank zu erneuern und entfernte sich, als
sezt und sie für sich saugen läßt, während
in der That den Erfolg, daß die Schatten aller Unannehmlichkeiten beängstigt zurück-
die Pflanze , der sie zugehören , umkommt, gerade so machen sie es . Glaubst du jezt
wichen und sich seine gesunkene Zuversicht wieder kräftig hob.
an den Hanfwürger ?" „ Es ist ein Einzelner," sagte Andor
„Das wäre doch schlimm, “ erklärte er, ,,wenn wir uns da nicht herausfinden sollten .
achselzuckend und fast gleichgültig. „O, es sind viele Einzelne.“
Wenn alle Stricke reißen, verkaufen wir
würger sich schmaroßend
an die Wurzel
„ Und wenn sich der Fall noch so oft
alles und gehen nach Amerika.
Nein,
wiederholt, die Gerechtigkeit fordert, daß
das thun wir nicht . Aus Ungarn gehen wir nicht fort. Was wäre denn das ? Es
wir nicht
wird doch noch einen Gott in Ungarn ge-
generalisieren .
Solcher Para-
jiten gibt es genug auch unter den Christen ? ,,Nun, du unverbesserlicher Ritter des
Humanismus und Kosmopolitismus , wir sehen ja, wie weit du gekommen biſt damit. So geh' doch hin und umarme deinen Wütend lieben Menschenbruder Adler. Mit ihm hättest könnte man werden ! du nicht verhandeln sollen.
Mich hat er
ebenso daran bekommen wollen, aber nichts da . Wir nehmen Geld auf Bukraház auf und jagen ihn zum Teufel." „ Denkst du nicht daran , Onkel , wie schwer es dir schon geworden ist, die Summe, die du zum Baue brauchtest, von der Hypothekenbank zu erhalten ?
Dein Besit ist
bereits schwer genug belastet." „Es ist wahr !" murrte Rainald und
rieb sich das Haar des Hinterkopfes, wäh rend er nach einer neuen Idee suchte. Aber selbst in der großen Meerschaumpfeife wollte sich keine finden lassen. Es stiegen nur
ben, der hilft und diesen elenden Juden die Lust verdirbt , Gutsbesißer in Löke zu werden. Daß sie dann auch mit ihren Maschinen kommen und mit Dampf pflügen und mähen und den Wald aushauen. Nicht einen Maierhof sollen sie von dir haben ! Und wenn ich nicht reiche, so sind andere da. Wozu hast du denn Brüder, zum Henker?"
Andor nickte düster vor sich hin. „Ich komme von ihnen," sagte er bitter lächelnd .
„Und mit leeren Händen ? Sie haben dir nichts gegeben ? O , diese Menschen ! Ferry ist ein Knauser ; laß den Schwaben! Aber du warst in Beledvár. Nun , Rápolt ?" „ Er? Nehmen will er mir ; mehr
nehmen als alle Adler der Welt mir nehmen könnten . Alles , alles ! Meine Liebe zu Vater und Mutter, meinen Glauben an sie, mei-
Robert Byr.
200
nen Namen, meine Eriſtenz , mein ganzes | halten , was Rápolt gesagt. Wesen ! Nichts soll mir bleiben von dem, was ich war, dagegen kommt nicht in Be-
Und er hat
gelogen ? Du verstehst mich nicht? Du weißt gar nicht, wovon ich spreche ? It's so ?"
tracht, was ich hatte. Laß es verloren ſein;
„Schlecht ist es von ihm, daß er nicht.
was liegt daran ? Sage mir nur , daß er
geschwiegen hat ! " polterte der alte Herr
die Unwahrheit gesprochen ! Ich habe keine Rast und Ruh gehabt, bis ich hier war
endlich zornig heraus . Gleich darauf aber breitete er die Arme aus und seine rauhe
und nur um diese Frage an dich zu rich
Stimme hatte mit einem Male Töne des
ten, bin ich gekommen.
Mitleids , der Innigkeit und Rührung, daß sie nicht herzergreifender sein konnten . Andor ! lieber Knabe ! mein teurer Sohn!
delt es sich jetzt.
Darum allein han-
Rede, Onkel ! Es ist nicht
wahr! Sag', es ist nicht wahr !" Es war ein Glück, daß die Tante sich
Laß sie reden und thun , was sie wollen.
entfernt hatte : ſie wäre entsegt gewesen bei dem Anblick des von Zweifeln Gemar-
Wir halten zuſammen.“ Der so Angesprochene jedoch folgte der
terten , ja von ihnen beinahe schon Ueber-
Aufforderung nicht .
wältigten, denn die langen Stunden der Nacht hatten geschäftig , aller Abwehr zum
einen Stuhl und schlug die Hände vors
Troß, immer wieder neue Umstände und
gefallen.
Thatsachen aus der Erinnerung heraufgeholt
schen
und zum geschlossenen Beweis aneinander Es war der Hilferuf eines Er-
schüttelte er langsam den Kopf, dann nahm er einen Sessel, schob ihn knapp an An-
trinkenden, der die Arme ausstreckt nach
dors Seite, segte sich und legte schmeichelnd
einem Rettungsseil , an dem er sich fest flammern will, ohne zu untersuchen, ob es
seine Hand auf des Neffen Knie . " So ist es denn wahr ! alles wahr !"
auch hält.
ächzte dieser schmerzlich auf. „ , und ich hoffte hier die Widerlegung zu finden !"
gereiht.
Nein , kein Seil , nur einen
Faden werft ihm zu und er will sich daran hinaushelfen aus aller Not. Er wird
Gesicht.
Er sank stöhnend auf
Dem Cheim wollte das gar nicht Ein eigener Zischlaut kam zwi-
seinen
Zähnen
hervor
„Ich habe ja gar nichts
schwimmen mit der Kraft der Verzweiflung, nur den Mut darf er nicht verlieren und
nicht ein Wort." ,,Auch die Ahnenbilder
der hängt an dem einen dünnen zerreiß baren Faden .
haben schweigend geantwortet .
und
dabei
gesagt,
in
Beledvár
Er hat recht,
Mit aufgehobenen Händen, mit hervor
nicht einen Zug trage ich von ihnen. “ Andor nickte in tiefer Bitterkeit und
quellenden Augen stand Andor vor seinem
barg seine Stirn wieder in der auf den
Oheim .
Dieser hatte nur seiner Gewohn-
heit nach einen leisen Pfiff ausgestoßen, jest schob er die Filzmüße auf die Seite und fuhr sich ratlos mit der Hand über die hellleuchtende Glaze. „ Ebadta ! Ebadta !" murmelte er ein
Tisch gestützten geſtüßten Hand. Hand .
Wiederholt schlug
ihn Rainald aufs Knie. ,,Enye ! Froh sollst du sein," meinte er
mit einer ſeltſamen Mischung von Verlegenheit, Scherz und Entrüstung in der Stimme ,
froh , daß du nicht die Bele-
bis Andor ihn
drängte.
dényische Nase hast. Was, ist so ein Schnabel vielleicht etwas Schönes ? Und was sie für
„Onkel, ich muß es wissen ! Sprich, denn sonst müßte ich ja alles für wahr
Knirpse sind. Sieh , wie eine Eiche stehst du da ! Aber laß dich nicht so schütteln
über das
andere
Mal ,
Andor.
201
und beugen vom Sturm , richte dich auf. | Zeig ' mir die Stelle ! O, ein Fleck ist dort, ein unauslöschlicher Fleck! Was bin ich Noch bist du kein hohler Baum wie ich und sich mich an - "
„ Ja , ich bin hohl , " fiel ihm Andor hier heftig ins Wort. mir und eine Lüge.
„ Alles ist hohl an Wer da will , kann
eigentlich ? Ich muß es wissen !, meine Mutter !" Der lezte Ausruf war so voll leidenschaftlichen
kommen und es mir verächtlich ins Gesicht
Schmerzes, daß Rainald mit den Augen zwinkern mußte, um die herauf-
werfen. " Den wollt ich sehen ! Bist vielleicht du
steigende Thräne zu bekämpfen. „ Du Tollkopf !" sagte er.
„" Deine
ſchuld daran ? Hast du gelogen ? Wer kann
Mutter hat dich mehr lieb gehabt, als alle
ſagen, daß von dir eine Unwahrheit aus gegangen ist ? Komm, Andorkó , sei ver-
ihre anderen Kinder. Sie war eine gute Mutter für dich , eine schöne , geistreiche,
nünftig . Zünde dir eine Pfeife an und Was ist denn anders ? Heut verrauch's ! -
vielbewunderte, eine ungewöhnliche Frau, der man selbst ihre Schwächen nicht zum
ist wie gestern, wie vorgestern, wie es immer
Vorwurfe machte. "
war; die Geschichte ist ja nicht jezt ge=
„ Sag ' statt all dem nur Eines : sag' :
ſchehen ; ſie iſt ſo alt als du selbst . Seit du auf der Welt bist, ist nichts anders ge-
sie war eine brave Frau ! Du kannſt nicht ! “ ,,Lieber Sohn , die Philosophen sind
worden und nun auf einmal sollst du an-
nicht immer derselben Meinung als die
fangen dich zu kränken ! Thorheit ! Jeder Mensch lebt nur für sich und für die viel
Gesetzgeber . Soviel ich aus meiner Schulzeit her noch weiß , ist Ethik und Moral
leicht, die nach ihm kommen ; für das , was
nicht
vor seiner Geburt geschehen, ist keiner verWozu also nachschlagen in antwortlich.
Sphären und unter verſchiedenen Umſtänden gelten auch nicht die gleichen Ansprüche
dem Buche, wo alles aufgezeichnet steht ? Wäre gar manchem nicht zu raten und in
Und so kann ich sagen : deine Mutter war
ganz
dasselbe.
In
verschiedenen
an einen Menschen und seinen Charakter.
mehr als einer Familie thut man gut daran, eiserne Klammern und ein Zauberschloß an die Blätter zu legen. Mögen gar son-
brave, treue, unschäßbare Frau und da er - dein Vater ist , so steht dir auch kein
derbare Dinge darauf zu lesen sein. " Ich aber will sie kennen lernen . Du
Recht zu, eine Anklage wider sie zu erheben." Bei dem Worte „ Vater" hatte Andor
übersiehst, daß deine Auffaſſung das ganze Adelsprinzip über den Haufen wirft . Wer
aufgezuckt , als ob ihm das ſpiße Meſſer eines Operateurs ins Fleisch gefahren wäre .
keine schlechte, ja sie war Bürck ſogar eine
Es schmerzt und man muß ihm doch ſtille stolz auf seine Voreltern sein will , muß den Nachweis führen können, daß ſie ehren- | halten und darf den, der es anſeßt, keiner
haft gelebt, wer sich eines Namens rühmt, muß berechtigt sein, ihn zu führen . Blind bin ich durchs Leben gegangen und was ich nicht ahnte, konnte mich nicht anfechten . Von nun an kann ich aber nicht mehr so weiter wandeln ; ich kann nicht vorsäglich die Augen schließen und mir vorlügen, ich hätte nichts geſehen . Schlag auf das Buch!
Grausamkeit beschuldigen.
Auch ihm hatte
es ja die lezte Faser eines zerrissenen Bandes vollends durchschnitten.
Düster und in sich
gekehrt saß er jezt da, bis er endlich barsch die Frage hinwarf: „Aber warum hat man mich ihn denn nicht so nennen gelehrt ? Warum führe ich den Namen eines Andern ?" 26
Robert Byr.
202
"/ Gerade das ist nicht deiner Eltern Schuld, sondern der gesellschaftlichen Ein-
ganz anderes Leben in Ungarn, als heute.
richtung, der sie sich beugen mußten." „Mußten ?"
die Herrschaften lebten auf ihren Landſizen,
Rainald
hörte wohl den Sarkasmus
Da galt noch gute alte Gastfreundschaft,
aber sie waren viel zuſammen auf Besuchen,
Stimmung, in der sich sein Neffe befand
Jagden und Festlichkeiten, wochen-, monatelang. Es ging lustig her ; auch in Beledvár. Ich war damals einige Male dort, aber so recht froh konnte man in den alten Kerker-
und suchte ihn durch mildes Zureden aus
mauern doch nicht werden, so viel Nachbar-
Zulegt Zulezt sah sah er doch
schaft da zusammenkam, selbst aus Steiermark herüber. Man hat ja an der Grenze
aus der Frage heraus, war aber jeßt nicht zum Widerspruche geneigt ; er begriff die
derselben zu erheben .
ein , daß einzig und allein in den That-
auf Andors Verlangen war er denn auch
immer gute Freundschaft gehalten hin und her schon seit den Zeiten Zrinyi's und
bereit, dieſelben in schlichter Weiſe zu berichten.
Tattenbach's . Man hat gemeinſam gezecht, gewürfelt und sich verschworen und ist ge-
Er stand nur auf und nahm sich eine
sachen eine überzeugende Kraft liege und
Also , das war anno Achtundvierzig,
meinſam aufs Schafott gestiegen. Was das lettere betrifft , so hat sich das freilich geändert. Vor Achtundvierzig war man aber
daß ich dir sage," erzählte er,,, deine Mutter war damals bereits ein paar Jahre in
erst bis ans Verschwören gekommen , es wurde vorläufig nur getrunken , gegessen,
Beledvár und Rápolt und Victorine schon auf der Welt, das Mädchen so ungefähr
gespielt und getanzt und den schönen Frauen der Hof gemacht ---- hinüber und herüber.
ein Jahr alt, als die Geschichte da unten. losging und die Kroaten über die Drau
Da war der junge Graf Bürck noch mit Leib und Seele dabei, darnach kam die
kamen . Es war noch eine große Zeit und alles bei uns voll stolzer Zuversicht und
Insurrektion , da wollte er nichts mehr davon wissen. Es war auch natürlich: er war ein Schwabe und sein Vater in einer
frische Pfeife, bevor er damit begann.
Begeisterung. Es hat dann ein trauriges Ende genommen ; aber das weißt du alles und nicht darum handelt es sich. So bleiben wir denn bei deiner Mutter. Was das für ein stolzes, ehrgeiziges, begabtes Mäd-
hohen Hofcharge , die später auf ihn übergehen sollte. Da gab es denn alle erdenklichen Ratschläge und er that sein möglich-
chen war, habe ich dir oft gesagt ; nur
stes, seine guten Bekannten zurückzuhalten. Er war ein gescheiter Kopf und auf das
eines hat ihr gefehlt , sie hatte keinen Patriotismus , sie hatte kein Herz für ihr
J- Tüpfel hat er allen bewiesen , daß und warum es schief gehen müsse. Recht hat
Vaterland, von jeher war sie kaiserlich geIm Anfang vielleicht mehr zum
sinnt.
er behalten, wahr ist es , aber , bei Gott,
Scherz, um mich zu necken, später als sie
stolz bin ich heute noch, daß ich keine so bleiche Jammerseele hatte , ihm damals
verheiratet war und sich die ganze politische Lage immer schärfer entwickelte, wohl aus
schon zu glauben ! Und wenn ich zu Grunde gegangen wäre und im Himmel hätte mich
andern Gründen .
einer gefragt , ob ich noch einmal zurück will, dann aber müsse ich bereuen und still bleiben, wenn die Trommel noch einmal zum Aufbruch wirbelt , sonst sei einmal
Damals war sie schon
in Gegenſaß zu ihrem Manne getreten und andere Einflüsse machten sich geltend von außen her.
Zu jener Zeit war noch ein
2 Andor.
203
verspielt, verspielt für immer : - Nem bá-
den, Baronin so und so zu heißen, Spizen,
nom ! Ich hätte nichts zurückgenommen und
Kleider, Schmuck zu erhalten, eine ſtattliche Erscheinung am Altar zu sein , den Neid
ein zweites Mal ganz dasselbe gethan. " Nach dem charakteristischen Ausrufe hielt
Bekannten
ihrer
zu
erwecken
und
ihre
rungen erst ein wenig verrauschen lassen,
Brautjungfern zu überstrahlen . Was weiß so ein Mädchen, das der Tänzer, mit dem sie einen Winter ein dußend Quadrillen
ehe er fortfahren konnte :
und
er etwas an . Er war in Feuer gekommen und mußte die heraufbeschworenen Erinne
Ich muß dir aber von Dingen erzählen, an denen ich nicht betheiligt war. Als mein Schwager vom Preßburger Landtage auf kurze Zeit nach Hause kam, war
ein halbdugend
Cotillons ,
Csárdás
oder Walzer getanzt , frägt , ob es nicht heiraten wolle , von Liebe und Ehe! Meine Schwester war kein einfältiges OpferLamm, aber sie war jung, unerfahren und Sie erwartete von ihrem Gatten,
es das lestemal, daß wir uns alle noch
ehrgeizig .
einmal in Beledvár zuſammenfanden. Später wurde ich Honvéd und ließ mich einerer
daß er ihr eine glänzende Stellung bieten solle, Beledényi war jedoch nicht der Mann
Beledényi
zieren. Bürd
ging
nach Pest und
als Freiwilliger nach Italien zu Damals hat es aber schon große
Radezky .
Szenen gegeben und nach meiner Abreise muß es noch weiter gekommen sein. Wenn die beiden Männer mit einander für ihre
dazu.
Ihm fehlte die Macht der Persön-
Das Unglück wollte noch, daß er den Ehrgeiz seiner Frau kannte und ihm
lichkeit .
genug thun wollte, nur leider nicht auf dem Wege, den sie ihm wies . Oder eigentlich nicht leider , denn Beledényi war ein
verschiedenen Ansichten stritten, dann nahm meine Schwester stets Partei gegen ihren
braver Kamerad , ein Patriot durch und
Es war damals schon nicht schwer
und sie bereits auf der anderen, als er sich
Mann.
zu erraten, wie die Sachen standen, denn Politik und Liebe gehen beim Weibe immer
durch.
Das „leider“ ſtand auf ihrer Seite
zu regen begann.
Es war ein Verhängnis .
Als er ihr Begeisterung einflößen hätte Entweder sie sind Enthusia- | können , da war ihr Blick schon auf ein stinnen und lieben den Mann , der auf Ideal gerichtet und selbst im Vergleiche ihrer Seite steht und sich einſeßt für ihre | konnte Beledényi mit ſeiner unanſehnlichen - und das ist die Mehrzahl Ideale, oder Figur und seinem unausgeglichenen Wesen, nicht gewinnen. Was war Bürck damals fie folgen dem Manne, den sie lieben zusammen .
und schwören auf seine Ueberzeugung, weil ſie dieſe für die richtigste und ihn für den Beſten und Vernünftigsten halten. Ilona
für ein Mann ! Ich blieb sein Gegner so lange er lebte, aber Herzen gewinnen, das und konnte er , denn selbst das meine
hat jedenfalls den zweiten Weg gemacht . Ob sie ihren Gatten jemals liebte , weiß ich nicht. Es werden so viele Mädchen
ich bin kein Mädchen
mußte ich mit
Gewalt zurückreißen , wenn es ihm zuflog . Du hast sein Bild noch im Gedächtnis ,
Braut und bilden sich dabei ein, daß, der
aber du weißt nicht, wie er damals in
sie erwählt, auch ihr Erwählter ſei , ohne daß eigentlich ihr Herz nur um eine Mil-
der Vollkraft seiner Jugend dastand . Nicht mehr Knabe ― er war schon Witwer
liontel Sekunde schneller darum schlüge und sich in ihnen ein anderes Gefühl regen
ein reifer Mann, aber in jenem Alter, wo ſie am schönsten,
würde, als die Befriedigung, Frau zu wer
Groß und
am gefährlichsten sind .
stark und doch gewandt und
Unsere
Ha
Klavierstück von Am
Andantino.
cresc
p dolce
Piano.
d dim.
d rit.
fa tempo
dim. d
jausmusik.
Amanda Röntgen.
Amanda Röntgen. a tempo
f
motolp cresc
to cresc.
cresc.
dim.
fo
Robert Byr.
206 elegant,
der
beste
Reiter ,
Schüße
und
Tänzer und doch kein nichtssagender Athlet,
nach Verona hörte. Die Szenen zwiſchen den beiden Gatten nahmen damit jedoch
sondern der feinste Kopf, kühl im Denken
kein Ende , ja ſie wurden immer heftiger,
und doch leidenschaftlich in seinem Wesen,
so oft sie sich sahen.
flar
beschwor Ilona ihren Mann , von seinen
im
Urteil ,
kühn in der That.
feurig
im
Wort
und
Du bist ihm aus dem
Gesichte geschnitten und haſt viel von ihm geerbt, aber doch bist du noch nicht er. Mach' dir nichts daraus , vielleicht wirst du es noch, du hast ja noch fünf, sechs Jahre Zeit, bis du in das Alter kommſt, in dem "1 er damals stand . Dein Wuchs „ Onkel, was sollen diese Nebensachen!"
Bestrebungen abzustehen
Selbst in Briefen
und
als
er im
Spätsommer heimkam, um den Landſturm des Komitats zu organisieren , erklärte sie unumwunden , sich von ihm trennen zu wollen. Da kam der entscheidende Moment. Ende September fielen die Kroaten ins Land. see.
Jellachich führte sie an den Platten-
Man wußte nicht, wird er nordwärts
fiel Andor , der bis jest regungslos dage
gehen oder sich gegen Osten wenden.
ſeſſen, mit ungeduldiger Bitte ein.
nicht fechten konnte, flüchtete.
Wer
Die wenigen
„ Das sind keine Nebensachen," entgeg-
Truppen zogen sich auf das Korps Moga
nete Rainald eifrig. " Du mußt wissen, wie
zurück , auch Beledényi führte ihm seinen
die Dinge lagen , damit du begreifst , wie Man kann leicht
Landsturm auf Stuhlweißenburg zu ; dort trafen wir uns , es war aber kaum auf
sagen, der oder die hätte es anders machen
eine Viertelstunde , ich mußte wieder auf
es weiter geworden ist.
ſollen, aber alle Umstände erwogen , wäre
Vorposten hinaus und nur soviel erfuhr
man vielleicht Schritt für Schritt selbst
ich, daß er seine Frau ebenfalls geflüchtet und mit den Kindern die Raab hinauf
den gleichen Weg gegangen.
Am wenig
sten soll ein Sohn seine Mutter verdammen, er soll sich vielmehr freuen, wenn er
nach Göſenſtein geschickt habe. Ich war zufrieden, denn ich wußte sie gut aufge=
solche Bedingungen ihrer Handlungsweise
hoben dort bei dem alten Erzellenzherrn .
erfährt , daß er ſchließlich ausrufen muß : Gott sei Dank, sie konnte nicht anders !"
zu jener Zeit lebte auch die alte Gräfin noch und es war eine unverheiratete Schwester Bürcks da , - er aber nicht.
" So zeige sie mir und fahre fort !" drängte Andor und seufzte aus tiefer Brust .
Es wäre alles ganz gut gewesen .
Das
„Ich wollte dir nur erklären , welchen | Schicksal jedoch hatte es anders gewollt. - Gerade in jenen Tagen traf Bürck in Eindruck Bürck auf meine Schwester machte ; ― sie war wohl nicht die einzige, der es ſeiner Heimat ein. Er kam aus Italien, ſo erging, aber die einzige , die auch ihm Ich sagte zwar nicht gleichgiltig war.
den Feldzug hatte er mitgemacht, glücklich jezt gab es dort nichts und ruhmvoll ,
manchmal zu ihr , halb im Scherz , halb
mehr zu thun und er hatte sich Erlaubnis
im Ernst : „ Ilona , nimm dich in Acht !" aber damals konnte sie noch lachen.
Ich
glaube, ſie waren beide zu stolz , um ihre Pflicht zu verlegen , oder auch nur von
erbeten und eilte nach Wien , um sich der Seine anzuschließen.
Belagerungsarmee
Ueberzeugung , seine Traditionen riefen ihn dahin. Ich will mir kein Richteramt
ihrer Liebe zu sprechen , wenn auch Jedes
anmaßen und nicht entscheiden, ob er recht
um die des Andern wußte.
that damit . Es kommt auch darauf nicht an. Das wichtigste ist, daß er auf seiner
ich mich, als
Dennoch freute
ich von der Abreise Bürcks
Andor.
Reise von einem Kriegsschauplaße zu dem andern nicht so nahe an der Heimat vor-
haben wollten.
Na, ich hatte damals an-
dere Dinge zu thun, mußte von der Donau
über wollte , ohne seine alten Eltern zu
zur Theiß und von der Theiß zur Donau
umarmen.
Er hat mir sein Wort gegeben,
spazieren , bin dann auch eine Weile im
und ich glaube ihm , daß er von der An-
Spital gelegen, bis das Loch in der Seite
weſenheit meiner Schwester nichts wußte
wieder zuſammengeflickt war .
und von ihrem Anblick aufs höchste über-
gings doch wieder vorwärts .
rascht war.
war das eine schöne Zeit ! Im April hatten
Ein halbes Jahr hatten sie
Aber endlich Herr Gott,
ſich nicht gesehen, ein halbes Jahr, während
wir sie alle hinausgejagt .
deſſen ſie vielleicht
Stunde um sein Leben gezittert hatte und
befreit und jezt durfte ich auch auf ein paar Tage heim. Mir zitterte schon das
nun ſah ſie ihn, nur um von ihm wieder Abschied zu nehmen, ihn wieder auf einem
Herz nach den alten Leuten und meiner Braut. Der Himmel weiß, was das für ein Wieder-
neuen Schlachtfeld zu wiſſen , tausend Kugeln ausgesezt , vielleicht zum leztenmale
sehen war ! Wie ein Rauſch ! Alles im Jubel. Wir glaubten noch an eine Zukunft !
hielt ſie ſeine Hand , fie , die erbitterte, von ihrem Gatten fast auch äußerlich schon
Da wurde mir erzählt , daß vor mir ſchon mein Schwager hier gewesen sei. Ein einziges
losgelöste Frau und sah auf zu dem stolzen, siegreichen Soldaten in der vollen Erregung solch ungewöhnlicher Zeit -
Gesicht unter all den frohen war traurig, das meiner Schwester . Sie hatte Erplikatio-
Mein Sohn , Recht."
auch sein
sich scheiden lassen, er nichts davon wiſſen .
Stumm saßen sich der Erzähler und
Mir that die Arme leid in ihrem Zuſtande, aber freilich wußte ich damals noch nicht
Tag für Tag ,
das Herz
will
jede
Das Land war
nen mit ihrem Manne gehabt , sie wollte
sein Zuhörer gegenüber und Rainald hatte
alles , nicht einmal die Eltern kannten die
genug damit zu thun , seine Pfeife , die
ganze Wahrheit . Erst ein paar Monate später sollten sie dieselbe erfahren . Das war
schon am Ausgehen war, wieder zur Ordnung zu rufen. Es mußten ihn erst wieder einige gelungene Züge überzeugend in dichte Wolken hüllen, ehe er seine Mit-
-
Ende Juni, der Ruſſe im Anmarsch, Haynau im Vorrücken. Ich selbst saß in Komorn. Mein Schwager , der unter Kmethy kommandierte , stand in unserer Gegend und
teilungen fortsette. „Vielleicht ist uns dein Vater einmal
"1
207
sollte den Raabübergang verteidigen helfen,
gegenüber gestanden, als wir zum Entsaß
aber die Oesterreicher rückten stark heran ;
vor Wien zogen, ich weiß es nicht .
zwanzigtausend Mann gingen allein hier,
An
dem Feldzug hat er nicht teilgenommen,
oberhalb und unterhalb , über den Fluß .
sondern ist wieder nach Hause zurückgekehrt,
Die ganze Brigade Gerstner warf sich auf
denn der alte Erzellenzherr hat sich zum
Kmethy, während die anderen gegen Pölten-
Sterben niedergelegt.
berg abschwenkten. Da gab es in der Nacht,
Da war aber deine
Mutter schon nicht mehr in Gösenstein,
unmittelbar ehe Beledényi abzog, noch einen
ſondern in Löke drüben.
Gleich nach dem
furchtbaren Auftritt. Er wollte mit Gewalt
Einrücken der Oesterreicher folgte sie nämlich der Aufforderung , zu den Eltern zu
seine Frau zwingen, ihm zu folgen , nahm ihr die Kinder weg und that wie ein Wahn-
kommen , welche um mich in Angst waren
sinniger. Deiner Mutter Stunde jedoch war
und wenigstens eines der Kinder bei sich
gekommen.
Die Aufregung hatte sie be-
Robert Byr.
208
schleunigt. Alles war alarmiert, die Schüsse
aufbot , das Urteil von ihm abzuwenden.
aus der Ferne , die Fackeln im Hofe und
Er hat wie ein Freund , wie ein Bruder
an der Brücke, die gesprengt werden sollte,
an ihm gehandelt, ob er dadurchseine Schuld
der Wütende , vor dessen Drohungen alles zitterte, es soll schrecklich geweſen ſein . Aber so wild er auch schwur, er werde sie
gefühnt ? Gott mag entscheiden ; ich weiß es nicht."
nicht zurücklassen , in der Feinde und in Bürd's Gewalt, er mußte doch davon ab-
zählte Rainald nach einer kurzen Pause weiter :
stehen.
kapitulierte Komorn. Man entließ uns . Ich
Ein Unmensch hätte die sich in
Da Andor auch jezt noch schwieg , er-
Im Oktober war alles aus . Am zweiten
Schmerzen Windende nicht von ihrem Lager
kam nach Hause und heiratete Margit . Fast
emporzureißen vermocht. Das war der 27. Juni, -es ist dein Geburtstag . Am
schämte ich mich der Freude, denn im Lande war es totenstill. Bald nachher kam ein
nächsten Tage fand das Gefecht bei Jházi
Bote von Beledvár und brachte die kleine
statt.
Viktorine und
Kmethy ließ sich gegen Pápa zurück-
treiben.
Mein Vater kam abends von dem
Schauplaße zurück.
Er war ausgezogen,
Schwager.
einen Brief von
meinem
Man hatte ihn frei gegeben, es
hieß, er sei in Folge der Kopfwunde wahn-
um die Kinder wieder aufzufinden , statt
sinnig geworden.
derselben brachte er deren Vater mit. Unter den Verwundeten, die gefangen wurden, war
weise richtig , ein Vorwand , den man ge= funden hatte.
auch Beledényi , ein Hieb über den Kopf
schwermütig geworden.
hatte ihn kampfunfähig gemacht.
völligem Stumpfsinn abgerechnet , hatte er
Er blieb
Das war aber nur teil-
In Wirklichkeit war er nur Einige Anfälle von
vorläufig in Löke, wo die Desterreicher ein
sein volles Bewußtsein wiedergefunden .
Spital errichtet hatten , wurde aber bald
schrieb seiner Frau und bat ſie, zurück zu
Er
wieder weiter transportiert und zwar durch | ihm zu kommen, alles ſei vergeſſen und verkeinen anderen , als durch Bürck selbst. Deine Mutter hatte ihm geschrieben und er
geben .
An seinem Lebensretter könne er
keine Rache nehmen und seiner Frau ver-
war gekommen , um Beledényi zu retten.
möge er nicht länger zu zürnen .
Mit den Waffen in der Hand gefangen
dürfe ja doch nur seinen Namen führen,
Das Kind
genommen, stand dem ehemaligen österreichi-
nicht er selbst werde das Geschehene offenbar
ſchen Offizier das Schicksal in Aussicht, das so viele andere getroffen . Daß er davor
machen , und die einzige Genugthuung, die er verlange, sei, daß auch von anderen
bewahrt geblieben , hatte er allein Bürcks
feine Schande auf seinen Namen gebracht
Verwendung zu verdanken. Der sezte sein Wort ein für den Besinnungslosen , und
werde. Zum Zeichen der Versöhnung und als Fürbitterin schicke er der Mutter ihre
erwirkte die Erlaubnis , ihn nach Graz zu
Tochter . Die beiden Kinder hatte ſein Diener
bringen.
Bei der mangelhaften ärztlichen
im Sommer glücklich nach Beledvár gebracht .
Pflege hier wäre Beledényi vielleicht damals
Auch Rápolt hätte mitkommen sollen , er
schon gestorben, das Band wäre gelöst ge=
wollte aber den Vater nicht verlassen .
Der
wesen und nichts einer neuen Vereinigung
Himmel mag wissen, was der Knabe alles
im Wege gestanden. Dein Vater selbst hat ihn dem Tode entrissen, er hat ihm zum
mit angehört, wenn der Vater seine düsteren Stunden hatte! - Auf den Brief war
zweitenmal das
Leben gerettet und auch
große Beratung in Löke , alle meinten , sie
die Freiheit , als er seinen ganzen Einfluß
gehöre zu ihrem Manne, nur meine Schwester
Andor.
209
wollte davon nichts wissen, sie bestand auf
rend sie an seinem Bette saß, so wachte er
der Scheidung, obwohl wir ihr alle vorſtellten , daß eine Heirat dadurch nicht er-
auf und da war er ganz vernünftig , klar und weich wie ein Kind , das dauerte bis
möglicht würde.
die Sonne unterging, da war er tot . Immer
Damals waren die Gefeße
so, daß ihr auch ein Religionswechsel nichts wenn
nicht sie und Bürck
völlig auswanderten.
genügt hätte ,
Ich glaube , es war
sogar davon die Rede oder von einer außerordentlichen päpstlichen Diſpens, die erwirkt werden sollte .
noch hielt er ihre Hand . gestorben .
Er war versöhnt
Bei der Sezierung fand sich
ein Knochensplitter im Gehirn, der aus der Hiebwunde können.“
nicht
entfernt
hatte
werden
Es kam nicht zu dem einen
So ist dies die Ursache seines Wahn-
und nicht zu dem anderen, denn eines Tages
finns gewesen, und er mußte daran sterben.
langte von Beledvár , woher seit der ab-
so wie so ! " rief Andor , der bisher kaum
ſchlägigen Antwort, die Ilona erteilte, nichts mehr verlautet hatte, die Nachricht ein, daß
seine Stellung verändert und keinen Laut
sich Beledényi's Zustand sehr verschlimmert und die Melancholie einen gefährlichen Cha-
von sich gegeben hatte , plößlich auflebend aus. „Gewiß !
gewiß !"
bestätigte Rainald .
rafter angenommen habe ; man frage an,
„Wenn es dich interessiert, kannst du es im
ob Schritte gethan werden ſollten, den Baron in eine Jrrenanstalt zu bringen , niemand.
Sezierungsbefund nachlesen. “
wage mehr bei ihm zu bleiben , weil schon
wacht , war er auch wieder erloschen , doch
Anfälle von Tobsucht vorgekommen seien .
nachtete der Schatten, der neuerdings über
So rasch wie der Funke in Andor_er-
Da war es deine Mutter, die es wagte . | ihn herabſank, nicht mehr ſo tief wie zuvor . ließ nur Sie wartete keinen Augenblick „Und nun weißt du alles ," schloß mich fragen, ob ich sie begleiten wolle und machte sich sofort auf den Weg.
Ich möchte
der Erzähler. Und jest frage dich selbst, was deine Mutter war und ob sie nicht
diese acht Wochen in dem finsteren unheim- | auch ihrem ersten Manne in der lezten Zeit lichen Schloſſe nicht noch einmal durchleben, | noch mehr gewesen , als manches tugendwahrlich !
Mit dem Schmerze über das be-
stolze und unfehlbare Weib, das sich solchem
ſiegte und niedergeworfene Vaterland im
Opfer wohl kaum unterziehen würde.
Herzen, eingeschneit zwiſchen den Bergen,
ein Jahr hat sie dann deinen Vater gehei-
Um
bei dem Tollköpfigen , der bald wie ein
ratet , sie war sein Stolz , sein Glück und
Schatten hinschlich, bald tagelang wie aus
der Glanz seines Hauses .
Stein gehauen auf einem und demselben
benachteiligt geblieben , aber jezt weißt du
Flecke saß , bald wieder durch die Zimmer rannte , als wolle er uns das Dach über
auch, weshalb dir ganz Löke ſamt dem Erbteil von meines Vaters Schwester allein und
den Köpfen anzünden.
Grauenhaft war es ! | unverkürzt zufiel .
Ich bin ein Mann, aber ich atmete tief auf, als das Ende kam.
Es war ganz sanft
und ruhig , wie es keiner erwartet hatte . Niemand hatte den Kranken in seinen Wut-
Du freilich bist
Es sollte eine Entſchä-
digung für dich sein, so gut es eben ging . Für mich und Margit genügte ja Bukraház Aber ich weiß zum Leben und Sterben. nicht , was Margit hat ?
Sie vergißt den
anfällen zu beruhigen vermocht, als deine
Wein ganz .
Mutter; zulest ließ er ihre Hand nicht mehr
schon einen vollständig ausgetrockneten Mund,
los Tag und Nacht, so schlief er ein, wäh-
daß ich glauben könnte, ich sei wieder auf 27
Ich soll da erzählen und habe
Woldemar Baden.
210
dem Marsche. Ich muß doch zusehen, wo ich einen Schluck bekomme. Es sieht aus,
griffe . war ,
Er wußte, daß es jezt am besten Andor allein zu laſſen und kehrte
als wollte es aufhören zu regnen, da muß ich diese träge Bande von Zimmerleuten
erlaubte er später nicht , selbst
zuſammentreiben .
und ihn zu Tiſch zu rufen, als Lenka voll
Mach dir nichts daraus,
nicht mehr zu ihm zurück, auch seiner Frau zu gehen
Da
Mitleid berichtete , der junge Herr wolle
kannst du ein bischen in den alten Papieren blättern unterdessen. "
Wort geredet und nur den Kopf geschüttelt.
Er ging an einen Schrank, aus einem
Zulegt aber als das Mahl , bei dem sie
daß ich dich ein wenig allein lasse.
nicht zum Essen kommen , habe gar kein
Fach desſelben nahm er ein kleines Blechschmollend und sorgenvoll ſelbſt keinen Biſſen kästchen und aus diesem ein Paket vergilbter berührt, vorüber war, vermochte er sie nicht Schriftstücke , die legte er vor Andor auf den Tisch. „ Oft habe ich sie in der Hand gehabt, um sie zu vernichten , " sagte er, und als meine Alte sie aus dem Feuer rettete,
mehr zurück zu halten.
So leise sie durch die Thür schlich, ganz geräuschlos ging denn das doch nicht von statten, Andor aber hatte nichts davon gehört . (Fortseyung folgt.)
dachte ich mir , daß sie besser verbrannt wären. Mit uns zwei alten Leuten sollte das Geheimnis sterben.
Jest erkenne ich,
warum es doch gut war, daß sie unzerstört blieben. Wer weiß, ob es wahr ist ? könnte dir einmal ein Zweifel aufsteigen . 9 Wer weiß, ob mir der Onkel Gábor nicht alles viel schöner dargestellt hat ?" sind meine Zeugen.
Frühlingstage in Sorrent. Bon
Woldemar Kaden.
Na, das
Ich wollte , ich hätte
sie nicht gebraucht.
Weil es aber so ist mag es sein. Es ist vielleicht auch recht, daß
der Sohn weiß , wer sein Vater gewesen und wem er das Leben zu danken hat. Einstens , da drüben soll er doch nicht an
ihm als einem Fremden vorübergehen. Was wäre die Welt , wenn auch nicht einmal im Himmel Wahrheit herrscht ? da vertreib dir die Zeit.
So, Alter,
Ich kann dir nicht
länger Gesellschaft leiſten. “ Wohl hatte Rainald ein Recht, sich über ſeine ausgetrocknete Zunge zu beschweren , war ihr doch seit undenklicher Zeit nicht mehr eine so schwere und langandauernde Aufgabe zugefallen und sie verdiente nun. wirklich eine kleine Anfeuchtung , doch ward er alte Herr troß seiner Biederkeit und Wahrheitsliebe nicht ohne diplomatische Kunst-
rühlingstage in Sorrent ! ... Wer diese Worte liest und Sorrento kennt, ſieht wohl ein Buch lieber Erinnerungen vor sich aufgeschlagen , ein Buch heiterer nakreontischer Poesien, in Silber auf purpurnem Grunde geschrieben, und jede neue Seite, jeden jungen Tag schmückt eine prächtige, reben- und rosengezierte Initiale ; das Herz geht ihm auf und er ruft: Herrliches Sorrento ! Seliges Leben Und er schwärmt im von Sorrento ! . . .
Geiste wieder wie einst auf den sanften Bergen in Licht und Sonne über den beiden Golfen ; schwärmt auf den blumenreichen Hügeln, wo der dunkle Lorbeer in den silbernen Delbaum hineinwächst, von Friede, von Schönheit, von allem Guten , was das Herz je beglückte und gegenwärtig erquickt ; schwärmt , versenkt im Wein , in schattigen Laubgängen seines Mädchens Atem lauschend ; umflossen vom berauschenden Dufte der sternblumigen Orangen. und Limonen. Und wer dessen nie genossen, der genießt es , das ungeftillte , uralt-germa-
Frühlingstage in Sorrent.
nische Heimweh nach Italien im Herzen, in stillem Sehnen, und er weiß bestimmt, daß man in Sorrento glücklich sein , ganz dem Leben leben, unter dem Schuße der dem Lande noch immer freundlich gesinnten Heidengötter, Bacchus und Venus, wonniger Tage in Fülle finden kann. Er kennt die süßen Verse Tassos, der hier geboren ward : O pflückt die Ros' im Schmuck der Morgenstunden Eh' Mittagsglut verzehrt den frischen Glanz! - und ein süditalischer Frühling voll Liebe und Rosen lacht durch seine Phantasie ... Auch ich habe vor Jahren , und in der Folge manches Jahr noch, solch Sorrentiner Glück in Lenz und Liebe empfinden dürfen, auch ich wandelte tiefatmend und doch wie auf
Schwingen an stillen, süßtrüben Früh lingsaben den durch den die Lüfte schwer füllenden warmen Duft der
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mußten. Die Göttin Carna, die Hüterin der Fenster und Thüren, war von meiner Schwelle gewichen, und wie gräßliche Aasvögel folgten den bleichen Schattenscharen die greulichen Strigen ; aschgrau von Gefieder, mit großem Kopf und unablässig starrenden Augen, streckten sie gierig scharfe Krallen nach meinem ängstlich pochenden Herzen aus. Zweimal rannte der Tod mich an wie ein gewappneter Mann ... So war der lange November vergangen, das Weihnachtsfest ging vorüber. Das Christfind hatte keine Gabe für mich, nicht einmal ein Mohnkörnlein des Schlafes , kein Delblatt der Hoffnung. Wilde Schüsse, die Festfreude des neapolitanischen Volkes verkündend, krachten durch die Nacht und schreckten die müde Seele. Das Weih nachtsfest ging vorüber, mit Furcht und Hoffnung wa die ren Lieben ins
neue Jahr getreten: noch im Sorrent. Orangenmer wollte gärten, ein Bild vor Augen, den Traum im der Tod meine Hand nicht lassen ... Grau Herzen, der mühlos zum Gedichte wurde und und trübe wälzte sich der Strom zwischen in hellem Sange zum Ausbruch kam . Gött- dem Hüben und dem Drüben, das in dichte liche Trägheit löste die Glieder, süßer Leicht- Nebel gehüllt war, und scharf schwang sich die sinn die ganze Seele, und die Gedanken alle Scheidebrücke über die Wogen, die ich überwurden zu buntbeflügelten Schmetterlingen ... schreiten sollte. Der Regen schlug oft tagelang Das ist nun längst dahin, kein Menschenhart an die Fenster, eintönig trommelten die alter zwar, doch nahm der Ernst des Lebens Wasser und der Sturm sang sein altes Kampflied vom tosenden Meere her: der Winter rang mich inzwischen bei der Hand, und der Schmerz reichte mir so manches Mal die Schale und ich mit dem jungen Frühling, der seine ersten meine, ich müßte sie nun ganz geleert haben. Frühlingsboten bereits ins Land gesandt. Da war der letzte Winter. Nacht war Beilchendust war es, der eines Tages mir es um mich geworden, Nacht ward es in meiner in die Seele drang; er that mir weh und ich Seele. Der bleiche Gefährte des Todes, das mußte weinen. Dann öffnete ich hin und wieder und dann tagelang die Augen und Fieber , saß an meinem Lager tagelang, wochenlang und monatelang und zeigte mir mit sah durchs Fenster im alten Klostergarten die knöchernem Finger die unendlichen Scharen Orangen reif und golden in den Bäumen der Schatten, die zur ewigen Nacht hinab- hängen, sah die breite dunkle Klostermauer BrendameerX
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Woldemar Baden.
angestrahlt vom hellen Sonnenschein, und folgte dem Wandel des Lichtes bis zum Abend, wo die Mauer sich dunkelgoldig , purpurdunkel, braun, dann grau färbte, bis die Nacht mit dunkler Hand die leßte Farbe verwischte und die Lichter aus den Fenstern glänzten. Dann waren die Unholde von meinem Lager gewichen, aber die Gedanken kamen und sprachen und fragten und dichteten in stürmischer Nacht.
Sie sammelt grausam unsern Schmerz in Schalen, Und reicht zum Trank sie , wenn wir halb verschmachtet!"
Schichten frischen Sandes bedeckten : wie das Herz , wie glühen die Wangen! Liebe lächelt vom hohen Balkon . . . brennt der Wunsch, das stolze Verlangen
mutigem Eifer auch kleine Gehübungen, müh selig genug , angestellt , doch gelang es mir eines schönen Morgens von meiner hochliegenden Terrasse aus , die ganze neapolitanische Pracht zu meinen Füßen zu erschauen : die lebenstolle Stadt, das weite blaue Meer, von
Dann sette er sich still zu mir und diftierte mir flüsternd den lezten Brief , den er von seinem allerlegten Zufluchtsorte aus geschrieben, schöne, traurige Worte: „Was doch wird mein Freund sagen, wenn er den Tod seines Tasso erfahren wird ? Diese Nachricht wird, wie ich meine , nicht lange auf sich warten Und da war Ein Gedanke, der mich nicht | laſſen, fühle ich doch mein Lebensende nahen ; mehr losließ. Ich hatte mich vor Monaten und kein Mittel mehr gibt es , diese Plage, und zulezt , ehe mich das Fieber in Feſſeln die mich zu allen anderen überkommen, zu beschlug , mit dem unglücklichen Dichter von siegen. Wie von einem reißenden Strome, Sorrento beschäftigt, und so wollte mir Tasso dem kein Damm entgegenzustellen ist, sehe ich jezt nicht mehr aus der Seele kommen. An mich hinweggerissen. So ist es nicht mehr an Leib und Seele krank erschien er vor mir, der Zeit, von einem abholden Geſchick, um nicht zu sagen von der Undankbarkeit der Welt, zu reden, wie eine köstliche verkörperte Thräne vom Him: mel geweint, eine himmlische Perle , der die die sich den Ruhm nicht hat nehmen laſſen, mich schüßende Schale versagt ist. Ich sah ihn als Bettler in die Grube steigen zu ſehen . . . “ scheiden aus dem heißen Tage, aus dem Reiche, Wieder vergingen Tage, dann kam eines Morgens der Schiffer von Sorrent , der alte dessen ewigen Besitz , dessen ewige Sonne die Muſe ihm einſt zugesichert. Alles , alles läßt ehrliche Luigi , vom biederen Gastfreund daer da draußen in der grauen Welt zurück, selbst gesandt, brachte ein Körbchen vorjähriger sehnt sich nach keinem Licht mehr , als nach prächtiger Orangen , duftiger Limonen und Mandarinen , und übergab mir einen Brief, der umgekehrten Fackel. War das nicht die Zeit , da der junge in welchem mich der Gastfreund mit herzlichen Frühling eben seine Sieben Hügel besuchen Worten einlud, sobald als möglich nach Sorwollte, war es nicht gestern , wo Tasso , ein rento zu kommen , dort in veränderter Luft müder Pilger, des Klosters Einsamkeit ſuchte? mir vollständige Genesung zu holen. Wie ein So flüchtet sich ein Kind , das der Schall milder Freudentau fiel diese Einladung auf und Schein des Tages müde gemacht , welches meine Seele. Ich träumte nichts mehr , als das Dunkel fürchtet, am Abend in den Schoß Frühlingstage in Sorrent ; die Lust zum Leben der Mutter. Wie schwül war sein Tag ge- erwachte, es erwachte die Lust , zu essen und zu trinken, dem freudigen Genießen zu leben, wesen ! Ein Wettlauf in der ſtauberfüllten ausschließlich ihm zu leben. Jezt wurden mit Arena des Lebens, deren Blutspuren nur dünne pocht Die wie nach dem Lorbeer , der dem Sieger werden soll. Ruhm, o Ruhm ! Gib mir zu trinken, betrügerisch Gespenst ! Zu trinken ! Du schwebst höher, du entschwebst! Der Ermattende greift nach des Gewandes Schatten - die Liebe hüllt sich in ihre Schleier, der Lorbeer verweht in alle Winde . . . und ein großes Orchester, lauter schnöde Fraßengesichter, sezt sich mir gegenüber, Taſſo dirigiert und in schrillen Dissonanzen ertönt es :
"1 Es sei gesegnet, wer die Welt verachtet, Denn falscher ist sie, als es Worte malen !
leuchtenden Segeln wie von blizenden Gedanken durchschnitten , die träumerische Insel Capri da drüben in bläulichen Duft gehüllt, ihr gegenüber das zackige Kap der Minerva und die felsige Küste der Sorrentiner Halbinsel, den reichen Fruchtgarten Neapels. Schmetterlinge flogen in der Sonne , Vögel sangen in den nahen Rebgärten und Kinder auf der Straße, eine lustige Militärmusik zog vorüber , und meine Sehnsucht begann schüchtern , wie ein
Frühlingstage in Sorrent.
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junger Nestvogel, ihre arg zerzausten Schwingen | ganze Welt liegt in leichte silberne Schleier Unter leichtem weichem Schleier, zu versuchen. gehüllt. Ein zweiter Einladungsbrief kam , drin- das Lächeln der Freude des gestrigen Tages gender als der erste, ein zweiter Korb Orannoch auf den Lippen, eine üppige Venus, liegt jezt hinter uns die schöne Nymphe Pargen , diesmal mit frischen , kräftig - duftenden Blüten gemengt, und nun wurde die Reise gewagt. thenope . Auf des Posilippos rebengegürteten Der alte Luigi sollte, sobald er mit seiner Hügeln ruht ihr Haupt , das durchsichtige Barke wieder nach Neapel kam , mich und Schleiergewand fließt hinüber bis zum Fuße meine fahrende Habe abholen, drüben sei alles des feuergekrönten Berges , des Opferaltars, an zu meinem Empfange bereit, nur der Speise- dem sie entschlummerte : die schlafende Ariadne zettel sollte vom Helfer in der Not , dem des Vatikans , die Gewandspange gelöst, der blühende Busen sich hebend und senkend ; vertreuen Arzte , noch festgesetzt werden. Alles , was dich nicht isset , war das Resultat , und langend atmet sie in den Tag hinein, zittert dem heiteren Weine Sorrentos sollte ich mich sie voll Sehnsucht und Bangen dem Kusse des sans peur et sans reproche anvertrauen ; ewigjungen Gottes entgegen ... Wie schön doch die Welt ! Süßes Leben . . . ich sollte leben, in den Tag hineinleben , wie eine Frühlingspflanze, wie ein Vogel , sollte Ich hatte es wohl laut gedacht und nun nichts schaffen, nicht einmal denken ; keine Tinte mußte ich auf die Erde zurück : der gute Antonio fragte nach meinem Begehr, und nun und Feder und kein Papier , ja nicht einmal ein Buch sollten mich begleiten. begann ein Plaudern über Lebende und Tote, In dem Porto di Massa lag die Barke, von Fischern und Schiffern , von Wein und Brot, von Festen und Familien : kleine Worte, die mich früher schon manches Mal getragen. kleine Interessen, ein heimliches Dasein. Wer Freundlich, fast sanft empfingen mich die altes führen könnte, wer sich aus dem Meer des bekannten lederharten Schiffer : der Antonio und der Antonino , der Giosuè und der GioLebens, aus diesem grauen Gewoge an diese vanni, und mit fast mütterlicher Sorgfalt ge- Küsten flüchten , dort Hütten bauen könnte. Aber es ist zu spät : leiteten sie mich aufs Fahrzeug, aus Jacken, Versuch's , o Seele! Decken und allen vorhandenen weichen Stoffen wer von der Lotosfrucht der großen Welt gedem müden Manne ein Polster bereitend . gessen , und wir alle haben es , denkt nicht an Zurückkunft, Es waren verschiedene sonnenbraune Männer, Frauen und Mädchen jener Küste , Bauern „ Sondern er trachtet, hinfort in der Lotophagen und Winzer, die mit überfahren wollten; die Gesellschaft Lotospflückend zu bleiben und abzuſagen der Heimat. “ Männer wohlwollend, sich wie Krankenwärter behabend, die Frauen sorglich wie barmherzige Schwestern, voll zarter Rücksicht, die sie sogar den Ton ihrer für gewöhnlich sich lebhaft-laut ergehenden Stimmen dämpfen hieß. Der tolle Hafenlärm that mir weh und erst als die Barke um die Spize des Molo bog, den frischen Wind zu fangen, ward mir wieder wohl , und die Gedanken zogen sanft und leise wie auf Taubensittichen durch die Seele. Wie auf Taubenfittichen gleitet auch das Schiff über die in keiner Welle gehobene Flut. Die Schiffer haben die kurzen Schilfpfeifen angezündet und ſizen in einer Gruppe am Hinterteil des Fahrzeuges , Luigi regiert das Steuer; die Frauen und Mädchen ruhen bei ihren Bündeln und Körben und verzehren ihre einfache Merenda. Niemand spricht ein Wort. Die Küste , das darüberragende Gebirge , der Himmel und das hohe Meer , die
Am Hofe von Ferrara hatte man Taſſo von dieser Lotosfrucht , süßer denn Honig" gereicht, und so vergaß er das Paradies seiner Kindheit. Einmal nur kam ihm der Gedanke an die alte Heimat , er raffte sich auf und wanderte in den Süden hinein , nach Neapel . Ein gleiches Boot , mit ähnlicher Bemannung und Gesellschaft, wie sie das meine hat, trägt ihn dieselbe Waſſerbahn hinan , hinüber nach Sorrento, wo ihm die Schwester wohnt. In Goethe's Drama erzählt er diesen Tag : „Ich eile nach dem Ufer, finde dort Gleich einen Kahn mit willig guten Leuten, Mit Bauern, die zu Markte kamen, nun Nach Hause kehren, Leute von Sorrent, Denn ich muß nach Sorrent hinübereilen, Dort wohnet meine Schwester, die mit mir Die Schmerzensfreude meiner Eltern war . Im Schiffe bin ich still und trete dann Auch schweigend an das Land ..."
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Woldemar Baden.
Das war im Jahre 1577. Drei Jahr- und allem Leiden. Damals war Attis ihr Liebling. Aber er starb , um in den seinem hunderte sind über diese Küste hingegangen, wenig aber mag sich seit jener Zeit an der Blut entsprießenden Beilchen und in der Fichte kleinen Marine verändert haben. Das Kirch weiterzuleben. War ihr späterer Liebling Tasso, dann lebt er in den Sorrentiner Lorbeerlein von heute ist dasselbe von damals , wo es S. Leonardo hieß, die Waſſer der Schlucht | bäumen weiter. Er wäre dann vielleicht bei trieben einige Mühlen , seitwärts lagen die seiner Sorrentiner Landung vor den lezten Reste des Tempels der Venus Victrix , wo Rest des Tempels der geliebten Mutter , eine verwitterte Ara , im Turme des Doms noch einst Virgil den Göttern einen marmornen Amor gelobte , wenn es ihm gegeben würde, heute vermauert, hingetreten und hätte gebetet : seine große Dichtung zu vollenden. An diesen „" O Kybele, heut versteh' ich, warum dir, der mußte Tasso vorüber. Dachte er jener Zeit, Göttin der Lust und des Schmerzes, der Tempel errichtet ward . Du bist Gattin des Kronos, der Zeit, wo in Sorrento noch die Griechen, dann die Römer wohnten ? Von den Sirenen, eine fruchtbare, aber unglückliche Mutter, deren den Musen der See , hat Surrentum seinen Kinder vom eigenen Vater getötet wurden, Namen erhalten , von diesen Fabelwesen , die und deiner Klagen und unserer Thränen sind verführerisch und verlockend, schön und tückisch kein Ende. Laß uns alle glücklich sein im Schmerz !" Er sprach es nicht dies Gebet, waren, wie die glatte Spiegelfläche des Meeres, er richtete es an die Mater dolorosa, denn : welche die Gefahren des Schiffers , SchiffDa sißen sie, bruch und Tod verschleiert. „Längst ja trieb der Apostel den heiligen Dienſt der Natur aus --zukunftskundig, weibliche Dämonen, und ſingen Doch es verehrt sie das Volk gläubig als Mutter von ihren feuchten Blumenwiesen süße mächtige des Gotts. " Aber der Gesänge über die Wellen hin. derer, Strand liegt voll bleichender Gebeine Tasso gehörte , ein gläubiger Katholik, die hier scheiterten : es ist der Strand der ganz der Gottesmutter an , glühend verehrte er sie, und die Triumphierende feiert sein Lied . Küste jenes Meeres , das die Welt vorstellt, und der süße Gesang verwandelt sich in Toten- | Christlich hoch war sein Ziel, Ernst und ErAber sein Herz war flage, denn Persephone schickte sie, Klagende mit habenheit sein Wesen. ihrer leidensvollen Stimme zu unterstützen. voll Leidenschaft und mit dieſem heißen Herzen Der Dichter versteht den Sinn der Sirenen= wollte er die kalte, glatte Welt, wollte er gar sage : anziehender Reiz durch Schönheit und das schnöde, gleißnerische Hofleben von Ferrara So mußte in Ferrara dies Herz Liebe , und bezaubernde Ueberredung durch missen. Sprache und Gesang bedeutet ihr Wesen, und leiden und brechen, und die Sonne des Glückes so darf man ihr Bild auf Gräbern schöner verdunkelte sich, nachdem sich seine Augen im Mädchen oder auf denen der Dichter finden. | lichtvollen Reiche der Dichtkunſt irdischer geTasso grüßt die Sorrentiner Sirene mit weh- | wöhnlicher Sorgen entwöhnt hatten. Wohl sind die Natureindrücke Sorrentos angethan, mütigem Gruße : unseren müden Geist zu erheben , ihn auf Sassel a gloriosa alma Sirena Appresso il cui sepolcro ebbi la cuna ; Pfade des heiteren, glücklichen Daseins zu leiten ; Così avuto v'avessi o tomba o fossa! schon so manchen Kummer haben sie gelindert, manche Thräne getrocknet, manche dahingewelkte In jener griechisch-römischen Zeit standen Hoffnung zu neuen Keimen gebracht , denn in Sorrento auch noch die Tempel Apolls hier, fern der staubigen Arena der Welt und und Neptuns, und ein Heiligtum der Kybele, ihrem Geschrei , wohnt der Friede, hier mag der großen Mutter , der die schwermütige die Seele des lagerentwöhnten , umgetriebenen Cypresse heilig war. Ihr Liebling war Attis , dieses reizende Symbol vollkommener Schöne, Mannes ruhig Anker werfen. Tasso vermochte das nicht mehr. Ferrara suchte seine aber auch der ganzen Hinfälligkeit und ArmSeele den nächsten Tag schon, Ferrara und seligkeit des Lebens mit seinem endlosen Hin-Leonora. Seufzer und Grüße der Liebe und Herschwanken, dem schwachen Rohre gleich, sendet er von seiner Klippe aus gen Norden zwischen Lenz und Winter, Lust und Schmerz, Geburt und Grab , mit seinen Thränen der und aus den Sorrentiner Tagen stammt das Sonett voll Sehnsucht : Freude und des Schmerzes , mit aller Liebe
Frühlingstage in Sorrent. Lontananza amorosa. Trennt auch der Himmel mich von dir, der Einen, Kann er das Herze doch getrennt nicht halten, Und unſers Herrſchers Amor freundlich Walten Wird es mit deinem jederzeit vereinen . Muß auch im großen Schmerz es trostlos weinen, Kann nimmer seine alte Glut erkalten, Und darf es fliehend seine Schwing' entfalten, Kommt es zur Ruhe auf der Brust, der deinen. Was hilft es mir, zu klagen und zu bangen, Wenn nie ich schau' , wohin das Aug' ich wende, Ach, deines reizenden Gesichtes Prangen ! Wann endlich gibt der Himmel mir zum Lohne, Bewegt durch meine Seufzer ohne Ende, Daß wiederum in deinem Licht ich wohne ? So trieb es ihn bald wieder fort , er ging, frank, wie er gekommen , vom Unglück auf Schritt und Tritt gefolgt, wie von seinem Schatten. Wie konnte er Genesung finden, und wo? Ich fand sie , fand sie voll und ganz. Bei meinem Landen wehte mir die reine starke Luft entgegen, ich trank sie in vollen Zügen , und in meinem neuen Heim wohnte der Friede , die Ruhe , das Glück. Wie aus der Welt verloren , saß ich unter dem stillen Dache des Gastfreundes, und niemand sollte mich suchen. Ein Vogel im Neste war ich, warm, sonnig und bequem wölbte sich dieses um mich, aus jungen Reben- und Feigenblättern, aus Orangen und Oliven gebaut. Ich duckte mich, ich machte mich klein, ich vertraute mich einzig den geliebten Bäumen an und fühlte mir die heißen Schläfe in ihrem Schatten. Aber allein war ich nicht. Mein Gastfreund, der Bauer Don Giovanni, ein echter guter Sorrentomann , seine Frau, eine Tochter der Insel Ischia , ſtanden mir tren wie Vater und Mutter zur Seite , und in der beiden reizendem Töchterlein, der glutenaugigen Mariannina, hatte ich das herzigste Schwesterlein gefunden. Sie hatten eine große Sorge, die dauerte vom frühen Morgen bis in die Nachtstunden hinein, den fremden Vogel zu füttern, zu tränken, ihn weich zu betten, ihn zu sonnen und in den Schatten zu stellen,
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Teller zerbrach. Meine übrigen Hausfreunde waren ein weißes Hündchen , eine schwarze Katze, und im Bauer über dem Garten eine Blaumerle, die eben die ersten Vorſtudien zu ihrem Frühlingskonzert machte. Ich half ihr pfeifen, sie antwortete, der ganze Frühling draußen vor den Fenstern , von den nahen. Bergen herunter, antwortete und tausend alte Frühlingslieder, die ich längst vergessen ge= wähnt, fingen wieder an zu klingen : Heine, Uhland , Eichendorff wurden lebendig und die Notenköpfchen der Melodien schauten mich an wie junge Rosenknospen , die eben springen wollen. Draußen waren sie aber in Wirklichkeit schon gesprungen , an den Veilchen, Levkojen, Rosen und Orchideen, und wo diese versteckt standen, da verrieten es die ob ihnen fliegenden Frühlingsfalter, und ich konnte jeden. Tag einen frischen Strauß mit nach Hauſe bringen. Die Stadt Sorrento selbst und ihren Markt hatte ich bisher noch gemieden, und gern wollte ich auch die leßte Schmach , die man dem unglücklichen Dichter nach seinem Tode angethan, seine abscheuliche Statue, nicht mit Augen schauen. Mir klangen die Verse Paul Heyses aus seiner Sorrentiner Epistel an Scheffel durch den Sinn : „Dann die Piazza - traun, du kenntest Einzig an der Schlucht sie wieder, Die von Brücke überwölbet Schauerlich zum Meer hinabsinkt. Rings umher stehn neue Häuſer ; Auf dem Ehrenplay inmitten Unter Kutschern, Eſeltreibern, Müßig lungerndem Gesindel Tassos weißes Marmorſtandbild, Halb ein Lanzknecht, halb ein Geck. Armer Dichter ! Noch im Tode Spürt er seines Unſterns Walten, Und von allen Marmorſtümpern Fiel dem Gröbsten er anheim . . . “
Wie höhnend gesellten sich diesen deutschen die italienischen Verse Costantinos , des Freundes Tassos : " Amici , questi è il Tasso : io dico il figlio ! " Nein, das ist er nicht, und dieses Jammerbild muß man aus seiner Phantasie verscheuchen, um sich das Bild des Poeten wie es gerade seine Augen aussprachen , und vorzustellen, dem der Tod zwar den ihm zufreuten sich in ihren Mühen über meine ersichtliche Freude und der eben so ersichtlichen | gedachten Lorbeer entriß , der aber auf seiner Stirn trägt: Genesung. Margherita, ein derbes Weib aus ,,Di stelle immortali aurea corona. " den Bergen, war die Magd , die in plumper Auf diesem Plage aber sucht man den Gutmütigkeit, so rasch und so geschäftig wie möglich zu sein , manches Glas und manchen Frühling nicht, der wohnt hinter den Mauern,
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Gerhard von Amyntor.
in den Gärten, auf den Berghängen, wo jezt „Bildung macht frei !" die Orangen in unzähliger Fülle hängen und ihren Saft an der sich täglich steigernden FrühVon lingssonne kochen lassen. Dorthin wanderte Gerhard von Amyntor. ich jest täglich und jeden Tag bereitete mir der Frühling ein neues Fest und jeden neuen Morgen durchbebte es mich wie süße Hochzeitsfreude, wenn die Läden geöffnet wurden eberhandnehmende Quackſalberei, Wunderdoktorei und und Geheimmittel-Krämerei ist und die Sonne vom Monte Santangelo herab eines der vielen Zeichen unserer sich mit großem über die goldene Früchtepracht mir aufs Bett Selbstbewußtsein „ aufgeklärt“ nennenden Zeit. schien und ich mich zu einer kleinen WanDa der einträgliche Handel mit allerlei symderung rüstete. Mir war alles neu, es war, so däuchte es mich , der erste Lenz , den ich pathetiſchen oder weit über den Wert zum Kauf erlebte, und die Worte des Hohenliedes auf gestellten Heilmitteln die Dummheit der Käufer den Lippen - ich sprach sie, ich sang sie, ich zur Voraussetzung hat, so könnte man versucht. sein, einen allgemeinen intellektuellen Rückgang pfiff fie- „ Siehe der Winter ist vergangen , der Regen ist weg und dahin; die Blumen der jest lebenden Generation anzunehmen; ich sind hervorgekommen im Lande , der Lenz ist glaube aber, daß dies ein unberechtigter Schluß herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich wäre und daß vielmehr nur die gesteigerte Thätighören in unserem Lande ; der Feigenbaum hat feit unserer Tagespresse, die Vermehrung ihrer Knoten gewonnen, die Weinstöcke haben Augen Organe und die enorme Erleichterung einer gewonnen und geben ihren Geruch" diese wirksamen Reklame den Pfuſchdoktoren und HeilWorte auf den Lippen trat ich zu den Winzern, mittelschwindlern größeren Vorschub leiſtet als die hoch in den Bäumen standen, die üppigen früher. Oliven schneidend , die flatternden Weinreben Diesen Pseudohelfern aus Leibesnöten stehen. festbindend, singend die alten traditionellen die Charlatane zur Seite, welche im Besitze der Ritornelle, und plauderte und lachte mit ihnen, Mittel zu sein behaupten, die das Volk aus von Herzen ein Kind. Und damit ich doch der geistigen Nacht erlösen sollen. So mancher nicht ganz umsonst auf der Welt war , so Profeſſor oder Journaliſt oder politiſche Parteifüllte ich das Körbchen , das mir die liebe führer hat das Rezept fix und fertig in der Adoptivschwester mitgegeben, mit den köstlichsten Tasche , nach welchem aller geistigen Not der Früchten und aß davon nach Herzenslust und Massen ein Ende gemacht und die siegende Freiso lange, bis der besorgte Vater mich aufzu- | heit auf den Thron der Welt erhoben werden hören bat, weil ich mir unbedingt den Appetit kann, und die auf der Tenne parlamentarischer zu unserem heiteren Pranzo verderben und die Schönrednerei unzähligemalige ausgedroschene so reichlich sorgende Mutter beleidigen würde. Phrase: Bildung macht frei" iſt zum So ging ein Monat dahin , ein voller FrühSchiboleth gewisser , im Sturmschritt marlingsmonat. Ich habe in ihm nichts, auch gar schierender Parteien geworden. nichts erlebt , was wie irgend ein Abenteuer Wie in allen Schlagwörtern, so steckt auch ausgesehen hätte, nur Frühlinghaftes , dies in diesem ein Maß von Wahrheit und zwar aber voll und schön , wie man es vielleicht nicht nur ein Körnchen, sondern eine ganze nur dort drüben ich size jest wieder in Handvoll; ja, man kann die Phrase ohne Einmeinem Hause unterhalb St. Elmo und sehe schränkung als eine Panacee gegen alles Uebel sehnend die blaue Sorrentoküste - wie man es dieser Welt acceptieren, wenn man sich vorher nur dort erleben kann. Wäre ich ein Römer über den Begriff des Wortes „ Bildung" verund lebten wir im Altertume, ich würde eine ständigt hat. Gewiß ſoll ein jeder Menſch BilVotivtafel an jenem Hause aufhängen , das dung zu erringen streben; er soll nicht nur sich thut man nicht mehr , aber meine Frühlings- | ſelbſt bilden, ſondern er ſoll auch seine inferioren tage von Sorrento sollten doch nicht ohne Mitmenschen zu bilden und dadurch das Reich Denkmal bleiben. der wahren Vernunft, d. i . das Reich Gottes schon hienieden herzustellen suchen ; nur muß diese Bildung nicht bloß dem Kopfe, sondern
,,Bildung macht fret !"
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auch dem Herzen zu teil werden; sie muß | blütige Thaten des Herzens umzusehen. Wer noch so scharfsinnig zu spekulieren , noch so nicht nur eine Bildung der Erkenntnis , sondern auch der sittlichen Kraft sein. Dank haarspaltend seine Forschungsobjekte zu zerunserem wohlorganisierten Schulwesen befinden legen versteht, und hat keine Liebe im Herzen. und bleibt dem Elende und den Thränen einer wir uns an der Spiße der gebildeten Nationen und mit Stolz weisen wir auf unſere ſtatiſti- Welt gegenüber ungerührt, der ist ein intellektuell abgerichtetes Menschentier, nichts mehr, und all ſchen Tabellen, nach welchen unter den Tausenden und aber Tausenden, die zum Heeres- sein Wissen wiegt die Bildung eines Tagelöhners nicht auf, der das Herz auf dem rechten Fleck dienste ausgehoben werden, nur ein den andern Nationen gegenüber verschwindender Bruchteil hat. Bildung macht frei, gewiß ! Aber nur die von Analphabeten existiert; und dennoch ist es universelle Bildung des ganzen, erkennenden und kaum zu glauben, ein wie ungeheurer Prozent- fühlenden Menschen ; einseitige Verſtandesdreſſur sag unserer Mitbürger aller und jeder Herzens- macht unfrei , sie erzeugt Sklaven der Leidenbildung entbehrt , wie erschrecklich die Roheit schaften, Heloten gemeinster Selbstsucht, Unaller Art zunimmt, wie furchtbar sich die scheuß- | geheuer jeder Art. lichsten Brutalitätsverbrechen mehren. Wenn ein Die Nichtbeachtung des Grundgesetzes von intellektuell gebildeter Menſch vor den Schranken | der Polarität der menschlichen Natur zerstört des Gerichtes steht wegen Handlungen, gegen jedesmal die Harmonie ihrer Erscheinungsform ; dies zeigt sich nicht nur auf dem Gebiete philoderen nähere Bezeichnung sich die Feder sträubt, so werden wir unwillkürlich daran gemahnt, sophischer Spekulation , sondern auch auf dem weiten Felde praktischer Thätigkeit . Der Poliwie wesentlich die Allgemeingiltigkeit des Sayes „Bildung macht frei " einzuschränken oder wie tiker, der sich auf Kosten seines Herzens in universell der Begriff der Bildung zu erwei- das Prokrustesbett irgend einer sozialen oder tern ist, um die Wahrheit jenes Sazes zu ökonomiſchen Doktrin einzwängt, läuft Gefahr, retten. ein bewußtes Scheuſal zu werden. Die hartnäckigste Verranntheit in irgend welches politiſche Das ebenso tiefe als schöne Wort Jesu Christi: „Lasset die Kindlein und wehret ihnen Credo bleibt so lange unbedenklich , als sich ihren Bethätigungsbemühungen das ehrliche nicht, zu mir zu kommen, denn solcher iſt das Streben nach Herzensbildung zugesellt; ein Himmelreich" zeigt uns den Weg, wie wir Menſch der radikalſten Richtung, der ein gebildetes, zu dem allein richtigen Verständnis der freiheitfördernden Bildung gelangen können ; jede zart empfindendes Herz im Busen trägt, kann ein Gentleman sein und auf unsere Achtung andere Deutungsart läßt die Phrase eben eine Phrase bleiben, eine glänzende Nichtigkeit, und Teilnahme gerechte Ansprüche erheben ; erst eine heuchlerische Unwahrheit. Warum spricht wenn das Ethische in ihm unter dem Wust der Menschensohn den Kindern das Himmel- | seiner Weltverbesserungstheorieen verschüttet und erſtickt iſt, erst dann wird er zur Bestie, die reich, d. h. das Reich der wahren Freiheit zu ? den Meuchelmord predigt und zu jenen SchandGewiß nicht wegen ihrer intellektuellen Bildung! sondern weil sie, statt wissend zu erkennen, und Schauerthaten fortschreitet , die unserem erst glaubend ahnen ; weil ihnen das gesunde | Zeitalter abwechſelnd die Röte der Scham und die Blässe des Entseßens ins Antlig maken. Herz noch nicht durch einseitige Dressur des Hirnes verkrüppelt ist. Wie die einseitige Verstandesrichtung und Kalte, unfruchtbare Erkenntnis ohne den die Loslösung ihrer Postulate von dem veredelnden Einflusse eines gebildeten Herzens den warmen Pulsschlag eines veredelten Herzens ist die Hölle; wer sich selbst in solcher Hölle | Menschen zulezt bildungsfeindlich macht und zu leben verurteilt, wird zum Monstrum, zum zum reißenden Tiere depravirt, das zeigen. schwarz auf weiß die Offenbarungen unserer Kakodämon. Selbst einen Meiſter tiefster Gelehrsamkeit nennen wir erst dann gebildet, wenn vorgeschrittensten und konsequentesten sozialer auch sein Herz gelehrt hat mitzufühlen mit demokratischen Preßerzeugnisse; in einem Artikel dem Herzen seines Nächsten, sich zu freuen mit der " Freiheit“ wurde vor einiger Zeit zur Ausden Fröhlichen und mit zu weinen mit den rottung jener „ erbärmlichen Brut “ aufgefordert, die sich aus Fürsten, Miniſtern, Staatsmännern, Traurigen, wenn er die große Kunst gelernt hat, alle Funde subtilster Tenkarbeit in warmPrälaten, Offizieren, Richtern und Advokaten, 28
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Gerhard von Amyntor. „Bildung macht frei !“
es ein Mord, ein Seelenmord an dem heranJournaliſten und Bourgeois zuſammenſeßt. Vor dem Mordſtahl und der Dynamitpatrone soll also | wachsenden Geſchlechte wäre , wenn man dem Geschrei der flachen Köpfe und kurzsichtigen nur der sozialdemokratische Haufe und die rudis Neuerer nachgeben und aus den Schulen den indigestaque moles der ungelehrten Menge Religionsunterricht verbannen wollte. Nur wer verschont bleiben ; das ist die Freiheit, die jene arbeiten und beten gelernt hat, nur ein solcher einseitige Bildung anstrebt, und es sieht wie grausame Ironie aus, wenn der heilige Name | hat sich das mögliche Maß irdischer Freiheit errungen; nur dem , der seine intellektuellen der Freiheit als Titel über dem Organe einer so hirnverbrannten und blutdürftigen Doktrin Kräfte geübt und entwickelt, sein Wissen bereichert, aber auch die Ueberzeugung gewonnen steht. hat, daß jede Erkenntnis ohne sittliche Kraft Bildung macht frei, ja ! aber nur die gleich zeitige Bildung von Kopf und Herz. Es scheint | und ohne Liebe zu Gott und dem Nächsten nicht an der Zeit, dieſe alte Wahrheit immer wieder ein Segen, sondern ein Fluch ist , nur einem aufs neue zu predigen, bis sie die Spaßen von solchen werden wir echte und rechte Bildung den Dächern zwitschern. Sie ist manchem ver- zugestehen. loren gegangen. Es gibt Bildungsfanatiker, Es ist ein Jammer, anzusehen, wie schlecht welche unsere Schulen reformieren und auf beratene Eltern und Erzieher ihre Kinder und Pfleglinge in immer mehr beschleunigter Hast Kosten des Herzens nur die Köpfe unserer Kinder mit totem , abstraktem Lehrstoff übermit toten Kenntnissen vollzupfropfen suchen füllen wollen. Mancher sogenannte Gebildete und dabei des Seelenhungers dieser Kleinen hat es vergessen, daß gerade die Jugend das ganz vergessen. Das Leben sei ein Kampf, lebhafteste metaphysische Bedürfnis hat ; er will sagen sie, ein Kampf ums Dasein ; die Konfurrenz der wachsenden Bevölkerung mache dieſen ihr die beseligenden Mysterien der Religion Kampf immer erbitterter und rücksichtsloser, der vorenthalten und statt dessen eine Vermehrung Sieg werde immer schwieriger ; da gelte es, den der mathematiſchen und naturwiſſenſchaftlichen Verſtand der Kinder schon früh zu wecken und Lehrstunden aufbürden. Wir sind Feinde jedes immer gründlicher zu drillen, damit sie für das Gewissenszwanges, jeder konfeſſionellen Selbſtgerechtigkeit, jeder Ueberhebung und Unduld- | Konkurrenzgemeßel nur ja recht zeitig geschickt gemacht würden ; die ethischen Postulate der samkeit; wir laſſen jeden nach seiner Façon Religion seien ein Luxus , zu dem Zeit und ſelig werden und ſehen das Wesen einer reliMittel der harten Gegenwart nicht mehr ausgiösen Unterweisung unserer Kinder weder in reichten ; wenn „ der Junge " nur was Tüchder Belastung des Gedächtnisses mit totem Memorierstoff noch in der Anleitung zu einer tiges lerne , dann werde er schon seinen Weg machen ; alles übrige werde sich von selbst liebeleeren Haltung gegen Andersgläubige ; wer finden. Mit solchen Ansichten, sagen wir es aber mit der Religion überhaupt tabula rasa machen und statt des Brotes derselben den rund heraus, bildet man Zuchthauskandidaten. jungen Seelen nur den Stein chemischer Formeln und mathematischer Säße bieten will, der stellt eine knospende Pflanze aus dem Sonnenlichte in den Keller, um sie dort zum Blühen zu bringen. Die Religion, die geheimnisvolle aber jedem denkenden Wesen eingeborene Beziehung zur Gottheit, ist der wahre Sonnenschein, in dem allein die sittlichen Keime der Kindesseele gedeihen und zur Reife gelangen können, und so sehr es uns geboten scheint, daß die lernende Jugend der Gegenwart weniger mit griechischen Aoristen gequält und mehr mit den Wundern der täglich reicher erschlossenen Naturgesetze bekannt gemacht werde, so will es uns doch bedünken , daß man das eine thun und das andere nicht unterlassen soll und daß
Wehe dem Menſchen, der in der Pracht einer Lenzlandschaft , eines Sonnenunterganges oder des gestirnten Himmels einer Winternacht nicht mehr sieht, als die Zeichenschrift unwandelbarer Naturgeseze ! der in der Welt nur noch ein ſtarres perpetuum mobile, ein ſich ſelbſt aufziehendes und ergänzendes Uhrwerk erblickt, und den die ahnenden Schauer der entzückten Seele nicht zu einem Gotte tragen, der hinter dem Kosmos verborgen ist! Wie der Mensch diesen Gott benennt, ob er ihn antropomorphisch definiert und mit den höchsten menschlichen Qualitäten ausrüstet , ob er ihn als unnahbar und unfaßlich mit irgend einem . Worte der philosophischen Terminologie be= zeichnet, wir sind weitherzig genug, darin keinen
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Unterschied zu machen und der individuellen | laſſen : Bildung macht frei, aber nur jene BilVernunft keine ausschließliche Formel aufzu- | dung von Kopf und Herz , welche , wie ein zwingen ; aber aus tiesinnerster Ueberzeugung elektrischer Strom zwischen zwei Polen, das milde Licht der Gottesliebe erzeugt! sagen wir mit dem Pfalmiſten : „ Die Thoren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott" , und wer eine junge Seele bilden will , der wende sie nicht von diesem Urquell aller Liebe und aller Freiheit ab! Bildung macht frei -ja und wahrhaftig! Unsere Fischtorpedos. aber nur jene Bildung, welche dem reifenden Bon メリ und früchtetragenden Geiste ein kindliches, d. i. ein gläubig ahnendes Herz erhält. „ Laſſet die Kindlein zu mir kommen !" Uns ist jenes Das aus den während der letzten Jahrzehnte berühmte und berüchtigte Wort Stahls : „Die so außerordentlich veränderten VerhältWissenschaft muß umkehren," wenn wir auch nissen des Seekrieges hervorgegangene moderne zugeben wollen, daß es absichtlich parador geTorpedowesen, nimmt in der Entwickelung unfaßt war, immer als ein unglückliches Dryserer Marine eine ganz bevorzugte Stellung moron, als ein scharfsinniger Gallimathias vorein. Unverkennbar widmet die Admiralität gekommen. Die Wissenschaft darf nie die Magd einer Vergrößerung der Torpedoanlagen und der Religion sein; sie ist ihre freigeborene einer bedeutenden Vermehrung ihres Materials Tochter; und wenn sie verwegen auf die höchſten großes Interesse. Zwar ist von der schon und halsbrecherischsten Schwindelpfade flimmt, öfters geplanten Anlage einer Fischtorpedoman soll sich ihres Mutes und kalten Blutes werkstätte bislang noch immer Abstand gefreuen, ihr Glück auf den Weg wünschen und nommen worden , dafür aber die genehmigte nimmermehr ein Zurück zurufen. Wohl aber Reichstagsvorlage der Errichtung von Torpedosoll man die Erträge der wissenschaftlichen Reparaturwerkstätten nunmehr vollständig zur Forschung mit der Stimme des Gewissens und Ausführung gekommen und somit eine Unabden Geboten des Sittengesetes in Einklang hängigkeit vom Auslande für den Fall eines bringen; der Kopf muß durch das Herz immer Krieges, wenn die Neutralitätsverhältniſſe die reguliert werden ; die Wiſſenſchaft verabsolutieren Ausfuhr von Kriegsmaterial aus anderen und sich der Ethik verschließen, das heißt den Staaten verbieten, gesichert. Angesichts der Ast absägen, auf dem man selber sigt. Wohin bedeutsamen Wichtigkeit , welche den Fischdie Verabsolutierung der Wissenschaft führen torpedos in einem Seekriege zwischen milikann , das ließe sich an dem Beispiele eines tärisch gebildeten Staaten ohne allen Zweifel Phyſiologen erhärten, der etwa am Leibe seiner zufallen wird , ist seine denkbar größte Vereigenen Mutter die gewaltsame Bivisektion vollvollkommnung das Ziel auf dem Gebiet des zöge, um irgend einem interessanten LebensTorpedowesens , welches von allen Marinen prozesse auf die Spur zu kommen. Der Komauf das eifrigste verfolgt wird. Und es muß promiß zwischen dem bereicherten Geiste und das Bewußtsein ein nationales Interesse sein, dem zart besaiteten Herzen, das ist der Schlußdaß , wenn auch nach mancher Seite hin die stein aller Bildung ; Wissenschaft und SittenEntwickelung unseres Torpedowesens gegengesez heißen die Paten, welche die Freiheit über den großen vielseitigen Anstrengungen der eines Menschen aus der Taufe heben. Könnten britischen Seemacht, der italienischen und ruswir die Sonne inniger und vertrauender Gottessischen Marine auf diesem Gebiet im Rückliebe aufgehen machen über unserer schwerverstande ist, unsere leitende Behörde in hohem finsterten Zeit: das Elend wäre beseitigt , die Grade jedoch seinem vornehmsten Sprößling, Ketten der Sklaverei wären zerbrochen und ein dem Fischtorpedo , eben wegen seiner für die neuer Völkerfrühling würde tagen. In alle Häuser, in denen Menschen gesellig wohnen, in die Hütten und Paläste , aber auch in die Lazarette und Gefängnisse, in die Bergwerke und Fabriken, wollen wir den Ruf dringen
¹) Hinter diesem Signet verbirgt sich ein namhafter Kenner unserer maritimen Verhältnisse, dessen amtliche Thätigkeit ihm aber nicht gestattet, sich zu D. R. nennen.
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Verhältnisse unserer Marine großen einschlagenden Bedeutung ihre Aufmerksamkeit widmet. Die deutsche Marine war überhaupt auch die erste , welche hinsichtlich der Einführung der Fischtorpedos energisch vorging. Der Erfinder dieser furchtbaren submarinen Waffen ist bekanntlich der Engländer Whitehead, welcher der deutschen Regierung seine Idee für 210,000 Mark im Jahre 1869 verkaufte. Kurz darauf wurde der Fischtorpedo von der englischen Marine adoptirt, der dann die russische und französische folgten. Jetzt haben nahezu schon alle Marinen die Fischtorpedos eingeführt, welche sie von Whitehead in Fiume beziehen. In der englischen Marine werden diese Torpedos ,,Whitehead- Torpedos " genannt, während unsere Marinebehörde sie zum Unterschiede von denen der anderen Marinen " Fischtorpedos “ offiziell bezeichnet ; eine Benennung, die auch zu dem Wesen der Waffen und ihrer äußeren Erscheinung sehr passend ist. die feinsten Konstruktions -Details dieser Waffen deckt sich ein tiefes Geheimnis, wie man auch stets die Details der Versuche mit vorgenom menen Verbesserungen und Neuerungen an ihnen in einen dichten Schleier zu hüllen weiß. Die Presse ist dieser neuen , unerprobten und geheimnisvollen Zukunftswaffe nur selten nahe getreten ; was über sie bislang geschrieben, entbehrt großenteils der Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit, da eine genaue Kenntnis der Waffen fast nur bei den eng mit ihnen Beteiligten zu finden ist. Betrachten wir aber dieses offizielle Schweigen , welches unsere leitende Behörde selbst gegenüber allen Offizieren der Marine beobachtet , die nicht speziell im Dienste dieser Waffe ſtehen, von einem Standpunkt, der es unserer gewiß nicht allein da= stehenden Ueberzeugung nach fraglich erscheinen lassen möchte , ob es jetzt , wo fast alle nennenswerten Marinen den Torpedo bereits erworben haben , und er also , eigentlich gar nichts Geheimes mehr hat, noch zweck mäßig sei , ihn einiger Spezialisten wegen so außerordentlich geheim zu halten. Abgesehen davon, daß in Folge der ängstlichen Geheimhaltung der Apparate die Seeoffiziere, welche nicht zum Dienst mit ihnen kommandiert werden, zu wenig Gelegenheit finden , teils durch die Praxis, teils durch eine Litteratur, die aber auch aus demselben Grunde nur verkümmert existiert, sich zu informieren und ein fest begründetes
Urteil über die Waffe zu bilden, kann auch ein öffentlicher Meinungsaustausch nicht stattfinden, wie er über Verhältnisse des Landheeres nicht nur erlaubt, ſondern seiner Zweckmäßigkeit wegen sogar erwünscht ist. Eine Beschreibung des Inneren dieser ingenieusen Kriegswerkzeuge kann daher auch nicht ein vollständiges Bild aller ihrer Mechanismen darstellen , wenn sie auch , bis zur äußersten Grenze des Möglichen gehend, eine zutreffende Vorstellung von dem kunstvollen Werke erwecken dürfte. Unsere Fischtorpedos, mit denen man vom Lande aus , oder von Bord eines Schiffes und eines Bootes schießen kann, eine Manipulation, welche man auch Lanzieren nennt, sind stählerne Gefäße , welche die Form einer Zigarre haben (Fig. 1 ), die an dem einen Ende nahezu haarscharf zugeht und eine Länge von 14 Fuß oder eine solche von 19 Fuß mit einem Durchmesser von 14 resp . 19 Zoll haben, während das Gewicht 250 resp. 350 kg beträgt. (In Rußland sollen Torpedos von 25 Fuß Länge vor einiger Zeit gefertigt worden sein.) Die Farbe ist, auch hierin der Zigarre entsprechend, braun. Das Innere des Körpers ist in drei Abteilungen geschieden, welche die Bewegungs- und Thätigkeitsorgane der Maſchine in ſich führen. Die vorderste Kammer (Fig. 2 , e) , welche am Kopfende des Torpedos liegt, enthält in einer Sprengbüchse den Zünder und um diese herumliegend die aus 25 bis 30 kg Schießbaumwolle bestehende Sprengladung. Die zweite Abteilung (c) enthält das eigentliche Konstruktionsgeheimnis des Fabrikanten , das Instrument, welches den Torpedo auf die verschiedenen Wassertiefen einstellt und in demselben fest= hält. Dasselbe besteht aus einem schweren Pendel, dessen horizontal liegende Arme das Gleichgewicht der einzelnen Seiten innezuhalten bestrebt sind. Die dritte Kammer (d) enthält das Reservoir, in welchem man die zum Treiben der Maschine notwendige atmoſphäriſche Luft komprimiert; bei dem hohen Druck , den die Wände dieser Kammer auszuhalten haben, ist es bedingt, daß sie von außerordentlicher Elastizität und Güte sein müſſen. Dieſem Luftreservoir solgt die vierte Abteilung mit der Maſchine, welche die Schraube am Schwanzende des Torpedos in Bewegung seßt. Auf den Kolben dieser Maschine lastet also der Druck der komprimierten Luft in der dritten Abteilung, jedoch nicht vollständig. Es würde
Unsere Fischtorpedos.
im anderen Falle die Thätigkeit des Kolbens anfänglich eine rasende sein; sie würde aber bald progressiv abnehmen und nach kurzer Zeit verbraucht sein. Daß dieses nun aber nicht geschieht, dafür sorgt ein höchst sinnreicher Luftverteilungsapparat, welcher den Austritt der komprimierten Luft derartig reguliert, daß, je nach der Geschwindigkeit, welche die Maschine und damit der Torpedo erreichen soll, immer nur ein Druck von 18 bis 40 Atmosphären
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auf dem Kolben lastet, der auf einen solchen von 65 bis 70 Atmosphären eingerichtet ist. Die Entfernung , welche der Torpedo durchlaufen soll , wird außerdem noch durch eine Einstellung, welche die Anzahl der Umdrehungen der Schraube (b) bestimmt, reguliert. Hat die leştere die der eingestellten Distance entsprechende bestimmte Anzahl Umdrehungen gemacht, so wird die Maschine selbständig gestoppt. Neuerdings haben unsere Fischtorpedos zwei
Fig. 1. Fisch.Torpedo von außen. a Steuer Klappen. b Schraube zum Fortbewegen des Torpedos. vierflügelige Schrauben erhalten, welche, hinter einander sigend, gegeneinander sich bewegen. Zur Regulierung des Laufes dienen zwei Ruder (a) ; eines dieser hat den Spezialzweck, das Heben und Senken des Torpedos zu veranlassen und zwar in die Höhe resp. Tiefe , für welche er eingestellt ist und in welche er durch eine zu scharfe Lanzierung nicht immer gleich gelangen kann es liegt horizontal ; das andere dient nur zur Innehaltung der Seitenrichtung, wie ein gewöhnliches Ruder, und steht senkrecht. Das Aeußere des Körpers ist spiegelglatt. Am Kopfende nun, ist zunächst der schon erwähnte Zünder zu bemerken, der aus einer Quecksilberpatrone besteht, welche in einer gewissen Menge von trockener Schießbaumwolle
fest lagert; der Zünder entzündet die Schießbaumwolle durch einen beim Anstoßen des Torpedokopfes an einen festen Gegenstand zurücktretenden Stift. Es muß aber bemerkt werde, daß die Ansicht durchaus eine irrtümliche ist, der Schiffskörper, unter welchem ein Torpedo zur Explosion gelangt, werde unmittelbar, — direkt durch ihn zerstört der Torpedokörper ist , wie wir gesehen haben, im ganzen eine leichte an sich keine Stärke repräsentierende Masse , also kann auch nach einer bewirkten Explosion des Torpedokörpers die Zerstörung resp. Beschädigung des feindlichen angegriffenen. Schiffsrumpfes nicht durch die auseinanderfliegenden Teile desselben erfolgen , sondern vielmehr durch die Gewalt der Gase, welche
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Fig. 2. Fisch Torpedo : Durchschnitt. Steuer Klappe. b Schraube zum Fortbewegen. e Geheim gehaltener Teil, die Vorrichtung zum Eiuftellen auf bestimmte Wassertiefen enthaltend. d Reservoir für fomprimierte Luft und Maschine zur Fortbewegung. e Abtheilung mit der Zündmaffe und dem Zünder. durch die Explosion entstanden, an die Oberfläche streben, an dem Schiffskörper aber einen Widerstand finden und ihn nun beseitigen oder ihm ausweichen müssen das lettere dürfte freilich aber nur selten eintreten. Bemerkenswert sind noch an dem Fischtorpedo schließlich zwei oder auch vier Messer, die am Kopfe um den Zünder herum, wie Flügel einer Windmühle, angebracht sind und den Zweck haben, daß wenn die Spize des Torpedos mit dem
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Zünder an einem glatten Körper, z . B. einer neuen Schiffswand, unter sehr schiefem Auftreffwinkel abgleiten sollte, die Messer den Torpedo zum momentanen Stoppen und zur Explosion bringen ein Umstand, der allerdings auch bei der Verteidigung gegen Fischtorpedos von wesentlichem Nußen sein dürfte. Zum Lanzieren der Torpedos bedient man sich erstens der fest im Schiff eingebauten Röhren, zweitens der Laffeten, welche man an Deck
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oder auch in den Batterien aufstellt , drittens | Ineichen, in Ballwil einen 117 Fuß tiefen Sod (Zisterne) gegraben und ausgemauert. auch eines Rahmenwerkes , welches man in Zu letterer Arbeit werden aus Bächen herfeste Verbindung mit einem Boote bringt. In beigeschaffte Kugelsteine (Bollen) verwendet, den beiden ersten Fällen lanziert man den Torpedo mittelst Luftdrucks , im dritten durch die man an den Wänden aufeinander beigt, sofortiges Anlassen der eigenen Maschine selbst; ohne dabei Mörtel oder Pflaster zu brauchen. Begreiflich haben derlei Mauern wenig Festigkeit. da bei dem Lanzieren mit eingebauten Röhren In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar die Chance im Gefecht mit dem Torpedo zum Schusse zu kommen, nur selten vorhanden ist, hatten sich einige Steine aus der Mauer gelöst und waren in die Tiefe gestürzt. Montag hat man in neuester Zeit keine Schiffe mehr zu ähnlichem Zwecke erbaut, sondern ist zu den den 21. Nachmittags 3 Uhr hatte Xaver unten im Sod die Steine in einen Sack gepackt und einfachen Lafetten übergegangen , und fängt damit an, alle größeren Schlachtschiffe mit | rief : „ auf ! " worauf sein Gehilfe die Winde in Bewegung sezte. Als Mattmann 10 Fuß einer oder mehreren Torpedokanonen meist in über dem Wasserstand im Sod erreicht hatte, der Breitſeite zu versehen. Hat England hierin stürzten kurz hintereinander zwei Steine von zuerst den Anfang gemacht , so sind die anoben herab an ihm vorbei in die Tiefe. deren Staaten, unter diesen Deutschland als der erste, in dieser Richtung nicht zurückgeDarauf ein gewaltiger Krach und der Einsturz der Mauer. Unten war ein dicker Laden (Flecklig) blieben. Schon das leßtjährige Panzergeschwader an die Wand des Sodes angebracht, um dem war mit einer Anzahl ſolcher Torpedokanonen Rost zur Befestigung der Pumpe zu dienen. ausgerüstet. Mattmann befand sich auf einem festen Bette von eingestürzten Steinen. Von selben buchstäblich eingemauert, lag er auf dem Rücken. Eine Steinsäule von 82 Fuß lag über ihm . Volksgeschichten aus der Schweiz . Den rechten Arm hatte er in der Kopfhöhe, Von den linken auf der Brust. Ueber dem mit H. Feierabend. einem dicken Filzhut bedeckten Kopfe lag ein Stein, zwei neben seinen Backen, einer unter dem Kinn und ein großer auf Brust und Erlebnisse und Gedanken eines Bauch. Das Zugseil ging über sein GeLebendigbegrabenen. sicht hinauf. Im Munde hatte er die TabaksIm schönen Luzernergebiete, im Dorfe pfeife, die er noch fertig geraucht hat und dann Ballwil, eine halbe Stunde vom Amtsorte losließ. Körperliche Schmerzen fühlte er keine. Hochdorf entfernt, lebte ein allzeit fröhlicher Bewegen konnte er sich nicht. Herabfickernder Jägertrompeter , Namens Xaver Mattmann, Sand erschwerte ihm zeitweise das Atmen. dem seine Kameraden wegen seinem derben Er war bei klarem Bewußtsein und überblickte Wesen den Zunamen Garibaldi gegeben dabei ungetäuscht seine schlimme Lage. Das Der als Volksschriftsteller bekannte haben. Zugseil ersette ihm teilweise den Dienst eines Telephons. Er hörte deutlich die Kirchenuhr Pfarrer Xaver Herzog in Ballwil ist sein Taufpate und seine Brüder besorgen den schlagen. Abends halb 7 Uhr unterschied er Lange war Mattmann Ordas Rollen der von Luzern kommenden AbendMesnerdienst. ganist in Hochdorf. In neuerer Zeit übte er post, aber keinerlei Bemühungen zu seiner den beschwerlichen und gefährlichen Beruf als Ausgrabung. Das brachte den Verschütteten „ Sodgräber“ aus . So sehr er es liebte, in halbwegs in Verzweiflung. Er schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Lebhafte Fieberphanheiterer Gesellschaft ein Glas guten Most (Aepfel- oder Birnwein) zu trinken und dabei tasten scheinen den Verschütteten zeitweise in sagte, er habe die Leber eben auf der Sommertiefer Grabeshaft während den 4 Tagen beseite, so unterstützte er doch als treuer Sohn schäftigt zu haben. Das eine Mal befand er ſeine alte Mutter nach Möglichkeit aus seinen sich beim Gemeindeamman , den er beschwor, Im Laufe Februar wenigen Ersparnissen. doch unverweilt mit den Ausgrabungen zu 1881 hatte Xaver dem Posthalter , Gottlieb beginnen, indem er sicher wisse, daß der Ver-
Volksgeschichten aus der Schweiz.
schüttete noch am Leben sei und elend in dem Grabe verschmachte. Ein andermal hatte er zwei große Heimwesen gekauft und 30 Stück Vieh angeschafft. Da gab es alle Hände voll zu thun, zu befehlen und anzuordnen. Diese Wahngebilde waren so lebhaft, daß der glücklich Gerettete sich ernstlich besinnen mußte, ob sie nicht wirklich wahr seien. Was ihn in der langen meisten Grabesnacht am quälte , war ein unsäglicher Durst. Vom Hunger hatte er viel weniger zu leiden, wohl aber von der Furcht, die Verrichtung eines natürlichen Bedürfnisses müsse ihn unfehlbar ersticken. Glücklicherweise stellte sich keinerlei Regung dazu ein. Schlaf muß sich bald längere, bald fürzere Zeit eingestellt haben, während dem die bemeldeten Wahngebildefreien Spielraum hatten. Der Gedanke an den
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übergeben. Montag nachts 11 Uhr wurde endlich mit Ausgrabung des Schuttes begonnen. Mit Bickeln wurden die Steine sorgfältig gehoben und dann in Kübeln am Seile, das um einen Wellenbaum lief, heraufgezogen. Mattmann hörte deutlich das Pickeln über seinem Kopfe. Dasselbe kam ihm vor, wie wenn eine Schar Hühner in einer Tenne Körner aufpicken. Hatte er bisher aus Aerger über die Thatlosigkeit geflucht, so begann er nun inbrünstig zu beten, daß der Himmel das Rettungswerk gelingen lassen möge. Nachts 12 Uhr hörten mehrere Personen dreimal nacheinander das Wimmern einer menschlichen Stimme aus der Tiefe. Das galt ihnen als ein sicheres Zeichen, daß Mattmann noch lebe. Andere Leute aber erklärten, das Wimmern rühre von der Flamme einer Pechfackel her, die bei der nächtlichen Arbeit gebraucht wurde und deren Funken ins Wasser gefallen seien, wodurch sie das wim-
guten Most, den er zu Hause. hatte, war Xaver besonders quälend. Indessen hatte sich auf die Unglückskunde eine große Menschenmenge um den mernde Geräusch bewirkt hätten ; da man dasselbe nacheingestürzten Sod versammelt, mit Jammern und guten her nicht mehr hörte, so nahm Wünschen, aber nicht mit that man an, der Verschüttete sei sächlichem Willen. Der Geden Verlegungen und der Ermeindeammann nahm als schöpfung erlegen. Dennoch sicher an, der Verschüttete sei gingen die Rettungsarbeiten tot und trug daher wegen rüstig , wenn auch langsam drohlicher Gefahr für die vorwärts. Indessen war das Retter Bedenken, noch in der Grab gegraben und der Sarg herbeigeschafft worden. Am Nacht mit dem Ausgraben zu beginnen. Indessen hatte der Donnerstag abend brachte Pfarrer an das Statthaltervon Hochdorf her ein Knabe amt berichtet und einen in eine Totenharfe und einen der Nähe wohnenden italieniKranz, welchen die Jungfrauen schen Straßenunternehmer, von Hochdorf ihrem ehemaliFelsschlucht mit Farn (S. 228). Namens Odoni herbeigeholt, gen Organisten zur Zierde der, obwohl unwohl, doch willig dem Rufe folgte. seines frühen Grabes gefertigt hatten. Bald Abends 8 Uhr traf von der Oberbehörde in nachher meldete eine Depesche nach Hochdorf die Hochdorf der scharfe Befehl in Ballwil ein, frohe Kunde, Mattmann lebe noch. Nachmittags unverweilt mit den Ausgrabungsarbeiten zu 4 Uhr hatte ein Arbeiter, Hartmann, seine Stimme vernommen mit den Worten, sie sollen beginnen, die Oberleitung derselben Odoni zu
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nur fleißig arbeiten, damit er doch bald erlöst | Odoni band ihn in dem Rettungskübel mit einem Seile fest und stellte sich hinter ihn, werde. Indessen dieses geschah, umstand eine den Arbeiter , Hartmann , vor ihn . Da beMenschenmenge von über 400 Personen die Unglücksstätte und harrte bis gegen 2 Uhr fiel letteren eine lange dauernde Ohnmacht. morgens auf die Erlösung des Verschütteten. Odoni mußte beide halten. „ Schnell auf!“ Das nahe Wirtshaus zum „ Sternen" war geertönte sein lauter Hilferuf. In wenig Midrängt voll. An guten Räten und Meinungen, nuten waren alle drei gerettet. Anfänglich war der Puls bei Xaver nicht mehr fühlwie jezt das Rettungswerk am schnellsten zu stande gebracht werden könnte, war kein bar. Bald aber hob er sich unter ärztlicher Pflege bis auf 110 Schläge. Seine Glieder
waren steif und starr, die Haut am Körper mit Blut unterronnen und geschwollen. Das Gesicht mit Kot und Sand ganz überdeckt und Er konnte nicht entstellt. Unter sorgmehr stehen. fältiger Pflege genas der Gerettete langsam. Seine heitere Laune hatte er bald wieder Als sein altes gewonnen. Mütterchen ihn frug, was er in dem Grab unten gedacht habe, entgegnete er lachend : "Ich habe gedacht, jest müsse ich keinen MilitärDie dienst mehr thun." Sternenwirtin von Ballwil besuchte ihren Stammgast nach der Rettung ebenfalls und sagte zu ihm : „Xaver , du kannst doch jetzt Gott danken, daß es so gegangen ist." Darauf bemerkte Xaver : Ja das ist wahr, aber das sollt Ihr auch, denn Ihr habt dabei eine guteLosung gehabt." Ein Aufruf an edle Menschenfreunde , dem wunderbar zum Leben erretteten armen Arbeiter die Mittel zu demselben zu verschaffen, bis er wieder arbeitsfähig sei, hatte einen glücklichen Erfolg, indem in kurzer Zeit eine beträchtliche Summe an Liebesgaben zusammen96 lange , bange Stunden gelegt wurde. war Xaver Mattmann in schauerlicher Tiefe
RUTTER. Feigenbaum (S. 228) . Mangel. Unbeirrt durch selbe arbeitete Odoni Tag und Nacht ruhig und unverdrossen mit seinen beiden Gehilfen weiter. Immer glaubten sie dem Verschütteten näher zu sein, als es in Wirklichkeit der Fall war. Am Freitag Mittag endlich wurde der Stein auf dem Kopfe Xavers weggehoben und bald darauf der auf der Brust. Odoni flößte dem halb Verschmach teten einige Tropfen Wein und belebende Arzneien ein. Mattmann flagte über entsetzlichen Durst und wünschte lieber den gewohnten Most statt Wein zu trinken. Es währte noch bis abends 6 Uhr, bis der lebendig Verschüttete endlich ganz aus seinem Steingrab befreit war.
lebendig begraben ohne Nahrung und Trank, und hat dennoch den Lebensmut nicht verloren. Odoni Dem Mutigen hat Gott geholfen. freute sich, ein Menschenleben gerettet zu haben, und weigerte sich für seine Mühewaltung eine Rechnung zu stellen. Ihm gebühret Bürgers ,,Lied vom braven Mann".
Volksgeschichten aus der Schweiz. Die Wunde von einer Schraube an dem Brette, an dem er angepreßt war, ist Xaver tief ins Dickfleisch hineingegangen und wurde brandig. Der Kranke wurde daher nach Luzern ins Spital geschickt. Dort sah und sprach ihn der Verfaffer, wie er mit anderen Kranken
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zu seinem alten Kameraden Hürli im Seeberg, sah dessen schöne, blühende Frau und entbrannte Mit Entrüstung für sie in wilder Liebe. wies Betheli des Soldaten unverschämte An-
auf einer Bank im Freien an der warmen Frühlingssonne saß. Da hat er seine Erlebnisse und Gedanken mitgeteilt. Als die Wunde heil war, wurde Xaver aus dem Spital entlassen. Trotz seiner Jugend konnte er sich nicht mehr erholen. Er kränkelte für und für. Seine laute Fröhlichkeit hatte sich in eine ernste Lebensanschauung umgewandelt. Gefaßten Mutes sah er seinem frühen Lebensende entgegen, das dann den 15. Februar 1882 erfolgt ist, also wenige Tage vor dem Jahrestage, an dem das Schicksal ihn lebendig begraben hatte. *
Ein Opfer der Eifersucht.
Zu hinderst in dem romantischen Muottathal, das sich ostwärts von dem schönen und fruchtbaren Schwyzerboden zwischen den Bergen langgestreckt an den Ufern der wildrauschenden Muotta wie ein grüner Samtteppich hineinzieht, erhebt sich an der Grenzmarch zwischen. den Kantonen Schwyz und Glarus der geSeinen Namen hat er waltige Kupferberg. daher, weil daselbst vor hundert Jahren auf Kupfer gebaut wurde. Die Unergiebigkeit der Kupferadern bestimmte jedoch die Unternehmer, Damals lebte die Minenarbeit aufzugeben. auf seinem Gute " Fruttli" am Wege über den Pragel Thalammann Gwerder, im Volksmund der " Fruttler" genannt. Seine einzige Tochter, Bethli , hatte den Holzhändler Peter Hürli geheiratet und war ihm ins Bisisthal in den Seeberg hinein gefolgt. Hürli war früher ein leidenschaftlicher Gemsjäger gewesen . Am Hochzeitstag hat er jedoch dem Betheli in die Hand hinein versprochen, der Gemsjagd zu entsagen. In Liebe und Frieden lebte das junge Ehepaar und ein herziges Mädchen erhöhte das Glüd ihrer Ehe. Da ist Hürlis früherer Jugend- und Jagdkamerad , Peter Heinz im Stalden , gewöhnlich Staldenheinz genannt, aus französischem Kriegsdienst als Werber heimgekommen. In der Fremde hatte. derselbe sich sehr lockere Grundsäge und Sitten angewöhnt. Er kam auch von Schwyz herein
Ki TTTNER
Asplenium Ruta muraria (6. 228). träge zurück. Da verwandelte sich in des Staldenheinzens verdorbenem Herzen die wilde Liebe in grimme Rache. Kurze Zeit vor des Soldaten Heimkehr war ein junger deutscher Arzt, Namens Holsten, ein eifriger Pflanzensammler, ins Muottathal hineingekommen, um die reichen Schäße von Berg und Thal auszubeuten. Derselbe hatte sich um ein Unterkommen an den alten Fruttler gewendet und 29
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dieser hatte ihn wegen der Nähe der merkwürdigen Glatt- und Karrenalp Starrenalp an im Seeberg gewiesen. seinen Tochtermann im Holsten hatte bei Hürli und Betheli freund-
bitterer Ironie ließ er sich sogar hinreißen, Betheli zu fragen , ob sie wohl auch so untröstlich gewesen wäre , wenn er nicht mehr würde von Luzern heimgekommen sein? Der
liche Aufnahme gefunden , und in der gemüts Stich ging der treuen Ehefrau tief zu Herzen. lichen Familie hat er gar bald sich wie zu Von da an hatte Staldenheinz immer mehr Gewalt über Hürli gewonnen. Seinem gegeHauſe wohl befunden. Der junge Arzt hatte benen Worte am Hochzeitstage ungetreu war in Deutschland einen zweijährigen Knaben er mit seinem Verführer im Herbste wieder zurückgelassen , von dem er viel und gern erzählte und dabei das kleine Betheli herzte. auf die Gemsjagd ins Hochgebirg hinaufgeDas liebliche Kind hing dann an dem lieben stiegen. Dabei hat der Staldenheinz der SchnapsGast wie eine Klette. Da ist von Schwyz flasche weidlich zugesprochen. Da hat er einen herein das Nervenfieber ins Thal hineinge Fehltritt gethan und ist über eine hohe Felsdrungen und hat auch die junge Mutter im wand hinuntergestürzt. Eiligst ist Hürli auf Seeberg ergriffen. Lange Zeit schwebte das der andern Seite zu dem jämmerlich zerfaljunge Leben in größter Gefahr. Unermüdlich lenen Kameraden hinuntergestiegen und in seinen saß der junge deutsche Arzt am Frankenlager. Armen ist er verschieden. Bevor er gestorben, hat er unter Stöhnen bekannt, daß alles schändEndlich gelang es seinem redlichen Bemühen, die junge Mutter zu retten. Die Genesende lich erlogen sei , was er über Holsten und Von da an war wurde nie müde, ihrem Lebensretter aufrichtig Betheli ausgesagt habe. Hürli wieder wie umgewandelt. Seinen Jagdihre Dankbarkeit zu bezeigen. Diesen Umstand benutzte der schlaue Staldenheinz , die stuber hat er noch am gleichen Abend am Drachensaat blinder Eifersucht in Hürlis argFelsen zerschellt und dabei mit einem gräßloses Herz zu streuen, die auch wirklich nur lichen Fluche der Jagd für immer entsagt . zu üppig aufgegangen ist. Der gewissenlose War er schon vorher wortkarg gewesen, so Verführer deutete die Dankbarkeit als sündwar nun nur selten ein Wort aus ihm heraushafte Liebe und stachelte unermüdlich den rasch | zubringen und ſtundenlang starrte er oft vor wachsenden Argwohn des gekränkten Ehemannes. sich hin. Bisweilen überraschte ihn seine Frau Nur zu bald bemerkte Betheli , wie Hürlis in seltsamen Selbstgesprächen. In der Nacht treuherziges und liebevolles Benehmen sich in vor dem Jahrestag von Holstens Verschwinden. eine frostige Kälte umgestaltete. Inbrünstig hörte sie ihn vernehmlich sprechen : „Der Staldenheinz ist an allem schuld. Weil flehte das treue, arglose Weib zu Gott , er möchte doch ihrem Ehemann bald wieder auf mein treues Weib seinen Lockungen nicht folgen wollte , hatte er ihr Rache geden rechten Weg verhelfen. Dabei trug sie ihrem bislang ungestörten Ehefrieden zuliebe schworen. Er hat die Eifersucht in mein die veränderte Gemütsstimmung ihres innig Herz verpflanzt mich schändlich angelogen . geliebten Mannes stillschweigend mit muster Zum Dank, daß der Doktor meiner Frau das hafter Geduld. Zuversichtlich hoffte sie dabei, Leben gerettet , habe ich im Wahn ihn erdie Zeit werde Rosen bringen. Eines Tages schossen. Jett modert seine Leiche in der sagte Hürli früh am Morgen , er müsse in verlassenen Kupfergrube. Kein Mensch sucht niemand hat Verdacht auf mich, Geschäften hinunter nach Luzern und wanderte. ihn dort ; das Thal hinaus. Den gleichen Tag war weil man geglaubt, ich sei in Luzern gewesen. — Holsten in die Alpen hinaufgestiegen , aber Da drinnen nagt aber unermüdlich der Wurm abends nicht wie gewöhnlich heimgekehrt. Voll des bösen Gewissens, verbittert mir die Arbeit und das Eſſen, — raubt mir den Schlaf. Besorgnis hatte Betheli ihren Vater , den Fruttler, berichtet. Dieser schickte nach allen | Ich fühle mich wie ausgeweidet, ohne LebensSeiten Leute aus , den Vermißten zu suchen. luft und Freude. — Mir fehlt der Mut, mich selbst als Mörder anzuklagen. Um meines Jede Mühe blieb umsonst. Der Doktor war spurlos verschwunden. Nach Verfluß von Weibes , meines Kindes wegen kann ich es mehreren Tagen kehrte Hürli von Luzern heim nicht thun. Müßte ich unterm Richtschwert mein Leben laſſen, so würde man mit Fingern und nahm die Trauerkunde von Holstens Verschwinden gleichgültig und kühl entgegen. Ja, in auf beide zeigen. Das darf nicht sein, nein !
Volksgeschichten aus der Schweiz. nein! Ich muß das Geheimnis mit mir ins Grab verschließen. Der Herrgott wird meiner armen Seele gnädig sein. “ Mit Grauen und Entseßen hatte Frau Eliſabeth dieser Selbstanklage zugehört. Umsonst bemühte sie sich, beim Anblick ihres unglücklichen Mannes einen unwillkürlichen Schauder zu überwinden . So viel sie konnte, suchte sie ihm auszuweichen. Alle ihre reiche Liebe hatte sie auf ihr einzig Seind übertragen , das zur holden Jungfrau heranwuchs , während die Mutter sichtlich Eines Tages war ein junger hinwelkte. deutscher Herr nach Seeburg gekommen , der ſich als Holſtens einziger Sohn zu erkennen gab und der gekommen war, um über des Baters rätselhaftes Verschwinden möglichst genaue Erkundigungen einzuziehen. Der Sohn war ganz des Vaters Ebenbild. Während dem eifrigen Gespräche öffnete sich die Thür und Hürli tritt herein. Wie er den Jüngling erblickt, wird er plötzlich leichenblaß, schwankt und stürzt mit dem Ausruf zusammen : „ Jesus, Maria und Josef, Holstens Geist!!" Er war tot. Der Schreck hatte ihn wie ein Blizz durch Herzschlag getötet. Nachdem sie sich von ihrem Schrecken wieder erholt hatte , erzählte Frau Elisabeth ihrem Gaste ohne Rückhalt , was sie wider Willen aus dem Munde Hürlis selbst vernommen hatte. Des andern Tages hatte man in der verschütteten Grube am Kupferberg bald ein menschliches Gerippe unterm Steingeröll aufgefunden . Neben demselben lagen noch Stiefelfezen, die zuſammengedrückte Botanisierbüchse und die goldene Uhr mit dem eingegrabenen Namen . Ueber den richtigen Fund konnten daher keine Zweifel mehr walten. Die Ueberreste des Ermordeten wurden. feierlich in der geweihten Erde des Friedhofes im Muottathal bestattet. Das Grabmal, das ihm gesezt wurde, trug die einfache Inschrift : Hier liegt begraben der am Kupferberg verunglückte Herr Wilhelm Holsten, Arzt, aus Deutschland. Sit illi terra levis !" Troß dem Traueranlaß hatte der junge Holsten das arglose, warme Herz des hübschen Betheli im Sturm erobert. An dem Jawort der schwergeprüften Mutter konnte es dem lieben Kinde nimmer fehlen. Zur Erledigung einer Erbangelegenheit mußte der Jüngling nach den kirchlichen Gedächtnistagen nach
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Teutschland verreisen. In seinem Auftrage hatte indessen der greise Fruttler draußen am Gestade des schönen Vierwaldstätter Sees , am Wege von Brunnen nach Gersau, in der sogenannten Schrotten ein nettes Häuschen samt Gärtchen gekauft und herrichten lassen. Den Seeberg hatte die Mutter unter vorteilhaften Bedingungen an einen Glarner Holzhändler verkauft. Sie zog dann mit dem jungen Ehepaar hinaus in die neue Heimat. Der 90jährige Fruttler erlebte noch die Simeonsfreude, einen fräftigen Urenkel auf seinen Knieen schaukeln zu können , der auffallend seinem Vater und Großvater ähnlich Bei diesem Freudenanlaß hat der ehrwürdige Greis tiefbewegt die denkwürdigen Worte ausgesprochen : „ Mutter Betheli ist der Engel, der über den Häuptern der unglücklichen Dahingeschiedenen die Palme des Friedens schwingt. " Und so ist es auch in dem traulichen Familienleben in der Wirklichkeit der Fall gewesen. Der greise Fruttler hat wahr prephezeit.
Der Fluch des Fanatismus. In dem für Erhaltung der schweizerischen. Eidgenossenschaft so folgenreichen Sonderbundsfriege im Jahre 1847 erhielt der ehemalige Oberanführer der Freischaren, Ochsenbein, als Brigadier den Befehl, mit der Berner Reservebrigade durch das Entlebuch nach Luzern vorzurücken, was den 22. November wirklich geschah. Ochsenbeins erster Adjutant war der Kavalleriemajor V., der 20 Dragoner befehligte, die als Ordonnanzen verwendet wurden. Während derselbe mit seiner Mannschaft auf offener Landstraße vorsichtig dahinritt, streiften links und rechts vor derselben eine Abteilung Jäger in Ketten aufgelöst den Höhen entlang. Plötzlich fracht aus einem Hause am Bergabhange ein Schuß und verwundet die Kugel einen Mann leicht am Kopf. Sogleich reitet ein halbes Dusend Dragoner auf das Haus zu und kehren die schon vorgerückten Jäger um. Vor ihnen flieht ein Mann mit einem Gewehr in der Hand dem Walde zu. Die Jäger schießen. ihm nach , ohne jedoch zu treffen . Darüber erbost, zünden die Jäger das Haus an. Plößlich stürzt aus demselben eine gewaltige weibliche Gestalt mit aufgelösten Haaren, die wie Schlangen
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Bu den Romantikern unter den Pflanzen.
um das Medusenhaupt aussehen. In ihrer von Bern her eingerückt sind , da erschien es Hand trägt sie ein verrostetes Hausgewehr. mir als ein gutes Werk, so einen Kezer nieder Die greulichsten Flüche über die Mordbrenner zu machen. Ich überredete daher meinen und Kezer entquellen dem verzerrten Mund . glaubenseifrigen Mann, auf die unter unserm Den Soldaten gruselt es ob den gottesläster- Hause auf der Landstraße daherreitenden Hulichen Flüchen der tobenden Furie. Ohne ihr saren zu schießen. Diese aber verstanden keinen weiter ein Leid anzuthun, ziehen die Truppen Spaß. Sie sprengten auf das Haus zu und steckten es in Brand . Darüber in Wut verschweigend von dannen. Aber noch lange nach her redeten sie mit Schaudern von der grauen- sezt , habe ich des Himmels Rache auf die vollen Erscheinung , wie sie vor Wut schäu- | Berner herabgeschworen. Und da hat der mend um das brennende Haus herumrannte. Himmel mein sündhaftes Wüstthun in schreck27 Jahre waren seither dahin geflossen. licher Weise an mir bestraft. Eine Eisenbahn durch das Entlebuch war inKurze Zeit, nachdem wir unser Haus Die Landschaun- wieder aufgebaut hatten , ist mein Kind zur dessen beschlossen worden. Welt gekommen und zwar blödsinnig , wie es gen durch das Ländchen wurden vorgenom men. Unter den Schäßern befand sich auch jezt noch ist und sein lebenlang es bleiben wird. Mein Mann ist ein wüster Trunkender ehemalige erste Adjutant von General Ochsenbein. Bei demselben meldete sich eines bold und Spieler geworden und vor vielen Jahren dem Säuferwahnsinn erlegen. So bin Tages ein altes Weib mit grauen Haaren, ich nun mit meinem letzköpfigen Sohne ganz runzlichem Gesicht und grämlichem Aussehen. mutterseelenallein in dieser Welt , verlassen Dasselbe klagte dem Schäßer seine Not, die Eisenbahn durchschneide ihr kleines Ländchen, und von allen Menschen scheu gemieden als eine Frevlerin , welche des Herrgotts gerechte der Kommissar möge doch so gut sein, die Sache Strafe wohlverdient getroffen hat. Umsonſt bitt' und bet' ich Tag und Nacht, der liebe Gott wolle mich doch aus diesem Elend in dem irdischen Jammerthal erlösen. Bisher hat er mit mir alten, armen Mutter kein Erbarmen gehabt. Ich bin und bleibe eben von Gott und der Welt verlassen und verflucht. " Mit Entseßen hatte der Kommissar die graufige Geschichte angehört und in der armen, alten Frau die Furie vor 27 Jahren wieder erkannt. Tieferschüttert und mit dem Ver-
selbst zu beaugenscheinigen, um ihr eine möglichst hohe Entschädigungssumme zu vermitteln. Der Kommissar versprach, den anderen Tag der Bitte zu entsprechen. Das Haus war längstens wieder aufgebaut, aber im Inneren wie rings um das Haus sah es sehr ärmlich aus. Wie nun der Kommissar freundlich mit der armen Witwe um die Entschädigungssumme unterhandelte, läßt sich plötzlich im Nebenstübchen ein entfeßlicher Schrei hören, dem dann ein viehisches Gebrüll folgt. Im gleichen Augenblick springt die Stüblithür auf und auf der Schwelle erſcheint ein riesenmäßiger Mann mit ſtruppigem Haar und Bart. In der Hand hält er ein verrostetes Hausgewehr, das er vor sich hinstreckt mit furchtbarem Gebrüll : „ Bum ! Bum! “ Entsett springt Hr. V., der Kommiſſar, auf und starrt die grauenhafte Erscheinung an. Dem Weibe gelingt es leicht , das Ungethüm
Zu den Romantikern unter den Pflanzen .
zu besänftigen und wieder in die Nebenstube zu entfernen. Verwundert fragt V., was das bedeuten soll ? Da holt die Alte einen schweren Seufzer und sagt : „ Ja, lieber Herr, Ihr scheint mir ein gutes Herz am rechten Fleck zu haben, drum will ich Euch mein Unglück klagen. Der Unglückliche ist mein einzig Kind , das ich zur Zeit des Sonderbundkriegs unterm Herzen getragen. Wie nun die Eidgenossen
Es ist uns eine aufrichtige Freude, den prächtigen Püttner'schen Illuſtrationen im lezten Heft, die so allgemein angesprochen haben, noch einige weitere, die ebenfalls auf den Sterne'ſchen Artikel sich beziehen, anreihen zu können. Die eigengeartete Felsschlucht (S. 223) zeigt am Boden den zarten Farn (zu S. 55) ; den „ Marmor sprengenden“ Feigenbaum (zu S. 53) erblicken wir auf S. 224 und zu Füßen des alten gotiſchen Gemäuers ( S. 225) ist deutlich erkennbar die feinblättrige Mauerraute (zu S. 55).
sprechen, nach Möglichkeit ihr zu helfen, ging V. von dannen. Er hat auch redlich Wort gehalten. Die schwer heimgesuchte Frau hat die höchste Landentſchädigung erhalten.
mai.
Der
Sammler.
Inhalt: Gedenktage im Mai. Unser Hausgarten. Mai. Von G. U. Fintelmann. Mit den Abbildungen der Nigilla damascena und der Begonia Davisi. Trachten der Zeit. Aus der Frühjahrs Saison. Von Jda Barber. Mit 5 figuren Mäntel , paletot und Kleider formen und 5 figuren von frühjahrshüten. Küche und Baus. Mai : Jahreszeit des Eßbaren. - Festkäche. —- Speisezettel für Mai. Die schadhafte Bank. Eine Geschichte in drei Bildern von £. Meggendorfer. Der gestirnte Dimmel im Monat Mai. Jum Kopfzerbrechen. Rebus. Buchstabenrätsel. Ana gramm. - Silbenrätsel . Rösselsprung. Palnidrom. Musikalisches Rätsel. - Auflösungen Zusammenlegspiel. zu Heft 1, Bd. 2. Homonym . - Schlüsselrätsel.
C
Gedenktage im Mai.
1. 1672 geb. 3. Addison, engl. Dichter. 2. 1519 gft. Leonardo da Vinci, ital. Mal. 3. 1848 Verkündigung d. franz. Revolut. 4. 1772 gb. F.A. Brockhaus, deut. Bchhdl. 5. 1739 Beginn der frans. Revolution. 6. 1757 Schlacht bei Prag. 7. 1819 geb. O. W. v. Struve, Aftrono n. 8. 1785 geft. Ders. v. Choiseul, frz. Min. 9. 1805 geft. Fr. v. Schiller, deut. Dichter. 10. 1785 gb. G. A. Graefe, deut.Augenarzt. 11. 1778 gft. Gr. v. Ghatam, brit. Minister. 12. 1845 gft. .W.v. Schlegel, deut. Dicht. 13. 1805 geb. . Sontag, deut. Sängerin. 14. 1610 Beinrich IV.von Frankr. ermord.
Kassebery &Derrrlxz.
15. 1818 geb. 9. Davison, Schauspieler. 16. 1811 Schlacht bei Albufera. 17. 1795 Bafeler Vertrag. 18. 1724 Katharina 1.3.ruff.Rai). gekrönt. 19. 1833 Emanzipation d. westind. Sklav. 20. 1506 geft. Columbus, Gntd. Amerikas. 21. 1809 Schlacht bei Aspern. 22. 1815 Defterreicher nehmen Neapel ein. 23. 1851 N. Statut der Univerfit. Leipzig. 24. 1430 Jean d'Are gefangen. 25. 1860 geft. 3.Restroy, deutscherDramat. 26. 1814 gft. Guillotin, Erf. d. Guillotine. 27. 1859 Garibaldi erobert Gomo. 28. 1779 geb. To. Moore, engl. Dichter.
F. Thiersch . 81
G. A. Fintelmann. Unser Hausgarten.
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Unser
Hausgarten.
Bon H.
. Fintelmann.
Q a i. Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch. Goethe. Der Wonnemonat ist gekommen. In schwelgerischer Pracht erglänzt die Natur nach ihrem Wiedererwachen. Ihr buntes, von Kraft und Leben strohendes Gewand prangt in immer wechselnden Farben; täglich entfalten sich andere Blattformen, täglich andere Blumen ; mit süßem Duft ist die Atmosphäre erfüllt, unsere Seele mit neuem Mute, mit neuer Hoffnung froh bewegt. Auf alle Herzen wirkt der bestrickende Zauber der Frühjahrslandschaft, zum innigsten Genießen, zur ausgelassensten Freude auffordernd. Aber keine wahre Freude ohne Arbeit. Wohl zeigt sich uns der Garten überall in seiner verschönerten Gestalt , aber auch überall ist zu thun , unsere Pflanzenfreunde sind zu schützen, für künftige Farben- und Blumenpracht ist zu sorgen. Die herrliche , auferweckende Luft des Monat Mai, so sehr sie gepriesen ist , bringt auch viele Sorgen dem Pfleger der Blumen, der Obstbäume. Pankratius, Servatius Der Gärtner sie beachten muß. " Wie oft vernichten die gestrengen Herren, der 12. und 13. Mai , alle Hoffnungen auf fünftige Ernte, ohne daß es möglich ist, die blühenden Obst= bäume zu schützen. Der Gartenfreund rettet zwar seine Pflanzen vor plöhlich eintretendem Froste durch darüber gebreitete Decken und wendet auch wohl seinen besten Obstbäumen in falter Nacht eine schüßende Hülle zu, aber eine schlechte Witterung des Mai macht traurig , und man tröstet sich nur mit der Bauernregel : Jit der Mai fühl und nag, Füllt er dem Bauer Scheun' und Fag. Es ist eben nur ein Trost für unsere freudebedürftigen Herzen , denn der alte Thaer sagt mit Recht : " Was an diesem Sprichworte sonst auch wahr sein mag , so hat mancher warme, und nicht nasse Mai doch auch sehr gut gethan. " Vor dem 15. des Monats bringt man die empfindlichen Kinder Floras nicht gern ins Freie , und auch dann noch wacht man über sie mit beobachtender Sorgfalt. Welchen Schmuck gewähren sie dem Garten ! Zu den präch= tigen Blumen der stattlichen Paeonia arborea und der staudenartigen P. Moutan . zu den Blütensträuchern gesellen sich die leuchtenden Dolden der Rhododendren und Azaleen. Ihr Entfernen aus den Winterquartieren gestattet, den Palmen und andern tropischen Zimmerpflanzen mehr Raum zu geben. Diese dürfen vor Mitte des nächsten Monats nicht
ins Freie gebracht werden. Alle Pflanzen aber, die aus Häusern herausgebracht werden , müssen zuerst an schattiger Stelle abgehärtet sein, ehe sie dem vollen Sonnenlichte ausgesezt werden dürfen. Die Pflege des Rasens erfordert jezt viel Arbeit. Er muß vom Beginne des Monats an regelmäßig alle acht bis vierzehn Tage gemäht und im Laufe des Sommers wiederholentlich gewalzt werden, wenn man einen wirklich schönen Rasenteppich zu haben wünscht. Die mit Frühlingsblumen besezten Beete erfordern eine neue Bepflanzung , sobald ihr Schmuck vergangen ist. Stauden wie Phlox, Gentiana , Primeln werden geteilt und auf die Anzuchtsbeete zurückgepflanzt , andere werden weggeworfen, um den Topfpflanzen oder andern Sommergewächsen Platz zu machen. Levkojen, Astern, Nelken, Flammenblumen , Verbenen , Nigella (Fig. 19), werden jezt verpflanzt , und die zur Verwendung im Freien angezogenen Kalt- und Warmhauspflanzen ausgetopft. Welch eine Farbenpracht an Blättern und Blüten bieten die Pelargonien und Calceo-
Fig. 19. Nigella damascena. Jungfer im Grünen. larien , die Coleus, Gnaphalium und Alternanthera, die Begonien (Fig. 20) in ihren mannigfachen Arten und Spielarten, welch eine Formenfülle die Kakteen und andern Sukkulenten , die für sich auf Steinpartieen ausgepflanzt oder als Einfassungen anderer Pflanzenmassen verwendet werden können. An schattigen Stellen gedeihen Farne , wie Scolopendrium, Aspidium, Pteris und erhöhen durch ihren fremden Charakter den Reiz lauschiger Pläte. Die Wirkung einer Blumenzusammenstellung beruht einerseits auf Blumenfülle , ganz besonders aber auf Kontrast und Reinheit der Farben , aus denen sie besteht; und nur einem kritisch gebildeten Geschmack wird es gelingen, Vollkommenes zu leisten. Wolle daher niemals die sinnige Pflegerin des Gartens gestatten, daß die Bepflanzung der Beete ohne ihren Rat, ohne ihre Zustimmung geschehe. Wem nicht ein gebildeter bewährter Gärtner zur Verfügung steht, der muß das Zusammenstellen der Farben und Formen überwachen. Die leuchtendsten und leben-
Ida Barber. Trachten der Beit. digsten Farben kommen auf die Hauptteile oder die Mitte des Arrangements, mildere Farben sind für die Umlinie und die untergeordneten Teile passend . Das saftige Grün des Rasengrundes , das Gelb braun der Wege und der Kiesstreifen , die Farbe etwaiger Einfassungen aus Thon, Erz oder Pflanzen tragen zu der Gesamtwirkung bei und müssen berücksichtigt werden. Die geschickte Anwendung der weißen Farbe in Blättern oder Blüten erleichtert die richtige Farbenzusammenstellung. Denn wie Weiß zu jeder lebendigen und ruhigen Farbe paßt,
Fig. 20. Begonia Davisi. so trennt es auch Farben harmonisch , die nebeneinander gestellt an Reinheit verlieren würden. Wohl kann sich jeder merken , daß Grün und Rot, Orange und Blau, Gelb und Violett einen Kontrast, ein Ganzes bilden und stets zusammen passen, daß Rot und Gelb, Gelb und Blau, Grün und Violett, Blau und Rot, Violett und Orange nebeneinander gestellt, ihre Reinheit bewahren. Aber die Mannig faltigkeit der Farben , der Schattierungen ist eine so unendliche , daß nur der das Richtige treffen wird , der Verständnis und Gefühl für das Schöne hat. Zu vermeiden sind spärlich bepflanzte Gruppen, die den Eindruck der Dürftigkeit hervorrufen. Viele Farben zusammen lassen sich nur anwenden, wenn Eine den Grundton bildet , auf dem mit den andern gemalt wird. Bei trockenem Wetter darf das Begießen des Morgens nicht versäumt werden ; nur an sehr warmen Tagen kann diese Arbeit des Abends vor: genommen werden, denn eine kalte Nacht, die dem Begießen folgt , würde den Pflanzen sehr schaden. Diese Regel ist auch für den Küchengarten zu be= folgen. Hier müssen Bohnen , Gurken und Mais gelegt und die Frühjahrspflanzen von Kohlarten, Kohlrabi und Salat ausgepflanzt werden . Schon Anfang des Monats sind Sellerie und Porree zu pflanzen, nach dem 13. oder gegen Ende Mai auch die Liebesäpfel oder Tomaten. Man sät Sommer-
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rettige, die auf die Radieschen folgen sollen. Auf den Erdbeerbeeten müssen die überflüssigen Ranken entfernt und der Boden mit Gerberlohe, zerschnit tenem Stroh oder Koksasche bedeckt werden , falls dies nicht schon früher geschehen ist. Durch diese Decke werden die Früchte vor dem Schmuzigwerden bewahrt. An den Zwergobstbäumen und den Spalieren muß der Maischnitt ausgeführt werden, der einmal den Zweck hat, die Folgen des Winterschnittes zu regulieren und an den Stellen nachzuhelfen, wo die beabsichtigte Wirkung nicht erfolgt ist , anderseits in dem Entspißen der jungen Triebe besteht. Der Zweck dieser Operation, des Entfernens der äußer sten Spize mit den Nägeln des Daumens und des Zeigefingers besteht darin, daß die Thätigkeit der entspizten Zweige auf kurze Zeit gehemmt , der Saft in die untern Teile zurückgedrängt wird und dort dazu beiträgt , die nicht ganz ausgebildeten Knospen zu Blatt- oder Fruchtknospen umzubilden. Beim Beobachten der Obstbäume wird man eine Menge schädlicher Insekten finden, die zerstört werden müssen. Auch im Blumengarten hat man wiederholentlich die jungen Triebe der Rosen auf Raupen und Blattläuse zu untersuchen. In den zusammengerollten Blättern verstecken sich die Wickler , um von diesen Schlupfwinkeln aus die Knospen anzugreifen. Auf den hochstämmigen Obstbäumen sigen die sehr geselligen Raupen des Ringelspinners, die Gabelraupen, oft an den Gabeln der Aeste zusammen und können mit Strohwischen zerdrückt werden. Eine Menge anderer Insekten werden durch Anschlagen und Schütteln der Obſt: bäume entfernt. Die herabfallenden kleinen ver kümmerten Birnen müssen sorgfältig aufgelesen werden. Die Verstümmelung der Früchte entsteht dadurch, daß Gallmücken und ihnen verwandte Tierchen ihre Eier in die noch nicht entfaltete Blüte legen, und die daraus entstehenden Larven sich im Kernhaus entwickeln . Sie verlassen die Birnen, sobald diese heruntergefallen sind und durch Feuchtig keit Risse bekommen haben.
Trachten der Zeit. Aus der Frühjahrs - Saison. Von Jda Barber.
Schon seit geraumer Zeit ſpricht man von Frühjahrsmodellen, ergeht sich in Vermutungen, was denn wohl Göttin Mode Neues schaffen werde, und jezt, da die neuen Formen endlich spruchreif geworden, sieht man, daß sie wenig von den zeither beliebten abweichen , daß gar oft nur mit den Stoffen ge= wechselt wird , Schnitt und Façon aber denen der Winter-Konfektion fast gleichbedeutend sind Einige erzentrische Formen , beispielsweise die hier und da auftauchenden Panierkleider mit eingeschobenen Stahlreifen , die in Form der ungarischen Mente
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Ida Barber.
REXA
Fig. 3.
Fig. 2.
Mäntel, Paletot und Kleider.
leicht über die Achsel geworfenen Talmas, Fig. 4. Fig. 5. die großen mit bunten Kokarden garnierten Hüte à la Juliette Adam erregen wohl Aufsehen , werden aber eben deshalb schwerlich von unseren jezt mehr als sonst eine konservative Richtung befolgenden Modedamen acceptiert werden . Es scheint , als ob die Herren Vischer und Kollegen, die jahrelang gegen die auffälligen Formen zu Felde zogen, denn doch Schule gemacht haben. Man acceptiert heute nicht mehr wie ehedem alles was die Mode vorschreibt, gefällt sich auch wohl darin eigene Ideen zu haben und dieselben auszuführen. Dadurch schwinden nach und nach jene schablonenhaften Dußendfiguren, die einem selbst die gefälligste Tracht verleiden konnten. Wir sehen heute sowohl ganz enge , fußfreie wie halbweite, aufstoßende Röcke, plissierte, wie mit hohlfalten garnierte, geschoppte und troussierte Tuniques, einfache Drapées wie breite Schärpenenden, gestickte Volants und in Puffen und Coulissés gezogene Ansätze . Alles scheint modern und dadurch entsteht eine Vielseitigkeit, die jeder Dame gestattet, das für sie Passende zu wählen. Alles, was von den Formen gilt , findet in gleicher Weise Anwendung auf die Stoffe. Was ist jest nicht modern ? gestreift moiriert chinierte, tragen glatte, e, Wir e, geblümte, mit Samtstreifen durchwirkte Seiden- und ebenfalls alle nur denkbar möglichen Arten von Wollstoffen. Glatt ist genau so modern wie ge-
blümt, kariert ebenso neu wie gestreift, pleinartig eingewirkte FiFig. 1. guren gelten für gerade so schön wie gestickte Bordüren , dem individuellen Geschmack ist der denkbar größte Spielraum gelassen. Einer großen Beliebtheit scheinen sich die aus dem sogenannten steirischen Lodenstoff gefertigten Kleider zu erfreuen . Wir sehen sie sowohl von den Damen der Aristokratie wie von Damen des einfachen Bürgerstandes getragen , da sie in gleicher Weise elegant und praktisch find. Unter der Firma Cachemire allemand ſucht man ein weiches, ecrüfarbiges Gewebe einzuführen, das den nicht zu unterschätzenden Vorteil besigt, wasserdicht und dehnbar zu sein. Es empfiehlt sich zu Regenmänteln, zu Taillen ohne Naht, auch zu ganz engen, faltenlosen Jupons. Die Dehnbarkeit ist zwar keine große, dennoch wird der Stoff namentlich für starke Figuren mit Vorteil verwendet. Ein anderer Kaschmirstoff kommt mit gleich fertig gestickten breiten Bordüren in den Handel ; lettere sind soutachiert oder in Spartelstich ausgeführt und geben , besonders auf farbiger Unter lage, einen hübschen Effekt. Die neue Cordonnetwolle eignet sich mit ihrem seidenartigen Glanze vorzüglich zur Ausführung In den Fabriken sind Hunderte solcher Stickereien. kunstfertige Arbeiterinnen mit dem Anfertigen dieser Spartel-Bordüren beschäftigt ; für den Sommer wird schon ostindischer Bast und mattgelber Pikee gestickt ; man sieht da die prächtigsten Dessins in so schöner Ausführung, daß sie jedes Beiwerk von
Trachten der Beit.
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Spige und sonstigem Dekorationsschmuck überflüssig halbbreit, die Aermel mit breitem Plissee ; am Hals machen. Wieder taucht die Mode auf, schwarze oder dreifacher Kutscherkragen. dunkelgraue Merinokleider mit Blumen zu applizieren, Form Stephanie ist hinten und vorn andie man aus türkischen oder indischen Shawls ausliegend, zweireihig geknöpft, vorn halb offen mit Ein seidenem Revers. geschnitten hat. - Gar viele Besizerinnen solcher breites Plissee deckt die teuren Tücher werden sich Hinter und Seitenansicht gegen einen Vandalis und reicht vorn bis dicht mus dieser Art sträuben, an die Knopfreihen. manchen liegt jedoch der Recht geschmackvoll ist Shawl als wertloses Ob das Arrangement des jezt jekt schon zu lange unsehr in Aufnahme gekombenußt im Kasten, unmenen Paletot Marguérite Er wird in (Fig. 2) . bedacht geben sie ihn der anliegender Form aus Schere preis ; vielleicht schwerer Sicilienne geferersparen wir ihnen Getigt, rings herum mit drei wissensbisse , wenn wir breiten Spizenvolants garverraten, daß sich unlängst nirt, auf denen in Tütenin Paris ein Verein von Aristokratinnen de pur form spit zulaufende At: ange= las Dekorationen sang gebildet hat, dessen bracht sind , deren jede Tendenz darauf zielt, dem durch eine in Medaillonlange genug in Mißkredit geratenen Shawl seinen form gehaltene PaſſemenEhrenplah wieder zu trie befestigt ist. Gleiche Arrangements längs der sichern. Die Herren Konfektio= Front und auf den AerFig. 8. Fig. 10. näre machen zwar heftige Fig. 9 meln. Für jüngere Damen Hutformen. Opposition. Dringen jene sieht man vielfach Façon Damen durch, so wäre ihnen mit einem Schlage Clothilde (Fig. 3) verwendet. Ein kurzes , vorn offenes Jackett aus broschiertem Stoff ist seitwärts das ganze Frühjahrsgeschäft ruiniert, doch, man weiß ja - ce que femme veut , se réalise. reich mit Schleifen garniert, ringsherum mit ſtufen: Die Shawls werden dort vielfach als Tücher ge= artig aufgesetten Spißen , die vorn en tabelier tragen, arrangiert mehr aber sind, ge= noch mit pust. TaillenZu den schluß draeffektvollsten Kleipiert. Sehr be derformen liebt istauch gehört die Mode, wohl Faaus Himacon Philomele (Fig. laya-Tü Die 4). chern FrühTaille ist jahrsmäntel anzufer: anliegend, hinten und tigen; die in breite wollvorn reiche Spizen auslau Franse wird derart fend, der Rock zeigt aufgesetzt, The der fie daß auf cinen Krarechten gen imiR.B.XA Seite ein tiert ; die ArrangeFig. 7. Hutformen. 6. Fig. Aermel ment von find halbweit, gleichfalls mit Krause garniert , am Puffen, dazwischen gefeßten breiten Spartelbordüren, Hals ein Shawlkragen mit Metallschloß. vorn eine lang herabreichende Schürze, die mit Stickerei umrandet und so gerafft ist, daß die ganze Die beliebtesten Façons für Regenmäntel Seitengarnitur zur Geltung kommt. Die Hinterfind Iphigenie (Fig. 1) und Stephanie. Erstere ist hinten anliegend , unterhalb der Taille leicht bahnen sind leicht gepufft , haben eine untersette Tournüre und derselben entsprechend auch auf dem geschoppt , mit Schleifen garniert und mit dicht Taillenabschluß eine bauschige Troussierung. gelegtem Plissee abgegrenzt. Die Vorderteile sind 30
Küche und Haus.
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Für Mischung glatter und farbiger Stoffe empfiehlt es sich (Fig. 5), den glatten Rock in circa 10 breite Quetſchfalten zu legen, darüber ein sich vorn kreuzendes, farbiges Drapée , das Jackett mit Doppelschößen , den unteren glatt , den oberen von der Taille ausgehenden wie diese farbig. Die Aermel werden zumeist glatt gearbeitet, möglichst wenig Besaß , wohl gar nur unten am Handgelenk einige Knopflöcher und Knöpfe. Leichtere Stoffe geben Gelegenheit , die ehedem beliebten Puffärmel zur Geltung zu bringen, doch bilden sie in Anbetracht der engen , kurzen Röcke kein hübsches Ensemble ; so lange lettere noch in Mode sind, muß auch der anliegende Aermel sein Die neuen Frühjahrshüte Recht behaupten . scheinen ganz wie mit Perlen übersäet ; Rosen und Veilchen sind zur Garnitur sehr beliebt, wo man jedoch auf Blumenschmuck verzichtet, benäht man den ganzen Hut mit farbigen , ſchillernden Atlasperlen , umrandet ihn mit Perlengehängen, ja selbst die aus Stoff gefertigten, dicht gezogenen Barben sind mit derartigen Grelots besest. Solch einen Hut mehrere Stunden lang auf dem Kopfe zu haben, ist keine Kleinigkeit. Die Perlen haben ihr Gewicht, das ſelbſtverſtändlich den Kopf nicht unempfindlich drückt. Praktischer, weil leichter ſind die demnächſt zu erwartenden Roßhaar- und Manillahüte , die man (Fig. 6) sowohl in Capotform dicht aufliegend, wie auch (Fig. 7) mit spißem Kopf und abstehendem Rande vorrätig hat. Leßtgenannte Form ist hinten aufgeschlagen und wird zumeist mit farbigem spanischem Tüll verschleiert. Fig. 8 zeigt einen Hut mit engem Kopf, doch gefalteten , gut schüßendem Schirm , Fig. 9 ist für Reisstroh und italienische Geflechte sehr in Aufnahme ; der abstehende Rand wird zumeist mit farbigem Sammt eingefaßt oder mit in Perlen gestickten Spißen garniert, Façon 10 eignet sich prächtig für ganz junge Mädchen ; er ſchüßt Stirn und Nacken , iſt hinten leicht gefaltet und unter dem Gefältel mit hängenden Blumen garniert. Die crêmefarbigen Strohgeflechte dürften in diesem Sommer dominierend sein ; man sieht ſie in allen möglichen Nüancen vom dunklen, anscheinend sonnverbrannten Reisſtroh bis zum weißlich gelben Manillageflecht.
Küche
und
Haus .
Q a i. Jahreszeit des Eßbaren. Es gibt noch gutes Kalbfleisch, sowie Spätlinge von Lämmern und Spanferkeln, auch hat die Schießzeit für Rehböcke wieder begonnen. Maibutter ist ein mit Recht gesuchter Artikel. Federwild wie im vorigen Monat. Huchen , Karpfen , Bärse , Hechte, Zander, Aeschen sind jeßt nicht gut, dagegen Bleie, Neunaugen und die ihrer Leber wegen geſchäßten Aalraupen sehr empfehlenswert. Die Krebszeit steht in voller Blüte , desgleichen die der Froschkeulen, deren an das zarteste Hühnerfleisch erinnernder Geschmack Veranlassung zu einer falschen „Königin= ſuppe“ wurde , die nur der Kenner von der echten
unterscheiden wird. Die Fülle der jungen Gemüſe macht uns die Wahl schwer. Der Spargel ist jet vorzüglich , ebenso Blumenkohl , junge Kohlrabi, Bohnen und Schoten , grüne Erbsen und Gewürzkräuter ; die Gurken kommen und von Schwämmen haben wir bereits Champignons. Die alten Kartoffeln , welche schon zu keimen beginnen , werden schlecht. Die Erdbeeren reifen und die grünen Stachelbeeren werden als Kompott und Kuchenfüllsel benüßt. Hier und da gibt es auch Kirschen. Die vorjährigen Dauerſpeiſen gehen aus und es beginnt die Zubereitung der neuen , wie das Einſchmelzen der Butter, das Einlegen der jungen Gemüse, das Trocknen von Schwämmen. Festküche. Außer dem üblichen Feiertagsgebäck der großen Napf- oder Topfkuchen, Stollen, Kringeln u. s. w. ist zu Pfingsten in manchen Gegenden Deutschlands, besonders in Oesterreich, eine Art großer Milchbrote sehr beliebt, die in Form der gewöhnlichen runden Brotlaibe gebacken werden.
Speisezettel für Wai. 1) Fischsuppe. Gedämpfte Kalbsleber mit Kartoffelpüree und Gurken. Gebratene Ente mit Salat und Erdbeerkompott . Flammeri von Gries mit Himbeersauce. 2) Französische Suppe. Schleihen mit Sauce von saurer Sahne und Kapern. Grüne Bohnen mit Hammelskoteletten. Rehbraten mit Salat und Kirschen. 3) Reissuppe mit Morcheln. Kalbsfrikaſſee mit Klößchen. Stangenspargel mit geräuchertem Lachs. Gebratene Tauben mit Salat und Himbeeren. 4) Sauerampfersuppe mit Eierklößchen. Forellen in Aspik. Mohrrüben und grüne Erbſen mit Kalbsschnigeln . Reistorte mit Apfelſinen. 5) Suppe Julienne. Croquettes von Haché. Gestovtes Porree - Gemüse mit Rauchfleisch. Sauerbraten mit Kartoffeln, Salat und Stachelbeeren . 6) Kalbfleischsuppe. Gebackener Aal. Kohlrabi mit Schinken. Spanferkel mit Kartoffeln , Salat und Melonenkompott. 7) Suppe mit Schoten und Schwemmklößchen. Krebse. Hammelbraten mit Kartoffeln, Salat und Pflaumen. Plumpudding mit Punschsauce. 8) Legierte Suppe mit Makkaroni . Fleischrouladen mit pikanter Sauce und Kartoffeln . Blumenkohl mit Zunge. Gebratene Hühner mit Salat und Preißelbeeren. 9) Flaumsuppe. Stockfisch mit grünen Erbsen. Rumpsteaks mit Kartoffeln und Salat. Kartäuserklöße mit Kirschen . 10) Sagosuppe. Eier mit Remouladenſauce. Champignons mit Brisoletts . Rehbraten mit Kartoffeln, Salat und getrockneten Birnen. 11) Frühjahrssuppe. Hecht mit holländischer Sauce und Kartoffeln. Lammbraten mit Salat und Apfelsinenkompott. Makronen -Crême. 12) Suppe mit Spargeln und Fischklößchen. Rinderbrust mit geschmorten Gurken und Kartoffeln. Gebratene Tauben mit Salat und Stachelbeeren. Hefenplinsen mit Marmelade. 13) Legierte Graupenſuppe. Fiſchſalat. Spinat
L. Meggendorfer. Die schadhafte Bank.
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25) Suppemit Püree von Blumenkohl. Morcheln, mit gebratener Kalbsleber . Schweinskarree mit Spargeln und Krebse mit Brisolettes. Rinderbraten Kartoffeln , Salat und Quitten. 14) Suppe mit Pilzen. Krebspastetchen . Grüne mit Kartoffeln, Salat und Prünellen. Kirschtörtchen. Rinderfilet mit Bohnen mit Hammelskoteletten . 26) Panadenſuppe. Mayonnaise von Fisch. Sauerampfer mit OmeKartoffeln , Salat und lette. Glasierter KalbsPflaumen. rücken mit Kartoffeln, 15) Suppe à l'EsSalat u. Effigpflaumen. pagnole . Forellen blau Die schadhafte Bank. 27) Legierte Suppe mit Butter und Karmit Gries. Beefsteaks toffeln . Kalbskeule à la Eine Geschichte in drei mit gebratenen KarKufstein mit Salat und Bildern toffeln und Mixed Pickles. Kirschen . Reispudding Gebratene Hühner mit von mit Hagebuttensauce. Spargelsalat und Him16) Suppe mit L. Meggendorfer. Dampfnudeln beeren. Fleischklößchen . Mayonmit Vanillesauce. naise von Kalbshirn. 28) Weinsuppe mit Tauben mit Pilzen und Sago . Rindfleisch mit Reis. Hammelsrücken und Meerrettigsauce mit Kartoffeln , Salat Kartoffeln. Gefüllter und Himbeeren . Kopfsalat mit gebackenen 17) Kerbelsuppe mit Kalbsfüßen. Gebratene Croutons. Zander mit Ente mit Salat und Champignonsauce . Johannisbeeren. Brechspargel mit Zunge. 29) Sagosuppe. GeGebratene Ente mit Sadämpfte Rinderrippen lat undMelonenkompott. mit Makkaroni. Reh18) Suppe mit Eierbraten mit Salat und gerste. Rinderschwänze Melonenkompott . Charmit Madeirasauce und lotte russe . Frischling Kartoffeln . 30) Krebssuppe. Frimit Spargelsalat und kassee von Tauben. BluPreißelbeeren. Schokomenkohl mit geräucherladenstrudel. tem Lachs. Marinierte 19) Suppe mit Reis. Hammelskeule mit Kare Frikasse von Froschtoffeln, Salat und Preifeulen. Blumenkohl mit Belbeeren. Schinken. Roastbeef mit 31 ) Suppe mit Lebergebratenen Kartoffeln , klößchen. Karauschen mit Salat und ApfelsinenButtersauce und Karkompott. toffeln. Roastbeef mit 20) Krebssuppe. Bohnensalat und ApriRindfleisch mit Kapern kosen. Erdbeertörtchen. sauce und Kartoffeln. Mohrrüben und grüne Der geftirnte Himmel Erbsen mit Cervelatim Monat Mai. wurst. Rehbraten mit Mitte Mai glänzt Salat und Aprikosen. gegen 10 Uhr abends das 21) Suppe mit NuSternbild des Bootes hoch deln. Gestooter Aal mit am Südhimmel ; östlich Kartoffeln. Lammbraten davon stehen Krone und mit Salat von grünen Herkules und die KonBohnen und Katharinenstellation der Leier istnun pflaumen.Punschauflauf. schon ziemlich hoch über 22) Suppe mit grü den nordöstlichen Horinen Erbsen und Einemporgekommen . zont Lauf.RagoutinMuscheln. Der große Bär steht im Kohlrabi mit HammelsNordwesten und neigt sich immer tiefer. Kapella ist im koteletten. Hirschziemer mit Kartoffeln, Salat und Nordnordwesten am Untergehen. Im Norden endlich Himbeeren. steht amHorizont das Sternbild der Kassiopeia. Wendet 23) Fischsuppe. Stangenspargeln und Kalbsman sich von hier östlich, so kann man auch schon den schnigel. Gebratene Wachteln mit Kartoffeln, Salat größten Teil vom Sternbilde des Schwans erkennen und und Quitten. Erdbeeren mit Schlagsahne. ebenfalls einen Teil der Konstellation des Adler. Im 24) Suppe à la reine. Forellen , blau mit Südosten endlich streift der Skorpion den Horizont Butter und Kartoffeln . Auflauf von Polenta. Spanund man erblickt dort den glänzenden Stern Antares. ferkel mit Salat und Reineclauden.
236 Bum
Kopfzerbrechen.
Rebus.
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Palnidrom. Wo Trauben wachsen, da geschicht Es sicherlich, wenn reif sie sind 1 Liest man's von rüdwärts, wird's geschwind Ein Tier, das Lasten trägt und zieht. Zusammenlegspiel. Aus folgenden Zeichen soll das Bild einer Eule zusammen gesetzt werden:
Buchstabenrätsel. Aus folgenden 22 Silben sind 7 Wörter zu bilden, deren Anfangsbuchstaben, von oben nach unten gelesen, den Namen eines bekannten Staatsmannes ergeben, während die Endbuch staben, von oben nach unten gelesen, das Ziel bezeichnen, auf welches eben dieser Staatsmann lossteuert : an, ba, di, di, dil, en, ge, go, go, go, in, ko, kro, let, ma, ni, rap, ren, ri, sar, to, tum. 1) Ein Hafen am schwarzen Meere ; 2) eine Farbe; 3) eine Insel ; 4) ein Schlachtort in 3talien ; 5) ein Nebenfluß des Pregel ; 6) Titel einer Oper ; 7) ein Reptil. Silbenrätsel. In Deutschland ist die Erste mein Recht allgemein und sehr bekannt ; Die Zweite ist nur selten klein Und wird im Heere oft genannt. Das Ganze pflegt die Erste sehr, Damit sein Gut sich stets vermehr'.
Musikalisches Rätsel.
Homonym. Beim eigenen Schein Schmeckt's dir gar fein.
Anagramm. Der Landmann will's von seinem Feld, Zwei erste Zeichen nur verstellt, So will's der reiche Mann vom Geld.
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Auflösungen zu Heft 1, 33d. 2. Freisrätfel: Auf, auf ! zum fröhlichen Jagen, Auf, in die grüne Heid', Es fängt schon an zu tagen und günstig ist die Zeit. Auf, bei der frohen Stunde, Mein Herz, ermunt're dich, Die Nacht ist schon verschwunden Und Phoebus zeiget sich. (S. auch Briefkasten). Rebus: Guten Morgen, Herr Fischer! Silbenrätsel : Armselig. Anagramm: Eifer. Reife. Rätselfonett: Luftschloß.
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Schlüsselrätsel.
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Röffelsprung.
Lucke, Verantwortl. Herausgeber : W. Spemann in Stuttgart. Redakteur : Joseph Kürschner ebenda. Uebersehungsrecht vorbehalten. Nachdruck, auch im Einzelnen, wird strafrechtlich verfolgt. Drud von Gebrüder Kröner in Stuttgart.
Ein Dichterhaus am Thuner See. Von Theophil Zolling.
er unglückselige, große Heinrich von Kleist kam als fünfundzwanzigjähriger Jüngling, nachdem er sieben Jahre der Armee angehört und zwei Semester in seiner Vaterstadt Frankfurt an der Oder Humaniora studiert hatte , auf den abenteuerlichen Gedanken, wie er sich ausdrückt : „ein Bauer , mit einem etwas wohlklingen deren Worte, ein Landmann “ und zwar in der Schweiz werden zu wollen . Zu diesem Zwecke reiste er im Sommer 1801 von Berlin über Paris nach Basel und langte wohl noch vor Weihnachten in Bern an. Dort verkehrte er namentlich mit seinem Landsmanne Heinrich Zichokke , dem beliebten Novellisten und Ber-
dramatischen fönnte.
Entwürfe
in Ruhe
ausführen
Er fand das gesuchte Tuskulum in der Nähe von Thun, dem Hauptorte des damaligen Kantons Oberland, und zwar eine Viertelmeile oberhalb des Städtchens , wo der Aarstrom dem See entspringt und zwei bewaldete Werder umſpült. Namentlich das obere der beiden Eilande , damals im Volksmunde nach dem Namen seiner Besizerin Delosea-Inseli genannt, gefiel ihm so ausnehmend, daß er das dortige fleine Häuschen , das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war , für sechs Monate
miethete. In Folge eines Mißverständniſſes fonnte er diese Wohnung aber erst in zwei Wochen beziehen. Er nahm also unterdessen fasser der „ Stunden der Andacht“ , und mit | nahe am Stadtthore Quartier und zwar in den beiden Dichterssöhnen Ludwig Wieland einem nicht mehr zu ermittelnden Hauſe, deſſen Schaufeite folgenden, im Oberlande noch immer aus Weimar und Heinrich Geßner aus Zürich, häufigen Spruch trug : seines Zeichens Nationalbuchdrucker der einen und unteilbaren Helvetischen Republik von „Ich komme, ich weiß nicht, von wo ? Bonapartes Gnaden. Nachdem Kleist den Ich bin, ich weiß nicht, was ? Ich fahre, ich weiß nicht, wohin ? Freunden seinen dramatischen Erstling : „Die Mich wundert, daß ich so fröhlich bin. " Familie Schroffenstein " vorgelesen und dabei ehrenvolles Lob und fast beleidigendes Gelächter An Zschofte schrieb er in jenen Tagen geerntet hatte, vereinigten sich die vier Jüng(1. Febr. 1802 ) : „ Der Vers gefällt mir unlinge , wie Virgils Hirten, zum poetischen gemein und ich kann ihn nicht ohne Freude Wettkampf und nahmen zum Vorwurf einen denken , wenn ich spazieren gehe. Und das französischen Kupferstich , der eine Gerichtsthue ich oft und weit, denn die Natur ist hier, wie Sie wissen, mit Geist gearbeitet, und das verhandlung in Sachen eines zerbrochenen ist ein erfreuliches Schauspiel für einen armen Kruges darstellte. Diese poetische Anregung war so stark, daß Kleist seinen Plan, sich in Kauz aus Brandenburg , wo , wie Sie auch wissen , der Künstler bei der Arbeit eingeder Umgegend anzukaufen, um so lieber fallen ließ, als auch die fortwährenden Parteikämpfe schlummert zu sein scheint. Jetzt zwar sicht auch hier unter den Schneeflocken die Natur zwischen Aristokraten und Patrioten und die Interventionsgelüfte des Pariser Direktoriwie eine achtzigjährige Frau aus , aber man ums sehr unsichere Verhältnisse herbeigeführt sieht ihr doch an , daß sie in ihrer Jugend hatten und noch ferner in Aussicht stellten. schön gewesen sein mag. Ihre Gesellschaft Gleichwohl sah er sich nach einem provi- vermiſſe ich hier sehr, denn außer den Gütersorischen stillen Erdfleck um , wo er seine verkäufern kenne ich nur wenige , etwa den 31
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Theophil Bolling.
Hauptmann Mülinen ¹ ) und seinen Hofmeister, angenehme Männer. " Erst nach einem abermaligen, mehrwöchigen Aufenthalte in Bern konnte er sein gemietetes Inselhäuschen beziehen. Er scheint fleißig gearbeitet zu haben. Wohl zunächst an der von Spanien nach Schwaben zu verseßenden „ Familie Schroffenstein ", vielleicht auch an seinem Preisstück „Der zerbrochene Krug", jedenfalls aber an dem Ideal seiner Dichterträume, seinem
Lieblingswerke : „Robert Guiskard " . Von all diesem Herz und Hirn angreifenden Ringen blieben uns nur die Schroffensteiner“ erhalten, denn seine sämtlichen Papiere scheint er ein paar Monate darauf in Bern, wohl im Anblick des Todes oder in einem Anfalle von Schwermut verbrannt zu haben. " Der zerbrochene Krug" und das Fragment von „ Guiskard ", die wir in seinen Werken finden, sind spätere Bearbeitungen.
XA OF&C Kleists Wohnhaus am Thuner See. Gewiß fühlte sich der Dichter auf seiner Insel überaus glücklich. Davon zeugt uns noch ein Brief an seine Schwester Ulrike vom 1. Mai 1802, worin er sein dortiges Leben beschreibt. " Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der anderen Spize eine kleine Fischerfamilie , mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein 1) Friedrich von Mülinen, der nachmalige Schult= heiß der Stadt und Republik Bern , auch bekannt als Geschichtsforscher und Sammler schweizerischer Antiquitäten.
Haus gegeben, die mir die Wirtschaft führt : ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt wie ihr Taufname Mädeli. Mit der Sonne stehen wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu euch , dann effen wir zusammen ; Sonntags zieht sie ihre schöne Schweizertracht an , ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über , sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, und nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiß ich von der ganzen Welt nichts mehr ... Du weißt, daß mir das Sparen auf keine Art gelingt. Kürzlich fiel es mir einmal ein, und ich sagte dem Mädeli,
Ein Dichterhaus am Thuner See.
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sie sollte sparen. Das Mädchen verstand aber das Wort nicht , ich war nicht im stande, ihr das Ding begreiflich zu machen , wir lachten beide , und es muß nun beim alten bleiben. Uebrigens muß ich hier wohlfeil leben , ich komme selten von der Insel , sehe niemanden, lese keine Bücher , Zeitungen , kurz, brauche nichts, als mich selbst. Zuweilen doch kommen Geßner oder Zschokke oder Wieland aus Bera, hören etwas von meiner Arbeit und schmeicheln mir; furz , ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind : ein Kind , ein schön Gedicht und eine große That ... Mit einem Worte, diese außerordentlichen Verhältnisse thun mir erstaunlich wohl , und ich bin von allem Gemeinen
sei, und knüpfen daran die Vermutung , daß dieses Unglück ihn von der Insel getrieben und wohl auch aufs Krankenlager geworfen habe. Dies wird durch gar keine Thatsachen bestätigt und ist auch sonst nicht glaubhaft. Kleist war bei aller Gefühlseigenheit zu sehr Verſtandesmenſch , um sein vom schmerzlichen Bruche einer langjährigen Liebe kaum genesenes Herz an ein so wenig ebenbürtiges, wenn auch reizendes Naturkind zu hängen und von ihm das Glück. seines Lebens zu erwarten. Nur so wäre es möglich, daß ihn eine Enttäuschung dermaßen hätte niederschlagen können. Gerade die beiden verbürgten Fakta, daß er sein ihm von der
zulegt verfolgte, endete auch dies Schäferspiel. Er erkrankte schon im dritten Monat seines Aufenthalts auf der Aarinsel und mußte nach Bern geschafft werden, von wo ihn dann die herbeigeeilte Schwester im Herbst nachDeutschland mitnahm. Kleists Biographen erwähnen auch ein Gerücht, wonach Mädeli dem Poeten wegen
Aar absticht. Und nun der Thuner See mit seiner Umgebung ! Im Vordergrund ein Kranz von Villen und Dörfern, sanftgeschwungenen Rebenhügeln und waldigen Höhen, und über dieser Idylle die Tragödie der Alpenwelt : die kühnen Linien und kräftigen Farben der Felsschroffen mit ihren silbernen Schneefeldern.
eines franzöſiſchen Offiziers untreu geworden
und Gletschern ! Ein unglaublich majeſtätiſches
ehemaligen Frankfurter Braut zurückgeschicktes Bild dem Berner Mädeli zurückließ und im so entwöhnt, daß ich gar nicht mehr hinüber folgenden Sommer 1803 , noch immer und halb möchte an die anderen Ufer , wenn ihr nicht | zerrütteten Geistes mit „ Robert Guiskard" rinda wohntet. " gend, wieder auf kurze Zeit im Jnselschlößchen. „Ein Kind , ein schön Gedicht und eine " bei Thun einkehrte , sind vollgültige Beweise, große That !" Gewiß ist der erste dieser drei daß sich keine peinliche Erinnerung an seine Wünsche daran schuld , daß die Berliner und kleine Hausverwalterin und ihr Paradies knüpfte. Frankfurter Klatschbasen von einem förmlichen Kleists Haus steht noch heute , renoviert, Liebesverhältnisse Kleists mit dem Thuner Mädeli - Diminutiv von Mäde, Magdalene, aber sonst unverändert, und der Reisende, der ein noch heute im Oberlande stark verbreiteter das Dampfschiff an der gegenüber liegenden Name — so entschieden fafelten, daß dieses GeStation Scherzlingen besteigt, sieht es gerade auf der jenseitigen Inselspite. Es ist ein trätsch sogar seinen Weg in die Litteraturgeschichte finden konnte. Man übersah eben, freundlicher, einstöckiger Bau aus Riegelmauern, daß dieser Brief gleichsam zwiſchen zwei Tiraden die auffestem Steinfundament hart am Strande Robert Guistards ganz im Ueberschwange stehen. Ein franzöſiſches Manſardendach senkt poetischer Begeisterung niedergeschrieben wurde sich verschlafen fast bis zur Terraſſe , unter und keineswegs wörtlich zu nehmen ist. Auch deren Wölbung die reißende Aar dahinschießt. Aus den niedrigen Fenstern ist die Aussicht die angebliche Besteigung des Schreckhorns entzückend. Zur Rechten liegt das Dörschen spricht von der angeregten Phantasie des BriefScherzlingen mit seinem uralten Kirchlein und schreibers, denn jener Bergriese mit seinen 4082 Meter über Meer war damals noch nie bewältigt, den Fischerhütten Fischerhütten am Ufer. Links drängt sich am allerwenigsten von unserem Dichter wäheine bewaldete Landzunge, die berühmte Bächirend Mädelis Andacht. Die Hauptsache für matte , dem jenseitigen Strande entgegen, wo uns bleibt Kleists Geständnis , daß selbst die das prächtige Schloß Schadau steht, und ver Menschheit , die er flichen gewollt , sich ihm engert solchermaßen das Strombett. Zwiſchen hier von der schönsten Seite zeigte und seinen diesen beiden Ufern zeigt sich nun in der Frieden mit sich selbst und der Welt erhöhte. Perspektive der klare Spiegel des Sces , der in seiner stillen Größe seltsam von der wilden Aber der Unstern , der den Dichter bis
240
Nicola Masc. Dolce far niente.
Bild entrollt sich von der Pyramide des Riesen bis zu den Firnen der gewaltigen Blümlisalp, des spizen Stockhorns, der schimmernden Jungfrau , deren Eispanzer im Morgenstrahle die Leuchte der noch schlafbefangenen Thäler und Hügel bildet. Just von seinem Fenster aus sah Kleist in voller Größe den Eiger , den Mönch , das Schilthorn , die Jungfrau , und man glaubt es ihm gerne, wenn er scherzend an Zschotte schreibt : " Die Leute meinen hier durchgängig, daß ich verliebt sei ; bis jetzt aber bin ich es noch in keine Jungfrau, als etwa höchstens in die, deren Stirne mir den Abendstrahl der Sonne zurückwirft , wenn ich am Ufer des Sees stehe. " Ja , hier konnte der ,,unglücklichste Bürger des ästhetischen Staates " die Natur nach seiner Gewohnheit fragen, ,,was recht ist und edel und schön und gut", und so nachhaltig wirkte auf ihn die landschaftliche Staffage seiner sommerlichen Jdylle, daß sich auch noch in seinen späteren Werken Spuren von ihr finden. Gewiß legte er hier auf seinem weltverlorenen Eilande die Schilderung von Rossitseinem Silvester von Schroffen stein in den Mund : ... Wie wenn an zwei Seegestaden zwei Verbrüderte Familien wohnen, selten, Bei Hochzeit nur, bei Taufe, Trauer oder Wenn's sonst was Wicht'ges gibt, der Kahn Herüberschlüpft, und dann der Bote vielfach, Nesch eh' er reden kann, befragt wird, was Gochehn, wie's zuging und warum nicht anders ,
Ja selbst an Dingen, als, wie groß der Aeltſte, Wie viele Zähn' der Jüngste, ob die Kuh Gekalbet, und dergleichen, das zur Sache Doch nicht gehöret, sich erschöpfen muß" ... Und wir glauben ihn selbst zu sehen, wie er auf der Terrasse seines Inselschlößchens steht und den Stimmen der gewitternden Natur lauscht, zumal dem Sturmwind , der ein Segelschiff in den gefährlichen Wirbel bei der Schadau zieht und das Geplätscher des nahen Kohleren Wasserfalles herüberträgt. ... Es ist ein trüber Tag Mit Wind und Regen, viel Bewegung draußen. Es zieht ein unsichtbarer Geist, gewaltig, Nach einer Richtung alles fort: den Staub, Die Wolken und die Wellen. - Sehr beschäftigt mich Dort jener Segel - siehst du ihn ? Er schwankt Gefährlich, übel ist sein Stand, er kann Das Ufer nicht erreichen. Ich hör ein Rauschen wieder - Ach, es war Ein Windstoß, der vom Wasserfalle kam." Endlich finden sich auch noch in seiner 1808 veröffentlichten Idylle „ Der Schrecken im Bade" unverkennbare Anklänge an jene Umgebung , wo er die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hat. „Wie schön die Nacht ist ! Wie die Landschaft rings Im milden Schein des Mondes still erglänzt ! Wie sich der Alpen Gipfel umgekehrt In den kristallnen See darnieder tauchen! Wie einsam hier der See den Felsen klatscht! Und wie die Ulme, hoch vom Felsen her, Eichniederbeugt, von Schlee umrankt und Flieder ! "
GUNTHERS Dolce far niente.
Von Nicola Masic.
Richard Voß. Aus der Gallerie Borghese.
Aus
der
Gallerie Von
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Borghese.
Richard Ho k.
Raphaels Cesare Borgia. In der Galerie Borghese, in dem Saal von Raphaels Grablegung, hängt dessen Porträt Cesare Borgias. Es ist ein seltsames Bild. Man steht davor , sieht es an , und weiß man gerade keinen Namen, weder von dem, der es gemalt hat, noch von dem, den es vorstellt, so denkt man , in das ſtolze, vornehme Männergesicht schauend, doch gewiß : Wer und was magst du gewesen sein? Was magst du gethan haben? Und was ist es, das zu dir hinzieht und so von dir abstößt ? Der Mann da lebt noch hier auf der Leinwand; hier ist er so ewig lebendig , daß man meint, seine Lippen könnten sich jeden Augenblick öffnen, um den Menschen, die ihn so scheuen, zu sagen, mit welchen Thaten er selbst seine Geschichte geschrieben. Ein Fremdling in Rom, durchwandelst du eben zum erstenmal den Palazzo . Borghese, diese köstlichste Galerie der ewigen Stadt ; so schlägst du denn deinen Bädeker oder Gsell Fels auf, suchst und findest, mit einem Sternchen bezeichnet : Raphael: Porträt Cesare Borgias. Nun hast du den Namen, nun weißt du's. Cesare Borgia - du hast dir längst dein eigenes Bild von diesem Manne gemacht ; aber Raphael ist denn doch der größere Maler. Dein Cesare Borgia verblaßt. Immerhin hast du gar nicht so schlecht gemalt : es ist wirklich merkwürdig dein Bild gleicht dem des göttlichen Meisters . Gewöhnlich ist unsere Einbildungskraft eine überaus liebenswürdige Künstlerin. Wie sie schmeichelt ! Sie malt ihre Helden und Heldinnen, daß diese sogar Kammerdienern und Zofen als höchst voll kommene Geschöpfe imponieren. Vergleicht man nun dieſes Idealbild mit der Wirklich keit, wie grau ist dann, was dir, lieber Dichter, in Rojengluten geleuchtet! Vor Raphaels Cesare Borgia jedoch denkst du: Seltsam! So hab' ich mir ihn vorge-
stellt. Nun bist du , was die Geschichte des römischen Mittelalters betrifft , gerade kein Gregorovius , weißt also über Cesare Borgia auch nicht viel mehr, als was so ziemlich die meisten davon wissen und das ist nicht eben viel. Du kennst ihn als des blutigen Vaters blutigen Sohn : ein wahrer, echter, schrecklicher Borgia und kannst du hinzufügen - ein wahrer, echter, schrecklicher Sohn seiner Zeit : gewaltsam und despotisch, wild begehrend und wild erreichend, ein Mensch, der ein empörtes Volk ebenso wie ein ungebändigtes Pferd bezwingt; der Päpsten und Königen ihre Tiaren und Kronen entreißt, um ſelbſt zu herrschen: sei's mit dem Zepter , als weiser Fürst und Lenker des Staates , sei's mit gezücktem Schwert als Feldherr, der sich nimmt, was er verlangt und was ihm, vielleicht mit heiligstem Rechte, verweigert wird — ein Mensch, der behauptet , was er sich mit Liſt und Gewalt, durch Gift und Dolch zu eigen gemacht . Und sind es nicht Zepter und Schwert, so ist's die Geißel, die er über dem gebeugten Rücken seines Volkes schwingt : Unterwerfung oder Vernichtung ! Uebrigens ist eine Gestalt, wie die Cesare Borgias in ihrer wunderlichen Vereinigung von Laster und Genie, von Schändlichkeit und Hoheit , fürstlichem Raubrittertum und großartigem Talent zum Herrscher, durchaus nicht So wie so ungewöhnlich , als man meint.
er, waren viele. Nicht minder ungeheuerlich und unbedenklich in jeder Art von Gewaltsamkeit und Verbrechen , waren sie nur minder glänzend , minder genial, vor allem : Es wimmelte damals in minder mächtig. ganz Italien von solchen Kraftmenschen, mit einem Talent zum Räuber und Mörder im großen Stil , daß wir , das zahme Geschlecht von heute, vor diesen wilden , blutigen Erscheinungen mit einem Entseßen ſtehen, das ihre Existenz zu Hunderten gar nicht begreift. Sie rissen ihr unglückseliges Vaterland in Stücke und versuchten gierig von den Feßen des Purpurmantels , den sie dem königlichen Italien
Richard Vok.
242 von für mit mit auf
der Schulter zerrten, soviel als möglich, sich zu rauben; so führten sie nicht allein Papst und Königen Krieg, sondern auch der Menschheit , der sie Kampf ansagten Tod und Leben. Daß darüber ihre
Menschlichkeit zu Grunde ging, war schließlich die notwendige Folge. Der päpstlichen Brut
der Nepoten , die unter dem heiligen Stuhle aufgefäugt wurde, diesem Gezücht von Schlangen, das Italien gleich einem Laokoon umstricte und erwürgte, diesen Priestern , die mit dem Kruzifix in der Hand und der Mordwaffe unter ihrem Kardinalsgewand den Gott aus der Kirche vertrieben und den Gözen auf seine
Gravepar Morace
LetparRaphael Raphaels Giulio II.
Altäre sezten allen diesen , nur in jener Zeit möglichen Gestalten, floß ein Blut durch die Adern, das dem wilden Blute der Borgias glich. Manchem von ihnen galt die Königskrone Italiens durchaus nicht für ein unerreichbares Kleinod ; sie jagten darnach, um schließlich gleich Cesare Borgia von stärkeren Gewalten zermalmt zu werden. In jüngster Zeit wollen dichterische Gemüter in jener glänzenden Tyrannengestalt
einen großartigen Pessimisten erkennen, der von titanischem Weltschmerz ergriffen, seinem Ekel über die ungeheuerliche Zeit in Thaten Ausdruck gab , die wie das Jahrhundert waren, in dem sie geschahen : triefend von Blut, diktiert von wütendem Ehrgeiz , vollbracht mit schonungslosester Gewalt , eine grauenvolle Reminiscenz römischer Kaisertage. Cesare Borgia, behauptet jene dichterische Fiktion, habe für seine kranke Zeit eben die Mittel gebraucht,
Ans der Gallerie Borghese. mit denen ein kühner Arzt einen durch und durch verpesteten , bereits in Fäulnis übergehenden Körper am sichersten aus der Welt schaffe. Cesare Borgia habe den Krebsschaden Italiens erkannt, ihn mit Gewalt heilen, mit
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Gewalt ein neues, gesundes Italien schaffen wollen. Diesem düsteren, leidenschaftlichen Bilde sehr ähnlich, hat Macchiavelli Alexander Borgias Sohn als verkörperten Idealtypus gezeichnet ,
DAMOURNA Raphaels Gesare Borgia. und, wirklich seltsam! Züge von diesem Gemälde hat auch Raphael in seinem Porträt Cesare Borgias den Zeiten nach ihm als wertvolles Vermächtnis überlassen. Allerdings bedarf es bei diesem Bildnis der Geschichte des Mannes als Kommentar, aber mancher wird selbst mit dieser Lösung in der Hand die Lösung zu dieser Mannesseele nicht finden. ... Er steht da, recht, als wisse er, daß
er Cesare Borgia heiße.
Ein schwarzes Samt-
kostüm fleidet ihn , daran merkwürdigerweise nur der eine Aermel reiches, weißes, spanisches Das dunkle Barett mit Bandwerk trägt. langer, braunroter Feder ist von der Stirne hinweg, ritterlich trotzig auf die Seite des Kopfes gerückt. Stolz genug sieht er aus ! Die rechte Hand faßt den Knopf seines Schwertes , die linke hat er nachlässig an die Hüfte
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Richard Vok.
Es ist eine gar vornehme Hand, gelegt. Augen bleiben dieselben : Augen, die von einer welche die weiße Manschette mit dem zierlichen , lächelnden Lippe nichts wiſſen. Und dann wieder: roten Stickwerk anmutig umfältelt. Blaß Daß dieser erotische Mund viel von Liebe spricht, Schwüre, kosendes Geflüster, zärtliche liegen die langen, schmalen Finger auf dem dunkelsamtenen Grunde. fürst- | Seufzer hat, das versichert er dich heute noch. Es ist eine fürst liche Hand das Weib, das diesem Manne Aber wie er Befehle erteilt zu Mord, Gewalt gerade gefällt, wird sie erwürgen, wenn es und Verwüstung, wie er grollt und droht ihm widersteht. und wütet - aus diesem Munde Tyrannenwort - du schüttelst den Kopf und murUnd nun, sein Gesicht. Ein schöner Bursche ist's, das muß ihm selbst der Neid lassen! melst wieder dein erstes Wort : Ein Mann, nicht nur Männern gefährlich, Ein seltsames Bild! nein, auch Frauen, ein Liebhaber von dämonischer Gewalt, unwiderstehlich an seine Brust ziehend und fortschleudernd nach gesättigter Raphaels Giulio II. Begier und verlorenem Reiz. Man begreift, Raphael soll ihn malen. daß dieser Mann Frauenliebe genossen , wie Ein Bild des Statthalters Christi: den Wein, den er beim Symposion an Yukretiens Giulio II.! Mag die Nachwelt es austaunen, Seite schlürfte: die Schale geleert und fortgeworfen. War sie von Kristall — nun ſo und wissen, wie der Mann aussah, der ebenzerbrach sie eben zu Scherben! sogut mit dem Schwerte kämpfen konnte, als Er hat einen kleinen, fast zierlichen Kopf, mit dem Kreuz, der ebensogut ein großer Kondottiere hätte sein können, als er ein großer die Stirn ist hoch, rein, bedeutend; die Nase Priester war, römischer Kaiser ebensogut, als groß, fühn gebogen mit scharfem, schmalem römischer Papst. Rücken und Nüstern, die gewiß bei jeder Raphael ist bei ihm , sonst niemand. Erregung zitterten. Aber alle diese Einzelheiten muß man sich gewissermaßen erst zu- An der olivengrünen Wand des Saales stehen ſammenſuchen : was man in diesem gelben Antlig hochlehnige Armseffel , vergoldet, mit purpurrotem Samt überzogen zuerst sieht, das sind die Augen. Von feinen, auf irgend einen davon, hat Giulio II. sich niedergelaſſen : schwarzen Brauen umzogen, blicken sie dich an, als das Dämonische als das Geheimnisvolle „Knabe, male!" dieses Bildes. Sie sind groß und weit offen Der Knabe" heißt Raphael Sanzio . Sein Genius wird bereits von Italien angeſtaunt, und doch scheint die Wimper sich wie müde darüber zu senken. Es strahlt dich dunkel an, nimmt bereits seinen Adlerflug zu Wolkenmit einem Blicke, der in die Seelen späht, vor höhen empor. Die ihm von unten aus der dem Mancher den seinen zu Boden geschlagen Tiefe nachblicken, wiſſen nicht, wohin die SchwinUnd dabei ist dieses Auge so haben wird. gen ihn tragen werden : ob in den heidnischen Olymp, ob in den christlichen Himmel hinein. ruhig, so vornehm, so kalt ; es wird dir unheimlich dabei zu Mut, aber du siehst nicht | Jedenfalls in die Ewigkeit. So groß und stolz, ist der junge Titan hinweg; in den Augen des Mannes liegt eben das Rätsel und du begehrſt es zu lösen. mit den frommen Kinderaugen und der sehnUnd noch Eines iſt's, das dich in diesem suchtsvollen, weichen, zärtlichen Seele, vor jenem blaſſen und doch von Farbe durchglühten | majestätischen Greis wirklich doch nur ein unMännergesicht in Erstaunen setzt, als ein gar bärtiger Knabe und ohne darüber erröten zu eigentümlicher Gegensatz zu jenen, dämoniſchen brauchen, mag Raphael in der Gegenwart des Augen : der Mund ! Ein eitles Mädchen könnte Statthalters Christi (des Feldherrn sollte man Cesare Borgia um die Anmut seiner Lippen bei diesem sagen) seine Knabenhaftigkeit fühlen. beneiden. Der rötliche „ Christusbart “ macht „Male", hat Giulio II. dem Liebling des Vatikans zugerufen. Mit welcher Stimme die Kleinheit und Grazie dieses Mundes nur um so auffallender. Wie mag es sein, mag dieser Mann gebieten ? Sieht man ſein wenn diese Lippen lächeln? Ob dann wohl Bild, so glaubt man seine Stimme zu hören: Mürriſch, hart, grollend, mit einem Tone darin, auch diese Augen Sonnenschein erhalten ? Tu mühst dich, dir das vorzustellen. Aber die der, wenn er zu seiner höchsten Kraft anschwillt,
Aus der Gallerie Borghese .
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Wie der Körper in sich zusammengefunken, so scheint auch der Geist sich zu sammeln. Er ist ein alter Mann, aber was er grübelt, sind Thaten, die der Seele eines Jünglings zu entströmen scheinen, eines jungen Giulios II. Vielleicht denkt er, wie er einſt, äls Kardinal della Rovere , sein Kloster Grotta ferrata zur Festung machte: „ Stommt nur heran, ich zeig' euch den Mönch " ! Oder wie er in Ostia den Rebellen Cesare Borgia sing. Oder wie er an der Epiße von vierundzwanzig Kardinälen gegen Perugia zog : „ Eei einig, Italien ! Und willst du nicht einig sein, dann verfluch' ich dich nicht, dann kämpf' ich mit dir !“ Papst Giulio grübelt grübelt, wie er das freche Venedig züchtigen, das mächtige Frankreich aus Italien verjagen will ; wie er den Vatikan zum Palast der Kirche, Rom zur Stadt der Christenheit machen wird ; wie er den alten St. Peter niederreißen , um an seiner Stelle einen Tempel aufzurichten, der die Macht der katholischen Kirche aufbaut in Travertin und Marmor, mit Gold- und Edelsteinschmuck , mit einem Himmel unter dem Himmel ein Werk, das wie die Königsgräber der Wüsten der gekreuzigten Gottesleiche für die Ewigkeit eine Gruft sein soll, aus der den Völkern seliges Leben entsteigt. Papst Giulo grübelt grübelt, wie er seine Kapelle von dem Manne schmücken lassen will , der eben so groß ist, wie er : ein Gigant in seiner Kunst; er grübelt, wie er demselben. Doch sieh dir den alten, guten, schwachen | trotzigen Geiste, der ihm dient, gebieten will, Mann näher an: Da wirst du finden, aufzuhören, sein Grabmahl zu meißeln , denn er will noch kein Grab, er will noch das Leben . daß es durchaus nicht der Einbildungskraft Nein, kein Grab! Nur seinen Moses, eines Phantasten bedarf, sich in der Rechten den mag ſein Künſtler vollenden . . . Er denkt des päpstlichen Greises , die jezt so friedlich daran und packt mit seiner Linken die Lehne ein Taschentuch hält, ein Schwert zu denken, und die alten welken Lippen pressen sich fest das er seinen Scharen voran als Feldherr schwingt. Die Kraft dieses alten Mannes aufeinander : Michelangelos Moses , das ist ein Werk nach seiner Seele. So ein Mosesund was er sonst noch Gewaltiges ist Herzschlag pocht auch in seiner Brust. Ein wenn nichts anderes sie dir verrät , so blicke auf die dünnen zusammengekniffenen Lippen, auf Völker-Feldherr, Schlachtenleiter und Priesterdas ist Moses gewesen, das ist er : fönig die tiefliegenden , von scharfen Falten , von Bapst Prometheus - MichelII. Giulio buschigen, weißen Brauen umzogenen vor sich hinstarrenden Augen und du hast Giulio II . angelo griff in Papst Giulios Bruſt, griff in seine eigene Brust und so trat er vor seinen wie er in der Geschichte lebt , stark, trotig, ein Titan der streitenden und triumphieMarmorblock, dem er entriß , was er selbst renden Kirche Christi. war und ein anderer, der ihm glich. So denkt Raphael malt ihn, Er sitt, ruht, denkt. Papst Giulio II. und Raphael malt ihn. auf dem Schlachtfelde durch das Toſen des Kampfes gehört werden mußte und, vom Vatikan. aus Fluch schleudernd , Europa wie Tonner durchfuhr. „Male"! Und Raphael malt. Es ist eine Sigung , in der es kein Posieren und Arrangieren gibt. So gefällt es seiner Herrlichkeit , sich porträtieren zu lassen, so muß es dem Künstler recht sein. Giulio II. ist ein alter Mann. Wenn man ihn so still daſizen sieht, die Arme auf der Lehne des Armsessels , den Kopf gesenkt, die ganze Gestalt in ſich zuſammengeſunken, möchte man fast sagen : ein alter, schwacher | Mann und blickſt du ihm in das Gesicht : welk, voll Falten, mit langem , silberweißem, ehrwürdigem Barte, so möchtest du ein drittes Adjektivum hinzufügen : ein alter, schwacher, guter Mann ; und der Tonner, der aus diesem Munde die Welt erschüttern soll, das Schwert, das diese Hände faſſen ſollen, ein Reich zu verteidigen und ein Reich zu erobern, machen dich lächeln. Ein mattes Paternoster , das, Rosenkranz und Kruzifix in den Händen, diese Lippen murmeln, denen ein zitterndes Segenspenden natürlicher zu sein scheint, als die allmächtige Schleuder des Bannfluches — solche | milde, geistliche Thaten paſſen für den milden christlichen Greis , dem die fromme päpstliche Haustracht: das weiße wollene Unterkleid mit dem purpurnen Samtkragen und der purpurnen, mit weißem Pelzwerk gefütterten Kappe gar ehrwürdig steht.
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Die
Shiba - Tempel. Von
R. Gaertner.
er seit 1854 mit Japan eröffnete FremdenDe verkehr und die historisch so bedeutungsvollen Staatsumwälzungen der Jahre 1867/69 haben diesem eigenartigen Kulturlande einen mächtigen Impuls gegeben. Die im Feudalismus erstarrten Formen sind zertrümmert; auf
allen Gebieten des Staatslebens und der individuellen Thätigkeit entwickelt sich eine Bewegung und ein Fortschritt, welcher unsere Bewunderung in Anspruch nimmt und einzig in seiner Art in der Weltgeschichte dastehen dürfte. Seit Jahrhunderten gehegte Wünsche und Pläne haben
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6.mine
GHEUER KA S Hauptportal zu einem der Taifun Gräber.
ihre Erfüllung gefunden; der Mikado ist in seine alten tausendjährigen Rechte wieder ein gesezt und führt Japan — indem er aus der Fülle der wichtigsten Erfindungen der ganzen Welt schöpft, einer neuen Zukunft entgegen. Leider ist es unvermeidlich, daß bei einem. so jähen Wechsel der Ideen, Anschauungen und Verhältnisse, auch vieles Schöne, manche berech tigte Eigentümlichkeit zu Grunde gehen; schon die heranwachsende Generation wird kaum noch
einen Begriff von dem haben, was den Vätern heilig und für die Ewigkeit gegründet erschien. Zu den Heiligtümern Alt-Japans zählten in erster Reihe die Shiba - Tempel ; sie bildeten den Glanzpunkt, das Allerheiligste von Jeddo . Ich sah sie am 1. Februar des Jahres 1868, gerade in den Tagen, als die Taifun-Macht in der Schlacht bei Fushimi für immer gebrochen wurde und dadurch Alt-Japan in Trim- Das heutige Tokio zeigt nur noch mer fiel.
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die Stätte der Shiba-Tempel und schwache Reste der früheren Herrlichkeit. „Shiba“ heißt „das Verderben“ , und der ganze Tempelgrund ist dem Gedächtnis von
Schon von dieser Pforte und der äußeren Frontmauer vermag man sich kaum zu trennen, denn die Gediegenheit des Materials sowohl wie der daran verwendeten Arbeit an mächtigen
ſieben Taikunen gewidmet, welche hier ihre Ruheſtätten gefunden haben ; der lezte dieser Taikune soll, wie man mir ſagte, vor 700 Jahren verstorben sein. Die einzelnen Gräber befinden ſich auf sieben nebeneinander liegenden Grundstücken von gleicher Größe in langgestreckten oblongen Formen, welche auf ebenem Terrain beginnend, erst allmählich - später steiler und
Quaderſteinen und Platten, Holz, Bronze und Kupfer, und wie das alles den Jahrhunderten teils naturell, lackiert, bronziert und reich vergoldet — Troß geboten hat, grenzt ans Unglaubliche ! Die prächtig geschnittenen Drachen-, Lindwurm- und phantaſtiſchen Löwen- Geſtalten, ſtets in reichster Bergeldung prangend, dazu Päonien-, Fris- und andere Blüten, schön geformtes Blattwerk, Bambus- und Schilfformationen, gepaart
terrassenförmig ansteigend , eine Berglehne bedecken, deren Gesamtausdehnung nicht abzusehen mit Vögeln aller Art, vom stolzen Pfau an, den Fasanen, Reihern , Enten und Hühnern, und schwer zu schäßen ist. Der ganze Komplex bis zum kleinsten Sänger der Wälder, der Fuchs, ist durch eine Mauer eingefaßt ; auch die einzelnen Begräbnißpläge sind durch Mauern vonder ihnen nachstellt und manch anderes Getier in ebenso lebensvollen wie charakteriſtiſchen einander getrennt. Dadurch wird aber dem Ganzen der einheitliche Charakter nicht genom | Reliefs geformt , schmücken in edel gehaltenen Farbentönen die Wände der maſſiven Thormen, denn nicht allein die Tempelgründe selber pfeiler und Dachkonſtruktionen , die Füllungen ſind mit den großartigſten Baumgruppen beseßt, der Thüren und die langgestreckten Felder der sondern auch außerhalb der Umfaſſungsmauern Mauern. Die durchbrochenen Reliefschnitzereien sind so hohe und tiefe Holzbestände, daß kein Blick in den Mauern sind besonders intereſſant ; rechts in die Ferne oder gar in das Gewühl der nahen Stadtbezirke hinein die imposante Ruhe und und links , d. h. von innen und von außen, Abgeschlossenheit des ganzen Plates stören kann. zeigen sie verschiedene Muſter, andere Blumen, andere Blätter und Tiere ; kein Feld ist dem Unsere Zeit erlaubte es nicht, alle Begräbnisplätze eingehend zu besuchen ; ein voller Tag nächsten bis auf die Größe und Form des würde nicht ausgereicht haben, um sie sämtlich | Rahmens gleich, ſoweit ſich auch die Umfaſſungsmauern erstrecken. Die weit ausladenden in Augenschein zu nehmen. Ich kann daher nur einen dieser Shiba-Tempel resp . Pläge Dächer der Thore und Mauern sind mit in eingehender beschreiben. Im großen und ganzen S-Form geschweiften Ziegeln aus gediegenem sind die ebenso ausgedehnten wie luxuriösen Kupfer gedeckt ; auch alle Tempel und andere Begräbnisplätze nach ziemlich gleichem Muſter | Baulichkeiten auf den Shiba- Gründen sind mit angelegt; in ihrer speziellen Ausführung aber Kupfer gedeckt, wozu noch schwere Dachpfannen und in den einzelnen Details bieten sie eine und Gesimsstücke von demselben Material fomso große Mannigfaltigkeit dar, daß keine Be- men , welche neben dem äußerst reichen und schreibung im stande sein würde, dieses Material soliden Aussehen einen unvergänglichen Schut zu bewältigen. Es würde ein illustriertes Pracht- | gewährt haben. Schon vor diesen Manern, rechts und links werk ersten Ranges dazu gehören, um dieſe . fostbaren Bauten, Ornamente, religiösen Schau- von den prächtigen Portalen, sind im Schatten der hohen Pinien unabsehbare Mengen aus stücke und Geräte, und was sich alles dem Stein gehauener Ornamente aufgestellt , die staunenden Auge hier vorstellt, anderen Kreisen aber eine in Japan höchst seltene Erscheinung vorzuführen und verständlich zu machen. Wir waren bis unter die hohen uralten bei jedem Tempelgrund genau nach denInnerhalb Pinien am Fuße der Shiba-Tempel, unter selben Modellen gearbeitet sind. denen sich ein ziemlich starker Strom der der Mauern findet man ebensolche ornamentale Bevölkerung fortbewegte , zu Pferde geblieben und hielten in der Nähe eines Portals der Umfassungsmauer, bis auf unsere erfolgte Anmeldung hin einige Priester herbeikamen und uns einluden, ihnen zu folgen.
Gebilde, aber in Bronze gefertigt, feiner wie die ersteren geformt und gegliedert, mit Reliefverzierungen und die Köpfe kunstvoll durchbrochen, als wenn sie wie Flambeaus zur Erleuchtung dieser geheiligten Stätte dienen sollten,
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R. Gaertner.
immer nach Hunderten zählend in Reihe und Veranda mit einem größeren Gebäude verbunden. Glied aufgestellt. Dieſe ſoliden Gebilde machen Auch diese lustige Halle ist auf das Solideſte auf den Beschauer den Eindruck, als wenn alle gebaut, die freistehenden Träger stecken in blanken Bajallen und Hörige der entschlafenen Taikune | Bronzeſchäften , damit die Hölzer durch die zum Zeichen ihrer unwandelbaren Treue diese Feuchtigkeit des Bodens oder der Steinsockel, auf denen sie ruhen, nicht leiden können ; sie unvergänglichen Postamente gestiftet hätten, um hier, unberührt durch die Jahrhunderte, treue selbst sind zierlich geschnitten und verziert Bache ander Ruhestätte ihres einstigen Gebieters und mit dem feinsten Lack überzogen , ` ebenſo zu halten. wie alles Holzwerk entweder lackiert , poliert Den Abschluß des ersten Blickes bildet , oder vergoldet ist. ein Tempel mit weit geöffneter Borderfront. Den folgenden Prachtbau betritt man durch leicht bewegliche Schiebethüren , nachdem man Es gibt deren ungleich größere im Lande, aber an Schönheit der Architektur, gediegener Auseinige Stufen hinangestiegen ist. Die ersten Thüren bestehen aus dicht aneinander geführung und an Pracht der äußeren und inneren fügten , in Del getränkten dünnen Brettchen, Ausschmückung habe ich nichts Schöneres gesehen. Die uns begleitenden Priester führten uns die welche das ganze Gebäude zum Schutz gegen ungünstige Witterung umgeben, z. Z. aber alle Stufen zum Tempel hinauf, aber wir mußten zusammengeschoben, in einer Entfernung von die Stiefel ausziehen , bevor wir das Innere betraten , denn der Fußboden war auf das ca. 3 Fuß eine zweite Wand erblicken laſſen, welche aus zierlichem Sproßwerk bestehend und Sauberste gehalten und mit den feinsten Matten mit dem feinſten Seidenpapier überzogen, Licht belegt. Ich versuche es nicht, die vielen einzelnen in das Innere der Räume dringen läßt. Auch Kostbarkeiten aufzuzählen, mit welchen Hochaltar diese federleichten Wände können zuſammenund Wände auf das Geschmackvollſte dekoriert geschoben und das Innere des Gebäudes kann waren, und was an schönen Bronzen, Porzel bis auf die Träger der Dachkonstruktion und lanen u. s. w . in diesem Raume aufgestellt war. der wenigen Behälter der übereinander geAutomaten gleich, waren zwischen all diesen Schätzen in ihre Gebete vertiefte Priester grup- | schobenen Wände freigelegt werden, so daß das piert und feine blaue Rauchsäulen entstiegen mit ganze Gebäude , nur wie ein einziger riesiger Baldachin erscheint. Zierliche Lampions von aromatischem Tuft den kunstvoll durchbrochenen Auffäßen der kostbarsten Kohlenbecken und Ge= schön geformten Bronzen in durchbrochener Arbeit hängen in dichten Reihen unter dem fäße; darunter prachtvolle, in Bronze gegossene weit überhängenden Dach. Reihergestalten, die mit ihren hohen Stelzfüßen Der erste Raum, den wir betreten, ist eine und langgestreckten Hälsen und Schnäbeln zwischen den meist schweren, weitbauchigen Gefäßen und geräumige Halle, die ganze Tiefe des Hauſes Ornamenten graziös und zierlich hervorragten. einnehmend, bis unter das Dach frei, welches Tag und Nacht, ununterbrochen fort, von einem von 6 Reihen mächtiger vierkantiger Holzsäulen und von ſtarken Unterzügen getragen, die künstlich Jahrhundert zum anderen ist dieser Tempeldienst gewölbte Dachkonstruktion bis in die kleinſten gepflegt worden ; eine Seelenmeſſe , die ihres gleichen in der Welt wohl nicht finden dürfte. Details hinein deutlich erkennen läßt, Alles Vor, resp. zur Seite des Tempels sind die wie vom geschicktesten Möbeltischler gearbeitet und auf das Sinnigste zusammengefügt. Der üblichenWeihwasserbecken und Glocken aufgestellt ; Fußboden dieser mächtigen Halle besteht aus erstere aus mächtigen Felsblöcken gemeißelt und poliert, die hohen Glocken aus kostbarer Bronze großen, ſolid aneinander gefügten Steinplatten, nach den Seiten zu durch größere und kleinere, mit reichen Reliefverzierungen beſtehend, an ein niedriges Gerüst gehängt mit dem schwebenden mit grobem Kies bedeckte Felder unterbrochen, welche wahrscheinlich bei größeren Festgelagen Anschlagsbalken zur Seite ; beides beſchüßt durch als Feuerstellen zum Kochen der Speisen benutt weit überragende, kunstvoll geformte Dächer, welche auf freistehenden Säulen ruhen, die ebenwurden; am Ende dieses Raumes erhebt sich falls mit Skulpturen und Bronzen reich und eine ca. 6-7 Fuß hohe Estrade mit breiter Freitreppe davor und von starken quadrierten geschmackvoll geziert sind. Sprossengeländern umgeben. Die Treppe führt Zur Rückseite des Tempels gelangt, findet man diesen durch eine lange offene Halle oder direkt zu einem Raume, dessen Wände bis zur
Die Shiba-Tempel.
Höhe der mittleren Balkenlage aus zierlich durch brochener, reich vergoldeter Bronze bestehen und einen großartigen Effekt erzeugen. So überaus einfach dieser mächtige Raum konstruiert ist und so wenig die Hauptformen Anspruch auf architektonische Schönheit machen können, so im ponierend ist er doch durch die Pracht und Gediegenheit in der Ausführung. Hier im
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geschlossenen Raume haben sich die Farben in ihrer ganzen Frische erhalten ; Alles blitt und blinkt vom feinsten Lack- und Metallglanz, als wenn der ganze Bau erst heute vollendet worden wäre. Auch hier stecken die riesigen, aufrechtstehenden Hölzer in schweren , fein ziselierten Bronzeschuhen, um keine Spur von Vergäng lichkeit an sie herantreten zu lassen ; alle Träger
روںいいい。 444043 Nebengebäude der Shiba Tempel. und Riegel unter dem Dach sind ornamental gezimmert und reich mit Reliefs geschmückt, besonders an dem blanken Hintergrund zu den Seiten und über der Freitreppe — find die sonst so einfachen Formen. ganz überschüttet mit ebenso feck wie graziös gehaltenem Schniß werk, Blüten und Blätter, Vögel und Getier aller Art , phantastische Drachen- und Löwen gestalten und heraldische Zeichen darstellend . Einzelne Partieen , wie höhere Gesimse und giebelartige Auffäße , welche die Wappen und Familienabzeichen darstellen , hier das dreis teilige Kleeblatt im runden Felde , haben viel Aehnlichkeit mit dem Rokkokostil ; derselbe dürfte aber nur selten die reiche Phantasie und den kühnen Schwung der Japaner erreichen, zumal selbst bei solchen ornamentalen Gebilden mit allem Fleiß wenigstens in den Details der Symmetrie entgegengearbeitet wird.
Unsere BrieJapanische Priester. ſter führten uns die Treppe hinan und geleiteten uns durch eine Reihe zellenartiger Gemächer, welche außerhalb der kunstvoll durchbrochenen Bronzewände gelegen waren und diesen prachtvollen Mittelbau von drei Seiten umschlossen. Wir hatten hier wieder die Stiefel ausziehen müssen, denn jeder Tritt mit denselben auf dieses mit den feinsten Matten belegte Podium hätte vernichtende Spuren darauf zurückgelassen. Diese Räume sind durch Schiebethüren feinster Konstruktion, teils in kunstvoll gearbeitetem Sproßwerk, teils mit kostbaren Tapeten überzogen , voneinander getrennt, während die durchbrochene Bronzewand den Hintergrund jedes Raumes bildet und nach außen zu eine reich mit Bronze beschlagene Barriere oder Gallerie läuft, welche hoch über
R. Gaertner.
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das Parterre des ganzen Gebäudes erhaben ist. Weitere Schmuck- oder Gebrauchsgegen
stände sind
in diesen Räumen
aber nicht
zu sehen.
Glodenhäuser Japanischer Tempel. Türme und
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t ri0 di15 Auch in das Allerheiligste ließen die Pricster uns eintreten. Einem leichten Druck mit der
Hand gaben die schweren Bronzethüren nach; geräuschlos öffneten sie sich vor unseren erwartungs-
Die Shiba-Tempel.
vollen Blicken. Wir sahen staunend in einen von purem Golde starrenden Raum hinein, deſſen ganz eigentümlicher Glanz noch dadurch erhöht wurde, daß das Licht nur von außen durch die schönen mannigfaltigen Muster der durchbrochenen Wände in das Innere gelangte. In der Mitte dieſes ca. 30 Fuß im Quadrat meſſenden Raumes stand ein großer Altar und auch ringsum an den Wänden waren schrank artige Tischchen angebracht , welche alle aus derselben durchbrochenen und reich vergoldeten Bronze gefertigt waren, ſo daß man durch die Teffnungen der geſchmackvollſten Verzierungen hindurch in das Innere dieser Behälter sehen konnte , die vorwiegend mit eingebundenen Büchern, aufgerollten Schriftstücken und Bildern und vielen kostbaren Geräten angefüllt waren. Auf dem Altar selber ſtanden größere Schauſtücke und Kostbarkeiten ersten Ranges, namentlich in Gold und Silber getriebene große Blumen auf hohen Stielen in prachtvollen Gefäßen, Pagoden, runde Metallspiegel, Basen und Ornamente auf reich in Gold und Seide gestickten Tecken, kunstvoll geschnittene riesige Elfenbeinstücke und Kugeln von geschliffenem Bergkristall. Zwei Priester standen auch hier bei dampfenden Weihrauchgefäßen auf ihren Poſten und bewachten unter steten Gebeten , die auch durch unser Erscheinen nicht unterbrochen wurden , dieſes Schmuckkästchen von einem Heiligtum. Ohne Zweifel wird dieses Gebände mit
allen seinen Räumen an den Tagen benußt worden sein, welche dem Gedächtnis der Verstorbenen geweiht sind , denn in ganz Japan wurden die Todestage durch Besuch der betreffenden Tempel und Begräbnisplätze und durch dargebrachte Opfer ausgezeichnet. Welch ein impoſantes Schauſpiel muß ſolche ShibaDer halb verHalle dargeboten haben! götterte Taifun mit ſeiner Familie und nächsten Umgebung in dem goldstrahlenden Raume präſidierend; ringsum auf ihren erhabenen bis Plägen die höchsten Würdenträger und in die entfernteſten Tiefen der Hallen : Priester und Volk, nach dem strengen Zeremoniell des Ranges und Standes geordnet ! Wie pracht voll der Anblick der weiten faltenreichen Trauergewänder in glänzend lichtblauen und weißen freppartigen Seidenstoffen, der reichvergoldeten, im schwarzen Grundton gehaltenen Rüstungen, der Waffen , Fähnlein und Embleme verschiedenſter Art ! wahrlich ! wahrhaft feenhafte
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| Szenerieen, wie aus Tauſend und einer Nacht, müssen offenen Feuern, Lammüſſen sich ſich hiervon hier ent= pions und Kerzenschein unterstüt faltet haben! Nachdem wir uns endlich von dem Zauber dieſes , mit so vielen Kunſtſchäßen angefüllten | mysteriösen Allerheiligſten getrennt hatten, führte uns unser Weg tiefer in den Park hinein. | Das Terrain stieg jezt allmählich bergan ; nach und nach mußten wir immer häufiger breite maſſive Treppen erſteigen und gelangten ſchließlich auf eine freie, lichte Plattform, den Rücken eines hochgewölbten , langgestreckten Berges . | Hier oben war ein großer Plaß mit riesigen, äußerst sauber geschlagenen und aneinandergefügten Felsquadern bedeckt ; in der Mitte derselben, von einer koloſſalen Balustrade um| geben, erhob sich ein mächtiges ſchweres Ornament. Hier ruht der Taikun, aber tief unten im Innern der Erde. Bis auf die Sohle des Berges , also mehrere hundert Fuß tief, ſoll ein senkrechter Schacht gegraben und mit behauenen Steinblöcken ausgesezt sein , so daß das großartige Denkmal nur den Schlußstein dieser riesigen Gruft bildet. — Im nahen Hintergrunde zeigt sich die Umfaſſungsmauer ; die üppige Belaubung hoher, außerhalb derselben stehender Baumbestände schließt das Bild ab, während man , zurückblickend , die herrlichen Shiba- Gründe übersehen kann. Auf der Höhe des Bergrückens fortschreitend , besuchten wir, durch Seitenpforten tretend, welche unsere Führer uns öffneten, noch mehrere andere Taifungrabstätten. Sie haben alle einen gleichen Charakter und gleiche Grundkonstruktionen, weichen aber in den Formen sowohl wie in dem Material, aus welchem sie gefertigt sind , sehr von einander ab. Einige Denkmäler und Balustraden sind von Bronze, andere von Stein, aber alle erregen durch ihre großartigen Dimenſionen und durch ihre gediegene Ausführung unsere Bewunderung , so fremdartig uns auch die Formen dieser ornamentalen Gebilde erscheinen, die näher durch das Wort zu beschreiben es jedem Nichtjapaner an den passenden Ausdrücken fehlen würde. Ebenso großartig in der Anlage wie in der daran gewendeten vielhundertjährigen Pflege, und der ganzen Stätte erst die volle Weihe gebend, sind die Parkanlagen, in deren Mitte alle diese kostbaren Gebäude und Monumente
errichtet sind .
Die riesigen Bäume , welche
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der Japaner, daß sich die einmal gruppierte diese Bauten so hoch überragen, daß die letteren Pflanzung möglichst wenig verändere, ein Ziel, mit ihren meist flachgewölbten Tächern fast wie Nippeskästchen daneben erscheinen, sind fast alle | welches in den Parkanlagen der Shiba-Tempel im höchsten Sinne des Wortes, selbst die JahrSolitärpflanzen ersten Ranges , deren schwerhunderte überlebend, erreicht sein dürfte. Nur belaubte Zweige meist den Erdboden berühren. eine kleine Auswahl von Laubhölzern hat hier Vorwiegend Nadelhölzer der vielen verschiedenen Arten, an denen Japan so reich ist, unter ihnen Zutritt erhalten, wie die so schwach wachsenden buntblättrigen Ahornarten, von denen es eine vielleicht auch Einführungen aus China und unglaubliche Anzahl der schönsten Varietäten Korea, sind sie stets so gruppiert , daß die Charakteristik ihrer Formen und die Farbe gibt, vom lichten Schwefelgelb , Rosa , Blutund Purpurrot bis zum dunkelsten Violett und ihrer Belaubung auf das Vorteilhafteste und Geschmackvollste zur Geltung kommt. Wer ebenso in der Form wechselnd, vom fast vollfennt die Namen all dieser uralten Pinusrandigen bis zum feinzerſchlißten Blatte. Auch und Abiesarten, welche in Gemeinschaft mit einige Magnolienſtämme ſieht man, deren weiße der schwer und dunkel belaubten Cryptomeria tulpenartige Blüten sich im Frühjahr wie japonica , der steifen breitnadeligen Sciadopitys strahlende Kerzen vom dunkelen Koniferengrund verticillata , den riesigen Cupreſſus- und abseßen, und gefüllte Kirſch- und Prunusarten, welche zur Zeit der Blüte so außerordentlich Thujaarten, der Thujopsis dolabrata mit ihrer effektvoll sind, aber immer so plaziert, daß sie horizontalen, silberglänzenden Verzweigung die zur Winterzeit keinen störenden Anblick gewähren. herrlichsten Gruppierungen und Hintergründe Dagegen sind viele Azalien verwendet, die einbilden ? Tazu die im Winter ihrer Nadeln zeln und in größeren Gruppen nebeneinander beraubten Larix, die, ganz verschieden von dem gepflanzt, besonders auf ansteigendem Terrain Habitus der unserigen, breit ausgreifende Zweige oft ausgedehnte Flächen bedecken und zur und Kronen bilden, und riesige Gingkos, deren Nadeln in breite Blattformen übergegangen, Zeit der Blüte auf dem welligen Grunde wahrauch von den Herbſtſtürmen entführt sind . Wahrhaft feenhafte Teppiche weben , denn die verschiedenen, so brillanten Farben der Blüten lich eine Sammlung solcher Koniferen dürfte in der Welt nicht wiederzufinden ſein, höchstens sind bei der Pflanzung auf das Sinnreichſte in Japan ſelbſt, wo der Sinn für solche Schäße berücksichtigt worden. Diese Azaliengeſträuche der Natur ein allgemein verbreiteter ist. Die sind fast alle in flach gewölbten , oft ganz ganze Sippe der kleinen Koniferen ist unter ebenen Formen gezogen, denen mit der Schere und neben den Riesen dieses Geschlechtes plaziert. nachgeholfen wird ; sie haben meist ein schr Sie sind nicht nur ebenso wechselnd in Formen hohes Alter; Stämme von einem Fuß im und Farben, sondern noch ungleich zierlicher Durchmesser und darüber sind keine Seltenund mannigfaltiger in ihrer Belaubung und heit und dem entsprechend ist der Umfang der haben im Laufe der Jahrhunderte eine noch mächtigen Kronen, welche sich immer nur wenige sorgsamere Pflege genossen . Was gibt es hier Fuß über den Erdboden erheben. Ebensowenig für eine Menge Tarus- und Juniperusarten, fehlen die Kamelien , teils in der heimischen, welche den Kontrast ihrer Färbung zur Gel- einfach blühenden Urform , als hohe immertung bringen ; dazu in erster Reihe die zarte grüne Bäume, teils in den schönsten gefülltweichnadelige Cryptomeria elegans , die im blühenden Arten , welche aber nur in PyraWinter rot gefärbt ist , die zierlichen Reti- miden- und Strauchformationen vorkommen und nosporaarten, besonders R. obtusa , welche auch ein ganz herrlicher Schmuck dieſer Anlagen unter der Schere so effektvolle, kompakte Formen sind, weil sie bereits vom Dezember resp. Januar annimmt und deren dunkle Belaubung wie an ihre schönen , dauerhaften Blüten liefern. mit goldenen Perlen umſäumt erſcheint. Jeder Evonymus- und Buruŝarten vervollſtändigen dieser Stämme ist ein Prachtstück zu nennen, diese großartigen immergrünen Gruppen und denn er strost von Kraft und Gesundheit; zu landschaftlichen Bilder, und auch einige FächerHecken und geschlossenen Gruppen vereinigt, palmen , welche hier im freien Lande ca. 25 erhöhen sie noch mehr unsere Bewunderung. bis 30 Fuß hoch werden und die feingefiederten Laubhölzer sind in diesen kostbaren Anlagen ornamentalen Cycas, in Kübeln gehalten, tragen wenig vertreten , denn es liegt im Geschmack | mit dazu bei , den Reiz und den Adel dieser
Die Shiba-Tempel.
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Vorhof eines Shiba Tempels.
Halle vor dem Allerheiligsten. gärtnerischen Kunstwerke zu erhöhen. Dichte Epheumassen bekleiden viele der hier paradieren den Riesenstämme, und zierliche Rankgewächse, wie Glycine und Clematisarten umschlingen das lichtere Gezweig einzelner Bäume oder werden von leichten Bambusgestellen getragen. Unter den Blumen dominiert die Päonie, meist in der ausdauernden Strauchform und in der Nähe der Gebäude und Ornamente gepflanzt ; man sieht auch viele Fris- und Spireenarten. Alles ist so arrangiert , daß jedes einzelne Exemplar als Solitärgewächs vollständig zur Geltung kommen kann ; jede Symmetrie ist auf das Sorgfältigste vermieden. Große Steine, bemooste Felsblöcke sind dazwischen gesprengt; feine Spur von Unkraut ist zu sehen, wohin man auch blicken mag, auch keine herabgefallenen Blätter oder Nadeln. Ebenso unregelmäßig und dennoch immer wohlgefällig erscheinen die Wege und Plätze ; sie sind lose mit hellgrauem Kies belegt, welcher das Gehen nicht gerade angenehm macht, aber auch nie eine Fußspur sehen läßt. Man kann auch diesen Kies beim Durchwandern des Parkes leicht vermeiden, weil außer demselben noch große unbehauene Steine mit flachen, glatten Platten in den Wegen liegen. Sie sind wie durch den Zufall hingestreut, halb in die Wege eingelassen, doch kann man bequem darauf treten besonders die Japaner mit ihren Sandalen — und behält unter allen Umständen trockene und saubere Füße. Von der Pflege, welche diese ausgedehnten Parkanlagen genießen, kann man sich nur eine
Vorstellung machen, wenn man sie gesehen hat. Es mag hier das eine Faktum genügen, wenn ich sage, daß jährlich namentlich unzählige Pinienstämme durch alle Jahrhunderte hindurch auf das Sorgfältigste geschnitten und ver mittelst feiner Bambusstäbchen aufgebunden werden. Die Japaner erzielen dadurch die bei ihnen so beliebte horizontale resp. herabhängende Verzweigung und eine Fülle der Benadelung, welche sich beim natürlichen Wachstum nicht annähernd so entwickeln würde und dieses Verfahren ist mit solchem Verständnis durchgeführt, daß auch das an solche Formen nicht gewöhnte Auge nichts Unschönes daran entdecken, sondern nur mit Entzücken die grotesken Verzweigungen und schweren Nadelpolster der so behandelten Stämme betrachten wird. Auch die kleineren Koniferen und die Mehrzahl der anderen Gewächse werden unter dem Messer und der Schere gehalten, aber in dem Auge wohlgefälligen, nicht zu unnatürlichen Formen und mit dem sichtbaren Erfolge, dadurch die Fülle und Pracht der Belaubung und des Blütenschmuckes erhöht und die ganze Szenerie gehoben und bereichert zu haben. Aber wo, fragt man mit Recht , kommen die unendlich vielen kunstgeübten Hände her, welche so große Anlagen, die kostbaren Baulichkeiten mit einbegriffen , pflegen und in so fürstlicher Pracht erhalten können , zumal auf dem ganzen Komplex keine Menschenseele zu sehen ist und kein profanes Gebäude die heilige Weihe dieser Gründe stört? D, es ist in der großartigsten Weise dafür gesorgt worden ! Man folge uns nur zu der Eingangspforte zurück, 33
R. Gaertner.
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wo die führenden Priester uns zum Eintritt in ihre Behausung auffordern. An der Lisiere des hohen wohlgepflegten Pinienbestandes stehen in langen Reihen die Wohngebäude dieser Mönche , in denen sie zu Tausenden in ihren luftigen, nur von leichten Sprossenwänden gebildeten Zellen untergebracht sind; auch der ganze umliegende Stadtteil ist dem Shiba kloster als Grundherrn zinspflichtig und unter-
than. Wir werden einigen höheren Geistlichen vorgestellt , zum Niederlassen aufgefordert und mit Speise und Trank bewirtet , wofür wir durch ein Geldgeschenk unsere Dankbarkeit bezeugten. Die Dotationen und Einkünfte dieses Klosters sind ganz bedeutende, denn es hat, wie viele andere religiöse Stiftungen, auch wertvollen Grundbesig im Lande, so daß die geistlichen Herren mit aller Ruhe und Behaglichkeit
R.X.A.Berlin Ein Platz vor den Shiba-Tempeln.
Das größte Glockenhaus der Shiba-Tempel. ihre Pflichten in den Shiba-Tempeln erfüllen und zugleich anderen, vorwiegend wissenschaftlichen Neigungen leben können. Da auch viele junge Novizen zum Priesterstande herangebildet werden, so verbreiten sich die hier gesammelten Kenntnisse, Anschauungen und Erfahrungen über das ganze Land. Unser Weg führte uns jest zu dem nicht allzufern gelegenen Uyeno, einem Hain, welcher die Grabstätten von einer Reihe noch früher verstorbener Taikune enthält. Uyeno liegt auf flachem, ebenem Terrain ; die Baulichkeiten, aus gleichen Materialien errichtet , sind nicht so ausgedehnt und luxuriös wie in Shiba, imponieren aber durch die Würde ihres Alters und das gut erhaltene Aussehen der HauptTempel und Ornamente. Hier dominieren riesige Laubgehölze , welche stellenweise einem
Urwalde gleich, mit Lianen durchzogen, dem ganzen Blaze eine noch geheimnisvollere Ruhe und Abgeschlossenheit inmitten der Millionenstadt verleihen. Viele Backsteinmauern und im Schatten der Bäume gelegene Nebengebäude sind schon, Ruinen gleich, mit jungem Baumaufschlag bewachsen und die Pflege der ausgedehn= ten Anlagen ist nur auf einzelne Partieen in der Nähe der Tempel und Begräbnispläge beschränkt. Shiba und Uyeno sah ich im zeitigen Frühjahr 1871 wieder. Mit dem Zusammenbruch des Taifun Regimentes hatte das unerbittliche Verhängnis auch diese geheiligten Stätten ereilt. Die Tempel und Grabmonumente zu Uyeno waren unter dem Donner der Kanonen in Trümmer geschossen und die ganze Pracht der
Die Shiba-Tempel. uralten Bäume arg verwüstet ; bunte Volfshaufen, besonders die jüngere Generation tummelte sich ohne Scheu auf dem sonst so respektierten Grunde und machten sie vollends zur Wüstenei , während Shiba noch stand und , wie ängstlich gemieden, in voller Ruhe erschien ; doch zeigten sich auch hier schon deutliche Spuren des Verkommens . Ihrer Einkünfte beraubt , waren Priester, Mönche und
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Novizen aus ihrem beschaulichen Leben aufgescheucht , in alle Winde zerstreut und keine pflegende Hand nahm sich wie bisher all dieser Heiligtümer an , ja, selbst der Diebstahl hatte sich bereits daran vergangen, denn nicht selten sah man einzelne Stellen der Mauern ihrer wertvollen Kupferbekleidung beraubt. In das Innere bin ich nicht gegangen , um mir den großartigen Eindruck nicht zu trüben , den
Vor der Umfaffungsmauer der Shiba-Tempel.
ich bei meinem ersten Besuche genossen und in mir aufgenommen hatte. Ich Ich hätte damals viel darum gegeben , wenn es mir möglich gewesen wäre , auch nur eine dieser kostbaren Pforten, wenige Felder der angrenzenden Mauer und einige der charakteristischen Pinien dazu, dem Untergange zu entreißen und in unsere kaiserlichen Gärten nach Sanssouci oder Babels-
mern erstanden und aus der tausendjährigen Grabesruhe zum regsten Leben erwacht. Auf dem weiten schönen Terrain ist zum Wohle der leidenden Menschheit eine Klinik errichtet ; deutsche Professoren und Lehrer leiten dies für Japan so wichtige Institut und nur die uralten Baumgruppen , welche der Revolution Troß geboten haben, zeugen
berg zu zaubern. Shiba, du Inbegriff alles Schönen, was die Natur und Kunst zu bieten vermag, dein Name hat seine schreckliche Erfüllung gefunden ; dein Verderben ist unaufhaltsam hereingebrochen! Uyeno ist inzwischen, wie ich in Erfahrung gebracht habe, aus Schutt und Trüm
noch von der ehemaligen Bedeutung der Stätte. Sie spenden ihre balsamischen Düfte und ihren erquickenden Schatten jezt den Lebenden wie vormals den Toten und ge= reichen dieser segensreichen Schöpfung der Neuzeit gewiß nicht wenig zum Schmuck und Gedeihen.
Feodor von Köppen.
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Aus der Jugendzeit des Deutschen Kaisers Wilhelm. Von Feodor von Köppen.
The child is the father of the man. (Das Kind ist des Mannes Vater. ) Wordsworth. Die ersten militärischen Exerzitien. "1 Unsere Kinder sind unsere Schäße und unsere Augen ruhen voll Zufriedenheit und Hoffnung auf ihnen. Der Kronprinz ist Er hat vorzügvoller Leben und Geist. liche Talente, die glücklich entwickelt und gebildet werden. Er ist wahr in allen seinen Empfindungen und Worten, und seine LebEr haftigkeit macht Verstellung unmöglich. lernt mit vorzüglichem Erfolge Geschichte und das Große und Gute zieht seinen idealiſchen Sinn an sich. Für das Wißige hat er viel Empfänglichkeit und seine komischen überraschenden Einfälle unterhalten uns sehr angenehm. Er hängt vorzüglich an der Mutter, und er kann nicht reiner sein als er ist. Ich habe ihn sehr lieb, und ich spreche oft mit ihm davon, wie es sein wird , wenn er einmal König ist. Unser Sohn Wilhelm (erlauben Sie, ehrwürdiger Großvater , daß ich Ihre Enkel nach der Reihe Ihnen vorstelle) wird, wenn mich nicht alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig. Auch in seinem Aeußern hat er die meiste Aehnlichkeit mit ihm." Diese Worte , welche die Königin Luise von Preußen im Mai 1808 an ihren Vater, den Herzog von Mecklenburg-Strelit, richtete, zeugen sowohl von dem klaren Urteil und der feinen Beobachtungsgabe der hohen Frau, als von der mütterlichen Sorgfalt, die sie der Erziehung ihrer Kinder , insbesondere ihrer beiden ältesten Söhne, des nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und unſeres gegenwärtigen Deutschen Kaisers Wilhelm , zuwandte. Die königlichen Eltern begaben sich des schönen Vorrechtes nicht, die Entwickelung ihrer Kinder mit eigenen Augen zu überwachen und durch Wort und Beispiel einen unmittelbaren Einfluß auf dieselben zu Die ernste Pflichttreue, die aufrichtige
christliche Frömmigkeit Friedrich Wilhelms des Dritten und die Hochherzigkeit, die geistige Anmut und Liebenswürdigkeit der Königin Luise leuchteten den beiden königlichen Knaben schon in der frühesten Kindheit vor. Das Bewußt= sein ihrer föniglichen Würde hatte bei der edlen Königin die Anerkennung und rechte Schätzung der Menschenwürde zur Grundlage und Voraussetzung. Auch im Glanze der königlichen Macht und Würde vergaß die Königin nie derjenigen Rechte und Pflichten, welche die Aermsten und Geringsten als Menschen mit den Mächtigen und Großen gleich haben; daher die anmutende Harmonie ihres innersten Wesens, ihr ungetrübter Seelenfrieden unter den Kämpfen und Unruhen des Lebens, die himmlische Liebenswürdigkeit, mit der sie alle Menschen zu sich emporzog, der wunderbare stille Zauber, den sie auf ihre Umgebungen, also zunächst wohl auf ihre eigenen Kinder übte. Ihr nächstes Ziel bei der Erziehung derselben war, den Menschen als solchen auszubilden, die Keime des Guten und Edlen in ihnen zu wecken und zu pflegen und die natürlichen Anlagen zur Entwickelung zu bringen. Allerdings ist es mein heißester Wunsch , meine Kinder zu wohl wollenden Menschenfreunden zu bilden , " schrieb Luise im Dezember 1797, alſo noch in den Tagen eines ungestörten, glücklichen Familienlebens, an den Profeſſor Heidenreich in Leipzig, und später, als schwere Zeiten über das Vaterland gekommen waren, schrieb sie: „ Wenngleich die Nachwelt meinen Namen nicht unter den Namen berühmter Frauen nennen wird, so wird sie doch sagen, wenn sie die Leiden dieser Zeit erfährt , was ich durch sie gelitten habe : sie duldete viel und harrte aus im Dulden. Dann aber wünsche ich nur, daß sie zugleich sagen möge : Aber sie gab Kindern das Dasein , welche besserer Zeiten würdig waren , sie herbeizuführen gestrebt und endlich sie errungen haben." Nun, die Nachwelt hat bereits gesprochen, und es ist, als ob wir bei manchen ernſten Wendungen und wichtigen Entscheidungen in dem Leben unsers Kaisers noch die segensreiche Nachwirkung des Einfluſſes wahrnehmen könnten, welchen die edle, hohe Frau durch Wort und Wandel auf die geistige Entwickelung ihrer Söhne übte.
Ans der Jugendzeit des Deutschen Kaisers Wilhelm.
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Mit den Erziehungsgrundsäßen der Königin in der ersehnten Stunde die königlichen Kinder stimmte der König, ihr Gemahl, vollständig in den erleuchteten Festsaal traten und von der Königin eines nach dem andern an seinen überein. Die Kinderstube grenzte unmittelbar an die königlichen Wohnzimmer. Sie war Plaz geführt wurde, um aus ihren Händen für das fürstliche hohe Paar die Welt im die ihm zugedachten sinnigen Gaben zu emkleinen, wo sie unter den Stürmen und Unpfangen und auf die Bedeutung derselben in ruhen der Zeit Frieden und Erholung fanden. freundlichen Worten hingewiesen zu werden, Jeden Morgen nach dem Vortrage trat der so war dies ein Bild des reinsten Familienglückes. Eine besondere Ueberraschung brachte König in die Kinderstube. Er empfing eines der Kinder nach dem andern aus den Händen den jungen Prinzen das Weihnachtsfest des Jahres 1803 ; denn bei diesem fanden sie als der glücklichen Mutter, um es zu sich emporWeihnachtsgeschenke auf ihren Plätzen die ersten zuheben und zu liebkoſen. Oefters brachte er Uniformen, und zwar der Kronprinz diejenige auch kleine Geschenke mit sich, um den Fleiß und das Wohlverhalten der Kleinen zu be- des Regiments Garde du Korps, der Prinz Friedrich die des Dragoner- Regiments Kurlohnen, und vertiefte sich so in die Unterhaltung mit ihnen, so daß er erst durch die fürst von Pfalz-Bayern Nr. 1 , dessen Chef sein Vater, der Prinz Ludwig, gewesen war, Königin erinnert werden mußte, wenn die vorder Prinz Wilhelm die Uniform des Huſarentragenden Räte oder die Adjutanten seiner noch warteten. Jeden Abend vor dem Schlafen- | Regiments von Rudorf oder des berühmten Zietenſchen Huſaren - Regiments, nämlich den gehen trat er mit der Königin noch einmal roten Dolman mit weißen Schnüren und zu den schlafenden Kindern, erfreute das Herz Treſſen, ſowie dunkelblauen Pelz mit ebenan dem lieblichen Anblick und drückte leise solchen Schnüren und Tressen. Die Freude einen Kuß auf die Stirn eines jeden Kindes. Die Leitung des Unterrichts der beiden des Prinzen , nun eine Uniform tragen zu dürfen, war groß. Der König verband aber ältesten Prinzen wurde (seit dem Sommer 1800) dem Dr. Friedrich Delbrück übermit der Uebergabe derselben noch den höheren Zweck, der Zugehörigkeit der königlichen Prinzen tragen, einem trefflichen, gewissenhaften, von wahrer, christlicher Religiosität erfüllten Manne, zur Armee von der frühesten Jugend an Ausder sich als Rektor einer angesehenen Schule druck zu geben. Wenn es in der Armee als zu Magdeburg allgemeine Liebe und Achtung Sprichwort galt : „ Des Königs Rock ist der erworben hatte (gestorben als Superintendent höchste Titel,“ so sollten auch die Prinzen schon in Zeit). Als im Jahre 1809 die weitere frühe den Rock der Armee als ein rechtes Leitung der Erziehung des Kronprinzen dem Ehrenkleid schäßen lernen. Als im Jahre 1805 Obersten von Gaudi übergeben wurde, seßte der Durchmarsch des Regiments „ Towarczyz “ der Prinz Wilhelm seine Studien, vereint mit durchBerlin erfolgte, welches eine von der übrigen dem Prinzen Friedrich, dem Sohne des (im | Reiterei durchaus abweichende Uniform trug und mit Lanzen bewaffnet war, ähnlich den späteDezember 1797 verstorbenen) Prinzen Ludwig, Vatersbruders des Prinzen, bei dem ren Ulanen, die sich im Jahre 1870 in Frankreich Professor Reimann fort. Der Prinz Wil- so gefürchtet machten, da äußerte Prinz Wilhelm war von schwächlicher Körper-Konstitution helm den sehnlichen Wunsch, auch dieſe Uniform und von zarter Geſundheit, so daß die Königin tragen zu dürfen, und der König, welcher den oft Besorgnisse für ihn hegte und seine Lehrer militärischen Neigungen seiner Söhne stets gern ermahnte, ihn nicht zu sehr anzustrengen; denn entgegenkam, gewährte diesen Wunsch. So erer zeigte einen außerordentlichen Eifer und schien der kleine Prinz seit dieser Zeit bald als große Gewissenhaftigkeit bei seinen Studien. Huſar, bald als Towarczy. Mit dem Rechte, die Uniform zu tragen, Einen besonderen Reiz hatte die Feier des waren aber auch Pflichten verbunden. Zunächst Weihnachtsfestes in der königlichen Familie. Der König sprach schon wochenlang vorher sollten die jungen prinzlichen Rekruten einererziert werden. Der König gab ihnen desvon den zu wählenden Weihnachtsgeschenken. Am Weihnachtsabend zündete er selbst die halb den Unteroffizier Bennstein vom BaLichter des Christbaumes an und belegte jeden. taillon Garde zu Fuß zum Exerziermeister, und dieser erfaßte seine Aufgabe mit solchem Plag mit den passenden Gaben. Wenn dann
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Feodor von Köppen.
Ernst und Eifer, wie er nur immer von einem pflichttreuen Korporal beim Rekruten- Exerzieren an den Tag gelegt werden kann. Nach den preußischen Waffenerfolgen der neueren Zeit war das Flugwort aufgekommen, ,,der Schulmeister habe die preußischen Schlachten gewonnen". Dasselbe könnte nach unserem Dafürhalten ebenso richtig lauten: „Der Korporal ist in Preußen der eigentliche Volksschullehrer," denn aus der strengen Schule der - oder jezt vielZucht, welche jeder Preuße — viel mehr jeder Deutsche - von seinem vollendeten zwanzigsten Lebensjahre an durchzumachen hat, gehen unsere tüchtigsten und besten Männer
hervor. Da ist es gewiß von hoher Wichtigfeit, daß auch unsere ersten Prinzen nach derselben Methode der Volkserziehung ausgebildet wurden. Die jungen Königssöhne, die ja schon von früher Kindheit an nur zu oft willfährigen Dienern und unwürdigen Schmeichlern begegnen, sehen hier in dem ernsten, festen Willen des einfachen und schlichten, aber pflichttreuen Mannes ihrem Eigenwillen eine heilsame Schranke gesezt und lernen es, sich mit ihren kindlichen Wünschen und Neigungen unter ein bestimmtes Gesetz zu beugen, dessen Sinn und Bedeutung sie noch nicht verstehen. Die Gedanken an Spiel und Tändelei
Die ersten militärischen Exerzitien des jetzigen Kaisers Wilhelm .
mochten den prinzlichen Knaben wohl vergehen, wenn sie die ernste und strenge Dienst miene des Korporals sahen, der ihnen mit eindringlicher Stimme und gemessenem trochäischen Tonfall das ABC des preußischen Kamaschenmarsches einprägte: „ Einundzwanzig — Zweiundzwanzig, Knie strecken Spigen 'runter, fest im Kreuze und nicht wackeln, Eure Hoheit!" — Wenn dann auch eine sarkastische Bemerkung in dem Geiste des wizi gen kleinen Kronprinzen auftauchte und seine Mienen zu einem leichten Lächeln bewegte, so genügte ein Seitenblick auf die halb geöffnete Thüre des Nebenzimmers, um jeden reglements widrigen Gedanken in ihm zu unterdrücken; denn er wußte, daß dort sein königlicher Vater saß, der zuweilen einen Blick in das Zimmer
warf oder auch mit seiner Gemahlin am Arme eintrat und den Uebungen der Knaben mit ernster Miene zuschaute. In dem Prinzen Wilhelm erwachte die soldatische Neigung früh. Seine Haltung, sein Wesen, sein fester Ausdruck deuteten diese Rich tung an. Er liebte es, Paraden und Revuen beizuwohnen und verfolgte jeden Trupp marschierender Soldaten, so lange er ihn sehen konnte. Bald bot sich ihm Gelegenheit, die militärischen Dinge aus der Nähe zu schauen, als Preußen sich zu dem in seinen Folgen so verhängnisvollen Kriege gegen Napoleon rüstete. Zu jung, um mit in das Feld genommen zu werden, verfolgte er doch mit Interesse die großartigen und glänzenden militärischen Vorbereitungen zu diesem Kriege. Er sah im
Aus der Jugendzeit des Deutschen Kaisers Wilhelm.
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September 1806 das altberühmte Dragoner | Aber begnügt euch nicht mit den Thränen Regiment Ansbach-Baireuth unter den Klängen allein; handelt, entwickelt eure Kräfte, des Hohenfriedberger Marsches in Berlin ein vielleicht läßt Preußens Schußgeiſt ſich rücken und in Parade vor dem königlichen auf euch nieder !" Palais vorübermarschieren; vor ihm her fuhr Von Schwedt reisten die Prinzen mit der die Königin, welche bei dieser Gelegenheit zum Königin nach Stettin, von da mit ihrem ErChef des Regiments ernannt worden war, in zieher erst nach Danzig, dann nach Königseinem vierspännigen Wagen ¹). berg. Hier sahen sie in den letzten Tagen des Eine verhängnisvolle Wendung trat in den Oktober ihren königlichen Vater wieder, der Schicksalen Preußens und seines Königshauses indessen nicht lange bei seiner Familie verein, welche auch auf den Entwickelungsgang weilen konnte, sondern bald wieder zur Armee der beiden prinzlichen Knaben ihren Einfluß eilte, um dort auch mit dem Kaiser Alexanübte. Noch im Frühjahr 1806 hatte Prinz der von Rußland zusammenzutreffen, und erst Wilhelm der großen Revue beigewohnt, bei zum Neujahrstage 1807 nach Königsberg zuwelcher die alte preußische Armee in ihrem rückkehrte. Prinz Wilhelm ſtand damals in ſeinem vollen Glanze sich zeigte. Damals schien das Wort Friedrichs des Großen noch Geltung zu neunten Lebensjahre. Es ist Sitte, daß die haben, daß die Welt nicht so fest auf den preußischen Prinzen nach erreichtem zehnten. Schultern des Atlas ruhe, wie der preußische Lebensjahre in die Armee eintreten, und auch Staat auf der Armee. Und jetzt im Herbst, Prinz Wilhelm freute sich schon im Stillen schon bald nach der Eröffnung des Krieges, auf die ihm hoffentlich bald bevorstehende Erfamen die Unglücksbotschaften von den schweren nennung. Als nun am Neujahrstage 1807 Niederlagen der Armee, denen der Zusammen- | die königliche Familie zur Beglückwünschung bruch des ganzen stolzen Staatsgebäudes sich um ihr verehrtes Haupt versammelte, ſagte Friedrichs des Großen folgte. Mit der Kunde der König mit dem ihm eigenen freundlichen von dem unglücklichen Ausgange der DoppelErnste zu seinem zweiten Sohne Wilhelm: schlacht bei Jena und Auerſtädt hatte Delbrück „ Da an deinem Geburtstage keine Gelegenheit die Weisung erhalten, mit den königlichen sein wird, dich ordentlich einzukleiden, weil ihr Prinzen zunächst nach Schwedt an der Oder nach Memel müßt, so ernenne ich dich heute abzureisen. Hier traf die Königin, welche am schon zum Offizier. Da liegt deine Interims14. Oktober morgens das Hauptquartier ihres | Uniform." In der That lag der damals sogenannte königlichen Gemahls verlassen hatte, mit ihren Söhnen zusammen. Sie richtete denkwürdige Interimsrock der Gardeoffiziere, welcher einen Worte an dieselben, welche wohl in den jugendroten Umschlagkragen (ohne Lißen) hatte, nebst lichen Gemütern tief und schmerzlich anklangen. Degen, Stock und Federhut auf einem Tiſche „ Ach, meine Söhne, “ sagte die tiefgebeugte bereit. Natürlich wurden die Kleider sogleich angelegt und auch Zopf und Puder nicht verfönigliche Mutter, " ihr seid in dem Alter, wo euer Verstand die schweren Ereignisse, welche gessen, obgleich ersterer nur ein falscher ſein uns jest heimsuchen, fassen und fühlen kann; konnte, da das eigene Haar des Prinzen noch ruft fünftig, wenn eure Mutter und Königin nicht lang genug war, um in einen Zopf zusammengeflochten werden zu können. nicht mehr lebt, diese unglückliche Stunde in euer Gedächtnis zurück, weinet meinem An= Wie der König gesagt, ging die Reiſe am denken Thränen, wie ich sie jetzt in diesem 3. Januar nach Memel, weil die Franzosen schrecklichen Augenblicke dem Untergange der nach der Schlacht bei Pultusk (26. Dezember) Der Weg ging Armee, dem Unglücke des Vaterlandes weine. sich Königsberg näherten.
1) Der Spenzer, welchen die Königin bei diesem Einmarsche in Berlin trug, in den damaligen Farben des Regiments , wird noch jetzt von dem pommerſchen Küraſſier - Regiment „Königin ” Nr. 2, welches aus dem genannten Dragoner Regiment hervorgegangen ist, als ein teures Andenken aufbewahrt.
über die Nehrung, und die Reise war mit großer Anstrengung verbunden, weil die Königin und ihr jüngster Sohn, der Prinz Karl, am Nervenfieber erkrankt waren und die ganze Reise in Betten eingepackt zurücklegen mußten. Auch Prinz Wilhelm erkrankte bald nach der Ankunft in Memel am Nervenfieber. Als
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Feodor von Köppen.
der König zu seinem Geburtstage, den 22. März, nach Memel kam, befand er sich noch auf dem Krankenlager und legte ihm sein Patent als Fähnrich bei dem neuformierten Bataillon Garde zu Fuß auf das Bett. Damit war denn die Kinderzeit des Prinzen Wilhelm abgeschlossen. Ihre Eindrücke waren tief und nachhaltig genug, um den reifenden Jünglingfür den Ernst des Lebens vorzubereiten und zu festigen, der bald mit voller Schwere an ihn herantreten sollte.
Das Fest der weißen Rose. Am Hoflager König Friedrich des Wilhelms Dritten ging es im allgemeinen einfach und still her. Der König liebte die rauschenden Festlichkeiten nach dem Tode seiner unvergeßlichen Gemahlin noch we niger als früher. Auch nötigte die Lage des Landes nach den schwe ren Kriegen von 1806-1807 Der jetzige Kaiser Wilhelm und 1812 bis 1815 zu gewissen Einschränkungen im fönigNur wenn die hohen lichen Haushalte. Bundesgenossen des Königs oder die Anver-
wandten der königlichen Familie zum Besuche am Berliner Hofe verweilten, dann fanden Ausnahmen statt. Zu einer solchen Ausnahme gab im Sommer 1834 die Anwesenheit der Kaiserin Charlotte von Rußland, der ältesten Tochter des Königs, VerZu anlassung. ihren Ehren veranstaltete derKönig ein überaus glänzendes Fest, welches das Fest weißen der Rose genannt wurde, die ebensosehr die Lieblingsblume der Kaiserin Charlotte, wie früher die Kornblume die Lieblingsblume ihrer königlichen Mutter war. Der Platz zwi schen dem Neuen Palais bei Potsdam, wo die Kai-
serin residierte, und den Kommuns (so heißen zwei dem Neuen gegen Palais überliegende, im Renaissancestil erbaute Schlösser, die jetzt zu Kasernen für das Lehrbataillon Wisn eingeric htet sind) iest war zum Schauplaze dieses seltenen Festes einals Ritter der weißen Rose. gerichtet worden und durch Wimpel und Fahnenstangen mit den preußischen und russischen Farben und Wappen als solcher bezeichnet. Rings um den Platz und
Aus der Jugendzeit des Deutschen Kaisers Wilhelm.
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auf den breiten Freitreppen vor den Kommuns waren Zelttribünen für die eingeladenen Gäste errichtet. Unter der korinthischen Säulenhalle inmitten der Hauptfassade der Kommuns, zu
Ihm folgte Prinz Wilhelm im silber-
genommen hatte in ihrer Lieblichkeit und Holdseligkeit selbst einer weißen Rose gleich schmetterten Fanfaren und die Ritter der weißen Rose ritten unter den Klängen der Festmusik, einer nach dem andern mit Gefolge und Knappen in die Schranken, in schimmernder Rüstung, die edlen Rosse mit prächtigen Decken behangen, jeder einen selbstgewählten Spruch als Devise im Schilde tragend. Unter den Klängen des Pariser Einzugsmarsches, des Blücherliedes und des gerade damals in Aufnahme gekommenen Preußenliedes, die freilich zu dem ritterlichen Schaugepränge etwas anachronistisch tönten, bewegten sich die Ritter in langsamem, feierlichen Zuge an den Reihen der Zuschauer entlang , sprengten dann mit einer kurzen Volte, bald kurbettierend und tänzelnd, bald ihre Rosse zu einigen kecken Lançaden spornend, eine kleine Anhöhe hinan, die sich gegenüber dem Roſenzelte der Kaiſerin erhob, und parierten dann kurz die Roſſe, indem sie nach Ritterart durch Senken der Waffen die " weiße Rose" begrüßten und ihr die Huldigung darbrachten. Den Reihen eröffnete der Kronprinz Friedrich Wilhelm , welcher schon damals durch seine hohen Geistesgaben und seine persönliche Liebenswürdigkeit die allgemeine Aufmerkſamkeit auf sich zog ; er führte die Devise : " Tuis victoria !"
drai, des Herzogs von Braunschweig: "7 Nunquam retrorsum! " - des Prinzen Adalbert von Preußen, Neffen des Königs : „Ohne Kampf fein Sieg ! " 2c. Nachdem die Hälfte der Ritter vorüber war, verstummte die Musik, und der Führer des ganzen Zuges, Herzog Karl von Medlenburg- Strelit, Bruder der hochseligen Königin Luise, ausgezeichnet durch ruhmvolle Waffenthaten in den Freiheitskriegen bei Wartenburg und Möckern, kommandierender General des Gardekorps, mit der Devise: „Für Sie!" sprengte die Anhöhe hinan, salutierte die Kaiserin und richtete eine poetische Ansprache an dieselbe, in welcher er auf die allegorische Bedeutung des Festes hinwies . Sowie die Kaiſerin die weiße Rose, das Sinnbild der keuschen
durchwirkten Waffenkleide, die Kette des Schwarzen Adlerordens um den Hals geschlungen, auf dem Haupte den Helm mit aufgerichteten Adlerflügeln. Frohe Zuversicht, welcher die Freitreppen vom Plaße aus zu beiden Seiten aufstiegen, befand sich das ganz Biederkeit und edler Freimut leuchteten von mit weißen Rosen übersponnene Zelt der seinem Antlig unter dem aufgeschlagenen Viſier. Der Prinz stand damals in der Blüte seiner Kaiserin. Eine auserlesene Damenflora umManneskraft ; die körperliche Schwäche der gab in schönem Kranz den gleichsam einen Turnierplay vorstellenden inneren Raum. So- | Jugendzeit war vollständig überwunden. Wenn man mit dem Rittertum noch die Begriffe wohl in den Blumengewinden, die rund um jener glänzenden Vergangenheit verband, in den Play in anmutigen Bogen von Säule zu Säule sich schwangen, als an den Gewändern welcher der Ritter "! Gottesdienst, Waffendienst der Frauen herrschte die weiße Rose als und Frauendienst" als die Hauptaufgabe seines Hauptschmuck vor. Außer den geladenen Gästen Lebens erkannte, dann paßte dieser Hohenzoller, war eine zahllose Volksmenge zusammenge- wie faum ein andrer, in die ritterliche Kleiströmt, so daß auch die Dächer, Mauern und dung und Waffnung ; sein blanker Schild zeigte Bäume von Zuschauern besetzt waren . Der den Wahlspruch : " Gott mit uns !" Von König ging an den Sigreihen der Gäste ent- den beiden andern Söhnen des Königs führte lang und unterhielt sich in heiterer Stimmung Prinz Karl den Schildspruch : „Thue deine mit ihnen. Pflicht!" Prinz Albrecht : " Nil candidius! Der Spruch des Prinzen Friedrich Bald nachdem die Kaiserin erschienen war der Niederlande lautete: Je maintienund ihren Plaß unter dem Rosendach ein-
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Liebe, zu ihrer Lieblingsblume erkoren hatte, so wollten die Ritter der weißen Rose dem. hohen Frauentume, der edlen Zucht und Sitte, ihre Dienste weihen. Darauf Drommetentusch und Paukenwirbel. Nachdem dann auch die übrigen Ritter alles Jünglinge aus den ältesten Adelsgeschlechtern , größtenteils Offiziere von der GardeKavallerie - paſſiert waren, begab sich die Kaiserin mit der geladenen Hofgeſellſchaft in den großen Muschelsaal des Neuen Palais und spendete den Gästen ihren Dank, indem 34
A. Oberländer. Duett.
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fie kleine Ehrengaben und sinnige Andenken | toria , die bald nach ihrer Vermählung die unter die Ritter verteilte. Räume des Neuen Palais bezog, ihre Auferstehung, und es ist, als ob das Fest der Damit hatte das schöne romantische Fest weißen Rose in den duftigen Gärten des seinen Abschluß erreicht. Die Umgebungen des Neuen Palais wurden wieder still und einsam Neuen Palais noch eine Nachblüte habe, und blieben es für lange Zeit. Erst in unseren sehen wir hier doch die liebliche MoosTagen feierten die dortigen Gärten und An- rose, die Lieblingsblume der Kronprinzessin, lagen unter der Anleitung der die Kunst und überall aus verborgenen Lauben und Nischen Schönheit pflegenden Kronprinzessin Vik- hervorschauen.
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Von R. Oberländer.
Maximilian Schmidt. 's Almftummerl.
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's Almftummerl. Eine Erzählung aus dem bayrischen Hochland. ¹) Von Maximilian Schmidt.
I. der 24. August , welcher in der Balepp eine ahe der bayrisch - tiroliſchen | große Menschenmenge zusammenführt , die es Grenze, wo die rote mit der sich in dem gastlichen Försterhause , welches weißen Valepp vereinigt, brauzugleich Wirtshaus iſt, beim „ Almakirta “ wohl send durch ungeheure Felsen- | gefallen läßt. Da kann man die stämmigen massen stürzt, liegt von hohen, Holzknechte mit den lustigen Almerinnen schuhzackigen Berggipfeln umgeben platteln sehen, vom fröhlichen Jauchzen hallen die Felswände wieder, denn je höher und ereine kleine Ansiedelung , auf welche die kahlen drückender diese zu sein scheinen , desto freier Häupter des Sonnwendjoches und des Schinders geht dem jungen Volke das Herz auf und ernst herniederschauen . Ein Försterhaus , ein paar von Holzarbeitern bewohnte Hütten und manch glückliches Bündnis liebender Herzen. ein hübsches, im gotischen Stile erbautes, dem nahm seinen Ursprung beim Almentanz in der hl. Bartholomäus geweihtes Kirchlein bilden | Kaiſerklauſe. Manch schöne Tirolerin pascht ihr Herz bei dieser Gelegenheit ins Bayerndie unscheinbare Ansiedelung, welche unter dem Namen der „ Valepp" weit und breit diesseits land herüber , manch bayrisches Almendirndl und jenseits des Grenzschlagbaumes bekannt lauscht dem schönen Sang des Nachbars mit ist. Eine kurze Strecke abwärts befindet sich mehr Interesse, als der erklärte Bua für nötig in einer Klamm das großartige Triftwerk, die findet und schnell ist die Eifersucht zur wilden Kaiſerklause, durch welche, sobald die Schleusen | Flamme entfacht. Manchen, der des Morgens geöffnet werden, das Waſſer brüllend hindurchin Demut friedlich und in frommem Gebete in oder vor dem kleinen Kirchlein kniete, sieht stürzt und auf den schäumenden Wogen das man des Nachmittags oft in wildem Kampfe Scheitholz mit fortreißt zu dem gewaltigen Junstrome. mit dem fremdländischen, meist schönen, jugendHauptsächlich ist es der Bartholomäustag, 1) Zum Dialekte. Durch aa ist das hohe helle a ausgedrückt. Die ursprünglich mit aa ge= schriebenen Wörter, wie Haar , baar 2c. behalten jedoch ihre gewöhnliche tiefe Betonung. Dieses aa wird in der Regel statt auch, au und ä, oft auch für andere Doppellaute und Vokale gesezt , z. B. statt : auf die Kirchweih ging ich auch gern und thät tanzen, aber es fehlt mir das Geld — aaf ' n Kirta gaang i aa gern und thaat tanzn , oba es faahlt mir ' s Geldei. - Das einfache a oder an' ſteht statt des unbeſtimmten Artikels und da , wobei das a überall hochtönig ist , statt des bestimmten ; 3. B.: Da Bua is a Schliffel , drum kriegt er an' Riffel. - Dieses da und an iſt daher nicht mit dem Umstands- und Verhältniswort da und an zu verwechseln. Die durch Apostroph gekürzten Wörter mei' dei' ſei' ſcho'no' ma' 2c. (mein, dein, sein , schon , noch , man 2c. ) sind mit einem Naſelaute auszusprechen , ähnlich wie das franzöſiſche non . Alles Uebrige erklärt sich wohl von selbst oder ist eigens angeführt.
lichen Volke, den Tirolern. Beim heutigen Almakirta" hoffte man zuversichtlich , daß der Friede nicht gestört würde, sprach doch der Geistliche im kleinen Kirchlein so eindringlich dafür, Liebe und Versöhnung predigend. Mehr als je war heute, wohl zunächst der herrlichen Witterung wegen, der Almakirta besucht. Die stämmigen Burschen in grauer Joppe , Knichösln und Wadenstrümpfen , die Spielhahnfeder keck auf dem grünen Hut, kamen mit ihren frischen Dirndln, die mit dem kleidsamen , goldbeschnürten Hütchen und dem nie fehlenden Sträußchen von Nelken und Alpenrosen im silberverschnürten Mieder recht reizend aussahen, fröhlich herangezogen. Lustiges Jauchzen schallt von den Bergen herab, wo die verschiedenen Almhütten stehen und helles Jodeln hallt wieder hinauf als grüßende Antwort, zugleich Kunde gebend,
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Maximilian Schmidt.
daß der Ersehnte unten wartet. Es ist dieses der einzige Tag, an welchem der Sennerin erlaubt ist , ihre Alm zu verlassen und ihre Pflegebefohlenen dem " Hüatabuam" anzuvertrauen, damit auch sie mit ihrem Buam den "Almakirta" mitfeiern kann.
tiefen , langgetragenen Kummers , die Handschrift der Not annahm , wenn sie eine neue Unglücksstunde aufgefrischt hat. Und war denn heute ein solcher Unglückstag, heute, wo die Berge vom frohen Jauchzen widerhallten , wo alles sich schmückte und Eine größere Anzahl von Sennerinnen freudig hineilte zum Almentanz in der Kaiserflause? Wie, fänden auch die häßlichen Gesellen kommen an diesem Tage von den gleich einem Gram und Elend den Weg in die schöne Welt Hirtendörschen umherliegenden Sennhütten im " Totengraben“ heran, mit welch schauerlichem der Berge , welche man in schönen Sommermonaten so gerne aufsucht als die Heimstätte Namen man ein gegen den Spizingsee zur friedlichen Glückes ? Es muß wohl so sein . Seite des Sträßchens liegendes , wiesenreiches Gleich dem Schatten verfolgt den Menschen Thal bezeichnet, welches von den kahlen Wänden die Leidenschaft, ob er im Flachlande oder in der Bodenschneid und des Jägerkamms umgrenzt ist. den freien Bergen, in Palästen oder ärmlichen Hütten wohnt, und wie sich der von so vielen Helles Jodeln tönte von diesen Sennhütten, für unempfindsam gehaltene Bauer für das auch von den andern entfernter gelegenen ; Edle oft ebenso zu begeistern vermag, wie der nur von einer der letteren , der sogenannten Gebildete, was durch die geschichtlich bekannte „Elendalm", oberhalb des Enzengrabens , in „Sendlinger Bauernschlacht“ und manch andere etwas erhöhter, aber einsamer Lage, tönte kein heiteres Jodeln, obwohl eine in ſchmucke Ge- | hochherzige That genugsam bewiesen iſt, ſo leidet birgstracht gekleidete weibliche Person unter er auch und fühlt ebenso schmerzlich, oft noch tiefer, als der Städter , wenn die kalte Hand der Thüre stand und nach der Richtung blickte, in der sich der Weg in die Valepp hinzieht. des Unglücks in sein Herz greift. Was er Vor der Sennhütte befand sich ein kleines eindann vielleicht vor dem Städter voraus hat, das ist der christliche Duldersinn . gezäuntes Gärtchen, in welchem sich ein bunter Flor von Blumen befand. Spanische Wicken Dieser war es , welcher auch das stumme Mirdei oder „'s wucherten an dem Zaune und innerhalb des" Almstummerl " aufrecht erhielt, denn die Dirn, welche mit dem Blumenstrauß selben blühten vielfarbige Astern , Nelken und in der Hand soeben in die Sennhütte zurückReseda, auf welche einige große Sonnenblumen anmaßend herniederblickten. Die Sennerin, ging, war stumm. Nicht stumm geboren ; in einer unglückseligen Stunde hatte sie der denn als diese mußte man die Frauensperson wohl ansehen, hatte sich aus diesem Gärtchen | Schrecken der Sprache beraubt , es war jene Stunde, in der sie den Geliebten, den Bräutiein Sträußchen geholt und damit ihre Brust gam verlor , den Bräutigam , deſſen Bild sie geschmückt, einen zweiten größeren Strauß hielt jetzt aus der Truhe im Schlafgemach heraussie in der Hand und war dieser zweifellos für nahm, im Kaser (Kuchel) auf den Tisch legte jemand andern bestimmt. Die nachbarlichen und mit den eben gepflückten Blumen, so gut Almendirndln gaben ihrer fröhlichen Lust durch helles Jodeln Ausdruck, die von uns ins Auge es ging, bekränzte. Dann nahm sie aus einer alten Schachtel einen vergilbten Myrtenkranz gefaßte Dirn aber verriet durch keinen Laut, und nachdem sie sich auf einen Stuhl niederinwieweit sie an der allgemeinen Freude gelassen , betrachtete sie das gemalte Bildnis, Anteil nahm. Aber sie verriet dies auch durch feine frohe Miene. welches einen jungen , hübschen Burschen, mit Sie war kein jugendliches Almendirndl Joppe und Kniehösln gekleidet, vorstellte. Mirdei fühlte sich in die Zeit ihrer Jugend mehr; sie mochte wohl nahe an den Vierzigern sein, gleichwohl war ihr Gesicht noch sehr schön ; | zurückverſeßt. Sie sah sich im Geiſte auf dem die pechschwarzen, von keinem Grau gemischten Schöneckerhofe , der Heimat des abgebildeten Burschen. Bartl war dessen Name und heute Haare, die tief dunklen Augen, der ganze Aussein Namenstag . Sie feierte dieſen, indem drud ihres regelmäßigen Gesichtes machten sie das Bild des Geliebten mit Blumen immerhin noch einen jugendlichen Eindruck. Die sanften Züge ihres Gesichtes verschärfte | schmückte und sich festlich angekleidet hatte. jedoch hier und da ein Ausdruck, der die Linien | Doch was war es mit dem Originale , wer
's Almstummerl.
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war der Gefeierte? Wir wollen das in Kürze | verdecken , welche er über das Gesprochene empfand. erzählen. Mirdei erschrat auf den Tod. Das Blut Heute waren es gerade zwanzig Jahre, daß drang ihr zum Herzen , sie erhob die Hand, Mirdei und Bartl beim Almentanz in der wollte Bartl antworten , sie rang nach Kaiserklause ein Liebesbündnis schlossen auf Tod und Leben. Mirdei war eine arme einem Laute die Stimme versagte ihr alle Anstrengung war vergebens . Nur einen Sennerin auf der Alm , auf welcher sie noch heute regierte, aber das schönste Dirndl in der unartikulierten Schrei stieß sie aus, dann fiel ganzen Valepper Gegend ; Bartl dagegen war sie ohnmächtig auf den Stubenboden hin. Man der Sohn und Erbe des reichen Schöneckers, brachte sie in das Haus , in welchem sie in dessen Hof in erhöhter Lage auf einem gegen der lezten Zeit gewohnt hatte ; man hielt sie den Valeppfluß abfallenden Hange unweit dem für tot. Als sie endlich nach einigen Stunden wieder erwachte, war sie stumm. Kein Wort tirolischen Brandenberg stand. Schon war der Hochzeitstag gekommen , das Bräutchen gedrang mehr über ihre Lippen. Der Schrecken schmückt zum festlichen Gange , harrend des hatte ihr die Sprache genommen. Ihr Herz war Bräutigams. Doch dieser kam nicht. Die gebrochen. Nachdem sie sich wieder kräftig genug fühlte, um arbeiten zu können, verdingte sie festgesette Zeit war längst vorüber ; eine trübe Ahnung erfaßte Mirdei. Sie lief in das Haus | ſich neuerdings bei ihrem früheren Dienſtherrn als Almdirn. Es war dies der untere Rauihres Bräutigams und sah, in die Stube eingetreten, wie dieser eine schon ältere Witwe ecker, ein vermöglicher Bauer aus der Tegernaus einem Nachbarhofe umhalste und küßte. seer Gegend, dem auch die Alm in der Valepp Auf dem Tische nebenan lag ein großer Haufen gehörte. Man nannte das stumme Mirdei " Guldenstücke , eine Weinflasche und mehrere. von nun an „'s Almſtummerl“ und die Alm wegen des großen Elends ihrer Sennerin „ die Gläser standen daneben. Elendalm ". „Jesses , ' s Mirdei ! " rief Bartels Vater beim Anblicke der Eintretenden. „ Du hast Mirdei suchte durch fortgesette Thätigkeit foa' Geld, Dirndl !" fuhr er fort, was nust das Unglück , welches sie anfangs nicht über'n Bartl dein saubers G’sicht alloa ! Die Sach dauern zu können glaubte, wenn auch nicht zu wird anders g'macht. Der Bartl nimmt die vergessen, so doch zu lindern, und dieses war auch das einzige Mittel , durch welches sich die reiche Witib als Bäurin und du kriegst hundert Gulden als Entschädigung." Dabei so tief Getränkte wieder aufrichtete. Solange reichte er ihr eine Handvoll Geld hin. der Mensch thätig, verschließt sich die Wunde Mirdei, die des morgens noch so glückliche | des Herzens und dieſes wird neu gestärkt und Braut, wurde weiß, wie eine Leiche. erträgt dann leichter die wiederkehrenden Stun „Dei' Voda will mi tribuliern!" sagte sie den des Elends. Nach und nach weicht dieses in ungewissem Tone zu Bartl, der sie mit dann , oder erblaßt mählich, und das Herz nimmt neben ihm wieder neue Eindrücke in stieren Blicken anstarrte. „Aus G'spaß gib i dir koa' Handvoll sich auf , die neuen Verhältnissen entspringen. Das Almstummerl auf der Elendalm war Geld," entgegnete roh lachend der alte Schönecker. Und die Witib und Bartels Mutter die ersten Jahre ein Gegenstand des Bedauerns lachten mit. und der Neugierde, späterhin vergaß man die Geschichte und so kam es , daß mit der Zeit „Du willst mi wirkli verlassen , Bartl ?" rief Mirdei, sich an diesen wendend. „Es is nur wenige mehr vom Almstummerl näheres foa' G'spaß, es is dei' Ernst ?" wußten. Mirdeis Dienstherr , „ der untere „Du siehgst, i fonn nit anders," entgegnete Rauecker", war kinderlos und beabsichtigte nach jezt der Gefragte , „ da Voda und d' Muatta dem Tode seiner Bäuerin das fleißige Mirdei wollen's a so hab'n. I brauch a Bäurin mit zu heiraten. Aber diese konnte sich nicht dazu Geld, daß i ' n Hof wieder schuldenfrei krieg, entschließen. Sie wenigstens wollte dem Schönund da siehgst mei' neue Hochzeiterin . Pfüat ecker die Treue bewahren bis zum Tode. Der di Gott, Mirdei !“ Rauecker hatte gleichwohl zu seiner Almdirn, die ihm so großen Nußen einbrachte , eine Dieses sprechend , bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen, als wollte er die Scham solche Zuneigung gefaßt, daß er ihr testamen-
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tarisch den Bauernhof als Eigentum vermachte, trotzdem er einen Bruder hatte , welcher den oberen Raueckerhof besaß. Er war sich mit diefem verfeindet und bevor er sich noch mit ihm aussöhnen konnte , überraschte ihn ein Schlaganfall mit tödlichem Ausgang. Mirdei war nun plötzlich eine vermögliche Bäuerin geworden. Sie war ein elternloses Mädchen
im vorgerückten Alter wollte er es noch weniger lernen. Dem Wirtshaus aber konnte er nicht mehr entsagen und er verschaffte sich die Mittel zum Trinken auf unrechtmäßige Weise. Er schlich in den Wald und schabte von den Bäumen das Harz , das er an die Pechhändler verkaufte , oder er paschte kleine Waren über die Grenze , wodurch er sich sein Agio verund hatte auch sonst keine Verwandten ; so diente. Seine Gewissensbisse suchte er durch regelmäßige Räusche zum Schweigen zu bringen. mußte sie nur fremde Leute auf ihrem Hofe haben. Gar mancher Burſche ſah ſich jezt In wenigen lichten Stunden gedachte er wohl das Almſtummerl und den Raueckerhof näher | seines armen Kindes, um das er sich seit dem an, mancher klopfte auch an, aber es ward ihm Tode seines Weibes nicht mehr gekümmert und nicht aufgethan. das er fremden Leuten überlassen hatte; er dachte auch an Mirdei, er klagte sich und seine Mirdei war so an ihr Almenleben gewöhnt, Eltern an, er bereute. Über das geschah nur daß sie noch als Hofbesitzerin es übernahm , selten und niemals lange. Er vermied es, in ihr Vich selbst dorthin zu geleiten und nach die Nähe des stummen Mirdei zu kommen, wie vor eine Sennerin zu machen. Den Hof späterhin hielt er sich ohnedies entfernt von ließ sie einstweilen von einer treuen Hoam der Heimat und wäre in dieser faſt verſchollen, dirn" bewachen. So blieb sie friſch und gewenn nicht von auswärtigen Gerichten öfters sund auf ihrer Elendalm , und gar mancher üble Anzeigen dorthin gekommen wären, meistens blickte hinauf und wünschte sich ein solches „ Elend", wie es jetzt dort oben zu Hause war, des Inhalts, daß der Bartholomäus Schönecker auf so und so lange wegen wiederholten Paſchens nämlich die schöne Herde Vieh, die prächtigen Geißen und Schafe, und die herrlichen, honig- im Gefängnisse versorgt worden sei. Sein verwaistes Kind hatte seiner Zeit eine duftenden Matten zwischen den prächtigen, bewaldeten Bergen . arme, aber brave Näherin im Zillerthale in Kost genommen. Die Gemeinde, in der Bartl heimatDer Freuden gab es freilich für das Almstummerl wenig und diese bestanden darin, den berechtigt , war verpflichtet , das Koſtgeld zu bestreiten. Dieses wurde jedoch in so unbeNebenmenschen Gutes zu thun und der Armut von ihrem Ueberflusse mitzuteilen. deutender Summe und so unregelmäßig, meist Anderer Art waren die Schicksale Bartls. gar nicht bezahlt , daß die brave Näherin, Witwe vermögliche die Treulose der Nachdem welche zu dem Kinde eine aufrichtige Liebe geheiratet, war der Segen von ihm und seinem hatte, auf jeden Erziehungsbeitrag verzichtete und es aus eigenen Mitteln auferzog. Sie Hause gewichen. Zwar schenkte ihm seinWeib schon im nächsten Jahre ein Mädchen , die Burgl, erhielt jedoch erfreulicherweise recht bald einen aber die ältliche Frau wurde durch ihre fort Beitrag von Mirdei , dem sogenannten Almwährenden Zänkereien ihrem Manne bald zu- stummerl. Als diese den Aufenthalt des Kindes wider. Es gefiel ihm nicht mehr auf seinem ihres einstigen Bräutigams erfuhr , suchte sie Hofe; sein Hauptaufenthalt war das Wirtsdasselbe auf und machte es sich zur Lebensaufgabe , zur Erziehung des Mädchens nach haus. Hier vertrank er seine Sorgen , vertrank die quälende Erinnerung an Mirdei und besten Kräften beizusteuern. Hatte sie ja doch kümmerte sich weder um Haus, noch Familie. sonst auch keinen Menschen , für den sie zu sorgen Dazu litt sein Hof Schaden durch Hagelschlag hatte, niemanden, der ihrem Herzen nahe stand. Als Burgl zwölf Jahre alt war, brachte. und Seuchen; er mußte viele Schulden machen. Sein Weib wurde krank vor Kümmernis und sie ihre Erziehungsmutter, es war am Barthostarb. Bald war es bekannt, daß Bartl auf lomäustage, zu der stummen Sennerin in die der Gant sei. Der Hof wurde ihm verkauft, Elendalm, damit sie sich bei ihrer Wohlthäterin und arm ward er von dem Besißtum seiner bedanken könne. Dem Mirdei gefiel das schöne Eltern , welche der Tod diesem Unglück recht- Mädchen, das seinem Vater Zug für Zug glich, und sie nahm sich vor, sich auch fernerhin der zeitig entrückt hatte, vertrieben. Bartl
hatte
niemals
arbeiten gelernt,
Waise anzunehmen.
Sie vertrat bei der Fir-
's Almftummer!.
mung des Mädchens Patenstelle und ließ es demselben an nichts fehlen, und Burgl kam mit ihrer Ziehmutter später noch einige Male zum Almakirta in die Valepp. Auch heute hoffte Mirdei auf den Besuch des nunmehr achtzehnjährigen Mädchens und es war seit lange ihr Plan, dasselbe nun ganz zu sich zu nehmen. Deshalb hatte sie so oft nach dem Wege geblickt , auf welchem Burgl herankommen mußte. Bartls Begegnen hatte Mirdei stets sorgsam vermieden, doch flehte sie für ihn zu Gott, daß er sich seiner erbarme und ihn nicht in Sünden zu Grunde gehen lasse. Die Liebe, welche sie einst für ihn empfunden, konnte sie nicht mehr ganz ausrotten aus ihrem Herzen, so sehr sie sich auch dazu zwingen wollte ; wälzte sie doch das ganze Unglück auf Bartels Eltern und hierin fand sie einen Funken von Entschuldigung für den Verkommenen. Selbst als Bartl eine für alt und jung verabscheuungswürdige Persönlichkeit , ein gemiedener Mensch wurde, selbst da noch verging kein Tag, an dem sie nicht an den einst so Treulosen und jetzt so Bedauernswürdigen dachte, für ihn betete.
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nicht mehr gesehen ; er hoffte, daß sein Besuch ihm irgend einen Vorteil bringe. Es war am Tage des hl . Bartholomäus, als er sich auf den Weg zur Kaiserklauſe machte. Auf dem Wege zur Elendalm begegnete er einem Viehtreiber , der zwei schöne Kalben führte. Ein des Weges kommender Bursche fragte den Treiber, woher er die schönen Kalben hätte, und dieser erzählte ihm, er hätte die Tiere vom Almſtummerl auf der Elendalm gekauft und ihr dafür das schönste Silbergeld hingelegt. „ No',“ meinte der Bursche, „ da kann sie ſi' heut am Almakirta an' guaten Tag aafthoa”.“ Der Händler meinte, das würde sicher geschehen , denn er habe die stumme Sennerin, aufs schönste ausstaffiert, verlassen und sie würde gewiß schon auf dem Wege zum Kirchlein in der Balepp sein. In Bartels Gehirn zuckte ein teuflischer Gedante auf. Es zog ihn hinauf zur verlaſſenen Elendalm. Vor seinem wirren Sinn schwebte das klingende Silbergeld . Weit ab vom Wege schlich er hin zu der Behausung des einſt von ihm so schnöde behandelten Mädchens, welches gerade in dieser Stunde lebhaft seiner gedachte. Es war auf der Elendalm recht still ge= worden. Die Bewohnerinnen der umliegenden Mit dem Beginne unserer Erzählung kam Bartl eben wieder aus dem Gefängnisse zurück | Sennhütten waren längst zu Thal gestiegen, und ward in die Heimat geschubt. Himmel die Hüterbuben trieben ihr Vieh auf entferntere und Hölle schienen ihn verlassen zu haben; Weidepläge , und so war weit und breit kein man wie ihn aus den Wirtshäusern aus, menſchliches Wesen zu erblicken ; heilige Stille weil er nicht bezahlen konnte, man ging ihm , herrschte in dieſen erhabenen Regionen. als einem Lumpen, aus dem Wege . Niemand Mirdei hatte ihr Vieh gleichfalls dem erwiderte seinen Gruß, und wo er um Arbeit Hüterbuben zur Bewachung anvertraut , auch bat , jagte man ihn mit Hunden aus den sie hielt heute Feiertag , aber nicht , um wie Häuſern. Und er hatte nicht einen Kreuzer die andern zum Almentanz zu gehen, sondern Geld in der Tasche. Er getraute sich nicht hier oben in dieser Einsamkeit in Ruhe die in den Wald hinaus , um Harz zu stehlen, schönsten und zugleich bittersten Tage ihres denn er wußte , daß man ihn sogleich attra- Lebens an ihrem Geiste vorüberziehen zu laſſen, pieren würde , daß er von Spionen umgeben noch einmal alle Freude und alles Elend durchsei. Die Lage des einst so reichen Bartl war zufühlen , das sie damals empfand . Lange Er fühlte, hatte sie das Bild des Geliebten betrachtet, also geradezu eine verzweifelte. daß er fort müsse aus der Gegend , daß er dann ging sie in die Kammer, ihren Rosenkranz Aber dazu zu holen, denn er bildete gleichfalls einen Beunter fremde Menschen müsse . brauchte er Geld! Woher nehmen ? Er dachte standteil ihres einstigen Brautschmuckes , er war lange darüber nach. Endlich tauchte ein GeZeuge der Freude und des Schmerzes jenes danke in ihm auf. Er dachte an das stumme unglückseligen Tages, er durfte auch heute auf Mirdei. Es war ihm nicht unbekannt ge- dem Tische, auf welchem die Erinnerungsstücke blieben, daß sie eine reiche Erbschaft gemacht , ausgebreitet lagen, nicht fehlen. und ebenso , daß ſie ſich noch immer auf der In diesem Momente öffnete sich die Thüre, Alm in der Nähe der Valepp aufhalte. Faſt welche von außen in die Hütte führte , ein zwanzig Jahre waren verflossen , seit er sie Mann schob sich herein in den Kaser, ſah ſich
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vorsichtig um , und als er jemanden in der Kammer auf und abgehen hörte, eilte er nach dem jest leeren Stalle, um sich dort zu verstecken. Unwillkürlich hatte er das Messer aus der Hosentasche gezogen. Noch hatte er die Thüre nicht ganz geschlossen , als Mirdei wieder aus ihrer Kammer trat, und so blieb er ruhig hinter der Stallthüre stehen, um sich nicht durch eine unvorsichtige Bewegung zu verraten. Der Mann war Bartl. Er hatte sich einen künstlichen Höcker gemacht und den Kopf verbunden , um von niemanden erkannt zu werden, denn ſein Besuch auf der Alm sollte in einem Verbrechen gipfeln. Er stand dicht an der nur angelehnten Thüre, den Kopf an die Spalte gedrückt und verfolgte mit Aufmerksamkeit alle Bewegungen Mirdeis. Zwei Geister stritten sich in ihm. Er war wie angebannt an der Stelle. Mirdei hatte den Rosenkranz zu dem andern auf den Tisch ge= legt und hielt nun wieder das bekränzte Bild in der Hand , das sie unter Thränen küßte und dann feufzend auf den Tiſch ſtellte. Bartl hatte es sofort als sein Bild erkannt. Sie sah es mit einer Miene an, als wollte sie sagen : ,,Du bist heunt mei' liawa Gast !" Dann nahm sie den Brautkranz und hing ihn an das Bild und ſezte sich neben hin, sich wieder ganz ihren Eindrücken überlassend. Bartl hatte die Hand vom Mordstahl, den er in der Brusttasche verbarg , genommen. Träumte er? War das Wirklichkeit ? Die von ihm so schmählich Betrogene ehrte noch war denn heute heute sein Bild ? Heute nicht sein Namenstag ? War nicht der Jahrestag, der unglückselige , des einst bestimmten Hochzeitstages ? Und Mirdei feierte diesen Tag! Sie fluchte ihm nicht, sie betete für ihn, sie füßte sein Bild ! Also gab es doch noch Einen Menschen auf der Welt, der noch Mitgefühl für ihn hatte ? Er war nicht ganz ausgestoßen aus der Menschheit ? Eine Person fühlte noch für ihn und gerade diese wollte. er jetzt — Es schauderte ihn. Schnell riß er das Tuch vom Kopfe, sprang zu Mirdei hin, stürzte auf seine Kniee und rief: „Mirdei ! Mirdei !" Die so Angerufene erschrak heftig und wandte sich nach der Stelle , von welcher der Ruf kam . Ihr Schrecken erhöhte sich noch, als sie Bartl erblickte. Sie wollte zur Thüre hinaus
entfliehen.
Bleib, Mirdei ! " rief jeßt Bartl. „I thua dir nix ! Glei geh i wieder. I hon gſegn, daß d' mi no' nit ganz veracht'st, daß d' dös Bild von dem arma Bartl no' wert haltſt, anz’ſchaugn. “ Mirdei war jest wieder gefaßt. Sie blickte nach dem Bilde und grüßte es mit der Hand, dann wandte sie sich Bartl zu mit einer Bewegung, die anzeigte , das ihr vor ihm , dem jezigen Bartl, graue. Sie faltete die Hände zusammen und wies dann nach der Thüre. Bartl stand auf. Er starrte sein Bild an. „ Durt hon i freili nit g'wußt, daß 's no' an' Namenstag für mi gibt, an dem i betteln und hungern muaß , " sagte er für sich. Und er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Als die Stumme das hörte, stellte sie ihm
schnell eine Schüſſel Milch und Brot hin und gab durch Zeichen zu verstehen , daß er sich's schmecken lassen solle. Dann bot sie ihm Geld an , damit er sich einen besseren Anzug und Schuhe kaufen könnte. Bartl konnte nicht essen, und wollte das Geld nicht nehmen, aber Mirdei steckte es ihm in die Bruſttaſche. Da fühlte sie das Messer. Da es in keiner Scheide war, zog sie es heraus und schien durch Gebärden sagen zu wollen : „ Verlier dei' Messer nit !" " Was wolltest du mit dem Messer?“ glaubte sich Bartl jezt fragen zu hören. Es überlief ihn eiskalt ; eine fürchterliche Scham überkam ihn. Er warf das Messer nach seinem Bilde, daß es in demselben stecken blieb und mit dem Ausruf: „ Mirdei, verzeih mir's ! Pfüat di Gott ! " stürzte er aus der Hütte. Mirdei stand lange erschrocken da. Mit eigentümlichen Gefühlen betrachtete sie das Bild Bartls, welches er selbst durchbohrt hatte. „Es is d' Reu," dachte sie bei sich , „ die eam dös hat thuan lass'n , es is der Aerger über si selber , daß er durtmals , wie er no' ausgschaut hat wie dös Bild, sei' Glück mit Füaß'n tret'n hat , daß er sei' Geld verpraßt und mi , sei' arm's , treu's Dirndl verstoß'n hat. Armer Bartl, du sollst von mir iat öfter was friagn! Verhungern sollst nit. Bist ja iaß arm und elend - i will dir rechter Zeit Hilf bringa." Unter solchen Gedanken räumte sie die
verschiedenen Sachen wieder zuſammen; dieſes Mal legte sie das lange Meffer Bartls zu dem andern. "I werd eam dafür a neu's kaafa, wenn i wieder abtrieb'n hab," dachte sie bei sich.
's Almftummerl.
Bald nachher kam der "1 Hüattabua " mit den Kühen heim und Mirdei verrichtete nun, nachdem sie auch ihren Sonntagsstaat abgelegt, ihre gewöhnlichen Geschäfte. Aber es wollte ihr heute nicht recht von der Hand. Das Wiedersehen kam ihr zu unverhofft. Und erwartete sie denn nicht auch heute Bartls Tochter, die Burgl? Sie sezte sich auf die Bank vor der Gred und sah hinunter auf den Weg, auf welchem die Erwartete kommen mußte. Welch ein Zusammentreffen, wenn Vater und Tochter sich bei ihr gefunden hätten ? Sie legte die Hände in den Schoß und ihr Geist führte sie zurück in längst vergangene Tage. Sie sah sich wieder als glückliche Braut , sie konnte singen und sprechen , wie damals , bevor die reiche Witwe sich zwischen sie und ihren Bartl gedrängt hatte ; es war ja dies die schönste Zeit ihres einfachen Lebens! Indessen war Bartl gleich einem Flüchtling zu Thal gestiegen. Als er entsetzt über sich selbst von der Stummen floh, glaubte er nicht anders, als diese müßte es ihm angesehen haben, zu welch verächtlicher That er in ihre stille Hütte kam. Er nahm sich vor, ihr nie mehr unter die Augen zu treten. Ihr Anblick mußte ihn an die Schuld erinnern, die seiner Meinung nach schon durch den bloßen Willen, den er hatte, auf ihm haftete. Um sich zu betäuben, wollte er ins Wirtshaus gehen. Er hatte ja jezt Geld, Mirdei hatte es ihm selbst in die Tasche gesteckt , das Scheppern mit demselben mußte ihn bei den Wirten in Respekt seßen. „Für mi is foa' Hilf mehr,“ sagte er zu sich selbst,,,'s is nimmer der Müh wert, daß
i no' an ordentlicher Mensch werd. Ma' glaubt mir's do' nit. Dös Geld von Mirdei wird ausreicha, bis mi d' Jaga nimmer ſo ſtark auf der Muck hab'n, bis i wieder Pech schab'n oder paschen kann, und nacha soll's furtscheppern in meiner Taschen. " Für heute aber hoffte er, würde ihm der Wein behilflich sein, sich über die Erbärmlichkeit der Welt und über die feinige hinwegzu setzen , und so schritt er hastig an der wildbrausenden Valepp hinab zum Almentanz in der Kaiserklause.
II. Beim Almentanz in der Kaiserklause hatte die Lustbarkeit ihren Höhepunkt erreicht. Hier
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ertönte schmetternde Musik und auf dem im Freien errichteten Tanzboden drehten sich lustig die munteren Paare beim Schuhplattler. Es liegt eine starke Sinnlichkeit in diesem Tanze, aber diese Sinnlichkeit ist eine schöne und wo sie nicht in das Gebiet des Schönen reicht, da ist sie wenigstens gesund , denn ihr Boden ist die Kraft und ihr Ziel die Grazie. Der Tanz beginnt sachte. Plöglich lösen sich die Paare, die Dirndln winden sich mit Leichtig= feit unter dem erhobenen Arm des Tänzers hindurch und dieser Moment des Lösens ist ganz reizend. Dann drehen sich die Dirndln sittsam im Kreise, während die Bursche in die Mitte des Tanzplazes springen, hier einen Kreis bilden und nun genau nach dem Takte der Musik mit den flachen Händen auf Schenkel und die Sohlen ihrer mit Hakennägeln beschla= genen Schuhe patschen. Die Musik wird wieder sanfter , pfeifend springt der Bursche seinem Dirndl nach, das, im Kreise sich drehend, gewissermassen vor ihm flieht; er duckt sich vor ihr auf die Erde , er springt bis zur Decke, bis er das Dirndl endlich „ g'fangt" hat, ganz ähnlich der Spielhahnfalz auf den Bergen. Auch dort freist der Spielhahn um die flatternde Henne, er springt heran und flieht zurück, er schnackelt und gruglt, zischt und überschlägt ſich mit tollen Sprüngen, kurzer tanzt. Wenn der Tanz zu Ende, führt der Bursche sein Dirndl an seinen Tisch und sie muß aus seinem Maßkruge oder Weinglase trinken . Bayern und Tiroler tanzen hier in Eintracht miteinander. Die Tirolerinnen mit ihren niederen, breitkrempigen schwarzen Hüten , dem geblümten seidenen Brusttuche, hellfarbigem Spenser und Rock nebst seidenem Fürtuch, sind in der Regel schmucke Dirndln , doch erregte Eine unter ihnen heute ganz besonderes Interesse. Niemand kannte sie. Sie trug die Tracht der Zillerthalerinnen. Auf den schönen , dunklen Zöpfen saß der grüne Spithut mit den sich auf die vordere Krempe legenden goldenen Quasten ; das schwarze Mieder, in welches ein weißseidenes Brusttuch gesteckt war, ein grüner, mit mehreren Reihen schwarzer Borten verzierter Rock und eine weiße gestickte Schürze bildeten den kleidsamen Anzug. Ihrem herrlichen Wuchse und den schönen Formen entsprach auch das runde Gesicht mit den großen, dunklen Augen , das hübsche Stumpfnäschen 35
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und die schönen roten Lippen ihres lieblich ge- | wären ihr außer der Kasse nicht noch andere formten Mundes. Das Dirndl war heute Hilfsquellen geflossen. Da war in der Nähe zum erstenmale beim Almentanz und selbst ihres Heimatortes ein Kloster und der Frater ihren Landsleuten war sie unbekannt . Koch ein "langmächtiger" Better von ihr. Die So sehr diese Fremde durch ihre SchönFrau Base besorgte ihm oft billige Einkäufe, heit auffiel, so komisch wirkte der Anblick ihrer besonders Geflügel , und der Frater war so Begleitung, ein langer, hagerer Mann und eine artig, der Base nicht die schlechtesten Schnitzeln kleine, dicke Frau. Nach der Dienstmüge zu zukommen zu laſſen. Und ſie war gerade nicht schließen , welche ersterer trug , mußte er ein auf Geflügel paſſioniert , wenn die „Abfälle" nur recht gut und reichlich waren , und öffentliches Amt begleiten. Außer dem österreichischen Käppi trug er eine hechtgraue Joppe dafür sorgte der gu e Frater schon in seinem und eine lange Tuchhose. Die in abgenüßter regen Triebe für Nächsten- und VerwandtenMessingumfassung sich befindlichen großen liebe. Sie nannte sich Ursula, und jedesmal Augengläser saßen verwegen auf seiner Adler- kam es zum Streite , wenn sie ihr Gatte ge= nase und hatten jedenfalls nur die Bestim meinhin „ Urschl “ anrief. Lepterer hieß Sermung , dem hageren Manne mit dem kahlen vazius . Er war bereits Urſulas zweiter Mann ; Kopfe etwas Autorität zu verschaffen. der erste war gleichfalls Deklarationsschreiber strich beständig sein glattrasiertes Kinn, als gewesen und hatte Pankrazius geheißen. Die wolle er es noch spißiger machen und lächelte Leute ſagten sich im Vertrauen, Herr Pankrazius ohne Unterlaß , ſo daß ſein nur mit wenigen sei ein guter dummer Mensch gewesen, der nieZahnruinen versehener Mund fortwährend offen mals einen Rausch gehabt, denn auch für ihn stand, falls er denselben nicht zur Verzehrung trank und aß die sorgende Gattin, welche die der ihm von dem Mädchen vorgeſeßten Speisen Leute „ einen Drachen “ nannten, die aufeinannötig hatte. Der Mann war Deklarationsder folgenden Gatten aber " holde Ursula" tituschreiber in dem nahen, österreichischen Grenzlieren mußten. Pankrazius starb, Ursula trauerte dorse, d. h. er schrieb den Leuten, welche zoll- ein volles Jahr, währenddessen der alte Jungbare Waren über die Grenze fuhren oder trugen, geselle Servazius bei der Schreiberswitwe „ in die nötige Deklaration, wozu er von dem be- Verwesung“ überging , wie er sich gewöhnlich ausdrückte , bis er das Glück hatte , mit der treffenden Zollamte die Genehmigung hatte. Eine dienstliche Stelle war dieses aber nicht. Witwe auch den Posten zu erhalten und derWas er an Korpulenz zu wenig, das hatte selben sonach Hand und Amt verdankte. Aus überschwänglicher Dankbarkeit nannte er sie seine gewichtige Ehehälfte zu viel. Das fam wohl hauptsächlich daher, weil er für sie sorgte holde Ursula“, hungerte und durftete, und nachund arbeitete und sie für ihn aß und trank. dem der erste Glücksrausch verraucht, war es der Sie führte die kleine Kaſſe und wußte den Zwang, den die dicke Gattin auf ihn ausübte, der Aufwand, welchen sie zu ihren gunsten machte, ihn ohne Murren dulden und hungern ließ . Heute aber hatten sich die Verhältnisse für damit zu beschönigen, daß sie Trank und Speise als Medizin betrachtet wissen wollte, durch die den Aermsten in günstigster Weise geändert. ihre erregten Nerven Beschwichtigung fanden. Ganz unvermutet war er in die Kaiserklause Sie heuchelte oft das Nahen einer Ohnmacht zum Almentanz gekommen, noch dazu mit einem und kam der geängstigte Mann mit frischem ganz prächtigen Dirndl, das nicht nur frische Augen im Kopfe, sondern auch einige GuldenWasser , ihr holdes dickes Angesicht damit zu besprisen, so rief sie : „Wein ! -Bier ! -Fleisch! stückeln in der Tasche hatte und sich eine Freude — die Krankheit liegt im Magen ! " Die Magendaraus machte, dem Servazius extra eine Flasche nerven mußten also beruhigt werden und dann „Tiroler“ und gutes Essen vorseßen zu laſſen. aß und trank sie, und der arme Schreiber sah Die nebenansißende Gattin, deren Hauptschmuck ihr wehmütig zu, wenn für ihn auch nicht ein in einem auffallend hohen Kamme bestand, der Tropfen, ein Bissen übrig blieb ; doch der gut- ihre wenigen farblosen, nach rückwärts gekämmten mütige Menſch tröstete sich schon, wenn er seine Haare zuſammenhielt, wollte dies scheinbar nicht dulden, genehmigte es aber später durch Selbstteure Ehehälfte nur wieder ruhig atmen und außer Gefahr sah. Aber trotzdem hätte sie beteiligung. Aber auch von anderer Seite sich keiner solchen Wohlgestalt erfreuen können, tamen ihm Beiträge zu seinem leiblichen Wohle.
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Ein junger Bauernbursche aus der Tegernseergegend , der Rauecker Franzl, saß neben ihm und dem hübschen Tirndl und lud beide fortwährend ein , von seinem Weine zu trinken, welcher Einladung Servazius gerne Folge leistete. Diesen gegenüber hatte ein österreichischer Finanzwächter Platz genommen, der mit Vorliebe an seinem mit schwarzer , ungarischer Bartwichse geschmierten, rötlichen Schnurrbart drehte und nach dem schönen Gegenüber schmachtete , dabei mit lautem : „Auf verehrtes Wohlsein!" ein Glas voll nach dem andern hinunterstürzte und schon sehr durchgeistigt aussah. Jest begann wieder ein Tanz und der junge Tegernseer in seiner flotten Gebirgstracht und den silbernen Knöpfen an der Weste, forderte das Dirndl zum Schuhplattler auf. Is 's dalaubt , mit deiner Tochter z' tanzen ?" fragte er Servazius. " Wenn Burgl nir dageg'n hat , g'fälliger Verlaub," entgegnete Servazius, die spärlichen Haare seines Hinterkopfes nach vorne streichend. „No, Dirndl, was sagst du ? " fragte der Bursche, dem neben ihm ſizenden Mädchen frisch in die dunklen Augen blickend . " g'freut mi - alle guate Dinge san „Es drei," antwortete Burgl und unter einem freudigen „ Juhu ! “ führte sie der Bursche zum Tanze. Es war nicht der erste Tanz, den die beiden miteinander tanzten, sondern laut Burgls Antwort schon der dritte , und Burgls freudiger Blick verkündete , daß ihr dieser Tänzer der liebste von allen sei. Sie zog ihn jedem ihrer Landsleute und besonders dem koketten Finanzwächter vor , der sich einbildete, als ein Bekannter des Deklarationsschreibers und weil zum gleichen Amte gehörig, ein Recht zu haben, das Mädchen mit zudringlichen Worten und Blicken zu belästigen. Der Mann war über die Jünglingsjahre weit hinaus . Er war von sehr langer Gestalt und fahlköpfig , und that sehr gebildet. Seine Bildung wollte er hauptsächlich durch die Sprache befunden, brachte aber dabei einen abscheulichen Mischmasch von Hochdeutsch und Dialekt zu Tage. " Frau Deklarationsschreiber," begann er jest, nachdem er so lange als möglich das forteilende Paar mit seinen großen , blaßblauen, verschwommenen Augen verfolgt, der Bauernlümmel hat genannt das Madl ihrige Tochter -da könnens stolz sein auf so herrliches Kind, Frau Schreiberin. "
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„Na, na, das könnt ich nicht sag'n," ent= gegnete die dicke Frau. „Is mir viel lieber so. Herrje , was thät ich mit einer großen und saubern Tochter jetzt bei der sündhaften Zeit; hat man doch genug über sich selbst zu wachen und über seinen Nächsten, daß er nicht angesteckt wird von der sündhaften Genußsucht, dem verderblichsten Laſter für Leib und Seele ! " Dabei ergriff sie das volle Glas ihres Mannes und trank es mit einem Zuge und einem Seufzer aus. Der Gatte war ganz verblüfft über diese unerwartete Expedition seines soeben eingeschenkten lezten Glases Wein. Die Schreiberin aber fuhr fort, dem schnurrbartdrehenden Finanzwächter Auskunft über das junge Mädchen zu geben. Sie erzählte ihm , daß das Mädchen aus dem Zillerthale komme und die Ziehtochter einer nahen Verwandten von ihr sei. Diese Anverwandte sei gestern mit dem Mädchen in der Absicht hergekommen, deren Godl, die Raueckerbäuerin , auf der Elendalm heimzusuchen, welch letterer das Mädchen vieles zu danken habe. In vergangener Nacht aber sei die Base, wohl in Folge von Uebermüdung , krank geworden und so habe sie, die Schreiberin und ihr Mann, es übernommen, das Mädchen zur Raueckerin zu bringen. Bei dieser Gelegenheit wollten sie den „ Almakirta“ in der Valepp mit ansehen und hofften , die Rauecerin hier zu finden ; da dieses aber nicht der Fall sei, so bliebe ihnen wohl nichts anderes übrig, als mit Burgl bis zur Elendalm hinanzusteigen, wozu sie sich jetzt stärken müßte. Sie mußte der Base auf das Heiligste versprechen , auf das Mädchen acht zu haben , sie zu hüten, wie ihren Augapfel. Wie es gekommen, daß sie sich nach dem Gottesdienste hier niedergelassen und das Mädchen sich beim Tanze beteiligte, wußte Frau Ursala selbst kaum. Der junge Bursche, mit dem Burgl eben tanzte, hatte ihr die Erlaubnis hierzu mit einem Teller Küchel und einer Flasche Wein abgelockt , es war gekommen , wie bei der Sünde — das eine hatte das andere im Gefolge - und so aber tanzte Burgl schon zum drittenmale
dies sollte auch das lezte Mal sein. Der Finanzwächter fand diesen Entschluß sehr löblich und freute sich schon , die Leute auf dem Nachhausewege begleiten zu können ; er nahm sich vor, dem Mädchen hiebei viele galante Dinge zu sagen. Jeßt aber eilte er zum Tanzplate, mit dem Madl einen Extratanz zu machen.
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Burgl drehte sich vergnügt um den jungen Tegernseer, der sie während des Gottesdienstes
hatte inzwischen am unteren Ende des Tisches ein in verlumpte Kleider gehüllter Mann mit vor der Kapelle zuerst erblickt und seitdem langem Haupt- und Barthaar Plaz genommen . Es war der Schönecker Bartl. Er hatte sich nicht mehr aus den Augen gelassen hatte. Aber mit Speise und Trank bereits versorgt, denn auch andern Burschen gefiel das schöne Tirolerer stellte eine Flasche Tirolerwein nebst einem kind und besonders waren es ihre eigenen Landsleute , welche sich ihrer Landsmännin Glase vor sich hin und zog aus seiner Tasche eine Wurst, Brot und anderes. Er leerte rasch nahen wollten. Schon mancher hatte dem Tegernseer auf die Schulter geklopft und ihm einige Gläser und stierte dann vor sich hin. damit das Zeichen gegeben, ihm seine Tänzerin Seine Gedanken waren nicht zur Stelle. abzulassen; aber der junge Bursche machte jedesDer Finanzwächter bemerkte ihn zuerst und es war ihm erwünscht , seinem Unwillen auf mal eine verneinende Bewegung und behielt irgend eine Art Luft machen zu können. ſeine Tänzerin für sich. Jezt kam der Finanzwächter, der, ohne lange des Burschen Erlaub„Was fallt denn dem Lumpazi ein," rief er, auf Bartl deutend , „ erlaubt der sich, an nis abzuwarten, Burgl um die Hüfte nehmen und weiter tanzen wollte. In diesem Augenunserm Tisch zu ſizen. Seß dich in's Gras ; blicke aber fühlte er sich von zwei kräftigen solche Schmiertiegl g'hör'n auf kein Herrntiſch. Armen gepackt , emporgehoben, aus der Mitte Hast g'hört, Lump ?" Bartl hatte nur halb gehört ; er war so des Tanzplatzes hinausgetragen und nicht auf mit seinen Gedanken beschäftigt , daß er erst die sanfteste Weise zu Boden gelegt. Der überauf die Schlußfrage den Sprechenden anblickte. raschte Finanzwächter zappelte mit Händen und Füßen, alles lachte, aber ein Teil der Tiroler „Moanst mi ?" fragte er. „Wem denn sonst?" polterte der Mann war sofort bereit, ihrem Landsmann Beistand des Gesezes . „ Pack dich fort von unserm Tiſch, zu leisten. Schnell hatten sich die Parteien oder i pack dich gebildet. Wilde Blicke schossen hin und her und Drohungen wurden gegeneinander geJegt ergriff Burgl Partei für den zerlumpten Mann. schleudert, die Musik verstummte, die geängstigten „ Warum wollts den arma Mann von ſeina Dirndln flohen vom Tanzplaße zu ihren Verwandten, da erscholl die kräftige Stimme des Ruah votreib'n," sagte sie. „ Mei', dös Playl is eam nit 3' guat. ' schlechte Gwand, dös Oberförsters, der zugleich mit geballter Faust die sich aneinander Drängenden auseinander schänd't ' n nit ; trauri gnua für eam , wenn er aaf d' Feiertag sei' Arbeitsgwand an'zuign schlug. Er erklärte, daß Musik und Kirchweih sofort zu Ende seien, wenn nicht augenblicklich muaß. Bleib nur siten , Alta , und laß dir's Ruhe und Friede eintrete. Diese Drohung schmeck’n.“ " Dös is aa mei' Glaabn!" rief Franzl. genügte ; man ballte die Faust in der Tasche „Du bleibst , und brauchst a Geld, so sag's.“ und ging auseinander. Bartl, welcher soeben im Begriff war, dem Der Finanzwächter schlich beschämt zu ſeinem Plaze, mit hassenden Blicken den Tegernseer Finanzwächter eine entsprechende Antwort zu betrachtend , der so wenig Federlesen mit ihm geben, blickte erstaunt nach den beiden, die so unerwartet zu seinen gunsten sprachen. gemacht. Dieser aber rief ihm lachend zu : 's is in aller Froand" Nir für unguat „Vogelts Gott !" sagte er zu Burgl. „ I ſchaft gschegn, denn woaßt, so lang i ' 3 Glückwünsch dir recht viel Glück in dein' Leb'n, dir in der Hand halten dörf , nimmt ma 's foa' und dem Buam da, der di amal kriegt. " DaTuifi weg, vielwenga a Finanzwachta. " bei blickte er Franzl an. „Aber i woaß nit," Dieser erwiderte einige unverständliche fuhr er, sich wieder an das Mädchen wendend, Worte, welche wie „ Grobian “ und „Bauern fort, „ Dirndl, du bist mir ſo bekannt, ' s is mir, lümmelei " lauteten , aber Franz nahm keine als wenn i di heunt nit zum erstenmal sehget.“ " Dann geht's dir mit dem Dirndl , wie Notiz mehr von ihm , sondern unterhielt sich wieder mit seiner schönen Nachbarin , welche mir mit dir," sagte der noch immer erregte sich durch des Burschen offenkundige Zuneigung Finanzwächter. „ Ich mein' alleweil, dein konfiszierts G'sicht hätt' i schon öfters gsehgn. Du eigentümlich berührt fühlte. Ohne daß man anfangs darauf achtete, bist a G'schäftspascher wär'n wir nur über
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der Grenz, ich sprechet schon a anders Wörtl | Schnadahüpferl wie ein kleiner Kobold neckisch mit dir." hin und her zu fliegen und verursachte oft das Dem Alten schoß das Blut zu Kopfe. tollste Halloh , wenn es ein oder der andere Diese rücksichtslose Ansprache verlegte ihn Sänger verstand, seinen Stegreifgſangln einen empfindlich, obgleich er an derartige Demütirecht wißigen Inhalt zu geben. Dem Rauecker gungen schon gewöhnt war . Franzl gelangen die kleinen Schelmenlieder ganz Woaßt was, großmauliger Finanzwachta," besonders, und da er bemerkte, wie der Finanzrief er, „ iag bleib i extra da ſizen. I zahl' wächter trotz der ihm zu teil gewordenen Demei' Sach so guat," dabei schepperte er mit mütigung noch stark zu der schönen Burgl den Münzen in seiner Tasche , wie du, und hinneigte und sie ohne Unterlaß anschmachtete, wenn dir mei' Dasein z'wida is, so kannst di so nahm er ihn öfters zur Zielscheibe ſeiner ja du wegpacken. I moan , es woant dir wißigen Lieder und sang mit Bezug darauf. neamd nach." daß man obige Charge in Bayern mit dem Der Finanzwächter wollte antworten, aber Namen " Grenzjäger" bezeichnet: von allen Seiten hieß es jetzt : „ A Ruah ! „Mei' Schatz is a Jaga, d' Tiroler singa !" und vom Nachbartische, A gar a verdrahta, Hat a nigl nagel- neue Bir, der nur von Tirolern besetzt war , tönte das Aba treffa thuat er nig. prächtige Lied herüber : Mei' Schatz is a Jaga, Es lebe unser Vaterland, A lustigs Bürschel, Das Felsenhaus Tirol 2c. 2c. Er hat a paar Wadeln Burschen und Mädchen, namentlich auch Burgl, Wie d' Kreuzerwürstel." beteiligten sich an dem Gesange, dem alles mit Der ausgesungene Finanzwächter suchte seine Freuden zuhorchte. Selbst der magere Servazius und seine dicke Ehehälfte brummten und langen Beine unter dem Tisch zu verstecken, was ein allgemeines Gelächter hervorrief. summten mit und ein allgemeines Juhuhuhu! Servazius, welcher wieder aus der Flasche folgte dem schönen Gesange. Die Bergknappen des Tegernseers tranf , wurde durch den Gevon Hausham und Miesbach, welche etwas zur Seite unter schattigen, breitästigen Ahorn- und sang ganz aufgeweckt und auch er ſang jezt mit eigentümlich komischen Gebärden : Buchenbäumen sich mit ihren Familien gelagert „Ja hon i mei' Not eingsperrt, hatten, stimmten einen zweiten Gesang an, dem Weil i ' s gnua ho', die rüstigen Holzarbeiter, lauter kräftige, kernUnd hon an' groß'n Stoa' drauf g’legt, gesunde Burschen mit sonnverbrannten GesichDaß ' nit raus fo'. tern und offenen Brüsten, einen dritten folgen Der Glaub'n macht ſelig, ließen. Auch ihnen ward allgemeiner Beifall Der Hering macht Durst, Der Pfarrer a Predigt, gezollt. Die Miesbäcker und Bayrischzeller, Der Mezger a Wurst. die Tegernseer und die übrigen Bergler blieben. auch nicht zurück und so wechselte Gesang mit Wei' verkaaf d' Ant'n, 'N Buam müaß ma gwantn, Musik und Tanz und alles war in heiterster Sunst kriegt unser Hans Laune, selbst die Sommerfrischler, welche von Koa' Dirndl zum Tanz." Tegernsee und Schliers hergekommen waren zu diesem berühmten „Kirta". Er hätte seinen Gesang noch weiter fortgesezt , aber Frau Ursula verstopfte ihm mit Auf dem Tanzplaße wurde jezt der Schuh Gewalt den Mund. plattler nur mehr in einzelnen „ Scharen“ ge"? Servazius, " rief sie, ich kenn' dich nimmer! tanzt. Hierunter versteht man eine bestimmte Anzahl Paare, welche sich meistens aus einer du bist vom Teuf'l b'ſeſſen !“ „O holde Ursula, " entgegnete er, „ mir iſt Gemeinde zusammenthun, wie z. B. die Bayrischgöttlich wohl!" zeller, die Tegernseer, die Brandenberger u. s. w. Der Tegernseer begann jest wieder einen Sie wechselten nacheinander ab , wobei jeder Krieg mit dem Grenzjäger , indem er neuen . vermieden Einmischung fremde jede und Streit wurde. Die übrigen Gäste vergnügten sich spöttisch fang: währenddessen, wie schon erwähnt, mit Singen ' Dirndl hat g'jagt, Sie liebt koan Schlecht'n, ihrer Nationallieder und bald begann auch das
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Jaht hat 's an' Grenzwachta, Da hat's den Recht'n. “ Jest stand der Finanzwächter entrüſtet auf und sang: „Der Finanzwachta is a Herr, Und der Kaiser is mehr, Aber der Bauer is a Vieh, Nur glaub'n will er's nie. " Von Seite der Bayerischen erfolgte ein allgemeines Pfeifen , aber die Tiroler sangen es nach und suchten damit ihre Nachbarn zu ärgern. Wieder schoßen wilde Blicke von einem Tische zum andern und mancher Bursche sette sein Hütchen keck auf das Ohr und drehte die Spielhahnfeder nach vorne. Aber bevor sich die Gemüter wieder erregen konnten , begann vom Tanzplatz her die einladende Weise zum Schuhplattler, und unter allgemeinem Jauchzen, Schnackeln und Schnalzen mit den Fingern führten die Buben aufs neue ihre Dirndln zum Tanz. Die Holzknechte aber begannen ein lustiges Lied, in welches die andern gerne mit einstimmten : Schenkts ma amal was Boariſch ei’, Boarisch woll'n ma luſti ſei”.“
„Wie weit ist's denn ?" fragte sie. „Woltern a Stund," antwortete der Bursche. " Eine Stund ?" rief die dicke Frau, „ alſo hin und her zwei Stund ? Nein , das kann ich heut nimmer prästiern. Servazius —- du gehst allein mit der Burgl. Ihr habt jezt einen Führer, also braucht ihr mich nicht. Aber ich bitt' mir aus , gib mir recht auf die Burgl obacht," raunte sie ihrem Gatten zu. „Laß s' nicht allein mit dem Burschen und komm so rasch als möglich wieder. Ich werd einstweilen in der Kirch' meine Andacht verrichten . Jetzt ist's zwei Uhr bis vier Uhr seh ich nach Gib mir acht auf die Burgl! euch aus. Das könnt uns sonst die Erbschaft von der Basl kosten !" Gleich darauf sah man den Schreiber sich mit dem jungen Paare entfernen. Der Finanzwächter schickte dem Burschen eifersüchtige und gehässige Blicke nach. Frau Ursula machte sich ebenfalls auf, aber nicht zur Verrichtung ihrer Andacht , sondern um im nahen Walde Ruhe zu halten und bald träumte sie unter einer schattigen Tanne. Auf dem Festplate aber schmetterten die Trompeten, hallten frohe Gesänge und unaufhörliches Juchzen ; nichts störte mehr die allgemeine Freude und die Lust des herrlichen Tages.
Bartl hatte seine Flasche ausgetrunken und indem er nochmals dem Rauecker und der Burgl dankbar zuwinkte, entfernte er sich von dem Tische. Auch Frau Ursula erhob sich jezt. "Höchste Zeit ist's, daß wir auf die ElendIII. alm geh'n," sagte sie ; „ die Raueckerin kommt Servazius wurde schon nach kurzer Wannicht, also müssen wir ' nauf. Es kommt mir freilich schwer an , bei der Hiß heut noch so derung infolge des ungewöhnlichen Weinviel zu steigen, zudem wir nicht einmal den genusses so schläfrig und müde, daß er erklärte, feinen Schritt mehr weiter gehen zu können Weg wissen. " " Den kann i Enk zoagn, " sagte Franzl und in einem Gebüsche zunächst des Steiges bereitwillig. I bin guat Froand zum Mirdei, | ausruhen zu wollen , bis ihn Burgl und ihr zur untern Raueckerin. Sie hat ja mein Vodan Begleiter auf dem Rückwege wieder abholen würden. sein Bruada g'irbt. Bei uns hoaßt's zum obern Rauecker. Mei' Voda freili kann 's So gingen Franzl und Burgl allein zu Mirdei nit leid'n, weil er aaf ' n Hof spekuliert der Elendalm am sogenannten Enzengraben hat, aber i kann ' s Stummerl wohl leid'n und hinauf. Neben dem Wege stürzt ein Wildrecht gern mach i Enkan Führer. I bin da bach, der seinen Ursprung auf dem nahen, beRauecker Franzl, z'nachst Tegernsee z ' Haus . waldeten Kreuzberg hat, über steiniges Geröll Des dörft's mir scho' nachfrag'n, wir san g'achte herab. Die kahlen Häupter des SonnwendLeut, und wenn Enk i führ', so sads davontund Schönfelderjoches ragten über die niedern halbn nit g'schändt. " Waldberge stolz empor und waren von der Franzl entging es nicht , wie Burgl die schon stark nach Westen sich neigenden Sonne Schreiberin mit einem fragenden Blicke anglänzend beleuchtet. Auf den Waldungen des schaute und dann sehr erfreut dreinsah, als Kreuzberges und des gegenüber liegenden Auerdiese entgegnete, daß sie sich seiner Führung berges lag ein smaragdgrüner Duft. Zwischen gerne überlasse. beiden leuchtete aus dem Bergthale das frische
's Almstummerl. Grün der Almweiden des Totengrabens, und man sah das schöne, glockenläutende Almenvieh ruhig auf der duftenden Weide. Burgl sah sich öfters und faſt beſorgt nach Servazius um, bis der Baum, unter welchem er ruhte, ihren Augen entschwunden war. Dann ging sie stille und in unklare Gedanken verjunken, am Hange einer Schlucht und in der Nachbarschaft der Wipfel mehrerer hundert Fuß hohen Tannen und Fichten neben Franzl dahin. Auch dieser wußte nicht , wie er das Gespräch mit dem Dirndl, das es ihm heute ,,angethan hatte", nunmehr, da sie allein waren, beginnen sollte. Nach langer Zeit fing er endlich an, über das stumme Mirdei zu sprechen, die es durch ihre Treue und Anhänglichkeit zu etwas gebracht habe. ,,, mei' Gebet hat g'wiß aa dazua beitrag'n," meinte Burgl, „ denn so lang i denk, hon i für's Mirdei bet' und mei' Muatta, Herr, gib ihr die ewi Ruah ! is mir alleweil in der G'stalt vom Mirdei erschiena." "So hast foane Eltern mehr ? Is der Schreiber dei' Gerhab ?" (Vormund.) „Na', 'n Schreiber sei' Frau is a Verwandte von meina Ziehmuatta ; die is heut krankli worn und desweg'n san die Schreibersleut mit mir ganga. I bin an arm's Woaslkind. Meine Eltern san reiche Bauersleut gwen, aba da Voda war koa' Hauſer mei' Gott, d' Leut sagen's halt wer woaß ' s, was dran schuld war, daß er Haus und Hof verlor'n! Drüber is d' Muatta g'storb'n und da Voda is außer Lands. Mei' Ziehmuatta sagt , daß er wahrscheinli längst scho ' tot is . Sie und ' s Mirdei, mei' Godl, san die oanzigen Menschen aaf der Welt , die si um mi kümmern. I werd heunt ' s Mirdei bitten, daß s' mi ganz hernimmt zu ihr, damit i für sie arbeiten und ihr vergeltn kon', was ' s an mir Guats tho' hat."
„Dös is a schön's Vorhab'n," sagte Franzl, „und mei' Wort gilt was beim Mirdei i will dir guat red'n. Aba Dirndel, du ſiehgſt nit aus, als wennſt zum Ehhalten gebor'n waarst. " „Moanst, weil meine Händ von koana grob'n Arbeit zoagn ? Mei' Gott, mei' Schuld is ' s nit. Mei Ziehmuatta is a Näherin und i hilf ihr aus , so guat ' s geht. Aba in der lezt'n Zeit hat d' Arbet na'laſſ'n. Da ziagn an etli um mit Nähmaschinen und mit dene kannst nimmer in gleichen Gang bleib'n, d'rum
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hon i mir vürgnomma , und der Ziehmuatta is ' s aa recht, 's Mirdei z' bitten, daß s' mi in Deanst nimmt. I lern alles und grad waar's mei' Freud, so in der frischen Bergluft außen ' rum z' hantiern, wost d' Vögerln singa hörſt und d' Wassa rauschen durch ' n Wald, und 's G'läut vom Almavieh so trauli klingt hoch ob'n am Berg , wost außi über Berg und Thal kannst schaugn und wost nir hörst von der Traurigkeit und Not , die d' Menschen geg’nanand so z'wida macht. " „Dessel is scho' schö'," versette Franzl, „ aba halt, nit alloa' dörf ma sei' ; da krieget ma' do' aa dirmal d' Weilang. " „ Dös kenn i nit," antwortete Burgl. „ I bin oft Tag' lang alloa' bei meina Arbet g'sess'n und mit Arbeit'n und Denk'n is mir da Tag recht kurzweili voganga. Da hon i so oft an mein' Voda denkt, wenn er dengerscht nit tot waar und wieder kommet und i eam helf'n funnt. Gern wollt i mi plag'n für mei' ganz' Leb'n, 's Unglück , dös ' n g'haßt hat , machet eam vogess'n und wenn er aa voracht war von die Leut, weil er arm und vergant' is, i richtet sei' Gmüat scho ' wieder z'samm und mei' Liab sollt eam a Kräutl sei' geg'n alle Kümmernis . „Dei' Liab ?" fragte Franzl. „Ja, ja, 'Bel glaab i gern. Die lasset koa' Kümmernis mehr aufkomma , nit bei dein Vodan , nit bei dem Buam, demst es amal schenkst." Burgl schwieg. Sie fühlte des Burschen brennende Blicke auf sich gerichtet, er sagte die legten Worte mit so bewegter, sanfter Stimme, daß das Mädchen darüber tief erröten mußte. Auch Franzl sprach nichts mehr. Auf dem Wipfel einer hohen Tanne, an welcher sie eben vorüberschritten, trillerte die Walddrossel ihre einschmeichelnde Weise zum blauen Aether hinauf. Beide lauschten dem Gesange und schwiegen. Jezt kam ein Wildbach quer über den Weg herab. Ein großer Stein diente als Brücke Franzl reichte seiner schönen Begleiterin die Hand, um ihr beim Uebersteigen behilflich zu sein. Ein rascher Sprung und der Wildbach lag hinter ihnen ; aber beide schienen vergessen zu haben , ihre Hände wieder frei zu lassen. Hand in Hand wanderten sie weiter. den duftigen Waldespfad entlang. So waren sie an der Alm angelangt. „ Da steht d' Elendalm," sagte Franzl. „Scho' ?" fragte Burgl verwirrt und zog errötend ihre Hand aus der seinen.
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Franzl rief die Sennerin mit einem kräftigen Juhschrei an , aber weder unter der Thüre, noch am Fenster zeigte sich jemand. „'S Mirdei wird dengerscht dahoamt ſei ' !" rief Burgl. „ " Aaf koan Fall is ' s weit furt," meinte Franzl ; g'wiß is ' s beim Vieh drauß und schaut ' n Hüattabuam nach. 'S Mirdei is gar streng. Derweil bis s' fimmt , rast' ma halt aaf der Gred und schau, “ dabei drückte er an der Thüre, welche sich sofort öffnete, „ da Kaser is offen und d'Zither liegt am Fensterg'sims — da kinna ma uns d' Zeit vertreib'n, bis ' s Mirdei fimmt. Set di nur her , Burgl , i fing dir was vür und du muaßt nachisinga ; aba g'wiß, i volaß mi draaf. " Und während er einige Akkorde spielte , dachte er über die Worte nach , welche bestimmt sein sollten, in die Melodie eines Volksgesanges gekleidet, dem schönen Mädchen seine Gedanken zu enthüllen. Dann begann er zu singen : "I woaß 's nit, und i woaß ' s nit, Was ' s heunt mit mir is ! Daß's nit mit mir richti, Dessel woaß i gwiß. Sunst hat mir dös Dröſſel Guat gjunga am Baam, Heunt war's mir, als singet's Mi in an' schön' Traam. Und von dem schön' Traama Bin i aafgwacht iaz grad, Weil mi a liabs Engal So liabli angschaut hat. “
„Deanal, wie moanſt ebba, Wennst ma dei' Herzal ga'ſt, So lang i dös nit hon, Krieg i koa' Ruah, koa' Raſt, Moanst nit, daß ' s gscheida waar, Du machst die G'schicht glei goa, Mei' Herzal hast voneh, Was thaatst denn iaz mit zwoa. “ Burgl hatte die mit Junigkeit gesungenen Worte in ihr Herz aufgenommen , das sich plöglich zu öffnen schien. Gleich wie der Wanderer, auf der Spiße eines steilen Berges angelangt, überrascht und überwältigt hinausblickt in die bis jest ungeahnte Pracht und Majestät der Schöpfung, so sah auch das arme, bescheidene Dirndl plößlich ein unermeßliches Glück vor sich, so schön, so bezaubernd, wie es nur der empfindet, dessen Herz sich zum ersten Male der reinen Liebe öffnet. Sie sah den hübschen Burschen mit glückstrahlenden Augen an , ſie wollte sprechen, aber der Redeton versagte ihr, sie griff nach der Zither und sang mit glöckelheller Stimme : „Büawal, i kenn di nit, Kenn grad dei' G'schau, Woaß nit, ob's g'rath'n is, Daß eam vertrau
Mir geht da Himmi auf, Nix mehr is trüab, Funkeln thuet alles, Moanst nit, dös is d' Liab ?"
" Juhu !" rief jest Franzl und schlang seinen Arm um das Mädchen, aber in diesem Augenblick stand das stumme Mirdei vor den beiden. Franzl hatte das Dirndl während des Ge„Mei' Godl! " rief das Dirndl aufſpringend sanges nicht aus den Augen gelassen; auch und auf dieselbe zueilend, und da ſie bemerkte , Burgl blickte wie träumend nach ihm. Bei daß sie nicht gleich erkannt wurde , fuhr sie den letzten Worten schien aber auch sie zu erfort: Kennst mi glei gar nimmer , d' Burgl, wachen , denn sie senkte errötend ihre Augen. dei' Firmgodl ?" Franz schob ihr die Zither hin und Jest reichte die Stumme der Sprechenden Burgl griff sofort nach derselben. Jest sang sie : beide Hände hin, mit Zeichen zu verstehen "I woaß ' s nit, i woaß ' s nit, gebend , daß Burgl bei ihrem lezten Besuche Is ' s recht, is ' s nit recht, noch viel kleiner gewesen und sie erstaunt ſei, Daß i moana und lacha ein so großes und sauberes Dirndl zu sehen. Zu gleicher Zeit möcht. Nochmals schüttelte sie ihr die Hand und drückte Dös Drössel, dös liawe, Zwitscht da und zwitscht durt, ihre Freude aus, von ihr heimgesucht zu werGeh, laß ' s nit wegfludern den. Dann aber sah sie ganz verwundert nach Und traam recht lang furt. " dem Rauecker Franzl und konnte sich nicht Aber Franzl schien zum Weiterträumen denken, wie die beiden jungen Leute dazu kamen, wenig Lust zu haben. Er rückte den Hut schiefer sie zu gleicher Zeit auf ihrer einsamen Alm 1 aufs Ohr , sah Burgl mit einem schneidigen zu besuchen. Noch unerklärlicher war ihr die. gegenseitige Vertrautheit der beiden. Blicke an und die Zither wieder zu sich neh mend, sang er in froher Weise: (Schluß folgt.)
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Heu H.
,,Der Schwarzdorn steht in Blüten Schon grünt's am Rain, schon sproft's im Hag, Goldkätzchen schießt die Weide, Gar lustig lockt des finken Schlag Jm Buschwerk auf der Haide, Un Heck' und Zaun Blauveilchen flein Lerstohlen Grüße bieten, 2m Kirchsteig fort zum Wald hinein Der Schwarzdorn steht in Blüten . .
Und droben aus der Gartenthär, Don Frühlingsglanz umflossen, Tritt leis des Pfarrers Kind herfür, Ein Knösplein, kaum erschlossen, Mit Augen, den Blauveilchen gleich, Die aus dem Moos sich mühten, Schaut's in die Weite, wo am Steig Der Schwarzdorn steht in Blüten ..
Ein Bild, so minniglich und jart, Wie's alte Meister schufen, 1 Dem frommen Sinn geoffenbart, Erscheint es auf den Stufen. Doch all' den Meistern nie gelang, Wie treulich sie sich mühten, Ein Bild wie das, wo dort am Hang Der Schwarzdorn steht in Blüten ...
Franz Woenig.
JE
WIEN
Aus
der
Kaiserstadt.
Von Balduin Groller.
er Geschmack der Maler erscheint dem geeinverstanden ist. Da ist eine grüne SamtD wöhnlichen Sterblichen gar oft sehr abdraperie, die ja ganz gut und schön wäre. sonderlich und unbegreiflich, und wenn er sich auch wenn sie nur nicht so jämmerlich abgeschossen in den meisten Fällen nicht getraut , sich zu wäre ; aber der Maler hat sie gerade darum dem ihm Unfaßbaren in lauten Widerspruch zu gekauft; der „ Ton" gefällt ihm gar so sehr. Ueberall liegen alte, mächtige Fezen Samt, setzen, so kann er doch nicht umhin, darüber Seide und Brofat herum und alle sind sie geetwas konfus zu werden und ausdrucksvoll den schossen; es ist Kopf zu schütteln. Der Nordie reine Trödlerbude ! Wenn malmensch lacht er sich im Atelier ja auch recht herzlich über den niederseßt , denkt er mit Schmerzen Chevalier Dumont in Raidaran , wie be monds „ Ver quem ein gepolSessel sterter schwender" , der wäre und wie da eine solche außerordentliche praktisch unsere modernen RohrVorliebe fürsteinrunzelige alte sessel aus gebogeAn der Donau (S. 284). Bäuerinnen hat; nem Holze sind. Die sind im Maleratelier verpönt, er muß sich der Maler findet daran nichts Merkwürdiges und nichts Sonderdares und nichts Lächerauf einem interessanten" alten Bauernſeſſel liches, - er teilt einfach diese Vorliebe, ohne winden, daß ihm alles wehe thut, und wenn freilich darum auch den drallen, jungen Bauern- wir sagen alles, so braucht das freilich nicht dirnen ganz abgeschworen zu haben. ganz wörtlich genommen zu werden . Geht Kommt einer, der sich noch nicht bis zu der Normalmensch mit einem Maler in der einem malerischen Geschmack durchgerungen hat, Stadt spazieren, so wird er mit ehrfürchtigen in das Atelier eines Künstlers , so wird er Gefühlen vor einer mächtigen Zinskaserne stehen manches finden, mit dem er ganz und gar nicht bleiben, während der Maler sich um die Ecke
Balduin Groller. Aus der Kaiserstadt.
drücken wird, um sich an einem alten, verfallenen Häuschen zu erbauen. Er spricht von der pikanten Silhouette, von der Patina, die auch der Architektur gut stehe, von einer Menge
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von Dingen, die alle nicht geeignet sind, die tiefe Verachtung auch nur in etwas zu mildern, die sein Gefährte für das „ zerrempelte Gerümpel" empfindet.
R.Brendamour ur.X.A. Eine Partie aus Thury (S. 280). Mit vorstehenden Bemerkungen haben wir nur andeuten wollen, daß einMaler nicht der richtige Bädecker ist, und daß wir nicht darauf rechnen dürfen, ein in jedem Betracht ausreichendes Bild von Wien zu gewinnen, wenn wir uns unserem Freunde Ludwig Hans Fischer zu einem Spazier gange durch die Stadt anschließen. Nun wird aber gewiß niemand leugnen wollen, daß es auch interessantere Bücher gibt als den Bädecker, bei aller Hochachtung seiner praktischen Verwendbarkeit sei es gesagt. So dürfen wir es
denn getrost wagen, uns der Führung des Künstlers anzuvertrauen , zumal wir ja doch zugestehen müssen, daß der malerische Geschmack am Ende doch wohl der gute und maßgebende ist. Fischer manipuliert nicht nur virtuos mit der Delfarbe, er führt auch mit großem Geschick die Nadel, die Radiernadel nämlich, wie wir, um Mißverständnissen vorzubeugen, gleich bemerken wollen, und schließlich stellt er auch seinen Mann mit dem Bleistift und mit der Feder, zunächst freilich mit der Rabenfeder , obschon auch
Gitterwerf an den Gartenportalen des Belvederes (S. 280). seine Stahlfeder sich nicht spotten läßt. Hat er doch zu manchem interessanten afrikanischen Wüstenmotiv, das er an Ort und Stelle auf-
genommen , sich selbst den sehr lesenswerten Text dazu geschrieben. Die Motive aus Wien, die er seinem
280
Baldnin Groller.
Skizzenbüchlein entnommen, sind die Ergebnisse | Dialekte die sorgsamste und ausdauerndste Pflege eines malerischen Bummelzuges durch die Kaiser gewidmet wird. stadt an der schönen blauen Donau. Die von An den Neubauten, die den Stolz eines jeden Tag zu Tag sich verjüngende Stadt bietet dem Neu-Wieners bilden, ist Fischer achtlos vorüberKünstler nur wenig malerisches altes Gerümpel gegangen. Ein altes Gitterwerk (S. 279 ) aus mehr dar, und so hat auch Fischer sich begnügt, Schmiedeeisen an den Gartenportalen des Beluns derartiges nur auf dem einen Bildchen vom vederes oder des botanischen Gartens reizt ihn mehr, als die Monumentalbauten der neuen "Thury" (S. 279), einem alten Stadtteile Wiens, vorzuführen, einem „ Grund" , dem heute Börse oder des neuen Parlamentshauses, item wir haben uns einem Maler und keinem noch nachgerühmt wird, daß auf ihm, neben den Lerchenfelder Gründen, dem breiten, un Bädecker oder Bärenführer, will heißen Fremdenglaublich festsigenden , urechten wienerischen führer, der die Bären aufzubinden pflegt, an-
Belvedere. vertraut. Zuerst begibt er sich auf die Höhe des Belvederes, um von da aus einen freien Ausblick auf sein geliebtes Wien zu haben. Flugs ist dem Skizzenbüchlein ein Bildchen einverleibt, das wir heute als Kopfleiste dieses kurzen Begleitschreibens wiederfinden. Natürlich zieht es den Maler zuerst nach dem Belvedere, allwo bekanntlich annoch, bis das neue kunst historische Museum auf der Ringstraße fertig sein wird, die unvergleichlichen Schätze der kaiserlichen Gemäldegalerie untergebracht sind . Und weil er nun gerade da oben ist, nimmt er auch gleich eine Ansicht des freundlichen und dabei doch imposanten Zopfbaues auf, in dem dereinst Prinz Eugenius, der edle Ritter, ein
trauliches und glänzendes Heim gefunden, und das heute mit seinem unschäzbaren Inhalt die eigentliche Hochschule für unsre Maler bildet. Vom Belvedere begibt er sich er hat die ganze Tour, die er uns in seinen Bildern erzählt, sicher nicht an einem Tage gemacht, außer er hat zu seinem Spaziergange einen sehr guten Fiaker benüßt nach dem kaiserlichen Luftschloß Schönbrunn, dem Fischer von Erlach, der berühmte Baukünstler, seine lezte, jezige Gestalt gegeben. Der Garten von Schönbrunn ist in seiner genialen Gezwungenheit eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Wir haben da eine k. k. Natur und die Bäume müſſen wachsen, wie es ihnen die f. f. Garteninspek-
Aus der Kaiserstadt.
281
Karlskirche.
mit Reißschiene und Zirkel vorzeichnen. Es ist ganz erstaunlich, zu welchen Kunststücken und Verrenkungen die freien Kinder der Natur da gezwungen werden. Und hat man erst das unbehagliche Gefühl darüber verwunden, dann wird man gerne den Zoll seiner Verwunderung den Gartenkünstlern widmen , die mit minutiöser Planmäßigkeit und Genauig keit und stupen der Geschicklich feit in der Beobtoren
R.Brendamour.A Eingang zum botanischen Garten. achtung der Wirkungsbedingungen das zuwege gebracht haben. In all dieser linierten
Der Wienfluß. und gezirkelten Herrlichkeit hat sich nun der Künstler ein trauliches Stück Natürlichkeit ausgesucht , den Eingang zum botanischen Der Garten selbst enthält eine Garten. großartige Sammlung prächtiger und seltener lebender Pflanzen, und eben jetzt wurde in demselben ein Warmhaus vollendet, das geradezu ein Wunderwerk von Eisenkonstruktion ein Riesenpalast nur aus Eisen und ist Glas bestehend und Raum gewährend einem hochragenden Palmenwald. Auf dem Wege nach Schönbrunn hat er erst auf der Wieden Halt gemacht vor dem glänzendsten Meisterwerke Fischers von Erlach, vor der imposanten Karlskirche, der er als rechter Landschafter auch einen landschaftlichen Vordergrund gegeben. So ist denn auch das Wienflüßchen, diese mäandrisch geschlungene Plage der Stadt, mit auf das Bildchen gekommen. Ein starker Regen macht das trübe Wässerchen wild und ungebärdig, das in den Vororten gewaltige Verheerungen anrichtet und selbst vor den Remisen und Stallungen der TramwayGesellschaft so wenig Respekt hat, daß es sie über den Haufen wirft, wogegen es in trockener Sommerszeit in schläfrigem Tempo so langsam dahinschleicht, daß es in Fäulnis gerät und mephitische Dünste aufsteigen läßt. Das Wässerchen bildet eine schwere Sorge für die Stadt, da die Ableitung desselben schwere und namentlich viele, sehr viele Millionen kosten würde. Nun geht es in die innere Stadt; schon die Ringstraße, die sich wie ein kostbarer, breiter
Balduin Groller.
282
Gürtel um sie legt, bietet dem Künstler dankbare Motive; sie sind für ihn die Edelsteine an dem Gürtel. Die hauptsächlichste Zierde, der
eigentliche Smaragd des Ringes ist der Stadtpark. Die Wahl kann da einem Künstler schwer werden ; Fischer hat , ohne sich lange zu be
Tie Hofoper am Opernring. finnen, ein wirksames Stückchen hingezeichnet : Den Kursalon, mit dem Ententeiche im Vordergrunde. Der Stadtpark ist ein wahrer Segen für Wien, eine präch
tige, große Gartenan lage im Herzen der Stadt; er bildet wohl das schönste er= und frischendste Stück NeuWien, und es war eine hochsinnige Jeee, aus den auf
im Bildchen vorführt, gewährt einen Blick auf einen Teil des Opernringes und auf den Kärntner Ring. Der mit den Pegasussen gefrönte Bau (hier tritt der Pegafus im Dual auf) ist die faiserliche Hofoper. Eine lange und trau= rige Ge schichte
Der Kursalon mit dem Ententeich im Stadtpart.
Millionen bewerteten Baugründen ein köstliches Stück Gartenland zu machen. Das Stückchen Ringstraße, das uns Fischer
knüpft sich an diesen Bau, der troß seiner reichen
Vorzüge und Schönheiten im Detail seinen Erbauern , den Dioskuren van der Nüll und Siccardsburg , zum Fluche
werden
sollte.
Aus der Baiserstadt.
283
Selbst die beiden Pegasusse haben ihre lange | Neigung , die Geister der Vergangenheit zu Schmerzensgeschichte, die zudem nicht einmal ganz beschwören, nicht nachgeben. Was ließe sich befriedigend ausklingt. Ehe diese Hähnelschen erzählen von dem fürstlichen Besiter des PaGruppen hinauf kamen, waren schon andere Kolais, was von dem Erbauer desselben, der als losse oben. Diese mußten wieder herunter und siebenzigjähriger Greis nach erlang= zieren jezt den Fairmount Park in Philadelphia. Im Innern der Stadt macht der Zeichner ten hohen Ehren und nachdem eine selbstverständlich vor der Stephanskirche Halt. Da ist ja jeder Stein malerisch, an allen Ecken Gaſſe inWien nach und Enden eine erdrückende Fülle von Motiven. seinem Namen benannt worden, für Da hat er sich denn aufs geradewohl einen Winkel ausgesucht, der von der Straße aus lange Zeit in den aufgenommen werden konnte. Da haben wir Kerker mußte, weil er sich schwere Unnun die Kapistrankanzel. Der Künstler mag redlichkeiten bei bei der Arbeit geträumt haben von dem feurigen, diesem Bau hatte streitbaren Franziskaner-Mönch, von der Türken zeit und den schwe- zu schulden komDrangjalen ren men lassen; -was Wiens. Wir dürfen endlich von Fernuns den Reminis forn selbst, dem zenzen nicht hin= kunstreichenSchöpfer dieses Bildwergeben, sonst kom men wir mit dem fes und so vieler uns gegönnten andrer, unter welRaum nicht aus. chen die ReiterFolgen wir vielstatuen von Erzmehr dem Künstler herzog Karl und Prinz Eugen die berühmtesten sind, von ihm , dem gottbegnadeten Künstler, der von der Nacht des Kapistrantanzel an der Stefanskirche. Wahnsinns um=
Der Wurstelprater.
in den Hof des Palais Montenuovo in der Strauchgasse, wo er sich Fernkorns St. Georg (S. 284) abzeichnet. Auch hier dürfen wir der
fangen, im Irrenhause enden mußte? Wir sind bald am Ziele unsrer Wanderung. Der Künstler überschreitet den Donaukanal, bietet rasch ein anschauliches Bild von einem Teile desselben, führt uns noch das Gebäude der Donau - Dampfschiffahrts - Gesellschaft vor (S. 278) (links das Gebäude mit den zwei Flaggenstangen), zeigt im Mittelpunkt noch die riesige Franz-Josefs-Kaserne und läßt in der Ferne, deutlich erkennbar, den Stefansturm aufragen, - und wendet sich sodann dem wundervollen, unvergleichlichen Prater zu, um ihm zwei Motive. zu entlehnen. Das erste zeigt uns ein Stückchen Wurstelprater, das zweite einen Rest der Weltausstellungsherrlichkeit aus dem Jahre 1873. Ueber den Volks- oder Wurstelprater braucht ja nichts mehr erzählt zu werden, alle Welt kennt ihn vom Hörensagen wenigstens als
3. Uffelmann.
284
die unerschöpfliche Fundgrube aller erdenklichen Genüsse und Belustigungen des Wiener Volkes. Der orientalische Bau auf dem Ausstellungsplate ist nichts anderes als der ägyptische Pavillon, den nach der Ausstellung der damalige Vize=
fönig von Aegyp: ten samt der ganzen Einrichtung dem Kronprinzen Geschenke zum machte. Der Bau war nicht für die Dauer berechnet, er läßt sich auch jezt nicht dauerhaft gestalten, ohne daß er vollständig demoliert und ein ganz neuer ägyptischer Bau errich tet würde, wozu jezt allerdings kein Bedringendes
oor
Brendem
Partie aus dem Prater (Aegyp tischer Pavillon).
dürfnis vorhanden ist. So mußte denn wenigstens dieEinrichtung in Sicher heit gebracht und der Bau selbst vorläufig seinem Schicksale überlassenwerden. Das
ist die orientalische Frage im Prater ; sie gleicht einigermaßen der andern, der großen.
Seehospize und Soolbäderheilstätten für Kinder. Von J. Affelmann.
KinKrankheiten chronischen Unter den die Strofulose verbrei eine der der tetsten. Aber auch eine der bösesten muß sie genannt werden, weil sie zahlreiche Kinder früh dahinrafft, eine große Reihe derselben zu dauerndem Siechtum führt und ungemein oft irgend einen bedeutsamen Fehler, sei es der Augen oder der Ohren, der Knochen , Gelenke und inneren Organe zurückläßt. Gegen diesen gefährlichen Feind , der so manches Familienglück vernichtet, helfen die eigentlichen MedikaDie Strofelkrankheit ist mente nicht viel. ein Allgemeinleiden, welches, durch fehlerhafte Mischung der Säfte des Körpers bedingt und mit einer Verlangsamung des Stoffwechsels einhergehend , sehr oft durch Vererbung entsteht, aber auch ebenso oft erworben wird durch Fehler der Ernährung (Ueberfütterung, zu reichliche Pflanzenkost), durch Fehler in der Hautpflege, durch mangelhafte Uebung des Muskelsystems, durch Fehler der Wohnung (Feuchtigkeit, Schmut derselben , ungenügende Lüftung, Mangel an Sonnenlicht). Ein solches Leiden wird mit Erfolg nur durch hygieinische Maßnahmen, durch Fürsorge für richtige Ernährung , für reine Luft in trockener, sonniger Wohnung, für angemessene Pflege der Haut und der Muskulatur bekämpft. Medikamente können lediglich für bestimmte Zwecke, für die Heilung örtlicher Leiden, welche die Allgemein- Erkrankung zur Folge hat, Nugen bringen. Außerordentlich segensreich aber haben sich neben jenen hygieinischen Maßnahmen See- und Soolbäder erwiesen, wenn sie systematisch angewandt wurden; ja man darf sagen, daß ohne ihren Gebrauch die vollständige Heilung der Krankheit ungemein erschwert, oft unmöglich Wie dies zusammenhängt , wird sich wird. aus der späteren Darstellung ergeben. Eine systematische , d. h. eine in allen Einzelheiten streng und konsequent nach den Grundsägen der Wissenschaft und Erfahrung durchgeführte Kur der Strofulose finden wir
330
Regina.
Von Benjamin Vautier.
Seehospize und Soolbäderheilstätten für Kinder.
nun in den jog. Seehospizen und den Kinderheilstätten der Soolbäder. Damit soll selbstverständlich durchaus nicht gesagt werden, daß in See- und Soolbädern eine erfolg= reiche Kur der fraglichen Krankheit nur inner= halb besonderer Institute möglich sei. Eine solche Behauptung wäre angesichts der thatsächlichen Erfolge, die dort außerhalb der Anstalten alljährlich erzielt werden , thöricht zu nennen. Aber die letteren bieten und dies wollte ich hervorheben die größtmögliche Garantie. der richtigen Durchführung der Kur und liefern dafür jahraus jahrein die sichersten Belege. Beiderlei Anstalten sind Schöpfungen des Wohlthätigkeitssinnes der leßten achtzig, ja eigentlich der leßten zwanzig Jahre. Das erſte Seehospiz war das zu Margate an der englischen Küste, dessen Gründung in das Jahr 1796 fällt. Der eigentliche Schöpfer dieser Heil-
stätten aber ist der Italiener Dr. Barellai. Ihm lag die Behandlung der Skrofulösen in dem Hospitale Santa Maria Nuova zu Florenz ob, und hier erkannte er je länger, desto mehr, wie wenig seine Hilfe zu leisten. vermochte. Ganz selbständig kam er nun auf den Gedanken, die Heilung der unglücklichen Kinder dadurch zu versuchen , daß er sie an die Seeküste schickte. Seinen Plan teilte er der medizinischen Gesellschaft von Florenz mit und erreichte bald, daß ein Komite eingesetzt wurde, welches versuchen sollte, den Plan zur Ausführung zu bringen. Mit Eifer wurden Gelder gesammelt ; Barellai selbst veröffentlichte eine Broschüre, welche sich über das Unzulängliche der bisherigen Behandlungsweise der Skrofulösen verbreitete, steuerte den Erlös bei und hatte die große Freude , gleich im ersten Jahre (1856) einige Kinder in das Seebad Viareggio entsenden zu können. Der Erfolg war ein überraschend günstiger ; um so leichter gelang es , neue Freunde zu werben, weitere Kreise zur Fortführung und Ausdehnung des Liebeswerkes anzuspornen. Nach wenigen Jahren besaß das Komite bereits ein Asyl in jenem Badeorte, das erste Seehospiz Italiens und zugleich das erste, ausschließlich für Kinder bestimmte Seehospiz der Welt. Bald feuerte dann die Kunde von den großen Heilresultaten desselben zur Gründung anderweitiger Anstalten dieser Art an, nicht bloß in Italien, sondern auch in Frankreich, England, Dänemark, Holland, Nordamerika und in unserm
285
eigenen Vaterlande. Das von Barellai ausgestreute Samenkorn ist rasch zum kräftigen Baume herangewachsen und hat die herrlichsten Früchte getragen. Die erste Kinderheilstätte in einem Soolbade wurde 1855 zu Hall in Oberösterreich eröffnet. Es folgte 1861 diejenige zu Jagstfeld in Württemberg , eine Filiale der eine Ludwigsburger Kinderheilanstalt und Schöpfung des hochverdienten Dr. A. H. Werner , der durch dieselbe der Vater aller jener zahlreichen Soolbadheilstätten geworden ist, welche wir jest in Deutschland zählen. Die günstigen Berichte , welche über die Resultate der Jagstfelder Anstalt veröffentlicht wurden , trieben auch hier wiederum andere zu gleichem Wirken an. Dies geschah freilich nur bei uns ; in andern Ländern kam es wohl zur Entsendung armer skrofulöser Kinder in die Soolbäder, doch nicht zur Gründung besonderer Heilanstalten für dieselben. Von den zahlreichen Instituten dieser Art ist nur das Seehospiz in Berck-sur-mer aus öffentlichen Mitteln , nämlich aus dem Fonds der Generalarmenverwaltung von Paris hergestellt worden. Alle übrigen sind aus Mitteln privater Wohlthätigkeit erstanden und werden auch durch sie unterhalten. Nur haben einzelne Kommunen , Kreise und Regierungen. hier und da Beihilfen gesteuert. So erklärt es sich, weshalb Seehospize und Soolbäderheilstätten zunächst nur für Kinder unbemit= telter Eltern bestimmt sind. Man wollte auch ihnen den großen Segen einer geregelten Kur zu teil werden lassen und erkannte, daß es zu diesem Zwecke unumgänglich nötig ſei, beſondere Institute zu beschaffen. Eine völlig unentgeltliche Aufnahme findet aber nur unter besonderen Verhältnissen statt ; in der Regel ist ein Pensionspreis zu entrichten, der allerdings sehr niedrig bemeſſen wird. Er beträgt z . B. im Seehospiz zu Venedig für 45 Tage = 100 Frank oder 80 Mark, in Margate für 8 Wochen 2 oder 40 Mark, in den deutschen See- und Soolbäderheilstätten durchschnittlich für den Tag nur 1-1 / 2 Mark, eine Summe, für welche Obdach, Bett, volle Kost, die Pflege und Behandlung, einschließlich der Arznei , nicht aber Kleidung gegeben wird. Diese Pension wird für die Unbemittelten aus milden Spenden bestritten. Für zahlreiche Anstalten sind aber Freistellen durch Gemeinden 37
286
3. Uffelmann.
und Privatpersonen gestiftet worden. Die Reisefosten muß derjenige zahlen, welcher das be treffende Kind oder die Kinder entsendet ; viele Eisenbahnen haben aber bedeutende Ermäßi= gung des Fahrpreises zugestanden. Es geht hieraus hervor , daß bei rechtzeitiger Anmeldung auch Kinder bemittelter Klaſſen Aufnahme finden werden , wenn nicht etwa das Statut der Gründung sie ausschließt. Viele Anstalten, welche mir bekannt sind, haben sogar geradezu Einrichtungen zur Verpflegung von skrofulösen Kindern zahlender Eltern getroffen , besondere Schlafzimmer und Tages aufenthaltsräume für sie reserviert. Zur Aufnahme gelangen in den Seehospizen nur Kinder vom vollendeten dritten resp. vierten Jahre an ; ja einzelne weisen Kinder zurück, die nicht schon fünf Jahre alt sind. Das Maximalalter ist meistens 16 Jahre, hier und da selbst 20 Jahre. Die Bestim mungen über Aufnahme von Kindern in
Wochen für jedes Kind normiert. Gar nicht geschlossen werden meines Wissens nur vier, das zu Margate, zu Berck - sur - mer, zu Refnaës und zu Palermo . Die Pflege der Kinder liegt in den Händen geschulter Wärter bezw. Wärterinnen, allermeistens barmherziger Schwestern oder Diakoniſſen ; die eigentliche Behandlung wird da gegen von approbierten Aerzten geleitet, denen auch die Ueberwachung der Salubrität der betreffenden Anstalten anvertraut iſt. Die Kurmittel, welche zur Anwendung gelangen, sind zunächst eine kräftige, vorzugsweise animalische Kost, sodann der fleißige Genuß der Seeluft, Gymnastik für diejenigen, deren Zustand es gestattet und endlich Seebäder. Was die letteren anbelangt, so werden sie in den italienischen Seehospizen der Regel nach zweimal täglich , in unserem Klima nur einmal täglich genommen. Eine Nachahmung der Sitte des Südens ist bei uns in Folge der geringeren Temperatur des Meeres unmöglich. Auch die Dauer des Bades muß in den Seehospizen des Nordens eine beschränktere sein. In demjenigen zu Cagliari pflegen die kleinen Patienten an 30 Minuten im Wasser zu verweilen. Wollte man bei
den Soolbäderheilstätten wechseln bezüglich der Altersgrenze ziemlich bedeutend; meist werden Patienten von zwei bis drei Jahren bis zu 16 Jahren aufgenommen. Weder in diesen Anstalten , noch in den Seehospizen beschränkt man sich übrigens ledig uns ein Seebad so weit ausdehnen, so würde lich auf die Pflege Strofulöser ; diese bilden es in hohem Grade nachteilig wirken , zumal nur die überwiegende Mehrzahl der Rezipierten. Auch rhachitiſche, allgemein schwächliche , an bei Kindern, welche auf Entziehung von Wärme chronischen Darmkatarrhen Leidende werden auf- | leicht in ungünstiger Weise reagieren. Ungemein reich an Anstalten dieser Art ist genommen. Nur das Seehospiz zu Margate Italien. nimmt dem Statut nach ausschließlich StrofuEs besißt deren zur Zeit eine solche auf dem Lido zu Benedig (mit 300 Betten Löse auf. Seehospize. Unter Seehospizen verstehen und einem Isolierhaus für zufällig von übertragbaren Krankheiten Befallene) , zu Rimini, wir solche Kinderheilanstalten, welche, hart am Riccione, Fano , Palermo , Cagliari , Porto Gestade der See liegend, den Pfleglingen Ged'Anzio , Porto San Stefano, Livorno, Pisalegenheit zum Gebrauche von Seebädern ge= währen. Viele von ihnen wurden von vornBocca d'Arno, Viareggio, Sestri Levante, Voltri, herein zu diesem Zwecke erbaut ; andere waren. Celle , Loano , und kleinere zu Cecina, Nervi, vorher private oder öffentliche Gebäude , die San Benedetto del Tronto , Pesaro. Auch man erst in eine Heilanstalt umwandeln das Seehospiz zu Grado zwischen Triest und Venedig nimmt zum großen Teile italienische mußte ; einige wenige sind noch immer in Skrofulöse auf. Bedenkt man, daß alle diese Mietwohnungen untergebracht. Die größeren Anstalten seit dem Ende der fünfziger Jahre enthalten Tagesaufenthaltsräume , Schlaffäle, erstanden sind , so muß man den Eifer der Eßfäle, Veranden , Spielräume, selbst Unterdortigen Komites und die Opferwilligkeit der richtsräume, Lokalitäten für die Unterbringung Besigenden , welche ihnen die Mittel lieferten, bettlägerig kranker Kinder und für die Wirtin gleichem Maße anerkennen. Der Wohlschaft. Die kleineren verfügen dagegen meist thätigkeitssinn der Italiener , dem das Land nur über Schlafzimmer und Tagesaufenthaltseine so ungemein große Zahl von Pflege- Instiräume. Fast alle sind lediglich im Sommer tuten und Stiftungen verdankt , hat sich auch geöffnet und haben eine Kurperiode von sechs
Seehospize und Soolbäderheilftätten für Kinder.
nach dieser Richtung hin in glänzendster Weise bewährt. Frankreich besitzt nur die, allerdings sehr großartige, 600 Betten enthaltende Anſtalt zu Berd-sur-mer , das ebendort gelegene kleine Rothschildsche Seehospiz für strofulöse israelitische Kinder, die Freedlandsche Anstalt für Rhachitische und Skrofulöse zu Nizza und die
287
Richtung hin der Verein zur Gründung von Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten", welcher 1880 gegründet , bereits eine große Zahl Mitglieder zählt. Die ersten Anfänge seiner Thätigkeit werden sich bald auf Norderney und Föhr zeigen ; auf erstgenannter Insel, auf der schon seit 1876 eine Diakoniſſenanſtalt zur Pflege skrofulöser Kinder besteht, beabsichtigt man ein Baracken- Seehospiz für 250 Kinder Armengaudsche zu Cette, die aber nicht lediglich für Kinder bestimmt ist. zu erbauen. Nach Maßgabe der ihm zufließenden Mittel wird der Verein aber auch weiter vorEngland hat die schon erwähnte Anstalt zu Margate, die fog. royal seabathing ingehen , noch andere Punkte der Nordsee und, was dringend nötig ist , auch der Ostseeküste firmary or national hospital for the scrofulous poor of all England , ferner das berücksichtigen. Als ein arger Irrtum muß es bezeichnet werden, wenn behauptet wird, Seehospiz zu New Brighton, zu Weymouth, zu Southport, zu Eastbourne, St. Leonards, die lestbenannte Küste eigne sich wenig oder Kinley, Bournemouth, die aber mit Ausnahme gar nicht zur Anlage von Kinderheilſtätten. eines einzigen alle nicht lediglich Kinder Die Erfahrung hat es vielmehr hinreichend aufnehmen. bestätigt, daß gerade skrofulösen Kindern der Holland besigt die ſchöne Sophia- Stiftung | Aufenthalt in den Oſtſeebädern außerordentlich) gut bekommt. Ein großer Vorzug derselben zu Echeveningen, eines der besten Seehospize, die es gibt, und eine, aber auch für Erwachsene liegt in dem Vorhandensein ausgedehnter Laubbestimmte Anstalt zu Sandvoort. waldungen, die sich ja vielerorts , so bei HeiligenIn Dänemark wurde ein großes See- damm, Zoppot, Heringsdorf bis unmittelbar hospiz zu Refnaës erbaut, Desterreich entan das Meeresufer erstrecken und nicht bloß sendet Skrofulöse aus der Gegend von Triest Schuß gewähren , sondern auch der Luft eine wohlthuende Frische verleihen. Diese längst und Görz nach dem Seehospiz zu Grado, und bekannte Heilkraft der Ostseeluft und Ostseeaus Südtirol nach demjenigen von Venedig. In der Schweiz geht man damit um, bäder haben die Erfolge des Kinderasyles zu eine Anstalt dieser Art für schweizer Kinder Gr. -Müritz aufs neue erwiesen. Erfreulicheran der italienischen Küste einzurichten. weise ist Aussicht vorhanden , daß dieses sehr bald erweitert wird und daß es an der Ostsee Auch Nordamerika hat Seehospize genicht das einzige bleibt. Bereits wurden in gründet, allerdings mehr für allgemein schwächliche und an Darmkatarrhen leidende Kinder, Colberg, das zugleich Soolbad ist, Einrichtungen als für skrofulöse. Solche Anstalten sind die zur Secbadekur für arme kranke Kinder gezu Beverly farms in Massachusetts , zu Cape troffen, und in Heringsdorf beabsichtigt das May in Pennsylvanien, zu Atlantic city, zu Diakonissenhaus Bethanien eine Kinderheilstätte Rockaway. In New York ließ die St. Johns zu gründen. Society ein Dampfschiff zu einem schwimmenden Die Kinderheilstätten in Soolbädern Dasselbe sind, wie die Seehospize, ſehr verſchieden in ihrer Seehospiz für Kinder herrichten. fährt früh morgens mit den letteren und deren ganzen Anlage und Ausstattung, bald umfangreich und stattlich, bald flein und bescheiden, Pflegerinnen in See und bleibt tagsüber auf derselben. Jezt wird ebendort, nämlich bei je nachdem die Mittel vorhanden waren. Der Newdorp auf Staten Island ein großes InMehrzahl nach sind sie im Barackenſtil erbaut, stitut erbaut, um diese Kinder, nachdem sie am so die Anstalt zu Bad - Elmen, zu FrankenTage auf der See zubrachten, nachts aufzunehmen. hausen, zu Kreuznach. Die größeren enthalten Deutschland besitzt zur Zeit nur die Spiel- und Eßfäle, Schlafzimmer, Zimmer für die Wärterinnen und halboffene Veranden ; kleinen Anstalten zu Norderney, zu Gr. -Müritz in Mecklenburg, zu Wyck auf Föhr, zu Wange- zu den meisten gehören , was von hoher geſundrooge. Aber man geht rüstig vor, um neue heitlicher Bedeutung ist, schöne Gärten, SpielSeehospize zu schaffen, vorhandene zu erweitern. plätze und selbst Waldpartieen. Einen besondern Eifer entfaltet nach dieser Die Kurzeit dauert in der Regel drei bis
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3. Uffelmann.
vier Monate (Juni, Juli, August und September), nur in Lüneburg und Hall das ganze Jahr. Erfreulicherweise haben jüngsthin einige Anstalten, z . B. die zu Jagstfeld , Salzuflen und Rothenfelde auch eine Winterkur für folche Kinder angeboten, welche nach vollendeter Sommerkur kein geeignetes Heim haben. Die Kurperiode für das einzelne Kind erstreckt sich fast überall nur auf vier bis sechs Wochen; in einigen wenigen ist sie unbeschränkt. Im Interesse der Pfleglinge muß eine Ausdehnung der Kurperiode auf mindestens acht WA Wochen NO NGE MÜ RD RO dringend RI ER OG TZ G R N gewünscht : EY EWY K werden. Leider ist aber der SULZE OLDESLOE Andrang • LÜNEBURG groß, so daß an die OEYNHAUSEN Erfüllung ROTHENF ELDE des Wun.SALZUFLEN BAD- ELMEN sches in vielen AnNEUSTADT-HARZBURG SASSENDORF stalten FRANKENHAUSEN noch kaum SOODEN-ALLENDORF zu denken NAUHEIM ist. KREUZNACH DieKurJAGSTFELD mittel sind die näm lichen, wie in den DONAUESCHINGEN Seehosp i zen ; der UnterDeutsche Seehospize und Soolbäderheilstätten. schied besteht nur in der Art der Bäder. Auch in den Kinderheilstätten der Soolbäder liegt die Pflege in den Händen geschulter Wärterinnen, die mit größter Hingebung den
Kaiserin - Augusta - Kinderheilanstalt in BadElmen , in Desterreich die Kinderheilanstalt zu Hall. Die Resultate, welche in den Seehospizen und Soolbäderheilstätten erzielt wurden, sind ganz ungemein bedeutsam gewesen. Um den Erfolg richtig zu würdigen, muß man bedenken, daß die sonstigen Leistungen unse rer ärztCOLBERG lichen HERINGSDORF Kunst der Strofu lose ge= genüber auch unter den denkbar günstigsten Verhältnissen nicht gerade hervorragend zu nennen sind. Meist vergehen Jahre, ehe eine entschiedene Besferung eintritt. In jenen Anstalten aber werden ungleich zahlreichere, vollständigere und raschere Heilungen erzielt, als in der privaten Praxis. Diese für das Intereſſe der Familie und der Allgemeinheit gleich wichtige Thatsache soll ziffernmäßig erwiesen werden. Die günstigsten Erfolge sind aus den Seehospizen zu berichten. In Margate wurden. 1876 von 345 strof. Kindern 189, d . f. 54 % , 229 , " 77 %, " 1877 , 297 " 78 %, 188, " ?? 1878 , 241 völlig geheilt. Von diesen 883 skrofulösen Kindern starben nur 15 und wurden nur 26
Pflichten ihres Berufes nachkommen ; auch dort wird überall die eigentliche Behandlung von approbierten Aerzten geübt. Es gibt zur Zeit folgende Anstalten der eben besprochenen Art : die Anstalt Bethesda in Jagstfeld, zwei zu Rothenfelde (nämlich die Kinderheilanstalt daselbst und das Elisabeth=
ungebessert wieder entlassen . Im Seehospiz zu Berd-sur- mer wurden während eines Zeitraums von 5 Jahren 380 franke Kinder aufgenommen. Von ihnen genasen völlig 234, d. f. 61 % , wurden gebessert 128, d. f. 34 %. In dem italienischen Seehospiz zu Loano
Spital), zwei in Nauheim (die Kinderheilanstalt und das städtische Kurhospital für Kinder und
sind bis jetzt im Durchschnitt 40 % völlig geheilt ; in demjenigen zu Venedig war das Verhältnis nahezu dasselbe, in demjenigen zu
Erwachsene), das Viktoriastist zu Kreuznach,
die Kinderheilanstalten zu Salzuflen, zu Frankenhausen, zu Deynhausen, zu Sassendorf, zu Neustadt-Harzburg, zu Sooden-Allendorf, zu Oldesloe, zu Lüneburg, zu Sülze in Mecklen= burg , zu Donaueschingen und endlich die
Seehofpize und Soolbäderheilstätten für Kinder.
Cagliari war es 54 % , in demjenigen zu Palermo 52 %. Das Seehospiz zu Scheveningen erzielte 1877, 1878 und 1879 bei 111 aufgenommenen Kindern, die größtenteils skrofulös waren, eine vollständige Genesung in 74 Fällen, also 66 % . In Refnaës wurden im Jahre 1879 nicht weniger als 79 % der Skrofulösen geheilt. Hier, wie in Berck-sur-mer, bleiben die Kinder, solange es nötig erscheint ; deshalb ist das Resultat ein so besonders günstiges . Welche anderweitige Behandlung der fraglichen Krankheit kann gleicher Erfolge sich rühmen ? Welcher Arzt wird sagen, daß es ihm gelungen sei , die Hälfte seiner strofelfranken Patienten binnen einer Frist von wenigen Monaten durch Medikamente geheilt zu haben? Die Erfolge der Kur in den Seehospizen sind also in der That in hohem Maße beachtenswert ; sie sind es um so mehr, als es feſtſteht, daß die Angaben über vollständige Genesung und wesentliche Besserung der in ihnen behandelten Kinder in gewissenhaftester Weise gemacht Viele Vorstände solcher Anstalten, werden. speziell der italienischen, haben es sogar eingeführt, daß die aus der Kur entlassenen Kinder einer Nachrevision sich unterziehen müſſen, und daß die definitive Rubrizierung des Erfolges in der Liste erst geschieht, wenn der Befund der Nachrevision notiert ist. Die Berichte liefern außerdem den sicheren Beweis des herrlichen Erfolges, indem sie gewiſſe thatsächliche Daten vorführen . Dahin gehören vor allem diejenigen, welche sich auf die Gewichtsverhältnisse der Skrofulösen beziehen. Fast alle letteren nahmen an Gewicht zu, oft um 10, 12, ſelbſt 14 Pfund ; diejenigen, welche an Gewicht abnahmen, sind der Mehrzahl nach Kinder, welche an der gedunsenen Strofulose leiden ; bei ihnen ist also der Gewichtsverlust als etwas Günſtiges anzusehen. Ferner konstatieren alle Berichte die Zunahme der Munterfeit bei den kleinen Patienten, die Hebung ihrer Kräfte, ihrer Gesichtsfarbe. Schlecht waren die Resultate nur in den Fällen , in welchen die Skrofulose sich bereits mit einer Affektion der Lungen komplizierte. Solche Kranke sind also nicht in ein Seehospiz zu entsenden oder wenigstens nicht zu Seebädern , sondern nur zum Genusse der Seeluft zuzulassen. In den Kinderheilstätten der Soolbäder
289
sind die Erfolge zwar nicht so glänzend , wie in den Seehospizen, aber doch immerhin höchst erfreulich. Nach den Jahresberichten der Heilstätte zu Jagstfeld wurden dort von 1861 bis 1879 infl. 3741 Kinder; aufgenommen 568 von ihnen heilten völlig
" und wurden erheblich gebessert 2440 Es starben nur 6 und ungeheilt blieben 717. Im Soolbade Hall wurden in zwei Jahren . 327 Kinder ; aufgenommen . " von diesen genasen völlig · 130 · 150 es wurden gebessert " " 2 es starben . Im Durchschnitt aller Jahre von 1856 bis 1880 heilten in der Kinderheilstätte zu Hall 40 %, von den Aufgenommenen 53 % und wurden gebessert so
daß ungeheilt blieben , bezw. 7 %. starben nur Es ist das ein Resultat, welches dem in den Seehospizen erzielten sehr nahe kommt. Allerdings gehört dieses Asyl in Hall auch zu denjenigen wenigen Anstalten , in welchen der Aufenthalt der Kinder nicht nach einer bestimmten Zahl von Wochen bemeſſen wird, sondern in denen er so lange währt, wie es der behandelnde Arzt nach dem individuellen Falle für nötig erachtet. Es ist das ein wichtiger Punkt. Die übrigen Soolbäderheilstätten würden ein gleich gutes Resultat erzielen, wenn sie nicht aus Rücksicht auf die große Zahl der Hilfesuchenden die Kurperiode einzuschränken nötig hätten. Auch in den Soolbäderheilstätten wurde eine Gewichtszunahme der meisten Pfleglinge So lesen wir in dem Berichte konstatiert. über die Heilstätte zu Oldesloe aus dem Jahre 1879 , daß von 31 aufgenommenen Kindern 29 ihr Gewicht erhöhten. Offenkundige allgemeine Kräftigung des Körpers trat bei allen ein. Gleiches meldet der Jahresbericht der Soolbadheilstätte zu Donaueschingen für 1879. Von hohem Belange erscheint es, daß auch in diesen Anstalten solche Fälle , in denen bereits Lungenaffektion sich zur Skrofulose hinzugefellte , keine Besserung , sondern meiſt eine Verschlimmerung erfahren. Es muß also aufs nachdrücklichste davor gewarnt werden, Kinder mit beginnender Lungenschwindſucht in Sie die Soolbäderheilstätten zu entsenden. gehören nicht dahin; Landluft, Waldluft, reine
290
3. Uffelmann. Scehospize and Soolbäderheilanstalten für Kinder.
Gebirgsluft und Milchkuren sind für sie am die eine streng rationelle und vor allem eine Die Strofelkrankheit individualisierende ist. Plaze. Die Berücksichtigung dieser Thatsache wird nicht bloß dem Rufe der Soolbäderheilkann in den verschiedensten Formen auftreten, stätten, sondern, was das Wichtigste, der Gesundund diese verlangen eine besondere Berücksichtigung. Daß die lettere ihnen in jenen Anheit der skrofulösen Patienten zu ſtatten kommen . stalten thatsächlich zu teil wird , davon legen Fragen wir uns nun endlich, wodurch erdie Jahresberichte die sichersten Beweise ab. flärt sich der herrliche Erfolg der hier beSo können wir die besprochenen Anstalten sprochenen Anstalten , so lautet die Antwort in Wahrheit nicht hoch genug schäßen. Befolgendermaßen : Es vereinigt sich in ihnen denken wir nur, daß allein das Seehospiz zu alles , was zur Bekämpfung der Strofelkrankheit von Nußen ist. Die Fürsorge für Venedig in 12 Jahren gegen 8000 Kinder richtige Ernährung wird mit größter Achtsam- | aufnahm und von ihnen fast 3000 völlig keit gehandhabt ; nur leicht verdauliche Subheilte, daß dasjenige zu Rimini binnen 6 Jahren stanzen werden verabfolgt , auch in rationeller fast 600 Kinder zur Genesung führte, daß in Zusammenstellung, wie in ausreichender Menge der Soolbadheilstätte Hall binnen 20 Jahren. dargeboten. Diätfehler sind deshalb so gut an 1350 , in derjenigen zu Jagstfeld binnen 19 Jahren 568 Kinder ganz geheilt wurden! wie ausgeschlossen ; ein Umstand , der gerade bei der Strofelkrankheit eine hohe Beden | Mit welchem Danke müſſen dieſe vielen Getung hat. Ferner ist hinsichtlich der Salunesenen der hochherzigen Männer gedenken, brität der Anstalten alles geschehen, was nur welche jene Asyle gründeten ! Welchen Dank möglich war ; die Lage ist eine gesunde, die zollt aber auch die Allgemeinheit des Volkes Schlafräume ſind luftig , nicht überfüllt , die denselben Männern, die ohne jeden Eigennut, nur aus Menschenliebe das Werk begannen und Tagesaufenthaltszimmer hell und geräumig. Es kommt hinzu , daß die Kinder veranlaßt durchführten ! Kommt doch das , was die Kinderwerden, den größten Teil des Tages im Freien heilstätten leisten, nicht bloß den in ihnen veroder, wenn die Witterung dies nicht gestattet, pflegten Kindern und deren Angehörigen, sonin den Veranden zuzubringen. Daß dies ihren dern auch der ganzen menſchlichen Geſellſchaft, verlangsamten Stoffwechsel in besonderem Maße der Wehrkraft und dem Wohlstande zu gute. anregt , daß es die Blutbildung fördert , den Es ist doch wahrlich eine Sache von Bedeugesamten Körper widerstandsfähiger macht, ist tung, wenn jezt jährlich Tausende von armen leicht zu verstehen. Besonders heilsam muß unglücklichen Kindern der vollen Gesundheit. sich nach dieser Richtung hin der Aufenthalt wiedergegeben werden. Ohne jene Anſtalten in der Seeluft erweisen , weil dieselbe nicht würden sie der Mehrzahl nach dahin siechen, bloß sehr rein , sondern auch stets bewegt früh sterben oder arm und leistungsunfähig ist, eine intensive Luftströmung aber durch Ent- der Gemeinde zur Last fallen. Die Einrichziehung von Wärme die Thätigkeit des Orga- tung von Heilstätten für Ekrofulöse muß nismus zum Wiedererfaße der letzteren stei- deshalb als eine Angelegenheit des öffentlichen gert und damit den Stoffwechsel beschleunigt. Wohles betrachtet werden , welche zu fördern Zahlreiche Faktoren konkurrieren demnach die Pflicht jedes einzelnen , aber nicht minder bei der hier besprochenen Kur, um sie zu einer diejenige des Staates und der Gemeinden iſt. erfolgreichen zu machen. Der wirksamste An- Was bis jetzt erreicht wurde , genügt noch griff auf die Krankheit aber vollzieht sich durch lange nicht, mit so großer Freude es uns auch die Bäder , hier in dem salzhaltigen , stets erfüllen kann . Noch unendlich viel ist nachbewegten Seewasser, dort in der Soole. Diese zuholen , denn eine große Zahl von SkrofuBäder regen den Stoffwechsel der kleinen lösen muß noch alljährlich zurückgewiesen werPatienten mächtig an, wie man schon aus der werden, weil es am Plaze fehlt. Es gilt also, bedeutsamen Steigerung ihres Appetites er- die vorhandenen Anstalten zu erweitern, so ſieht, und wirken dadurch auch gerade bei der weit dies thunlich ist, und neue zu begründen. Strofulose so günstig, weil dieselbe mit Träg- An Männern, die solches in die Hand nehmen, heit des Stoffwechsels einhergeht. fehlt es nicht. Hoffen wir, daß das deutsche Sehr großen Anteil an den herrlichen Er- Volk sie so unterſtüße, wie es der edle Zweck des folgen hat aber auch die Methode der Pflege, Werkes als wünſchenswert erscheinen läßt !
Robert Byr. Andor.
291
Andor. Roman von Robert Byr. (Fortsehung. )
a ſaß er noch, die Stirne in
wich die Erleichterung , welche des Cheims
die Hände vergraben, bleich
Mitteilungen in ihrem späteren Verlaufe
und regungslos vor den alten Papieren. Er hatte sie sie alle Er hatte alle
Andor gebracht, nicht mehr ; der grauenhafte Schatten, der sich drohend noch aus seinem
Es war jener
Grabe erhoben, war verſöhnt in dasselbe zu-
lezte Brief voll hinfälliger Schwäche und
rückgesunken ; dennoch aber vermochte Andor
durchgelesen .
tiefer Melancholie,
in welchem Beledényi | die tiefe Bitterkeit , die ihn erfüllte , nicht
seine Frau beschwor , zu ihm zurückzukehren, es waren Briefe voll Lebensernst,
zu bannen.
So rasch findet sich ein Herz
nicht in ein neues Verhältnis zu denen, die
Manneswillen und leidenschaftlicher Glut,
es liebte und es bleibt hart , das Opfer für
in denen Andor die Hand seines Vaters er-
das Vergehen anderer auf sich nehmen zu
kannte. Und auch von ihm war darin die Rede,
müſſen , selbst dann, wenn man es ihnen Verwenn auch nur ein flüchtiges, bald wieder | nicht zum Vorwurfe machen kann . aufgegebenes Suchen nach dem Mittel, ihm
geblich erinnerte er sich an die Liebe ſeiner
die gebührende Lebensstellung zu schaffen.
Eltern, die ihm einen faſt parteiiſchen Vor-
Auch einige Briefchen der Mutter an ihre
zug unter ihren Kindern gewährten, wie um
Eltern aus der Zeit ihrer ersten Ehe befanden sich darunter und gaben Andor ein lebhaftes
auf diese Weise wenigstens ihr Verschulden an ihm gut zu machen. Was änderte das
Bild von den Zuständen und Ereignissen, welche in ihr den Wandel der Empfindungen vorbereiteten.
an dem Loſe, das ihm bereitet worden war ? Enterbt stand er da. Hier ohne Recht, dort ohne ein solches . Ein Mittelglied
Was war das für ein Tausch gewesen
zwischen den Brüdern, die ihn von sich
für das schöne , von den Eltern so innig
wiesen .
geliebte , verzogene Kind , aus dem hellen freundlichen Löke in das düstere erdrückende
zugehörig und untergeordnet, der ihn haßte und fortſtieß , und an jenen seines Erst-
Beledvár , deſſen eisige Mauern selbst die Genußfreude der glänzendsten Feste nicht zu
geburtsrechts verlustig , der kaltherzig seine Reichtümer verschloß und mit dem kleinsten
erwärmen vermochte und an die Seite dieſes
Teil gegen den Bruder kargte, dem unter anderen Verhältnissen alles und damit auch
jähzornigen, bald wild aufbrauſenden, bald wieder in sklavischer Ergebenheit zusammen knickenden Mannes, neben dem schon damals
Dem vor der Welt und dem Geſeße
die Wahrung des Rufs der Familie , die Fortseßung ihrer Traditionen im nunmehr
die Gestalt eines anderen , wie das Bild | kurzsichtig verleugneten Sinne des zu früh verstorbenen Vaters zugefallen wäre . edelster, maßvoller Männlichkeit auftauchte. Aber nicht diese materiellen Erwägungen Wohl war das alles geeignet, das Geschehene dem Verständnisse und der nach-
waren es, die Andor am tiefſten ergriffen .
sichtigen Beurteilung näher zu bringen, auch
Sein ganzer ideeller Sinn war aus der Höhe,
Robert Byr.
292
in der er sich gehalten, niedergeriſſen in den
ich denn ? Nein
Staub, vernichtet und in der schmerzlichſten Weise verhöhnt.
namenloſer Mensch!“
Wie stand es mit seinem Stolz auf sein edles Blut , seine Abstammung und seine
nichts
niemand! Ein
„Ich meine doch, du führst einen seit siebenundzwanzig Jahren ." „Einen falschen .
Fort mit ihm ! Der,
Nation ? Ein Erdstoß hatte den Grund er-
dem er gehört , soll ihn mir nicht mehr
schüttert, der Boden, auf dem er gestanden, war unter ihm verſchwunden und wurzellos
widerwillig borgen und zum Vorwurf machen. Andor. Weiter nichts . Das ist Andor -
hing er in der Luft, auch hier ein Enterbter . Ihm war, als hätte er mit einemmale alles
genug. Wahrlich, nicht als eine Lüge mag ich durch die Welt wandern. "
verloren , Familie , Namen , alles - selbst das Vaterland.
Sein eigenes Jch, wie er
es in seinem Bewußtsein unantastbar ge-
Vielleicht hast du Recht" sagte Rainald, nachdem er einen Augenblick betroffen aufgesehen.
" Aber namenlos brauchst du nicht
Hier ist noch ein ehrlicher Name,
tragen, war wie ein erborgtes Maskenkleid
zu sein.
in bunten Lappen abgefallen und sein eigenes
der mir gehört .
Antlig grinste ihm, zur Fraße verzerrt, gassenbübisch entgegen :
adoptiere dich. Was mein ist, ist doch dein : Rainald und Bukraház . Soll es so sein ?
Du träumteſt ein Ungar zu sein, ein Magnat. Wach auf ! Nichts weiter bist du, als ein deutscher Findling !"
Willst du den haben, ich
Hei , Margit , back Kindstaufkuchen .
Der
Segen Gottes ist doch noch eingetroffen . Wir haben einen Sohn!"
Sanft und zärtlich legte die gutherzige
Diesmal öffnete der alte Mann nicht
Frau ihren Arm um des so sehr geliebten Neffen Schulter.
umſonſt ſeine Arme . Unter Thränen jubelnd schloß er Andor an die Brust.
„ Lieber Andorkám , Herzenskind , was ist dir?
Du bist krank und wirst noch elend
VIII.
werden , wenn du gar nichts essen willst. Nur ein Stückchen Braten !
Er ist so schön
Der Regen hatte aufgehört, aber in troſt-
braun und ſo zart ! Willst du nicht, mein Seelchen ?"
losem Grau hingen die Wolken noch tief herab und hochauf sprißte der Schlamm
Laß
ihn !"
unterbrach Rainald
die
Schmeichelworte seiner Frau mit sanftem Nachdruck.
„Hunger und Durst hat der
nicht.
Wenn er sich erst zum Essen und Trinken meldet, dann — ist auch das Aergste überstanden und die Krankheit bald vorbei." „ Nie
unter den Rädern des Wagens, der Andor nach Löke brachte. Rainald begriff ,
daß der so tief Er-
schütterte mit ſeinen Gedanken und Empfindungen allein sein wollte, und hatte, deſſen Wunschnachgebend, anspannen lassen. Selbst
nie wird sie vorübergehen !"
seine Frau hatte sich darein finden müſſen
Andor hatte sich aufgerafft und rief es mit
und gab sich schließlich mit dem Versprechen
einem schmerzlichen Ton der Verzweiflung .
Andor's, am nächsten Tage wiederzukommen, zufrieden .
Und was liegt daran, wenn sie mich verzehrt. Wer frägt darnach?“
Rasch trabten Rainalds junge Pferde
„Jeſus, Maria !“ ächzte die Tante entſeßt auf. „Keine Seele," fuhr Andor fort.
„ Bin
den Weg durch die Auen , und sie waren schon im Begriffe in die Allee zum Schloſſe einzubiegen , als sie ein schlichtes Bauern-
Andor.
wägelchen überholten, das langſam die aufgeweichte Straße entlang rollte. Andor, in sich selbst versunken , hatte
293
die ganze Gegenwart über dieſe eine Epiſode Jezt aus der Vergangenheit vergessen . sprang
plößlich die Erinnerung
an das
kein Auge für die Außendinge, ein Ausruf
Nächste wieder in ihm auf und zwar mit
seines beim Kutscher auf dem Bocke sigenden
solcher Heftigkeit und solch banger, das Herz
Dieners erst machte ihn aufmerksam . Er blickte zurück und erkannte unter der zum
zusammenpressender Ahnung , daß er kaum seiner Stimme mächtig war.
notdürftigen Schuß gegen den Regen über
„Was hat das zu bedeuten ?
Wo ist
Reifen gezogenen Blache Pfarrer Bertalan
Jlka Ilka ?" fragte
er mit fliegendem Atem, und da er keine Antwort erhielt und ein
und dessen Schwester . Was war das ?
Blick in die Tiefe des Wagens ihn bereits
aus dem Wagen und eilte auf den anderen zu .
überzeugt hatte, daß dort nur Gepäck und Heu für die Pferde untergebracht war, fuhr
Ueberrascht befahl er zu halten, sprang
Die Mutter seiner Braut ! Und wo war
er unruhig drängend fort : „Was ist's mit
diese selbst ? Vergeblich suchte sein Blick sie im Hintergrunde. Hatte man sie dort viel-
ihr ? Ist sie krank ? Oder ist ihre Freundin bei ihr? Es war doch nicht recht, sie so allein
leicht gebettet ? Aber warum diese frühe Heimkehr? Und in solch erbärmlichem Vehikel,
zurück zu laſſen .“
allen Unbilden der Witterung ausgesezt.
erschrocken und hatte sich , während Andor an den Wagen herankam, zu sammeln ge-
Was war vorgegangen, daß man so gegen alle Verabredung handelte ?
Der Pfarrer war bei seinem Anblick
Es fiel ihm
sucht, aber doch blieb es ihm noch unmög-
plöglich schwer aufs Herz, daß er eigentlich
lich, Worte zu finden. Auch seine Schwester
seit nahezu einer Woche keine Nachrichten
schien sprachlos zu sein, das heftige Weinen
mehr
kurzen Briefe waren ohne Antwort geblieben
jedoch , in das sie plößlich ausbrach, war beredt genug .
oder dieſe hatte ihn doch verfehlt . Erſchrieb
Aus der dichten Vermummung gegen
aus
Gleichenberg erhalten.
Seine
es dem Wechsel seines Aufenthalts während
die kalte Witterung kam dabei ihre Hand
der lezten Tage zu, sie hatten ihm ja auch
mit dem Taschentuche zum Vorschein.
ſo viel Enttäuschung und Aufregung ge-
schwarze Aermel , das schwarze Kreppstreif-
Der
bracht, waren in solcher Hast und Unruhe
chen daran, der schwarze Handschuh waren
verlaufen , daß der Gedanke an Ilka , so gegenwärtig er ihm auch im tiefsten Innern
bedeutungsvolle Zeichen . Andor stand das Herz still.
blieb, doch gewissermaßen hinter die wichtigſte Frage des Augenblicks
zurücktrat.
Sein
,,Gott ist ein barmherziger Richter," sagte jezt der Pfarrer wehmütig .
„ Er wird
Vorsay , sofort nach seinem Beſuche auf Beledvár , von der nächsten Station aus
das arme Kind gnädig aufnehmen in ſein Reich.
telegraphische Grüße und beruhigende Nachrichten auszutauschen , war durch das dort
„Es ist nicht möglich ! " rief Andor entseßt aus . Sie war ja noch ganz - wie
Vorgefallene und die daraus entspringende Umwälzung, die Andor's gesammtes Sein
lang ist es denn ? Ein paar Tage heute -- heute sollte
und
und Denken nur in eine einzige , alles ab-
„Wir haben sie gestern begraben ."
sorbirende Frage zuſammendrängte, zunichte
Es war, als höre Andor des Pfarrers Worte gar nicht. Er ging wie ein Nacht38
gemacht worden.
Er hatte die ganze Welt,
Robert Byr.
294
wandler neben dem Wagen her, die Hand
Der Kutscher sah seinen Herrn groß an.
Der Bauer
Er verstand nicht , wie derselbe alles so
hatte seine Pferde nicht angehalten und lenkte sie jezt auf einen leichten Wink des
nicht zu dem nachdrücklichen Säuberungs-
auf die Leiterstange gelegt.
Pfarrers in den Parkweg ein. So, Schritt für Schritt, ohne daß ein
Wort weiter gesprochen wurde , wie ein Leichenzug ging es dem Schlosse zu . Unter dem Portale ſtand Lißló, er schien
gelassen hinnehmen und seine Zustimmung
prozeß geben konnte ,
zu dem er sich nur
im Namen der gesammten treuen Dienerschaft erboten, welche voll Entrüstung und hoher Spannung schon dem entscheidenden Momente
der Heimkehr
des Herrn
ent-
hier auf seinen Herrn gewartet zu haben,
gegengesehen hatte , um dann mit einem
denn er trat ihm sofort mit abgezogenem
energischen Gewaltakt der unverschämten Ein-
Hute entgegen und stellte sich als ehemaliger Husar in militärische Positur.
quartierungswirtſchaft ein Ende zu machen. Der Herr mußte schwerkrank sein! Be-
„Ich melde gehorſamſt , gnädiger Herr
sorgt sah er ihm und dem Pfarrer nach
Baron," rapportierte er, „ es sind alle Pferde
und wandte sich dann dem eben auch vom
gesund. Wenn ich nicht entgegenfuhr nach Befehl , so sind die Hundejuden daran
der etwa , wie es möglich war , daß das
schuld . So wie der Bote vom Telegraphenamte ankam , wollte der Herr Verwalter
freche Pack noch länger in Löke geduldet werden sollte ? Waren es Leute, denen der
anſpannen laſſen .
Baron Geld schuldete ,
Die da drinnen haben
es abgesagt und weil ich antwortete :
Nem
bánom ! Ich gehorche nur meinem Herrn', hat es geheißen, ich kann gehen .
Die Pferde
aber haben sie mit Gewalt in den Stall geführt, als ob ich mit ihnen auf und davon
Bocke ſteigenden Kammerdiener zu . Verſtand
um so besser,
dann warf man ſie erst recht hinaus .
Aber
ihnen das Haus gutwillig einräumen , das war noch nicht dagewesen , so
lange die
Welt stand !
An dem Speisesaale vorüber, aus wel-
hätte fahren wollen auf Nimmerwiederkehr.
chem laute Stimmen drangen, schritt Andor
Ich bitte gehorsamst, sie machen überhaupt
nach seinem Wohnzimmer.
was sie wollen, die da drinnen . Jezt tafeln
rein mechanisch geschehen , daß er erst in
ſie im Speiſezimmer, wie die Herrschaften,
der Mitte desselben stehen blieb und sich
Es war das so
und wer nicht thut, was sie anordnen, den
befremdet umſah , als ob er sich beſinnen
schicken sie weg aus dem Dienste .
müſſe, wo er sei und was er eigentlich vor-
Das darf
habe.
doch nicht geschehen !" „ Guten Tag, Lißló," sagte Andor, als
Der kleine , sonst so lebenslustige
Pfarrer stand gebeugt neben ihm .
Seine
ob er nur einfach einen gebotenen Gruß
Schwester war weinend
zu erwidern hätte. unabsehbare Ferne.
gleich neben der Thüre niedergesunken. Der Anblick riß Andor erst aus seiner
Sein Auge blickte in
Befehlen der gnädige Herr Baron, und ich nehme ein Paar von uns
zuſammen
auf einen Stuhl
Betäubung auf. „ Es ist also wahr ? Wahr und unwider-
und wir hauen das Gesindel durch und
ruflich ?“ " stieß er hervor.
jagen es fort, daß es nicht daran denken
gestorben ?"
soll, sobald wieder zu kommen." „Laß nur , Lißló , ich danke dir !" ent
„Herr , als ich ankam, war es schon vorbei !" antwortete der Pfarrer.
gegnete Andor leise und mit starrer Ruhe.
„
„ Ist sie leicht
Jlka, Jlka ! " Andor trat ans Fen-
Andor.
ſter und lehnte die Stirne an die feuchtbeschlagenen Scheiben .
Eine Weile hörte
man keinen anderen Laut als das Schluchzen von der Thüre her. Als er sich umwendete,
295 ,, schelten Sie sie nicht ins Grab
hinein! " unterbrach sie Andor . „ Es gab keine mildere und nachgiebigere Seele auf dieser Welt. Ein Engel war sie."
reichte er dem Pfarrer die Hand und den
„Und unter seine Engel wird Gott ſie
Druck im Kehlkopfe gewaltsam überwin-
aufnehmen," sprach der Pfarrer im Tone
dend, fragte er nicht ohne Vorwurf: „ Aber
wahrhafter, tiefer Rührung.
Ist
Auch seine Schwester verschloß sich dem
es denn gar so rasch gegangen ? Der Arzt in Wien sagte mir doch - es könne - So es werde alles noch gut werden. ist es gut geworden !" Er konnte nicht
Gefühle nicht. Sie war ja von Herzen wohlwollend und das Grollen ihr nur eine ge=
warum hat man mich nicht gerufen ?
weiter sprechen. während
Erst nach einer Pause,
schloß er : „ Wenn man sie nur vor schmerz haften Gemütsbewegungen bewahrte . doch
Es
nicht wieder ein neuer Zwischen-
fall vorgekommen, wie jener in der Trinkhalle ?
an der sie sich in ihrem
Schmerze unwillkürlich aufzuhelfen suchte. Jezt benahmen ihr die von neuem hervor-
er sich die nicht mehr zurückzu- | stürzenden Thränen fast die Sprache.
haltende Thräne aus dem Auge wischte,
ist
wohnte Stüße ,
Ich hätte sie nicht in Gleichenberg
lassen sollen!
Es war unbedacht von mir!
Wo ich sie solchen Affronten ausgesezt wußte und nicht mehr an ihrer Seite stand !" „Machen
Sie
sich
keine
Vorwürfe,
Baron ," unterbrach ihn Bertalan.
Sie
ist in Baden gestorben."
„Ob sie gut war !"
ächzte sie hände-
ringend . „ Nein , es gibt keine Seele auf der Welt, wie sie ! Es war ja auch nicht für sich, daß sie durchaus nach Baden wollte ! Und wenn sie nicht eine so milde , nachgiebige Seele gewesen wäre , hätte dieser elende Mensch , dieser gottvergessene freche Bursche sie nicht so weit gebracht , daß sie an ihm hing , wie an ihrer Mutter nicht, und daran zu Grunde ging, daß er sie verließ.
Er allein ist Schuld an ihrem Tode
und am gebrochenen Herzen ist sie gestorben.
"In Baden ? Wie ist sie dorthin gekom men ? Was haben Sie mit ihr gemacht ? Frau Molnár ?" Er hatte sich dabei unwillkürlich an die
Da mögen die Aerzte sagen, was sie wollen ; ich weiß es besser . auf einmal aus ,
Warum war es denn, als sie ihn wiederfah ?
Das war wie ein Schlag auf ihre schwache
Schluchzende gewendet. "„Was hätte ich thun sollen ?" ließ
Brust. "
diese sich vernehmen .
wiedergesehen ? Seinetwegen also ist sie nach
„Konnte ich sie fest
" Wovon sprachen Sie ? Jlka hat Jenö
halten ,
wenn sie um jeden Preis fort wollte? hat sie sich je etwas raten lassen ?
Baden gereist ? Hätte ich das gewußt, als ich ihn dort sah — — !"
Wie oft habe ich sie gescholten, daß sie nicht
,,Nein, Herr Baron ! Was denken Sie ? Sie wird ihm nachreisen ! O Gott im Him-
auf mich hören wollte !
Wie sollte ich erst
mit ihr aufkommen , als der Herr Baron so gnädig gewesen, sie zu seiner Braut zu erheben. Da konnte man vollends nicht mit
mel, wäre ich denn da mitgegangen ? Und sie selbst, wenn sie gewußt hätte , was ihr
ihr aufkommen . Sie war schon ganz große Dame, die alles nach ihrem Willen haben
wollte ja von ihm nichts mehr hören und hat ans Sterben auch nicht mehr gedacht .
muß . “
Noch auf der Fahrt hat sie zu mir gejagt :
bevorstand, wäre vielleicht nicht gereist. Sie
Robert Byr.
296
,Mutter, ich möchte doch noch gerne leben ! | lächelte ganz impertinent und ſagte : Nicht wahr , ich muß nicht sterben ?"
angenehme Ueberraschung !
Ich habe sie ausgezankt , wie sie nur so etwas denken kann .
Welch
oder so etwas .
So finden wir uns doch noch in dieſem
Der Herr Baron, habe
Hause !
Darf ich Ihnen vielleicht den Arm
ich ihr gesagt, würde schön böse sein, wenn
bieten!
Ich hätte ihn anspucken mögen und
er das hörte ! Und da war sie auch gleich
ich weiß auch nicht , was ich gesagt hätte. Schämen Sie sich !" mehr aber habe
ganz still.
O, für Sie hat sie soviel Ehr
furcht und Zuneigung gehabt . Das war ja auch ihre ganze Sorge , daß sie etwas
ich nicht herausgebracht, denn in demſelben
thun könne, um Ihnen alle Bekümmernis
da ich mich umsehe, liegt Jlka schon auf dem
zu ersparen.
Moment höre ich es rauschen neben mir und
Darum habe ich mir auch gar | Parkett. Im Anfang war ich der Meinung,
nicht Nein zu sagen getraut , als sie sich
sie sei ausgeglitten, aber da lief schon das
dieſe Reiſe in den Kopf ſezte.
helle Blut über ihren Mantel.
Es war doch
O Herr,
nur in Ihrem Interesse, Herr Baron . " In meinem?"
es war ein Anblick zum Erbarmen ! Wollte Gott, ich hätte für sie sterben können ! Sie
„ Gewiß! Keine Ruh und Rast hat sie mehr gehabt, als Sie mir so kurz und oben-
hätte es so schön gehabt im Leben!" Die arme Mutter versank nach einigen.
hin schrieben , daß Ihr Besuch bei Herrn
weiteren Schmerzergüſſen in ihr früheres Jhr Bruder konvulsivisches Schluchzen.
Adler mißglückt sei und eine Antwort auf
ihren Brief an seine Tochter ganz ausblieb, | mußte für sie das Wort ergreifen . ,", Es war ein Blutsturz, der sich noch einmal
denn sie hatte noch am Tage, bevor Sie uns
verließen, geschrieben, und nur nichts davon
ein paar Stunden später wiederholte und
gesagt. Am zweiten Tage kam immer noch nichts. Da war ihr Entschluß gefaßt, und
das Ende brachte. Ilka hat in Fräulein Adlers Armen den Geist aufgegeben. Meine
niemand in der Welt hätte sie aufgehalten,
Schwester war selbst wie gelähmt .
glaube ich .
Sie wollte selbst zu Fräulein
anderen Morgen hat sie mir Nachricht zu-
Zsuzsi und mit ihr sprechen ; wenn sie nur ernstlich etwas verlange , werde ihr Vater
gehen lassen und ich reiste sogleich ab . Auch an Sie wurde nach Wien telegraphiert . Sie
alles thun, meinte Jlka .
Erst am
Mit Mühe habe
müssen aber wohl schon abgereist geweſen
ich sie noch dazu gebracht, bis zum anderen
sein und Ihre Adresse war vermutlich nicht
Morgen zu warten . In aller Frühe sind wir
bekannt. "
aufgebrochen und
abends waren wir in
Baden. Nicht einmal bis zum nächsten Tage
„ So war alles , alles vergeblich !" mur: melte Andor dumpf.
Gleich mußten wir
„Ich habe gehört , was Sie an dem
in das Landhaus fahren, wo das Fräulein wohnt. Es war Gesellschaft da und man hat
armen Mädchen thun wollten , lieber Herr Baron
uns wie einen Beſuch in den Salon geführt. Da saßen mehrere Herren und Damen. Der
,,Nicht jest, nicht jetzt ! " unterbrach Andor
wollte sie es verschieben .
den Pfarrer flehentlich.
Er preßte deñen
erste aber, dem wir gegenüber stehen, ist kein | Hand zwiſchen den ſeinigen . anderer als Jenö Potyondi.
In die Erde
hätte er sich verkriechen müssen , wenn er mur eine Spur von Gewissen in seiner Seele trüge.
Statt dessen starrte er uns
an,
„ Es ist ja nun
doch alles vorbei und jedes Wort klingt wie ein Hohn der Hölle .“ Oh , nicht so müssen Sie sprechen," mahnte Bertalan mit schmerzlichem Kopf-
Andor.
schütteln . „ Sagen Sie, Herr, Gott hat es nicht gewollt." „Warum nicht ?" fragte Andor mit einem Lächeln voll unbeschreiblicher Bitterkeit , er
297
Wenn ich hier noch welche zu geben habe," sagte er herbe,
so möchte ich Sie
auffordern, den Herrn Pfarrer zu begleiten.
sah dem Pfarrer fest ins Auge und wendete
Ihrer Ratschläge werde ich wohl nicht mehr bedürfen. "
sich, als derselbe ergeben das Haupt senkte,
Das gab einen weit milderen Abschied, Er war
achselzuckend um.
als der Verwalter gefürchtet hatte .
Ehe er noch ein weiteres Wort sprach, trat Potyondi durch die vom Kammerdiener
gegen alle Vorwürfe gewappnet geweſen, nun war es die unerwartete Milde, welche
geöffnete Thür.
Sein Gesicht war sehr ge-
ihn wie das schlimmste Wort des Zornes Es regte sich faſt
rötet , ſein Blick sehr unsicher , und seine
und der Verachtung traf.
ganze Haltung verriet die Verlegenheit, welche
etwas wie Reue in dieſes ungetreuen Man-
Andor jedoch in seiner gegenwärtigen Stim-
nes Brust und er zögerte, als ob er noch
mung nicht bemerkte. Er achtete ebensowenig auf dessen Worte.
etwas zu sagen wünſche. Andor aber hatte ihm den Rücken gekehrt und sich auf den
Der Verwalter entschuldigte sich des
Stuhl vor seinem Schreibtisch geworfen. Er achtete nicht mehr auf den sich langſam
Wagens wegen .
Er sprach etwas über die
Pfandſchuld und die Berechtigung der Gläu- | Entfernenden. biger , bei Verschleppungsgefahr oder wie Ein unjäglich bitteres Gefühl der Verman das nenne, auf das bewegliche Mobiliar
nichtung war über ihn Herr geworden.
Beſchlag zu legen , worauf sich die Leute
brach denn alles zuſammen, wie von einem
beriefen, die im Auftrage Mandls plöglich erschienen seien.
einzigen Wetterschlage zerschmettert, der sich auf seinem launischen Zickzackweg in ein
Aber
an Andor's Chren
So
gingen die
ganzes verheerendes Bündel gespalten zu
Worte vorüber, wie vorhin, als er die Halle
haben schien und dort und dahin traf und
durchschritt , verſchiedene fremde abstoßend
alles in einen Aſchenhaufen verwandelte.
charakteristische Physiognomieen an seinen
Seiner Habe, seines Namens, ſeines Stol-
Augen vorüber gegangen waren .
Er faßte
zes beraubt und nun auch noch des Mädchens ,
wohl die Bedeutung , was aber gingen sie ihn an? Er stand herausgehoben aus seiner
das er geliebt und glücklich zu machen gehofft . Womit?
Umgebung , wie man im Traum zuweilen an sich selbst vorüber schreitet.
von all dem , was er Ilka zugesagt ?
Und jetzt, wenn Sie nichts dagegen
Was hätte er noch zu bieten gehabt
war
die glänzende Zukunft ,
zu der
Wo er
haben, erlauben Sie, daß wir nach Hause gehen," sagte Pfarrer Bertalan . „Wir sind
sie zu erheben gemeint ? Wo der Schuß, den er in seiner Stellung ihr angedeihen
müde von der Reiſe, erschöpft, hungrig und müssen ausruhen. Sie werden ja auch Ge-
lassen wollte ? Würde er denn nun ſelbſt im stande sein, den Hohn und die zischende
schäfte haben. "
Verleumdung, die sich bald genug auf seine
Die glücklichen Leute, fie fühlten Hunger und Müdigkeit. Mit einer Mischung von
Spuren werfen würden , abzuwehren und zum Schweigen zu bringen ? Der Gestürzte
Mitleid und Neid reichte ihnen Andor die Hand.
nicht sorgen, das ihm ſein Unglück als ge-
Potyondi fragte ihn nach ſeinen Befehlen .
darf hinterher um ein Verdammungsurteil
rechte , ſelbſtverſchuldete Strafe
nachweiſt .
Robert Byr.
298
An sich selbst nur wissen die Menschen alles
das Schicksal alles, gleichviel ob es ein blin-
zu verteidigen und tauſendfach erlittene Unbill festzustellen, andern geschieht immer recht.
des, ob es ein ſehendes iſt ? „Es will mich nicht mehr dulden an meinem alten Plaze, mit schweren Geißel-
„D , du armes , gutes Kind ! " es sich aus seiner zerrissenen Brust.
hieben treibt es mich von dannen . Fort denn ! fort aus diesem Kreise des Verder =
rang „ Du
thatest wohl daran, zu sterben ! Mich aber
bens !
Was ist er mir noch, daß ich mich
läßt du hier einsam zurück —- einsam und | wehren sollte , ihn zu verlassen ? Welches zwecklos . “ Gut habe ich zu verteidigen ? Keines . Auch Leer und des Lebens unwert war die
selbst das Leben ist
keiner Regung eines
Welt. Selbst der Schmerz um die Tote durfte ihm nicht rein bleiben und ward
Fingers wert!"
durch die Erinnerung getrübt und mit leiser
furchtbarsten Seelenverödung sah Andor auf
In diesem lethargischen Zustande der
Bitterkeit versett, denn all ſeine Bemühungen
den eintretenden Adler , wie man sich die
waren erfolglos geblieben , das Bild eines
Figur aus einem Schattenspiele betrachtet .
Unwürdigen, den sie selbst als solchen erkannt,
Behaglich glitt derselbe über die Schwelle.
ganz aus ihrem Herzen zu verdrängen ; dies | Zwischen den wulstigen Lippen die brennende Herz, das sich dem liebevollſten Werben nicht erschlossen hatte, war gebrochen um ihn, an dem es hing troß allem und allem. Jener
Zigarre, in der Hand die dampfende Kaffeetasse, kam er vom fröhlichen Mahle. "„Warum sind Sie denn nicht zu Tische
hatte es besessen, immerdar und ausschließ
gekommen, lieber Beledényi ?
lich und der ganze Plan, die Gekränkte und Verratene emporzuführen zur Genesung und
Wir hätten
noch ein Glas Wein miteinander trinken Ausgezeichneter alter Erlauer, das
können.
zum Glück einer in edlem Gleichmaß ruhen- | muß man Ihnen lassen ! “ den Lebensaufgabe , mußte auch ohne das Man konnte nicht leicht jovialer über alles in Trümmer rüttelnde Erbeben an die Verstimmung hinweggehen, in welcher der einen irrigen Vorausseßung scheitern ; dies schwache Wesen war nur in einem starf : in der Liebe, von der es getötet wurde. Wie nichtig erschien Andor alles , was
man sich bei der letzten Begegnung getrennt. Der Sieger kann großmütig vergeben, und warum soll der Löwe nicht gutmütig sein und sich versöhnlich und herablaſſend zeigen?
er gedacht und vorgehabt ! Auch seine innere
Vorsichtig stellte Adler die Tasse auf dem
Welt war in Zerfall , gleich der äußeren,
kleinen Tischchen vor dem Balzac ab und
in der er stand, doch sah er sich nicht jam- | warf sich bequem auf denselben . Warum mernd in den Ruinen um , nur ein tiefer auch nicht, er war ja hier schon so gut unbesiegbarer Widerwille gegen den Wieder-
wie zu Hause.
aufbau erfaßte ihn. Für wen ? Aus dieser Wie Frage wächst keine Schaffenslust .
er sich ganz nach Wunsch eingerichtet .
thöricht waren diejenigen , welche den unver-
Sie sich überzeugt , daß es nicht so ohne
droſſenen ausdauernden Kampf gegen alle
weiteres Geld regnet, wenn man nur das
„ Nun, wie steht's ?" begann er, sobald Haben
feindlichen Mächte dem Menſchen zur Pflicht | Schaff unter die Dachrinne stellt ? Und machen wollten ! - Wozu ? - Ist Kämpfen sehen Sie jezt ein , daß ich es gut mit und Ringen überhaupt ein Faktor in der Entwickelung der Dinge , oder thut darin
Ihnen meine ? Bin ich doch eigens Ihretwegen hierher gereist , denn Sie thun mir
Andor.
299
leid , wahrhaftig, Sie thun mir leid, schon um der alten Freundschaft willen. Ich Ich
Sie noch und sollen lange leben, ich vergönne
habe Sie ja aufwachſen ſehen, wie Sie noch
es Ihnen von Herzen.
alles anderen hinterlassen.
Freilich leben
Da ist es denn hart,
ſo ganz klein waren, und gönne Ihnen nichts | sich von allem zu trennen, woran man geSchlimmes, - auf Ehre nicht !" wöhnt ist, und was man immer mit Liebe Wohl war dieser Ton für Andor ganz
um sich gesehen hat, Haus und Stall, den
neu ; noch nie hatte Adler oder irgend ein
Schreibtiſch und die Jagdgewehre, sogar die
Menſch ſo zu ihm gesprochen, dennoch regte sich die Entrüstung nur matt in ihm und fand nicht einmal Ausdruck. Sein Auge
Bilder der Frau Gräfin Mutter und des Herrn Papas ." Andor wandte sich plößlich um.
Aber
streifte Adler kaum und blickte dann wieder
nur ein einziger Bliß zuckte
hinaus auf die alte Baumgruppe, die der
Augen, die dann rasch über die Bilder hin-
Sturm der lezten Nacht entblättert hatte. Als Kind hatte er unter ihrem Schatten
flogen.
gespielt, als Jüngling sich ihrer Schönheit gefreut, für welche ihn die feinnachbil-
Gestalten traf und ihnen dann beinahe ſcheu auswich, um eine Sekunde lang auf der
dende Lehre der Mutter den künstlerischen
dritten zu ruhen.
aus seinen
Es war ein schmerzlicher vorwurfs-
voller Blick , der die beiden hohen schönen
Blick wie den Natursinn erschlossen , jezt
Ja , nicht nur seine Züge unterschieden
ſtanden sie laublos da, die kräftigen Ulmen,
ihn von diesem Manne, dessen er so lange
einer der stärksten Aeste lag abgebrochen auf der Erde. Ein Sinnbild , in dem er sich
als seines
selbst zu erkennen meinte.
schen dieses Schlages umgesprungen, der es
nie gesehenen Vaters
gedacht .
Wie wäre der wohl mit einem frechen Men-
einem
nicht einmal der Mühe wert hielt, die Maske
Schluck aus der Tasse und einem Zuge
festzuhalten , die er sich bei seinem vorge-
aus seiner Zigarre lebhaft fort : „ Sie sind verstimmt, — läßt sich denken,
schobenen schmußigen Kompagnon entlehnt ?
und wohl auch ungehalten, daß der Wagen Sie nicht von der Bahn geholt . Aber Sie
Ungarlande gezaudert hätte, gegen denselben
Indessen
fuhr
Adler
zwischen
müssen nur ein Einsehen haben.
Man kann
die theuern Equipagen doch nicht so ruinieren laſſen , bei dieſem Schandwetter noch dazu
Ob noch ein Mann im ganzen weiten
sein, wenn gleich schon verfallenes Hausrecht zu üben? Finster lächelte Andor vor sich hin.
Das was ihn so kalt bleiben ließ und
ihn hinderte , den wackeren Lißló herbeizu-
- und wie leicht geschieht den Pferden ein | rufen, was den gewaltthätigen Zorn in paſdas beUnglück ! Gleich verliert man eines . Wäre sive Verachtung wandelte, war doch Schade , wo es niemand erseßt . Ja, sehen Sie, Verehrtester, ich begreife, daß es
dächtige deutsche Blut in seinen Adern. Adler hatte sich bei Andor's rascher Be-
Ihnen sonderbar vorkömmt, wenn Sie sich
wegung erschrocken aus seiner bequem nach-
dies oder das versagen sollen . Es muß recht beengend sein, sich dort beschränkt zu
lässigen Lage aufgerichtet . Er fürchtete, doch zu weit gegangen zu sein.
sehen , wo man so lange in seinem Eigentum gehaust , aber das ist nun einmal so
läßt," suchte er zu beschwichtigen und ver=
in der Welt, es geht alles aus einer Hand in die andere. Sie brauchen ja nur zu denken,
sprach , einzelne Inventarstücke auszuscheiden. Erst als er sah, daß ihm das
Sie wären gestorben, da müſſen Sie auch
schlimme Schicksal, welches ihm wie in einer
„Wir wollen ja ſehen, was sich thun
Robert Byr.
300
Viſion einen Moment lang vorgeſchwebt,
"I Wollen
Sie
jeden
Vergleich
unter-
doch nicht drohe, kam er in neugewonnener
laſſen ," sagte er.
Sicherheit auf das eigentliche Ziel seiner
Freundin meiner Braut gewesen , sie hat
einleitenden Rede.
ihr Liebes erwieſen bis zum Tode , ich möchte daher mit keinem Worte, das sie
thut mir weh ,
„ Glauben Sie mir , es Sie
aus Ihrem Eigen
tum verdrängt zu sehen , gerade Sie.
Es
„ Ihre Tochter ist eine
treffen könnte, das von Ihnen Gesagte er-
paßt alles so gut zu einander, Baron Bele-
widern .
dényi zu Löke und Löke zu Baron Beledényi .
ihr Dankbarkeit schulde.“ ja und wenn Sie erst Dankbarkeit,
Lassen
Sie
reden.
Sagen Sie, vielleicht haben Sie sich
uns
vernünftig
doch anders besonnen !
miteinander
Wollen Sie nicht
doch noch mein Schwiegersohn werden ?" „Sie kennen meine Meinung bereits," entgegnete Andor gleichgültig. ,,Bah, eine Meinung kann man ändern, das ist keine Schande,“ beſtand Adler auf seiner Idee. „ Ich habe die meine auch
Ich will nicht vergessen , daß ich
wüßten ! Ach , mein Gott, wenn ich nur reden ! Dankbarkeit, du lieber reden dürfte dürfte Himmel, was macht man mit der Dankbarkeit ? Sehen Sie , das ist eine große Banknote , die im Kasten liegt und keine Interessen trägt ; braucht man sie, muß man sie doch wechseln lassen.
Ist es nicht hun-
dertmal besser , man legt sein Kapital ge=
winnbringend an ? Kommen Sie, laſſen Sie geändert. Zuerst hab ich mir gedacht : , Gut, willst du nicht, ich will auch nicht ; zwei- | sehen, ob die Banknote echt ist. Tauſchen wir sie um. Nehmen Sie Liebe dafür und mal fädle ich nicht ein ! Dann hat sich mein Zorn doch gelegt , wie ich meine Tochter sah. Gott, hätten Sie ſie geſehen ! Krämpfe hat sie gekriegt vor Jammer, daß Sie mein
ich zahle noch Aufgeld . " „Ich verkaufe mich nicht," sagte Andor, in dem der Unwille doch wieder die Ober-
mächtiger Gott, als ob die Menschen zu-
hand gewann. Aufgeregt schob Adler die Hände in die Taschen seiner Beinkleider und blies eine
ſammenkämen , wenn niemand den Mund
Rauchwolke über die zwischen den Zähnen
aufthäte. Ist es doch keine Schande in den allerersten Familien und wir wissen ja, wie
festgehaltene Zigarre hinweg. Nu, auch recht ! Wenn Sie lieber bet-
die Heiraten sogar bei den allerhöchsten Herrschaften vermittelt werden. Soll ich meine Tochter lieber weinen und sich ver=
teln gehen wollen als Löke zur Ausſteuer wird sich ein anderer Liebnehmen, so haber dafür finden , “
zehren sehen ?
Brutalität, die Andor denn doch das kochende
gutes Wort so schlimm aufgenommen und vor Scham , daß ich es gesprochen. All-
Ich rede lieber zum zweiten
rief er
mit einer
mal. Wir haben ja seitdem gehört , daß Sie damals schon verlobt waren. Nu, sehen
Blut in die Schläfe trieb. „Behalten Sie es," entgegnete er mit
Sie, das ist recht ehrenhaft von Ihnen gewesen , daß Sie Ihre Braut nicht sizen
einschneidendem Nachdrucke, „ durch die Art dieses Erwerbes haben Sie sich der Ver-
laſſen wollten , jezt ist ja aber doch alles anders und Sie sind frei. Und erlauben Sie mir die Bemerkung, meine Tochter ist
meinigen." „Hoho!" rief Adler mit cynischem Hohn,
doch eine ganz andere Partie , wenn ich auch nichts Schlimmes sagen will von — “
indem er aufsprang , aber doch vorsichtig hinter dem Tischchen stehen blieb. „Was
Andor schnitt ihm alles Weitere scharf ab.
achtung der Welt preisgegeben , wie der
werd'
ich mir
machen
aus Ihrer Ver=
Andor.
301
Und der Welt wollen Sie mich
Schreiben , das wie die trockenste geſchäft-
preisgeben ? Sie wird nicht so dumm sein,
liche Mitteilung begann und nur wenige
mich zu verachten. Ich habe Geld ! In der Welt wird nur verachtet, wer keins hat . -
Zeilen enthielt. „Anliegend empfängst du eine An=
Ich bin hier und
weisung auf fünfundsechzigtausend Gulden
achtung?
Was wollen Sie thun ?
niemand hat das Recht , mich hinaus
an mein Bankhaus und den Rest der
Er beendete den ihm von seiner eigenen Furcht eingeflüsterten Proteſt nicht, da auf das Glockenzeichen Andor's , der gar nicht auf ihn hörte und sich voll Ekel abgewendet hatte, der Kammerdiener erschien. Es mußte derselbe bereits auf dem Wege gewesen sein . „Ist der Wagen von Bukraház
noch
hier?" fragte sein Herr , und Adler , der bereits eine Defensivstellung ins Auge gefaßt hatte, fühlte einen Stein von seinem Herzen genommen . Auf Andor's Befehl, der Kutscher habe sich fertig zu machen, er wolle sogleich zurückkehren, erstattete der Kammerdiener die
benötigten Summe in Obligationen, die nach dem Tageskurse berechnet sind . "Ich habe mich zu diesem Opfer in anbetracht der Familienehre entſchloſſen, unter der Bedingung jedoch , daß du derselben ebenfalls mit der gleichen Opferwilligkeit eingedenk ſeiſt. ,,Durch Viktorine wurde mir nach deiner Abreise dein Vorhaben, eine Mesalliance zu schließen, mitgeteilt . Ich glaube erwarten zu dürfen , daß dieselbe nunmehr nicht stattfinden wird. Mit dem Namen vererbt sich auch die Pflicht. Rápolt Graf Beledényi . “ Viktorine!
Meldung, daß soeben der Leibjäger von
Es war , wie wenn der Klang dieses
Beledvár angekommen sei , mit einer Bot-
Namens des Lesers leibliches Ohr getroffen
schaft, die er persönlich zu bestellen habe. Mit Befremden befahl Andor ihn herein=
hätte , so übertönte er im ersten Augenblicke jedes andere Wort. Andor verjank
zuführen. Was konnte von Rápolt kommen ?
in tiefes
Es war ein ziemlich umfangreiches Paket,
Nachdenken.
Das Bild seiner
Schwester stand vor ihm . Er hörte sie traurig Ein schwarzer
das der Jäger aus dem ſorglich verschlosse
sagen : „Ich sehe sie nicht.
nen Täschchen holte, welches er über die Schulter gehängt trug . Er bat ausdrücklich,
Flor hängt davor !" Hatte sie das zweite Gesicht und ihm
das Siegel zu besehen und ihm die Unversehrtheit desselben zu bestätigen.
ihre Liebe zu
Jlka's Tod angekündigt ? Oder ahnte nur dem Bruder den schweren
Andor warf nur einen Blick auf den
Kampf, der ihm bevorstand ? Der Trauer-
durch das Schwert gespaltenen Halbmond und riß den Umschlag auf und ihm war,
schleier war herabgeſunken über eine Leiche, aber wäre die Vorhersagung nicht auch in
als zerbreche er mit diesem Wappen seine
Erfüllung gegangen, wenn Jlka am Leben geblieben ? Ward nicht hier noch die Ent-
ganze Vergangenheit.
Ein zweites Paket
lag darin und obenauf ein einfach gebrochener Brief. Als Andor denselben öffnete, fiel ſein Auge zuerst auf ein loses Blatt Papier. Es war ein von Rápolt ausgefüllter Check. Er schob denselben beiseite und las das
scheidung zwischen Armut und Entſagung gefordert? Doch nein, keine Wahl wurde ihm freigestellt. Ihrer wäre er nunmehr durch den Eingriff des Schicksals enthoben gewesen. Die Zumutung trat mit der Gewalt des 39
Robert Byr. 302 Zwanges an ihn heran, der er sich jederzeit | Stiche gelassen wird. widerſegt haben würde, und der er sich auch
Und wenn Mandl aber
auf mich hätte hören wollen ,
heute nicht beugen konnte, wenn gleich das
er wird sich auch jezt mit einer Abſchlags-
Wort erloschen war, dessen Bruch man als
zahlung begnügen. Ich werde gewiß mein Möglichstes thun, wenn Sie mich auch tief
Tauschobjekt von ihm verlangte . Alles was sich noch an Troß und verlegtem Stolz in seiner niedergedrückten, zerrissenen, schmerz-
gekränkt haben. Man wird eben hißig, wenn man sich so verkannt sieht . Was habe .
haft zuckenden Seele fand, bäumte sich da- | ich verschuldet ? Nichts als einen Vorschlag gegen auf. zur Güte, und den wird man ja doch noch machen dürfen. " Was begehrte die schroffe Mahnung in des Bruders Brief?
Rücksicht für die -
Statt weiter fortzufahren , brach Adler plöglich mit einem Aufschrei ab.
Lüge!
Welche Forderung an einen, dem die Ein Welt ein Trümmerfeld geworden !
der Hand genommen und riß ihn durch.
einziger kurzer Laut wie ganz leises Lachen verriet das Uebermaß der Qual.
fah Adler auf ihn.
Mochte hier und dort noch einen Balken, einen Pfeiler stüßen, wem vor dem Ende
Andor hatte ihm den Check langsam aus
Entsest wie auf einen Wahnsinnigen Er aber sagte mit der
grauenhaften Ruhe eines Menschen, der mit
Für ein erstarrtes Herz hat der
dem Leben abgeschlossen : ,,Sie sind doch wohl da, um die Möbel
Zusammenbruch des Alls keinen Schrecken übrig.
hier zu bewachen . Gestatten Sie mir, daß ich noch ein Blatt Papier und einen Tropfen
graute.
Als Andor sein Haupt erhob , da traf
Tinte verschwende."
ſein Blick auf Adler, mit dem in der Zwiſchen-
Dem Jäger aber gab er die Weisung,
zeit eine große Veränderung vorgegangen
daß er die Sendung wieder mitzunehmen
war. Die Neugierde hatte ihn nicht ruhen | habe. lassen. laſſen.
Mit dem Kammerdiener zugleich war
Zu dem Pakete mit den Obligationen
er auf das zur Erde flatternde Blatt Papier zugestürzt. Mit einem einzigen Kennerblick hatte er die Kostbarkeit desselben erkannt.
legte er den zerrissenen Check, dann nahm er die Feder und schrieb:
Aber nicht das Mißvergnügen des um den größeren
Gewinn gekommenen
Geschäfts-
manns, ſondern nur die Höflichkeit desjenigen,
,,Der Preis für die Wahrung der Familienehre entfällt. Es gibt außer keinen Beledényi mehr. " Dir (Ende des zweiten Buches. )
der sich noch mit dem Geringeren tröstet, zeigte sich in seiner Miene .
„Mit Erlaubnis !
Der Herr
Baron
haben da ein Zettelchen verloren," sagte er, den Check überreichend.
an.
Drittes Buch. I.
Dumpf brauste das Meer . Es wälzte Andor sah ihn mit eisiger Verachtung Er erkannte recht wohl die Verände- | sich unruhig zwischen den Kreidewänden
rung des Tones und die Ursache derselben . „Wie nun ?" fragte er.
„ Ich habe nie gezweifelt, daß der Herr Baron von den Herren Brüdern nicht im
seines engen Bettes, tief aufgeregt von einem jener häufigen Stürme , die den Kanal durchwühlen , und seine Wasser von unten emporzupeitschen scheinen , während über
Andor.
303
denselben beinahe keine heftige Zunahme | Wache verging , mußte dieſe doch zu Ende des Windes wahrzunehmen ist. gehalten werden und dauerte gerade so Auch dies war eine solche für die Land- lang, nicht eine Minute länger oder kürzer,
bewohner verhältnismäßig ruhige Nacht und
ob das
kaum einer der vielen Badegäste , die trot des raſchen blendenden Aufſchwungs jüngerer
Und nun diese vorwurfsvolle Mahnung,
Schiff früher oder später
kam.
als ob sie eine Verpflichtung für die pünkt-
Rivalinnen dem alten Rufe des pikardischen | liche Einhaltung der Ankunftsſtunde hätten. Strandes treu geblieben, dürfte durch das Nur der Postbeamte fühlte einiges VerGetöse der empörten Wogen im Schlafe gestört worden sein. Die Stadt war still still und selbst an dem breiten Hafenquai von
ständnis für die Unruhe des kleinen Herrn,
Boulogne war alles stumm und leer , obwohl schon ein mattgraues Licht im Osten
feiner Hut und eleganter Paletot ihm Re-
den Anbruch des Augustmorgens verkündete
Franzosen übernahm er es , eine tröstende
und das Paketboot von Folkestone bereits seit Stunden fällig war.
Entschuldigung für das lange Ausbleiben des Bootes zu bieten.
Ein paar
Douaniers ,
die mit
dem
den er schon wiederholt den Kai entlang auf und ab wandeln gesehen und dessen
spekt
einflößte.
„ Es
Mit der Höflichkeit des
wird schwer gewesen sein,
das
Kondukteur des Poſtamtes plauderten, der Kutscher, der auf seinem Bocke längst wie-
Kap Griz-nez zu doublieren ,
der eingenicht war, wie seine müden Gäule, die tief in den Wiederhalten hingen, waren
spätung ab, doch wird es nicht lange mehr
die einzigen lebenden Wesen , nichts von jenem Gedränge konkurrierender Hotelhaus
haben, dem Schiffe ist gewiß nichts zuge-
mein Herr.
Bei solchem Wetter geht es nie ohne Ver-
währen.
Monsieur darf keine Besorgnisse
stoßen, aber Sie können wohl ein ange=
knechte, Agenten und Packträger , das genehmes Wiedersehen nicht erwarten , daß wöhnlich den Anlandeplaß der Dampfschiffe | Sie sich die Morgenruhe abkürzten ?“ Statt einer Antwort murmelte der so mit seinem regen Durcheinander erfüllt . Das Nachtboot wird eben nur wenig, außer von Handlungsreiſenden und ſolchen Leuten benugt, die Eile haben und gerade nur bis zum Pariser Morgenzug verweilen. Das
zog den aufgeschlagenen Kragen höher über die Ohren und versenkte die Hände wieder
weiß die Schar der Freibeuter auf dem
fröstelnd in die Taſchen seines ſommerlich
Touristenwege gar wohl und bleibt ruhig in den warmen Kiſſen. Solch kleines eilfertiges Volk, an dem nichts zu verdienen ist, mag
leichten Ueberrocks . Im Davontrippeln ent-
selbst zusehen, wie es unterkommt ; auch nicht die erbärmlichste Kneipe hält für sie
"I Pardieu , er hat Eile ! kommt an. "
auf Kap Griz - nez zwischen den Zähnen,
gingen ihm die Aeußerungen der Douaniers, die sich auf seine Kosten lustig machten. seine Braut
„Nicht doch, sein Vetter aus Kalifornien.
offen. Ungeduldig sahen die Douaniers auf, als ein neuer Genosse zu ihnen trat und im Scheine der Laterne auf seine Uhr wies . Es ist vier Uhr vorüber!" Was ging das sie an ?
neugierig Ausgeforschte nur einen Fluch
Es lag auch im
Wenn der mit all seinen Schäßen unterginge !" „Im ,, Im
Gegenteile.
Im Gegenteile , es
ist die Schwiegermutter und er kann die Nachricht nicht erwarten, daß sie glücklich bei Griz-nez gescheitert sind, sonst hätte er
Grunde wenig daran , wie die Zeit ihrer | sein Bett nicht so früh verlaſſen. “
Robert Byr.
304
,, weh, seine Hoffnungen sind ge= täuscht! Hier sind wir." Dies:
Enfin , nous voilà ! "
entglitt
auch wie ein Stoßseufzer der Erlösung den Lippen dessen, der unbewußt Zielpunkt dieser
aber beachtete die Warnung nicht wiederholte nur sein gerührtes :
und
" O que je suis charmé, Andor, mon fils !" Die Douaniers nickten sich mit zwin-
Scherze gewesen , als er die dunkle Masse des Ungetüms an den Leuchttürmen vorüber
kerndem Auge zu : „ " Es ist sein Sohn.
und dann deſſen feurige Augen in dem schmalen Kanal zwischen den beiden Däm-
sagt ! “
men näher gleiten ſah.
szene ein Ziel gesteckt und das Passagehin-
Was habe ich ge-
Endlich wurde aber doch der Begrüßungs-
Noch ein Pfiff und das Paketboot lag
dernis , das die übrigen vom Betreten der
am Kai, doch ziemlich tief unterhalb seines
Landungsbrücke abhielt, beseitigt, was aber
Niveaus , da die Ebbe bereits eingetreten war.
den zahlreichen Fragen nach der Fahrt, der Gesundheit, den Erlebnissen jenseits des
Der kleine Herr war rasch herbeigeeilt
Ozeans und den immer wieder erneuten
und beugte sich nun , auf die Gefahr ins | Freudenausbrüchen des kleinen quecksilbernen Wasser zu fallen , weit vor , um beim Mannes , der den Angekommenen beim schwachen Schein einer Handlaterne , mit
Scheine der einzigen Laterne in das Revi-
welcher ein Matroſe zwiſchen den wenigen Gestalten am Bord umherleuchtete, die An-
sionsbüreau der Douane begleitete , keineswegs Abbruch that.
kommenden zu mustern .
Und thatsächlich war es der Stolz und
Er fand denn auch, was er suchte, mit
das Glück eines Vaters , der seinen ge-
einem kleinen Luftsprunge, der ihn beinahe
liebten Sohn von weiter gefährlicher Reiſe
über den Hafenrand hinab beförderte, ſchwenkte er seinen Hut , unbekümmert darum , daß er in dieser halben Finsternis ja kaum be-
was sich in so lebhafter Weise äußerte, wenn auch das die beiden verbindende Ver-
merkt werden konnte .
hältnis in Wirklichkeit kein so nahes war.
Dann flog er auf
gesund und wohlbehalten zurückkehren ſieht,
die eben erst gelegte Brücke , von der ihn
Aber selbst seinem eigenen Kinde , das er
selbst die
energiſchen Einwendungen der
zu seinem Schmerze nicht besaß , hätte der
Douaniers nicht zurückzuhalten vermochten
einstige Erzieher nicht mit größerer Innig-
und warf sich mitten auf derselben in die
feit zugethan sein können, als dem Zöglinge von ehedem, den er vor allen ins Herz ge-
Arme eines großen, dicht in seinen Mantel
gehüllten Mannes, dem er die beiden Wan- | schloſſen. ,,Wie ich es angestellt, dich hier abzu-
gen samt dem Paletotkragen zum Kuſſe bot,
ehe der Ueberraschte noch Zeit gefunden, sich des unvorhergesehenen Ueberfalls zu
fangen ?" plauderte er vergnügt , während
erwehren , der ihm beinahe das juchtene
du, mein Sohn, ganz einfach, ohne Hererei .
das Gepäck herbeigeſchafft wurde .
„ Siehst
Handköfferchen kostete , das er in eigener
Nachmittags bringe ich deine Depesche Herrn
Obhut zu behalten vorgezogen hatte. „Hélas , Duchard ! Nehmen Sie sich
d'Evert. de
Vortrefflich ' , sagt er,, Monsieur
Rainald
in
Southampton
gelandet ;
Sie werden gleich unermeßliches
alles in Ordnung ; will das Nachtschiff be-
Unheil anrichten ! “ wehrte er halb lachend, halb erschrocken den Ungestümen ab, dieser
nußen, um seine Heimkehr zu beſchleunigen . Er hat unserem Hause einen Dienst ge-
in acht !
Andor.
leistet , wir wollen erkenntlich sein.
305
sieur Duchard, gehen Sie ihm nach Bou-
Meer betrachten, oder mit den kleinen Spitzbuben Gruben schaufeln. Es ist schade,
logne entgegen. Bereiten Sie einen fürstlichen Empfang. Alle Ehren , die einem
daß die Saison der Auſtern vorüber ist, aber sie können dieselben da drüben in
durchreisenden Prinzen
ihrem Parke wenigstens in ihrem Familien-
Mon-
gebühren .'
Was
ſagen Sie dazu ? Es fehlt nicht weniger | leben beobachten. Sie geben ein Buch als alles . Ich wollte Ihnen durch die heraus : Ueber die Gefühlsstatiſtik der Austern'
und werden ein großer Natur-
Strandbatterieen ſalutieren laſſen, der Herr Kommandant aber beſchwor mich, die kost-
forscher oder Nationalökonom .
bare Ruhe der ihm anvertrauten Badegäste
ja alles , wenn Sie wollen. "
nicht zu stören.
Sie würden ungehalten sein, wenn Sie erführen , daß wir Ihr Fräulein Schwester geweckt. Ich fügte mich, aber meinerseits wenigstens bezog ich den Posten.
Seit Mitternacht , nach Ankunft
,,Ah, Sie scherzen, Duchard .
seine Flotte zum Einbruche in England hier ausrüſtete . “ „Nun gut, ich sehe, man kann Ihnen nichts verhehlen . "
und erwarte den Moment, unter die Waffen
lebhafte Augen
zu rufen.
Gutmütigkeit.
und Aufregung doch versäumt .
Nehmen
Ja , wenn
wir noch in der Zeit lebten, wo Napoleon
des Expreßzuges stehe ich hier Schildwache
Nun habe ich es in der Freude
Sie können
Des kleinen Mannes
funkelten in schelmischer Sie sollen hier in der That
Eroberungen machen.
Frau von Dréſillon
Ich wenigstens
ist hier."
Es konnte mir
vergesse , diese Eroberung ist ja eigentlich
in der That keine größere Ehre bereitet werden, als daß mir sofort beim Betreten
schon gemacht .“ ,,Und wenn Sie weiter feine Gründe
dieses gastfreundlichen Bodens gegönnt ist,
für mein Hierbleiben haben, so werde ich
Ihre Hand zu drücken. Aber warum machten Sie sich die Mühe, mir entgegenzufahren?
Sie begleiten." „Graujamer! "
in wenigen Stunden wäre ich in Paris
Dame genügt Ihnen nicht ?
Sie jest mit mir vorlieb. bin da. "
andern ernſtem Kopfschütteln fort:
„Mein braver Freund !
gewesen. " „Das
Lachend fuhr er jedoch bei des
eben sollte vermieden
werden.
„Ich
Also der Wunsch einer
Und doch weiß ich eine Aufgabe, die Sie hier feſſeln wird . Sie wollen einer Dame nicht den Hof
Wer den Ozean hinter sich hat, besigt be
machen , nun gut , spielen Sie bei einer
gründete Anſprüche sich auszuruhen.
Dame den Krankenpfleger. “
Die
nötigen Lorbeeren zur Unterlage haben Sie ja mitgebracht.
Eine kleine Pause von ein,
zwei Wochen wird Ihnen entschieden gut thut. Sie übergeben mir die kostbaren
„ Ist Frau von Drésillon nicht wohl ? Es thäte mir leið . “ Der kühle Ton des Bedauerns entsprang
keinesfalls einem tieferen Gefühle, als dem
Früchte Ihres Ausflugs und haben dann
ruhigen Wohlwollens
volle Muße in aller Sorglosigkeit in Boulogne zu bleiben."
einen Ausruf freudigſter Ueberraſchung über, als Duchard , der sich durch die kleinen
„Ich in Boulogne ? hier machen ?"
„Baden, auf den Jetée flanieren, Boot-
Neckereien nur ſelber auf die Folter spannte, nicht länger an sich zu halten vermochte und verriet , daß der Name jener kranken
fahrten machen, im Sande liegen und das
Dame nicht ,,Noëmi“,sondern „ Viktorine “ sei.
Und was soll ich
und ging rasch in
Robert Byr.
306 „Ja, Mademoiselle Viktorine Schwester
Ihre
sie selbst !" platte er nun her-
sorge
im
London
and Folkestonehotel
Die Weise, wie er dabei von einem
ein Zimmer beſtellt, ſogar ein kleines Feuer brannte im Kamin und der Theekessel
Fuße auf den anderen hüpfte, in die Hände
summte auf einem Tischchen vor demselben.
schlug und einen seltsam krähenden Ton
Er konnte es so bequem haben hier im warmen Zimmer, im weichen Lehnstuhle
aus .
ausstieß , zeigte deutlich, welch ungemeine Freude er empfand.
selbst
Wo ist sie!
bei
dieser
Mitteilung
O führen Sie mich zu
das Schiff zu erwarten , wenn ihn nicht die Unruhe des Sehnsuchtsfiebers in dem alten Herzen in
die unfreundliche Nacht
ihr!"
hinausgetrieben hätte.
Duchard hatte seine Not mit dem Drängenden, der die fast überhörte erste An=
Wie flackerte er jest in Freude ! Er erwartete es faum , daß der schlaftrunkene.
spielung nun erst verſtand und dem er begreiflich machen mußte, daß jezt, wo sogar
vor jedem andern Wort den jungen Freund
noch die Sonne schlief, “ kaum eine ange
zuerst
Garçon wieder hinausgeschlurft war , um
an das Licht der
Girandolen zu
messene Stunde zum Besuchemachen sei, | ziehen. auch selbst, wenn man sich bei seiner eigenen. ,,, du siehst wohl aus ! Du bist ge= Schwester anmelden lassen wolle. sund, nur braun wie ein Indianer . Es „ Aber ich habe sie seit drei Jahren nicht gesehen!" Drei Jahre seien Auch dann nicht.
ist gut, es ist gut !" rief er, mit liebendem Blick das Antlig desselben jest , wo der Schatten des Hutes nicht mehr darauf fiel,
lang und noch einmal so viel Stunden
nach
nur kurz, aber es müßte deren Ablauf eben
vollständige Abwesenheit mehr als der all-
Da käme noch
gemeine Anschein von Wohlbefinden dieſen
auch abgewartet werden .
einem
Zuge durchforschend ,
deſſen
dies und jenes zuvor, denn der widerspän- | wiederholten Ausdruck der Befriedigung stige Verächter eines Urlaubs werde sich hervorrief. Da fand sich in der That, so ernst das nun doch eines anderen besinnen und denNun also,
Auge blickte, keine Linie verschlossenen Kum-
dann heiße es vor allem, ſich mit den Wächtern
mers , oder insgeheim wühlenden Haders
des Gefeßes abfinden und das Reisegepäck der nun einmal „ handelspolitiſch“ nicht zu
mit dem Schicksale, der zu ſtolz war , ſich offen kundzugeben, in dem schönen Bilde
umgehenden Durchsuchung unterziehen lassen. Andor konnte es kaum erwarten , bis
die Zollwächter ihres Amtes gewaltet , die
von Manneskraft und Willen. Spurlos waren die Jahre an Andor nicht vorübergegangen , veränderte doch selbst der dichte
kleinen, zwiſchen hinein an seinen Begleiter gerichteten Fragen blieben jedoch unbeant-
volle Bart von dunklem Blond, das ſich nur der Lippe zu lichtete , den Ausdruck des
selben annehmen .
Oder nicht ?
er mußte sich bequemen zu
Gesichtes für den ersten Blick beinahe zum
warten, bis derselbe glücklich einen Träger herbeigeschafft hatte und der Gasthof erreicht war.
Nichtwiedererkennen , die Zeit aber hatte nur zur völligen Reife gebracht , was sich
Zum Glücke lag dieser nur wenige Schritte entfernt , unmittelbar am Kai.
wickelt. In fester gleichgewichtiger Zuver sicht mußte dieser Mund auch lächeln
Duchard hatte in wahrhaft väterlicher Für
können , wenn selbst der Glanz freudiger
wortet und
erst auf des Lebens schönster Höhe ent-
Andor.
307
Bewegung im Blicke erlosch , welcher der | Monsieur de Rainald's zu erfahren . Bis wann er zurückkäme ? Das sei unbeſtimmt. glückbringenden Nachricht entſprang , an dem die Gedanken emsig im stillen weiterwoben.
Die Dame gedenke einen Aufenthalt von sechs Wochen an der Meeresküste zu nehmen,
„Jeßt aber müſſen Sie mir Rede ſtehen, Viktorine ist da teurer, treuer Freund!
ob man sie nicht benachrichtigen könne, wenn Man der Verreiste unterdes heimkehre ?
und sie weiß, daß ich komme, sie erwartet
bittet ihn um die Adresse und bringt sie
mich ?
schließlich mir.
Wer ist bei ihr ?
Ist sie leidend ?
Denken
Sie
doch ,
Die frohe Ungeduld ließ sich nun nicht mehr zurückdämmen. Von all den sich drängenden Fragen
macht , was steht auf der Karte ? Mademoiselle Viktorine de Beledényi . Schämt - es Euch Eurer cyniſchen Weltauffaſſung
beantwortete Duchard vorläufig keine einzige.
ist seine Schweſter, rief ich ihnen zu .
„ Geduld ! einen Augenblick Geduld !" hieß es. " Erst legen Sie Ihre Hülle ab.
ein Triumph ! “
Machen Sie sich's bequem. sich daheim.
Sie sind bei
Trinken Sie eine Tasse Thee,
recht heißen Thee.
das
junge Volk hatte schon seine Gloſſen ge-
Wann darf ich sie sehen?"
Ich mische Ihnen Rum
Welch
„Und Sie haben sie nicht gesehen ?“ „Natürlich habe ich sie gesehen . arme Engel !
Dieser
Ah, ich war entzückt von der
hinreißenden Schönheit.
Ganz unzweifel-
hinein. Pardieu, auch mir kann ein Tropfen
haft in einigem die Mutter , aber nicht so
nicht schaden nach dieser Promenade an den
stolz, so hochaufgerichtet, ſo impoſant.
reizenden Ufern der Liane !
Sie auch Ihre Pantoffeln bereit ?
das war eine unerreichbare Schönheit, madame la comtesse. Diese Hoheit , dieser
führen dieſelben ja noch selbst . Ich lasse fie immer bei meiner Gattin daheim, wenn
das Herz gefangen.
ich auf Reisen gehe, Ehe. "
Aber haben Sie
auf dem Altar der
Oh,
Geist ! Aber Ihr Fräulein Schweſter nimmt Es ist eine Lieblich-
feit, eine Seelengüte und eine Ergebenheit, die das Herz
betrübt
und zu Thränen
Und Andor mußte sich darein fügen | rührt. Wie sehnt sie sich nach Ihnen !" Und doch haben Sie mich zurückgeund erst alles mit sich vornehmen laſſen. Endlich aber war doch auch der unerläß-
halten. "
Sie müssen
liche Schluck aus der dampfenden Taſſe ge-
„Morgens um vier Uhr !
schlürft und Duchard kam nun von selbst
ihr Zeit lassen, sie nicht überfallen.
auf die ungeduldig erwarteten Mitteilungen
Doktor
„ Stellen Sie sich vor : es ist ungefähr
Reich wird sie vorbereiten . Ihr Bruder, mademoiselle la baronne, sagte ich ihr, Das wird binnen kurzem zurückkehren.
vierzehn Tage her," begann er seinen aus-
Haus Evert ist stolz auf ihn , wir haben
führlichen Bericht , „ da kommt ein junger
zurück.
Doktor Reich,
eben wieder die erfreulichſten Nachrichten von ihm erhalten. Unser Chef hat mich
Er frägt nach Monsieur de
beauftragt , Ihnen zu versichern , daß kein
Rainald, angestellt im Hause Evert u . s . w.
Er
Tag nach seiner Rückkehr vergehen wird, an dem er ihnen entzogen bleiben ſoll . Das Haus macht sich eine Ehre daraus,
begleitet eine kranke junge Dame ins Bad ;
der Schwester den Bruder voll zur Dispo-
Arzt ins Kontor, Doktor ja so ist's .
Ganz richtig, momentan in Amerika, heißt es .
Der Herr Doktor bedauert sehr.
ſie wird enttäuscht sein , die Abwesenheit | sition zu stellen. “
Robert Byr.
308
„Das ist sehr liebenswürdig von Herrn d'Evert.
Aber es wäre noch liebenswür
etwas ganz Gleichgültiges sein , ich aber wußte, wie sehr Sie an Ihrer Schweſter
diger gewesen , wenn er es mir mitteilen hätte lassen. Wenigstens konnten Sie mir
hängen ; wie oft haben Sie seufzend ihren
ein Wort schreiben, Duchard. "
habe in Ihr Herz gesehen und hätte selbst
Der Getadelte wiegte schlau lächelnd den Kopf.
Ich weiß , daß Sie nichts widerraten . verabsäumt hätten, daß Sie Ihre Ehre
„Und die Ruhe ? darf nichts
Einen Geschäftsmann
drängen ,
als
das
Geschäft
Namen genannt die lezten Jahre her. Ich
darein ſezten , die Ihnen anvertraute Angelegenheit durchzuführen , o , ich weiß aber um große Aufgaben zu lösen, bedarf
ſelbſt. " Andor richtete sich ein wenig stolz auf.
es nicht nur der Schärfe des Verſtandes,
„ Ich glaube, man konnte sicher sein,
sondern auch der Ruhe, wie Ihr Deutschen
daß ich dasselbe meiner Privatinteressen halber nicht vernachlässigen oder übereilen.
sagt, der Ruhe des „ Gemütes “, das ist's, und ein Glück ist's, wo jeder zerstreuende
würde," sagte er leicht verlegt.
Gedanke ferngehalten bleibt.
Beschwichtigend nickte ihm Duchard zu, doch konnte er sich nicht enthalten, ihm
das Genie muß kultiviert werden ! Welche
fahrend und
Noch immer ein wenig hoch empfindlich!
Kavaliersblut !
Stets die Hand am Degen !
Sie
aber auch erkämpft!
Es war ein Siegesbülletin, das Sie Ihrer
lächelnd mit dem Finger zu drohen. „Eh! eh!
Lösung haben
Hélas , auch
Aber ich liebe
| Ankunft vorausschickten. für möglich gehalten.
Niemand hat es Ist es denn auch
wahr, Sie haben alles, alles aus dem Ab-
das . Daß unser Chef ebensowenig schlimm | grunde geholt ?" von Ihnen denkt, wie ich, das wissen Sie, ,,Und Sie hätten es beinahe demselben mein Teurer , daß
er aber von seinem
zurückgegeben," versezte Andor seinen Groll
Standpunkte aus richtig handelte, wenn er
vergeſſend, indem er mit feinem Lächeln
wünschte, daß Ihnen die Mitteilung erst
auf das Köfferchen wies, das bei der stür-
bei Ihrer Heimkehr gemacht würde, werden
mischen Begrüßung beinahe ins Meer ge-
Sie bei einigem ruhigen Nachdenken selbst
fallen wäre und nun neben dem Theekejjel
zugeben. Ein Beweis seiner Aufmerksam keit ist meine Anwesenheit. Sie erspart
auf dem Tischchen zwischen beiden ſtand. Er öffnete aber außerdem noch die
Ihnen sogar den geringfügigen Aufenthalt einer Reise nach Paris und zurück. In
Weſte und langte eine kleine ſorgſam waſſerdicht umhüllte Tasche hervor , die er um
der That , kein Tag sollte Ihnen verloren gehen, keine Stunde. Als Sie durch das
den Hals auf der Brust getragen. „ Um das Wichtigste zu vernichten,
Kabel den Erfolg Ihrer Mission und Ihre
hätten Sie allerdings mich mit hinab be-
Abreise avisierten , hätte man Ihnen eine
fördern müssen , aber auch das wäre noch
Den Korkgürtel Benachrichtigung telegraphisch zugehen laſſen | nicht unfehlbar gewesen. können , mit welchem Nußen aber ? Die hatte ich zwar schon abgelegt, aber ich bin
die
ein leidlicher Schwimmer ,“ scherzte er, während er die beiden Verſchlüſſe öffnete
Mitteilung Sie bloß gestört, ihre Gedanken abgezogen, Sie vielleicht aufgeregt . Ein
und allerlei Papiere auf den Tiſch breitete. Duchard war unterdes an die Thüre
Wiedersehen zwiſchen Geſchwiſtern mag oft
geeilt und hatte dieſelbe , nachdem er sich
Ueberfahrt wäre Ihnen nur lang geworden.
unerträglich
Früher aber hätte
Andor.
309
zuerst überzeugt , daß kein Lauscher außen | den Wurzeln “ aus dem alten Boden loszureißen und das bisherige Leben abzuan derselben war , aufs vorsichtigste verschließen und hinter sich zu laſſen, aber er
riegelt.
„ Es ist leider kein Zeuge anwesend," | sprang nicht sofort in ein neues hinüber, für das ihm anfänglich jeder Begriff, jedes sagte er. „Ich meinestheils bedarf keines solchen. "
Bild fehlte .
Er wollte nur fort ;
aber
„Man sieht immer wieder , daß Sie
auch auf dem Meere , in der afrikaniſchen
troß allem doch noch kein rechter Geſchäfts- | Wüſte, unter fremden Völkern verließ ihn mann ſind,“ äußerte Duchard kopfschüttelnd . | das Gefühl des Zuſammenhangs mit der „Wenn auch Sie mir nicht mehr genügen sollen, dann will ich lieber niemals
scheinbar abgethanen Vergangenheit nicht.
einer werden.
Ich dächte,
an Vertrauen
Nur langsam und ganz allmählich be-
zur Menschheit ist mir ohnehin schon zu
gann ein Plan in ihm aufzukeimen und Gestalt zu gewinnen . An dem Anblick
viel abhanden gekommen."
Arthurs festigte
Das Lächeln, das dieſe Worte begleitete, konnte den herben Ton, in welchem sie ge-
führung. . Andor war mit seinem aus Norwegen
sprochen wurden, nicht ganz neutralisieren.
zurückgekehrten Bruder , bald nach seiner
Duchard aber hatte weder für jenes noch
er sich dann zur
Aus-
Er
eigenen Ankunft in Algier, zusammengetroffen und hatte denselben auf seinen
und gar Geschäftsmann
Ritten, Jagden und Wanderungen begleitet,
Die mit dem lebhaften, beweg-
lichen, sprudelnden Franzosen jezt plöglich vorgegangene Veränderung war frappant,
ohne in dieſen Aufregungen und Strapazen die gehoffte Beruhigung zu finden. Im Gegenteile drängte sich dabei immer quä
doch überraschte sie Andor nicht.
lender die Frage auf,
für diesen ein zustimmendes Zeichen. selbst war ganz geworden.
Derselbe
war gewohnt , den väterlichen Freund mit dieſer ernſten , faſt feierlichen Miene zu sehen, die ihm anfangs faſt nur eine drollige Probe des schauspielerischen Talents geschienen ,
das
allen Landsleuten seines
ehemaligen Erziehers innewohnt , und die er dann doch seither für etwas mehr als bloße Maske schäßen gelernt. Er erkannte die tiefe Bedeutung dieses strengen Auseinanderhaltens
der Doppel-
natur , wenn ihm auch für sein eigenes einheitliches Wesen eine solche Scheidung nicht angemessen erschien.
Hatte ja doch
bei ihm selbst binnen wenigen Jahren eine große Wandlung stattgefunden.
was in der Zu-
kunft aus ihm werden solle. Ein „ Weltbummler " wie Arthur , der eingebildeten wissenschaftlichen und Sportsintereſſen auf Unkosten anderer nachjagte? Hatte er sich darum von allem losgemacht, um nun, ein ungeduldiger Erbe, das habe seines Oheims bei dessen Lebzeiten noch aufzuzehren ? Löke war verschleudert und das kleine Kapital, das der alte Herr auf sein Betreiben aus dem ebenfalls losgeschlagenen Fölombágy, jener unbedeutenden Beſigung in den Karpathen, erzielte, war nicht ausgiebig genug, um selbst nur auf einige Jahre für ein solch kostspieliges Wanderleben oder auch bloß für die Bedürfnisse einer zerstreuungs-
Als er damals , nach dem Zusammen- süchtigen Unthätigkeit zu langen. Die Arbruch, seine Heimat, ſein Vaterland , ja so- | beit allein konnte hier Hilfe schaffen. Die bisher, wenn nicht gescheute und verachtete, gar Europa floh, da hatte er wohl die Abdoch bemitleidete Arbeit erschien ihm so mit , meinte sicht , sich ganz und wie er 40
Robert Byr.
310
auch wie eine Uebertäubung , eine gewalt- | Aufgebot ſeines ganzen Einfluſſes gelungen, ſame Unterdrückung all seiner aufdringlichen, unverscheuchbaren Gedanken und Erinnerungen.
Der Widerspruch seines Bru-
diesen bescheidenen Plaß für einen Neuling in dem Geschäft zu erwerben, der nicht einmal Zeugnisse einer Fachschule aufzuweiſen
ders fachte das Verlangen zum Entschluß
hatte.
an.
Es war, als hätte Andor mit seinem
als ein Verſuch betrachtet , der ja immer-
Namen auch seine Anschauungen , seine ganze Natur abgelegt. Er lechzte nach Arbeit.
hin wieder aufgegeben werden konnte. Dazu aber kam es nicht.
Lange aber blieb unentschieden, welcher Art sie sein sollte. Was ließ sich von
Andor. Arbeiten muß gelernt werden und ist eine harte Aufgabe für den nur an
allem , was
freiwillige „ Beſchäftigung “ Gewöhnten. Er
der junge Kavalier gelernt,
Es war aber von beiden Seiten
Schwer
war
wohl
der Anfang für
verwerten ; worauf konnte er weiter bauen ?
aber gedachte jener geringſchäßigen Worte
Er hatte keine Wissenschaft mit Ausdauer
seines Bruders in Beledvár und der Troy
betrieben,
kein Talent bis zu wirklichem
Erfolg geübt ,
die
Landwirtschaft selbst
hielt seinen Entschluß aufrecht und spornte ihn an.
Was er im Anfange mit der
Sogar für die
bittern Ironie all seiner noch immer blu-
Ausübung eines Handwerks gehört eine Vorschule. Wenn er sich nicht auf die
tenden Vorurteile angefaßt , gewann von Tag zu Tag an Interesse. Der Einblick
Ausbeutung seiner mit schwerem Lehrgelde erkauften hyppologischen Erfahrungen verlegen wollte , blieb ihm nichts als die
in dieses Getriebe im größten Stile , die Uebersicht, welche sein, einem Gegenstande nur einmal ernsthaft zugewendeter , den-
Kenntnis von ein paar Sprachen, über die
selben auch scharfdurchblickender Geiſt über
war ihm fremd geblieben .
diese scheinbar die ganze Welt umfaſſenden
er mit Sicherheit verfügte. Fast war es in einer Aufwallung des
Fäden gewann , übten
wildeſten Sarkasmus , als er Arthur fragte, | Wirkung .
eine eigentümliche
Der anziehende Reiz ließ das
ob er ſich dem Gotte des „ Handels " in die Arme werfen solle , diesem Gotte , an
Starre, Pedantiſche, ja mitunter auch Abstoßende in dem Organismus dieser mannig-
deſſen Macht er glauben müſſe , da sie ihn derselbe ja ſo unerbittlich habe fühlen
faltigen Beziehungen überſehen und entwickelte mit dem Scharfsinn auch die
laſſen.
Schaffensfreudigkeit und den Ehrgeiz . Was im Beginne nur Mittel gewesen , wuchs
Und doch kam es schließlich dazu . die
zum Zwecke heran und die grimmige Ge-
brieflich zuerst bloß ganz im allgemeinen Als sich die erfragte Stelle zu sorgen.
Duchard erklärte sich bereit, für
nugthuung , mit welcher ihn die selbstgcwollte Beugung seines Stolzes vorerst er-
Unterhandlungen
Punkten
füllte , hatte sich bald in ein mitleidiges
näherten, da war es freilich nur eine ganz fleine , die sich kaum durch eine unbedeu-
Lächeln über dies thörichte Empfinden verwandelt.
tende Besoldung von der eines Volontärs
Er sagte nun nicht mehr, wie in seinen
unterschied ,
in
bestimmteren beſtimmteren
dem
großen
Bankhauſe | verbiſſenen Wortkämpfen mit Arthur : „ Was,
Evert, in welchem Duchard ſelbſt als einer
ich sollte mich durch die Rücksichten
auf
der älteren Buchhalter in Verwendung einen kleinen Kreis von Menschen gängeln ſtand. Und überdies war es nur dem 1 laſſen, in welchem ich bekannt bin und der
Andor.
311
nun vielleicht abfällig über mich urteilt ? | sondern auch mit hellsehendem Auge gereist. Sehe ich es, wenn dieſer und jener hundert | Die Früchte seiner Erfahrungen und Studien legte er in einer Publikation handels-
Meilen von mir die Achſeln zuckt , oder höre ich es, wenn diese oder jene mitleidig : ,Armer Andor !' sagt ?
politiſchen Inhalts nieder, welche die Ver-
Bloß darum, weil
hältnisse Aegyptens und Kleinaſiens , das
ich denke , es könne so heißen , bloß dieſer
er im Verfolge seiner Reise berührt, scharf
eingebildeten Vogelscheuche wegen , soll ich
und originell beleuchtete und ihm Aner-
das eine thun und das andere lassen ? Möge doch einer es wagen, mir ins Gesicht
kennung aus den weitesten Kreiſen errang . Diese litterarische That , welche ihn so
eine geringſchäßige Aeußerung zu thun !“
glänzend einführte ,
Im
Verlaufe der Zeit verlor dieser ge-
leugnete
und
insgeheim
doch
war es , auf welche Duchard scherzhaft und doch mit einer ge-
feſtſigende
wissen stillen Ehrfurcht vor dem sich kundgebenden Talente seines ehemaligen Zögmehr, was diese und jene von ihm dachten | lings , angespielt , als er voraussagte , es Stachel seine Schärfe.
Er fragte sich nicht
und über ihn sprachen .
Er lernte mit
gleichgültigem Achselzucken sagen : „ Mögen sie doch!" Aber nicht nur Andor gewann Ursache,
könne
demselben
nur
ein Leichtes sein,
ebenso eine naturwissenschaftliche oder nationalökonomische wie eine handelspolitische Studie herauszugeben und
dieselbe
dort
mit seinem Entschlusse zufrieden zu sein,
zu finden , wo hundert Andere kurzsichtig
auch bei dem Chef des Hauſes war dies der Fall. Schon nach zwei Jahren konnte
vorübergegangen , wäre einer Austernbank.
dem Novizen , der sich als ein so außerordentlich gelehriger Schüler und
es auch nur
an
Diese Hochschäßung der geistigen An-
rascher | lagen seines jüngeren Freundes wuchs bei
Arbeiter erwiesen hatte , eine selbständige
dem älteren geſchäftserfahrenen Manne in
Aufgabe übertragen werden, die nicht durch
sichtlichem Maße und war einigemale nahe
die
gewöhnliche kaufmännische Schlauheit | daran , während der nun folgenden Aus-
und Gewandtheit zu lösen war .
Der Ver-
einanderseßungen
in
ein
ganz
unkauf-
treter des Hauses , welcher in persönliche
männisches
Entzücken überzuschlagen ,
Beziehungen zu dem Vizekönig von Aegypten
Andor
näheren
und
die
als
Einzelnheiten seines
deſſen Großwürdenträgern zu treten | Vorgehens in der ihm diesmal übertragenen
hatte, mußte durch sein Auftreten gewinnen und imponieren und zugleich die unaus-
Mission darlegte. Durch die unerwarteten Resultate der ersten, mit einemmale hoch
bleiblichen Intriguen durchschauen und zerstören. Dazu gehörte die Kenntnis orien-
hinweggehoben über das, was ihn in seinen
talischer
die unwillkommene und aufdringliche Inti-
Sprachen ,
weltmännischer
Takt
neuen Verhältnissen am meiſten beengte :
und diplomatiſche Sicherheit. Auf Duchards | mität einzelner untergeordneter ArbeitsgeVerwendung hauptsächlich ward Andor für
nossen , deren Abweisung ihm schon den
diese Mission gewählt ,
Ruf eines unzugänglichen Sonderlings einwar er in einer ganz anderen getragen
erstbeste Agent
welcher nicht der
gewachsen
war und das
Haus hatte diese Bevorzugung eines der jüngsten Angestellten nicht zu bereuen.
Welthauses zur Verwendung gekommen und
Der Abgesandte war nicht nur in dessen
so auch von dem Vertrauen des Chefs in
Interesse aufs erfolgreichste thätig gewesen,
seine glückliche Hand zur Entwirrung der
Branche der vielverzweigten Geschäfte des
Unsere
Ha
Andantino von St Andantino.
Gesang.
p dolce
Piano.
Cül
be -lan-gen,
Cul, be - Can -
gen den Mai - tag die
Do
ge -lein,
rit.
Freu-de, in der
rit.
da,
Tu - gend, in der
Jugend
it Freu-de. a tempo
p dolce
wo mir von der Lieb - Cten ,
Jugend ilt Freu-de,
in der
mir von der
Ju - gend
Lieb
(ten viel Sü- - les,
it Freu - de. (M. Arnd.)
dolce
Ja us mu fik. Fr. von Holstein.
Fr. von Holstein. Mit Anmuth.
Schlief
Ich
auf ei-ner
von Li- lien
und
Ro -
-
in der
Cen im Hain,
rit.
fz
Wie - Le
nen
a tempo mf
rit.
mir träum-te
gri
ein,
cresc
Ju- gend, in der
Jugend ift
a tempo
Etwas bewegt.
Mir
däuchte, gar
acceler e cresc
Bühes ge- lchah.
A-ber,
ich er- wach - te, und es
rit.
war
a tempo
nicht mehr da,
in der
acceler e cresc. rit.
a tempo p
D
viel
luftig er- ging ich mich
Hugo Littauer. Grabschrift eines Faullenzers.
314
überaus komplizierten und heiklen Affaire | Gesellschaft eleganter Damen und Herren ausersehen worden , die ihn diesmal über in lebhaftestem Geplauder. Es waren, der den Ozean geführt . phantastischen Toilette und dem Mangel Hatte es sich das erstemal um Anbah jeglichen Gepäckes nach, offenbar Badegäste, nung und Abschluß
eines Vertrages
ge-
im
Begriffe ,
einen
kleinen
Ausflug zu
handelt, so war jest der Versuch zu machen, einen namhaften Verlust möglichst zu para-
machen.
lysieren und Duchard staunte von Ziffer zu
der jungen Damen.
Ziffer , von Blatt zu Blatt immer mehr, wie dies Andors Klugheit und vor nichts
Erscheinung , ganz in Schwarz , mußte sowohl durch die abstechende Farbe ihres
zurückschreckender Energie
gelungen
Der Mittelpunkt der Gruppe schien eine Die zierliche schlanke
war.
Anzugs und ihre graziöse Munterkeit, wie
Er hatte fast die ganze bedeutende, beinahe schon aufgegebene Summe gerettet. In In
durch den eigentümlich fesselnden Ausdruck ihrer Züge und die ungewöhnlich bezwin-
höchster
Spannung horchte
Duchard auf
das Fragment eines jener sensationellen Romane, wie sie sich auf dem in seiner Ursprünglichkeit für alle Keime der Vegetation, auch denen von Giftpflanzen so ungemein fruchtbaren Boden der neuen Welt mitunter abspielen .
gende Macht ihres Blicks sofort ins Auge fallen. Auch Andor konnte sich dem Eindrucke nicht ganz entziehen und betrachtete sie, während er seinen Gefährten zu dem eben stillhaltenden Waggon begleitete, mit jener ungenierten Neugierde,
die
dem Manne
Es war Tag geworden bis die Mittei-
Unbekannten gegenüber , zumal in fremder
lungen, die Abrechnungen , die Uebergabe der Dokumente zu Ende gebracht waren.
Umgebung, erlaubt dünkt. Die Dame mußte jedoch anderer Mei-
Wenn Duchard seinem Vorsaße getreu blei-
nung sein und sich verlegt fühlen , anders
ben und mit dem ersten Zuge nach Paris
ließ sich die seltsame Bewegung derselben In dem Momente , als kaum erklären.
zurückkehren wollte, war keine Minute mehr zu verlieren . Er versorgte das wichtige Täschchen, nahm den kleinen Koffer an sich und
machte sich in Andors Begleitung,
ihre großen dunkeln Augen seinen Blick auffingen , schienen sich dieselben noch zu erweitern ,
ein unenträtselbarer Ausdruck
der an einem der nächsten Tage auf einige Stunden selbst zur Berichterstattung zu kommen versprach, auf den Weg nach dem Bahnhofe.
kam in dieselben. Der matte elfenbeinartige Teint rötete sich plöglich , erbleichte aber ebenso rasch wieder und mit einem
Unter dem Austauſche vcn allerlei Eindrücken aus dem NewYeter Leben und
genden Dreistigkeit zurückweichen zu wollen,
kleinen Pariser Neuigkeiten , wobei wiederholt Viktorinens Erwähnung geschah, hatten die rasch Dahinschreitenden denselben bald erreicht und es war in der That höchste Zeit, denn der von Calais kommende Zug fuhr bereits in die Station ein.
Auf dem Perron stand
eine Selten-
Schritt zurück, schien sie vor der beleidi-
der sie doch mit tropigem Blicke strafend begegnete . (Fortsetzung folgt.)
Grabschrift eines Faullenzers. Hier ruht der Gute, Der immer ruhte.
Hugo Littauer. heit zu so früher Morgenstunde - eine kleine
Karl Ruk. Die Widafinken oder Witwenvögel.
315
in ihrer tropischen Heimat gewähren , wenn ſie Die Widafinken oder Witwenvögel. Von Karl Ruh.
der lezteren Zeit hat die Liebhaberei für die fremdländischen Stubenvögel bei uns in Deutſchland, ſowie auch in anderen Ländern, namentlich in Holland und Belgien , in
mit langwehenden und wallenden Schwänzen im hüpfenden Fluge von einem Baume zum anderen schießen und gleichsam Tänze in der Luft aufführen. Sie fallen durch dieselben sogleich auf und bilden an ihren Standorten. einen charakteristischen Schmuck der Landschaft. Ganz anders ist der Eindruck, wenn wir ein Pärchen im wenig ansprechenden grauen Gefieder vor uns sehen ; wir ahnen nicht , zu welcher Farben und Formenschönheit sich das Männchen zu entwickeln vermag. Kaum vier Wochen später prangt dasselbe aber im vollen Schmuck. Die grauen Federn haben sich in tiefes Schwarz , Schneeweiß, Goldbraun und lebhaftes Gelb oder Rot verwandelt, und der Schwanz ist um die doppelte bis vierfache Länge des Körpers hervorgewachsen. Dabei haben die Schwanzfedern eine dachartig ge= wölbte, schwertförmige oder hahnenſchwanzartige Gestalt und ein marmoriertes Aussehen angenommen, bei einigen Arten sind dieselben
Oesterreich und der Schweiz, dann in Frank reich, England und selbst in Rußland eine staunenswerte Verbreitung gefunden. Für den Blick des Sachverständigen ergibt sich dies aus der allwöchentlichen Einfuhr, über welche die Fachblätter berichten , und in weiten Kreisen wird die Aufmerksamkeit durch die mehr oder minder großartigen und glänzenden Ausstellungen , welche in jeder großen , aber auch in Mittel- und selbst in kleinen Städten mit außerordentlichem Wetteifer alljährlich veranstaltet werden, darauf gelenkt. Es verlohnt mit langen, haarartigen Federn geschmückt. Die sich daher wohl für jeden Gebildeten , dieser ansprechenden Farben und wallenden Schwanzreichen gefiederten Welt den Blick zuzuwenden federn verleihen dem Vogel eine eigentümliche und die uns in der Häuslichkeit umgebenden malerische Pracht. Diese Verfärbung zum Tropenvögel näher kennen zu lernen. Im Schmuckgefieder tritt im Frühlinge ihrer HeiNachstehenden will ich eine kleine Gruppe dermat ein, und damit beginnt ihre Liebeszeit ; im Herbst, also nach vollendeter Brut, schwinden selben schildern, welche durch absonderliche Schönheit und seltsame aber angenehme Eigentüm die Glanzfarben allmählich und das Gefieder lichkeiten uns zu fesseln vermag. geht wieder in das schlichte Grau zurück. Es sind die sogenannten Witwenvögel, die Die Verfärbung an sich gehört zu den intereſſanteſten Vorgängen im Vogelleben. Wer durch eine wunderliche Reihe von Mißverständdiese Eigentümlichkeit nicht kennt, würde einen nissen sowohl den wissenschaftlichen Namen, als auch eine Phantasiebezeichnung erhalten solchen Vogel im Prachtgefieder und einen haben. Nach dem westafrikanischen Landstrich | gleichen im grauen Kleide, wenn er sie beide Wida hatte Linné fie Vidua genannt, und nebeneinander erblickte, keinenfalls für ein und die Uebertragung dieses Worts in alle Sprachen dieselbe Art halten. Die Veränderung geschicht wurde im Handel und in der Liebhaberei um nicht durch Federn-Erneuerung, wie der eigentso leichter eingebürgert , da die hierher ge- liche Federwechsel oder die sogenannten Mauser, hörenden Vögel in dunkeln Farben und mit sondern zum Teil durch Verfärbung des bereits langen Schleppschwänzen erscheinen. vorhandenen Gefieder , zum Teil durch NachDie Widafinken oder Witwenvögel sind wachsen ganz neuer und zugleich durch VerFinken in der wechselnden Größe eines Zeisigs längerung der Schwanzfedern. Während man bis zu der eines Stars , nur in Afrika hei- | früher geglaubt hat , daß die ausgewachsene, misch, und stehen unseren Ammern und Lerchen hartgetrocknete Feder gewissermaßen tot sei, am nächsten. Als besondere Eigenschaft ist zeigt sich hier die Erscheinung, daß ſie ſich auf's neue belebt , ihre Farbe verändert und zunächst die alljährliche Verfärbung zum Pracht gefieder und zurück in ein sperlingsgraues Winterkleid hervorzuheben. Mit glühenden Farben schildern die Reisenden den Anblick, welchen gerade diese Vögel
sogar wieder zu wachsen beginnt. Die erwähnte Achnlichkeit mit unseren Ammern und Lerchen erstreckt sich hauptsächlich auf die Gestalt, weniger auf die Be-
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Barl Ruf.
wegungen und das ganze Wesen. Zunächst | Schönheit schon viel früher Bewunderer, denn sind sie, abweichend von jenen , vorzugsweise sie wurden bereits in der ersten Hälfte des Baumvögel, und die Männchen halten sich, vorigen Jahrhunderts in den Handel gebracht ; wenigstens im Prachtgefieder, mit Vorliebe in aber sie galten als kostbare Seltenheit , und den Kronen hoher Bäume auf. Beim lerchen noch zu Bechsteins Zeit stand ein Männchen ähnlichen , nahrungsuchenden Umherlaufen auf im Preise von 12 Louisdor. Bis zu Ende dem Boden zeigen sie eine ganz absonderliche der sechziger Jahre wurden auch nur die MännEigentümlichkeit, indem sie hühnerähnlichſcharren. chen allein eingeführt und zum Verkauf ausSodann stehen ihre Nester nicht auf der Erde geboten, und erst dann, als die Züchtung der oder im dichten Gesträuch niedrig über dem fremdländischen Stubenvögel in den weiteſten Boden, sondern werden etwa mannshoch in den | Kreisen Beachtung fand, wurden auch die unDurrhafeldern, im Rohr , Schilf u. a. an die schönen , sperlingsgrauen Weibchen begehrt Halme gehängt, und zugleich ſind ſie keine offeund mitgebracht. nen Näpfe , sondern beutelförmige , überaus Auch in der Gefangenschaft legt das Männkunstvolle Gebilde, ähnlich denen der Weberchen, gleicherweise ob ihm die Gelegenheit zum vögel. Im übrigen ist hinsichtlich ihres Frei- | Nisten geboten ist oder nicht, ſein Prachtgefieder lebens erst äußerst wenig bekannt. an, und dann entwickelt es eine außerordentSie leben nicht wie die Prachtfinken pärchen- | lich stürmische Unruhe. Will man einen weiſe in zärtlichster Ehe, sondern man findet Widafink gleichviel von welcher Art , bloß sie vielmehr meistens in kleinen Flügen oder als Schmuckvogel im Käfige halten, so muß Schwärmen, welche sich nach der Brutzeit manch- | der lettere so umfangreich und geräumig als mal zu sehr großen Scharen sammeln, und dann möglich sein, denn der Vogel braucht , einerwohl schadenbringend das Getreide oder an seits an sich um seines langen Schwanzes dere Nutzpflanzen überfallen. Zum Nisten willen und anderseits seiner stürmischen Besondern sich die Pärchen ab , doch ist dies wegungen halber , ausreichenden Play ; wird noch nicht mit Sicherheit erforscht, denn man dieser zu sehr beengt, so verkümmert der Widahat auch behauptet, daß sie in Vielehe leben, fink und zeigt sich anstatt lebhaft und prächtig, und bei manchen Arten wird dies wohl zu- stillbetrübt und kläglich. In einer Vogelstube treffend sein. Jedes Männchen verfärbt sich aber, wo er unumschränkten Raum für seine auch in der Gefangenschaft, dem Frühlinge seiner Entwickelung findet, ergibt er ein wunderliebHeimat entsprechend , und man findet daher | liches Bild. Bild . Zunächst fliegt solch Vogel von die aus den verschiedensten Gegenden des einem bestimmten Sit auf einem hohen, hergroßen Weltteils herstammenden Arten zu vorragenden Zweige aus ganz regelmäßig seinen. mannigfaltiger Zeit im Schmuck. Die Dauer bestimmten Strich in gleichmäßigem Fluge mit des Prachtkleides wird sich in der Heimat wallendem Schwanze hin und zurück; dann wohl nur auf die Niſtzeit beschränken und alſo aber führt er seinen Liebestanz, nicht auf der einige Monate währen ; in der Gefangenschaft Erde oder auf einem Zweige sigend , sondern hängt sie vom Fütterungszustande ab , und auch hier fliegend in der Luft aus, indem er manche Männchen behalten im Käfig oder in über einem Weibchen seiner Art oder auch der Vogelstube das ganze Jahr hindurch ihre wohl über einem andern Vogel einige Minuten bunten und glänzenden Farben. Ihre Nahrung schnell auf und niederhüpfend flattert. Dabei besteht, mit der allen verwandten Finken überwird der lange Schwanz malerisch geworfen einstimmend , in kleinen Sämereien von Gräund läßt der Vogel ein lautes, nicht besonders sern und Kräutern, sowie jedenfalls auch in melodisches Geschrei erschallen. Im übrigen ist Kerbtieren und Würmern. Im Käfige füttert der Gesang, welchen der Widafink auch außer man sie mit Hirse und Kanarienſamen nebst der Nistzeit, vornämlich aber im Prachtgefieder Zugabe von Ameisenpuppen , Mehlwürmern sehr eifrig hören läßt, für ein nicht zu sehr und sogenanntem Weichfuttergemiſch. verwöhntes Ohr keineswegs unangenehm ; in der Als Stubenvögel erfreuen sich die Wida- Liebeszeit wird er aber zu viel von gellenden finken gegenwärtig allgemeiner Beliebtheit, doch Tönen unterbrochen. Im grauen Kleide sind ist dies eigentlich erst seit etwas länger als die Widafinken friedlich und harmlos gegen einem Jahrzehnt der Fall. Wohl fand ihre alle Vögel, mit denen man sie zusammenhält ;
Die Widafinken oder Witwenvögel.
im Prachtgefieder aber stören sie alle gefiederten Genossen durch ihre förmlich fieberhafte Unruhe, und einige Arten werden dann geradezu bösartig. Bringt man einen Widafink im Brachtgefieder plötzlich in eine Gesellschaft an-
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derer Vögel, so erregt er durch seinen langen, wallenden Schwanz bei allen Genossen , selbst bei großen Papageien, Schrecken und Entsetzen, und bei einer solchen Gelegenheit können in einer reichbesetzten Vogelstube gar arge Un-
Widafinken oder Witwenvögel. glücksfälle entstehen. Hat man die Widafinken dagegen bereits im grauen Gefieder unter die anderen Vögel gethan, und das Männchen legt sein Prachtkleid allmählich an , so tüm mern sich die anderen Vögel gar nicht um den nach und nachhervorwachsenden langen Schwanz .
Neben der Schönheit zeigen die Widasinken in der Gefangenschaft auch noch andere rühmenswerte Eigenschaften; sie sind nicht allein überaus anspruchslos, sondern auch recht ausdauernd , so daß sie sich bei einfacher , angemessener Pflege viele Jahre hindurch im Käfige 41
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Karl Ruh.
Seine Heimat erstreckt sich über den Westen und Süden , sowie auch über den Nordosten und Osten von Afrika ; nach der Insel Helena iſt er wahrscheinlich durch einen Zufall verschleppt und dort eingebürgert. Er wird alljährlich in vielen hundert Köpfen meistens im grauen, unscheinbaren Federkleide nach Europa eingeführt , und in sehr beträchtlicher Anzahl kommen sie von der lettgenannten Insel; er gezüchtet, trotzdem zahlreiche Vogelwirte auch gehört zu den gemeinſten Vögeln des Handels. mit ihnen in emsigster Weise Versuche anWährend zu Bechsteins Zeit gerade von dieſer gestellt haben. Dieser Mißerfolg liegt wohl Art das Männchen 12 Louisdor und späterhin eben in manchen absonderlichen Eigentümlich30-40 Thlr. kostete, ſo kauft man jezt 2 Köpfe keiten der Angehörigen dieser kleinen Vogelim grauen Gefieder für 9-12 Mark und im familie begründet, und es läßt sich daher auch | Prachtkleide das Paar für 15-18 Mark. In erwarten, daß wir ihre erfolgreiche Züchtung den umherziehenden Menagerieen galt er früher binnen kurz oder lang ebenso sicher erreichen. als Paradiesvogel, und unwissende Leute sehen werden, wie die von Mitgliedern aus fast allen ihn auch jetzt noch vielfach für einen solchen anderen Vogelfamilien. Wer solche Züchtung an; im Handel und in der Liebhaberei heißt er überall Paradieswitwe. Wie er bereits im versuchen will , gebe dem Pärchen vor allem ausreichenden Raum, halte jede Störung fern Wintergefieder ein überaus anspruchsloſes und und versorge es mit naturgemäßer Nahrung. ruhiges Wesen zeigt, wird er auch im Pracht- Nur drei Arten gelangen regelmäßig als kleide niemals bösartig , so daß er allenfalls gemeine Vögel in den Handel , alle übrigen durch seine stürmische Lebhaftigkeit , niemals gehören zu den seltensten Erscheinungen des aber durch Zank und Streitsucht Störungen verursacht. Man darf ihn ohne Bedenken in Vogelmarkts. Der Paradies - Widafink (Vidua jeder Vogelgesellschaft halten — immer wird paradisea, L.), von den alten Schriftstellern er als einer der anmutigsten und schönsten. Schmuckvögel gelten dürfen. Witwe mit goldenem Halsbande genannt, zählt zu den Schmuckvögeln , welche von den Der Dominikaner - Widafink (Vidua principalis, L. ) ist am Oberkopf und OberPortugiesen sogleich nach der Entdeckung Gui neas nach Europa eingeführt wurden, wie dies rücken schwarz, an Wangen, Hals, Brust und bis zur Gegenwart gleicherweise geschieht. Sie Bauch reinweiß ; ebenso gefärbt ist ein breites ist an Oberkopf, Gesicht, Kehle, Rücken, Flügeln Nackenband und eine Schulterbinde ; Flügelund Schwanz tiefschwarz ; dazwischen zieht sich und Schwanz sind wiederum schwarz, und aus Dom Genic bis zur Brust herab über die dem letteren verlängern sich vier gleichmäßig lettere und den halben Bauch schönes gold- | schmale, schwarze Federn ; das Schnäbelchen glänzendes Kastanienbraun ; der Unterleib ist ist rot ; die Größe gleicht etwa der unseres reinweiß ; die beiden mittelsten Schwanzfedern | einheimischen Zeisig. Seine Heimat erſtrect sind so hervorgewachsen, daß sie die Länge des sich so ziemlich über ganz Afrika. Auch er Vogels mehr als doppelt übertreffen , dabei war den alten Schriftstellern bekannt, ebenso haben sie sich dachförmig gewölbt und eine wie er seit altersher eingeführt wurde und gebogene , hahnenfederige Gestalt angenommen, gegenwärtig als Dominikanerwitwe zu den gesie verschmälern sich vom breiten Grunde allmeinsten Vögeln des Handels gehört. Sein mählich bis zur Spize ; neben ihnen sind die hübsches Gefieder, ſeine Munterkeit und kräftige Ausdauer im Käfig würden ihm das Bürgerbeiden nächsten ebenfalls verlängert, haben aber eine breite , schwertförmige Gestalt ; von verrecht in jeder Vogelsammlung erwerben, wenn schiedenen Punkten dieser Federn gehen borstenes nicht ſeine Unverträglichkeit notwendig machte, artige, lange Fäden aus , die schwarze Farbe daß er von den Geſellſchaftskäfigen und Vogeldes Schwanzes erscheint prachtvoll marmoriert; stuben, in denen man kleine Vögel hält, ausgeschlossen werde. Er entwickelt eine Bösder Schnabel ist schwarz . In der Größe ist dieser Widafink etwa dem Haussperling gleich. artigkeit, die zur wahren Tyrannei wird, und vortrefflich erhalten lassen. Nur in der ersten Zeit nach der Ankunft erscheinen sie weichlich, weil sie einerseits infolge der Reisebeschwerden angegriffen und anderseits um so mehr, weil es fast lauter junge, noch zarte und wenig widerstandsfähige Vögel sind. Seltsamerweise, so könnte man wohl sagen, find die Widafinken bis jezt in der Gefangen schaft bis auf ganz vereinzelte Fälle noch nicht
Die Widafinken oder Witwenvögel.
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Der Hahnschweif- Widafink (Vidua wie es scheint , jagt er durch plögliches, stürmiſches Daherſchießen und Schnellen des langen | caffra , Lchtst. ) , der größte und wiederum einer der schönsten unter diesen Schmuckvögeln Schwanzes lediglich zu seinem Vergnügen alle gefiederte Welt, selbst größere Vögel, in blinde ist nur in Südafrika , namentlich im Osten Angst und tolles Entseßen. Man darf ihn daher des Vorgebirgs der guten Hoffunng und im Kaffernlande heimisch , wo man immer kleine nur abgesondert im geräumigen Käfige halten. Schwärme von 20-30 Köpfen beisammen Im grauen Gefieder ist er übrigens durchaus und unter ihnen nur 2-3 ausgefärbte harmlos und friedlich. Hinsichtlich der Fütterung Männchen beobachtet haben will ; auch die Nester und ganzen Verpflegung ist er mit dem vorigen übereinstimmend, ebenso berichten die Reisenden. sollen nebeneinander an Schilshalmen oder auch nichts Abweichendes in Betreff des FreiMaisstengeln hängen. Im übrigen ist über lebens , während sie allerdings nur kurze Andas Freileben noch fast gar nichts bekannt. Die gaben machen ; sein Gesang ist eigentlich nur Hahnschweifwitwe von den Händlern gewöhnein zirpendes Geschwät mit einzelnen schrillen lich Epaulettenwitwe genannt, ist ein ſtattlicher Tönen. Sein Preis beträgt im grauen 9 Mark Vogel , nahezu von der Größe eines Stars, am ganzen Körper tiefschwarz, mit rot und und im Prachtkleide 18 Mark für das Paar. Der Königs - Widafink (Vidua regia, weißen Schultern und einem überaus langen L.) ist der schönste unter diesen Prachtfinken, und vollen Hahnenschwanz aus schief dachförmig leider aber auch der seltenste , denn er ge- gestalteten, gebogenen Federn, und mit weißem langt gegenwärtig kaum in unsere Käfige, Schnabel. Sie gelangt immer nur in einzelnen während er noch zu Bechsteins Zeit wenig Männchen in den Handel, und ein solches hat für stens im Handel vorkam. Er wurde vor- jeden zoologischen Garten ganz beſondern Wert. nehmlich von den Portugiesen nach Europa. Es zeigt sich gegen kleinere Vögel mutwillig, eingeführt und Buffon sagt, daß er damals aber nicht bösartig , dagegen verfolgt es die in Paris zu finden gewesen sei. Ich habe nahe verwandten Feuerweber anscheinend mit ihn nur ein einziges Mal erlangen können größter Wut. Von einem hohen Zweige aus und außerdem niemals weder im Handel ge- fliegt es mit etwas schwerem Flügelschlag funden, obwohl meine Verbindungen doch die und wallendem Schwanze seinen Strich , um auf denselben Siß zurückzukehren, und gewährt weitreichendsten sind , noch in irgend einem zoologischen Garten oder einer anderen derin dieser behaglich malerischen, nicht besonders artigen Anstalt gesehen ; selbst der Londoner stürmischen Bewegung einen überaus schönen Garten hat ihn noch nicht beſeſſen. Der alte Anblick ; das dabei ausgestoßene Zirpen und französische Vogelkundige Vieillot (zu Ende des Kreischen klingt nicht angenehm, doch auch nicht vorigen Jahrhunderts) ſchwärmt von der Schönsehr schrill, der Geſang besteht nur in einzelnen heit und Liebenswürdigkeit der veuve à quatre lauten Tönen zwischen ziemlich verworrenem, brins überschwenglich und lobt auch ihren leisen Gezwitscher. Leider gehört der Prachthübschen Gesang. Die Königswitwe , welche vogel zu den größten Seltenheiten , und die Weibchen hat man , wie gesagt , bisher noch ich erhielt, starb leider , bevor sie sich zum Brachtgefieder verfärbte, und ohne daß ich sie gar nicht erlangen können, so daß also Züchtungsversuche nicht angestellt worden. Der Preis näher beobachten konnte. In voller Pracht ist das Männchen an Oberkopf, Rücken, Flügeln beträgt etwa 45 Mark für das einzelne und Schwanz tiefschwarz; Nacken, Hinterhals, Männchen. Der Halbmond - Widafink (Vidua arKopf- und Halsseiten, sowie die ganze Unterſeite find hellrotgelb ; Hinterleib und untere Schwanz dens, Bdd. ) ist am ganzen Körper tiefschwarz, an der Oberbrust mit einem brennendroten, decken reinweiß; Schnabel und Füße rot ; aus dem Schwanz ragen vier einzeln stehende, sehr halbmondförmigen Schilde geziert ; aus dem verlängerte , ährenartige Federn hervor. Die Schwanz stehen, wie bei der Dominikanerwitwe, Größe ist etwas bedeutender als die der vorigen. nur vier einzelne, verlängerte, aber gleichmäßige, Die Verbreitung soll sich nur über einen Teil nicht wie bei der Königswitwe ährenförmige, des südlichen und westlichen Afrika erstrecken Federn hervor ; die Größe ist etwa der unseres und auch dort dürfte der Vogel nirgends häufig | Haussperlings gleich. Als seine Heimat ist vorhanden sein. bis jetzt nur der Süden und Osten von Afrika
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Barl Ruk. Die Widafinken oder Witwenvögel.
bekannt, und in Betreff des Freilebens liegen sein. Er gleicht in jeder Hinsicht den beiden noch weiter keine Nachrichten vor, als daß das vorigen , nur gelangt er höchst selten einmal lebend in den Handel. - Ter weißgezeichnete Nest zwischen Grasbüscheln hänge , und nach der Brutzeit sich große Schwärme ansammeln. Widafint (Vidua albonotata , Bp. ) ist Auch er wird leider äußerst selten und immer tiefschwarz mit zwei großen weißen Flecken auf nur einzeln lebend eingeführt, und der Preis jedem Flügel. Heimat Süden und Westen Afrikas. ſteht dann ebenso hoch wie bei dem vorigen . Afrikas . Etwas Näheres ist nicht bekannt, und der Vogel dürfte auch nur beiläufig und Im Handel heißt er Halbmond- und auch Schildwitwe. zufällig einmal lebend zu uns gelangt sein. Der gelbschulterige Widafink (Vidua Die jetzt folgenden letzten beiden Arten flaviscapulata , Rpp .) iſt einfarbig tiefschwarz dürfte man auf den ersten Blick gar nicht zu den Widasinken zählen, denn sie erhalten auch mit gelben Schultern, schwarzem Schnabel und im Prachtgefieder keinen verlängerten Schwanz ; etwas größer als ein Sperling. Mit ihm die eine hat man daher in der That auch beginnen die Arten, welche nicht mehr die malerischen langen , sondern nur halblange lange Zeit zu den verwandten Prachtsinken und die andere zu den Webervögeln gezählt. Schwänze haben, die zum Prachtgefieder nur etwa um die einmalige Länge des Körpers Beide zeigen indeſſen den alljährlichen Farbenhervorwachsen, auch nicht gebogen sind, ſondern | wechſel, das flughüpfende Liebesspiel, sowie das stürmische Wesen und auch alle übrigen Eigengeradeaus stehen. Er lebt als Standvogel vornehmlich in Abessinien , und über sein Freitümlichkeiten mit den anderen Widafinken überleben, welches den allgemeinen Angaben , die einſtimmend, ſo daß hinsichtlich ihrer Zuſammenich in der Uebersicht gemacht habe, ent= gehörigkeit gar kein Zweifel obwalten kann. Der Widafink kurzschwänzige spricht, liegt ein ausführlicher Bericht des
Afrikareisenden , Th. von Heuglin, vor. Die (Vidua axillaris , Smth .) gleicht dem Hahngelbschulterige oder Gelbschulterwitwe iſt nicht | schweif-Widafink, doch iſt er kleiner , nur etwa ganz so selten, als die leztvorhergegangenen, so groß wie ein Haussperling und wie erdoch gelangt sie nur hin und wieder einmal wähnt fehlt ihm der lange Schwanz . Seine einzeln oder pärchenweise in den Handel, Heimat soll sich über den Süden und das tropische Afrifa überhaupt erstrecken . In der und der Preis beträgt 24-30 Mark für das Paar. Nähere Beobachtungen hinsichtlich des GeLebensweise soll er dem Verwandten gleichen, fangenlebens liegen bisher weder bei ihr, noch einen nicht unangenehmen , melancholiſch klagenAuch er wird nur den Ruf hören lassen. bei den übrigen nächsten Verwandten vor. Der gelbrüchige Widafink (Vidua höchst selten lebend eingeführt und steht dann in Beliebtheit und Preis dem Verwandten gleich. macroura , Gml. ) gleicht dem vorigen in Den Beschluß macht der stahlblaue Größe und Färbung , nur zieht sich das Gelb zugleich über den Oberrücken. Seine Widafint (Vidua nitens , Gml . ) , der allHeimat dürfte sich über den größten Teil bekannte Stahlfink oder Atlasvogel, welcher sich von allen Verwandten von vornherein auch West- und Ostafrikas erstrecken ; in allem durch die geringere Größe unterscheidet, indem übrigen , in Lebensweise u. a. , soweit die selbe bis jetzt erforscht worden , zeigt er sich er nur etwa unſerem einheimischen Zeiſig gleichkommt. Er ist tiefschwarz, metallblauglänzend, gleichfalls mit dem vorigen übereinstimmend, und das schneeweiße Schnäbelchen, sowie die und auch er ist im Handel recht selten. Die Händler unterscheiden übrigens diese beiden rosenroten Füße heben sich von dem Gefieder Arten kaum , doch wird die leytere zuweilen lieblich ab. Seine Heimat erstreckt sich über breit Der Trauerwitwe genannt. den größten Teil Afrikas, und nach den Beſchwänzige Widafink (Vidua laticauda , richten der Reisenden lebt und niſtet er dort Lehtst.) ist ebenfalls tiefschwarz, aber mit ganz ebenso wie bei uns die Haussperlinge. scharlachrotem Oberkopf, Naden und breitem Auch schlagen sie sich zeitweise zu sehr großen Brustband ; der halblange Schwanz ist gleich | Schwärmen zusammen. Bereits die ältesten falls schwarz und ebenso der Schnabel. Seine ornithologischen Schriftsteller, so Aldrovandi (17. Jahrhundert), erwähnen ihn, und heutigenHeimat ist nur Abessinien und Habesch, und tags gehört er zu den gemeinsten aller Stubener soll selbst dort überaus selten zu finden
Ernst Bosch. Der Dorfkünstler.
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Bosch
Der Dorfkünffer.
You
ruft Bosch.
vögel. Zu Bechsteins Zeit stand das Pärchen schaft viele Jahre vortrefflich. Eine Spielart, im Preise von 4 Louisdor ; gegenwärtig preist welche ganz ebenso tiefschwarz , aber metalldasselbe zwischen 6-10 Mark und im Groß grün glänzend ist (Vidua aenea, Hrtl .) , lebt in Ostabessinien und im Gebiet des Weißen handel zuweilen nur 2-3 Mark, weil der Fink zeitweise in überaus großer Anzahl besonders | Nil, ist dort jedoch selten zu finden, und gelangt von der Küste von Guinea aus über Bordeaux | daher nur gelegentlich einmal in den Handel. Wer ein Pärchen dieser prachtvollen Finkenund Marseille eingeführt wird. Um seiner Schönheit willen ist er recht beliebt, doch zeigt vögel im recht geräumigen , zweckmäßig eingerichteten Käfige hält , wird an denselben, er sich in der Vogelstube, wenn auch nicht als bösartiger Raufbold , so doch als ein arger, gleichviel welche Art es sei , sicherlich Freude mutwilliger Necker und mit dem schönen, und Vergnügen haben ; ungleich größeres aber fann eine ganze Sammlung aller oder doch sanfteren Paradies- Widafink darf man ihn gar nicht beisammen halten, weil er denselben heftig der meisten Arten gewähren , wenn man es und hartnäckig befehdet ; im grauen Gefieder zu ermöglichen vermag, sie in sach- und naturgemäßer Weise zu beherbergen und zu verpflegen. ist er ruhig und friedlich. Leider ist auch er für die Züchtung nicht gefügig, denn man hat Möchte diese Schilderung dazu beitragen, den bisher im Laufe langer Jahre und trot viel herrlichen Widafinken immer neue Freunde facher Bemühungen erst zweimal den Erfolg und Liebhaber zuzuführen. Sie sind dessen glücklicher Zucht gehabt. Sonst aber ist er in so hohem Maße wie kaum andere Schmuckausdauernd und erhält sich in der Gefangenvögel wert.
Justus Scheibert .
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Ein Ritt längs der französischen Ofgrenze. Von
Justus Scheibert.
My dear Sir! Ihr freundlicher Brief traf mich in Neufchatel, wo ich noch immer sommerfrischelte , und ich vermutete , daß Ihre verlockende Verführung zu dieſer Reiſe wohl durch die strategische Lage meines Sommeraufenthaltes hervorgerufen worden war. Eigentlich sollte ich recht böse auf Sie sein , daß Sie meine Freundschaft zu Ihnen stets in so maliziöser | Weise mißbrauchen ; wie damals, als Sie mich in Fort Fisher (am Cape Fearslusse) besuchten und mir schließlich alle meine militärtechnischen Geheimniſſe abſchwaßten. Schändlicher aber haben Sie mich diesesmal behandelt, indem Sie meinen fanatischen Eifer für die Ingenieurtechnik anzustacheln wußten und durch Ihre Schilderung der "Forts-gepanzerten" Ostgrenze Frankreichs mich so neugierig machten, daß ich wirklich auf | den elenden Leim ging und mich als neutraler Amerikaner gewissermaßen auf die „ Spionreise" schicken ließ , damit Sie sich nicht selbst die Naſe zu verbrennen brauchten. Ich muß wirklich manchmal über mich selbst lachen, daß ich, der ich als professionirter Nichtsthuer, bei dem leider Zeit und Geld keine Rolle spielen, einen so behaglichen Sommer genießen konnte , so dumm war , diese ebenso strapaziöse , wie in vielen Beziehungen sehr thörichte (dull) Reise zu unternehmen. Ich hätte noch mehr Unannehmlichkeiten von derselben gehabt, wenn nicht meine in Louisiana erworbene Fertigkeit der französischen Sprache und der von Ihnen so oft verspottete Knebelbart mich überall da, wo ich es wollte, als Franzose hätten erscheinen. laſſen ; auch kamen mir die Erfahrungen, welche ich beim Bau des Forts Saint- Cyr bei Paris gemacht hatte, bei welchem ich mich, wie Sie ja wissen , vier Wochen lang als AmateurBaubeamter eingeschlichen hatte , bei meiner sonderbaren Unternehmung sehr zu statten. Anfangs hoffte ich , Freund Billy zum Mitthun zu bewegen und hätte ich vielleicht eine amüsantere Fahrt gehabt , allein seine leidende Brust und sein etwas schwerfälliges Wesen geboten es , ihn lieber bei der Frau
Doktor zu lassen, der er noch immer nachschmachtet. Sie müssen in Folgendem natürlich mit dem vorlieb nehmen , was ich mit den dilettantenhaften Augen eines Milizkapitäns gesehen habe. Doch zur Sache. Ich machte mich also , mit den nötigen Sektionen der franzöſiſchen Generalſtabskarte versehen , auf den Weg, indem ich mit der Eisenbahn über Delemont nach Porrentruy fuhr, eine Linie, welche durch die sie stetig be: gleitenden, teils einsamen , teils schroffen mit fruchtbarsten Dorfstrichen unterstreuten Juragebilde sehr lohnend ist. In Porrentruy nahm ich einen Wagen bis Cheveney , wo auf der Bost ein trefflicher Gaul verkäuflich sein sollte. Ich sah mir das Pferd an, und wenn es auch keiner von unseren amerikanischen Huntern war, so hatte das Tier doch eine Eigenschaft , für deren Vorliebe Sie mich schon so oft furchtbar verhöhnt haben , er schaukelte nämlich einen „famosen Paß “ . Vald brachte mich denn auch der rüstige Schaufelstuhl auf den Kamm des Jura, d. h. an die französische Grenze , wo ich in einem nahe dem Passe liegenden Wirtshause übernachtete. Ich gab mich für einen Yankee vom reinsten Wasser aus , um die Tollheit zu bemänteln, heutzutage noch eine Reise. zu Pferde zu machen , was natürlicherweise mehr Aufsehen erregte, als mir lieb war. Die erste Befestigung, die mir schon_morgens entgegentrat, war das Fort du Lomont, welches sich auf dem langgestreckten Berge gleichen Namens befindet, einem Kalksteinrücken, durch welchen der Doubs sich grollend seinen Weg bahnt. Die Anlage des benannten Forts ärgert noch heute die Herren Schweizer , da es wirklich unangenehm hart an deren Grenze stößt, und sie haben darum schon oft mit drohenden Mienen eine tüchtige Faust — d . h. in der Tasche - gemacht. Leider ließ man mich trotz aller meiner diplomatischen Künste nicht nahe genug herankommen, um die Details des Baues zu sehen. Derselbe ſchien mir die Form eines länglichen bastionierten Vierecks zu haben ; die Gräben sollen wie bei St. Cyr mit 7 bis 8 Meter hohen gemauertenKontre- Eskarpen versehen sein, deren Höhe wohl genügen möchte, jeden Angreifer von dem Herabspringen in den Graben abzuhalten. Soviel ich sah, waren die Gräben schmal und ist mir nicht recht klar, wie Ihr dieselben tros Eurer trefflichen Geschüße von weitem breschieren wollt. Selbst-
Ein Ritt längs der französischen Oftgrenze.
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verständlich waren die Gräben mit Koffern verhinab. Wegen des langen Vergabreitens stieg sehen, von welchen aus sie der Länge nach zu ich vom Pferde und schlenderte zu Fuße die bestreichen sind, eine Konstruktion, auf die wir Straße entlang, die herrlichste Aussicht bewunin Amerika , wie Sie ja selbst gesehen haben, | dernd , welche das malerische Doubsthal ge= ich glaube mit Recht, verzichteten . Am Walle währt. Bei Pont de Roide stieß ich , Ihrer fand ich jene merkwürdige Erscheinung wieder, Voraussagung gemäß , wieder auf ein festes Fort, welches, offen gestanden, mir noch überwelche ich beim Bau von St. Cyr zu meiner flüssiger erschien, wie das vorige. Seiner tak Verwunderung entstehen sah, welche aber nun, wo ich sie vollendet antraf, mir vortrefflich tischen Lage nach beherrscht es allerdings das gefiel, das ist die charakteristische doppelte BrustDoubsthal, aber ich glaube nicht, daß ein Feind wehr der franzöſiſchen Forts, welche gewissergerade Luſt hätte, das Thal hinauf zu klettern. maßen eine doppelte Verteidigung in Terrassen. Die Zahl der dort erbauten Forts überermöglicht , indem auf der oberen Stufe die stieg wirklich mein Erwarten ; denn kaum war schweren Brummer grollen, während auf dem ich am andern Morgen langsam über den Berg unteren Vorbau dichte Schüßenlinien und ein- des Bois de Mathay geritten, so stieß ich schon gestreute Feldgeschütze kämpfen. Was mir wieder auf ein Werk, welches auf dem sogenannten nicht gefällt ist, daß, wie ich von St. Cyr her Mont - Bart erbaut wird und schon ziemlich weiß , die Löcher , genannt „ Poternen", durch fertig war. Natürlich ist auch Montbeliard welche die Infanterie zu ihren Stellungen kommt, befestigt. Mit dessen Anlagen will ich Sie zu enge sind ; dies wird bei einem plöglichen. aber nicht belästigen , da ihr Deutsche euch Sturm gewiß Verwirrung erzeugen, auch wird, wahrſcheinlich auf die Belagerung von Belfort meiner Ansicht nach, bei einer tüchtigen Minen- | beſchränken, oder auf anderen Wegen, als gerade bresche die ganze Infanteriebrustwehr in den dem Doubs entlang in Frankreich eindringen. Graben mithineinrutschen. Troß der sehr deutwerdet. Die großen Forts scheinen mir alle lichen Sprache eines Aufsehers, der mir offendieselbe Physiognomie wie das von Lomont zu tragen und sollen sie wie jenes bis gegen bar mißtraute, konnte ich mich doch nicht entschließen, sofort das Feld zu räumen, denn im 3000 Mann Besaßung fassen können. Da ich Geiste sah ich die Brustwehren sich beleben, ja nur einen Ueberblick über die Befestigungen oben auf dem Werke zwischen je zwei Traversen haben wollte, so ritt ich von Montbeliard, wo ein schweres Geschüß seine verderblichen Blize ich im Hotel nahe des Schloſſes vorzüglich unschleudern, die Infanteriebrustwehr mit dichten tergebracht war, über Grand Charmont auf die Höhe hinauf und wollte auf Belfort zu schwarzen Linien ſich bevölkern und das ganze nach Brevilliers steuern , wo auf dem Mont Werk in Pulverrauch hüllen ; ein Rauch, der Vaudois ein Fort gebaut sein soll. Ich verbei stillem oder gar feuchtem Wetter der oben irrte mich aber in den dichten Wäldern und stehenden Artillerie beim Zielen sehr hinderlich sein wird. Ich zählte allein gegen 20 schwere gelangte ſtatt deſſen nach Dorans südlich von Geschüße , welche nach einer Richtung feuern Belfort. Hier, auf einer schönen Anhöhe stehend, konnten, so daß beſonders auf dem etwas felübersah ich, als ich aus dem dichten Wald sigen Boden der Umgegend das Nahen an das trat , den ganzen Kranz der vorgeschobenen Fort wohl verderblich sein möchte. Frage ich mich anderſeits , was will das Fort hier, so Befestigungen. Ich hätte mich schwer orientieren steht der Schaden , den dasselbe thut , wohl können, wenn nicht ein munterer schwarzlockiger kaum im Verhältniſſe zu den Unkoſten, welche französischer Backfisch, der auf einen Stein es verursacht, denn ein größeres Korps wird sich ausruhte und den Korb neben sich gesetzt hier kaum übergehen wollen und ein kleines hatte , mich freundlichst belehrt und in seiner netten lebendigen Art mir die Namen aller würde, wie ich mich überzeugt habe, es leicht umgehen können. Ortschaften genaunt hätte. Links auf einer etwas abgeholzten Höhe Da man mich zu verhaften drohte und ich befand sich das Fort auf dem Mont Vaudois, noch nicht Luſt hatte, mich als Spion verhören während rechts bei Vezelois ein ebensolches zu lassen, so gab ich meinem Gaule die Sporen noch im Ausputz begriffen war. Wie auf königund „ kedaddelte “ , wie wir Amerikaner zu sagen pflegen , die steile Straße nach dem Doubs lichem Throne ſizend, ſchauten im Hintergrunde
Justus Scheibert,
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Stizze eines franzöfifchen Forte. von den Bergen du Salbert und d'Arsot zwei schöne Bauten herab, welche (rechts von einem Fort beim Dorfe Roppe) unterstützt wurden. Dicht vor mir lag das Fort von Botans ; im Mittelpunkt aller Forts das malerisch gelegene Belfort ; das von Ihnen mir bezeichnete Fort La Côte konnte ich nicht erblicken ; es war wohl durch Wälder maskiert. Die alten Forts der Perches pp., welche ihnen im Jahr 1870 so viel Mühe gemacht hatten , waren, wie ich michbei näherer Besichtigung überzeugte, auf das Sorgfamste ausgebaut worden. Der Totaleindruck, sowie die nähere Besichtigung der Festung Belfort ließen mich die Ueber-
Unannehmlichkeiten haben konnte , schnell nach Belfort hinab und übernachtete in einem kleinen vortrefflichen Gasthofe im Fauburg des Ancêtres. Nachdem ich am nächsten Morgen die herr-
liche Ausblick gewährende Stadt durchschritten und die Festungsanlagen , über die ich Ihnen noch das Nähere mündlich berichten werde, ge= sehen hatte, machte ich mich bei scheußlichem Regenwetter zu Pferde auf den Weg nach Giromagny, indem ich die Savoureuse entlang ritt. Kaum hatte ich mich eine Stunde vom Berge du Salbert entfernt , als ich schon wiederum auf ein Fort stieß, welches von der Tête du Milieu durch die Regenwolken finster
zeugung gewinnen, daß die Festung als solche eine recht starke ist , noch gekräftigt durch die Forts, welche in einem Kranze 3-5000 Meter vorgeschoben und ebensoweit , an manchen Stellen allerdings noch weiter, unter sich entfernt liegen, wenngleich ich Ihnen gestehen muß, daß ich, nach meinen amerikanischen Begriffen, bei den dichten Wäldern und tiefen Schluchten mich nicht scheuen würde , in die Lücken
auf die Gegend hinabschaute. Auch dieses glich im großen und ganzen dem Fort des Lomont, während die um Belfort gelegenen Werke dem mir bekannten Fort St. Cyr bei Paris ähnlicher waren. Die letteren Werke können etwa mit 14 schweren Geschüßen gleichzeitig nach einer Seite feuern , und sind die meisten der Forts , welche die Festung umschließen , mit 30 schweren und 24 leichten Geschüßen ar=
hineinzudringen. Um mich näher zu orientieren, ritt ich gegen Abend von Dorans, wohin mich meine allerliebste kleine Begleiterin führte und mich in eine reinliche Auberge wies, über Banvillard nach Urcerey und Echenans, mich zwi schen und hinter den Forts hinweg bewegend. In Echenans blieb ich die Nacht und setzte am andern Morgen auf Umwegen über Höhen und Schluchten meinen Ritt nach Chalon villars
miert, und etwa mit 1000 Mann Infanterie besetzt. Die Geschüße, welche in der Nähe von Giromagny in Marschlafetten lagerten, waren Vierzehncentimeter, welche mir wegen ihrer sauberen und akuraten Arbeit sehr gefielen . Daß Ihre Beschreibung , welche Sie mir machten, nicht übertrieben ist, muß ich hiermit bestätigen. Es schien mir, als sollten die Forts kein Ende nehmen , denn fast von 10 zu 10
und hinauf nach dem hohen Berge du Salbert fort. Oben angelangt, trat ein Sergeant auf mich zu, mit dem ich ein längeres Gespräch anzuknüpfen versuchte , um während der Zeit tüchtig auszuspähen, als ich aber mein Fernrohr ansette , wurde der anfangs gemütliche Mann sehr aufgebracht , so daß ich nur mit einem raschen Blicke den überaus herrlichen Anblick des Weichbildes von Belfort zu ge=
Kilometern stieß ich auf neue Befestigungen. Kaum war ich nämlich eine Stunde an dem herrlichen Vogesenabhange nach Nordost geritten, so trat mir bereits wieder ein im Bau be-
nießen vermochte.
Ich ritt darum ,
ehe ich
griffenes Fort, Ballon du Servance entgegen, dessen Form einem flachen Viereck gleicht. Ich hielt mich auch nicht länger auf, sondern ritt hinüber nach Le Thillot an der Mosel, wo ich übernachtete. Dummer Weise ließ ich mich von dem Namen „Mosel" bestechen und
Ein Ritt längs der französischen Oftgrenze.
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verðarb mir hier mit dem eſſigſauren Landwein | beschränken wird, da hier offenbar die vorjenes Thales gründlich den Magen. Ich hatte liegenden Vogesen jede größere Aktion mit stärdas Glück , hier meinen Gaul vorteilhaft an feren Armeen unmöglich machen. Von Epinal, einen Bauunternehmer zu verkaufen ; aber welches ebenfalls in derselben Entfernung, wie Belfort , besonweniger Erfolg hatte ich damit, ders aber nach der GIVET aus ihm Details deutschen Grenze BELGIE N zu von starken herauszupumpen, Forts, bei den die Ihnen etwa Dörfern DogneTRIER von Nuzen sein MEZIERES LUXEMBURG ville, Longchamp, könnten ; denn der Mann war zähe Razimontund auf SEDAN den Höhen La wie Schuhleder. Mouche und Bois Ich benutte DIEDENH. d'Arches , um= von nun an die MONMEDY
v.Rheims?
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VERDUN METZ
St.Mihiel Chalons TOUL
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Pont Vincent
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Le Thillot
B. de Serv T.d.M Giro
LANGRES
BELFORT
MÜHLHAUSEN
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StadtEpinal hin, in einerfast gleichKette mäßigen etwa alle 10 Kilo-
Nancy. Hier fand ich die erste Lücke BITSCH in den Befestigungen und zwar in einer Länge von 40 Kilovom ZABERN metern, nördlichsten Fort Epinal bis zum STRASSBURG mächtigen Fort bei Vincent. Nancy ist nicht
L
Euch preußischen Offizieren Ehre gemacht hätte, wenig überall stens in die Gräben zu gucken, da mir das Innere überall ver sperrt blieb. Das Endresultat meiner Beobachtungen ist, daß alle Bauten sich fast gleichen, und daß vom Fort du Lomont bis zur
geben ist, fuhr ich nach Bont St. Vincent und
SAARGMD
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jedem derselben auszusteigen und mit der Gewissen haftigkeit , die
SAARL.
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Bahn und ließ mir nicht die Müheverdrießen, obgleich ein Fort dem anderen außerordentlich ähnlich ist , bei
M.Bait
ONT Doubs P DELEM E BESANÇON de OW R du CH IZ Lopont Ostgrenze s ch Frankrei NEUFCHATEL
meter sich feste Forts befinden, die an der Mosel liegen, und zwar an dem linken hohen und steilen Ufer derselben. Ich kann mir nur denken , daß Gambetta , wenn er ein neuer „Napoleon“ werden sollte , auf dieser ganzen Strecke sich vollständig nur auf die Defensive
befestigt, obgleich dort augenblicklich eine große Panik herrscht, daß man den Drt etwa zur Festung umformen würde ; dagegen erhebt sich an dem Punkte, wo sich die Bahn von Nancy nach Toul abzweigt, ein sehr starkes Fort bei Frouard. Toul selbst,
weniger dicht von Forts umschlossen , bildet eine starke Fortsetzung der Grenzsperre , die sich von Vincent nunmehr wieder ununterbrochen über St. Michel (Camp Romain) bis nach Verdun hinabzieht. Allerdings ist südlich von Toul offenbar ein großes Lager 42
326
Alfred Friedmann. Epithalam .
gedacht , welches man durch Forts schon im Voraus zu schüßen suchte. Die Stadt selbst wird durch das große Fort St. Michel geschüßt, welches die ganze Umgegend beherrscht. Von dem Fort , auf das ich durch die Vermittelung eines Weinbergbesizers kam , dem ich , um mich einzuschmeicheln , einen Barrel Wein abkaufte, hat man eine prächtige Aussicht über die Niederung und die weiteren Forts bis Gironville.
den Eingang zu versagen. Eine Verteidigung mit fliegenden Korps würde hier außerdem um so erfolgreicher sein , als selbst die nahe aneinander liegenden Fortbefestigungen kaum im stande sein werden, kleineren Korps den Durchbruch zu verwehren, den sie an jeder beliebigen Stelle der Linie ausführen können. Was die Details der Anlagen betrifft, so scheinen mir die oft mitten in den Wäldern und in tiefen Schluchten angelegten Forts der Von Toul aus fuhr ich per Bahn nach großen Festungen viel zu weit voneinander entfernt zu stehen, um sich wirksam gegenseitig Commercy und ſah mir von dort aus das Fort unterſtüßen zu können. Es wird darum, meiner Gironville an, welches wieder den Anfang einer Ueberzeugung nach, möglich sein , deren Feuer neuen Kette Forts bildet. Ich konnte leider nicht erfahren, ob diese Forts ähnlich dem von auf engstes Wirkungsfeld zu beschränken und St. Cyr Batterien auf den Höfen haben (à la❘ außerhalb dieses Wirkungsfeldes nach Belieben Haro) welche über die Brustwehr hinweg in zu manövrieren. Als Amerikaner möchte ich das Vorterrain feuern . Verdun selber ist stark deshalb euch Deutſchen das Mahnwort zurufen : „Nur nicht ängstlich!" befestigt und durch 2 Hauptforts im Osten, welche gegen 7000 Meter entfernt auf einer In der Hoffnung, bald Gelegenheit zu haben. dicht bewachsenen Höhe liegen, geſchüßt, wäh- | Ihnen mündlich nähere Auskunft geben zu könrend im Westen 4 kleinere Forts den Kreis nen, bleibe ich ... Nancy, im Oktober 1881 . vervollständigen. Hinter den beiden großen Your faithful Friend Forts (de Tavannes und du Rozeiller) des F. J. P. . . . Ostens liegt außerdem ein kleinerer Kreis von 4 Forts geringerer Größe (Belleville , St. Captain. Michel, Belrupt und Haudainville) , so daß diese Festung wohl eine der stärksten der ganzen Linie ist. Von hier bis Montmedy ist wieder eine Lücke von 30 Kilometern ; Montmedy Epithal a m. selber ist stark befestigt. Meine Zeit war leider Von zu kurz geworden, die Werke selbst zu besichAlfred Friedmann. tigen, auch hörte ich, daß mit dem Bau der dort projektierten ziemlich nahe gelegenen 6 Forts noch nicht begonnen worden sei. Den Totaleindruck , den ich gehabt habe, will ich, halb Laie, halb Sachverständiger, Ihnen in wenigen Worten auseinandersehen. Ich gestehe offen , daß wir Amerikaner die Be-
festigungen im großen gerade in umgekehrter Art projektiert hätten , d. h . wir hätten den Abschnitt, auf welchem wahrscheinlich die Flut des deutschen Durchbruchs stattfinden wird, d. h. die nördliche Hälfte der Grenze von Epinal bis nach Belgien hinauf, stark befestigt und die südliche Hälfte, wo weder Eisenbahnen. einmünden , noch offenes Terrain die Aktion begünstigt, der thätigen Verteidigung von Reservekorps überlassen, um so mehr, als man hier den Hilfsquellen des südlichen Frankreichs viel näher ist und die unwegsamen Vogesen hier die günstigste Gelegenheit bieten, kleineren Korps
Kleine holde Lichtgestalt, Ganz von Anmut, Reiz, umwallt, Mit den Augen sanft und mild, Aechter Jungfrau lieblich Bild, Grüß dich Gott, du junge Braut, Der die Lieb' ins Aug' ,geschaut ! Friede sei auf deinen Wegen Und der Gottheit reicher Segen, Kleine holde Lichtgeſtalt, Ganz von Anmut, Reiz, umwallt! Möge dich nur Licht umleuchten Frende nur dein Auge feuchten ! All dein Liebestranm ſei Glück, Sonnig jeder Himmelsblick, Golden seien deine Sterne, Und ich grüß' dich aus der Ferne, Bleine holde Lichtgestalt, Ganz von Anmutsreiz umwallt!
4EVER
Com Mai
Maifest in Alt - England.
Von J. Schmidf.
Des Tags Verkünder kommt, der Morgenstern, Tanzt vor der Sonne her und bringt von fern Den Mai, der uns die goldnen Blüten beut Und Primeln aus dem grünen Schoße streut. Heil, gütger Mai, auch ferner gib Jugendfreud und Herzenstrieb! Die Natur in Wald und Hägen Trägt dein Kleid, preift deinen Segen. Wir grüßen dich mit unser'm frühen Sang, Wir heißen dich willkommen, bleib uns lang ! Mit diesen Versen begrüßte der noch jugendliche Dichter, der etwa drei Dezennien später, nach einer Zeit des gewaltigsten Ringens, das verlorene Paradies als sein Testament verfaßte, die Ankunft des Wonnemondes. Zum Verständnis der Strophe ist es wesentlich , daß wir uns vollständig in die zu Grunde liegende Situation versehen. Wir haben uns zu denken, daß der Sänger ausgezogen ist, um das Früh licht zu erwarten, die Morgenfrische zu genießen und im ersten Sonnenblick das Erwachen der Natur zu feiern. Im lustigen Alt-England eilte alle Welt auf
die Fluren hinaus, wie es im Sommernachtstraum heißt: Um einen Maienmorgen zu begehn. Der erste Mai war ein Nationalfest, bei dem kein Alter, fein Stand zurückblieb. Die Mädchen und jungen Burschen benußten die Gelegenheit, frei mit einander verkehren zu fönnen, lustig zu schäfern, oder wohl selbst bei der flüchtigen Begegnung einen innigen Herzensbund zu schließen. Aber auch die in gereif= teren Jahren , die Verheirateten nahmen an der Freude der Jugend teil und vergaßen die Sorgen des Alltagslebens. Die Feier war nicht bloß den Leuten des gewöhnlichen Volks überlassen, sondern die Begüterten und Vornehmen machten sie gleichfalls mit. So lesen wir, daß unter der Regierung Heinrichs VI. (1422-1461 ) die Aldermen und Sheriffs von London den Maitag im Walde ihres Bischofs festlich begingen und sich dort, was ja bei hohen städtischen Würdenträgern die Haupt-
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3. Schmidt.
sache zu sein pflegt , eine ihrem Ansehen entsprechende Tafel decken ließen, von der sie jedoch auch Ankömmlinge nicht ausschlossen, daß ferner der Dichter Lydgate zu dieser Gelegenheit Verse liefern mußte. Ferner ist uns von einem Maifest Heinrichs VIII . berichtet wor den, der mit seiner ersten Gemahlin, Katharina von Aragonien, in Begleitung vieler Höflinge, hoher Lords und feiner Damen von Greenwich nach Shooters Hill ritt und sich in harmlos bürgerlicher Weise erlustierte. Ein Schriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts schildert , wie an den Kalenden des Mai nicht nur Häuser und Thore , sondern an manchen Orten auch die Kirchen mit Zweigen. und Blumen geschmückt wurden ; er sett hinzu, die Sitte sei von den alten Römern entlehnt, welche ihre Göttin Flora auf dieselbe Weise zu ehren pflegten. Diese Angabe ist nun zwar nicht richtig ; wohl aber erinnern die alten Floralien, welche vom 28. April bis zum 3. Mai gefeiert wurden , im allgemeinen an das englische Frühlingsfest. Zu jenen gehörten theatra. lische Aufführungen und bunte Tracht ; dem . Aber entspricht der englische Mummenschanz es ist auch wieder zu sagen, daß im Charakter der beiden Feste ein wesentlicher Unterschied liegt. Bei dem freien Verkehr der Geschlechter am Maitage mochte gelegentlich einmal etwas Anstößiges vorkommen ; ein leichtfertiger Ton gehörte aber keineswegs zu dem Wesen der Feier, während es bei den Floralien gar nicht. anders als üppig und indezent hergehen konnte. Es ist unmöglich, sagt Shakespeare in Heinrich dem Achten (V. 3), am Maitag Morgen die Leute zum Schlaf zu bringen. Der Auszug geschah schon in der Nacht, oder wenigstens in aller Frühe unter Musik, oder es wurden Kuhhörner dabei geblasen, während solche auch als Trinkgefäße dienten . Man beneßte sich mit dem frischen Morgentau, um sich zu verjüngen und schöner zu werden , pflückte Blumen zu Sträußen und Kränzen , brach grüne Zweige von den Bäumen und gab sich ganz dem Genuß der Frühlingsnatur hin. Auch an den Floralien bekränzten sich die Leute, besonders mit Rosen , so daß man das ganze Fest als Rosenfest bezeichnen kann; in England mußte man sich mit weniger lebhaft gefärbten Früh lingsblüten begnügen. Zu den eben bezeichneten Freuden, die sich unmittelbar aus der Lenzfeier ergaben, kamen
noch allerlei Spiele und Luſtbarkeiten. Einen Teil des Festes bildete das Einbringen des Maibaumes (may- pole), einer Birke, die auf einem Plaße des Dorfes oder der Stadt aufgepflanzt, mit Guirlanden bekränzt wurde und eine Flagge erhielt. Um diese tanzte man am Nachmittag, und sie bildete auch den Mittelpunkt des mit Tänzen verbundenen Mummenschanzes. Daß bei einem Volksfeste auch gesungen wird , ist selbstverständlich. Wir haben ein kleines Lied aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, das die Aufrichtung der Maie feiert: Der Maibaum steht, Und der Becher nun geht ; Ich trink' auf alle die Schönen, Deren Hand ihn mit Glanz Von blühendem Kranz So herrlich wußte zu krönen.
Wie am heiligen Dreikönigsabend ein Bohnenfönig und eine Königin gewählt wurde, so hatte auch das Maifest seine Königin, gleichsam die Flora der Feier , die mit Blumen reich geschmückt in einer dicht am Maibaum aufgeschlagenen Laube thronte und die Huldigungen ihres Hofstaats entgegennahm . Man wählte dazu die schönste Jungfrau des Ortes , und Tennyson ihr Los galt als beneidenswert. schildert das Vorgefühl der Wonne eines Mädchens am Vorabend der Wahl zur Maienkönigin: Du mußt früh mich wecken und rufen , ruf' früh mich, Mutter mein ; 's wird morgen für mich die schönste Zeit im neuen Jahre sein, Der glücklichste Tag, o Mutter, in der frohen Tage Reih', Denn Königin werd ' ich ja , Mutter , ja Königin des Mai! Die Unglückliche ! Sie soll das nächste Maifest nicht mehr erleben. Im Vorgefühl des Todes bittet sie wieder ihre Mutter, nachdem sie schon ihr Grab bestellt hat , sie des Morgens zu wecken, damit sie wenigstens noch das Licht des neuen Jahres erblicke. Wie bei so vielen anderen Festen hat ſich auch bei der Frühlingsfeier am ersten Mai der ursprüngliche Charakter allmählich verwischt, und die poetische Auffassung ist einer poſſenhaften Travestie gewichen. An die Stelle der in Schönheit strahlenden jungfräulichen Königin trat ein junger Bursche, der die Rolle in etwas derberer Weise spielte. Dieser perſonifizierte
Das Maifest in Alt -England.
nun die im ersten Teil von Shakeſpeares Heinrich dem Vierten (III. 3 ) erwähnte Maid Mariane, die Geliebte des in alten Balladen gefeierten vogelfreien Wildſchüßen Robin Hood. Es dürfte sich schwerlich je aufklären lassen, wie es gekommen ist, daß diese zum Nationalhelden des sich gegen die normannischen Bedrücker auflehnenden Sachsentums und
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Will Stutely , einer der lustigen Gesellen, vor, man müſſe den Neuling umtaufen. Das geschieht etwa in derselben Weise wie bei den Füchsen unserer deutschen Univerſitäten, indem ein mächtiges Faß Bier aufgelegt wird . Die Namen werden umgestellt, der Hüne heißt Klein Johann (Little John ) und gibt durch seinen Namen fortwährenden Anlaß zu Späßen. Ein andermal traf Robin Hood einen jungen Mann, glänzend gekleidet und fröhlich ſingend ; demselben begegnete er am nächsten Tage ganz bleich und mit verstörtem Aussehen und hörte ihn bei jedem Schritte seufzen. Als er nach dem Grunde dieſes Wandels forschte, zog Allen- a - Dale - dies war sein Name
zum Heros der englischen Bogenkunst gestempelte mythische Persönlichkeit mit dem ersten Mai in Beziehung gesezt wurde ; es müßte denn sein , daß sein Herumschweifen in den Wäldern ihn für das Fest empfahl , an dem man sich ja auch im Freien zu ergehen pflegte. Vielleicht aber verfiel man gerade auf ihn wegen seiner populären Bedeutung, indem man Stoff einen Ring aus der Taſche und erklärte , er zu volkstümlicher Burleske suchte. habe denselben als Trauring für die seit sieben. Der Freibeuter Robin Hood soll nach der Jahren mit ihm verlobte Braut gekauft, aber Volkssage unter Heinrich II. und Richard noch vor Mittag solle sie von dem Bischof von Hereford mit dessen Bruder, einem alten Löwenherz mit seiner lustigen Schar im Walde von Sherwood in Nottinghamshire gehauſt und | gichtbrüchigen Ritter, verheiratet werden. Soſich ebenso sehr durch Güte und Freigebigkeit fort eilt Robin Hood in der Verkleidung als gegen die Armen als durch tötlichen Haß der Harfner mit wallendem weißen Bart in dunkFeudalherren ausgezeichnet haben. Und doch lem Gewande in die Kirche , indem er vierheißt es, er ſei ſelbſt hochadeliger Abkunft geundzwanzig seiner Mannen in einiger Entwesen und habe kurz vor seinem Tode seinen fernung folgen läßt. Er stellt sich neben den Titel als Graf von Huntingdon angenommen. Altar. Als dann der bejahrte Bräutigam die Auch von Maid Mariane wird hin und wieder Braut, jung und schön wie der Tag , herein. behauptet, sie sei eine Tochter Lord Figwalters führt, erhebt er Einspruch gegen das Aufgebot, gewesen und habe ihren Namen aufgegeben, da es kein angemessenes Ehebündnis ſei. Er als sie ihrem in die Acht erklärten Geliebten stößt ins Horn ; da stellen sich seine Mannen in die Wälder nachgezogen sei. wohl bewaffnet ihm zur Seite , geführt von Einst ging Robin Hood, so wird erzählt, Allen- a-Tale, der ihm seinen bewährten Bogen auf Abenteuer aus und stieß auf einen riesigen darreicht. Robin Hood wirft die Verkleidung und ungefügen Fremdling, der ihm den Ueberab und fordert die Braut auf zu erklären, ob gang über eine schmale Brücke streitig machte. sie wirklich den alten Herrn einem seiner friSie kamen überein , sich Eichenknüppel abzuschen Begleiter vorziehe. Errötend bekennt fie brechen und ihr Recht damit durchzukämpfen. ihre Liebe zu dem früheren Bräutigam. Da Nachdem sie sich gegenseitig wacker gebleut der Bischof auf des Freibeuters Forderung die hatten, erhielt Robin Hood einen so gewaltigen Liebenden zu trauen sich weigert , weil die Schlag über den Schädel, daß er betäubt ins Kirche ein dreimaliges Aufgebot verlange, läßt Wasser stürzte. Er rafft sich auf und watet er ihn abtreten. Er nimmt ihm aber seinen ans Ufer; da sett er sein Hifthorn an den Ornat ab, bekleidet damit Klein Johann und Mund und bläst. Sofort erscheinen seine Gegebietet dieſem, das Aufgebot siebenmal zu versellen und machen Miene den Gegner ins künden , falls etwa dreimal nicht genug ſein Wasser zu werfen. Doch ihr Häuptling, sollte. Die versammelte Menge muß darob entzückt über deſſen Kraft und Mut, hält sie lachen ; aber kein Einspruch wird erhoben. Die zurück und schlägt jenem vor , in seine FreiWildschüßen haben einen Hirſch im Walde von schar einzutreten. Der Fremde willigt ein Sherwood zum Hochzeitsmahle bereit , und mit den Worten : Obgleich ich Johann Klein Allen-a-Dale trennt sich nicht mehr von Robin (John Little) heiße, werdet Ihr finden, daß Hood , der ihm zu seiner schönen Frau verich Großes vollbringen kann." Nun schlägt holfen hat.
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3. Schmidt.
Klein Johann würde die Trauung wohl nicht haben zu vollziehen brauchen, wenn Robin Hood damals schon einen Geistlichen in seiner Schar gehabt hätte. Diesen sollte ihm ein neues Abenteuer zuführen. Schon lange hatte der gefeierte Freibeuter von einem gewissen Klosterbruder Tuck gehört , der aus seiner Abtei (Fountain Abbey) wegen seines un-
aber noch einige andere, die gleichfalls Erwähnung verdienen, wie Stokesley , Scarlet (Scharlach) und Much (Viel) . Sie trugen dieselbe Tracht wie ihr Führer , eine Waldlivree von grüner Farbe (Lincoln green) mit roten oder blauen Müßen ; doch werden statt der letteren auch Hüte erwähnt. Wir
haben sie uns außerdem mit einem mannshohen Bogen in der Hand, mit einem Köcher auf dem Rücken, mit Dolchen und mit Korbdegen bewaffnet zu denken. Dem Führer aber hängt zur Seite sein berühmtes Hifthorn . So wie Heinrich VIII. bisweilen mit seinen Höflingen die soeben beschriebene Waidmannstracht anlegte, so war auch das Kostüm der Maid Mariane bei den vornehmen Damen sehr beliebt , obgleich sie so bunt wie ein Schmetterling ausgesehen haben muß. Auf dem fliegenden Haar trug sie eine reich verzierte violette Haube, die hinten weit herunterhing , und darauf eine Krone. Ueber einer war sechs Fuß hoch , hatte eine breite Brust gelben Robe hatte sie einen blauen Ueberwurf und einen Arm wie ein Grobschmied. Diesen mit Aermeln von zartem Rosa und mit weißen kräftigen Gesellen traf einst Robin Hood am Aufschlägen, ferner einen scharlachenen BusenUfer eines Flusses und verlangte , hinüberlatz mit gelben Schnüren. Das wallende Haar getragen zu werden. Der Klosterbruder fügte galt als das eigentlich Charakteristische ; es sich , forderte dann aber den gleichen Dienst. wird in Shakespeares Heinrich VIII. an Anna Nachdem Robin Hood diesem Ansinnen ebenfalls Boleyn bei ihrer Krönung hervorgehoben. nachgekommen war, machte er geltend, daß sie Nicht nur Maid Mariane ist zu königdoch von ungleichem Gewicht wären, und daß lichem Rang erhoben, auch ihr Geliebter Robin er deshalb einen zweiten Ritt beanspruchen Hood wird als Maienkönig bezeichnet. Das dürfte. Auch diesmal nahm ihn der andere waldfürstliche Paar muß natürlich auch einen wieder auf den Rücken ; aber in der Mitte Hofstaat erhalten und dazu ist vor allem als des Fluſſes warf er ihn hinein. Robin Hood Hauptperson ein Hofnarr erforderlich. Dieser schwamm ans Land , stieß dann in sein Hift | Edle, dessen Späße dem unverfeinerten Gehorn und als darauf seine Mannen erschienen schmack der Menge entſprachen, trug ein buntwaren, forderte er Bruder Tuck auf, bei ihm scheckiges Kostüm , in der Regel ein rotes einzutreten. Dieser verhieß es, wenn er von Wams mit dunkleren Streifen, gelbem Gürtel einem der Schar im Bogenschuß übertroffen und gelben Aufschlägen , die Hose halb gelb, würde. Indem er dann auf einen vorüberhalb blau, rote Schuhe und eine blaue Narrenkappe mit gelben Eselsohren. Oft aber war fliegenden Habicht zeigte, sagte er : „ Den will ich schießen; wenn ihn einer trifft , ehe er zu auch der ganze Anzug buntkariert. Dazu kamen. Boden fällt , so geb' ich mich überwunden." Schellen an den Beinen, die Pritsche in der Hand. Klein Johann nahm die Herausforderung an. Der Hofstaat wurde durch Tänzer vervollAls man den Vogel untersuchte , hatte Tucks ständigt, bei deren Ausstaffierung die Vorliebe Pfeil den Flügel durchschossen, der Klein Jo- für Mummereien sich geltend machte. Nicht hann's die Brust bis zum Rücken durchbohrt. nur am Maifeste , sondern auch bei anderen Dieser war somit Sieger , und Bruder Tuck Gelegenheiten traten sogenannte Mohrentänzer schloß sich den lustigen Mannen Robin Hoods an. (Morris dancers ) mit geschwärztem Gesicht und in phantaſtiſchem Kostüm auf, z . B. in weißem Diese alle nun , die wir bisher namhaft gemacht haben, spielten ihre Rolle in der Schar Barchent mit Flittergold. Den Tanz, von dem des Freischüßen am Maitage ; dazu kommen sie ihren Namen hatten , pflegt man auf den regelmäßigen Lebenswandels ausgestoßen war und seitdem in einer Waldhütte lebte. Die Schilderung dieses klösterlichen Haudegens erinnert einigermaßen an Ilsan im großen Rosengarten ; nur sind ihm statt der ſpezifiſchen Züge eines altgermanischen Recken die Anlagen zum englischen Freibeuter verliehen. Er zeich nete sich aus im Gefecht mit dem quarterstaff, einem dicken Stab , der besonders von Forstleuten geführt und beim Kampf in der Mitte angefaßt wurde. Außerdem besaß er den Ruf, daß er einen Pfeil sicherer schöffe als irgend ein anderer Christenmensch. Er
Das Maifest in Alt-England.
ursprünglich aus Guinea stammenden und über Westindien nach Spanien gebrachten Fandango zurückzuführen. Endlich kamen dazu die sogenannten hobby horses, Darstellungen von Reitern , die in Pappe staken und sich dem wilden Tanze anschlossen. Wenn uns auch nicht alte Rechnungen vor-
lägen, welche die von Gemeinden aufgebrachten Kosten nachweisen , so würden wir immerhin vermuten können, daß bei einer solchen Gelegen heit, tüchtig geschmaust und getrunken wurde. Da zur Zeit der Königin Elisabeth , als schon längst das Schießpulver eingeführt war und die Schlachten entschied, die alte englische Bogenkunst noch in hohem Ansehen stand; so ist es leicht begreiflich, daß das Maifest, welches diese alte Tradition in der Person Robin Hoods und seiner Genossen ehrte , schon aus diesem Grunde hochgehalten wurde. Den Puritanern aber, in engherziger Auffassung der strengen Grundsäge Calvins, galten die harmlosesten Volksvergnügungen als heidnischer Greuel. Sie eiferten gegen die nach ihrer Ansicht unchristliche Feier des fröhlichen Weihnachtsfestes ; so konnte auch der erste Mai vor ihren Augen keine Gnade finden. Sobald sie zu Macht gelangt waren, wurden die Maibäume niedergehauen und ihre Aufrichtung bei strenger Strafe verboten. Die Restauration der Stuarts suchte das alte Volksfest wieder in seine Rechte einzuseßen; doch wollte es nicht gelingen. Der Zauber schien gebrochen zu sein ; man feiert. das Fest noch auf dem Lande, aber es ist nicht mehr ein Nationalfest , an dem sich
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alle Stände beteiligen. Wie sehr es heruntergekommen ist, erhellt daraus, daß es sich jezt nur in den Händen der Schornsteinfeger befindet. Man sieht in englischen Städten, auch auf den Straßen von London am ersten Mai gelegentlich eine wandelnde Laube , die alte Maienkönigin ; aber nur Kinder ziehen hinterher, kaum ein Dienstmädchen bleibt dabei ſtehen. Hauptsächlich aber wird man das Frühlingsfest daran gewahr, daß die Droschkenkutscher, sei es nun, weil sie fonservativ am alten hängen, sei es, weil sie das Bedürfnis einer poetischen Abwechslung in den Geleisen des Alltagslebens fühlen, ihren Hut, sowie ihre Pferde mit bunten Bändern, Schleifen und Rosetten schmücken. Es haben sich ferner unter dem Volke noch gewisse abergläubische Traditionen erhalten, die sich an den ersten Mai , so gut wie an andere alte Volksfeste knüpfen. Dahin gehört der Glaube , daß eine an diesem Tage aufgelesene Schnecke , wenn man ihren Weg beobachte , den Namen des künftigen Schages andeute. Der Dichter John Gay hat diesen Volksglauben in der vierten Idylle der Sammlung, welche den Titel führt : „ Schäfers Woche " in seiner humoristischen Weise geschildert : Am Maientag sucht' ich mir eine Schnecke, Damit sie Liebchens Namen mir entdecke. Ich fand ' ne Schneck' am Stachelbeerenstrauch, Sie gehn dem Süßen nach, das ist ihr Brauch. Schnell eilt' ich nun mit meinem Wurm nach Haus, Streut' auf den Herd die weiße Asche aus. Die Schnecke kroch, kam langsam von der Stell '; Doch ich las in dem Zug ein seltsam L. O, daß die Vorbedeutung wahr doch bliebe! Denn L bedeutet Lümmel so wie Liebe.
S to trikes
Anna Löhn-Siegel.
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Das Sommertheater in seinen Aranfängen. Von Anna Löhn - Siegel.
egen Ende der Vierziger Jahre wurde die n Gege geistreiche Erfindung der Sommertheater gemacht. Das erste, das ich kennen lernte und das einzige, das ich — Dank dir, Melpomene! betreten habe , war das Magdeburgiſche im Jahre 1848. Da stand es, bunt bemalt, im Graffschen Garten, und erinnerte mich lebhaft an ein Puppentheater von Pappe, welches das Entzücken der Nachbarkinder in meiner Heimat gewesen war. Purpurrote und grellblaue Vorhänge mit pomeranzengelben Fransen und Troddeln umgaben den Rahmen der Bühne, einige Versetstücke, welche graugrüne Sträucher darstellten, eine schmußiggrüne Rasenbank von geölter Leinwand , im Hintergrund ein wankelmütiges Bauernhaus mit einer wackelnden Thür , die den nicht vorhandenen Bewohnern zuweilen ins Haus fiel , dieses Tekorationsgeräte erfüllte die kleine , schräg abfallende Bühne, als ich sie zuerst erblickte , und über dem allen schien so lustig die Juniſonne, als freue sie sich, endlich einmal in die so lange mit geheimnisvollem Dunkel umgebene Kulissenwelt blicken zu dürfen .. Noch naturwüchsiger war der Zuschauerraum. Keine Ueberdachung . Himmelswolken , Sonnenschein Nur Natur. und Regen, Donner und Bliß, ohne auf ein Stichwort zu warten ! Die Sitzbänke bestanden aus Latten über Pfähle genagelt , Sand mit einzelnen Grasbüscheln bewachsen, bildete den Fußboden. Das Parquet war vom Parterre durch einige Pfähle geschieden , die wie Ausrufungszeichen in die Lüfte emporragten, hüben und drüben stand mit großen Buchstaben angeschrieben: Parterre ach ja , man war der Erde recht nahe ! und über einer Lattenwand , die den Graffschen Garten rechts von einem andern Biergarten trennte, erhoben sich dunkle Ulmenhäupter und schüttelten verwundert ihre Locken zu dem unkünstlerischen Treiben da drüben. Die Restauration , die dem sommerlichen Kunsttempel das Dasein gegeben hatte — denn es lag eben im Charakter der neuen Kunstära,
daß die Restaurationen Thalia als höhere Kellnerin anstellten die Graffsche Restauration befand sich links von den Holzbänken und dem Theater und war von beiden durch einen Kiesplay , in welchem der Fuß tiefe Spuren zurückließ, getrennt. Zuweilen drang das Gejohle aus der Wirtschaft über den Kies zu der Kunsthalle herüber und miſchte sich mit den zarten Seufzern der ersten Liebhaberin und den feurigen Liebesschwüren des Amoroso. Das Orchester war schwach. Schwächliche | Leistungen und schwache Beseßung. Die Muſiker hockten auf schwanken Holzbänkchen in einem | schmalen Pferch zwiſchen Bühne und Zuſchauerraum , der oft angeheiserte Souffleur fauchte wie ein erzürnter Kater aus einem Pappkasten hervor , der hochgelb bemalt war und einer Hinter den Zu| halbierten Zitrone glich. schauern that sich die schöne Magdeburger Gegend in endloser Streckung auf, und nur einige Windmühlen mit wuchtig arbeitenden Flügeln brachten eine geringe architektonische Abwechselung in die gedehnte Fläche. Mit ungekannten Schauergefühlen bestieg ich in der „ Drei Engelstraße“ zu Magdeburg, woſelbſt ſich die Theaterexpedition befand, den bereitstehenden langen Omnibuskasten, welcher die Künstler des Stadttheaters zum Graffschen Garten transportierte, denn das Stadttheater hatte die Verpflichtung übernommen, das neuentstandene sommerliche Kunstinstitut bei gutem Wetter zu bewirtschaften . Wir spielten freilich auch bei schlechtem Wetter, weil man in der „ Drei Engelſtraße“ , trotz ihren scheinbar nahen Beziehungen zum Himmel und seinen Heerscharen , um zwei Uhr nachmittags nicht wußte , ob um fünf Uhr, d . h . zum Beginn der Vorstellung , noch gutes Wetter sein würde. Der wackere Direktor | Wirsing, der damals das Magdeburger Theaterschiff lenkte, wurde aus diesem Grunde vielfach als Wetterprophet genect. „ Nun , Direktor ", riefen ihm seine Befannten auf der Straße zu, " wie steht's heute? Wackelt's mit dem Sonnenschein , oder fahrt Ihr hinaus ? Ihr in der Drei Engelstraße müßt's ja wissen." Ach , ich hätte , als ich die Fuhre zum erstenmale unternehmen mußte , nichts sehnlicher gewünscht , als einen von Regenschleiern. sanft verdüsterten Himmel , denn es war mir
Der erste Worgengruß.
Von Gustav Süs.
Das Sommertheater in seinen Uranfängen.
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fürchterlich, dem ernstrichtenden Tage, dem grellen drießliche alte Herr in die reizbarste Stimmung Sonnenschein, das bemalte Angesicht zu zeigen. | geriet und mit der Mejo und allen übrigen Von Leipzig kommend, aus klaſſiſcher Schule, fahrenden Künstlern Streit begann. Die kleine aus den zwar unscheinbaren , aber künstlerisch | Schäferin hatte nicht Unrecht , der Affe faß hoch renommierten Kunsthallen der berühmten zitternd im Winkel des Omnibus und ſtierte den alten Mimen an. Er schien in ihm seinen Universitätsstadt, hinab auf das Sommertheater des Graffschen Biergartens zu Magdeburg ! Feind zu wittern. Dieser Szene machte die Ankunft vor der Da durfte sich ein jugendliches Poetengemüt Graffschen Restauration ein Ende. Wir waren wohl niedergedrückt fühlen und still seufzen : Humor, verlaß mich nicht! über mehrere Festungszugbrücken , auf staubiger Der lange Schauspieler- Omnibus wurde von Straße und durch weiche Sandwege dahin gelangt. Zuerst krakelte Baudius mit dem Stocke den Mitgliedern „ der Affenkasten" genannt, in der Hand vorsichtig zum Wagen hinaus. Ich und er wurde es thatsächlich, indem eine Kollegin in reiferen Jahren ihren Liebling, einen folgte, gespannt den primitiven Muſentempel zu sehen. Ich hätte gern mit gelacht und geniedlichen Affen, auf allen ihren Lebenswegen mit sich führte, und der Ueberzeugung war, wiselt , allein mich quälte eine Empfindung, als gings geradeswegs in die Arena zum Glasie müsse in der bestgelernten Rolle stecken bleiben, wenn sie sich von dem Tiere trennte. diatorenkampfe der alten Römer, zum FechterSobald die Kollegen ihr zu verstehen spiele blutigen Andenkens , mit einem Worte : gaben, näher noch läge die Befürchtung, daß in die Zeiten und Institute des Verfalls hinein. ihr Spiel durch die freundschaftlichen Beziehun„Na," sagte Baudius , „nun schauen Sie gen zu dem Affen eines Tages zur Affengradaus . Dort oben auf den holperigen Brettern in der bunten Jahrmarktsbude sollen Sie komödie herabsinken werde , sang sie , von flehenden Blicken und Gebärden unterstüßt, gaukeln" . Die Alte hat schon recht, den Affen mitzubringen. Affentheater, Marionettenbühne, nach der Melodie Rebekkas in Templer und Harlekinade, Kasperle im Frack , HundekomöJüdin : „Laßt den Affen (Schleier) mir , ich bitte!" Und die Kollegen antworteten nach den- die! Aber das Publikum sein. Hochfein. Die höchsten Chargen des Militärs der Festung selben Noten : „Werft ihn naus mit Stiefeltritte ! " verschmähen es nicht , diese rohen Holzbänke Der alte Schauspieler Baudius , seiner ohne Dach zu beſeßen. Feldlager, Biwak, oder Zeit ein tüchtiger Künstler und noch immer so was Aehnliches . „ Direktorchen,“ rief Baudius ein wirksamer Darsteller der polternden Alten und komischen Chargen in vielen Stücken aus dem uns entgegengehenden Direktor Wirsing seiner Glanzperiode, jedenfalls aber ein „ orimit sauerfüßer Miene zu , „ verbieten Sie doch der Alten , den Affen mit herauszunehmen. ginelles altes Komödiantenhaus " , wie die Der Kerl springt Ihnen noch einmal aus der Kollegen sagten, war der grimmigste Feind des Affen und wünschte „der kleinen Kanaille Damengarderobe auf die Bühne herauf und tanzt ein Solo, während wir dort eine Staatsim grauen Naturfrack, daß sie bald verrede." ?? Seht ihr's denn nicht ," rief er in den aktion abhandeln. Die Mejo lacht schon wieder. Mejo, wenn Sie noch einmal bei ſo ernsthaften höchsten Fisteltönen indigniert aus, „ das Vieh Verhandlungen lachen — “ schneidet mir meine Gesichter nach. Er karrikiert mich und euch alle! " Drohend erhob der alte Herr den Stock Anna Mejo , später als Frau Grobecker mit dem großen elfenbeinernen Knopf und eine berühmte Soubrette des Karltheaters in drohte der Lustigen. Der kavaliere Direktor mischte sich in die Angelegenheit und zwar Wien , damals eine lustige Kunstnovize, be hauptete unter unaufhörlichem Gelächter , es begütigend, die scherzhafte Seite hervorhebend, wäre doch auch nicht zu leugnen und ganz wie er immer zu thun pflegte. Wirsing war in der That ein liebenswunderbar , daß das Tier , sobald Baudius in den Affenkaſten gestiegen sei, den Blick nicht würdiger, humaner Direktor und eine stattliche Erscheinung. Er pflegte sein Aeußeres , drehte mehr von ihm abwende. Natürlich flüsterte sie diese Bemerkung nur ganz heimlich ihren gern an seinem Schnurrbarte, strich ſorgfältig die dunkelblaue Atlaskrawatte , die aus der Nachbarn zu , aber unter so unausgeseztem Prusten und Kichern , daß der ohnehin verWeste hervorquoll , spielte mit dem eleganten 43
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Anna Löhn-Siegel.
gendste Publikum erschienen , weil sie weder Spazierstöckchen, glättete seine hochgelben Glaceehandschuhe und lächelte fast immer. Wirsing Augen noch Ohren hatten. Aber ich war noch machte den Eindruck , als sei er zu seinem nicht über die ersten Reden der Gräfin Marie Vergnügen Theaterdirektor , etwas , das seine hinaus , da machte ich die intereſſante Entdeckung, Kollegen wohl nicht gelten lassen werden. Seine daß der Souffleur mindestens ebenso laut sprach, als wir auf der Bühne. gelassene und heitere Art, mit den SchauspieVortrefflich ! Gedächtnisverlegenheiten wur lern zu verkehren, trug viel zu seinen direktoden vermieden und unliebsame Rollen brauchten rialen Erfolgen bei . Sie thaten ihm oft den nicht gelernt zu werden. Beherzter richtete Willen, weil er ihnen denselben in so hübsch ich die Blicke vorwärts . zuredender Art zu oftroyieren wußte. „Na, Direktorchen, werden Sie den Affen Aber wehe meiner kaum gewonnenen Faskonfiszieren ?" frug Baudius so scherzhaft, als sung ! Da saßen erschreckend dicht vor mir, es ihm der verhaßte Gegenstand gestattete, d. h. nur getrennt durch das handtuchſchmale während in seinen Augen der Ingrimm funkelte. | Orcheſterräumchen , zwei bis drei Reihen schnurrbärtiger Offiziere und sahen mir ins angemalte „Ja, ja doch," rief Wirsing lachend und ging aber nicht um den Affen zu konfis- | Gesicht. Ich geriet in Verlegenheit, die jungen Herren bemerkten es und lächelten. Sie wußten, zieren , sondern um , wie er später erzählte, daß ich noch auf keinem Sommertheater gespielt ein Glas Bier in der Reſtauration zu trinken. Baudius lächelte befriedigt und sagte, in- | hatte, denn ich stand auf dem Zettel als vom Leipziger Stadttheater kommend , wo die Kunst dem er das Kinn im Halstuch vergrub : „Die noch Priesterin und nicht Oberfellnerin war. Mejo wird mich nicht mehr auslachen, der fleine Racker!" Die vielen Epauletten blinkten im malitiösen Tagesschein ſo ſinnverwirrend, jeder gelbe Knopf Unsere Garderoben glichen amerikanischen der Uniformen spiegelte das große Gestirn zuBlockhäusern in den Uranfängen. Zwischen den Balken drang der Regen herein , wenn rück , und dann gab es noch so viel anderes wir bei schlechtem Wetter spielten, weil um Blankgepußtes an Helmen und Waffen , daß zwei Uhr nachmittags die Sonne trügerisch ich förmlich geblendet war und meine Rede geschienen hatte. Von den Garderoben führten vergessen haben würde (obgleich sie vom Soufkleine Holzstiegen zur Bühne hinauf. Aber fleur laut genug vorgesprochen wurde), wenn von der Thür bis zur Stiege waren die dieser mich nicht höchst ungeniert auf den Fuß Schauspieler wiederum allen Einflüssen der getippt hätte. Witterung ausgesetzt, denn der Gang war obEin solches Attentat auf die gute Sitte dachlos. „Ein Sprung und ich bin brachte mich zu mir ſelbſt. Ein zorniger Blick naß!" spotteten wir. fuhr in den Kasten blißgleich hinab und ein Schritt rückwärts brachte mich zwar in Kolliſion Hinter dem Theater samt Garderoben lag ein wüster Garten, eine Art Krautacker , von mit den dürftigen Salonmöbeln der Gräfin lebensmüden Sträuchern eingefaßt und von Marie, aber zugleich aus dem Bereich der Armverwahrlosten Bäumlein überragt . Hier wanlänge des Souffleurs. Von diesem Augenblicke an spielte ich, als hätten die Herren Offiziere delten wir umher und sammelten Anregungen zu Lebensprühenden Darstellungenbis unsere Stunde, die Festung nicht verlassen. oder vielmehr unser Stichwort gekommen war. Daß sie hier Zigarren rauchten , vergab ich ihnen am Leichtesten, denn der blaue Dampf, Daß ich zuerst im Landwirt" auftreten sollte , fand ich den Verhältnissen angemessen. der im Verlauf des Stücks immer intensiver Die Umgebung war so landwirtschaftlich, wurde, hüllte sie in eine schleierweiche Wolke und vor und hinter dem Theater gab es so ein und rückte sie in meinen Augen zuletzt in nebelhafte Ferne. viel urbar zu machen. Nun galt es noch das Klappen der BierBebend trat ich hinaus auf die schräg abfallende Bühne, es war mir , als sollte ich deckel, das Klappern der Kaffeetassen, die Strickzum Souffleur oder ins Orcheſter hinabrutſchen. | ſtrümpfe der Frauen und das Dreinreden Bebend auch richtete ich alle Monologgeheimder Hunde zu überwinden. Aber hier half mir wieder einmal der nisse an die hohen königlichen Ulmen drüben im andern Biergarten, die mir als das ermuti- | Humor.
Ich machte Spotttitel für die Stücke,
Das Sommertheater in seinen Uranfängen.
im die wir aufführten. ?? Der Landwirt" Bierfaß. " Der Kozebuesche Wirrwarr" in der Hundehütte. „Liebe kann Alles “ mit Strickſtrumpf und Kaffeeklatsch. Die Kollegen amüsirten sich und ich lachte anfangs ironisch, später herzlich mit, wenn wir ein neues Wigwort für unser Komödiantentum mit Sonnenschein und Regen erfunden hatten. Freilich, was die zudringlichen Witterungseinflüsse betraf, so verließ uns die gute Laune
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unser Bublikum nicht von den Bänken , selbst nicht das empfindlichere weibliche. Wir aber hatten die Verpflichtung zu spielen , so lange jene saßen , wenn es auch nur wenige waren. Da der Regen bisweilen die Laune hat , nicht in geraden Strichen zu regnen , sondern in schiefen, so wurden auch wir Schauspieler davon gestreift. Ein Vordach über der Bühnenstirn, wie ein breiter Schirm an einer Müße anzusehen , war mehr zum Schuße gegen die Sonnenstrahlen , als gegen den Regen angebracht worden. Zwar spielten wir uns rückwärts , wenn letterer bedenklich wurde , aber auch im niedlichen , von Möbeln bedrängten Hintergrunde waren wir nicht sicher, denn die Soffitten ließen die Näſſe durch, und da Humor Feuchtigkeit bedeutet, begab sich manches Humoristische auf der Szene. Wir führten einmal die in Prosa und modernes Kostüm überseßte Shakespearsche Widerspenstige" unter dem Titel : „Liebe kann Alles" auf. Liebe war es meines Erachtens nicht , die diese Uebersetzung schuf, wenigstens
zuweilen. Schon bei mäßigen Luftströmungen erlitt Blumauers Windgedicht Anwendung auf uns. Bei solchen Gelegenheiten blühten die Extempores der Komiker und die kurzgekleide ten Damen hielten die Röcke mit beiden Händen, anstatt zu agieren. Auch das Publikum fühlte sich durch Windstöße zuweilen zur Einsprache bewogen und machte scherzhafte Bemerkungen. Trat Regenwetter ein, so entstand vor unsern Augen bei schwacher Betröpfelung ein bewegliches Mosaik von ineinander geschobenen Regenschirmen, zwiſchen welche sich kleine bunte Sonnenschirme, ihrer heitern Bestimmung untreu gemacht , angstvoll eingeſchachtelt zeigten. nicht Liebe für Shakespeare. Alles konnte Auch mit einem Blumenbeete ließ sich unser sie auch nicht , denn sonst hätte sie das entseßliche Donnerwetter fern gehalten , welches Parterre vergleichen , denn die Offiziere im Parkett spotteten der Himmelsnäſſe. Da ragten sich über unsern Häuptern entlud und meinen zwischen den dunkeln Schirmblumen hier und gestrengen Petrucchio in schwarzem Frack und da die alten Pumpelrosen der von der Mode weißer Krawatte bewog , seine pädagogischen Experimente mit der jungen Frau furzweg längst abgeseßten roten Baumwollenen " auf. Publikum und Kritik erschienen vor uns mit abzubrechen und hinter den Kulissen zu verSeide und Baumwolle überdacht, und letztere schwinden. War es nicht der gewichtige Herr konnte uns daher wenigstens nicht unbedacht Regisseur Boy selbst , der vor dem Regen floh, verurteilen. Aber auch der süße Lohn des so erfolgte ernste Bestrafung, denn das Publikum Schauspielers, der Applaus, fiel fort, denn die saß noch fest. Ich, die moderne Widerspenstige, wagte nicht, eine gleiche Flucht auszuführen, obHände umklammerten Stiele, und kein Schirmgleich ich mehr Ursache gehabt hätte, mein weißes halter mochte den Enthusiasmus so weit treiben, Atlaskleid zu retten. Ich legte mich also vorum loszulaſſen. Die Hunde, die schon bei manchem kräfti- | schriftsmäßig auf das mit grünem Kattun gen Bravo das ihrige mit hinzugebellt hatten, überzogene Sofa, um einen schläfrigen Monolog zu halten. Als ich wieder aufstand, war das saßen stumm und geduckt unter den Bänken oder neben den Gebietern und hingen die Ohren Unglück geschehen. Der eingedrungene Regen und Schnauzen. Das Bier in den offenen hatte den Kattun zu Fahrlässigkeiten in der Bierkrügen wurde vom Himmel noch mehr als Farbe gezwungen und mein weißes Atlaskleid vom Wirt gewässert. Die Damen zupften die glich einer Landkarte mit grünlicher und bläuleichten Sommerkleider in die Höhe , um sie licher geographischer Einteilung. Gelächter vor der Berührung mit dem erweichten Fuß entstand im Publikum, das ich, weil ich auf dem boden und mit den Grasbüscheln zu schüßen, weißen Atlas nicht den Stielerschen Schulihre Füße hingen in der Schwebe. Alle Achtung atlas gewahrte , mir nicht zu deuten wußte, vor den Magdeburgern und ihrer Theaterund das zum rasendsten Beifallsjubel anwuchs, freundlichkeit ! So lange der Himmel nicht als Petrucchio plötzlich in Gummigaloschen, alle seine Schleusen geöffnet hatte, rührte sich Ueberzieher und mit aufgespanntem Regenschirm
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Hermann Kiehne. Frühlingslied.
erschien , um die Zucht - Komödie gegen die Widerspenstige fortzusehen. Aber so weit kam es nicht. Ein furchtbarer Donnerschlag wurde für das hartnäckig schaulustige Publikum zum Stichwort, sich zu erheben und in die Restau❘ ration zu flüchten. Nun war das Lachen an uns. Ei, wie hüpften, kreischten und stolperten sie da unten, wie schnell leerten sich die Bänke, wie stürzten die Biergläser und Kaffeetassen zur Erde, wie tanzten die Regenschirme über den Kiesplay dahin ! Die Lustigen unter den Flüchtlingen riefen : „ Das gehört auch zum Sommertheatervergnügen!" Aber das Vergnügen der Schauspieler bestand darin, den Affenkasten zu besteigen und unter tausend Scherzen nach Hause zu fahren. Eine sehr kurzweilige Geschichte hatte sich der selige Kotzebue für die Aufführung seines „Wirrwarr in allen Ecken “ beim Himmel bestellt. Ein Wind, wie er noch nicht dagewesen war, schien nicht üble Lust zu haben , unsere bunte Theaterbude von der Erde wegzufegen. Das Vordach hob sich , die Vorhänge am Theaterfenster lösten sich los , die Teppiche auf den Tischen flatterten empor und zeigten die dürftigen Holzgestelle darunter. Mir, als Doris, die gerade mit dem roten Regenschirme bewaffnet , „ dem Herrn von Selicourt in die Kuhställe nachlaufen will," fuhr Herr Blasius gewaltig in die Schirmplane hinein und hob sie in die Höhe , wodurch sie mit der Perücke des alten Herrn von Langsalm in die empfindlichste Berührung fam. Der wackere Baudius fiel aus der Rolle und schrie : „Wo bin ich ? Alle Teufel - die Perücke ist mir ins Gesicht gerutscht! Helft doch !" - Friz Hurlebusch kam herbei und führte Herrn von LangſalmBaudius zur Thür seines Theatersalons , um ihn die Treppe hinab in die Garderobe zu geleiten. Neuer entsetzlicher Windstoß ! Die Versetthür des Zimmers stürzte den beiden Flüchtigen auf den Hals. "Ich bleibe hier ! " rief Baudius und fügte einige Kernflüche hinzu. „ Führt mich zum Lehnsessel. Ich mag nicht hinunter in das Garderobenloch! Ich bleibe oben auf der Bühne und sollt' ich mit dem ganzen Puppentheater über die Windmühlen hinausfliegen. " Der Sturm ließ endlich nach. Herr von Langsalm saß , noch immer Flüche murmelnd, im Lehnstuhl, der Friseur rückte ihm die Be-
rücke zurecht und da es nach Aufhören des Sturms heftig zu regnen begann, spannte der alte Herr gemächlich den roten Regenschirm auf und schlief ein. Die übrigen künstlerischen Sommerschwalben aber warteten in den Garderoben auf die direktoriale Entscheidung, ob nach dem etwaigen Wiedererscheinen der längst entflohenen Zuschauer weiter gespielt werden solle oder nicht. Und richtig , als der Himmel ausgewettert und Herr von Langsalm- Baudius ausgeschlafen hatte, kam unser theaterfreundliches Publikum aus dem Wirtshaus hervor und lachend über die Pfützen daher gesprungen. Man trocknete die nassen Size und verlangte die Fortsetzung des Bühnenwirrwarrs nach überstandenem Lebenswirrwarr. Daß es darüber finster wurde und durch Anzünden mehrerer mattherziger Dellämpchen an der Rampe eine längere Pause im wiederbegonnenen „ Wirrwarr“ eintrat, infommodierte die Schaulustigen nicht, ebensowenig als eine neue Auflage Regen, die der Himmel herniedersandte. Da saß nun im Dunkel des Abends und der aufgespannten Regenschirme das Publikum vor uns und wir sahen es nicht. Seltsames Gefühl ! Aus der Nacht blißten hier und da einzelne Funken auf, es waren nicht etwa vom Himmel gefallene Sterne, sondern brenSie spiegelten sich einen nende Zigarren. Augenblick in Epauletten , Uniformenknöpfen, dann wieder tiefes Dunkel, Degengriffen wo es gebligt hatte. Jest plöglich ein Lachen, ein vereinzeltes Bravo — zulezt Händeklatschen und der Voraus schwarzer Tiefe herauf hang fiel und trennte uns von dem unſichtbaren vielköpfigen Ungeheuer.
Frühlingslied . Bon Hermann Kiehne .
Lenz ist erwacht! Nun grünt und blüht das Thal, Die Erde lacht in Frühlingspracht, Und Liederlust Erfüllt die Brust, Und Vogelsang Und Glockenklang Tönt Wald und Flur Entlang.
Juni.
Der
Sammler.
Inhalt : Gedenktage im Juni. Unier Hausgarten. Juni. Von 6. U. Fintelmann. Eine Maitäferfalle. Trachten der Zeit. Allerlei aus der Saison. Don Jda Barber. Küche und Baus. Juni : Jahreszeit des Eßbaren. Dor: Speisezettel schriften : Gebratene Butter ; Eine fondue. für Juni. Neue Bücher (Avenarius, Wandern und Werden" ; Gregorovius, „Athenais" ; Nachtigall, Sahara und Sudan"; Hirsch, „ Uenn. chen von Tharau" ; Schlögl, Das kuriose Buch"). Jum Kopfzerbrechen. Schach Aufgabe Nr. 6. Lösung der Schach-Aufgabe Nr. 2. Lösung der Schach Aufgabe Nr. 3. — Silbenrätsel. Logogryph. Homonym. Anagramm. - Rebus. Charade. Auflösungen zu Heft 8. Chemische Kleinigkeiten: Leichte Orydierbarkeit von Phosphor ; Das künstliche Jrrlicht ; Sich selbst entzündendes Papier. Der Polizeitelegraph in Chicago. - Franz von Holstein. Vom Luftdruck. - Uniere Künstler. Glück und Glas. Charles Darwin t. Der gestirnte Bimmel im Monat Juni.
Gedenktage im Juni.
1. 1694 Stiftung der Universität Halle. 2. 1825 geft. 6. W. Contessa, Schriftst. 3. 1752 geb. J. v. Müller, Historiker. 4. 1859 Schlacht bei Magenta. 5. 1826 gest. K. M. v. Weber, Komponist. 6. 1861 geft. 6. Gavour, ital. Minister. 7. 1810 geb. F. Freiligrath, Dichter. 8. 1863 Franzosen nehmen Merito ein. 9. 1800 Schlacht bei Montebello. 10. 1784 geb. A. Gatalani, ital.Sängerin. 11. 1859 geft. Fürst Metternich, Staatsm. 12. 1798 Ginnahme von Malta. 14. 1800 geft. 3. B. Kleber, franz.General. 15. 1608 geb. P. Rembrandt, holl. Maler.
་ ་་་ ་་་་་་ ག .
16. 1815 Slacht bei Ligny. 17. 1854 geft. Denr.Sontag, deut. Sngrn. 18 1675 Schlacht bei Fehrbellin. 19. 1792 geb. Gust. Schwab, deut. Dichter. 20. 1791 Ludwig XVI. flieht. 21. 1798 geb. 2. Menzel, deut. Historiker. 22. 1740 Toleranz Editt Friedr. d. Groß. 24 1859 Schlacht bei Solferino. 25. 1725 geb. J. S. Pütter, beut. Jurist. 26. 1817 geft. E. Schulze, deut. Dichter. 27. 1848 geft. H. Zichotte, deut. Schriftft. 28. 1838 Rönigin Vittoria getrönt. 29. 1848 Erzherzog Johann w.Reichsverw. 30. 1632 Frübere Univers. Dorpat geftiftet.
F. Thierich . 81.
G. A. Fintelmann. Unser Hausgarten.
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Unser
Hausgarten. Bon
6. A. Finkelmann.
Juni. Wenn der Sommer sich verkündet, Rosenknospe sich entzündet. Faust, 11. Teil. Der Juni ist der Monat der Freude. Welch' eine Fülle von Blumen bieten jetzt die Sträucher in den Gartenanlagen, die Stauden an den Rändern der Gebüsche und im Walde, die farbenprächtigen Wieſenpflanzen , bis zuleßt die Königin der Blumen, die Roſe, erſcheint, überall bewundert, in allen Gärten gepflegt , von allen Blumen , die gebrochen und als Gaben geweiht werden , die willkommenste. Keine Pflanze gibt ihre Blüten williger hin als die Roſe : nicht nur die ihr noch bleibenden Knospen bildet sie völliger aus, auf den zurückgeschnittenen Aeſten entstehen neue Triebe, die nach und nach einen reichen Blütenflor , oft bis zum Eintritt des Winters hin entfalten. Wer also auch seine Blumen mit Eifer und liebender Sorgfalt überwacht, das Brechen eines Rosenzweiges braucht er sich nicht gar so sehr zu Herzen zu nehmen. Die oft blühenden Bourbon- und Remontante Rosen müssen nicht nur im Frühjahr, sondern auch nach der ersten Blüte ziemlich kurz geschnitten werden, besonders wenn sie durch reiches Blühen erschöpft erscheinen. Unterläßt man den scharfen Schnitt nach der Blüte bei den Hochstämmen oder überhaupt bei den veredelten Rosen dieser beiden Abteilungen, so bleibt der zweite Blütenflor nicht nur sehr ge= ring, sondern es verkümmern auch eine Menge Blumen, die Kronen erschöpfen sich und die Stöcke fangen an zu kränkeln und treiben in dem folgenden Frühling nur schwächliches Holz, welches keine vollkommenen Blüten entwickeln kann. Das abgeschnittene Holz benußt man zur Bereitung von Stecklingen und zum Okulieren. Ganz besonders in trockenen Jahren müssen die Rosen jest reichlich gegossen werden , und erhalten die Exemplare, welche im Rasen stehen , also im Herbst nicht ge= düngt werden können, wiederholentlich einen Dungguß. Das Reinigen der Rosen von Raupen und Blattläufen wird fortgesetzt. Die Verwendung von Roſen im Luſtgarten, in fleineren unregelmäßigen Anlagen ist nicht so leicht ; denn wenngleich der größere Teil der angepflanzten Arten aus remontierenden und Monatsrojen bestehen möge, kommen doch im Laufe des Sommers Zeiten vor, wo die Rosen nur spärlich blühen und eine ganze Gruppe von hochstämmigen Rosen mit ihren nackten Stämmen sieht nicht sehr gut aus. Die Zentifolien und Moosrosen , deren köstlichen Wohlgeruch, deren entzückende Form man nicht gern entbehren wird, sind zu Gruppen von einiger Ausdehnung zusammengestellt, auch nur zur Zeit der Blüte ein Schmuckstück des Gartens. Ihr unmalerischer Wuchs , ihre frühzeitige Entlaubung laſſen
sie bald häßlich erscheinen. Besser ist es, die Land: rosen in den Rändern der Gehölzgruppen zerstreut auftreten zu laſſen, oder sie einzeln im Rasen zu verwenden, und die hochstämmigen Rosen so aufzustellen , daß sie sich mit der Gruppirung des Ganzen verflechten . Man vertheilt sie in gleichen Abständen in dem durch die geraden Linien , die vorspringenden oder zurücktretenden Theile des Wohnhauses bedingten regelmäßigen Theil der Anlage , bekleidet das Stämmchen mit Winden, Tropaeolum , Thunbergien , Lophospermum oder andern Rankern , und verbindet sie durch zierliche Festons , hergestellt aus Passifloren , Pilogyne suavis , einer moschusduftenden Schlingpflanze, oder aus rankenden Rosen, insbesondere den Sorten der Rosa rubifolia. Diese blühen außerordentlich dankbar und haben eine so wundervolle glänzende Belaubung, daß sie in feinem Garten fehlen sollten. In jedem Sommer bekleiden sie sich mit dichten, duftigen Rosenbouketts, die an den hübschen Guir landen von außerordentlicher Wirkung sind. Zu den reichblühenden und schönsten Sorten dieser Abteilung gehören Beauty of the Prairies, Belle de Baltimore, Eva Corinna. Vom Hauſe ent fernter stellt man die Rosen so auf, daß ihre mit zierlichen Schlingpflanzen zu bekleidenden Stämme einen Hintergrund von Gebüsch erhalten und sich zum Theil hinter Sträuchern verbergen. In überraschender Weise wirken blühende Kronen, die aus dem Gebüsch hervorragen : ein Rosenstrauß auf grünem Grunde. Kommen größere Sammlungen zur Anpflanzung, so thut man wohl, einen besondern Rosengarten anzulegen in beliebigen , aber regelmäßigen Formen . 1,30 m breite Beete, durch 60 cm breite Zwiſchenwege getrennt, erleichtern die den verschiedenen Sorten notwendige Pflege und das Genießen ihres wundervollen Duftes , ihrer Form und Farbe. Die Anordnung der Stämme muß übersichtlich sein, die Höhe sich gleichmäßig abstufen, die Ausdehnung der Kronen, die bei den verschiedenen Gruppen eine ganz verſchiedene iſt, in der Weise berücksichtigt werden, daß man nicht die sich weit ausbreitende Maréchal Niel oder Gloire de Dijon, mit der aufrecht wachsenden La France und der schwach treibenden Sorte Empereur de Maroc mit einander vermischt. Eine Laubwand von zierlichen Blütensträuchern, wie persischem Flie der , Mandeln , gefüllten Kirschen und Pfirsichen sollte das Ganze umschließen, um Hintergrund und Schuß zu geben. Andere Blumen und Raſen dürfen nie ganz fehlen. Die Rose erscheint auf grünem Grunde stets vorteilhafter als auf offenem Boden, nur muß man um die Stämmchen, welche im Raſen stehen , die grüne Narbe bis auf 50 cm Durch messer ringsum fortnehmen Heliotrop und Reseda, wohlriechende Kräuter wie Melisse, Lavendel, Baſilikum mischen ihren Duft mit dem der Rosen, den Verbenen, Geranium, Nelken, Levkojen noch erhöhen. Rosa rubigiUnd wollte man die Weinrose entbehren, nachdem man nosa oder suaveolens einmal ihren Wohlgeruch empfunden , einen Duft, wie ihn die Rosen nicht köstlicher ausströmen ? Ihren angenehmen Geruch verbreiten die Blätter, ohne gerieben zu werden, und er wird nur um so intensiver , wenn der Strauch auf schlechtem und
Eine Maikäferfalle . - Ida Barber. Trachten der Beit.
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trockenem Boden wachsend reichlichere Stacheln und neu zu bepflanzen. Balsaminen , Astern , Chineser Nelken und andere Sommergewächse nehmen die mehr Drüsen entwickelt. Des Morgens nach dem Thauen , nach einem Regenschauer, bei fruchtbarem Stellen abgeblüter Pflanzen ein. Georginen und Wetter ist der Duft besonders stark. Auch die Blüten Nelken müssen aufgebunden werden und macht man find hübsch, ziemlich dunkel und bilden am Ende nach Art des in Fig. 23 angedeuteten Verfahrens, indem man den mit einem nach oben gerichteten der Zweige vielblütige Doldentrauben. Eine richtige Auswahl aus den weit über zweiEinschnitt versehenen Zweig in die Erde einlegt und mit einem kleinen Haken befestigt. tausend betragenden Varietäten der Rose zu treffen, würde außerordentlich schwer sein, wenn nicht einer | Line Maikäferfalle. seits die Einteilung in Gruppen und andererseits der Wille der guten Rosenzüchter , nur das beſte Zur Vertilgung , resp. Unschädlichmachung der zu vermehren, die Arbeit erleichterte. Bestrebungen, Maikäfer , hat man neuerdings eine sehr praktische wie sie in der RangVorrichtung erfunden, von der wir nebenliste der edelsten Rosen von Friedrich stehend eine Abbildung Schneider und meh geben, die im Wesentreren Hundert Mitlichen sichselbst erklärt. arbeitern erzielt wer Innerhalb des Ge: den in der Absicht, stells , welches die Zeichnung vergegendie Zahl der zu vermehrenden Varietäten wärtigt, ist oben eine angebracht, Lampe auf das in jeder Bederen Licht durchstarke ziehung allerbeste zu Reflektoren und glän beschränken , sollten zende Metallbeklei= von jedem Rosenunterstüt freunde dung der umgebenden Teile der Vorrichtung, werden, ist doch die verstärkt Abstimmung möglichst durch wird. Unterhalb der festgesette Zahl des Empfehlenswertesten Lampe befindet sich eine Art Trichter, noch immer bedeutend genug. deffen Oeffnung in einen großen Sack Im Juni sollten mündet. Fliegen nun auch die im Zimmer die Maikäfer , angekultivierten Palmen zogen durch das Licht, und Blattpflanzen ins Freie gebracht und an durch die 4 Deff= nungen des Gestells, geschütter, halbschattiger Stelle des Garso stoßen sie sich an der Lampe , werden tens aufgestellt wer für den Augenblick den, so weit sie nicht für die Dekoration der betäubt, fallen in den Trichter und gleiten Wohnräume unentin den Sack, aus dem behrlich sind. Sie erholen sich draußen oft man sie später mühewunderbar und wer los zu entfernen ver mag. Versuche mit den gekräftigt für das diesem praktischen und Ertragen der nicht Eine Maitäferfalle. einfachen Instru immer zu vermeidenden Leiden des Winmente, haben glänters. Dem Garten selbst gewähren sie einen nicht zende Erfolge gehabt. Man hat in Gärten und unwesentlichen Schmuck. Anlagen an einem Abend mit einer solchen Falle Im Küchengarten werden neue Aussaaten von viele tausende von Maikäfern gefangen. Bohnen und Erbsen bewirkt und Sommer- und Winterrettig gelegt. Das Jäten , Hacken und Behäufeln der Gemüse, ebenso das Absuchen der Raupen von den Kopfkohlarten sind notwendige ArTrachten der Zeit. beiten. Einige Küchenkräuter müssen jetzt schon den zum Aufbewahren geschnitten werden. An Allerlei aus der Saison. Stachelbeersträuchern werden die zu dicht hängenVon Ida Barber. den Beeren gepflückt und in der Küche verwendet. Die Weinstöcke erfordern viel Arbeit. Sie müssen Wenn schon Mutter Natur , die alte , ehrgeheftet und ausgebrochen , die Fruchtreben zwei würdige Matrone , die bereits so manchen FrühAugen über der obersten Traube gekappt werden. ling hinter sich hat , jest wie eine kokette Schöne Jm Blumengarten sind Beete zu ordnen und neue Toilette macht, wer wollte es da unsern eitlen
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Ida Barber.
R Br.
Weltkindern , mit denen, wenn sie zu viel Wert hindert, ohne den Stoff steif und unfein erscheinen auf die Ausschmückung ihres lieben Ich legen, man zu lassen, daß er sich - um den technischen Ausoft gar streng ins Gericht geht , verdenken, daß druck zu gebrauchen - knittere. auch sie das ewige Grau und Grau mit lichteren, Im Hause S. Fürst u. Cie. , das für Wien kleidsamen Farben vertauschen, neue Formen und stets eines der tonangebendsten und beſt aſſortiertesten Stoffe wählen, die nach ihrer Meinung die Gestalt ist, falls es gilt, die Nouveautees der Nouveautees mit neuem Reiz umgeben. kennen zu lernen, sah ich überraschend neue und - Der Wechsel in der äußern Erscheinung mag elegant ausgeführte Sawohl in der That durch chen, die, wenn schon sie uralte Naturgeseke bedingt erst im Hochsommer in sein, unser körperliches, Aufnahme kommen sollen, wie unser seelisches Auge doch jezt schon das Interverlangt nach Abwechse= esse der modeliebenden Damen in Anspruch neh lung ; nur zu dienstbemen dürften. Da sind flissen willfahrtet die Mode diesem anscheinend berechzuerst die leichten , fast tigten Wunsche , und so gazeartigen Canavas brodé à Chenille im Genre sehen wir denn mit jeder Louis XVI und Genre neuen Saison eine Fülle Watteau die mit Unisund Mannigfaltigkeit an stoffen (Taffetas oder Modeerzeugnissen, die uns staunen läßt, wie es überVoile) verarbeitet , die Ensembles haupt möglich, den nüch prächtigsten ternen, oft recht geschmackgeben. Der Rock ist glatt, losen Stoffen durch ge= untenmit doppelter Rosenschickte Kombination so rüsche, Taille und Paniers hübsche Effekte abzuge sind aus jenem mit Chewinnen. nilleblumen durchstickten Vorwaltend sieht man Stoffe gefertigt. In ähn licher Art werden die jezt beispielsweise die Battistes des Nymphes, ficelle und écrufarbigen Gewebe, die sowohl für die zumeist große , auf Blondinen wie Brünette écrufarbigem Grunde gedruckte Bouketts zeigen, gleich unkleidsam sind, dennoch verstehen es unverarbeitet ; den Rock deckt sere Kleiderkünstlerinnen, ein 60-70 cm breites, durch Mischung mit blugesticktes Volant, das unmigen oder dunklen Stoften auf eine dick gefaltete fen, durchbunt ausgenähte Rosenrüsche fällt. Taille Bordüren, englische Sticke und Drapees sind aus reien , durch gleichfarbige dem geblümten Battist, bunt unterlegte Sparteldessen Grundton mit dem Volants die an sich tote der Stickerei akkordieren Farbe zu einer kleidsamen, muß, gearbeitet. Für die Lebensfrischen zu gestalten. eigentlich heißen Tage Neben écru dürfte dürften die äußerst leichten, duftigen Linons im kaffeebraun in möglichst hellem Tone den Plaz Genre Maria Antoinette behaupten. In leicht wolle in Aufnahme kommen ; baumwollenen nen oder sie zeigen auf farbigem Geweben sieht man moi(bordeau, Untergrunde Fig. 1. Corsage Ouvert à Nourrice. rierte Dessins, welche dem braun, grau, blau) hübsche echten Seiden- Moireezwischen Karo eingereihte antique täuschend ähnlich kommen, die schon im VorBlumenmuster in frischen und sehr kleidsamen Farbaumwollenen jahre beliebten Satins sind heuer ben. Der Stoff hat das Ansehen des ehedem bein wunderbar schöner Ausführung vorrätig , und liebten Seidenbarege , hat jedoch vor diesem den scheinen für die Dauer des Sommers den wirk Vorzug, waschbar zu sein. Das Indispensable einer jeden guten Toilette lichen Seiden , Foulard- und Baststoffen eine er hebliche Konkurrenz machen zu sollen. Man hat sind für Frühjahr und Sommer die Stickereien. neuerdings ein Verfahren erprobt, nach dem die sonst Man kann sich keine moderne Robe ohne etliche Meter breiter, teils in Relief oder in Masehr praktischen , aber wegen ihrer Eigenschaft , sich deirastickerei ausgeführte Bordüre denken. Eingar zu leicht zu zerknittern, wenig empfehlenswerten Cotons so hergestellt werden, daß sie keinem Druck zelne Muster , die ich in vorgenanntem Hause zu nachgeben; die ihnen innewohnende Appretur, versehen Gelegenheit hatte , sind so künstlerisch schön
Trachten der Beit.
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ausgeführt, daß es sicher lohnt, sie eingehend zu Kostüme werden sowohl mit anliegenden skizzieren. Jaquets , wie auch mit Talmakragen gefertigt ; in Broderie-guipure-vénitienne nennt sich eine Paris trägt man shawlartige Mantillen , hinten mit der Taille abschließend, vorn entweder in langen Stickerei , deren Untergrund nach Art des früher beliebten Guipure- Tüll durchstickt ist ; von diesem Echarpes auslaufend oder übereinander geschlungen ; Fond hebt sich wirksam eine in ausdrucksvollerem bei uns ist diese Mode kaum paffee und dürfte deshalb nicht so bald wieder in Aufnahme kommen. Muster gehaltene venetianische Reliefſtickerei ab, die Figur 1 bringt das in gewissen Kreisen viel selbst der elegantesten Toilette zur Zierde gereichen kann. beliebte, aber auch viel bespöttelte Corsage Ouvert à Nourrice zur Anschauung. Die Tracht ist Broderie à picots ist an den Konturen mit winzig kleinen Maschen umrandet und eignet sich kleidsam, doch , wie viele meinen , wenig dezent. mehr für leichtere Roben. Das vorliegende Corsage ist aus brochiertem Taffetas gefertigt, vorn mit spit in der Schneppe ausBroderie médicis, à points d'art, à l'étoile, à bouquets de roses sind unvergleichlich schöne laufendem Lat (genre coulissé) ; unterhalb des Dessins, teils auf Tüll , teils auf Ecrustoffen Ausschnittes russisches Hemdchen aus weißem Mull . Die Sommerhüte sind nicht wesentlich verschie ausgeführt, das eigenartigste, was ich indes seither den von denen , die im in diesem Genre gesehen, sind die Bordüren, deren Frühjahr getragen wurden. Panama , Reis- und MaZeichnung gotische Fennillageflechte werden viel ster darstellt. Eine nur mit Perlen benäht und halbwegs gut garnierte Robe erfordert mindestens mehr als sonst mit Blumen 4-5 m solcher Stickerei, und Schleiertüll geziert. Der neue Crêpe Serail in der nicht weniger als 80-100 Fenster zu finden eignet sich prächtig zum sein dürften. Wahrlich, Aufpuß der großen Schä10 12 wenn eine also toilettierte ferhüte , die (7) nur mit einem 2 m langen Dame nicht eine gute Streifen umwunden werAussicht aufs Leben, oder den. Aus Tulle glacée, vielleicht eine noch bessere einem feinen seidenartigen Einsicht in dasselbe hat, Gewebe , das , da es aus ihr Kostüm trägt sicherlich nicht die Schuld daran. zwei Farben gewebt ist, Neben den Stickereien changeantartig schillert, 13 behaupten sich namentwerden hübsche Kapotthüte Hutformen. lich für Seidenroben, mit dazu passenden EcharSamt und Moiree als pes gefertigt ; der Rand beliebte Aufpukstoffe. Kleinkarierter Samt, nament solcher Hüte ist vorn und hinten aufgeschlagen lich Deurtous , wird auch zu glatten Beige(8) und mit Blumenguirlanden garniert. 9 zeigt uns einen der sehr beliebten durchoder Kanavasstoffen mit gutem Erfolg verwendet, die gestreiften Moirées-antiques dagegen fast aus brochenen Hüte, die mit farbiger Seide gefüttert, schließlich zur Garnitur der Taffetas chinés und mit gleichfarbigem Tulle à mouche garniert werden. der wollreichen Kaschmire. Praktische Damen werden die Rückkehr der Mode zum ehedem sehr Einer besonderen Gunst erfreut sich Form beliebten Taffet, der seither durch Satin merveilNiniche (10) ; der Kopf ist ein wenig eingedrückt, leux ganz verdrängt war, mit Freuden begrüßen. der Rand vorn und hinten gebogen, an den Seiten Man sieht kleinkarierte, auch chinierte Taffets in geschweift. Neu, aber weniger kleidsam, sind die Hüte mit verschwommenen Farben, trägt zu glatten Wollröcken Taille und Tunique von derartigem Seidenhohem, breitem Kopf (11) , deren Rand seitwärts gewebe oder umgekehrt zu Jupons aus blumigem aufgeschlagen ist. oder kariertem Taffet glatte Wollüberwürfe . Die breiten Strohgeflechte kommen hauptsächlich für kleinere Formen zur Verwendung. So Knöpfe, Pasamenterieen und Spitzen sind für die Frühjahrsroben wenig beliebt , anfänglich hat sehen wir Capotte Valerie ( 12) aus finger: man wohl den Versuch gemacht, farbige Glasknöpfe, breitem Stroh genäht , vorn mit Samtbügel und Tier-Emblemen 2c. zum Schluß der Kleider zu verhochstehendem Diadem. 13 zeigt den Uebergang von den runden, wenden, doch ist er entschieden als mißlungen anzusehen. Die Taillen haben viel (wohl gar 16-20) zu den spit zulaufenden Köpfen, die aber, um nicht Knopflöcher , doch möglichst kleine vom Stoff be= gar zu auffallend zu sein , eine volle Garnitur bezogene Knöpfe. Einfache Hauskleider aus Beige- dingen. oder Kammgarnstoff garniert man wohl längs der Allgemach finden die Lingerieen, die man seit: Vorder- und Seitenbahnen , überhaupt wo sich eine her als Stieffinder der Mode ansah, mehr BerückGarnitur anbringen läßt, mit 4 oder 6 Reihen solcher sichtigung. Man sieht prächtige, gestickte, languetKnöpfe; da diese sich, falls der Stoff nicht sehr fest ist, tierte, mit Valenciennes besezte, gebogte und gezackte Rüschen, die den breiten, kunstvoll gestickten Lavalleicht durchstoßen, dürfte sich die Garnitur, wenn schon als billig, doch als wenig praktisch erweisen. liere- und Luckakragen wirksame Konkurrenz machen. 44
Küche und Hans.
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Von den steifen englischen, aus Leinwand gefertigten Garnituren scheint sich die Mode nach und nach zu emanzipieren. Die neuesten Sonnenschirme zeigen französische Gestelle aus vergoldetem oder versilbertem Stahl Der den Schirm be mit gleichartigem Stock. fleidende Doublé Stoff hat dann auf der Innenseite eine farbige Auflage , die gar prächtig durch das glänzende Metallgestell hindurchschillert. Neben den reich mit Spigen garnierten Schirmen sieht man auch solche, denen ein Spißendessin aufgedruckt ist. Gar viel machen jezt die neuen von Forster in Wien erfundenen Centri- Schirme von sich reden, die es gestatten, bei Regen und Wind gerade unter der Mitte des Schirmdaches zu stehen. Statt des
(in der unteren Donau) und neue Heringe mit neuen Kartoffeln an der Tagesordnung. Zu den Gemüsen vom Mai kommen noch Artischocken, Karotten, Radieschen, Staudensalat, Gurken, Gurkenkraut, Boretsch und zahlreiche Schwämme, unter denen wir nur die Champignons, die Kaiserlinge und die beginnenden Stein- oder Herrenpilze namhaft machen. Von Obstsorten reifen jezt Kirschen, besonders Süßkirschen, Erd- und Himbeeren und gegen Ende des Monats Johannis- und Stachelbeeren und die aromatischen Muskatellerbirnen . Obstkuchen in reicher Auswahl von Auflagen oder Füllseln sind an der Reihe. Es ist jetzt die geeig= netste Zeit, junge Gemüse, Früchte, Schwämme und Krebsschwänze einzumachen. Vorschriften. Gebratene Butter.
RB.XA Fig. 2. Gentri-Schirme. bisherigen Stockes ist unter der Dachmitte ein freier Raum bis zur Dachfläche hinauf gebildet, welcher nicht nur die freie Aussicht nach vorne ermöglicht, sondern auch gestattet, sich zentrisch d. h. ringsherum gleichmäßig durch das tief herabgehende Dach zu bedecken. Es resultiert selbstverständlich ein viel bedeutenderer Schutz vor Regen, gleichzeitig aber hat diese neue Konstruktion vermöge des eigentümlichen Zusammenhanges ihrer konstruktiven Elemente eine beispiellose Festigkeit gegen Sturmwind und gewährt daher sichern Schuß gegen die heftigste Windströmung.
Küche
und
Haus.
Juni. Jahreszeit des Eßbaren. Hammel- und Kalbfleisch ist sehr empfehlens wert. Rehböcke, auch junge Rehe und Hasen sind wieder zu haben. Desgleichen junge Trut- und Haushühner , Tauben und wilde junge Enten. Fische wie im vorigen Monat, nur vermeide man um die Zeit des sommerlichen Sonnenstillstandes den Genuß der Aale, dagegen sind junge Welse
Ein verführerisches, aber schwer verdauliches englisches Gericht. Ein längliches Stück Butter wird an den Bratspieß gesteckt , mit geriebener Semmel, Zucker und Zimt bestreut und in die Nähe eines mäßigen Feuers gebracht. So oft die Butter die Hülle durchdrungen hat, wird das Bestreuen wiederholt, bis alle Butter aufgesogen ist und das Ganze einem Brotlaib gleicht. Eine Fondue. Das französische Seitenstück zu dem vorhergehenden Gericht. Man wiegt die Eier, die man nach der Zahl der Gäste anwenden will. Von diesem Gewicht nimmt man ein Drittel guten Schweizer (Freiburger) Käse und ein Sechstel Butter. Die in eine Pfanne geschlagenen Eier werden gut gerührt, dann die Butter und der geraspelte Käse, und nach Belieben auch etwas Weißwein hinzu gethan. Man seht nun die Pfanne auf ein lebhaftes Feuer und rührt die Mischung mit einem Spatel, bis sie hinlänglich dick, weich und fadenziehend ist. Je nach dem Alter des Käses nimmt man wenig oder gar kein Salz, aber viel Pfeffer, der für diese schwere Speise unbedingt notwendig ist. Alte schwere Weine werden auch in größe rer Menge gut zu diesem Gange vertragen, den man in einer heißen Schüssel auftragen und von heißen Tellern essen muß. Prosit !
Speisezettel für Juni. 1) Frühlingssuppe. Gulaschfleisch mit Kartoffeln und Mixed Pickles. Karotten mit Zunge. Junger Truthahn mit Salat und Pfirsichen. 2) Legierte Suppe mit Kalbshirn . Aal in Aspik. Kalbsfrikandeau mit Kartoffeln. Spargelsalat und Stachelbeeren . Blancmanger. 3) Suppe mit grünen Erbsen und Butternocken. Grilliertes Rindfleisch mit Olivensauce und Kartoffeln. Brunnenkresse mit Omelette. Tauben mit Salat und Kirschen. 4) Suppe mit Spargeln. Forellen mit Kräutersauce und Kartoffeln. Rehbraten mit Salat und Himbeeren. Reis à la Malta. 5) Sauerampfer- Suppe mit verlorenen Eiern . Kalbsmilch mit feinen Kräutern. Blumenkohl mit Zunge. Rinderbraten mit Salat und Erdbeeren. 6) Suppe mit Griesklößchen. Hecht mit Sar
Neue Bücher.
dellensauce und Kartoffeln. Hammelrücken mit Zuckerschoten. Zitronenauflauf. 7) Einlaufsuppe. Rinderzunge mit Rosinensauce und Kartoffeln. Champignons mit Cervelatwurst. Gebratene Ente mit Salat und Prünellen. 8) Suppe mit Püree von grünen Erbsen . Lachs mit holländischer Sauce und Kartoffeln. Grüne Bohnen mit Hammelskoteletten. Lammbraten mit Salat und Katharinenpflaumen. 9) Suppe mit Makkaroni. Rinderbrust mit Portulak Gemüſe. Backhühner mit Salat und gerösteten Kartoffeln . Eierkuchen und Stachelbeeren . 10 ) Französische Suppe. Krebje. Geſchmorte Gurken mit gebratener Leber. Beefsteaks mit Kartoffeln, Salat und Johannisbeeren . 11 ) Suppe mit Kalbfleisch- Püree. Kalbsfüße mit Madeirasauce. Stangenspargeln mit Schinken. Rehbraten mit Salat und Kirschen. 12) Legierte Graupensuppe. Gebackenes Kalbshirn mit grünen Erbſen . Schweinskeule mit Kartoffeln und Salat. Beignets von Erdbeeren. 13) Krebssuppe. Ragout fin in Muschelschalen. Spinat mit Seßeiern. Sauerbraten mit Kartoffeln, Salat und Melonen. 14) Suppe à la reine. Bleie mit Kräutersauce und Kartoffeln . Kohlrabi mit Cervelatwurst. Kalbsnierenbraten mit Salat und Quitten. 15) Suppe mit Farceklößchen . Karotten mit gebackenem Kalbshirn . Hammelrücken mit Kartoffeln und Salat. Schneewaffeln. 16) Suppe mit gestürztem Reis . Gefüllter Hecht mit Kapernsauce und Kartoffeln. Blumenkohl mit geräucherter Zunge. Tauben mit Salat und Himbeeren . 17) Kräutersuppe mit Eierkäse. Rinderbruſt mit gefüllten Gurken . Spanferkel mit Salat und Kartoffeln . Erdbeergelee. 18) Suppe mit Spargel und grünen Erbsen. Croquettes von Fisch. Große Bohnen mit gebrate nen Hammelzungen. Rinderfilet mit Madeirasauce, gebratenen Kartoffeln, Salat und Stachelbeeren. 19) Hühnersuppe mit Nudeln. Krebse. Gefüllte Lammbrust mit Morchelſauce, Kartoffeln und Spargelsalat. Auflauf von Kirſchen. 20 ) Suppe mit Schinkenklößchen. Mayonnaiſe von Huhn. Artischocken mit geräuchertem Lachs . Falscher Hasenbraten mit Kartoffeln , Salat und Johannisbeeren. 21) Französische Suppe. Gebackene Forellen mit brauner Kräutersauce und Salat. Püree von grünen Erbsen mit Schinken . Kalbskopf mit Madeirasauce, Kartoffeln und Essigpflaumen . 22) Fischsuppe. Spinat mit gebratener Leber. Rehfeule mit Kartoffeln und Salat. Arme Ritter mit Stachelbeeren. 23) Suppe mit Sago . Aal mit Sauce à la ravigote und Kartoffeln. Zuckerschoten mit gebackenen Nierenschnitten. Gebratene Ente mit Salat und Prünellen. 24) Suppe Julienne. Maränen mit hollän= discher Sauce und Kartoffeln. Glaſiertes Hammelfarree mit Salat von grünen Bohnen. Crême à la Nesselrode . 25) Erdbeerkalteschale. Rinderschwänze mit brauner Kapernsauce. Blumenkohl mit Krebsen.
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Wiener Rinderkotelette mit Kartoffeln, Salat und Melonenkompott. 26) Suppe à la reine . Weiße Rüben mit Hecht. Kalbssteals mit Kartoffeln und Gurkenſalat. Gebackene Nudeln mit Vanille- Sauce. 27) Suppe mit Leberpfanzel. Rinderbrust mit Kräuterſauce und gebackenem Reis . Neue Heringe und neue Kartoffeln. Gefüllte Tauben mit Salat und Kirſchen. 28) Suppe mit Kalbfleischpüree. Mock-TurtleRagout mit Fleurons . Spargeln mit geräuchertem Lachs. Kruſtiertes Schweinskarree mit Kartoffeln, Salat und Katharinenpflaumen . 29) Suppe mit Einlauf. Kalbsschnitzel mit grünen Erbsen. Roastbeef mit Kartoffeln und Gurkensalat. Rote Grüße mit Schlagsahne. 30) Kerbelsuppe mit Croutons. Reispastetchen . Morcheln mit Lammkoteletten. Rehbraten mit Kartoffeln, Salat und Johannisbeeren. Neue Bücher. Wandern und Werden. Gedichte von Ferdinand Avenarius. Dresden. Louis Ehlermann . 1880. Ein köstliches Liederbuch, reicher Anerkennung wert ! Herz , Geist , Gemüt spricht vernehmlich aus diesen Gedichten , in welchen die echte Poesie ihr Auge aufschlägt. Weihe, Schwung und Kraft atmen die in freien Rhythmen verfaßten köstlichen Naturhymnen , Grazie , Innigkeit und Sinnigkeit die Lieder. Der Autor gebietet auch über einen kecken, bisweilen ins Groteske spielenden Humor und macht hiervon in seinen Naturschilderungen und mehreren nach dem Leben gezeichneten Bildern ausgiebigen Gebrauch. Allem Gesuchten fremd, in edler Männlichkeit tritt er vor uns hin ; ſein Sang quillt aus freier für alles Schöne und Hohe schlagenden Bruſt. Die Form ist fest gefügt und klar , der Ausdruck friſch, anſchaulich und hin und wieder von geradezu bestrickendem Reiz . -- Ein herzliches Willkommen diesem gottbegnadeten Lyriker auf deutschem Parnaß ! -tzAthenaïs. Geschichte einer byzantinischen Kaiſerin. Von Ferdinand Gregorovius. Leipzig 1882. F. A. Brockhaus. Das neue Buch Gregorovius' reiht ſich würdig an die früheren Werke dieses bekannten Hiſtorikers und Poeten an. Obwohl von bescheidenem Umfange und sozusagen nur private Partie der Geschichte behandelnd, läßt dieſe gediegene Arbeit doch die ganze historiographiſche Kunſt und Geſtaltungsgabe des Autors wieder auf das glänzendste hervortreten. Athenaïs , die athenischen Philosophentochter , welche im fünften Jahrhundert als die byzantinische Kaiſerin Eudokia durch ihren Geist und ihre Erlebnisse berühmt gewesen ist, lebte, gehört zu den interessantesten Frauengestalten aus der Zeit des untergehenden Hellenismus. Sie ist nächst der bewunderungswürdigen alexandrinischen Philoſophin Hypatia, deren tragische Lebensschicksale ſchon oft und mannigfach literarisch behandelt wurden, unstreitig einer der auffallendsten und charakteristischeſten weiblichen Typen jener halb heidniſchen, halb christlichen Zeitperiode. Während aber Hypatia noch fest und unerschütterlich im hellenischen Heidentum wurzelt,
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Nene Bücher.
und dann auch zur Blutzeugin desselben wurde, iſt Athenaïs eine Uebergangsgestalt , eine Renegatin des Heidentums. Leider ist das Portrait der be: rühmten Athenerin nur so undeutlich auf uns gekommen wie ein von der Zeit verdunkeltes byzantinisches Mosaikbild , aus welchem viele glänzende Stifte ausgefallen sind." Gregorovius hat es mit feinem Geschmacke verſchmäht, das mangelhafte Bild durch willkürliche Zuthaten zu beleben , dennoch ist es ihm gelungen , die Geschichte dieser merk würdigen Frau durch einen farbenreichen Hintergrund und fesselnde Darſtellung auf das Anziehendſte -n. zu gestalten. Sahara und Sudan. Ergebniſſe ſechsjähriger Reiſen in Afrika. Von Dr. Gustav Nachtigal. Zweiter Teil. Mit 46 Holzschnitten , 4 Karten und 4 Schrifttafeln. Berlin , Weidmannsche Buchhandlung. Verlagshandlung Paul Parey. 1881. 8 °. Etwas über zwei Jahre sind verflossen, seitdem der erste Band von Dr. Gustav Nachtigals großem Reisewerk erschienen ist. Wie man von dem ebenso gelehrten als anspruchslosen Forscher nicht anders erwarten konnte , gab sich schon jener erste Band als eine epochemachende Erscheinung auf dem so unendlich ausgebreiteten Felde der Afrikaforschung zu erkennen. Mit Recht war man daher in allen sich dafür interessierenden Kreisen auf die Veröffentlichung des nunmehr vorliegenden zweiten Bandes von „ Sahara und Sudan “ gespannt , und wir beeilen uns ſofort zu versichern , daß derselbe in überaus würdiger Weise an seinen Vorgänger ſich anſchließt. Dr. Nachtigal bietet uns hier den Bericht über seine Reisen nach Kanem und Borku, dann nach Bagirmi , welche wohl mit zu den fesselndsten gehört , welche je ein Afrikawanderer gemacht hat. Bekanntlich ist dieselbe auch wiſſenſchaftlich vom höchsten Werte, weil es Dr. Nachtigal verstattet war, an einem Zuge nach dem Süden jenes so gut wie noch völlig unbekannten Landes teilzunehmen und über die dort angrenzenden Heidenländer Kunde zu erlangen, was noch keinem Reisenden vor ihm gelungen war . Zwischen den Berichten über diese beiden merkwürdigen Reisen schiebt der Verfasser eine ausführliche Darstellung des Tsadseebeckens ein , veranlaßt durch seinen Ausflug nach dem südöstlichen Kanem. Obwohl der Tsadsee und dessen nähere Umgebung schon wiederholt besucht und auch geschildert wurden, so ist doch Nachtigals Beschreibung zweifelsohne das Eingehendste , Vollständigste, was wir darüber besißen ; er zum erstenmale führt uns die Bewohner von Kanem vor in der Unzahl ihrer verschiedenen Stämme , er gibt uns auch eine auf Grund mühsamer örtlicher Erkundigungen aufgebaute Geschichte von Bornu, und die Naturforscher werden das detaillierte Kapitel über Klima und Krankheiten in jenem Lande sicherlich mit hohem Interesse lesen. Der Stoff des vorliegenden Bandes erschöpft noch lange nicht das Material von Nachtigals sechsjähriger Reise , noch fehlt der Bericht über Wadai und Darfur , allein was der Verfasser hier geboten , enthält schon des Anziehenden in Hülle und Fülle. Noch mehr fesselt das Wie des Gebotenen. Nachtigal ist ein Meister des Stiles ; sein Buch ist nicht für Gelehrte allein
geschrieben, unwillkürlich reißt die vollendete Form der Darstellung auch den Laien mit. Wie der erste, so ist auch dieser zweite Band seines Reisewerkes nicht bloß ein wiſſenſchaftliches Denkmal , sondern v. H. auch ein Kunstwerk. Wennchen von Tharau. Ein Lied aus alter Zeit. Von Franz Hirsch. Leipzig 1882. Carl Reißner. Aennchen von Tharau ist seit Simon Dach in den verschiedensten Gestalten dichteriſch verarbeitet worden , selbst die Bühne hat sich das anmutige Wesen zu eigen gemacht. Aber wir kennen keinerlei Verwertung des Stoffs, die etwas ſo Liebenswürdiges zu Tage gefördert hätte, wie Franz Hirsch's „ Lied aus alter Zeit“ . Da ist ein Born der Poesie den Lesedurstigen erschlossen , der durch seine Frische Alle erquicken wird , deſſen melodiſches Geplauder Herz und Gemüt erfreut. In diesem Sang ist nichts Gefünfteltes, nichts Gemachtes, alles echt und wahr, aus der Tiefe geschöpft. Die Freunde Scheffelscher und Wolffſcher Poeſie werden finden, daß hier eine verwandte Stimme anklingt, und doch zugleich eine urſprüngliche und originale Dichterkraft kennen lernen, die übrigens ſchon früher in ungemein friſchen Liedern im alten Volkston und Aehnlichem ein be-r. deutendes Können dokumentierte. Das kuriose Buch. Eine Spende für Gleichgesinnte und für Gegner. Von Friedrich Schlögl. Mit 24 Jllustrationen von Klic. Wien. A. Hartleben. Dieses jüngste Buch des Verfaſſers der „ Wiener Luft" mag man von der ernſten oder von der heiteren Seite auffassen , immer wird man es willkommen heißen und besonders dann , wenn man selbst zur Spezies der Sammler gehört, die Schlögls Schrift mit so vieler Treue abkonterfeit. Wie immer nur die Sammlerpaſſionen heißen, von der edlen Bücherliebhaberei bis zu den tollsten Ausgeburten einer von Sammelmanie ergriffenen Phantasie , hier ist ihrer fast ausnahmslos gedacht und mit einem Verſtändniß für die Freuden und Leiden des Sammlers, das geradezu überrascht. Das Buch, das neben dem engen Interesse ein weiteres besißt und sehr oft als vollwichtiger Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes bezeichnet werden kann , erzählt von zahlreichen Tollheiten , in denen Methode ist ; nur eine Lücke ist uns aufgefallen, deren Ergänzung auch unsere Leser ob ihrer Abſonderlichkeit intereſſieren wird. Der Sammler, von dem Schlögl nichts wußte, ist in Paris heimisch und könnte den Titel „ Kommunefeuer- Sammler“ für sich beanspruchen . Der origi= nelle Mann hat nämlich an jedem Brand, der von der Kommune in Paris veranlaßt worden war, eine Kerze angebrannt, die er nun fortwährend erneuert, so daß keine Flamme je erlischt . Die Kapitel, welche ähnliche Sonderlinge behandeln , sind die amüsantesten des Schlögl’schen Buches ; das wichtigste ist aber jedenfalls der den Bücherfreunden gewidmete Abschnitt, der zugleich eine Reihe schäßenswerter Nachrichten über das Bücherwesen der Stadt Wien beibringt. Wer immer an irgend einer Kategorie des Sammelns Freude findet , sollte sich das " kuriose Buch“ nicht entgehen lassen, es enthält eine — r. Fülle von Anregung und Unterhaltung .
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Bum Kopf- Zerbrechen. Schach-Aufgabe Nr. 6 von
Rebus.
Herrn Karl Gilberg in New York. A
B
C
D
E
F
G
H 1
a
2 8
3 4
5
5
6
6
10
4
Co
7 8
8 A
B
CDEFGH
Weiß am Zuge setzt in vier Zügen matt. Lösung der Schachaufgabe Nr. 2 (heft 2, 6. 254). Matt in drei Zügen von H. v. Gottschall. Яd4 -c5 : 1. Ge3 - c4 1. Se3 - c4 d5 - c4: 2. Tb6- c6 beliebig 2. Tb6 - d6 + Rd4 - c5 : entweder matt, sett Dame 3. matt. und Dh3+ a3 3. 3. D- a3, od. -e3, od. -c8. 8d4- e4 1. Se3- c4 2. Sc5- e6 nebst 3. D -b3, -f1 oder Sc4- d6 + und_matt.
1. 2. 3. 4.
Lösung der Schachaufgabe Nr. 3 ( eft 3, S. 375). Matt in vier Zügen von H. v. Gottschall. Lc2- a4 d6-d5 1. Lc2- a4 d6-e5: La4-c6 d5- d4 2. La4- c6 Re3-13 Td1 - d3 + e4 - d3 : 3. 2d1- d3 + Rf3- g4 Se5 - c4 + und matt. 4. 2c6 - d7 + und matt.
Charade. Die ersten zwei, meist an dem Weg gelegen, Sind auf der ganzen Welt zu finden weit und breit; Das Letzte dient den Städtern oft zum Heil und Segen Als schöner Aufenthalt in heißer Sommerzeit; Das Ganze rief durch seine Lieder Deutschlands Kinder Zum Kampfe auf einst gegen ihre Ueberwinder.
Auflösungen zu Heft 8. Rebus: Spielen ist keine Kunst, aber aufhören. Buchstabenrätsel: Batum , Indigo , Sardinen , Marengo, Angerap, Rigoletto, Krokodil - Bismarck, Monopol. Silbenrätsel: Landmann. Anagramm: Ernte - Rente. Rösselsprung: Schatten sind des Lebens Güter, Schatten seiner Freuden Schar, Schatten Worte, Wünsche, Thaten, Die Gedanken nur sind wahr; Und die Liebe, die du fühleft, Und das Gute, das du thust, Und kein Wachen als im Schlafe, Wenn du einst im Grabe ruhst. Palindrom: Lese- Esel. Zusammenlegspiel :
Silbenrätsel. Ein Name ist's, Gar manch ein Papst trug ihn, Doch liest du ihn im verkehrten Sinn, Siche, so ist's Das, womit den Salat ich mir nete. Logogryph. Sobald einst aus den beiden Ersten Das Dritte freundlich zu dir spricht, Dann ist dir günstig auch das Ganze, Schnell greife zu und zaud're nicht.
Homonym. Auf ihr lag ruhig ich im Graje, Da sprang ein großer Frosch mir auf die Nase, Nun schrie ich laut, daß ich's nur sag', Erschrocken das, worauf ich lag. Anagramm. Ein Räuber bin ich aus der Vogelwelt Sobald man nimmt das letzte Zeichen mir Und das vorletzte als das erste stellt, Werd' ich ein mächtig raubend Säugetier.
Musikalisches Rätsel : Muß i denn, muß i denn zum Städt. lein hinaus. Homonym: Lampe. Schlüffelrätsel: ABCDEFGHJKLMNORSTUWZ
Frühling. Die Lerche schwingt sich in die Luft, Das Täublein fleugt aus seiner Kluft und macht sich auf die Felder ; Die hochbegabte Nachtigall Ergößt und fült mit ihrem Schall Berg, Hügel, Thal und Wälder.
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Chemische Kleinigkeiten. -- Der Polizeitelegraph in Chicago. - Franz von Holstein. - Glück und Glas .
Chemische Kleinigkeiten. Leichte Orydierbarkeit von Phosphor. Zu diesem schönen Versuch stelle man sich einen kleinen Apparat aus einem hohen Glascylinder und einer Trichterröhre, die bis auf den Boden desselben reicht, zuſammen. Einige kleine Phosphorstückchen werden in denselben gebracht, diese mit einer Schicht crystallisierten chlorſauren Kali bedecktund das Ganze mit Waſſer faſt voll gefüllt. Durch die Trichterröhre gießt man dann concentrierte Schwefelsäure zu, es bilden sich unter fortwährenden kleinen Erplosionen, die aber wegen der überstehenden Flüsſigkeit gänzlich gefahrlos ſind, intermittierende Lichterscheinungen , die namentlich des Abends einen eigentümlichen Anblick gewähren. Zu beachten bei diesem Versuch ist, daß Phosphor höchst giftig und entzündlich ist , man zerschneide ihn nur unter Wasser , fasse ihn nicht mit den Fingern an , sondern bringe ihn mit einer Pinzette in den Cylinder. Das künstliche Irrlicht. Dieſe chemische Spielerei , welche wegen ihres unangenehmen Geruchs und Giftigkeit etwas Vorsicht bedingt , wird gemacht, indem man Phosphorcalcium in Stanniol wickelt, einige Deffnungen in die Umhüllung macht und es dann in Wasser wirft. Es entwickelt sich Phosphorwasserstoff , das sich an der Luft unter Ausstoßen von weißen Rauchringen von selbst entzündet. Sich selbst entzündendes Papier wird hergestellt durch Uebergießen von Filtrirpapier mit einer Löſung von Phosphor in Schwefelkohlenstoff. Nach einigen Minuten fängt das Papier an zu rauchen und wenn der Schwefelkohlenstoff verdampft ist, mit Flamme zu brennen.
Der Polizei-Telegraph in Chicago . In Chicago, ſchreibt der „ Techniker“ , iſt nach zufriedenstellenden Versuchen ein neues Alarmſyſtem eingeführt worden , mittels deſſen die Polizei von einem Verbrechen, Feuer, Unfall, oder dergl . augenblicklich auf telegraphischem Wege und zwar von den Bürgern selbst benachrichtigt werden kann. In den Straßen sind entweder an den Ecken oder nahe an denselben und in nicht zu großer Entfernung von einander Schilderhäuschen aufgestellt , zu welchen jeder achtbare Bürger einen Schlüſſel erhalten kann. Ueber die Inhaber dieser Schlüſſel wird von der Polizei eine Liste geführt. Ein elektrischer AlarmApparat ist in einem kleinen Kaſten an der Innenseite des Häuschens eingeſchloſſen ; außerdem enthält der Kasten noch ein Telephon, das für den herbeieilenden Beamten bestimmt ist, welcher nun in direkte Verbindung mit der Polizei - Station tritt. Jeder Bürger, der einen Schlüssel besigt, kann, wenn er eine Taste des Alarm-Apparates niederdrückt, in drei bis vier Minuten eine Hilfsmannschaft von drei Polizisten mit Pferd und Wagen herbeiſchaffen. Dieser Wagen enthält eine Anzahl Geräte für alle denkbaren Notfälle , und kann der Wagen zum Transport von Gefangenen oder Verunglückten dienen . Die Schlösser an den Schilderhäuschen sind alle gleich und halten den zum Deffnen gebrauchten Schlüffel mittels einer einfachen Vorrichtung so lange zurück,
bis einer der herbeigeeilten Beamten ihn mit einem Hauptschlüssel ablöst. Diese Einrichtung ist getroffen, um absichtlich falsche Meldungen zu vermeiden und den Anrufer so lange festzuhalten, bis ein Beamter angelangt ist. Außerdem befindet ſich auf jedem Häuschen eine Glocke , mit welcher bei besonderen Gelegenheiten die Polizisten angerufen werden können, welche sofort nach den ihnen zunächst gelegenen Schilderhäuschen eilen, um ihre Inſtruktionen entgegennehmen zu können. Auf diese Weise können 3. B. die sämmtlichen Polizei - Beamten eines Bezirks, in welchem ein schweres Verbrechen begangen worden ist, von der Natur und dem Urheber desselben benachrichtigt werden , so daß sie entweder zu Hilfe eilen oder dem Flüchtling , dessen Personalbeſchreibung mittels Telephon gegeben wird , nachforschen können. Im Anschluſſe an dieſe Einrichtung werden in den Wohnungen , Läden und Büreaus für eine bestimmte Miete Privat- Alarm - Apparate aufgestellt, welche die Signale lautlos absenden , so daß der Dieb von der Polizei überrascht werden kann. Mit denselben Apparaten kann ebenfalls ein etwa ausgebrochenes Feuer durch die Polizei bei den Feuerwehr-Stationen angemeldet werden.
Franz von Holftein. Der liebenswürdige, tiefempfindende Künſtler, von dem wir diesmal in der Hausmuſik einen Beitrag bringen, weilt nicht mehr unter den Lebenden. Zu früh starb er in der Nacht vom 21. zum 22. Mai 1878. Geboren 1826 zu Braunschweig , war H. Militär geworden und erst 1852 zur Musik übergegangen , die er seit jeher geliebt hatte. Seine drei Hauptstücke , die ihn am meiſten bekannt gemacht haben , sind die Opern „ Der Haideschacht", welcher die Sage von dem verſchütteten Bergknappen von Falun behandelt , „ Die Erben von Morley" und „Der Hochländer" . Es fehlt diesen Werken nicht an hochdramatiſcher Wirksamkeit , bei ſeingearbeitetem Saße , ſinnvoller Orcheſtrierung, und namentlich „ Die Hochländer“ dokumentieren in deut lichster Weise H.'s bedeutendes Können. Nach seinem Tode sind durch Bulthaupt auch eine Reihe Gedichte des Meisters an die Oeffentlichkeit gebracht worden . Glück und Glas wie leicht bricht das, heißt es noch immer im Volksmunde und daß diese leichte Brechbarkeit des ersteren zu Rechte besteht, hat wohl jeder von uns erfahren. Beim Glas trifft es jedoch nicht mehr zu. Die Technik, die das Glück leider nicht haltbar machen konnte , hat es verstanden , dem Glas eine solche Festigkeit zu geben, daß man jeßt in England Brücken daraus macht, die den Vorzug haben, sehr billig zu sein und weder zu rosten, noch zu faulen . Stücke dieses harten Glases, von 10-15 Centimeter Dicke, welche an den Enden so unterſtüßt waren, daß sie in einer Länge von ca. 1 Meter frei schwebten, zerbrachen erst bei einer lediglich auf den Mittelpunkt wirkenden Belastung von 5000 Kilogramm. Bei gleichmäßiger Verteilung der Last trugen sie mehr als das Doppelte. Ferner wurden Platten von 500 Quadrat- Centimeter Fläche und 28 Mili-
Dom Luftdruck. meter Dicke in Bezug auf ihre Haltbarkeit gegen Stöße geprüft. Die Platten wurden dazu auf sandigen Boden flach aufgelegt, dann ließ man ein Gewicht von 500 Kilogramm darauf fallen , und zwar zunächst aus einer Höhe von 1 Meter. Da die Platten diese Stöße ohne Veränderung aushielten, wurde die Fallhöhe nach und nach ver größert. Erst bei einem Fall des Gewichts aus einer Höhe von 6 Metern zerbrachen die Platten, während Gußeisenplatten von gleichem Umfange und gleicher Stärke bei einer viel geringeren Fallhöhe des Gewichts zerbrachen . Bom Luftdruck. Die Aufgabe, einen Kork in der Weise in eine Flasche zu blasen wie es Figura zeigt , ist leichter gestellt als gethan. Für den ersten Augenblick würde man meinen , daß der Stöpsel beim starken Anblasen in die Flasche hineinfallen müsse, allein dies ist nicht der Fall. Je heftiger das Blasen, desto schneller fliegt der Stöpsel auf den
Bläser zurück. Selbstverständlich muß der Stöpsel kleiner als die Halsöffnung der Flasche sein. Nur in dem Fall, daß man den Hals der Flasche fest an den Mund preßt, so daß seitlich keine Luft ent weichen kann, gelingt es, den Stöpsel in die Flasche zu treiben. Ein auf ähnlichem Verfahren basierendes Erperiment ist folgendes : Man legt ein dünnes Brettchen, dessen Ecken aber abgerundet sein müssen (eine Maler- Palette erfüllt ebenfalls den Zweck), auf den Rand eines Tisches derart, daß es etwas weniger als die Hälfte über die Tischkante hervor ragt. Hierauf bedeckt man den auf dem Tische liegenden Teil des Brettchens mit einem Bogen Papier (Schreib oder Zeitungspapier , doch ohne Risse) und streicht dasselbe möglichst glatt. Wenn man nun mit der Faust einen kräftigen Schlag auf den vorstehenden Teil des Brettchens führt, so wird man einen so großen Widerstand fühlen , daß das Brettchen unverrückt liegen bleibt. Natürlich darf der Schlag nur schnell geführt werden , damit die über dem Papier befindliche Luftsäule keine Zeit zum Ausweichen findet. Je schneller und kräftiger der Schlag ist, destoweniger ist man im stande, das Brettchen herabzuschlagen. Auch darf man die Hand nicht auf dem Brettchen liegen lassen.
Unsere Künstler.
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Beide Experimente lassen sich auf die Wirfungen des Luftdruckes zurückführen. Beim ersten läßt die in der Flasche befindliche Luft den Stöpsel nicht eindringen, wenn sie durch einen Luftstoß komprimiert wird, und schleudert ihn bei weiteremt
Luftzuftrömen heraus. Beim zweiten bildet sich unter dem glattgestrichenen Papier eine Art Vakuum, auf welches die äußere Luftschichte so bedeutend wirkt, daß der kräftigste Mann (vorausgesetzt , daß das Papier nicht durch die Ecken des Brettchens zerrissen wird) mit voller Kraft erfolglos auf das Brettchen schlagen kann. Ansere Künstler. Es ist uns diesmal vergönnt, neben unseren Tertillustrationen auch eine stattliche Zahl Einzelillustrationen zu geben, von denen sich zwei in der Form von Kunstbeilagen den Lesern präsentieren. Die erste derselben zeigt ein außerordentlich an mutiges Mädchenbild von dem Düsseldorfer Meister B. Vautier (geb. 24. April 1829 zu Morges), das schon durch den Ausdruck höchster Naturwahrheit anzieht. Die zweite Kunstbeilage „ Der erste Mor gengruß" ist eine Schöpfung von Gust. Süs (geb. 1823 zu Rumbeck bei Rinteln) , der in der Darstellung des Federviehs das Höchste erreicht und mit großer Naturtreue einen ansprechenden Humor zu verbinden weiß. Einen ausländischen Künstler führen wir den Lesern in Nik. Masic vor, deffen Dolce far niente " Empfin dung und eine fein ausgebildete künstlerische Technik verrät. Ist Masic vielleicht Manchem fremd, so begrüßt wohl jeder einen alten Bekannten in A. Oberländer (geb. 1. Oft. 1845 zu München) , dent ewig luftigen Illustrator der „Fliegenden Blätter", der uns eine seiner köstlichen humoristischen Zeichnungen (Duett) beigesteuert hat, die eine so verständliche Sprache reden, daß sie keines Kommentars bedürfen. Der sinnige Illustrator des Woenigschen Gedichts „Der Schwarzdorn steht in Blüten ", Herm. Heubner (geb. 26. Mai 1843 zu Leipzig), bildete sich auf Thumanns Veranlassung in Weimar und hat sich sowohl als feinsinniger Jllustrator , wie als Porträt und Landschaftsmaler einen Namen gemacht. Ernst Bosch (geb. 1834 zu Krefeld), von dessen ansprechendem Bilde „ Der Dorfkünstler" diesem Hefte eine gelungene Reproduktion beigegeben wurde, lebt in Düsseldorf und hat sich durch seine in der Auffassung stets gesunden Genrebilder rühmlich hervorgethan.
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Charles Darwin †. 1 Der gestirnte Himmel im Monat Juni.
Charles Darwin †.
in der Gegenwart" veröffentlichte, erzählt D., wie ihm die ersten Anregungen über den späteren Grundgedanken seiner Theorie über die Veränderlichkeiten der Arten kamen : Als ich an Bord des „Beagle" war, glaubte ich noch an die Permanenz der Arten, aber soviel ich mich erinnern kann, gingen mir schon damals gelegentliche Zweifel durch den Kopf. Nach meiner Rückfehr in die Heimat (im Herbste 1836) bereitete ich sogleich mein Tagebuch für die Herausgabe vor, und dabei gewahr teich, wie viele Thatsachen auf den gemeinsamen Ursprung der Arten hinwiesen. Infolge dessen legte ich mir im Juli 1837 ein Notizenbuch an, in welches ich alles, was sich auf diese Frage bezog, ein: trug . Aber ich denkedoch,daß es noch zwei bis drei Jahre gedauert hat, ehe ich mich vollständig davon über zeugte, daß die Arten verän derlich seien."
Eben als der letzte Bogen dieses Heftes in die Maschine sollte, um gedruckt zu werden, erhielten wir auf telegraphischem Wege die schmerzliche Kunde von dem Ableben Charles Darwins , des großen Naturforschers, der der Menschheit neue , unge ahnte Blicke in die Tiefen der Natur er: schloß. Einer der genialsten Forscher nicht nur unserer, sondern aller Zeiten hat mit ihm die Augen geschlossen für immer , und Name sein Leben wird dauernd und ewig. Es ist nicht heute möglich, an dieser Stelle eingehender Darwins Wirksamkeit zu gedenken , es muß dem nächsten Hefte vorbehalten bleiben, sein geistiges Por trät zu ent werfen. Da gegen können wir schon heute unseren Lesern eines der besten und wohl das letzte Bildnis des berühmten Der geftirnte . Gelehrten mit Himmel im seiner UnterMonat Juni. Ind . M.steht schrift vorfüh ren, das er gegen 10 Uhr das abends selbst als the Charles Darwin newest and Sternbild der am the best por Krone nunmehr einem Jahre bezeichnete. Wir verdanken Südhimmel nahe dem Scheitelpunkte. Zieht man von seinem hellsten Stern Gemma in Gedanken eine Linie dasselbe unserem geschäßten Mitarbeiter Dr. Otto Zacharias, der uns auch einen Artikel über den südwärts, so trifft dieselbe auf einen hellen Stern, der Dahingeschiedenen zugesagt hat. In einem Brief, zum Bilde der Schlange gehört. Tief am Südhimmel glänzt Antares. Nordöstlich davon steht das Sternbild den Darwin an Zacharias richtete und den dieser des Ophiuchus und noch mehr gegen Osten stehen Adler, 1 ) Geboren am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury, studirte Darwin seit 1825 in Edinburgh, seit 1828 in Cambridge und Leier und Schwan in einer sehr sternreichen Gegend erlangte hier 1831 den akademischen Grad. In demselben Jahre des Himmels, die durch den Glanz der Milchstraße eine besondere Pracht erhält. Am Nordhimmel beteiligte er sich als Naturforscher an der Weltumsegelung des Schiffes Beagle" und ließ, zurückgekehrt, 1836 sein bekanntes Tagebuch ,,Voyage of a naturalist round the world" er- kommt die Kassiopeia wieder höher herauf, während scheinen. Von seinen Schriften ist die berühmteste ,,On the sich im Nordwesten der große Bär senkt und das origin of species by means of natural selection". Sternbild des Löwen im Untergehen begriffen ist.
Verantwortl. Herausgeber : W. Spemann in Stuttgart. Redakteur : Joseph Kürschner ebenda. Uebersehungsrecht vorbehalten. Nachdruck, auch im Einzelnen, wird strafrechtlich verfolgt. Drud von Gebrüder Kröner in Stuttgart
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Otto Bacharias.
er berühmte Forscher, von dem die enttanik. Im Winter 1825 bezog er die Uniwickelungsgeschichtliche Richtung in versität Edinburgh und zwei Jahre später der heutigen Naturwiſſenſchaft ihren Ursprung | kam er auf das Christ College zu Cambridge, wo er im Jahre 1831 den Grad eines Bachelor und ihre umfassende Begründung ableitet, ist am of Arts erwarb, eine akademische Würde, die 19. April d. J. auf seinem Landgute zu Down (in der Grafschaft Kent) gestorben. Er ist ungefähr der unseres philosophiae doctor entreichlich 72 Jahr alt geworden. Nicht bloß spricht. England , sondern die ganze kultivierte Welt Im Herbst desselben Jahres trat ein ent betrauert den Hingang dieses Großen im Reiche scheidender Wendepunkt in Darwins Leben ein. des Geistes , deſſen durchdringender Blick den Kapitän Fizroy , der Kommandant des enggeheimnisvollen Zusammenhang erkannte , der lischen Kriegsschiffes „ Beagle“ , erbot ſich nämzwischen den Lebensformen der Urzeit und den lich einem Naturforscher , welcher an der mit noch heute auf unserem Planeten vorhandenen dem genannten Schiffe auszuführenden Vermeſſungsexpedition teilnehmen wolle, seine KaOrganismen besteht. Der Name Darwins iſt in jener hochwichtigen Theorie verewigt , die bine zur Hälfte zur Verfügung zu stellen und unserem und noch manchem der kommenden ihm freie Fahrt und Verpflegung zu gewähren . Geschlechter als Leitstern auf dem Gebiete der Der damals 22 jährige Charles Darwin melD
biologischen Forschung dienen wird. England hat seinem berühmten Sohne die größte Ehre zu teil werden lassen , die es überhaupt zu erweisen im stande ist : Darwin , der auf dem stillen Friedhofe zu Down beerdigt sein wollte, ist in der Westminster - Abtei beigesezt worden und sein Grab befindet sich neben den Ruhestätten Newtons und Herschels. Mit inniger, wehmütiger Teilnahme empfindet auch die deutsche Forscherwelt die Größe des Verlustes, den England in seinem hochherzigen und tiefdenkenden Charles Darwin erlitten hat, und beide Nationen sind einig darüber : daß eine Leuchte des Jahrhunderts, eine Zierde der Gelehrtenwelt, ein edler, fein fühlender Mensch auf ewig dahingegangen ist. Ruhm und Ehre seinem Andenken ! Charles Darwin wurde am 12. Februar 1809 in dem Städtchen Shrewsbury geboren. Sein Vater , Dr. Waring Darwin , war ein geachteter Arzt, und sein Großvater, Dr. Eras mus Darwin , ein berühmter Physiologe und Dichter. Der Verstorbene entstammte somit einer Gelehrtenfamilie und die Annahme, daß ihm der Drang zum Forscher angeboren war, ist gewiß die allernatürlichste, die man machen kann. Dennoch war Charles Darwin in seiner Jugend kein sogenanntes „Wunderkind“. Wie er selbst gelegentlich erzählte, gehörte das regelrechte Lernen und Studieren nicht zu den Passionen seines Kindesalters . Er war ein kräftiger, stubenscheuer Knabe, der das Herumstreifen in Wald und Feld mehr liebte als das Stilleſigen im Elternhause. Das einzige, wofür er Sinn hatte, war die Bo-
dete sich zur Mitreise und stellte nur die Bedingung, frei über die von ihm zu machenden Funde und Sammlungen verfügen zu dürfen. Diese Bedingung wurde ihm zugestanden und so verließ der junge Naturforscher seine eng lische Heimat am 27. Dezember 1831 auf fünf Jahre. Er besuchte in dieser Zeit die Inseln des grünen Vorgebirges, den südamerikanischen Kontinent in allen seinen Teilen, die Falklandsinseln , den Chiloe- und GalapagosArchipel, Otahaiti, Auſtralien, Van Diemensland, Mauritius, St. Helena und die Azoren. Er machte überall umfassende Beobachtungen, entdeckte viele neue Thatsachen und brachte eine reiche Sammlung mit nachHause. Am 22. Oktober 1836 sette er zu Falmouth seinen Fuß wieder auf englischen Boden und seitdem hat er die Heimat nicht mehr verlassen. Die ersten drei Jahre nach seiner Rückkehr lebte er zu London. Hier ordnete er seine reichen Sammlungen , redigierte die auf der Reise geführten Tagebücher und war zugleich eifriges Mitglied der geologischen Gesellschaft, die ihn zu ihrem Ehrenschriftführer erwählt hatte. Er bekam aber, wie es scheint, das Junggesellenleben in dieſer Zeit überdrüssig ; denn bald nach dieser Londoner Thätigkeit begab er sich nach Maer Hall in das Haus seines Onkels Wedgewood und vermählte sich noch im Jahre 1839 mit seiner Kousine E. Wedgewood. Aus dieser Ehe ſtammen fünf Söhne und zwei Töchter, die sämt lich am Leben sind. Auch Darwins Gattin, eine stattliche und gebildete Dame in den sech= ziger Jahren, lebt noch, und bildet jezt, nach dem Dahinscheiden ihres berühmten Gatten,
Charles Darwin.
den Mittelpunkt der behaglich-stillen Häuslich keit zu Down-House. Jahre werden freilich erst vergehen müssen, ehe sich der herbe Schmerz um den Verlust des teuren Gatten, des liebevollen Vaters , des bewährten Wohlthäters und
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Schriften verfaßt und herausgegeben hat. Erst im vergangenen Jahre noch erschien aus der Feder des greisen Forschers eine Monographie über die Rolle, welche die Thätigkeit der Regenwürmer bei der Bildung der sog. Dammerde Menschenfreundes Charles Darwin lindern (mould) spielt. Die auf denselben Gegenstand kann. Nicht bloß in der Wissenschaft, sondern bezüglichen Arbeiten des deutschen Zoologen, auch in seiner Familie hat der Verstorbene eine Prof. Hensen (Kiel), werden durch Darwins Lücke hinterlassen, die niemand auszufüllen verumfassende Beobachtungen bestätigt und vielfach ergänzt. Ganz besonders ist es ein Verdienst mag. Eine unſägliche Leere , das Gefühl der Dede und Vereinsamung eine solche, nicht des Verstorbenen , gezeigt zu haben, daß die näher beschreibbare Empfindung ist es, welche Regenwürmer eine sehr wichtige Thätigkeit in der Vorbereitung des felsigen und sandigen die Angehörigen und die Freunde Darwins beſchleicht, wenn sie sich wieder und immer wieder Erdbodens zur Aufnahme einer Pflanzenwelt sagen müssen: Er ist tot, er kehrt nie in den entfaltet haben. Die von Darwin angestellten Kreis derer, die ihn verehrten und liebten, zurück. Berechnungen haben ergeben, daß viele tausend Seit 1842 hat Darwin in Down , einem Tonnen Erde alljährlich von den Regenwürmern Dorfe von etwa 500 Einwohnern (nahe der aus den unteren Erdschichten herauf an das Eisenbahnstation Beckenham) , in fast völliger Licht und die Luft befördert werden. Die Zurückgezogenheit gelebt. Hier machte er seine Nüglichkeit dieser Tiere ist damit auf das unausgedehnten Züchtungsverſuche an Tieren und zweifelhafteſte dargethan. Pflanzen, seine Beobachtungen über FortpflanWas nun das Problem der Arten- Entstehung betrifft, welches Darwin in seinem Hauptwerke zung, Veränderlichkeit und Lebensweise der verſchiedensten Organismen , um auf diese Weise | behandelt, ſo iſt dasselbe schon im Jahre 1809 von dem französischen Zoologen Lamard (in Material für die Begründung der Selektionstheorie und des Prinzips „ vom Ueberleben des deſſen Philosophie zoologique) eingehend erörtert, aber nicht der richtigen Lösung entgegenPassendsten“ zu erhalten. Vorzugsweise begeführt worden. Lamarck schrieb dem Gebrauch nußte Darwin Tauben und Kaninchen zu seinen Züchtungsversuchen. Lettere hielt er in und Nichtgebrauch einzelner Organe und dem . einem hinter seinem Landhause gelegenen Park, Einfluß der Lebensbedingungen einen zu großen der eine große Ausdehnung und waldähnliche und direkten Einfluß auf die Organiſation Beschaffenheit besißt. In den Gängen zu. Anderseits war er aber nicht im stande Gängen dieses dieses Parkes machte er auch allmorgendlich seine zu zeigen , durch welche Kräfte und Ursachen die Arten sich mit Notwendigkeit verändern Spaziergänge und hing seinen Gedanken nach, bevor er an die Arbeit ging. müssen, wenn sich die Lebensbedingungen Infolge dieser unleugbaren Zwanzig Jahre langforschte und züchtete Dar- modifizieren. win in der Stille seines Landaufenthalts , bevor Mängel wurde Lamarcks Schrift fast gänzlich er ein Wort von der neuen Theorie, die nach ignoriert und beinahe ein halbes Jahrhundert seinem Namen benannt ist, veröffentlichte. Am lang totgeschwiegen. Es ist nun das große Verdienst Charles Darwins gewesen , gerade 1. Juli 1858 machte er in der Linnéan Society zu London die erste Mitteilung davon, die Lücke, die Lamarck gelassen hatte, ausgefüllt und im darauffolgenden Jahre (1859) er- und die Kräfte namhaft gemacht zu haben, schien das epochemachende, umfangreiche Werk durch welche die Entwickelung neuer LebensOn the origin of species " , in welchem formen mit zwingender Notwendigkeit erfolgen das Problem der Arten-Entstehung mit einem muß. Durch diese wissenschaftliche That hat er Scharfsinn, einer Erfahrung und einer Be- die Deszendenzhypothese, d. h. die Annahme, scheidenheit ohnegleichen diskutiert, und seiner daß die gegenwärtigen Tier- und PflanzenLösung nahe gebracht wurde. Dieses Buch, arten von den in früheren Erdgründen lebenwelches in England allein ſieben große Auflagen den organiſchen Formen abſtammen, zur höchſten erlebt hat, ist noch heute als das Hauptwerk Wahrscheinlichkeit gebracht und diese Hypothese Darwins zu bezeichnen, wiewohl er nach dem- somit zum Range einer wirklichen Theorie selben noch zahlreiche andere, hochinteressante erhoben.
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Otto Bacharias.
Daß dieser Umstand in den meisten po- weil im Tier- und Pflanzenreiche eine beständige pulären Darstellungen der Darwinschen Lehre Uebervölkerung , ein unaufhörliches Drängen viel zu wenig betont wird, ist ein unleugbarer gegen die Grenze der Unterhaltsmittel ſtattMangel. Denn gerade in diesem vielfach findet, kommt es zu einem Kampfe ums Daſein, außer acht gelaſſenem Punkte liegt die große in welchem die zarteren Organismen unterkulturgeschichtliche Bedeutung des Darwi- liegen und die stärkeren (oder den neuen Lebensnismus . Erst mit Nachweisung der zu Abbedingungen beſſer angepaßten) das Feld beänderung treibenden Ursache wurde die Deszen haupten. Ohne den Exiſtenzkampf würde keine denztheorie eine Macht, welche auf die Geister Nötigung zum Fortschritt in der Organiſation vorhanden sein, und somit die Triebfeder fehlen, wirkte und ihren Einfluß in den weitesten welche den Prozeß der Artenbildung einleitet, Kreisen (inner- und außerhalb der Wissenschaft) reguliert und zum Abschluß bringt. Diese geltend machte. Darwin brachte zur unwiderleglichen Evi- Triebfeder aufgefunden, ihre Wirksamkeit durch denz , daß die große und rasche Vermehrung Hunderte von Beispielen aus dem Naturleben aller Geschöpfe dazu führen müsse : jeden Plat illustriert und klargestellt zu haben : das ist wie bereits betont die große Geistesim Haushalt der Natur zu besetzen. Er zeigte, wie diese allgemeine Uebervölkerung die Ursache that des dahingeſchiedenen Forschers . In Summa ist das Ergebnis von Darwins eines permanenten und harten „Kampfes ums Dasein “ werden müsse , in welchem nur der Untersuchungen folgendes : Alle existierenden OrStärkere überlebe, der Schwache jedoch unterganismenarten sind die Nachkommen von vorher existierenden Arten, und diese stammen wieder gehe und erliege ; mit genialem Blick erkannte von solchen ab, welche aus noch früheren (verer, daß — weil nur der Sieger seine Art fortpflanze die miteinander um die Existenz möge des Vehikels der Varietäten- und Raſſenringenden Geschöpfe sich mit Notwendigkeit bildung) kontinuierlich hervorgingen. Es gibt keine Sprengung, keine Unterbrechung des durch verändern, resp . höher entwickeln müſſen, bis sie Formen und Eigenschaften angenommen. Zeugung und Fortpflanzung bedingten Zuhaben, die mit den Erforderniſſen, welche die sammenhanges in den aufsteigenden GeneraAußenwelt und die Beziehungen zu andern tionen der Lebewesen und alle die mannigfalOrganismen an sie stellen, in Einklang stehen. tigen Tier- und Pflanzenarten , die wir vor Es findet also gleichsam eine Auslese derjenigen uns sehen , oder deren Ueberreste wir in den Individuen einer Art statt, welche den neuen übereinander gelagerten Erdschichten vorfinden, Existenzbedingungen besser angepaßt sind , als sind als auf natürlichem Wege, nicht durch einen die ursprüngliche Stammform. Aus diesem Schöpfungsakt, entstanden zu denken. Ob_freiGrunde bezeichnet man die Darwinſche Theorie lich alle Organismen von einer einzigen von der Arten-Entstehung auch mit dem Namen Stammform herzuleiten sind , oder ob eine „ Selektionstheorie“ . Aber diese Auslese | Mehrheit von Urkeimen anzunehmen ist : das ist keine bewußte und mit Absicht ins Werk ist eine noch offene Frage , welche erst durch die fortschreitende Wiſſenſchaft wird beantwortet gesetzte wie etwa ein Gärtner oder ein werden können. Wie diese Frage nun aber Tierzüchter die tauglichen Individuen von den auch künftig gelöst werden wird, soviel ist schon weniger brauchbaren sondert, sondern eine unbewußte , aber nichtsdestoweniger sehr wirk- heute sicher: daß wir nicht im stande sein werden, jemals zu begreifen, wie die erste empfindende same Selektion. So vermag eine Frostnacht die schwachen Pflanzen aus einer Baumschule | Faſer entstand und wo die Willenskraft , der wir allen Fortschritt in dieser Welt verdanken, ebenso unfehlbar auszulesen, als ob der intelligenteste Gärtner die einzelnen Exemplare ge- ihren ersten Ursprung nahm. Hier tritt das prüft und weggeschnitten hätte. Der Darwinis- Ignorabimus in aeternum in Kraft , weil diese Fragen nicht bloß unsere gegenwärtige mus kann somit als eine Uebertragung der Malthusischen Lehre von der Ueber- Kraft, sondern überhaupt die unserem Geiste völkerung (und den repressiven Tendenzen) von der Natur gezogenen Grenzen übersteigen. Der Darwinismus ist demnach mit jeder poſiauf die Zoologie und Biologie angesehen werden. Mr. Darwin hat sich wiederholt selbst in tiven Religion verträglich ; er widerspricht dem diesem Sinne ausgesprochen. Nur darum, Glauben , daß der Schöpfer den Keim des
Charles Darwin.
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milden Ausdruck, sein Wort war stets wohl= Lebens am Anfange der Dinge durch sein allmächtiges „ Werde" erschuf, in keiner Weise. wollend und aufmunternd, seine Kritik niemals Bigotterie und Pietismus haben somit ganz verlegend . Kinder hatte er über alle Maßen umsonst ein Geschrei darüber erhoben, daß die gern und wenn er über Land spazieren ging, Darwinsche Lehre dem christlichen Glauben ge- unterhielt er sich gern mit den munteren Dorffährlich werden müſſe. Dies ist um so weniger knaben, die ihm begegneten. Und diese erwiderder Fall, als die Theorie der allmählichen Entten seine Liebe aufrichtig, indem sie ihn schon wickelung der Lebensformen vielmehr dazu an- von weitem grüßten und zuwinkten, wenn sie leitet, die unbegreiflich große Güte und Weis- ihn kommen sahen. Es ist erquickend , einen heit einer so oder so zu denkenden Welten großen Mann zu sehen , der ein so rührend regierung demutsvoll zu bewundern . gutes Herz und so liebenswürdige Manieren Bergessen dürfen wir aber bei dieser religiöbesitzt. Darwin plauderte gern im Freundessen Bewunderung nicht, daß die Bezeichnungen und Familienkreise, fand auch Vergnügen am „gütig“ und „ weiſe “ , die wir der höchsten Ursache Lesen von Romanen und liebte vor allem die beilegen, nur bildliche Ausdrücke sind, die ledig- | Musik. In seinem Hauſe wurde viel Klavier lich unser subjektives Empfinden wiedergeben, gespielt und gesungen. So floß sein Leben aber nichts über die wahre Natur der Ursache hell und klar dahin wie ein Bach zur Sommersaussagen, durch welche solche Empfindungen in zeit. Es war das Leben eines Weisen , der uns erregt werden. Daß aber eine solche Ur- fern vom Tageslärm der Erkenntnis des höchsten sache existiert, ſteht außer allem Zweifel. HöchstGeheimnisses, der Frage nach der Entstehung wahrscheinlich ist dieselbe aber ebenso hoch über der Lebensformen , seine ganze geistige Kraft Intelligenz und Willen erhaben, als lettere widmete. In den Armen seines treuen Sohnes über mechanischer Bewegung. Wir können darum Francis , der in den letzten Jahren sein keinen adäquaten Ausdruck finden , um ihre Sekretär und Forschungsgenosse war , hauchte Eigenschaften zu bezeichnen. Wer diese Sach- | dieser edle Greis sein reiches Leben am 19. April d . J., Nachmittags 1/24 Uhr aus . lage richtig begreift , wird sich nie in theologische Streitigkeiten einlassen. Es ist nicht Die Wissenschaft wird den Tag und die Stunde dieses Hinscheidens niemals vergessen. Reüberflüssig, diesen Punkt gerade in einer Lebensskizze Darwins zu betonen , denn der Verquiescat in pace ! ¹) Otto Zacharias. storbene war ein Feind aller Polemik. Die zahlreichen und inhaltsvollen Werke ¹) Wir reproduzieren auf der erſten Seite dieſes Darwins an dieser Stelle namhaft zu machen Heftes die erste Seite eines Originalbriefes und durchzugehen, liegt uns in dieser Würdivon Darwin, der uns von Herrn Dr. Otto Zacharias gung der allgemeinen wissenschaftlichen Thätig- freundlichst zur Verfügung gestellt worden ist. Der Inhalt des Schreibens bezieht sich auf eine osteo = keit des großen Forschers fern. Hier kommt es logische Abnormität , welche Adreſſat an einem uns hauptsächlich darauf an , die menschlich Schweinsfuße wahrnahm . Der vollständige Brief Lautet : tüchtige und liebenswürdige Persönlichkeit des ..My dear Sir ! I am sorry to say that I have Dahingeschiedenen zu firieren . not osteological knowledge enough for my opinDarwin war körperlich groß und stark. Aber ion to be of any value with respect to the ein Magenübel plagte ihn schon seit 1840. anomalous foot of the pig , which you have Er hatte sich dasselbe auf seinen großen Reisen. been so good as to send me . - I do not know zugezogen , und später gesellte sich noch ein whether it has arrived at Down, for I am at present away from home : but when it arrives Herzleiden dazu. Mit den Jahren wurde der I will send it to Prof. Flower at the Royal Gesundheitszustand des alten, sonst so rüstigen College of Surgeons, who has made a special Herrn immer schlechter und schließlich konnte study of the limbs of the Ungulate and who er nur noch in der Nähe seines Hauses spazieren is a most careful and (die zwei folgenden Worte kann ich nicht entziffern ; möglicherweise : advised gehen. Weitere Gänge waren ihm zu er= schöpfend. Seine Kräfte nahmen zusehends ab. knower = bedachtsamer Kenner. 3.) . I have asked him to send me a note. if the foot presents Während seines ganzen Lebens war Darany remarkable pecularity, and ( unflar) I receive win die Freundlichkeit und Güte selbst. Nichts any such note, I will forward it to you . I remain, Dear Sir, Your faithfully Charles Darwin ." lag ihm ferner als irgendwelches Strebertum . Sein Gesicht hatte stets einen weichen und
RBREND'ENOUR R Sommerfreuden.
Von H. Hahn.
Franz von Löher. Meerabgewonnen Land und Leben.
Weerabgewonnen Land und Leben. Von
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Man sieht es deutlich, er mag nicht hinein mit seiner süßen Flut und Eigenheit in das unermeßliche , bittere , öde Meer. Er stauet
und dehnt ſein Gewäſſer breit und träge vor den Seewogen, arbeitet aber flink unter der ruhigen. Oberfläche. Körnchen auf Körnchen sinkt zu Boden, ein Teilchen legt und schichtet sich auf wer von Seeland hört , denkt an die das andere, bis die Masse langsam emporDoppelinsel, die weit unten in der Südsee | wächst, und ein schlammiger Streif aus dem liegt und unter Schuß und Schirm der eng | Wasser hervortaucht, der langsam höher wird lischen Leoparden rasch emporblüht. Ihre Tazen und sich in Sandbänken und Sumpfstrecken An der einen Stelle reißen freilich zerreißen dort das schöne Volk der Ein- verbreitert. geborenen, gleichwie unter ihren Griffen die die Fluten auseinander, um an der andern Irländer in der grünen Heimat und die hol- | mächtiger anzuhäufen. Auch jenem leichteren. ländischen Bauern im Innern Südafrikas ver= Gewässer, das aus Maas und Schelde herbeiderben. Ein anderes Seeland ist die dänische zieht, wälzen hier der Rhein und dort das Meer Insel, auf welcher die reichen Bauern wohnen, ihre schwere Woge entgegen und zwingen ſie zum die noch immer stillen Grimmes sich umkehren selben Werke. Und an diesem Werke sind die und das Gesicht nach Norden wenden, kommt Flüſſe ſeit Jahrtauſenden thätig, und kein Tag, zufällig die Rede auf Schleswig und das feine Stunde, keine Minute schwindet dahin, ohne daß unter des Wassers stiller Oberdeutsche Reich. Doch auch zu diesem Seelande lade ich meine Begleiter nicht ein : wir fahren fläche gearbeitet wird am Landgründen. Alles zu einem Lande, das so still , ſo unbekannt Land westlich einer Linie , die sich von Antund weltverloren am und im Meere liegt, als werpen über Bergen op Zoom , Herzogenbusch, hätte die Geschichte es vergessen mitzunehmen. Nimwegen , Arnheim , Utrecht zur ZuyderUnd doch liegt es uns einpaarhundertmal see zieht, ist Alluvionsland, das die Flüſſe - jezt das reichste und näher , als das australische , und ist dort angeschwemmt haben, der nachbarliche Deutsche fast ebenso unbequem, bedeutendste Gebiet von ganz Holland. Auf die höchsten Pläße führten Winde und ja beargwöhnt, wie bei den Dänen. Und doch, was viel mehr sagen will, ist das unbekannte Gevögel Saatförnchen. Oder lag der zarte und vergessene Land eine Schöpfung zu nennen Pflanzenkeim schon in den Schlammteilchen, unseres edlen Rheinstromes ! Wir wollen uns welche der Fluß herbeiführte, und erwachte zu Form und Leben, als er in sonndurchwärmtes , nämlich einmal in der holländischen Provinz Genug, Gräser Seeland und ihrer Nachbarschaft etwas um- feuchtes Erdreich gelangte? schauen. und Kräuter sproßten auf, Gesträuch und Die Menschen sahen die Bäume folgten. Hochgeboren auf spiegelnden Alpengletschern, grünenden Inseln und kamen in ihren Kähnen. im langen Lauf an seinen Ufern alle Schönheit, Pracht und Lebensfülle entfaltend , wird der und Flößen herbei, ihr Vieh dort zu weiden. Und da sie sahen, wie trefflich es sich nährte und Rhein hier unten am Meere erst recht der wie sicher und fruchtbar das Erdreich, so fingen größte Segenspender. Statt zu klagen , daß sie an Blockhütten zu bauen, das Waſſer abzuer zwischen Sand- und Schlammbänken schleichend verrinne, sollten wir den herrlichenleiten, wo es hier und da noch sich anſammelte, Strom bewundern, daß er vor seinem Ausund den Boden durch Abzugskanäle trockener zu machen. So siedelte sich auf dem Lande, fließen in die Ozeanstiefen noch einmal Wohlthaten ausschüttet. Fruchtbare Auen und Aecker das dem Meere abgewonnen, junges Leben an, schafft er, wo bisher die öde Meereswoge sich mitten unter Todesgefahren. Denn da draußen hinter den Bäumen und hob und senkte, und mit heiserem Schrei die Büschen, rings umher, weit, unermeßlich weit, Möve über die graue Fläche zog. Jedes Körnchen Sand und Erde, welches der Strom auf liegt das gewaltige Meer , grollend wie ein langem Lauf im tiefen Bette mit sich rollte grimmer Tückebold, daß die Flüſſe, die Söhne und schleiste , läßt er erst niedersinken, be- des Landes, ihm sein uraltes Reich verringerten. vor er mit der härteren Salzflut sich vermählt. Für gewöhnlich liegt es still, aber zu Zeiten
Franz von Löher.
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Franz von Löher.
rafft es sich auf, fommt brüllend und donnernd daher mit rollenden Fluten, zerreißt das Landwerk, das die Flüsse baueten, in Stücke und nimmt wieder Besiz von Land und Leben, das fröhlich aufzublühen begann. Wenn die Meerflut aber sich wieder zurückzog , kamen auch die Menschen wieder. Denn die Not drängte, sie hatten fein ande res Land, das sie ernährte, ihrer war ja unterdessen eine Menge geworden. die Und
breiten Inseln , von denen das Meer zu-
beledte, und schloß sie aus. Hinter den schützenden Wällen erwuchsen nun die Ansiedelungen zu Dörfern, inmitten von Saaten und üppigen Weideplätzen. Zu Zeiten aber drangen stets wieder ungeheure Fluten über die Dämme, überschwemmten die Inseln und begruben Vieh und Menschen. Tagelang wütete der Sturm. Manrettete sich auf die Dächer und Bäume, auf die Hügel und Kirchtürme. Die Glocken wimmerten durch die Finsternis, und wenn sie hier und Wal verdort stummten, Bliffingen. dann wuß te, wer sich noch oben hielt, daß in jener Gegend die übermächtige Flut alles Gebäude von Menschenhand zerstört, alles Leben ausgelöscht habe. Und nach ein paar Tagen oder Wochen hörte der grimmige Nordwestwind auf, die Luft wurde wieder hell, und das große Wasser fing an sich zu verlaufen. Nun erkannten die lebriggebliebenen mit Schrecken und Staunen, wie sich die Gestalt der Inseln verändert hatte. Das Land sah aus wie eine Ruine, die von Wind und
rückgetreten, lagen wieder so blank und lockend über dem Gewässer, so fett und fruchtbar mit ihrer Schlammerde , daß das hohe Gras wucherte und den auf Wetter zerrissen ist . Tief unter den Wellen Bäumen aber bröckelten die Häuser und Kirchen zuWah sich die volr sammen, bis das letzte Gemäuer, das sich von len Laubden darüber Schiffenden noch auf Meeresgrund erkennen ließ , im Sande verschwunden war. büschel Bei Zype. Diese Stellen im Wasser trugen dann noch drängten . Jezt aber fing man an, die besten Stellen | lange den Namen von Kirchhöfen oder ermit niedrigen Dämmen zu umziehen , und trunkenem Land, und wenn der nächste Sturm die See vom Grunde aus aufwühlte, warf er Sand und Erde zu Hügeln aufzuschichten, damit eine Zuflucht da sei, wenn eine plötzliche Holz- und Torfstücke ans Land , an welchen Sturmflut alles überschwemme. Allmählich noch Menschengerät haftete, traurige Zeugen lernte man , die Dämme und Deiche fester von untergegangenem Leben. machen und das Binnenwasser abzuleiten. Die Auf jedes Jahrhundert ist wenigstens eine Werke wurden ausgedehnt , man fing inmer der großen Landesüberschwemmungen zu rechnen, mehr Landstücke ein , welche die Woge noch die in einer Nacht das Werk von Menschen-
Meerabgewonnen Land und Leben.
altern zertrümmern. Im Jahre 1170 wurde die Verbindung von Nordholland mit Friesland zerrissen und vergrößerte sich die Zuydersee, die bis dahin ein Landsee, um mehr als das Doppelte. Das folgende Jahrhundert, das 13., war das unglückseligste, es zählte 35 große Sturmfluten, von denen jede ziemlich ein halbes, auch wohl ein ganzes Hunderttausend von Menschen fortriß. Im Jahr 1377 verschwanden in Seeland 19 Städtchen unter dem Wasser, bloß Biervliet hob sich wieder empor. Im folgenden Jahre geschah die große Zerstörung des Dortrechter Gaues. Darauf mußten nach einander 1570 , 1665 , 1717, 1771 als Unglücksjahre verzeichnet werden. in Noch unserem Jahrhun dert wurde
1825 ganz Nordholland überschwemmt. Im ganzen genommen hat das
Einzelnen nicht
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Die Landstücke,
welche vom Meer abgeschnitten und entwäſſert waren , rückten immer mehr zusammen , und alle Anwohnenden halfen, die letzten breiten Wasserarme dazwischen trocken zu legen oder in enge und schiffbare Kanäle zu fassen. So haben nach und nach durch die Arbeit vieler Jahrhunderte die seeländischen Inseln ihre jezige Gestalt und Größe erhalten. Eine der unheilvollsten Zeiten war der November des Jahres 1421. In der St. Elisabethsnacht erwachten die Dortrechter von dem Klatschen und Rauschen der Wellen, die an ihre Häuser schlugen, zwei Fuß hoch standen die StraBen unter Waffer. Andern Morgens war rings um die Stadt auf viele Stunden weit nichts ER.Brdmix-A zu sehen, Quai in Dortrecht. als Himmel und
Meer inden letzten 700 Jahren den Holländern ein | Wasser, nichts zu hören, als das Heulen von gutes Siebentel ihres angebauten Landes entrissen. Sturm und Wogen. Hier und da ragte noch ein Allein und das ist wahrlich ein er- Kirchturm aus dem Wasser, 72 Pfarrdörfer waren in den Fluten begraben , und gerade hebendes Schauspiel - jedesmal, sobald die Notzeit aufhörte, nahm der Mensch den Kampf ihre Fluren waren schön und prangend geDortrecht aber lag fortan auf einer wesen. mit dem Meere wieder auf, jedesmal setzte die verständige, geduldige Arbeit der Menschen Insel. Unglücksboten kamen Tag für Tag. wieder an, nicht bloß um zu retten, was noch Längs der ganzen holländischen Küste waren zu retten war, sondern um sofort das VerDämme geborsten an zahlreichen Stellen. Noch lorene dem Meer wieder abzuringen. immer stürmte es, noch immer trug der schwere Zeit der Not hatte jedesmal neue Lehren gegeben , man besserte und verstärkte die alten Dämme, gab ihnen bessere Richtung, und unter stützte sie durch Verzweigungen. Neue Kennt nisse und größere Anstrengungen halfen zu sammen, daß die Bollwerke wider des Sturmes
dunkle Nordwester die brüllenden Wogen ins Land hinein, auf welches endloser Regen niederströmte: erst nach mehreren Wochen wurde der Himmel wieder heiter und ließ sich die ungeheure Verwüstung überschauen. Können solche Zeiten sich wiederholen?
und Meeres Wüten gewaltiger wurden. Insbesondere seit Ende des 16. Jahrhunderts, als Holland nach entsetzlichem Jammer und Leiden
Möglich wäre es , jedoch keineswegs wahrscheinlich. Wenn die Römer Rhein und Maas hin-
das spanische Joch abgeworfen und seine Freiheit erobert hatte, nahm das rettende, schützende, erwerbende Werk mächtigen Aufschwung. Planmäßig sammelte und leitete jezt die Regierung die Arbeit von Gemeinden, wo die Kraft der
unter kamen zu den letzten Niederungen, fragten sie verwundert : „ Wo fängt denn hier das Meer an? wo hört das Land endlich auf?" Grüne Eilande dehnten sich eines hinter dem andern, dazwischen wüste Sandbreiten und Schlamm46
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Franz von Löher.
bänke, grau und gelb, alles gleichsam nur eine Hand hoch über dem Wasser, das sich in zahllosen Armen und Buchten hindurchzog . Bewegten sich diese Flüsse noch, oder war alles schon stehendes Seewasser ? Wo jezt die sieben Inseln Seelands sich ausbreiten , gab es damals eine zahllose Menge kleiner Eilande. Erst wenn zwischen ihnen das Schiff viele Stunden lang immer nach Westen segelte , und zuletzt nirgends mehr eine niedrige Landlinie über dem Wasser dämmerte, erst dann sagten sich die Reisenden , jezt sei man wirklich auf dem hohen Meer. Kamen sie aber das nächste Jahr zurück, hatte sich alles wieder verändert. Die römischen Feldund
ewige Einerlei, und daß nicht mehr von Volk und Ortschaften erscheint. Die Gegend muß dicht bevölkert sein, man ahnt es an tauſend Dingen , sieht aber beständig nur Gewässer und dunkle Uferlinien , in der Ferne eine Windmühle. Kein Ton wird laut, als leises Plätschern der Wellen. Plötzlich scheint ein Haufe roter Dächer im Wasser zu schwimmen , das Boot nähert sich einer einer Stadt. Sie äugelt gleichsam aus dem Wasser herauf. Ein Reisender verläßt still das Schiff, ein anderer kommt im ruhigen Schritt von der Stadt her, um mitzufahren. Von lustigem und lachendem Volk , das sich an der Landestelle umberSchiffstriebe , ist feineRede. obersten Höchstens mochten noch ſo sieht man viele Landirgendwo und ein paar dicke BuSumpfben stehen, zeichen die so ernst ausstecken, das Fahrdas FahrOysterschelde bei Zyriksu. zeug be= wasserverRechenschaft ablegen, sollten als trachten, sie wandelte sich fortwährend. In unserer Zeit gewährt das Land einen wer kommt und geht. Nun stößt es sachte wieder ab, gleitet über anderen Anblick. Sehen wir zu, ob jetzt der die Wasserbreite und biegt wieder in einen Menschen Wohnsite gesichert sind gegen den engen Flußarm hinein, und zu beiden Seiten Andrang von Sturm und Wellen. Wir gehen zuerst auf eine Fahrt, wie sie das Dampfschiff täglich macht , nämlich von Antwerpen nach Rotterdam. Eine eigentümliche Welt umgibt uns . Man schifft auf stillen Strömen, die halbe und ganze Stunden breit sind , von einem ins andere. Wohin man blickt, - trübe oder schimmernde Gewässer, hier und da ein weißgraues Segel überall ziehen sich hin und her grüne Landlinien, hell oder dunkel , je nach dem Wolkenspiel am Himmel, alle wie unabsehbare Festungswälle. Das Land scheint sich scheu hinter diesen hohen Wällen zu verkriechen. Wenn selten einmal Wagen und Pferde auf ihrer Höhe sichtbar werden, sieht es aus , als bewegten sie sich halb in der Luft. Windmühlen , Giebel von Gehöften, Baumwipfel ragen über die endlosen Wall-Linien empor, in der Ferne glänzt ein Kirchturm. Man wird ungeduldig über das
prangen üppig grüne Wiesen, bedeckt mit buntem fettglänzendem Vieh , das aber bewegungslos da liegt oder steht, als wollte es sich abzeichnen lassen. So geht das leicht den ganzen Tag fort Gewässer, Wall-Linien, Windmühlen, Ortschaften in grüner Umgebung, und wieder Gewässer und Flußarme stets aber niedrige Flächen. Wird das Wetter klar, schiffen hoch oben in unermeßlicher Aetherhöhe die Wolken : dann wird die Luft weithin durchsichtig. Ueberall hin weht die Frische der Seeluft , man hört nicht auf, sie zu atmen, jedoch stets ist sie mit etwas Würze von Laub und Wiese, mit dem eigentümlichen Landgeruche vermischt. Legt das Dampfschiff dann vor altertümlichen Städten wie Dortrecht an, wo die noch immer schmucken Häuser ins Wasser gebaut sind , wo die Altanen , auf welchen hübsche
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Mädchen die Fenster pußen, in das Takelwerk der Schiffe hinein ragen, die unten ankern welch Gedränge von malerischen Ansichen! Gibt es irgend eine andere germanische Seestadt, die so seefrisch, so lebenerfüllt den Ankömmling anblickt, wie Rotterdam ? Bremen und Hamburg haben einen Teil ihrer Rhederei draußen an den Mündungen ihrer Flüsse , Liverpool und New York sind von langen Schiffsreihen ein-
wenn ihre Stadt sich besetzt hat mit hochräumigen Gebäuden für Banken und Gasthöfe und andern Anstalten zum öffentlichen Verkehr. Uebrigens war es doch eigen , daß mich hier auf der welthistorischen Schelde, die schon so viele stolze Kriegsflotten getragen, die Erinnerung ergriff an die öde Wildnis des amerikaDer Grund lag in der nischen Stromes. Stille und Einsamkeit der Scheldegewässer. Ich
förmig umzogen , in London überwiegt der Charakter einer Weltstadt , Antwerpen und
hatte Schwärme von Segeln vermutet, jedoch nur in der Ferne, dorthin, wo Antwerpen lag,
Amsterdam vermögen troß aller Anstrengung die dunkeln Linien und Furchen des Alters nicht zu bergen. In Rotterdam aber ist alles frisch und lebendig, ähnlich wie in Kopenhagen und Stockholm. Aus dem wimmelnden Gewühl am Haupthafen öffnen sich prächtige Einblicke in Grachten voll hellen Wassers , voll hoher geputzter Häuser , voll hochräumiger Schiffe, die ihre schlanken Maſten und Spieren zwischen das allwärts schimmernde Baumgrün strecken, das aus Wasser und Fenstern wieder-
ließ sich etwas wie Masten und Segelleinen entdecken. Freilich sind es gerade die Fluten der Schelde, unter deren Oberfläche das Schicksal am heftigsten wütet, welches die Seeschifffahrt einzwängt und gegen deſſen leises und unaufhaltsames Fortschreiten Menschenkräfte noch so ohnmächtig sind, das Versanden
spiegelt. Begeben wir uns nun in das Innere des Landes. Terneuse ist eines der hübschen holländischen Städtchen , in welchen die Häuschen so nett und niedlich zusammengeschachtelt sind, wie die Sachen in einem sauberen Seeschiff. Von hier fuhr ich eines schönen Sonntags über die breite Schelde hinüber nach den see ländischen Insel. Es ist eine Fahrt wie auf dem unteren Miſſiſſippi : ringsum breite wogige Wasserfläche, durch nichts belebt, als durch flatternde Möwen; die Ufer sind ferne niedrige Linien, kaum über dem Wasser schwimmend . Der einzige Unterschied von dem amerikanischen Flusse besteht darin , daß die Ufer des europäischen überall, wo sich das Dampfbot ihnen nähert, Menschenwerk anzeigen , während am Mississippi noch alles wie versunken scheint in dem Sumpf und der Oede der Urwälder. Auch steigt in den Scheldelanden hier und dort ein schlanker Kirchturm in die Lüfte: in Amerika macht er selten auf eine Ansiedelung aufmerkſam. Die jungen Städte halten dort, auch wenn sie geldund volkreich geworden , einen Glockenturm, der hoch über der Erde zum Himmel weist, für ein höchst überflüssiges Ding , es sei denn, es wohnten Deutsche da. Diese wollen an ihrer Kirche doch wenigstens einen kleinen Kirch turm haben. Die Amerikaner denken erst daran,
der Flüsse. So viele Städte am linken Ufer des westlichen breiten Scheldarms , Cadsand, Breskens, Oostburg, Biervliet, lagen noch vor 300 Jahren auf Inseln : die allmählige Versandung hat sie aufs Trockene gelegt. Immerhin aber bleibt der Verkehr zwischen Teilen desselben Landes , ja derselben kleinen Provinz, denn auch die südliche Uferbreite der Schelde gehört zum holländischen Seeland auffallend lahm und spärlich. Ein einziges Schiff, und zwar muß es ein Dampfboot der Regierung sein , vermittelt auf viele Stunden Weges den Verkehr zwischen dem festen Land und den Inseln der seeländischen Provinz, und weil so wenige Güter und Leute mitzunehmen , ist der Preis für die Ueberfahrt von einer Stunde Dauer so hoch angesetzt, wie für den ganzen Weg von Antwerpen nach Rotterdam . Das Dampfschiff seßte mich aus bei Huydkeskerken auf Südbeveland. Der Name bezeichnet nicht bebendes Land , sondern rührt her von Bavos Land , weil einst die Genter Abtei St. Bavo diese Landſtriche besaß. Das Boot landet zu Füßen eines hohen Walls von Quadersteinen ; man steigt ihn herauf, und steht plöglich vor einem ganz seltsamen Anblick. Tief unter dem Wall , viel tiefer als das Meer , liegt ein blühendes Land voll wogender Saaten und schöner Baumgruppen, zwischen welchen sich eine Menge von spitzen. Kirchtürmen erhebt. Schräg nieder vom Hauptwall läuft der gepflasterte Weg ins Land ; er durchschneidet noch mehrere Dämme, die in spißen und stumpfen Winkeln ineinander ein-
Franz von Löher.
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fallen. Es ist gerade so , als führe man in eine Festung hinein. Wenn
zur Zeit der Ebbe Ge= die wässer an den äuße ren Wäl-
len Fuß für Fuß niedersinfen,steigen diese als hohe rieſige Werke über den Flüssen undMeerarmen em= por. Ringsum dehnensich dann feuchte Sand-und Schlammbreiten. Man überschaut mit Staunen, wie weit die sich Untiefen
endlich langsam ins Meer zurückzukehren. Seyte man all diese hohen Deiche und Dämme, welche in geometrischen Figu ren hinterund ineinander laufend die großen und kleinen Inseln See lands umgürten, zu einer Linie
Am Oysterput in Vlissingen.
Seeländerin.
an und zwischen den Inseln ausdehnen. Flüsse sind dann so niedrig , so
Die
aneinander, es würde leine Linie von mehr als 100 Stunden Länge.
Hinter diesen guten Dämmen leben nun die Seeländer, oder wie sie sich selbst nennen, Zeeuws , ein Volk friesischen Stammes und Charakters mit normannischer und niedersächsischer Beimischung. Der Friese ist breit und ruhig in seinem Wesen, wortkarg, nicht leicht beweglich, aber hartnäckig und unerschütterlich in seinem Borsat, grausam und unversöhnlich in seinem Hasse, eine kräftige gescheite Bauernnatur, tiefschlaue Viehzüchter, Fischer, Schiffleute und Händler, die gar sehr auf ihren Vorteil aus sind. Diese Männer haben beständig das gewaltige Meer zur Seite : es riffe ihnen die Erde unter den
wasserarm geworden. Trostlos liegen die Schiffe auf dem Trockenen, wo die armen Kinder Seegewächse und Holzstücke in ihre Körbe suchen. Aber allmählich kommen die Fluten aus dem Meere zurück. Sie stauen die Flüsse. Vergebens wirbelt und kämpft das leichtere Süßwasser gegen die Salzflut an, schäumend wälzt sie sich vorwärts. Wieder bedeckt das Wasser die weiten Sandflächen und
RB T raW me X
rasch steigt es Fuß um Fuß an den Wällen empor , als müsse es über sie hereinbrechen. Doch die Wälle sind immer noch höher, und an ihrem festen Bau bricht sich die Wassergewalt , um
Secländer Fuhrwert. Füßen weg , wären sie nicht wachsam und thätig. Wenn sie aber stehen auf den festen
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Wällen , die sie ihm entgegengesetzt, und hin- | rote Weste aber ist ganz besezt mit Knöpfen blicken, wie der Sturm die dunkelgrauen Wogen und Stickereien. Die Volkstracht bei den Frauen kennhaushoch daher jagt , daß sie vergeblich anbranden und aufſprigen , und wie dahinter in zeichnet sich durch ein schlichtes und feines ficherem Frieden das trauliche Haus und Heim Schwarz und Weiß, und durch ein Kopftuch, steht, und Gärten und Wieſen grünen, so füllt das mit Spigen beseßt ist und sehr künſtlich sich ihre Brust mit kühnem Mut und riesigem zur Haubenform gefaltet wird . Ein reichblizendes Ohrgehänge darf nicht fehlen. Viele Selbstvertrauen. Haben sie und ihre Voreltern tragen auch noch die friesischen Ohrdeckel von doch ihr eigen Leben und Dasein dem wilden blankem Gold oder Silber, die über die Wangen Elemente abgewonnen ! Das aber nährte in diesen Leuten den freien mannhaften Sinn, der hervorstehen und unter dem feinen Spizenübernicht duldete, daß ihr altes Recht und Herhang sich ausnehmen, wie ein glänzender Helm. kommen angetastet, oder daß der Boden, welchen Ueberhaupt lieben es die Seeländerinnen, Gold, sie selbst vor dem Meere wahrten, mit HerrenPerlen und Edelgestein zu zeigen. Besonders dienst bestrickt wurde. Das härtete ihre Herzen, gern thun es die Mädchen , als sollten ihre daß sie eisern wurden und wilde Funken sprüheten, Verehrer sich gleich einen Ueberschlag machen, wenn ein Mann in seiner Ehre und Wehre wie groß die Mitgift. Die weißrötliche Gesich angegriffen sah. sichtsfarbe ist bei den seeländischen Frauen noch Auf den seeländischen Inseln ist im Guten weicher und zarter, als bei ihren Nachbarinnen und Schlechten nicht wenig von dieser friesischen auf dem Festlande. Sonst wüßte ich von Art sigen geblieben. Die Leute bewahrten ihnen nur noch zu berichten, daß ihr Inneres noch mehr kühle Sauberkeit verrät , als bei hier unerschütterlich, unbekümmert um Aenderung ihren Landsmänninnen gewöhnlich, ihr Aeußeres und Vorgang auf dem Festlande , ihre alten Sitten und Gebräuche. Bei ihnen lebt, wenn dagegen in Tracht und Häuslichkeit nicht so noch irgendwo, das alte unverfälschte Holland. | viel blanke Nettigkeit, am Leibe aber weniger Ihre Lebensweise ist schlichter , ihr Charakter von jener Neigung, ins Breite und Schwammige treuer und aufrichtiger, als bei den eigentlichen zu gehen, die, wie es scheint, in dieſen ſumpfigen. Landstrichen eingefleischt ist, sobald die holde Holländern. Sie sind rascher von Entschluß, Blüte der Zwanziger vorüber. überhaupt weniger langsam und bedächtig als diese, haben auch etwas in ihrem Benehmen, Ein rechtes Unglück, das in Seeland einwie in ihrer Sprache, das sich durch eine ge- heimisch, ist das Wechselfieber. Diese Krankwiſſe Weichheit und Zutraulichkeit auszeichnet | heit setzt ſich bekanntlich in ganz Holland mit vor dem derben und selbstsüchtigen Wesen, an den Tisch, ist aber nirgends so tückisch und tödlich, als auf den seeländischen Inseln. Man dem man in den Niederlanden so oft begegnet. spricht deshalb von einem besonderen „seeländiDie Zeeuws sagen von sich selbst : Wir sind schen Fieber “ . Der Grund liegt in der SumpfMänner rund heraus, und ihr Wahlspruch ist good rond, good zeeuwsch. „ Ja wohl, luft , die bei Windwechsel in Thüren und wohl,““ Fenster weht. Hört es im Sommer einmal erwidern die Andern , „ rund wie ein Baum, auf zu regnen und hellt sich die feuchte neblige daß man von allen Seiten herunter fällt. " Diese meinen , man müſſe mit dem Seeländer erst Luft auf, so brennt die Sonne heiß herab auf mehr als einen Scheffel Salz eſſen, ehe man die dunstigen Auen. Dann entwickeln sich jene unsichtbaren Pflänzchen und Tierchen , die in ihn auskenne und richtig zu fassen lerne. Die Männer sind hochgewachsen und mit der Luft umherschwimmen und der Gesundheit so langen Armen und Beinen versehen , als so schädlich sind. Man atmet sie ein, ohne daran zu denken, und hat monate- und jahreirgend ein westfälischer Flügelmann in der Berliner Garde. Der lange Seeländer sett lang am Fieber zu leiden. ein Hütchen auf mit ganz kleiner Krempe, daß Sonst aber sind diese Inseln gesegnet in Hülle und Fülle , mit üppigen Weiden und ihm der Meerwind frei in den Locken wühle. Den Leib steckt er in eine lange Jacke und in goldenen Saaten , und dazwischen prangt das Pluderhosen von Manchester oder Segeltuch, helle Baumgrün. Nirgends sieht man ſo riesige und auf dem Gürtel , der sie hält , müssen Rosse, so starke Rinder, alle fett und klozig . vorn zwei große Silberknöpfe prangen, die Südbeveland, das schon im Mittelalter das
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Franz von Löher. Meerabgewonnen Land und Leben.
Paradies von Seeland hieß, scheint völlig von Milch und Honig zu fließen. Man kann seine wahre Freude haben an den dichten und hochgeschwungenen Massen der Baumgruppen , in welchen Schwärme von Gefieder ihr schönstes grünes Versted finden. Im übrigen ist alles eben und glatt wie eine Tafel, und wenn man die breiten Gewässer, die zwischen den Inseln schwimmen, wegdenkt, so trägt die Gegend den selben Charakter , wie der ebene Teil von Westfalen und all unsere Marschländer bis zur Nordsee. Insbesondere fühlte ich mich auf Seeland öfter versezt zwischen das stille grüne Baumgewoge des Münsterlandes , und je mehr ich darüber nachsann , desto klarer wurde mir so vieles , was in Sitten und Denkungsart der Holländer und Münsterländer übereinstimmt. Ich verstand die mancherlei Beziehungen, die einst zwischen Holland und Westfalen stattgefunden. Einen Unterschied macht freilich die erregte See dort und die weite stille Heide hier, dort rüstige Thatkraft und hier Tiefe des Gemütslebens. Wohl aber möchte man den Seeländern
herziehen, sind groß und trefflich, fast immer eisfrei und gestatten die Einfahrt mit jedem Winde. Middelburg, die Hauptstadt der Provinz und der Siß ihres wissenschaftlichen Vereins, steht schon seit zwanzig Jahren zwischen sechzehn und siebenzehntausend Einwohner, die übrigen Städte erreichen noch nicht die Hälfte. Keine einzige denkt daran, sich mit so herrlichen Rathäusern zu schmücken , als Middelburg und Beere sie noch aus alter Zeit her besißen. In Deutschland baut sich jetzt eine Stadt nach der andern ein stolzes und wohnliches Rathaus und keine vergißt des Ratskellers für gutes Getränke: ich glaube, es gibt kein besseres Zeichen , daß wieder gutes Gedeihen im Lande ist. Aufrichtig gesagt, ich glaube nicht, daß ich es auf Seeland ein paar Wochen aushielte.
wünschen, daß die auf ihren Inseln noch lagernden Vorräte an Verstand , Geld und Arbeitskraft endlich in
Beere. so lebendige Bewegung gerieten, wie es in den meisten Gegenden Westfalens jetzt der Fall ist. Die Neuzeit hat Hebelkräfte, die unwiderstehlich auch ins stillste Volksleben hineingreifen. Das befundet sich auf Seeland bis heute nur , wo die Eisenbahn herzieht. Dort heben sich Bevölkerung und Gewerbe etwas. Vor allem ist es Vlissingen, Hollands erster Kriegshafen, wo man daran denkt , Antwerpens Handel an sich zu ziehen und eine regelmäßige Ueberfahrt nach England eingerichtet hat. Diese Stadt hat, wenn auch faum noch zehntausend Einwohner, doch sicher noch Zukunft: die beiden Häfen, welche sich im Halbkreis hinter den Häusern
Der ganze Strich ist bei trübem Himmel wie bein graben Stille und Dunkel, und bei hellerLuft schimmern still und einfärbig blanke Simon Timoner Gewässer und BREND'AMOUR grüne Ebenen. Die SeeSeeländer.
Meerabgewonnen Land and Leben.
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länder schicken neben Austern und Feingarn bloß bieten. Die Seeländer gehören durch die Bank zu jener Klasse bürgerlicher Ackerbauer , die Gemüse, Korn, Del, Butter und Vich auf den Markt, massenhaft und von vorzüglicher Güte, für Kammern und Staatskasse so schätzbar, und für Unterhaltung so wenig ergiebig ist. nirgends mehr gesucht als in England . Und woher könnten die Tauzieher besseren Flachs Der Binnenverkehr ist gering, jede Insel führt und Hanf nehmen , als von Seeland ? Die ihr abgeschlossenes Leben. Man erzählt sich Holländer aber haben sehr Unrecht, wenn sie des Morgens, daß die eine Nachbarsfrau gevornehm auf ein Bauervolk herabsehen , das storben und die andere ein Kind bekommen. Des seine Gulden und Dukaten in alte Strümpfe Mittags hört man, wer von Bekannten wieder einsäckelt, statt sie wieder flott und einträglich arges Fieber hat, und wenn es Abend wird, zu machen. Denn dieses schlichte stämmige so hat die Bevölkerung erfahren, wie draußen Bauernvolk schickt von seinen Inseln noch et- Weizen und Oelsaat, Krapp und Flachs stehen, was anderes in die Welt, als bloß Erzeugnisse ob die Zieridseer guten Austernfang gehabt, seines Bodens. Das sind die jungen rüstigen und ob man auf der Goes wieder ein neues Bursche, die sich als Matrosen , Handwerker Gemüse anbaut. Vor allem dreht sich das Gespräch um die und Kleinhändler in Preise von Bieh und den großen Städten Saat in Amsterdam verlieren, bis der eine und der andere wieder und London. Wird, auftaucht als unterwas nicht häufig ist, die Unterhaltung einnehmender Kaufmann oder als rei'mal bedeutender, so beklagen die Mäncher Fabrikant. Unner, daß Hollands ter schlichter Außenseite, unter Formen, Größe gesunken, und die sich schwer be zählen die Zeichen leben und glätten, auf, an denen zu arbeitet in dem Seeerkennen, daß es mit länder eine tiefe Holland wieder aufruhige Mannestraft, wärts gehe. Die Frauen aber verein kühner und stäh Herrenfit bei Herzogenbusch. lerner Wille. Wie tiefen sich mit warmerregtem Herzen in viele sturmfeste Kadie Sprüche und Lehren, welche am letzten Sonnpitäns und kriegerische Admirale schickte Seeland schon auf die holländische Flotte, wie viele tüchtige tag von der Kanzel erschallten. Sie bleiben aber dabei in gewohntem Fahrwasser und wagen Baumeister und Rheder auf die Werften von Dortrecht und Amsterdam ! Der gescheite Beukel- sich nicht leicht auf Untiefen. Fast möchte man glauben, es wollten den holländischen Frauenzoon, welcher durch seine Erfindung des Häseelen die Schwingen niemals recht auswachsen : ringpökelns seinen Landsleuten unversiegliche Goldgruben eröffnete , war ein Seeländer. sie flattern stets nur ein paar Fuß hoch über Middelburg, Lipperschey und Jansen machten dem Erdboden , erheben sich aber nicht zum sich einen großen Namen durch ihre Erfin hellen Aether. Wie sehr die Seeländer an ihrem alten dungen in der Glasschleiferei für Fernrohre Brauch und Geräte festhalten , sollte ich zu und Mikroskope. Auch war es an einer see meinem Schrecken erfahren. Ich hatte bei guten ländischen Küste, wo der beliebte Volksdichter Leuten des Nachts geschlafen, in ihrer StaatsCats großgewachsen. Doch wie gesagt, recht gediegen mag das kammer zwar, jedoch ungewohnt und unbehagLeben und Trachten der Seeländer sein , es lich. Das Lager war in der Wand angebracht, bleibt aber so still und eintönig, als ihre In- eng und schmal, gerade wie in einer Schiffsseln flach und einförmig. Sie sind kein rechtes kajüte, und wenn man die Thüren davor zuBauernvolk: dieses kann , wenn man einmal schloß, sah es aus, als wäre ein Schrank dadazwischen steckt, Stoff genug zu Naturstudien hinter. Als ich nun des Morgens auf den
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Gottfried Kinkel. Das sterbende Kind.
Damm an die freie erfrischende Seeluft kam, freute ich mich auch der schönen Fahrstraße, die auf der Höhe fortlief. Es ist bekannt, wie hübsch und fest die holländischen Straßen gebaut sind : Fuß für Fuß wird zierlich von kleinen Backsteinen zusammengesetzt , die man auf die harte Kante richtet. Ich hatte einen Wagen bestellt und mußte eine lange Weile auf ihn warten. Was aber knarrte und karrte endlich daher? Ein wahres Ungetüm voll der Bein und urweltlichen Geschmackes . Man denke sich zwei ungeheure Radkreiſe, dazwischen eine Achse mit roher Scherdeichsel; auf der Achse steht ein Kasten ; darüber gespannt ist ein Gewölbe von Leinen. Man klettert hinein in die Arche und kann nicht wieder heraus , denn ringsum sind bemalte Bretter und vorn hockt der Fuhrmann und schließt mit Rücken und Tabaksqualm Weg und Aussicht. Fest liegt der Reisende in dem dunkeln Bauche, wie eine schwere Holländerin festliegt, wenn sie die Höhe ihres Alkovenbetts erflommen hat und in seine weichen Tiefen versunken ist. Als man in dieſen Landstrichen nur noch im tiefen Sande fuhr, mochte, wenn es den ganzen Tag regnete, ein solches Gefährt eine Wohlthat sein. Auf der Steinstraße aber raſſelt und stößt und schüttert es so schrecklich, so unaufhörlich, daß ich in der That nicht weiß, was ich weniger gern ertragen möchte, das Reisen auf dem ewig schaukelnden Kamel, das Stoßen und Stampfen eines Segelschiffs im Sturm, oder eine solche holländische Arche, rumpelnd auf dem Steindamm. Ein hartnäckiges Volk sind die Holländer, altfränkisches Zeug , dessen sie einmal gewohnt sind, lassen sie so leicht nicht fahren. Man sieht in und zwischen ihren niedlichen Häusern Gerätschaften von höchst seltsamer Form. Die Einrichtung geht eigentlich auf das Bequeme, Sachte und Behagliche, sie deutet auf unerschütterliche Ruhe des Leibes und des Gemütes: indem aber der Werkmeister an jedem Ding eine derbe breite Unterlage nebst Schuß und Schirm gegen allerlei Ungemach anbringt, gerät seine Phantasie in unerhörte Formen des Ausgebauchten und Ungetümlichen. Bei dem wiederholten Anblick von dergleichen Sachen keimt leise Ahnung in dem Fremdling, als ob das alles innig verwandt wäre mit der Natur der Menschen in diesem Lande, welche wie die Amphibien zwischen Land und Wasser sizen, gewöhnlich sich von einem ins andere bewegen.
und gemach von Fett und Dünsten beider anschwellen. Ich war noch keinen Büchsenschuß weit in der holländischen Nationaldroschke gefahren, als mein Duldermut mir durchaus thöricht erschien. Ich machte mir Luft, sprang hinaus und untersuchte die Federn : wie konnte das ſo gräßlich stoßen? Der Fuhrmann lachte mich aus. „Die Federn sind von Holz, “ sagte er, „ eiſerne koſten „Dann 15 Gulden Steuer das Jahr. “ gebt mir das Pferd, ich will reiten! " , Ohne Sattel ? " fragte der Mann, „ ein Sattel kostet Wie? 15 Gulden Steuer das Jahr. “ auch der Bauer muß das zahlen ?" „Der Bauer und der Doktor sind beſſer daran : wenn sie ein Sattelpferd und einen Wagen in Federn halten , so zahlen sie für beides zuſammen nur 21 Gulden Steuer das Jahr!" Das sind holländische Taren. Jedes Fenster, das etwas mehr als einen Fuß groß ist, zahlt seine Abgaben, kein Kamin auf dem Dache erhebt sich ungestraft. Die Steuerlast ist furchtbar - bricht aber das Volk unter ihr zuſammen? Wahrlich nicht , es trägt sie noch immer stolz und aufrecht auf geraden Schultern. (Schluß folgt. )
Das Berbende Don
Kind.
Gottfried Kinkel.
Der Erde bante Schöne Hüllt sanft sich Dir in Flor, Der Straße rauhe Töne Vernimmt nur leis Dein Ohr. Will Dich ein Lüftchen fächeln, Dir ift's nicht mehr Genuß Es schwand Dein holdes Lächeln Selbst bei der Mutter Kuß. Du nimmst mit dürren Lippen Dom Arzt den bittern Trank Von süßem Wein zu nippen Warßt Du schon längst zu krank.
Die heiße Lust am Leben Ward in den Adern ftill, Und Du füght Dich ergeben Wie Dein Geschick es will. Du bist von uns geschieden, Eh' noch der Tod Dich nahm, Du lösest Dich in Frieden Und uns zerreißt der Gram.
Friedrich Esmarch. Der Deutsche Samariterverein in Biel.
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Der Deutsche Samariterverein in Kiel. Von
Friedrich Esmarch.
ei plötzlichen Unglücksfällen die erste Hilfe zu leisten, dazu fühlt Ejeder gute Mensch den Drang, weil jeder weiß, daß oft genug die Erhaltung des Lebens von einer raſchen und zweckmäßigen Hilfsleistung abhängt. Ist es doch dieser Drang , der in allen Kriegen der neueren Zeit so viele Menschen aus allen Klassen der Gesellschaft getrieben hat, ihre Hilfe anzubieten für das Schlachtfeld wie für die Lazarethe. Aber wie viele Menschen , wenn wir die Aerzte ausnehmen , gibt es denn, die eine zweckmäßige Hilfe zu leisten verstehen , wie viele haben denn gelernt , eine Blutung zu stillen, einen Beinbruch zu schienen, einen schein bar Ertrunkenen oder Erstickten wieder ins Leben zurückzurufen ! Deshalb auch halten die Meisten sich zurück , wenn sie zufällig Zeuge von plöglichen Unglücksfällen werden, weil sie sich sagen müſſen, daß sie nicht wissen, wie zu helfen ſei. Und wie oft geschieht nicht auch gerade das Gegenteil von dem , was hätte geschehen sollen, wie oft wird nicht das Uebel verschlimmert von denen , welche Hilfe zu leisten sich bemühen , so daß es besser gewesen , man hätte den Verletzten einstweilen ganz seinem Schicksale überlassen. Wir Chirurgen haben gewiß am häufigsten Ursache, zu beklagen, daß unter den Laien allgemein eine so große Unwissenheit in dieser Beziehung herrscht, wenn uns die Verwundeten. halb oder ganz verblutet gebracht werden, denen. man durch einen zweckmäßig angebrachten Druck den größten Teil des vergossenen Blutes hätte ersparen können, oder wenn man uns Patienten vor das Hospital fährt, bei denen durch unzweckmäßigen Transport ein einfacher Knochenbruch in eine unendlich viel gefährlichere Ver-
legung, in einen komplizierten Bruch verwandelt wurde! Wie viele sterben nicht alljährlich eines elenden Todes, die durch rasche Hilfe zu retten.
gewesen wären, wenn jemand da war, der sie zu leiſten verſtand ? Offenbar ist hier ein schwacher Punkt in der Erziehung unserer Jugend. Oder sollte man es für ein unbilliges Verlangen halten, daß jeder junge Mann, der ins Leben eintritt , von der Schule die Kenntnisse mitbringe, wie in plöglichen Unglücksfällen dem Nebenmenschen zu helfen sei ? Ich werde mich aber wohl hüten, diese
Forderung auszusprechen . Ganz abgesehen von dem Widerstand , den jede Vermehrung des Unterrichtsstoffes , weniger vielleicht bei den Volksschullehrern, gewiß aber bei den Lehrern der höheren Schulen, finden würde, wüßte ich auch die Frage, wer denn diesen Unterricht in der Schule erteilen ſollte, gar nicht zu beantworten. Den Lehrern fehlen dazu jedenfalls die nötigen Kenntniſſe. Und wo sollten sie dieselben erwerben ? Etwa aus den populären Schriften, welche diesen Gegenstand behandeln ? Ich habe recht viele Schriften dieser Art durchgelesen aber nur sehr wenige gefunden, welche das Thema auch nur annähernd volkstümlich, d. h. für den Laien verständlich behandeln. Ich halte es überhaupt für keine ganz leichte Aufgabe, populär zu schreiben oder zu sprechen. Ich bin der Meinung, daß dazu vor allem dreierlei gehört: 1. daß man den Gegenstand vollkommen beherrsche, nicht noch von demselben beherrscht werde; 2. daß man im stande sei, trotz der Fülle des eigenen Wissens, alles das wegzulassen und 47
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Friedrich Esmarch.
auszumerzen , was der Laie weder verstehen, noch was ihn interessieren oder ihm nüßen fann ; 3. daß man das Volk kenne und sich in Gedanken hinein zu sehen vermöge in seine Denkweise und Fassungsgabe. Ein Anfänger kann ebensowenig ein populäres Buch schreiben, wie es ein Stubengelehrter vermag , der sein Volk nicht kennt , und nicht zu beurteilen vermag , was demselben verständlich ist und was nicht.
Klaſſen der Gesellschaft in diesen Schulen ausgebildet worden sind , und daß die englischen Zeitungen fortwährend von Unglücksfällen berichten, bei welchen die Schüler und Schülerinnen dieser Ambulanz-Klassen Leben und Gesundheit ihrer Mitmenschen gerettet haben. . Als ich im vorigen Sommer in London die Uebungen dieser freiwilligen Nothelfer mit ansah , welche im Garten des KenſingtonMuseums vor einer großen Zuschauermenge
Und doch finde ich, daß den Männern der Wissenschaft eine gewisse Verpflichtung obliegt, die Fortschritte , welche die Wissenschaften gemacht haben, von Zeit zu Zeit auch dem Laienpublikum vor die Augen zu führen und dasselbe Teil nehmen zu lassen, wenigstens an den Resultaten und dem Nußen der Fortschritte. In diesem Sinne sind ja auch in neuerer Zeit die berühmtesten Forscher mit gutem Beispiel vorangegangen ; ich nenne nur die Namen Tyndall, Helmholz, Virchow und Bernstein. Erst dann aber, wenn wir die nüßlichen Resultate unserer Forschungen zum Gemeingut des ganzen Volkes gemacht haben , erst dann werden wir das Recht haben, zu verlangen,
gezeigt wurden, da beschloß ich, das Meinige zu thun, um diese Einrichtungen auch nach Deutſchland zu verpflanzen, und so errichtete ich im vergangenen Winter hier in Kiel die erste Samariterschule. " Ichwählte diesen Namen, weil er mir die Aufgabe weit besser zu bezeichnen schien als der englische Name der Ambulanz-Klaſſen , der ohnehin im Deutschen kaum verständlich gewesen wäre. Ich hatte anfangs die Absicht , nur eine kleine Schule von 25-30 Personen zu eröffnen, wie es die Engländer thun, beging aber die Unvorsichtigkeit , durch die Zeitung diejenigen, welche daran Teil nehmen wollten, aufzufordern, sich schriftlich bei mir zu melden. In wenigen Tagen liefen mehr als 800 Meldungen ein von Männern und Frauen aus allen Klaſſen der Geſellſchaft, ſo daß ich mich genötigt ſah, mir fernere Anmeldungen zu verbitten. Unter diesen Umständen beschloß ich, da
daß auch die Schule sich der Sache annehme. Bis dahin aber müſſen wir uns entſchließen, ſelbſt noch die Volksschullehrer zu spielen und in diesem Sinne ist, wie ich glaube, die Errichtung der Samariter- Schulen gerechtfertigt. Die praktischen Engländer sind uns damit ja bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Echon seit 5 Jahren besteht in England die Ambulance Association , welche von Mitgliedern des Englischen Johanniter - Ordens mit Hilfe der angesehensten Aerzte ins Leben gerufen, durch Errichtung von Schulen an den verschiedensten Orten des Landes die Kenntnis von der ersten Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen überall zu verbreiten sucht. Welchen außerordentlichen Erfolg diese Bestrebungen gehabt, beweisen die Thatsachen, daß jetzt schon in allen Städten Englands solche Schulen in mehr oder weniger großer Zahl abgehalten werden, daß bereits mehr als 40000 Personen beiderlei Geschlechtes und aus allen
ich unmöglich 32 mal dieſelbe Vorlesung halten konnte, meine Vorträge vor einem größeren Publikum zu halten und konnte dazu die Aula unserer Universität benußen, welche mir Se. Magnifizenz der Rektor bereitwilligst zur Verfügung stellte. Da dieselbe aber nicht viel mehr als 400 Personen faßt , so mußten die Zuhörer in 2 gleiche Hälften geschieden werden , und hielt ich nun 5 Wochen lang zweimal in der Woche dieselbe Vorlesung vor je 400 Zuhörern . Ich habe dabei ziemlich genau dieselbe Reihenfolge eingehalten, welche in den englischen. Ambulanzschulen angenommen ist. In der ersten Vorlesung wurde eine kurze Uebersicht über den Bau und die Lebensthätigkeit des menschlichen Körpers gegeben, wobei ich sorgfältig alle Fremdwörter vermied und alles das wegzulassen mich bemühte, was für den Laien kein Interesse haben kann oder für ihn unverständlich sein muß. Ich benußte.
Von Gelehrten wird das Popularisieren der Wissenschaft nicht selten als ein tadelnswertes Unternehmen betrachtet , und wer sich dazu hergibt , wird mit scheelen Augen angesehen.
Der Deutsche Samariterverein in Kiel.
dabei große , weitsichtbare Abbildungen des Knochengerüſtes, der Muskeln, und der hauptsächlichsten Eingeweide des Menschen, weil ohne solche dem Laien derartige Gegenstände nicht wohl verständlich zu machen sind. In der zweiten Vorlesung schilderte ich die Verlegungen, die Quetschungen und Wunden, sezte auseinander, in welcher Weise dieselben von uns Aerzten behandelt werden und wie der Laie die erste Hilfe bei solchen Verlegungen leisten könne, ohne den Verlegten Schaden zuzufügen. Darnach wurden die Blutungen geschildert und gezeigt, wie der Laie bei den verschiedenen Arten derselben zu verfahren habe, um den Blutstrom zu hemmen, bis ärzt liche Hilfe da sei. Zum Schluß wurden die vergifteten Wunden und deren Behandlung besprochen. In der dritten Vorlesung wurden die Knochenbrüche, Verrenkungen und Verstauchungen abgehandelt, an Modellen und Abbildungen gezeigt, wie dieselben zu erkennen. und voneinander zu unterscheiden seien und dann gelehrt, wie der Laie mit Hilfe des dreiedigen Tuches und improvisierter Schienen den ersten oder Notverband anlegen könne , damit nicht der Verunglückte auf dem Transport zum Arzte weiteren Schaden und große Schmerzen erleide. Danach wurden die Verbrennungen geschildert und ausführlich das Verfahren erläutert, welches bis zur Ankunft des Arztes bei Unglücksfällen dieſer Art von Laien angewendet werden könne.
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bahren und Räderbahren zu lagern und auf die schonendste Weise fortzuschaffen habe, wie man, wenn keine derartigen Apparate zur Hand seien, dieselben aus den verschiedensten Gegenständen improvisieren könne, wie man in Ermangelung dieser die Verleßten mit den Händen forttragen müſſe, und wie man Wagen, Schleifen und Eisenbahnen zum Transport von Verwundeten herzurichten und zu benutzen habe. Alle diese Vorträge wurden durch große Abbildungen, durch Modelle und Demonſtrationen am lebenden Körper soviel wie möglich anschaulich gemacht. Nach jeder Vorlesung begaben sich die Zuhörer in die verschiedenen, auf ihren Einlaßkarten notierten zwölf Auditorienräume und fanden dort in jedem einen jüngeren Arzt, von denen jeder eine Schwester, einen Studenten oder Krankenwärter als Ge-
hilfen mitgebracht hatte. Hier wurden ihnen die verschiedenen Hilfsleistungen, namentlich die Anwendung des dreieckigen Tuches und der Rollbinden zu Verbänden aller Art, das Anlegen und Befestigen von Schienen bei Knochenbrüchen, die Stillung von Blutungen durch Zusammendrücken der Pulsader mittelst der Finger, des Knebels und der elastischen Binde, die künstliche Atmung zur Wiederbelebung Scheintoter und endlich der Transport von Verunglückten gezeigt. Die Zuhörer und namentlich die Zuhörerinnen folgten mit der gespannteſten Aufmerksamkeit den Vorträgen und nahmen mit dem größten Eifer an den Uebungen teil und so In der vierten Vorlesung wurde die gelang es annähernd , in derselben Weise und Erfrierung , das Ertrinken und das Ermit demselben Erfolge den Unterricht zu erteilen , wie er in den englischen Ambulanzsticken abgehandelt und gezeigt, wie namentlich durch Anwendung der künstlichen Atmung Klassen gegeben wird . Ich habe in meinem „Leitfaden für Samanches Menschenleben gerettet werden könne, wenn auch ärztliche Hilfe nicht gleich zur Hand | mariterſchulen “ 1) nicht bloß diese Vorträge abist. Dann wurden die Fälle betrachtet , in drucken lassen, sondern auch in der Kürze die welchen Menschen im bewußtlosen Zustande Hilfsleistungen geschildert, wie sie nach jeder gefunden werden und gelehrt, wie der Laie sich Vorlesung von den Teilnehmern der Schule in solchen Fällen zu verhalten habe. Endlich geübt worden sind , und hoffe , daß mit wurden kurz die verschiedenen Arten der VerHilfe dieses Leitfadens jeder Arzt im stande giftung vorgeführt und gezeigt, was der Laie sein wird , einen ähnlichen Unterricht zu erbis zur Ankunft des Arztes thun könne , um teilen. die erste Lebensgefahr abzuwenden. Mit denjenigen , welche es wünschen , ein An dem fünften Abend wurde gezeigt, wie | Zeugnis als Samariter zu erlangen , werden man Verunglückte auf die schonendste und zweckmäßigste Weise dahin transportieren könne, 1) Die erste Hilfe bei plößlichen Unglücksfällen. wo ärztliche Hilfe zu finden sei. Es wurde Ein Leitfaden für Samariter- Schulen in fünf Vorgeschildert, wie man die Verleßten auf Trag trägen. Leipzig, bei F. C. W. Vogel . 1882.
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W. Holz.
im Anfange des nächsten Semesters Prüfungen einen ſtatiſtiſche Nachrichten und Liſten über angestellt werden , und beabsichtigen wir dendie von den Mitgliedern derselben geübten jenigen, welche das Examen als Samariter beSamariterwerke einzuziehen , und alljährlich stehen, diese Zeugnisse mit einer gewissen Feiereinen umfassenden Bericht daraus zusammenlichkeit zu überreichen. Es werden dieselben zustellen. in Form eines fleinen Taschenbuches ausgeZum Schluß kann ich es nicht unterlassen, fertigt werden, durch welches sich der Besitzer einer Befürchtung entgegenzutreten, welche auch eines solchen jeder Zeit legitimieren kann. Es von Aerzten nicht selten ausgesprochen worden wird das für ihn den Vorteil haben, daß er ist , daß nämlich die Samariterschulen das bei plötzlichen Unglücksfällen gerne zur ersten Pfuscherwesen begünstigen werden. Ich habe die feste Ueberzeugung, daß geHilfsleistung zugelassen , und daß man ſeinen Anordnungen bereitwillig Folge leisten wird. rade im Gegenteil dadurch der Pfuscherei am Um nun diesen Bestrebungen, welche schon besten Abbruch gethan werden wird , weil ja jezt begonnen haben, gute Früchte zu tragen, der Samariter seine Hilfe unentgeltlich weitere Ausbreitung zu verschaffen, habe ich leisten soll und immer nur bis zur Anmit Hilfe angesehener Männer hier in Kiel kunft des Arztes. einen Deutschen Samariterverein geKiel, den 6. Mai 1882. gründet , dessen Aufgabe vorzugsweise darin bestehen wird , überall ähnliche Vereine und Schulen ins Leben zu rufen und den Aerzten, Der Blik und seine Wirkungen . welche darin den Unterricht erteilen wollen, Von die dazu nötigen Schriften, Abbildungen, Modelle und Verbandgegenstände zu verſchaffen. Die 2. Holt. Sabungen des Vereins sind in dem Leitfaden für Samariterschulen mit abgedruckt. Unsere Jenn man zur Nachtzeit zufällig im Freien ist, Bestrebungen haben überall großen Anklang w während eine Gewitterwolfe über die Landgefunden und sich der Teilnahme der allerhöchsten und höchsten Herrschaften zu erfreuen schaft ſtreicht, ſo ſieht man an hervorragenden gehabt. Se. Majestät der Kaiser und König Punkten, d . h. solchen, welche in größeren Umhaben allergnädigst einen Beitrag von 1000 M. kreise die höchsten sind, eigentümliche Flämmchen. für die Zwecke des Vereins zu bewilligen ge- entstehen. Am ersten erscheinen sie an den ruht und Ihre Majestät die Kaiserin und Spigen der Kirchtürme, an den Firstverzierungen Königin haben außer der Bewilligung eines der Tächer, an den Wipfeln der Bäume, aber namhaften Beitrages das allerhöchste Protektorat auch an tieferen Stellen, wenn sie nur relativ des Deutschen Samaritervereins zu übernehmen. die höchsten sind, an Sträuchern, Gräsern und In Berlin und in vielen anderen selbst an ebener Flur. Bald hier bald dort geruht. Städten, sind bereits Zweigvereine gebildet sieht man es aufleuchten, das eine Mal, als worden , welche Samariterschulen in großer ob die Gegenstände selbst in schwach bläulichem Anzahl errichten werden, sobald die Wandtafeln Lichte strahlten, das andere Mal, als ob sich ein büschelförmiges Feuer, eine Lichtgarbe aus und Verbandgegenstände, welche unser Verein Spizen erhöbe. erhöbe. Ist man nahe genug, zu liefern übernommen hat, hergestellt sein ihren ihren Spigen statt Berlin in der in werden. Ich hoffe so hört man auch ein eigenartiges Tönen, ein findenden allgemeinen deutschen Ausstellung auf | Zischen, Sauſen, oder ein praſſelndes Geräuſch, dem Gebiete der Hygiene und des Rettungs- am stärksten, wenn die Erscheinung am hellſten wesens * ) eine Kollektion dieser Gegenstände zur ist, wenn die Gewitterwolke senkrecht über dem Anschauung zu bringen, und werden wir dann fraglichen Orte schwebt. Plötzlich fällt aus der im stande sein, gegen eine verhältnismäßig Wolke ein Bliß, und sofort ist die Erscheinung geringe Entschädigung , alle anderen Vereine erloschen und das Geräusch ist verstummt. mit diesen Gegenständen zu versorgen . Die Erscheinung , von welcher ich rede, war schon im Altertum bekannt , wie verWir beabsichtigen ferner , von allen Verschiedene Nachrichten beweisen. So erwähnt Seneca, es habe sich ein Stern auf die Lanze *) Inzwiſchen am 12. Mai abgebrannt. D. R.
Der Blitz und seine Wirkungen.
des Gylippus gesezt, als dieser nach Syrakus gesegelt sei. Livius berichtet, die Speere einiger Soldaten in Sizilien hätten Feuer gesprüht, ohne aufgezehrt zu werden. Plinius spricht davon, daß sich auf die Segelstangen der Schiffe zuweilen ein sternartiger Glanz seze und von Stelle zu Stelle hüpfe. Man betrachtete dergleichen als Wunderzeichen und legte ihnen bald eine günstige bald eine ungünstige Vorbedeutung bei. Später verknüpfte man sie mit der Vorstellung gewisser Heiligen, insonder heit des heiligen Erasmus (St. Elmo), woher die heutige Benennung datieren soll. Man hielt sie für angezündete Lichter oder für den
FE
用
St. Elmsfeuer an einer Firstverzierung. Leib des Heiligen selbst und meinte, daß sie glückbedeutend seien. So heißt es in einer Reisebeschreibung des Columbus, es habe sich einmal St. Elm mit sieben angezündeten Kerzen auf der Oberbramstange gezeigt. Noch bis in die neuere Zeit erhielt sich die Vorstellung, daß das St. Elmsfeuer etwas Uebernatürliches, gewissermaßen eine Offenbarungserscheinung sei, bis mit dem Aufblühen der Wissenschaft im achtzehnten Jahrhundert auch dieser Wahn nebst anderen zu Grabe getragen wurde. Wir wissen heute , daß das St. Elms feuer und der Blitz sehr nahe verwandt und daß sie elektrische Wirkungen sind, welche wenig mit gewöhnlichem Feuer gemein haben, weil es sich bei ihnen mehr um Licht und weniger um Wärme-Effekte handelt. Namentlich gering ist die Wärmewirkung bei ersterem ; deshalb werden die betroffenen Gegenstände auch von solchem Feuer nicht verzehrt. Größer ist sie beim Blig, aber doch relativ gering, verglichen mit der außerordentlichen Leuchtkraft desselben. Wie beide Erscheinungen entstehen und wie sie
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sich gegenseitig bedingen oder ausschließen, stellen wir uns heute etwa in folgender Weise vor. Die Erde ist für sich betrachtet unelektrisch,
aber sie wird elektrisch , wenn eine elektrische Wolke über ihr schwebt , d. h. partiell elektrisch der Wolke gegenüber und am stärksten an Punkten, welche ihre Oberfläche überragen. Ist jene positiv elektrisch, so sammelt sich hier negative , ist jene negativ , so sammelt sich hier positive Elektricität an , und wieder in dem Maße mehr, als die Ladungder Wolfe eine stärkere ist. Die angesammelte Elektricität strebt nach der Wolke, aber sie kann, wenn sie schwach ist, den Widerstand der Luft nicht überwinden. Wird sie stärker , so überwindet sie ihn teilweise, sie durchbricht die Luft auf kurze Strecken und ruft hierbei einen schwachen Lichtschimmer hervor. Ist sie negativ, so ist die durchbrochene Strecke fürzer; der Lichtschimmer scheint dann mehr an der Oberfläche der Gegenstände zu kleben. Da die Ladung der Wolke hierdurch nicht geschwächt wird , so ist die Erscheinung fontinuierlich, weil sich die Erdelektrizität unausgesetzt ergänzt. Aber die Ladung der Wolke kann auch plötzlich stärker werden, dann wird auch die Erdelektricität stärker und kann einen größeren Widerstand überwinden. Sind beide Elektrizitäten sehr stark, so durchbrechen sie alsdann in Gemeinschaft die ganze Luftstrecke , welche die Wolke von der Erdoberfläche trennt. Diese Erscheinung ist der Bliz ; sie ist so viel leuchtender, weil in der einmal gebrochenen Straße die ganze Ladung der Wolke auf einmal zur Erde schießt. Hiermit erlischt dann aber gleichzeitig das St. Elmsfeuer, weil nun auch jene Stelle nicht mehr elektrisch ist , nachdem die Wolke ihre Ladung verloren hat. Das St. Elmsfeuer muß hiernach viel häufiger sein als der Blig . Es wird sich auch sicher während eines jeden Gewitters an unzähligen Punkten der Erdoberfläche etablieren. Sicher geht es auch jedem Blige, welcher zur Erde fährt , gewissermaßen als Vorspiel , an seiner Einschlagstelle voraus . Wenn man seiner trozdem so selten gewahr wird , so liegt der Grund darin, daß es bei Tage kaum und bei Nacht auch nur in größerer Nähe zu erkennen ist. Einige neuere Fälle dieser Art , welche mir von zuverlässiger Seite und zwar aus Schleswig-Holstein berichtet sind , teile ich in Kürze mit. Vor einigen Jahren sah Herr
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W. Holk.
Gastwirt Andresen in Heide während eines | schiede dar , je nachdem sie einfach, oder in mehrere Linien gespalten sind. Gewitters einen bläulichen Schein über das Gespaltene Pflaster oberhalb einer Gasleitungsröhre gleiten. Dieser Fall beweist, daß das St. Elmsfeuer unter besonderen Verhältnissen auch an relativ niedrigen Stellen erscheinen kann. Im Jahre 1878 sah Herr Pastor Michelsen in Hattstedt, bevor der Blig in die dortige Kirche schlug, sekunden lang die ganze Turmspige derselben leuchten. Es schien fast , als ob die eiserne Stange glühe, aber daß dies eine Täuschung , zeigte sich darin, daß die Erscheinung mit dem Blige zugleich verschwand. Im folgenden Jahre fiel Maurern, welche auf dem Hause des Herrn Hintmann in Vaale während eines Gewitters arbeiteten, ein eigenartiges Knistern auf. Es wiederholte sich , so oft es in der Umgegend blizte und schien von der Spitze des ihnen nahe befindlichen Blizableiters auszugehen. Ungleich mannigfaltiger als das St. Elmsfeuer ist nun der Bliß nicht bloß seiner äußeren Form d. h. seiner Lichtwirkung nach, sondern auch bezüglich seiner übrigen Wirkungen. Zu den verschiedenen Blißformen gehören zunächst zwei verwandte Lichterscheinungen, welche sich dadurch charakterisieren, daß man in ihnen die eigentliche Blizbahn gar nicht sieht. Die erste ist das Wetterleuchten; es ist der Schein, welcher ein unterhalb des Horizontes befindlicher Blitz auf die oberhalb desselben befind lichen Wolkenmassen wirst. Aehnlich verhält es sich mit der Beleuchtung einer Wand durch ein Licht, welches verdeckt steht , so daß wir die Flamme selbst nicht erblicken können. Die zweite sind die sogenannten Flächenblite ; es ist ein durch Wolken hindurchscheinendes Licht von Blizen, welche hinter denselben fallen nicht von Wolke zur Erde — denn dann müßten wir sie doch teilweise sehen , sondern von Wolke zu Wolke, wenn sie beiderseits entgegen gesezte Elektrizitäten führen. Aehnlich verhält es sich. mit der Durchleuchtung einer mattge schliffenen Glastafel durch ein Licht, oder der Hand durch die Sonne, wenn wir sie nahe vor den Augen halten. Eine zweite Klasse von Formen bilden die sogenannten Linienbliße, wir sehen in ihnen die leuchtende Straße selbst, auf welcher die beiden Elektrizitäten zu ein Sie zerfallen in solche, ander wandern. welche von Wolke zu Wolke reichen und in solche, welche von Wolke zur Erde gehen. Die letteren und nur diese bieten weitere Unter-
Blige sind in unseren Regionen selten : in heißen Ländern sollen sie häufiger und zuweilen außerordentlich reich an Zweigen sein. Gesehen werden sie auch bei uns , und für ihr Vorkommen sprechen am besten solche Fälle , wo entferntere Gebäude gleichzeitigentzündet wurden.
0000
Ein fich spaltender Blig.
So geschah es, wie mir berichtet, im Jahr 1877 in der Nähe von Wevelsfleth in SchleswigHolstein , daß drei entferntere Wasserschöpfmühlen gleichzeitig entflammten. Eine gemeinsame Eigentümlichkeit aller Linienbliße ist die zickzackartigeKrümmung, wie sie auch den Funken der Elektrisiermaschine eigen ist. Die Ursache ist noch nicht klar. Die Annahme einer successiv fortschreitenden Luftverdichtung, wie man sie vorschlug, ist nicht mehr stichhaltig, seit man in festen Isolatoren ähnliche Funkenbahnen fand. Eine dritte Klasse von Blizformen sind die sog. Kugelblize. Es sind leuchtende Kugeln, welche plötzlich in der Luft entstehen, sich verhältnismäßig langsam bewegen und entweder lautlos verschwinden oder mit donnerartigem Getöse plagen. Sie sind nur selten, aber doch häufig genug beobachtet , als daß man ihre Existenz bezweifeln könnte, wenn es auch wahrscheinlich ist, daß sie nicht ausschließlich elektrischen Kräften zu verdanken sind. Alle Blize mit Ausschluß der
Der Blih und seine Wirkungen.
Kugelblige haben eine außerordentlich kurze Dauer, welche nach Wheatstone kaum den tausend ſten Teil einer Sekunde betragen soll. Daß sie sehr gering sein muß, beweist die Wahrnehmung, daß jeder Gegenstand , welcher sich schnell bes wegt, im Lichte eines Blizes doch ganz unbeweglich erscheint. Betrachten wir hiernach die Schallwirkung. Ihre Eigenartigkeit ist heute nicht mehr so wunderbar, als sie es in früheren Zeiten war. Der Schall entsteht an Ort und Stelle mit dem Blize zugleich und währt auch nicht län ger, wie künstlich erzeugte elektrische Funken zeigen. Ganz anders präsentiert er sich dem Beobachter in der Natur, wo man der Erzeugungsstelle oder den Erzeugungsstellen ungleich ferner gerückt ist. Für das Licht fällt die größere Entfernung nicht in die Wage, da es auch die größten hier in betracht kommenden Entfernungen fast momentan durcheilt. Der Schall dagegen rückt per Sekunde nur etwa 340 m vor und muß sich daher merklich verspäten. Hiernach läßt sich denn auch die Entfernung eines Blizes leicht berechnen, wenn man die Verspätungszeit in Sekunden mit jener Zahl multipliziert. Die so berechnete Entfernung ist indessen nur eine allgemeine. Eine bestimmte Entfernung gibt es überhaupt nicht, weil die Blisbahn partiell näher, partiell ferner gelegen ist. Hieraus erklärt es sich denn auch, daß der Donner eine längere Dauer hat, weil der Schall von den ferneren Punkten später an den Beobachtungsort gelangt. Ebenso erklärt sich hieraus die Abnahme respektive Zunahme des Geräusches , weil es auf größere Entfernungen selbstredend eine Schwächung erleiden muß. Aber noch eins ist nicht erklärt , die wiederholte Zu- und Abnahme samt den plötz lichen unregelmäßigen Verstärkungen , wie sie wenigstens durchschnittlich zu erfolgen pflegen. Hieran ist ohne Zweifel die Zickzackgestalt der Bahn schuld, sofern größere und kleinere Ent fernungen mehrfach wechseln , und gleiche zuweilen der Zeit nach zusammenfallen. Bei alledem spielt freilich wohl noch ein anderer Faktor eine Rolle , weil entfernter Kanonen donner mehrfach ähnliche Wirkungen zeigt. Es wirkt das Echo mit, d. h. die Zurückwerfung, welche der Schall an dem unteren Saume der Wolken erfährt. Daß ein Schall überhaupt entsteht, kann zwei Gründe haben, von denen wir vorläufig noch nicht wissen , welchem die
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Hauptwirkung zu verdanken ist. Er kann eine Folge der plötzlichen Ausdehnung der Luft, aber auch des plötzlichen Zusammenfallens nach voraufgegangener Ausdehnung sein. Die Ausdehnbarkeit des Mediums ist jedenfalls wesentlich, da elektrische Funken in festen Isolatoren fast lautlos verlaufen. Der Schallwirkung am nächsten steht wohl die mechanische Wirkung, weil sie voraussichtlich einer ganz ähnlichen Ursache angehört. Ich
Blitzbeschädigung eines Baumstammes.
halte es wenigstens für sehr wahrscheinlich , daß alle hierhingehörigen Effekte auf der Ausdehnung von Luftarten basieren. Die mechanische Wirkung äußert sich unter anderm darin, daß der Blizz Bäume spaltet, oder sie teilweise ihrer Rinde beraubt, auch Balfen spaltet , wenn eiserne Nägel ihn in solche einführen , Dachziegel fort= schleudert, Dächer momentan emporhebt und selbst Mauerwerkzur Seite wirft. Ueberall kann hier die Ausdehnung der Luft oder die Ausdehnung von Dämpfen oder Gasen als Haupt-
ursache figurieren, da selbst bei trockenem Holze infolge der gleich näher zu betrachtenden Wärmewirkung Gasarten entstehen und zugleich eine plötzliche Ausdehnung erfahren. können. Von bestimmten Fällen erwähne ich die Beschädigung des Kirchturms in Hattstedt durch den bereits gedachten Blitzschlag, dessen Bahn durch eine Reihe abgeschleuderter Schindeln gezeichnet wurde, den durch Herrn Lehrer Modeß in Mahlis im Königreiche Sachsen berichteten Einsturz eines Teils der Kirchhofsmauer infolge Blitzschlags im Jahre 1874, die Zerstörung eines Fabrikschornsteins in Bromberg im Jahre 1876, welcher nach Mitteilung des Herrn Ingenieur Heffter seiner ganzen Länge nach in vier Teile gerissen wurde. Hierhin gehört auch das Einbrechen von Fensterscheiben, welches oft fälschlich so gedeutet wird, als ob der Bliz durch das Fenster gegangen sei, sowie die lochartige Durchbohrung von Fußböden, welche leicht auf den Glauben führt , als ob
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W. Holt. Der Blitz und seine Wirkungen.
der Blitz in ein schon vorhanden gewesenes Mauseloch gefahren sei. Alles dies nun und gleichzeitig der Schall mag in letter Linie eine Folge der Wärmewirkung sein. Die Wärmewirkung tritt aber auch häufig für sich allein ohne sonstige mechanische Effekte auf. Am augenscheinlichsten
Blizbeschädigung eines Kirchturms. manifestiert sie sich in der Zündung. Fast jeder Bliş zündet, wenn er auf leicht entzündbare Stoffe trifft. Er zündet um so eher, je stärker die Ladung und je größer die Dauer der Entladung ist. Dann manifestiert sie sich unleugbar in der Schmelzung . Der Blizz schmilzt alle Stoffe , welche überhaupt einer Schmelzung fähig sind. Aber er schmilzt sie nicht in allen Dimensionen ; er schmilzt sie nur, wenn er in ihnen verhältnismäßig enge Bahnen wandeln muß. Dünne Drähte schmelzen deswegen eher als dicke , Röhren eher als massive Stücke von äußerlich gleicher Form. Sehr leicht fallen daher die metallischen Pfeifen von Kirchenorgeln einer Schmelzung anheim. Als Beleg verweise ich auf den Bligschlag , welcher im Jahre 1878 die Kirche in Neumark bei Weimar traf, wo nach einer Mitteilung des Herrn Lehrer Weißhuhn eine ganze Reihe der zinnernen Pfeifen schmolz. Im übrigen richtet sich die Schmelzung weniger nach dem sonstigen Schmelzpunkte
der Stoffe, als nach dem Widerstande, welchen sie der Blisbewegung bieten. Platin schmilzt sonst außerordentlich schwer , durch den Blitz aber leicht seines verhältnismäßig großen Widerstandes wegen. Deshalb ist auch, beiläufig bemerkt, dieses Metall sehr wenig für die Spigen der Blizableiter geeignet. Außerordentlich groß ist der Widerstand erdiger Stoffe und namentlich von Sand , vorausgesetzt , daß sie trocken sind. Trifft der Blitz auf solche, so schmilzt er sie sicher und schmilzt sie so, daß eine förmliche Röhre entsteht. Man findet dergleichen sogenannte Blizröhren wohl 8-9 m lang, doch pflegen sie beim Ausgraben zu zerbrechen. Sie sind innerlich unregelmäßig hohl und äußerlich noch unregelmäßiger stachlich oder bucklich geformt. Man kann sie nach Rollmann auch künstlich gewinnen, wenn man elektrische Funfen durch eine Schicht pulverisierten Schwefels schlagen läßt. Noch in andern Wirkungen äußert sich der Blig. Er wirkt auf den tierischen Organismus, indem er je nach Umständen tötet, lähmt oder betäubt. Er wirkt auch auf die Magnetnadel, indem er sie ablenkt, und auf Eisen und Stahl , indem er sie magnetisiert. Er wirkt ferner chemisch, indem er gewisse Stoffe zerlegt , oder ineigentümlichen nerlichumwan Fernwirkung, delt , wie den indem das Aufhören der Elef= Sauerstoff der trizitätsbewe Luft in Ozon. gung in ihm Lesteres erineine neue Eleknert in seinem Geruche an trizitätsbe brennenden wegung an an= Stelle derer Schwefel, und zur Folge hat. daher die geHierhin gehört wöhnliche Anbekannte der gabe , daß es des Effekt bei Blizein-
Rückschlags, schlägen nach Schwefel geden man spürt, wenn man im rochen habe. Fragment einer Bliz Er äußert sich röhre (nat. Größe). Freien ist, und endlich in einer ein Blitz in größerer Nähe fällt. Ich begnüge mich damit, gerade an diese Wirkungen kurz zu erinnern, da sie seltener sind, oder sich der Beobachtung eher entziehen als die vorbenannten, die wohl zum großen Teil jeder der Leser schon einmal wahrgenommen hat.
Maximilian Schmidt. ' s Almftammerl.
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's Almstummerl. Sine Erzählung aus dem bayrischen Hochland . Von
Maximilian Schmidt. (Schluß.)
ranzl klärte sie hierüber vollBewährt sich dann die Lieb und Treu, so sorg ich für euer Glück. kommen auf. Er erzählte ihr Zusammentreffen beim AlmenDiese Zeilen erregten bei den jungen Leuten tanz in der Valepp und wie lauten Jubel. Franzl jauchzte laut auf und er sich erboten habe, Burgl und Mirdei wollte es ihm nicht wehren , als er ihre Begleiter auf die Elend- Burgl in seinen Arm nahm und ihr einen alm zu führen ; wie von letteren eines nach dem herzhaften Kuß auf die brennenden Lippen. drückte. andern zum Aufstiege unfähig geworden sei und der Schreiber schlafend ihre Rückkehr erDann sette die Stumme ihr Hütchen auf, warte. Da sie die Hütte leer gefunden, hätten | hing ihre Jacke um und verließ mit dem glücksie sich einstweilen durch Gesang die Weillang lichen Paare die Elendalm , welche in dieser vertrieben. Stunde diesen Namen gewiß nicht mit Recht Mirdei drohte lächelnd mit dem Finger, führte. Mit den glücklichsten Gefühlen stiegen und als sie Burgls Erröten bemerkte, streichelte sie auf dem kürzesten Wege zu Thal, des unter sie ihr die blühenden Wangen und sah ihr lange dem Gebüsche ruhenden Servazius ganz verin das glückstrahlende Gesicht. Welche Gegessend, dessen Erwachen sich weniger süß gedanken mochten in diesem Augenblicke Mirdeis staltete als die genossene Ruhe , wie wir im nächsten Kapitel hören werden. Herz durchzittern ! Nach einer Weile nahm sie Franzl bei der Hand und legte die linke an ihr Herz , als wollte sie fragen: „ Moanst es ehrli mit dem IV . arma Dirndl?“ Frau Ursula schlummerte sanft in Gottes Franzl verstand ſie. " So wahr Gott im Himmi lebt," rief er, freier Natur und länger, als sie es vorhatte. Sie hätte vielleicht noch lange in süßen Träu„ d' Burgl und koa' andere wird mei' Bäurin. men geschwelgt, wenn sie nicht auf eine sehr unSiehg i's aa erst sita heunt, so is ' s ma juſt, als waar 's bei mir gwen, so lang i denk und sanfte Weise aus ihrem Schlafe aufgeschreckt worden wäre. Sie wußte nämlich nicht, daß in als waar alle Freud , die i dalebt hon, von der Nähe ihres Ruheplages die Böller postiert ihr ausganga. Und wenn ' s iaz für mi a Bild waren, welche früh morgens und während des ohne Gnad waar, i wißt fredi nit, was i anGottesdienstes abgeschossen wurden und auch fanga müaßt. Geh zua, Mirdei, hilf ma zu am Nachmittage neue Ladung erhielten, um die dem Dirndl. Laß mir die Feindschaft von mein Bodan nit entgeltn." Die Stumme betrachtete ihn lange prüfend, dann sah sie in Burgls strahlende Augen. Jezt nahm sie die stets auf dem Tische liegende Schreibtafel und schrieb mit dem daran hängenden Griffel darauf : Ich nehm die Burgl ganz zu mir an Kindesstatt und werd noch heut mit ihrer Ziehmutter das Nötige ausmachen.
Ankunft der kgl. Prinzen verherrlichen zu helfen . Man denke sich den Schrecken der guten Frau, als plötzlich in ihrer nächsten Nähe ein Böllerschuß erdröhnte ! Ihr gellender Aufschrei tönte fast so laut, wie der in vielfachem Echo widerhallende Schuß. Entsett sprang sie auf. Ihr erster Gedanke war, daß ein Attentat auf sie versucht, bald aber machten ihr mehrere 48
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Maximilian Schmidt.
„Es dernd dir nöt ( es nügt dir nichts ), du gaangst ja eh irr," erwiderte lachend die sich Entfernende. ausgestandenen Schrecken und ihr nachheriges Räsonieren herzlich ausgelacht. So verstrich abermals eine Viertelstunde, ,, hätt ich den Servazius da, daß ich meinen. bis die Brotkathl" endlich aus dem Hause Aerger an ihm auslaſſen könnt' !“ wünschte sie zurückkehrte. Sie brachte vor Vergnügen ihren sich , und mit neuem Schrecken ersah sie jezt, zahnludigen Mund gar nicht mehr zusammen. daß die Nachmittagsstunde schon ziemlich weit I bin scho' g'richt," rief sie der sie Ervorgerückt sei und ihr Mann mit den jungen. wartenden zu. „ Ui Gottes , ui Gottes , is ' s Leuten längst wieder zurück sein könnte. Auf aaf da Klaus'n heunt fidei ! Da kunnt i ſcho’ dem Festplate angelangt, wurde sie auf jedem 'n Tanzn zuaſchaugn bis d' Sunn ei’geht. Und Schritt und Tritt von den jungen Burschen d ' gnä Frau Förschterin hat mir an' Kaffee gefragt , wohin sie das schöne Tirolerdirndl geb'n, grad an' recht an' guatn und a weiß's geschickt habe und ob dasselbe wiederkomme. Kipfl dazua mei'z liawe Frau, so an' Kaffee Vergebens blickte sie nach der Richtung, in wenn i alle Tag krieget , moanat i dengerſt, i waar im Himmi ! “ welcher die Abwesenden zurückkommen mußten. In dieser Zeit , meinte fie , könnten sie schon „Mach, daß wir weiter kommen !" herrschte zweimal den Weg hin und her zurückgelegt sie die Schreiberin an. „ Ich geb' dir auch haben. Was war die Ursache dieser Verspä❘ schon was , aber länger will ich nimmer warten. Ich mein, ich steh' auf Kohlen.“ Jeßt tung? die Sonne sank immer tiefer. hielt sie es nicht mehr länger aus . Sie fragte „No' so fimm halt in Gottsnam, ' s freut nach dem Wege zur Elendalm, aber niemand mi gar nit recht , ' s Furtgehn heunt," erwußte Bescheid, da sie sich um Auskunft meistens widerte die Brotkathl , dabei sehnsüchtig auf an weit hergereiste Tiroler wandte. Sie war das Getreibe ringsumher blickend. darüber sehr erzürnt und nahm keinen Anstand, Jest begann wieder ein Tanz und die das den Leuten auf eine Art zu sagen , daß Burschen drängten mit ihren Tänzerinnen zum man sie für eine Verrückte hielt , was Frau Tanzplay. Urſula erst ganz außer Rand und Band brachte. "Jesses , Jesses !" schrie jest Kathl und Endlich aber fand sie eine ältere freundliche rückte ihr Kopftuch zurück , „ 's Sefferl von Frau, die, eine Spitfirm auf dem Rücken tra- der Waizinger Alm thuat mit ' n Stoa'bauern gend, des Weges kam, und welche nach langer Baltl von Egern schuahplatteln ! Dös muaß und breiter Erklärung die gewünschte Auskunft i sehgn, dös muaß i sehgn ! Woaßt was , geben konnte. Die dicke Frau aber wußte nach Fraul, halt di nur dort aaffi, wo da Gangwie vor nichts . steig donni geht , ehst di umg'schaut , bin i „Also dort rechts hinauf ?" fragte sie noch dir nachi nachi kemma femma's Sefferl muaß i sehgn, mals . wie 3 a sie draaht !" Und ohne die mit einem „ Am Wasser entlang oder über d' Höh ? Fluche begleitete Antwort der Schreiberin abzuwarten , eilte sie mit ihrer Spitfirm dem Grad aus oder rechts ?" "'S is woltern gleich," entgegnete das Tanzplatze zu und folgte mit vor Begierde Weib, „ obst grad aus gehst oder wista umi ; und Neugierde leuchtenden Blicken dem eben Die drent genga d' Steig wieder inanand. Wenn dort vor sich gehenden Schuhplattler. 's dir nit a so schlaunet ¹) , kaantſt warten, bis jetzige Brotkathl war halt auch einmal eine i hoamgeh ; i muaß a so aaf mehra Alma lustige Sennerin und der Almentanz in der durt ob'n ' s Brot bringa. Wart halt dieweil, Kaiserklauſe mochte manch schöne Erinnerung bis i mei' Spitfirm g'füllt hon d'rin im Wirts in ihr wachrufen. Daß sie dabei der dicken haus. D' Brot-Kathl hoaßn s' mi, wennst mi Schreiberin vergaß, das ist ja ganz natürlich. nit kenna sollst. “ Diese ging, wie ihr geheißen, den GangFrau Ursula war dies zufrieden ; sie trug steig „donni “ (hinan) und stolperte dann, ihrem Mißmute in Worten Luft machend , mühselig aber der Kathl auf, sich zu beeilen, so viel es aufwärts. Da , war es eine Vision oder möglich, sonst müßte sie allein gehen. auf ihr Geschrei herbeigeeilte Leute die Sachlage flar und sie wurde noch dazu über den
1) schlaunet = eilen .
Wirklichkeit ? lag unter einer Tanne zunächst des Weges schlafend, schnarchend ihr Gatte.
' s Almstummerl.
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„Heiliger Bonifazius, da liegt mein Ser- | ſchloſſen, keine menschliche Seele auf der Elendalm . vazius !" rief die Frau erschrocken, und erschrocken fuhr der hagere Mann auf, es war ihm , als Servazius wurde kreideweiß bis in den hörte er die Stimme des jüngsten Gerichts . Mund hinein. Frau Ursulas große Augen rollten wie ein Feuerrad , dann donnerte sie Wo ist die Burgl ?" Wie kannst du da den Erschrockenen an : schlafen ? Was fällt dir ein ? So befolgst du Wo ist die Burgl ? Schaff' mir das meine Aufträge , so kann ich mich auf dich verlassen? So sprich doch, oder ich reiße dir Mädl her oder es geht dir schlecht ! Elender, du warst heut zu nichts nuh, als zum Essen die Zunge aus ! Wo ist die Burgl ? “ und Trinken !" Servazius hatte durch diese viele Fragen Zeit , sich zu sammeln , und er sammelte sich. „O, das war sehr gut und darauf hat mir die Ruhe so wohl gethan ," entgegnete " Burgl ist , wo sie hin wollte , ob'n. auf der Elendalm," entgegnete er. der arme Servazius. „Ruhe?" rief die Frau wütend . „Ruhen Hast du sie selbst hinaufgeführt ?" fragte die Frau mit unheilverkündender Stimme. soll der Mensch nie , wenn er seiner Pflicht nachkommen will. Du aber bist gar kein " Ich ? Nein. Der junge Bursche aus Mensch, wie die andern. Mein erster Mann, Tegernsee war so gefällig, ihr das Geleit zu Gott hab ihn selig ! der nahm sich gar keine geben. Ich bin ihm sehr dankbar , denn ich bin müde geworden. “ Zeit zum Essen und Trinken , aber der war gegen dich auch ein Gelehrter , denn du bist „Mensch , bist du verrückt ? " Du hast ein Esel." das Dirndl fremden Händen anvertraut und " So ?" rief Servazius , indem er sein noch dazu dem Tegernseer ?" kahles Haupt zurückwarf, „ ein Gelehrter, der „ das ist ein ganz braver Bursche, dem sich nicht zu denken getraut. Aber ich , den ich selbst dich ohne Sorgen anvertraueu würde,“ du einen Esel nennst , ich getraue mir zu erwiderte Servazius , doch bei den lezten denken, besonders heute, weil ich mich einmal Worten schoß sein Blick über die vor ihm Stehende hin und ein spöttischer Zug spielte satt gegessen und getrunken habe." ?? Unerhört ! Und das getraust du dich, um seinen Mund. Die Gattin hatte diesen Blick, diesen Zug mir zu sagen ?" rief Frau Ursula. bemerkt und mit wütender Stimme sagte sie : „ Ja ," antwortete mit einer an ihm un" Folg' mir, Elender , ich will selbst hin zur gewohnten Entschiedenheit der Mann , „ ja, Alm. Find ich dort nicht alles in Ord- | denn von nun an bin ich der Herr ! " nung, dann soll dein Elend angeh'n , drauf „Mir steht der Verstand still !" rief Frau Ursula. verlaß dich bei Sankt Bonifazius !“ " Geh nur voran," sagte der Schreiber „Mir der meinige nicht !" verseßte der resolut, „ ich folge dir nach. Oben werd ich Schreiber. „ Die Manneswürde laß ich mir dir Antwort geben auch bei Sankt Boni von nun an nicht mehr von dir rauben. “ „Schaff' mir die Burgl her !" schrie jezt fazius." Ursula mit dem Aufgebote aller ihrer Kräfte, Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, „ oder du bist des Todes !" schritt Frau Ursula den Steig zur Alm hin„Ich fürchte den Tod nicht , seitdem ich an. Sie mußte in kurzen Pausen stehen bleiben, sich Luft zufächeln und ihren Atem in richtige in Bayern bin, " antwortete Servazius . „O Gangart bringen. Servazius folgte stilllächelnd dürfte ich nicht mehr zurück in das für mich nach , ihm war der Weg leicht. Dabei legte so magere Tirol , das du mir zum Lande er sich einen verzweifelten Plan zurecht. ewigen Fastens gemacht hast !" "„ Du sprichst wie ein Landesverräter ! Mein „Heute oder nie! " sagte er sich im stillen Pankrazius muß sich noch über dich im Grabe und ballte die hagere Faust in der leeren Tajche. umdrehen.“ „Das wird der Pankrazius wohl bleiben. Endlich waren beide an ihrem Ziele angelangt. Die Thüre der Hütte war angelehnt. lassen," antwortete sarkastisch der Schreiber . Rasch trat Ursula in den Kaser ein, „Entsetzlich!" rief Frau Ursula. " Ex aber dieser war leer , die Kammerthüre ver-
fürchtet den Pankrazius nicht mehr ! Servazius
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Maximilian Schmidt.
ich bitte dich, bring mir die Burgl oder ich bring dich um." „Das wär nicht der erste Fall , du Gattenmörderin !" „Was ? Was hast du gesagt ?" „Du hast den Pankrazius verhungern lassen, wie du mich verhungern läßt, den Ser„ Du baust Dir vazius ," entgegnete dieser. Hütten in der Klosterküche und dein Gatte
„Hast du geschrieben ?" fragte der Gatte. Ursula schrieb. " Schwöre hiermit - " refapitulierte sie. Und Servazius diftierte weiter : „ daß Mann und Weib zusammen essen und trinken müſſen. " ,,Servazius , mir schaudert!" rief Ursula. " Hast Du's geschrieben ?" zusammen ach! „Mann und Weib
essen und trinken müssen ," las Urſula nach. Und ich infolge dieses natürlichen Geſeßes von nun an mit meinem geliebten Gatten alle meine Rechte teilen will , die mir ein glücklicher Zufall durch den Frater Klosterkoch eingeräumt, seien es Speisen oder Getränke." „Servazius , der Teufel ist in dich ge= fahren," unterbrach ihn seine Ehehälfte wütend. „ Also das willst du ? In Gottesnamen ! “ „Nein, die Rache Gottes , die Rache des rief Ursula. " Gott , was soll aus mir Bankrazius spricht aus mir !" rief mit Entwerden , wenn ich dich dann jeden Tag in schiedenheit der fürchterlich werdende Mann . einer Verfaſſung finde, wie heute, du Tyrann!“ „Ein Gelehrter , Ursula ," entgegnete er „Deine letzte Stunde hat geschlagen , wenn du jest nicht alles thust, was ich will. " Daspöttisch , " denn solche Verfaſſungen erzeugen bei schlang er seine mageren Finger fest um große Geister. Bist du fertig?" ihre Hand. " Fühle die Kraft des Bieres und „Ja," hauchte die Frau. " Dann unterzeichne deinen Namen. " des Weines, die ich in Bayern genossen. " Sie unterzeichnete . „Hilfe , Hilfe , er erdrückt mich! " keuchte die dicke Frau. Servazius nahm die Brieftasche , las das Geschriebene nochmals durch und steckte sie „Rufe immer zu. Auf dieser Elendalm hört dich niemand ; hier oder nie soll mein dann zu sich. Elend ein Ende nehmen !" „Ich danke und küß' d' Hand , " sagte er „Laß mich!" stöhnte Ursula. „Ich will jest galant. alles thun o Gott, ich ersticke.“ „Wo ist die Burgl ? " fragte Ursula, sich Servazius holte den in der Ecke stehenden erhebend, dringend . Wassereimer und besprengte seine Gattin mit „Die Burgl ?“ entgegnete Servazius würdevoll, sie ist in Gottes Hand !" Wasser. Diese ließ sich erschöpft auf die Bank nieder. Servazius aber zog seine Brieftasche Einen Augenblick stand Frau Ursula wie hervor, öffnete sie und reichte seiner Ursula | versteinert, dann brach der Sturm los. „Schändlicher, du hast mich betrogen!" den Bleistift hin. „Ich spreche die Wahrheit. " " Nun schreibe!" gebot er. Auch ich will jest wahr mit dir sprechen!" Schreiben soll ich ?" seufzte die Frau. Was soll ich schreiben ? Du hast nichts Gutes schrie die wütende Ursula und ergriff einen Bergstock, der zunächst in der Ecke stand. vor , Servazius. Ich kann nicht schreiben !" " Du mußt!" befahl der Gatte. „Oder ich Servazius suchte eiligst durch die Thüre sage dir nicht, wo die Burgl iſt. “ ins Freie zu gelangen , da fühlte er sich plöt „ ", Gott, du weißt , wo sie ist und mar- lich von zwei langen Armen gepackt. terst mich so unbarmherzig ? Wo ist sie ? Sag He, he, langsam !" rief ein alter, bärtiger " mir's, ich beschwöre dich Mann, der eben so lang und hager war, wie „ Schreibe erst, dann sollst du's erfahren. " Servazius . „ Glei gibst wieder her , was d' gstohln hast oder i dadroſſel di. “ Dabei "Ich schreibe!" sagte Frau Ursula mit fast gebrochener Stimme. drehte er schon sehr empfindlich an dem Halse Servazius diftierte : „Ich Unterzeichnete des Entsetten. schwöre hiermit " „Wir haben nichts gestohlen ! " mischte sich „Nur nicht falsch, Servazius, nur feinen jezt Ursula ängstlich ein , denn sie fürchtete, Meineid !" unterbrach sie ihn. die Prozedur möchte auch auf sie übergehen. soll von deinem Anblick satt werden oder zu Grunde gehen . Es geht auch jeder zu Grunde. und schon heute denkst du vielleicht wieder an einen Aber Ursula dritten Azi, den Lonifazi -
's Almftummerl.
Ich suche die Rauederin. Unser Mädl haben wir zu ihr heraufg'schickt, wir wollten sie jest holen und finden sie nicht mehr. Kannst du uns keine Auskunft geben ?" „Ah so ," entgegnete jezt der Alte , „ ös ſads die Eltern von dem junga Dirndl ? No' schau, dös sehget Enk aa neamad_an. “ „Weißt du , wo sie ist ?" fragte Urſula. „Ja, dös woaß i scho : Mit meina Bäurin und ' n Franzl vom obern Rauecker is ' s abi in d' Kaiserklaus'n, ' s kann netta scho' a Stund her sei'." „ Gott sei's gedankt ! " rief Urſula. „Mann, du erscheinst mir wie ein Engel des Himmels ! “ " J!" lachte der baumlange, hagere Mann. „A so a Ehr is an' alt'n Goaßbuam aa no' nit leicht z ' teil worn. No', mir is ' s recht, wenn i dir a so g'fall. Der Kampl da,“ fuhr er fort, auf Servazius weisend, der sich eben seine Halsbinde zurecht richtete , "1 wird mi für koan Engl haltn." „ Nein," antwortete rasch Servazius , den alten Geißhüter mit seinen kurzen Beinhösln, der verlumpten Joppe und dem schäbigen Hute von Kopf bis zum Fuße meſſend , „ dein Anzug ist nicht englisch. “ „No', thuat nix, “ meinte dieſer. „ Woaßt, i bin da Goaßwastl , scho' siebz'g Jahr alt und seit i denk, beim Rauecker und aaf da Elendalm . I hüatt' ' s Vich und d'Goaß'n ; 's is gar so viel schö' herob'n , wenn aa der Wind oft schirfast geht ! Tag und Nacht bin i d' Summerszeit im Frei'n draußt, woaßt, da kannst di aba nit z'sammricht'n wier a Stadtherr, da gnügt mei' Gwanta scho'. " "„Aber da mußt du ja doch oft Zeitlang friegen," meinte Frau Ursula. „ An was denkst du denn den lieben langen Tag , wenn du so allein bist ?" „ Denk'n ? " fragte der Geißwastl. „I denk' ma nix. “ Aber der Mensch muß doch alleweil was denken," entgegnete Frau Ursula. Ja woaßt, i bin nit so dumm, wie du, daß i mir alleweil was denf'n muaß ," er= widerte der Alte. Servazius vergaß das auf ihn gemachte Attentat und lachte aus vollem Halse. Frau Ursula wollte etwas erwidern , fand aber in ihrer Entrüstung keine Worte und hielt es überhaupt unter ihrer Würde , weshalb sie ihren Aerger lieber verschluckte.
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Nun war aber keine Zeit mehr zu verlieren, um wieder zur Kaiserklause hinab zu steigen. Sie verabschiedete sich von dem Geißwastl , der über die beiden Gestalten fortwährend ficherte. „Wie kommen wir am schnellsten hinab ?" fragte Ursula noch im Abgehen. „Abikugeln laß di , " antwortete der Geißwastl ; „bist eh kugelrund, da bist unten, eh's d'es damoanst. " Servazius lachte wieder und schritt voran. Ursula folgte ihm. Nur wenig wurde gesprochen , denn Ursula ärgerte sich über das fortwährende stille Lächeln ihres Mannes . Als sie in die Nähe der Kaiserklause kamen , begegnete ihnen die Brotkathl. „No' schau," rief sie der Schreiberin entgegen, " da bist iatet. I hon mi halt a bigl vohalten iah waar i aba g'richt !" Ich brauch dich nicht mehr! " rief Ursula Geh nur allein mit meiner Inerzürnt. dignation." „ Schön Dank!" entgegnete die freundliche Kathl ; „heunt krieg i lauta Guats und Liabs.“ Und ein fast noch jugendlicher Juhschrei hallte aus ihrem Munde. Dann wanderte sie vergnügt mit ihrem Bergstock den Almen zu . Servazius lachte wieder. Ursula wollte. vor Wut bersten, doch mußte sie diese für jezt unterdrücken, denn das erste, was ihr auf dem Festplate in die Augen fiel, war die ſo ſchmerzlich gesuchte Burgl.
V.
Burgl eilte den Ankommenden entgegen und führte sie zu dem Tische hin , wo Mirdei und Franzl saßen und für Speise und Tranf schon wieder ausreichend gesorgt war. Dieser Anblick zauberte auch auf Frau Urſulas Angesicht wieder ein freundliches Lächeln und Herr Servazius lächelte glückselig mit. es der Schreiberin anfangs auch unangenehm, den jungen Tegernseer wieder an Burgls Seite. zu finden , so beruhigte sie die Bestätigung, daß der Bursche ein guter Bekannter Mirdeis sei und sich diese mit ihm durch Zeichen aufs beste unterhielt. Nur zu bald war es für Servazius Abend geworden , noch eher aber für das junge Liebespaar. Doch sollte die Trennung etwas
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Maximilian Schmidt.
hinausgeschoben werden, indem Franzls Anerdie heilige Flamme der ersten jungfräulichen Liebe. bieten, die Gesellschaft eine Strecke zu geleiten, auf Mirdeis Beipflichten angenommen wurde; Lange hörte sie noch seinen hellen, grüßendieses hauptsächlich darum , weil der bereits den Juhschrei. Plöglich aber war es , als ob ziemlich illuminierte Finanzwächter sich neuerdieser Juhschrei gewaltsam abgerissen würde und auf weitere Rufe erfolgte keine Antwort dings an Burgl herandrängte und ihr zum Nachhausegeleite seinen langen Arm anbot, was mehr. Tiefe Stille herrschte in dem großen, das Dirndl lachend, aber entschieden ablehnte. prächtigen Reviere der Valepp . Eine unerTaumelnd und mit einem Fluche auf Franzl klärliche Angst bemächtigte sich Burgls . Wie eine trübe Ahnung stieg es in ihrer Seele zog er sich zurück. Mirdei aber drängte zum Aufbruch , da sie noch heute mit Burgls Erauf und Thränen perlten aus ihren großen ziehungsmutter alles ordnen und morgen mit Augen, gerade als fühlte sie das unerwartete Sonnenaufgang wieder auf ihre Alm zurück- | Verhängnis , welches in dieſem Augenblicke über fehren wollte. Es war auch hohe Zeit, daß dem Haupte des geliebten Freundes schwebte. der Heimweg angetreten wurde. Die Sonne war im Untergehen begriffen, die Spisen des Sonnwend und Schönfeldjoches glühten in Wir müssen nun den in der Kaiserklause rötlich weißem Lichte und über den dunkelverlassenen Schönecker Bartl wieder aufsuchen. grünen Forsten lag ein violetter Duft. Von Als dieser nämlich den ihm teils mißgönnten, allen Seiten hörte man noch das frohe Jauchteils freundlich zugestandenen Platz an dem zen und Jodeln der heimkehrenden KirchweihTische unserer Bekannten verließ , erging es gäste. Die Sennerinnen stiegen nach einem ihm , wie dem Schreibersehepaar. Die Nachfroh verlebten Tage wieder vergnügt zu ihrer mittagshiße und der Genuß der Getränke Alm und die beglückten Bursche sandten ihnen | machte auch ihn träge und auf dem Wege weithin hallende Juhus nach , welche unter nach der Erzherzog Johann-Klause , dort wo der Marchbach sich mit der Valepp vereinigt, vielfachem Echo frohe Erwiderung fanden. Franz und Burgl folgten meist Hand in Hand und in süßem Geplauder dem mit Mirdei vorschreitenden Schreiberschepaar. Mit den zärtlichsten Worten hatten sie sich wieder und immer wieder gegenseitig ihre Liebe versichert. Franz versprach, das Dirndl , sobald es bei Mirdei sei, recht oft zu besuchen und sie dann alsbald als seine Bäuerin auf den obern
und der Weg am linken Ufer hoch über dieser und über den Marchgraben führt, suchte er sich ein kühles Pläßchen, um auszuruhen von den heutigen verschiedenartigen Eindrücken auf Körper und Gemüt. Man würde übrigens irren , wollte man glauben , daß lettere auf das Wiedersehen Mirdeis noch nachhaltig bezug hatten , denn so sehr ihn dieses Zusammentreffen auch im ersten Augenblicke verblüffte , fast rührte , so war sein Herz doch zu verhärtet, als daß es einer nachhaltigen Regung fähig gewesen wäre. Vielmehr griff in demselben jezt der Groll Plaz über den verhaßten Finanzwächter , der ihn in Gegenwart des hübschen Mädchens so schlecht behandelt hatte. Dieses Mädchen stand lebhaft vor seinem Geiste. Er hätte für die freundlichen Worte , mit denen sie sich seiner angenommen, gerne mit ihr die Silberstückeln geteilt, welche er in der Tasche trug. Gerade um dieses Mädchens willen konnte er die
Raueckerhof zu führen. Wie lieb und herrlich flang dies alles für die arme Burgl ! Sie glaubte, dieses große, unverhoffte Glück hätte gar nicht Raum in ihrem so bescheidenen Herzen, es kam ihr oft vor , als wäre alles nur ein schöner Traum. Aber nein, sie wachte, denn schon fühlte sie den ersten bittern Wermutstropfen in dem kristallhellen Quell ihres ersten Liebesglückes , das nur in Träumen völlig ungetrübt, in der Wirklichkeit aber dem Schicksale der Unvollkommenheit alles irdischen Glückes unterworfen ist. Diese erste Bitterkeit war die Trennung von dem Geliebten , die nur allzubald herangenaht war. Als Burgl Beleidigung des Finanzwächters nicht vergessen. Er hoffte, der Zufall würde ihm günstig beim Abschiede die großen dunklen Augen zu ihm aufschlug, sprühte darin ein eigentümliches | sein , sich an ihm auf irgend eine Art zu rächen. Er kannte ihn wohl. Der FinanzFeuer , verursacht durch den Widerschein der glühenden Felsenberge , noch mehr aber durch wächter hatte früher einen andern Posten und
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dort war er öfter mit ihm in Kollision ge- | unglückten nieder. Er erkannte alsbald , daß kommen ; er wußte auch, daß der Mann des derselbe nicht tot , aber während er noch mit sich beratschlagte, was zu thun sei, kamen Gesetzes regelmäßig mit einem Rausche nach zwei Kameraden des Niedergeschlagenen, welche Hause ging und da hoffte er schon an ihn zu fommen. ebenfalls vom Almakirta heimkehrten, zur Stelle. Sie sahen ihren Kameraden im Blute und Er mußte lange warten , bis die ersten erkannten den Tegernseer sogleich wieder als Kirchweihgäste vom Almentanz nach Hause gingen und erst recht lange , bis die lezten denjenigen , welcher jenen heute beim Schuhan ihm vorüberkamen. Wohl hatte er die platteln zur Erde gesezt, und trot Franzens Versicherung, daß er den Verwundeten soeben zurückkehrenden Schreiberscheleute erkannt, mit denen auch Mirdei ging , aber sein Blick suchte nur das junge Dirndl und haftete dann so ausschließlich an demselben, daß er das Alm= stummerl gar nicht bemerkte. Er konnte nicht begreifen, warum ihm die Züge des Mädchens so bekannt waren. Das ahnte er nicht, daß es seine eigenen Züge waren , die ihn in Burgls Gesicht so auffallend ansprachen . Wohl gedachte er auf einen Moment seiner Tochter, um die er sich niemals gekümmert, die er gar nicht kannte , aber diese Gedanken
beschworen unangenehme Gewissensbisse und er brachte sie zum Schweigen. Schon hatten die Berge verglüht und dunkle Schatten breiteten sich darüber , als der erwartete Finanzwächter endlich in der Dämmerung sichtbar wurde. Bartl hatte sich mit einem tüchtigen Knittelstock versehen und trat beim Marchgraben auf den Weg heraus, welchen der Erwartete mit wackeligen Schritten passierte. Dieser war des Paschers kaum ansichtig, als er seinen Säbel zog und rief: „Sumpen= kerl, du bist arretiert , du bist mir einmal durch im Landl drüben , dafür mußt du büßen! Steh ' oder du bist des Todes !" Bartl blieb stehen. „ Rühr' mi nit an , wenn koa' Unglück g'schehgn soll ," sagte er , aber ehe er sich's versah , verspürte er schon die Klinge des Grenzwächters über seinem Oberarm . Jest aber hob Bartl seinen Knittelstock zum Hiebe aus und schlug den Gegner gerade in das Gesicht, so stark , daß ihm das Blut aus Mund und Naſe hervorquoll und er der Länge nach zu Boden stürzte. Bartl warf den Knittel hin und suchte das Weite. Franz war auf dem Rückwege begriffen und kam bald darauf unter Juchzen an die Stelle, wo der Finanzwächter in seinem Blute lag. Mitten in dem begonnenen Jauchzen hielt er ein und neigte sich erschrocken zu dem Ver-
gefunden und ihm Hilfe bringen wollte, ward er von den Wächtern als Thäter angesehen und für arretiert erklärt. Diese plötzliche Veränderung seiner Lage konnte Franz nicht gleich fassen ; vor wenigen Augenblicken war er noch der glücklichste Mensch auf Gottes Erdboden und jetzt ein Gefangener ! Er schüttelte den zu Boden Liegenden, damit er zu sich komme und seine Unschuld be zeuge. In der That schlug der Verwundete die Augen auf. „Nicht wahr, der war's, der dich niederg'schlagen hat ?" fragte ihn einer seiner Kameraden. Der Gefragte sah jetzt in das Gesicht des Raueckers , des Burschen , der ihn heute auf dem Tanzplage so beschëmt , des glücklichen Nebenbuhlers , den er haßte , und ohne sich lange zu besinnen, vielleicht auch in seinem halb bewußtlosen Zustande, sagte er: „ Ja, der der Bayernfack !“ is's Kaum waren diese Worte gesprochen, fühlte sich Franzl von den Grenzwächtern gepackt, aber im Nu schleuderte er den einen rechts, den andern links von sich . „Rühr' mi Koaner an, oder i werf Ent alle Zwoa abi in d' Valepp," rief er. „Der Lump da hat g'log'n , er hat ja an' Rauſch), deffel kennt's do' . I hon mit eam nix mehr z' thoa' g'habt, sita dem Schuahplattler. Bei Gott, ös därft's mir's glaabn !" Die Grenzwächter glaubten ihm aber nicht. Sie hatten ihre Seitengewehre gezogen und erklärten dem Burschen , sie würden ihn zusammenhauen , wenn er nicht sofort gutwillig mit ihnen ginge. Franz überlegte eben, wie er sich dieser Lage am besten durch die Flucht entziehen könne, da nahten zwei österreichische Gendarmen , mit Schießgewehren bewaffnet , welche des Almentanzes wegen an der Grenze zu patrouillieren
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Burgl war fest von seiner Unschuld überhatten. Angesichts dieser mußte Franz auf jeden Fluchtversuch verzichten , da sie mit ge- zeugt und behauptete stets , daß der Thäter niemand anderes sein könne, als der verlumpte, spanntem Gewehre mit ihm sprachen. bärtige Mann, welcher beim Almakirta in der "I geh mit, " sagte er, der Gewalt nach gebend , morg'n werd's es hör'n , daß i un- Kaiserklause mit ihnen am gleichen Tische Play genommen hatte und dem der Finanzwächter ſchuldi bin, wenn der Verwund'te seinen Rausch so rücksichtslos begegnet war. Nach der Beausg'schlafen hat. " So ward er auf demselben Wege, den er schreibung dieses Mannes ward es der Stumvor kaum einer halben Stunde so glücklich men alsbald klar, daß Burgl von ihrem eigenen. Bater spreche , welcher am gleichen Tage ja zurückgelegt, als Gefangener transportiert. Das Herz pochte ihm , als er durch das Dörfchen | auch auf ihrer Sennhütte gewesen , aber sie fam , wo er von Burgl Abschied genommen . hütete sich wohl, ihr dies mitzuteilen. Sie Das Haus , in welchem sie wohnte , lag an hatte jedoch mehreren Personen den Auftrag der Straße. Er sah Licht in der Stube, sah gegeben , sich nach dem Schönecker Bartl umBurgl nachdenkend , den Kopf auf die Hand zusehen , aber niemand konnte ihr Auskunft über ihn geben. gestüßt, am offenen Fenster. Als die Eskorte ganz nahe war, blickte das Mädchen erschrocken auf. * * „ Burgl ," rief ihr der Gefangene zu, Burgl ging mit Mirdei erst auf die Elend,,brauchst di nit z ' kümmern ; i bin unschuldi alm und nach dem Abtriebe von derselben auf arretiert. Bal kimm i z'ruck. Pfiat di Gott, liabs Dirndl !" den Raueckerhof zurück , welcher sich auf dem „Franzl!" schrie das Dirndl, „ um GottsAusläufer eines am weſtlichen Ufer des Tegernwilln, was is gschegn ?" sees ansteigenden Berges befindet. " ' N Grenzwachta hat er daschlag'n," sagte Mirdei war glücklich, nunmehr jemanden ein die Eskorte begleitender Bursche. um sich zu haben, der ihr nahe stand, und ſie Burgl verschwand vom Fenster - drinnen gewann das hübsche Mädchen von Tag zu Tag in der Stube waren Mirdei und die Erlieber. Burgl arbeitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend und wäre nicht die ziehungsmutter um die ohnmächtig zu Boden Sorge um Franzl gewesen, sie hätte sich in Gesunkene beschäftigt. Servazius aber war der Eskorte nachgeeilt und erfuhr das Nähere ihrem Leben noch nie so glücklich gefühlt. Aber über das dem Franzl zur Last gelegte Verdie Sorge um den Geliebten beschäftigte sie brechen. Tag und Nacht. Sie hatte zwar nur wenige Stunden mit ihm verlebt , aber es war ihr, Burgls Jammer, welchen auch das stumme als hätte sie ihn schon viele Jahre gekannt, Mirdei lebhaft teilte, war grenzenlos. Ach, ihr Glück war gar so kurz! und ein Briefchen , welches er ihr aus dem Franz ward bis Brandenberg eskortiert | Gefängnisse geschickt und in welchem er sie um Liebe und Treue bat und sie der ſeinigen verund mußte dort im Gefängnisse die Nacht verbringen; andern Tages brachte man ihn nach sicherte, war ihr das Liebste, was sie auf der Welt besaß. Rattenberg. Noch jemanden hatte Franz aus seiner Der boshafte Finanzwächter , welcher des andern Tages in der Sache vernommen wurde, Haft seine Liebe zur Burgl mitgeteilt, nämlich blieb um so mehr bei der gestern gemachten seinem Vater, dem obern Rauecker, der aber Aussage, daß er von dem Bauernburschen hiervon durchaus nicht erbaut war . Auf der erſten Seite des Briefes bat Franz seinen Vater, niedergeschlagen worden sei , als ihn Burgl weinend und auf den Knieen gebeten hatte, für ihn eine nicht unbeträchtliche Summe als Kaution beim österreichischen Gerichte hinter seine Aussage zurückzunehmen. So konnte er legen zu wollen , damit er auf freiem Fuße sich an dem Dirndl , das ihn verschmähte und an seinem Nebenbuhler rächen . Seine Wunde prozessiert werde und nach Hause zurückkehren. könne, bis über ihn verhandelt würde. Der war nicht allzugefährlich und voraussichtlich binnen wenigen Wochen geheilt. Ober-Rauecker, ein tüchtiger und stolzer Bauer, So mußte der arme Franzl sich einer lang- ❘ welcher wegen der Gefangenſchaft und des unwierigen Untersuchungshaft unterziehen. gewissen Ausganges des Prozesses seines einzigen
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Sohnes in großer Kümmernis war und nichts sehnlicher wünschte, als die Rückkehr desselben, beeilte sich, die geforderte Summe teils in barem Gelde , teils in bayrischen Staatspapieren zusammenzurichten und sich ohne Verzug zur Reise nach Rattenberg herzurichten. Da nahm er nochmals den Brief seines Sohnes zur Hand und er sah, daß auf der Rückseite desselben ein bis jezt von ihm un beachtetes Postskriptum folgenden Inhaltes stand : „Lieber Vata !
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Raueckerin und wenn er die Burgl ſo andächtig beten sah, dachte er sich: „ Die bet' zu unserm Herrgott, daß der Franzl frei wird , aba so lang i die Kaution nit stell, nut alles nixi. Sauba is ' s , dessel is wahr , brav mag's aa sei', aba wie da Franzl schreib'n kann , daß Dan dös Dirndl mit ihra Liab alloa' scho' reich machn kann, dazua reicht mei' Verstehstmi nit aus. “ So geschah also von seiner Seite auch nicht die von Franz gewünschte Annäherung an Mirdei, Franz kam nicht zurück und Burgl blieb allein mit ihrer Sehnsucht und ihrem Kummer. Wenn die schönen Tegernseer Berge im Spätherbste sich mit dem ganzen Zauber ihres
Ich thue Dir auch zu wissen, daß ich die Godl von der untern Rauederin , die Burgl, als meine zukünftige Bäurin ausersehen habe. Eine schönere und bravere Schwiegertochter fannst Du Dir nicht wünschen. Laß mit dem Mirdei den Verdruß ausgehn, sie ist gar ein Farbenreichtums ſchmückten und die untergehende Sonne das prächtige Grün des Bergsees in braves Leut und die Burgl gilt bei ihr alles. flüßiges Gold verwandelte, dann stand Burgl Wenn's auch arm ist, so kriegt's doch von ihrer Raueckerhofes Laabn"“ des wohl oft oft auf des Rauecke der „„ Laabn auf der wohl rhofes Godl eine Aussteuer und wenn's auch nix trieget, und blickte sinnend hinauf zu den lichten Bergso ein richtiges Dirndl macht ein' mit ihrer riesen und hinab zu den flutenden Waſſern , Lieb schon allein reich genug. Drum mach bis der lezte Glanz verlosch und die Schatten. nur, daß ich bald nach heim komm und schick sich ausbreiteten über Berg und See. Sie das Geld zur Kaution oder bring es selbst. sah in diesem Spiel der herrlichen Natur ihr Franzl." eigenes Geschick. Auf das kurze, lichte Glück folgten die dunklen Schatten. Aber sie verzagte Der alte Rauecker hatte diese Nachschrift mit lauter Stimme gelesen. Sein Erstaunen wuchs nicht . von Zeile zu Zeile Jezt aber legte er den Wenn von der ehemaligen Benediktiner Brief zusammen und steckte ihn in die Taſche. | Abtei zu Tegernsee herauf die Glocken zum Ave Maria ertönten, da faltete sie mit Andacht Das Geldpaket aber nahm er wieder vom Tische weg und versperrte es in seiner Truhe. Dabei rief er unwirsch: "I werd mach'n, daß d' nit so bal hoam kimmst; i ſtell koa' Kaution und sollt da ganz Winta drüber vogehn -besser, er is ei'gsperrt, als daß er mir solche Dummheiten dahoamt macht! Dös Sakraments Stummer hat allemal d' Händ im Spiel, wenn's a Unglück gibt in mein' Hof! Aba da wird nix draus , daß i a solch landfremds Dirndl als Schwiegertochter annehmet. Liawa bleibt mir der verliabt Bua Jahr und Tag ei'gsperrt , nacha vogenga eam dengerst dö Faren!" Die Kaution wurde also nicht erlegt und
folglich blieb Franz gefangen. Der alte Rauecker machte, wenn ihn der Weg am untern Raueckerhof vorüber führte, einen noch weitern Umweg, als gewöhnlich schon der Fall war , denn er wollte weder Mirdei , noch weniger aber der Burgl begegnen. Nur in der Kirche blinzelte er verstohlen nach dem Stuhle der unteren
die Hände und die Trübsal ihres Herzens wich und machte der Hoffnung Platz, daß Franzls Unschuld doch noch an den Tag kommen und er bald wiederkehren werde, um sich nie mehr Und dann betete sie von ihr zu trennen. noch für jemanden , der ihrem Herzen teuer war, für ihren Vater. Burgl wußte bis jetzt von ihrem Vater nur, daß er sich in der Welt herumtreibe und sich nicht um sie kümmere. Er war für sie so viel wie tot und betete sie auch täglich für sein Wohl, so war dies eine aus der Kindheit herüber genommene Formel. Doch seit ihrer Anwesenheit auf dem Raueckerhof trat der Gedanke an ihren unglücklichen Vater wieder mehr in den Vordergrund. Mirdei war es, welche dieses veranlaßte. Auf ihrer Schiefertafel teilte sie dem Mädchen mit , daß ihr Vater am Bartholomänstage auf der Elendalm gewesen , daß fie Boten ausgeschickt habe, ihn suchen zu 49
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lassen und daß sie sich seiner annehmen wolle, wenn er gefunden. Seit Burgl das wußte, hoffte sie natürlich von Tag zu Tag auf Nach richt, wo nicht auf die Ankunft des Vaters, und so teilte sie ihre Gedanken zwischen diesem und dem Geliebten , zwischen ihren Wünschen und Hoffnungen . Freilich schwand ihre Hoffnung wieder mit dem abnehmenden Tage und je dichter die Nebel sich über den schönen Tegernsee ausbreiteten und die Berge verdeckten, je weniger die Sonnenstrahlen die graue Schichte durchbrechen konnten , desto düsterer ward es auch in ihrem Gemüte. Als endlich die weiße
führen, beteiligte sich der Schönecker Bartl nicht. Sah er sich von einem Aufseher verfolgt , so flüchtete er , seine Ware im Stich lassend, meistens bequemeren Wegen zu, und dachte nur an die Rettung seiner Haut. Mit der herankommenden rauheren Jahreszeit waren die Paschersteige im hohen Gebirge immer schwieriger und seltener zugänglich, je tiefer die weiße Schneedecke von den Spizen und Schneiten der Berge sich herabsenkte an den Hängen und über die Risse, Rinnen und Gräben .
Nachdem er den betrunkenen Finanzwächter unweit des Marchgrabens zu Boden geschlagen,
in den Rissen und Rinnen saß er dennoch fest und Bartl hatte oft in der schwierigsten und gefährlichsten Weise die ihm allerdings wohlbekannten Steige zurückzulegen. Schon hatte er, den hohen Miesing umgehend, den Abstieg begonnen , als er auf dem Jägersteige eines ihm gegenüber liegenden Berghanges zwei bayrische Grenzaufseher erblickte. Diese hatten den Schmuggler im gleichen. Momente erspäht und indem sie das Gewehr auf ihn anschlugen, riefen sie ihm ein gebieterisches „Halt !“ zu. Dem Bartl kam dies so unerwartet, daß er samt seiner Krayen zu Boden fiel , dabei mehrere Fuß hoch den Hang hinabglitt und so den Aufsehern aus den Augen kam . Schnell nahm er ein oben auf der Krare liegendes graues Leinentuch und wickelte sich in dasselbe .
Ein langer, anhaltender warmer Regen hatte Anfang Dezember die Schneemassen wieder geschmolzen und die Uebergänge mehr oder Schneedecke immer tiefer ins Thal herabwuchs weniger passierbar gemacht. Diese Gunſt der und der Schneefall den kürzesten Verbindungs- | Witterung wollte auch Bartl nicht unbenüßt weg nach Tirol, die Valepp unpaſſierbar machte, vorüber gehen lassen und deshalb übernahm er auf seiner Krare einen Transport Seidenda war ihr das Herz schon recht schwer und heiße Thränen floßen oft über die sonst so waren von Landl aus in der Richtung nach Neuhaus. Das Keloaschthal entlang suchte er frischen, jugendlichen Wangen. Dann war es zwischen der Auerspiß und der Maroldſchneid die stumme Godl, welche sie wieder aufzurichten suchte, indem sie zum Himmel deutete und die an die Rotewand zu gelangen , um von hier Worte auf die Tafel schrieb : " Hoffe und ver aus nach Geitau abzusteigen. Es war am traue!" Tage des hl. Nikolaus, als er beim Grauen des Morgens seinen Marsch begann. Das Wachthaus an der Grenze hatte er glücklich V. umgangen und einsam, aber rüstig schritt er Der Schönecker Bartl hatte inzwischen zwischen den Felsbergen auf schmalen, schlüpfe= wieder sein gewohntes Leben fortgesetzt. " '3 F rigen Steigen zwischen dem hohen Miesing und der Rotwand dahin. thuat ja eh nimmer der Müah a', daß i mi nomol verkehr!" Damit erstickte er jede Regung Bartlbereute es alsbald, sich in dieserJahresſeines Innern, wenn eine solche in oft schlaf- | zeit zwischen die Felsen hineingewagt zu haben, losen Nächten mit der Erinnerung an das denn hatte der laue Regen auch den Schnee stumme Mirdei Platz greifen wollte. von den hohen Graten und Schneiten genommen,
war er auf nur ihm bekannten Paschersteigen hinaus zum Innthale geflüchtet. Die Barschaft, welche ihm Mirdei in den Keiler (Joppentaſche) gesteckt, befreite ihn ja für die erste Zeit von Nahrungssorgen und nebenbei hoffte er auch wieder ein kleines Schmugglergeschäft zu finden, das ihm erlaubte , sich auf „ ehrliche Weise " durchzuschlagen. Wegen der Affaire mit dem Grenzjäger hielt er esfür angezeigt, sich einen etwas entfernteren Standpunkt zu wählen und so war es zumeist das Revier um den Wendelstein und Miefing, welches er beim Hinüberschmuggeln von Kleinwaren , meiſtens Zigarren, benußte. Bei Schmugglerbanden , welche bewaffnet oft mit den Grenzwächtern förmlich Krieg
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Die Pascher gebrauchen dies, um vom nackten sprang er auf, er fürchtete, die Grenzjäger hätten ihn entdeckt. Dann aber fühlte er, wie ihm Felsgestein nicht abzustechen und so das Auge der Verfolger zu täuschen. ſein Haar zu Berge stand, denn plößlich fuhr es „Bartl, bleib und wihrn ma uns ! " rief ihm in den Sinn, daß auf dieser Alm gleich jezt von unten herauf eine andere Stimme, jener im Totengraben unheimliche Gesellen die er sofort als die eines andern gefährlichen | einziehen, wenn die Hütten im Winter verödet und verwunschenen Spukgeistern zum nächtPaschers, namens Fleßberger, erkannte. Aber Bartl dachte nur mehr an seine persönliche lichen Unwesen überlassen sind . Gar sonderbar gruselnde Geschichten erzählt sich das Volk von Sicherheit, er ließ die Krare im Stich und dem höllischen Rumor, welcher oft hier herrschen kroch die Felsenwand entlang, jeden Augenblick Es sind meistens die Geister jener anhaltend und horchend. Da erdröhnte ein soll. Schuß. Wie ein rollender Donner hallte es Sennerinnen, welche einst hier gehaust und nicht an den Felsenwänden nieder. Es mußte dem zum Nutzen ihrer Dienstherrschaft gewirtſchaftet haben. andern Pascher gegolten haben. Bartl eilte unaufhaltsam vorwärts . So kam er an den Der entsetzte Bartl fand seine Lage fürchterihm wohlbekannten kleinen Bergjee, den Soinsee, lich. Er war in der Hütte eingeschlossen, und wollte er entfliehen, so konnte das nur wieder welcher hart unter dem Rechenstein liegt . Von durch das Dach geschehen. Er zog dieſes dem hieraus wollte er über den Sattel zwischen Bleiben vor. Er taſtete hinaus in den Kaſer, dem Rechenstein und der Rotwand den Weg stellte den Tisch an den Heuboden und hatte in die Valepp gewinnen , aber das Weitersoeben den Kopf durch die Dachluke gesteckt, kommen war über alle Beschreibung anstrengend . Völlig erschöpft fam er in der verlasseals er erschrocken zurückprallte. Er hatte an nen Wildfeldalpe an. Es dunkelte bereits . der Sennhütte eine große , schwarze Gestalt erblickt und sich bewegen sehen ; seine gereizte So fand er es für geraten, die Nacht hier Phantasie ließ ihn alles mögliche Unsinnige zuzubringen und sich eine Liegerstatt zu sehen , und wie ein Gedanke durchzitterte es verschaffen. Da Thüre und Läden verschlossen sein bißchen Gehirn, daß heute die „Niklowaren, konnte er nur mit vieler Mühe über Nacht" sei und da draußen vor der Hütte ins abdeckte, teilweise er welches das Dach, der Knecht Ruprecht fein anderer als Innere des Kasers gelangen. Im Stalle fand
er etwas Streu, und zum Tode ermattet warf er sich auf dieselbe. Zum Glück hatte er noch einen Schluck Branntwein in seiner Flasche. Er war in der schlimmsten Lage. Die wert-
seiner warte. Wohl sah er ein, daß an ein Entfliehen nicht mehr zu denken war. Er ließ sich wieder in den Kaser herab und kroch in ſeine Streu , es war ihm zu Mute wie dem Delinquenten vor der Hinrichtung. Alle Augenblicke meinte er die Gestalt im Stalle auf sich zukommen zu sehen und daß es seine letzte Stunde sei, das hielt er für ganz gewiß. Himmel und Hölle kamen ihm in den Sinn, Zum Kreuze namentlich aber die lettere.
vollen Seidenwaren hatte er für einen jüdischen Händler über die Grenze zu schwärzen , der ihm dafür hohen Lohn versprach -- jetzt war Dieser der Lohn und die Ware verloren . Gedanke ließ ihn zu feiner Ruhe kommen ; auch war er ganz durchnäßt, da er meistens auf Händen und Füßen hatte kriechen müſſen, | kriechen hielt er unter den gegebenen Umständen für das einzig Richtige und es mochte wohl um den Grenzaufsehern nicht sichtbar zu sein. Es fröstelte ihn ; er hatte kein Feuerzeug und schon recht lange her sein, daß er kein Vaterunser mehr gebetet, denn die Säße kamen ihm , fand auch in der Hütte keines , um auf dem sei es aus Angst , sei es aus Vergeſſenheit, Herde ein Feuer anzünden zu können. So heiter ganz durch und ineinander. Während er so der Tag gewesen, so unfreundlich und unheimlich hörte er deutlich an der äußeren Wand betete, schien die Nacht zu werden. Schon gegen vier Uhr nachmittags dunkelte es und eine Stunde der blockähnlichen Sennhütte fraßen und scharren. Heftige Winde später war es stockfinster. Der zum Tod geängstigte Bartl verlegte sich jetzt aufs Versprechen. Erst versprach er pfiffen um die einsame Alm. Bartl kroch unter die Streu und duselte so unserm Herrgott in kleinlicher , nachdem aber das Krazen anhielt , in nobler Weise alles einige Stunden dahin. Plötzlich wurde er durch einen fürchterlichen Schlag aufgeweckt. Entsett Mögliche und Unmögliche , Besserung , Geld,
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Wallfahrten, kurz , was ihm einfiel , er ver- läuten ? Was war das ? Es währte lange, sprach, der Mutter in Maria Stein aus dem bis er sich zurecht fand , dann aber war es ihm klar , daß das helle Geläute aus der geschwärzten Seidenzeug einen neuen Mantel nahen Valepp herkommen müsse und daß es machen zu lassen, wenn er morgen seine Kraye das Morgen- Ave Maria sei, zu welchem das wieder bekäme und dieselbe nicht in die Hände Glöcklein so lieblich einlud . Auch Bartl probierte der Aufseher geraten sei ; von dem Gelde des Juden wollte er den zwölften Teil in Wachs | sein Gebetlein. Da nun endlich der Morgen lichter nach Birkenstein verloben , dann den anbrach, war ihm auch der Mut wieder zurückgekehrt und mit Schrecken gedachte er der sechsten Teil und endlich die Hälfte. Jezt verschiedenen Versprechen bezüglich Maria Stein fiel ihm gar sein Kind, die Burgl, ein. Er schwur heilig , sich derselben anzunehmen und und Birkenstein. Gar so genau , meinte er, brauche man ein solches Versprechen, das ja daß es sein erster Gang ſein ſolle, das Mädchen doch mehr Erpressung war , nicht zu nehmen. aufzusuchen und sich um seine Erziehung zu kümmern, wenn er überhaupt nur lebendig Jest stieg er wieder zur Dachluke hinauf aus dieser Hütte käme. Das letztere Verund mit mehr Kourage als gestern nachts stedte er den Kopf hindurch. Aber ein Aussprechen mußte gewirkt haben, denn troß alles Lauschens hörte er nichts mehr. Er legte sein ruf des Entseßens entfuhr auch jetzt seinen Ohr an den Boden und horchte mit angeLippen. Bei dem Grauen des Tages sah er haltenem Atem alles schien ruhig, aber auch alles mit tiefem Schnee bedeckt und ohne Unterseine aufgeregten Nerven schienen sich beruhigt , laß schneite es in großen Flocken fort. Auf seinen Schrei bewegte sich etwas an der Sennzu haben, denn dem tiefen Atmen nach zu schließen, mußte der Geplagte in Schlaf verhütte und in mächtigen Säßen eilte ein prächtiger Hirsch von dannen, der die Nacht über unter sunken sein. Wohl schreckte er öfters aus dem Schlafe auf, aber die Müdigkeit verursachte dem vorspringenden Dache, das den Schneefall stets, daß er schnell wieder einschlief. Es träumte abgehalten, seine Ruhe gesucht hatte. Er war ihm, er sei ein ordentlicher Mann geworden, der mitternächtige Geist gewesen! Bartl hatte keine Zeit, sich über diese Entder sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit, und nicht auf unredliche Weise verdiene. Er deckung zu freuen , denn der tiefe Schneefall sah sich auf dem schönen ererbten Hofe , sah trieb ihn an, sich zu retten. Rasch verließ sich dort in einem neuen Anzuge , und die er die Hütte und schlug den Weg in das Thal der roten Valepp ein. Er verſank oft bis Leute, die ihn sonst verächtlich anblickten, grüßten ihn jest freundlich, und an seiner Seite stand über die Mitte des Leibes im Schnee und kam ganz ermattet im Thale an. Aber auch hier ein mit dem Myrtenkranz geschmücktes Weib, nahe bei ihm und hatte ihre Hand in die der Schnee schon mehrere Fuß hoch. Gegen den seine gelegt. Bartl sah ihr ins Gesicht und | Wohin sollte er sich wenden? Kaiſerzur oder zu ein glücklicher Seufzer löste sich aus seiner Spißingſee und Neuhaus Brust. klause? Er wählte das erstere, und ſo raſch „Mirdei ," sagte er leise, du bist es ? er es vermochte, stieg er das enge Thal hinauf, du stehst neb'n dem Verachteten ? du hast mir aber bald war es ihm unmöglich, weiter zu verzieh'n ?" waten. Die Schneemasse war fürchterlich. Er fehrte um und wollte zur Kaiserklause hinab, Die Traumgestalt blickte ihn freundlich an und nickte mit dem Kopfe. um von hier ins Innthal zu gelangen . Von „Und du hast mir verziehn ? " fragte Bartl Minute zu Minute wurde das Weiterkommen wieder, alles verzieh'n ? " schwieriger. An der engen Klamm, wo die Wieder nickte die Traumgestalt und lächelte. rote Valepp sich mit der weißen verbunden, Da hörte man das Läuten vom Kirchturme war das Durchkommen fast schon eine Unmögdes nahen Pfarrdorfes und er ging an Mirdeis | lichkeit. Bartl arbeitete sich endlich auch hier Seite zum Gotteshause, er ging zur Trauung ; durch und völlig erschöpft kam er in der Valepp an, wo die wenigen Ansiedler mit Schrecken er war glücklich, selig, ein fröhlicher Juhschrei plötzlich löste sich aus seiner Brust und den Schnee von ihren Häusern wegschaufelten, erwachte er. Ach , es war nur ein schöner der so plötzlich und wider alle Erwartung in Traum! Und doch — hörte er nicht das Glöcklein solch kolossaler Maſſe gefallen war .
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Bartl begab sich natürlich sofort über die Brücke zu dem Forsthause , welches , wie wir wissen, zugleich Wirtshaus ist. Der Oberförster, welcher vor seinem Hause stand, empfing den Ankommenden mit den gerechtesten Vorwürfen und fragte ihn, wie er bei solchem Wetter in die Valepp kommen könne und was er überhaupt hier wolle. Bartl log dem aufgebrachten Mann irgend etwas vor, aber dieser roch sogleich den Braten. Er merkte, daß er einen Pascher vor sich habe, den die Grenzjäger verjagt und der über das Gebirge flüchten wollte, aber vom Schneefall überrascht wurde und nun in der Valepp mit allen andern Inſaſſen gefangen ſize, bis der Schnee wieder auf irgend eine Weise beseitigt würde.
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jezt Herr und Kaiser, und ich werd dir's rechtzeitig zeig'n, daß ich die G'walt in der Hand hab. Weilst aber jezt zu unserm aufrichtigen Leid einmal da bist, alter Lump , ſo sollst sofort an d' Arbeit. Da nimm d' Schaufel und hilf den andern Schnee schaufeln. “ „Was ?" fragte Bartl überrascht, „i soll Schnee schaufelni ? Verlaubens, Herr Oberförster, i bin koa Taglöhner, i kaaf ma iaz a Glasl Wein und mach, daß i nacha dengerſcht viellei außi fimm über d' Johannklaufen nach Brandenberg. In meina Schreibtasch'n hon i no' an etli Guldenzettel!" - Er suchte scho' scho'no' nach der Tasche - aber welch Verhängnis! sie war nirgends zu finden. Jeßt siel es ihm
zu seinem Entseßen ein, daß er die Schreibtasche, worin sich auch mehrere Schriften befanden, nebst einigen Kleidungsstücken in der Krare aufbewahrt hatte, welche er gestern im Stiche gelassen. Diese Entdeckung war ihm um so mehr peinlich, als ihm schon mehrere Male
„ Du alter Lump, " sagte der Oberförster, ,was fang ich jezt mit dir an , wenn wir einige Monate eingeſchneit bleiben ?“ Bartl wurde freideweiß. ,,Was ? Eingeschneit ? Auf etli Monat ? der Gedanke kam , der gleich ihm versprengte Flesberger könne die Kraxe und nun auch sein Gnad'n Herr Oberförster, dös waar wohl no' dös Schrecklichst. Sollt's aber sein, so reichn Geld sich angeeignet haben. Ein Fluch drang ma uns d' Hand, daß ma ' s schwaar Schicksal | aus seinem Munde. Dann aber faßte er ſich und griff in die Hosentasche. Einen alten getrost mit anander trag'n und z'sammhalt'n beschmußten Geldbeutel hervornehmend , sagte im Unglück. " Dabei wollte er dem Oberförster die Hand er: „ Da hon i dengerscht no' fünf Zehnerl im Beutel, i muaß mei' Letts aufwend'n zu reichen. Dieser war aber nicht aufgelegt, mit I bin ganz meiner leiblichen Wohlfahrt. dem Schlemmer einen Pakt abzuschließen. „ Aussehn thust nicht, als ob du ein Handdadatert vor Kält, alſo laßt's mi eini, in die i bin a Gast." warm' Stub'n werk kenntest," sagte jeßt der Oberförster. „ Ein In diesem Augenblicke rief der Forstgehilfe groß's Unglück wär's grad auch nicht g’wesen, den Oberförster ab und dieser eilte, ohne des wennst aus dem tiefen Schnee heut nimmer rauskönna hättst. Ich mein , die Menschheit | Schlemmers nochmals zu gedenken, eiligſt fort. hätt's verschmerzt. Aber mach dich g'faßt, du Bartl aber begab sich in die warme Gaſtſtube und ließ sich „einen roten Tiroler“ geben. triegst saure Tag in der Valepp und du ſollſt Bald waren die fünf Zehnerl vertrunken und dran denken zeitlebens . Wenn ich dich nur so anschau, du schmieriger Kittel, so juckt's der Bartl machte sich auf den Weg gegen mich völlig, d' Hundspeitschen tanzen z ' lassen. " Brandenberg zu . Niemand achtete seiner. Er „ Was ? “ rief Bartl , der sich in seiner kam nicht weit ; schon in der Nähe der KaiſerMenschenwürde verlegt ſah, als der Oberförster klause, wo sich das Thal wieder verengt, sah er ein, daß ein Hinauskommen aus dieser Falle so wegwerfend von ihm und mit ihm sprach. „Hörn's, Gnad'n Herr Oberförster, dös is ja für heute nicht möglich sei und so kehrte er in ziemlich gedrückter Stimmung zurück in das dengerscht koa Benehmen geg'n unserein, an' Försterhaus in der Valepp, wo die Leute noch Tiroler, an' Unterthan vom Kaiser z ' Wean. Ja was moant's denn, wird der Kaiser von fortwährend Schnee schaufelten. Der Schneefall schien gar nicht mehr enden zu wollen . Man Desterreich dazua sag'n?" „ Der ließ dir höchstens fünfundzwanzig hinaufpelzen," meinte der Oberförster. „Ich will dir was sagen," fuhr er fort , „ dazu braucht man kein' Kaiser. Dahier bin ich
sah von der ganzen Gegend ringsumher nichts, nur dichte Schneeflocken wirbelten ohne Unterbrechung in außerordentlicher Menge hernieder. Die Arbeiter kamen soeben zum Mittags-
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brot herbei, das sie in der warmen Wirtsstube des Forsthauses zu sich nahmen. Bartl fam zur Thüre herein, als die dampfende Schüssel auf den Tisch gestellt wurde. gewaltiger Appetit regte sich in ihm ; außer dem Weine hatte er seit einem ganzen Tage nichts genossen. Er nahte sich dem Tische und mit etwas frech gutmütigem Tone fragte er : „Js 's erlaubt, mitz'esin ?" „Nein!" rief hinter ihm eine strenge Stimme. Der Oberförster war eben eingetreten und fah Bartls Beginnen. „Hast du Geld , so wird dir die Wirtschafterin bringen, was zu haben ist , hast du aber kein Geld , so kriegst auch nichts , bis du dir so viel verdient hast , daß Du kannst du dein Essen bezahlen kannst. Holz machen und wirst dann nach dem Ster bezahlt oder du kannst Schnee Bordersamst hast die Wahl."
schaufeln.
„ Gnad’nHerr Oberförster, “ ſtammelte Bartl, „ Des werd's dengerscht an' Unterthanen vom österreichischen Kaiser nit zuamuat'n woll'n, daß er an' boarischen Taglöhner macht. Ueberhaupt bin i heut scho' ganz matt und schlafri, i muaß mi a weng aufs Heu leg'n." "In d' Streuschupfen kannst dich 'nauslegen," sagte der Oberförster, aber weder zu essen , noch zu trinken kriegst ohne Geld. Verstanden ? So , und jezt probier's, wie lang du 's aushaltst. “
daß vom Himmel wirklich keine gebratenen Das Tauben für ihn herabgefallen seien. Glöcklein, welches gestern auf die Wildfeldalpe so freundlich hinaufgeklungen , tönte jet in seiner unmittelbaren Nähe. Er hoffte jeden Augenblick , daß sich jemand mit einer Frühsuppe nähern werde, aber vergebens ; es ward Mittag, und noch niemand hatte etwas gebracht. Nach zwölf Uhr kam der Oberförster . " Nun, wirst d' jezt arbeiten , Hallunk ?" fragte er. „Der Hallunk will nit !" entgegnete der Eigensinnige. " So kriegst auch nichts z' essen," sagte der Oberförster und schlug die Thüre hinter sich zu. Wieder ward es Nacht. Dem Bartl
ward es allmählich nicht mehr geheuer. I fann's nit glaaben, daß mi unsa Herrgott verhungern laßt," sprach er für sich hin. I bin amal zur Arbet nit gebor❜n und nit erzog'n. I kann als Mensch von mein' Schöpfer volanga , daß er für sei' G'schöpf ſorgt und andernfalls soll er's mit ' n Schnee a so richt'n , daß i morg'n außi und danni komm von dene Leutschinder."
Die Nacht verging ihm sehr unruhig . Der Hunger quälte ihn schon sehr ; er aß im Traume. fortwährend , ohne gesättigt zu werden , und erwachte er, so war alles Trug. Wieder läutete „I bin a Mensch, “ ſagte Bartl, „ und sorgt | das Glöcklein so hell in seiner Nähe, als es unser Herrgott für die Spaßen auf ' m Dach Morgen wurde. Bartl fühlte sich schon sehr und die Würmer in der Erd', so wird er aa schwach. Er wußte nicht, was er von unserm Herrgott denken sollte und sinnierte so vor sich für unseroan , für Einen Menschen “ , seßte er hochdeutsch hinzu , „sorgen. Ja , wer mi hin bis zum Mittagläuten. daschaffen hat, der soll mi aa danihrn! I Da hielt er es nicht mehr länger aus . Er fann nit arbeiten und mit fufz'g Jahr lernt sprang auf und sagte mit bitterem Tone und einen vorwurfsvollen Blick gegen den Himmel ma's aa nimmer, folglich is ' s schlechterdings a werfend : „ Schau, dös hätt'i dengerſcht nit Schuldigkeit, daß unser Herrgott , wenn i da wirkli lasset von unserm Herrgott glaabt eingſchneit bin und durch's Paſchen nix vodean , für mi sorgt. Jäß geh i in d' Streuſchupfen er mi dahungern !" Er sprach dieses unter ganz eigentümlichem Kopfschütteln. und steh nit ehnder auf, bis i was 3 ' essen Jetzt öffnete sich die Thüre und der Obertriagt hon." Und er ging. förster erschien wieder, wie gestern, in derselben. Der Oberförster lächelte ihm nach . Nur trug er heute etwas in der Hand, was „Wart nur, Vogel," sagte er, du pfeifst einer Hundspeitsche ganz verzweifelt ähnlich jah. morgen schon, wie ich's haben will. “ Bartl hatte sich in die Waldstreu einge"Jett frag ich dich zum letztenmal, willst graben und wartete hier auf baldige Erlösung. | gleich arbeiten oder nicht ? " rief er Bartl zu. Die Nacht war bald hereingebrochen und er "1 Gnad'n Herr Oberförster ," entgegnete ſchlief mit hungerigem Magen sehr gut. Beim dieser, „ da Gscheita gibt nach – i will arbet'n ,
Erwachen bemerkte er aber sehr unangenehm,
aba z'erst muaß i was z ' essen und z ' trinken.
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friegen, damit i wieda zu Kraft fimm und nacha waar mir halt a ſizende Arbet die liabſte. " „ So ?" antwortete der Förster. „"1 Eine liegende wäre dir vielleicht noch lieber. Aber darum handelt es sich nicht , was dir lieber ist. Komm jezt und ich werde dir sagen, was du zu thun haſt. “ Der Oberförster verließ , vor sich hinlächelnd, die Streuſchupfe ; Bartl trottete hinter ihm drein. Am Forsthause angekommen, gab er ihm eine Schneeſchaufel und bezeichnete ihm einen Fleck, welcher von dem wenigstens sechs Schuh hohen Schnee frei gemacht werden mußte. „Mit der Arbeit kannst du fertig werden, bis es Nacht wird ," sprach der Förster. „ Sieh halt zu, wie sich's mit hungrigem Magen arbeitet. Ich hab dir nicht geschafft , zu faullenzen und nichts zu verdienen. Bist du fertig, so erhältst du eine warme Suppe und ein Seidel Bier. Also frisch angefaßt!" Bartl nahm die Schaufel mit einem verzweiflungsvollen Blick in die Hand und begann seine Arbeit . Der Förster sah ihm lange zu. Anfangs ging es sehr ungleich. Bartl stöhnte und seufzte , schlug die Arme übereinander, um die Hände zu erwärmen, denn es war sehr kalt, und blickte hier und da zum blauen Himmel hinauf, als wollte er sagen : ?? So weit hast es jetzt mit mir bracht, so tief hab i ſinken müaſſ'n, daß i als Schneeſchaufler arbeten muaß, wie a g’meiner Mensch ! " Aber es half jezt nichts mehr . Sein Magen trieb ihn zur Eile an und nach und nach schaufelte er in gleichmäßigem Takt und sah mit Wohlgefallen, daß der Fleck immer kleiner wurde. Auch der Förster, welcher ab und zu ging, sah dies und er glaubte, daß er dem Halbverhungerten jeg ein wenig beistehen dürfe ; deshalb rief er Bartl in das Haus und ließ ihm heißen Kaffee und ein Stück Brot geben. Bartl war von diesem Anblick tief gerührt. Unwillkührlich nahm er seine Müze ab und that, als ob er ein Tischgebet verrichte, dann aber verschlang er das Dargereichte mit nie geahntem Wohlbehagen. Leider war er damit zu bald fertig. " Wenn du mit deiner Arbeit ganz fertig bist, friegst wieder etwas," sagte der Förster. Bartl stand auf, ohne ein Wort weiter zu verlieren, und eilte aus der Stube zu seiner
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Arbeit. Jest ging es schon besser von ſtatten und nach einigen Stunden war er mit der Aufgabe zu Ende. Wie schmeckte ihm jezt die Suppe und das Seidel Bier!
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An ein Fortgehen aus der Valepp war nicht zu denken ; die Wege nach Nord und Süd waren vollständig verschneit. Die anwesenden Holzarbeiter erklärten dem Bartl auf seine Frage , daß sie darauf gefaßt seien, drei Monate hier eingeschneit zu bleiben. Dem Bartl glich das wie ein Todesurteil. Drei Monate gefangen, drei Monate arbeiten! „Dös halt i nit aus ! " rief er. Aber andern Tages in aller Frühe sah man ihn schon wieder Schnee schaufeln. E3 mußte die Strecke zur Kaiſerklause , wo gewaltige Massen von Holz aufgespeichert lagen, von Schnee freigemacht werden , damit die Holzarbeiter dort wieder ihre Arbeit beginnen. konnten. An dem frohen Mute der übrigen Arbeiter konnte sich Bartl ein gutes Beispiel nehmen. Sie sangen und pfiffen und häufig löste sich ein Juhschrei aus ihrer Brust. Bartl bekam bei jeder Mahlzeit sein Essen und wußte. selbst nicht, wie es kam : nach wenigen Tagen war er mit seinem Schicksale ganz ausgeföhnt. Er wurde jegt beim Holzmachen verwendet und bekam für Verarbeitung jeder Klafter seine Tare. Er konnte das , was er verdiente, bald nicht mehr verzehren, denn der Oberförster ließ ihm nicht mehr geben , als er durchaus nötig hatte. Dasjenige Geld, das dann übrig blieb , wurde für Bartl in eine Sparbüchse gelegt , damit er , sobald die Paſſage wieder frei, nicht als Bettler fort müſſe. Am Sonntag war Gottesdienst im kleinen Kirchlein, Frau und Tochter des Oberförsters sangen zu der Orgel , die er spielte. Am Altare waren sämtliche Lichter angezündet und stand auch kein Priester an demselben, es war doch so weihevoll und zur Andacht stimmend, daß Bartl gar nicht wußte, wie ihm geschah. Es war ihm, als schmelze eine starke Eiskruste, die sein Herz umschloß, nach und nach ab, als dringe wohlthuender, erwärmender Sonnenſtrahl hinein in den sonst so kalten Raum. Nach dem Gesange las der Oberförster das Evangelium vor und dann wurden von den Anwesenden einige Vaterunſer laut gebetet. Dem Bartl war eigentümlich zu Mute. Am Nachmittag sah man ihn schon zeitig wieder in das Kirchlein treten und in der
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lesen waren : „ Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden , die eines guten Willens sind." Bartl fühlte sich eigentümlich bewegt. Es war ihm, als riefen ihm die Engel selbst diesen schönen Spruch zu . Ein heftiger Thränenstrom ergoß sich aus seinen Augen ; es waren die ersten Thränen nach langen, langen Jahren. Er ließ sie fließen und dieser Erguß that ihm gesund zu machen , bleibt halt doch immer die unendlich wohl. Arbeit." Der Mond schien zum Fenster herein, am Rasch vergingen jezt dem Bartl die Tage Himmel flimmerten Millionen Sterne und und Wochen. Weihnachten war herangekommen. die vom Mond beschienenen Spißen des SonnDie Freude, welche am heiligen Christabend wendjoches und des Schinders schienen neudie ganze christliche Welt erfüllt , trieb auch in gierig herab zu blicken in das stille Gebirgsdem von allem Verkehr abgeschlossenen und thal und zu dem beleuchteten Kirchlein , aus von hohen, schneebedeckten Bergen umgebenen welchem die Jubeltöne gläubiger Christen zu Dertchen in der Valepp ihre Blüten. Auch ihnen emporhallten , von unsichtbaren Engeln in dem einsamen Forsthause jubelten heute weiter getragen bis hin zu den Sternen, wo frohe Herzen um den hellerleuchteten , mit sie sich mit den Gesängen von Millionen angoldenen und silbernen Nüssen geschmückten | dern Stimmen aus dem ganzen Erdenrunde Baum . Sämtliche Arbeiter wurden vom vereinigten in dem Gesange : „ Ehre sei Gott Oberförster eingeladen, die kleine Chriſtbein der Höhe und Friede den Menschen auf scherung mit anzuſehen und jeder erhielt irgend Erden , die eines guten Willens sind . “ eine Kleinigkeit. Bartl , welcher zum erstenmale so etwas sah, konnte sich an dem hellstrahlenden ChristVII. baum kaum satt sehen und als ihm die Frau An diesem Abend saßen am Untern RauOberförsterin ein Paket mit warmen Socken hintersten Bank lange verweilen. Am nächſten Morgen war er der erste auf dem Arbeitsplaye. Eine gewisse Heiterkeit zeigte sich in seinem Gesichte und wenn er des Mittags zum Essen ging, fonnte man ihn vergnügt pfeifen hören. Der Oberförster bemerkte mit Vergnügen diese Aenderung, welche mit dem Paſcher vorgegangen war. Er sagte oft zu den Seinigen : „ Das probateste Mittel, Geist und Körper wieder
und einiger Wäsche nebst etwas Süßigkeiten überreichte, rannen ihm die Thränen über die
eckerhof , nachdem alles spiegelblank geſcheuert und für die Christtage zurecht gerichtet war,
Wangen herab. Ein Streifen Papier lag auf seinem Geschenke, darauf standen die Worte : „ Arbeit ist des Lebens Würze " . Warum mußte Bartl heute immer an sein Kind, an seine Burgl denken ? „Wenn's ias bei mir waar!" sagte er zu sich selbst. „Mei' Burgl soll sich nimmer schaama müass'n über ihren Vodan. I kann ia arbeten und nur für mei' Burgl will i von nun an sorg'n.“ Nach der Bescherung wurde in dem Kirch lein die Christmette abgehalten, das heißt, es wurde dort ein schönes Weihnachtslied geſungen, in welches alle Anwesenden mit einstimmten. Hell war das Kirchlein beleuchtet und auf dem Altare stand ein allerliebstes Christkindl mit krausem Haar und goldenen Kleidern, die goldene Erdkugel in der Hand haltend . Ueber demselben waren zwei Engel angebracht, welche ein weißes Band hielten , auf welchem mit großen goldenen Buchstaben die Worte zu
das stumme Mirdei und die Burgl zusammen an dem großen Ectisch in der warmen Stube, und Burgl betrachtete anscheinend mit großer Freude die vor ihr liegenden Kleidungsstüce, die silberne Halskette und das schöne Geschnür mit alten Schaumünzen. Das Dirndl wurde nicht satt , ihrer Wohlthäterin mit den herzlichsten Worten zu danken und Mirdei war ganz selig, daß es ihr , wie sie meinte, möglich war, dem Mädchen eine solche Freude zu machen und ihr auf Augenblicke den tiefen Herzenskummer zu verscheuchen , den Burgl über Franzens Schicksal hatte. - In ihrem Leben hatte das Mädchen noch keinen solchen Christabend mit ſo reichlicher Bescherung gehabt , aber halt die Hauptsache fehlte j der Franzl ! Er ward erst vor wenigen Wochen abgeurteilt, der Körperverleßung an dem Finanzwächter für schuldig befunden und mit einem Jahre Kerker bestraft. Nach seiner Verurteilung hatte er nochmals an Burgl geschrieben
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und sie getröstet ; er versicherte ihr nochmals heilig, daß er an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen ganz unschuldig sei und er hoffe, daß sein Vater auf dem Wege der Begnadigung für ihn eine Abkürzung der Strafzeit erwirken werde, nachdem er ihm seine erste Bitte über die Erstellung einer Kaution behufs seiner freien Prozessierung unerfüllt gelassen. Burgl wußte wohl die Ursache von des alten Raueckers Hartherzigkeit. Dieser hatte es einmal dem Geißwastl am Heimwege von der Kirche absichtlich mitgeteilt, damit Burgl über des Alten Gesinnung nicht im Unklaren sei , und der ?? Geißbua" rapportierte alles gewissenhaft wieder. So hatte Burgl Ursache genug, oft recht traurig zu sein; dann aber nahm sie regelmäßig Franzens Briefe aus ihrem Mieder , und es war ihr, als gewährte ihr das Lesen derselben eine süße Beruhigung und als ob frische Hoffnung und neuer Mut in ihr Herz einzögen. Auch jezt , angesichts der reichlichen Weihnachtsgeschenke zog sie jene Schreiben wieder hervor und las sie mit einer Art Andacht vom Anfang bis zum Ende. Das stumme Mirdei ahnte wohl den Gedankengang des Mädchens , sie streichelte ihm Haar und Wangen und holte dann die Zither herbei, Burgl einladend, etwas zu spielen und zu singen. „Das lindert den Schmerz und erhebt das Herz!" sagte sie ihr durch Zeichen und Burgl konnte Mirdeis Wunsch nicht widerstehen. Schon oft hatte sie der Stummen an den Feierabenden vorspielen und vorsingen müssen , auch heute konnte sie es nicht verweigern und war sie in ihren Gedanken bei Franzl, so sollten auch ihre Töne ihm geweiht sein, indem sie das Lied sang , welches ihr Franz auf der Elendalm zuerst zugesungen : I woaß '3 nit und i woaß ' s nit, Was ' s heunt mit mir is ! Mirdei lauschte den sanften Tönen mit Andacht. Ach, so hatte auch ihr einstens der Liebste vorgeſungen ! Wo wird er sich heute aufhalten ? Wird er frieren, hungern ? Wenn er doch noch einmal käme! Der Anblick seines Kindes würde ihn vielleicht bessern. Zeigte er denn nicht schon, daß er sanfterer Regungen noch fähig ? Die Szene auf der Elendalm schwebte ihr fortwährend vor den Augen. Wieviel der Entschuldigung fand sie für Bartl !
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Er war ja auch nur das Opfer seiner habsüchtigen Eltern, die ihn gezwungen, ſie, das treue arme Dirndl zu verlassen und ein Weib zu nehmen, das er nicht liebte. So arbeitete sie sich in ihren Gedanken den so tief ge= sunkenen Bartl wieder heraus und suchte ihn wieder dem einstigen, so geliebten Manne näher zu bringen. Weihnachten und Neujahr waren vorüber, doch die Gedanken, Hoffnungen und Wünsche der beiden Frauen blieben stets dieselben; sie beschäftigten sie am Tage während der Arbeit und besonders des abends, wenn sie an dem schnurrenden Rade saßen und um die Wette zu spinnen schienen . Außer deren beiden Rädern schnurrten noch zwei , eines , welches die alte Hoamdirn und das andere , welches der Geißwastl trieb , der es sich nicht nehmen. ließ , mit seinen alten Füßen das Rad zu drehen, während er seinen gekrümmten Rücken möglichst nahe an den großen grünen Kachelofen drückte. Ermüdete ihn das Spinnen, ſo nahm er das Spanmesser zur Hand und klubte aus dem getrockneten Fichtenholze „ Spo'spreißl" (Späne) . Sein Sprachorgan sette er sehr wenig in Bewegung , man hörte ihn nur in kurzen Zwiſchenräumen seufzend aber mechanisch : „Jo , jo ! " oder : „ Aa so !" rufen ; wenn aber Burgl zu singen begann , dann brummte er auch mit , gleich einer schlaffen Baßsaite, und wenn es ihm so recht geftel, schlug er mit der flachen Hand auf seinen dürren Schenkel und verzog sein altes Gesicht zu einem eigentümlichen Lächeln. Dann dachte er doch etwas, so sehr er sich auch Frau Ursula gegenüber vor dem Denken verwahrte ; denn gewisse Erinnerungen tauchten in seinem Gehirn auf ; der arme alte Geißbua dachte an den armen jungen Geißbuam und sein Lächeln zeigte , daß er halt doch auch seine schöne Erinnerung an die Jugendzeit hatte, so einförmig sie ihm auch verflossen sein mochte, und nicht umsonst fiel ihm dann das Schnadahüpfl bei : Auf der Alm' is a Leb'n, 'Skann koa freiers nit geb'n, Und ma' nimmt, was ma' find't Auf der Alm gibt's koa' Sünd'! Sonst waren seine Gedanken nur im Stall und beim Tegernseer Viehmarkt, der im Frühjahr abgehalten wird und wozu auch vom Unter Rauederhof alljährlich mehrere Pracht50
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exemplare von Kalben durch ihn getrieben und | mehr weiter schleppen und sei am Wege verkauft wurden , wobei immer einiges Trinkerfroren. geld für ihn abfiel. ― „Der Herr gib eam die ewi Ruah!" Langsam für ihre Sehnsucht nach dem sagten die Leute und gingen kopfschüttelnd von Geliebten und doch wieder schnell für die raft- | dannen. Andere fragten, ob denn kein Pfarrer los thätige Burgl waren ihr die traurigen den Verunglückten beerdige. „Mit dem macht ma' nit viel Umſtänd !“ Wintermonate hinübergegangen. Heftige Regengüsse und laue Winde schmelzten den Schnee. lautete die Antwort. Wie hoaßt denn nacha der Kampl ?" von den Bergen , die verschneiten Holzwege wurden wieder paſſierbar und der Weg durch fragte der Geißwastl den Fuhrmann. "I moan, ' n Schönecker Bartl ham s' ' n die Valepp öffnete sich wieder dem Verkehre mit Tirol. Burgl glaubte sich dadurch dem g'nennt , " erwiderte der Gefragte , „ von mir in Rattenberg gefangenen Franzl wieder näher aus , i hon mei' Fuhrlohn kriegt und mach gerückt , und lebhaft beschäftigte sie sich mit daß i hoam kimm !" Damit fuhr er mit dem Wagen weiter. dem Gedanken, ihn aufzusuchen und ihm mit ihrer Liebe zugleich Trost und Mut zu bringen, Auch die Leute hatten sich entfernt bis auf daß er die schlimme Zeit seiner Haft noch gott | zwei Frauen , welche wie angebannt ſtehen ergeben überdauere. Nach dem Markte in blieben. Es war Mirdei und Burgl. Beide Tegernsee sollte dies ausgeführt werden . Mirwaren kreideweiß. „Mei Voda ! Mei arma Voda ! “ rief Burgl dei gab hierzu nicht nur gerne ihre Einwilligung, sondern erbot sich, selbst die Reise mit- und Thränen stürzten aus ihren Augen. Mirzumachen , nicht erst durch die noch immerhin dei hielt ihr den Mund zu und gab ihr durch schwer paſſierbare Valepp, sondern mittels der Zeichen zu verstehen , sie solle sich nicht verraten. Aber Burgl riß sich los und eilte dem Eisenbahn , wobei sie schneller und bequemer ihr Ziel erreichen konnten. Sarge nach. Mirdei folgte ihr. Mit Thränen in den Augen und ihrer selbst kaum mächtig, Alles war zur Reise hergerichtet. Der Tegernseer Viehmarkt war heute und der Geiß- hatte sie das Dirndl eingeholt , als es sich wastl hatte vier der schönsten Stücke hin zu soeben vor dem niedergestellten Sarge niedertreiben, wobei ihm Mirdei und Burgl behilfwarf. Burgl ward durch die plößliche Unlich waren. glückskunde und das traurige Geschick ihres Als sie in Egern am Friedhofe vorüberVaters so ergriffen , daß sie an dessen Sarg Die fast in trampfhafter Weise schluchzte. kamen , sahen sie , wie von einigen Männern gerade von einem mit Ochſen beſpannten Wagen ein aus ungehobelten Brettern bestehender Sarg herabgenommen und zur Totenkapelle, oder zum sogenannten Beinhaus, getragen wurde. Viele Leute blieben stehen und fragten , wer hier so armselig ohne allen Sang und Klang begraben würde. Nur der Eigentümer des Ochsenfuhrwerks konnte Auskunft geben. Er erzählte, daß die Leiche von Holzarbeitern in der Valepp, in der Nähe des Neualpenthales, gestern gefunden worden sei , und nach den Papieren, welche in seiner mit schweren Seidenstoffen beladenen Krare sich vorgefunden , sei der Verunglückte ein Pascher von einem nahen tiroliſchen Grenzorte, der zu Anfang Dezember ins bayrische herüber schwärzen wollte , von Grenzaufsehern aber durch einen Schuß verwundet und verschlagen worden sei. Wahrscheinlich konnte er sich bei dem plöglich eingetretenen großartigen Schneefall nicht
Träger des Sarges konnten sich nicht erklären, in welchem Zusammenhange das schöngekleidete Mädchen und die Godl der Raueckerin zu dem Verunglückten stünde. Nur der Geißwastl wußte es und er stillte auch die Neugierde der Männer , indem er sagte : „ Mei', dem Dirndl sei' Voda is aa erfrorn und so hat's halt Bedauernis mit an' iäd'n, den a solches Unglück betrifft. " Das war den Leuten begreiflich und mit Bedauern blickten sie nach der weinenden Burgl. Mirdei lohnte es dem Geißbuben durch einen dankbaren Blick. Im hintersten Winkel nahe der Mauer
wurde ein Grab gegraben , in welches ohne jede kirchliche Feier der Sarg gesenkt werden. sollte. Mirdei nahm jezt Burgl unterm Arm und schlug mit ihr den Weg zum Pfarrhause ein und schrieb dort auf ein Papier, daß sie für den Verunglückten eine kirchliche Beerdigung
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und eine stille Meſſe wünsche und hierfür die Kosten bestreite. Der Pfarrer erriet sogleich den Zuſammenhang. Er wußte vielleicht allein in der Gegend von Mirdeis einstigem Schicksal und als ihm diese vertraute, daß Burgl die Tochter des Verunglückten sei , ſuchte er das Mädchen in herzgewinnender Weise zu trösten , riet ihr aber , dieses Geheimnis gegen andere Leute zu bewahren, da ja niemand zu wissen brauche, daß sie die Tochter des verunglückten Paſchers ſei. Sobald das Grab fertig, nahm der Pfarrer die Einſegnung und Beerdigung der Leiche vor. Die Glocken läuteten vom Turme und fast aus jedem Hauſe kamen Leute , um aus christlicher Barmherzigkeit dem Verunglückten das lette Geleite zu geben. Mirdei und Burgl folgten dem Sarge mit unaussprechlichem Schmerze. Sie begruben ja mit dem Toten so viele Hoffnungen , die ihnen die Zukunft so schön erscheinen ließen und als der Geistliche sein Gebet mit den Worten schloß : „Herr, gib ihm die ewige Ruhe," riefen sie unter heißen Thränen : „ Amen !" Traurig schlugen sie dann den Weg nach Hause ein ; da weinten sie wohl den lieben langen Tag. Mirdei hatte den Viehhandel dem Geißwastl allein überlassen, sie dachte gar nicht mehr an ihn , troßdem er gegen alle Gewohnheit lange ausblieb. Wastl hatte seine Kalben glücklich an den Mann gebracht und das reichliche Trinkgeld, das er erhielt , ließ es ihn wagen , einen Gang ins Wirtshaus zu machen. Der Ober-Rauecker hatte schon während des Marktes öfters unwillig auf das schöne Vieh geblickt, welches von dem Hofe kam, der von Rechtswegen jezt ihm gehören sollte und das ein schönes Stück Geld eintrug. Die Neugierde trieb ihn jezt an, sich zu dem Geißbuben zu sehen und ihn über alles , was im Hofe vorging , ?? auszu fratscheln" . Er hatte auch von weitem gesehen, wie Burgl und Mirdei über den Tod des Paschers traurig thaten und er wollte hierüber von dem alten Buam Auskunft haben. Dieser verhielt sich zurückhaltend ; der Rauecker merkte aber gleich, daß ein Geheimnis dahinter stecke, ließ roten Tirolerwein kommen und hieß den Geißwastl mit ihm trinken. Was er erreichen wollte , gelang ihm ; der des Weines unge wohnte Alte wurde alsbald betrunken und teilte nun dem Rauecer unverhohlen mit , daß der
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heute in Egern Begrabene niemand anders als Burgls Vater und Mirdeis ehemaliger Bräutigam, der Schönecker Bartl , sei, wegen deſſen Untreue Mirdei ihre Sprache verloren . " Und die Tochter von an' solchen Lumpen will Bäurin wer'n aaf mein' Hof ?" rief der Rauecer unwillkürlich aus. „Da wird nig draus, so lang i meine Aug'n offen hon ! Liaba enterb i mein Buam und vermach ' n Hof, wie mei' Bruada, aa r an' fremd'n Menschen, als daß i a ſolche Schand duldet. “ Aber noch etwas vertraute ihm der betrunkene alte Wastl an , nämlich , daß seine Bäuerin morgen in aller Frühe mit Burgl nach Rattenberg fahre, daß Mirdei viel Geld für diese Reise hergerichtet habe und aller Wahrscheinlichkeit nach der Zweck derselben ſei, Franzl nicht nur zu besuchen , sondern ihn auch frei zu kaufen von seiner Strafe , wenn das möglich sein sollte. Diese Nachricht brachte den alten Rauecer
erst noch ganz auseinander. „ So wäret die G’ſchicht abkart' ? “ rief er, „daß i's nur woaß ! Da is koa' Augenblick zu verliern , dös Pascherdirndl foll's wissen, daß für sie koa' Play aaf mein' Hof is und daß ' s die Roas aaf Rattenberg dasparn ko'. Heunt no', glei iaget geh i donni zu ihr und sag's ihr brüahwarm, wie ri ' s denk." Er ging zu gleicher Zeit und in schon vorgerückter Stunde mit dem wackeligen Geißbuben nach Hause. Im Unteren Raueckerhofe kehrte er zu. Bereits war es Nacht. Er traf die beiden Frauen in der Stube, die von einer hängenden Dellampe beleuchtet war. Mirdei und Burgl waren nicht wenig überrascht, den beleidigten Nachbar bei sich zu sehen . Mirdei gab ihm ein Zeichen , sich zu ſehen und war begierig, zu hören, was den Bauer noch heute zu ihr führe. "I bin grad kemma, " begann der Rauecker, „um Enk z'sagn , daß i 's woaß , wenn ' s heut z ' Egern begrab'n hab'n. Bislang woaß 's no' Neamd, als i, morgn aba foll's rings um an Tegernsee bekannt wer'n, daß 's ' n Mirdei ihr ehemaliger Schatz und dem Dirndl da sei' Voda gwen is , der als Pascher daschoss'n wor'n is , wennst mir iat nit glei schwierst," dabei wandte er sich an Burgl , „ daß d' von mein' Franzl nix mehr wissen willst, 'n niermals aafsuachst und für ewi Zeiten abwihrst, wenn er amal hinter die kemma ſollt. “
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Mirdei stand stolz auf und drohte dem Auch der alte Rauecer lag jezt auf den Nachbar verächtlich mit der Faust ; zu Burgl | Knieen. aber machte sie eine verneinende Bewegung. „Wenn der Alt a Gspenst is ," rief er, „ is Burgl fühlte, wie tief die Beleidigung des da Jung aa oans. Heiliger Wendelin , steh alten Raueckers in ihrem Herzen saß , aber mir bei!" Daß er beide Gespenster durch auch sie hatte sich erhoben und antwortete jezt seinen dummen Schwur herbeigelockt, das ſtand mit fester Stimme : „Rauecker , was d' mir nun in ihm fest, wie aber sie wieder fortbringen ? drohst z'wegn mein' Voda, ſo hab i mi heunt Er winkte mit abgewandtem Gesichte mit dem nit g'scheut , hinter seina Bahr drein z ' gehn Hute nach der Thüre und schrie : „ Außi ! Außi ! “ und scheu mi nit, offenkundi z' mach'n , daß der „ Na, na, bleibt's nur da !" sagte jetzt Burgl Verunglückte mei ' arma Voda g'wen is , so und schlug in die dargereichte Hand des Mannes, den ihr Franzl als ihren Vater bezeichnet hatte. weni si dei' Franzl scheu'n wird, di als sein' Vodan anz'kenna . “ Der Schlag ihres Herzens sagte ihr, daß es ,,Staad bist, du Dirn!" schrie der Rauwirklich ihr Vater ſei, der sie jezt an sein Herz ecker, sich vergessend . „ Und extra is ' s g'schworn : 30g und ihr die Stirne küßte. so weng kimmst du als mei' Schwiegatochter ,,Du bist mir nimmer fremd," sagte sie. „ I moan, wir hätt'n uns vor nit langer Zeit aaf 'n Raueckerhof , so weng heunt no' mei' Franz mit dein ehrlinga Voda für d' Stubenwo g'sehgn ? " thür einageht. " " In der Valepp is ' s g'wen," entgegnete Wutentbrannt öffnete er diese , um sich zu Bartl, „ wo du di ſo freundli um mi, den veran demseln lumpt'n Mo', ang'nomma hast, entfernen da prallte er entfest zurück in die Stube. Tag, wo mi der Finanzwachta am Weg Ein zweifacher Schrei hallte durch das hat z'sammhau'n woll'n und i eam zuvorkomma Gemach; von Mirdei ein Schreckens , von bin. Leider Gottes ! hat da Franz für mi Burgl ein Freudenſchrei, denn in der offenen büaß'n müassen. I hon dös erst vor acht Tag erfahrn, wie r i aus der Valepp, wo ' s Thüre standen zwei Männer : der Schönecker Bartl und der Rauecker Franzl. mi über drei Monat ei'gschneit hat g’habt, furt „Dei' Voda , 'n Bartl sei' Geist !" schrie finna hon, um di, Burgl, bei deina Ziehmuatta Mirdei , entsetzt nach dem vermeintlichen Ge= aufz'suachen. Da hon i nacha alles erfahr'n. spenste des erst heute Begrabenen starrend. Schnell bin i zum G'richt in Rattenberg und Burgl erschraf weniger über Mirdeis hon die Freilassung vom Franz dawirkt. Sunst Worte, als darüber , daß sie sprechen konnte, hon i ja aa nix , was i dir Freudigs mitweniger über den Fremden , welchen sie nicht bringa funnt, mei' liabs Kind ; i moan aba, fannte, als über das unerwartete Wiedersehen i hon dir scho' ' s Best bracht. “ des Geliebten. „Ja, dei' Voda hat mi frei g'macht," be Auch der alte Rauecker stand betroffen. stätigte jezt Franz noch einmal. „ An_brav'n, Er konnte vor Erstaunen kein Wort hervor fleißig'n Mo' hat ' n der Herr Oberförster in bringen , aber Franzl eilte auf ihn zu und da Balepp g'hoaß'n, wie ma heunt durchi san. rief: „Grüaß di Gott, Voda und di, Mirdei , Liaba Freund hat er ' n g'hoaß'n und bitt hat er ' n fredi , daß er bal wieda z'ruckemund di , mei' liawe Burgl ! Dei' Voda hat mir d' Freiheit bracht," fuhr er zu leßterer ma soll. “ Der alte Rauecker hatte sich jezt auch wieder gewendet fort , bei eam kannst di bedanka, wenn's di g'freut, daß d' mi wieder sieghst " gesammelt, ebenso Mirdei, welche die Engel im „ Mei' Voda ?" rief Burgl den ihr Nahen Himmel singen zu hören glaubte, als Franzl den erschrocken anstarrend. in so lobender Weise von Bartl sprach. Der „Bartl, “ rief jezt Mirdei, „ du bist heunt Mann sah auch ganz anders aus, wie dazunit eingrab'n wor'n ?“ mal am Almakirta. Er hatte eine reinliche ,,Alle guat'n Geister loben Gott den Herrn, Joppe an und auch auf sein Aeußeres mehr Aufmerksamkeit verwendet, so daß er einem gesag, was is dein Begehrn ? " stotterte der eben eingetretene Geißwastl und sank so plötzlich setzten, noch rüstigen Manne glich. auf die Kniee , daß seine alten Kuochen laut Bartl hatte jezt seinen Blick auf Mirdei frachten. gerichtet , welche ihm beide Hände entgegen-
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streckte und sagte : „Bartl ! In der unglück- | wahrscheinlich hatte er sich verblutet und ward lichsten Stund in mein' Leb'n haft mir mei' dann eingeschneit. Da man in seiner Kraye Sprach g'numma, heut hast mir's wieder verdie Papiere des Schönecker Bartl fand , eine schafftgelt's gelt's Gott dafür. Du sollst koa' | Nachfrage nach demselben ergab , daß er seit Not mehr leid'n, ſo lang als d' lebst. I sorg Dezember verschollen sei , so nahm man mit für di und für dei' Burgl. Und woaßt, du Sicherheit an, daß die aufgefundene in blutigen grantiger Rauecer," fuhr sie fort, sich zu dem Kleidern befindliche Leiche nur die des Schönecker Bartl sein könne, und unter dieſem noch ganz verdußt dastehenden Bauern wendend, „ aa dei' Wunſch soll dafüllt wer'n, daß Namen erfolgte auch dessen Beerdigung heute die zwoa Raueckerhöf wieder z'sammkemma, zu Egern. denn d' Burgl irbt amal mei' ganze Sach. I Für Bartl war die Gefangenschaft in der moan, du kanntſt es nacha dengerſt als Schwiega- | Kaiſerklauſe das Mittel zur völligen Besserung tochter aufnehma wie moanst nacha du ? “ gewesen. Er erkannte bald, daß der Spruch: „Arbeit ist des Lebens Würze “, keine leeren „Ta hon i nacha weita nix z'ſagn, als : Nehmts Enk und b’halts Enk! “ ſagte der Bauer. Worte, sondern lautere Wahrheit enthalte. So "Juhu!" schrie Franzl und schloß das erkam es, daß er bald der fleißigste Arbeiter in rötende Mädchen in seine Arme. der Kaiserklause war, und er konnte dem braven In sechs Wochen is Hozet !" Oberförster gar nicht genug danken , daß er ihn noch in seinem vorgerückten Alter furiert ,,Trau dir nit, Burgl ! " rief jeßt der Geiß wastl, „ woaßt, dös is alles nur a Blendwerk und aus ihm einen ordentlichen Menschen geder Höll. Du bist heunt dein' Vodan mit macht habe. So war es , als im Frühjahre der Leich ganga mirkst denn nit , daß er der Weg wieder frei wurde , sein Erstes, waizt 1 ) und der da siehgt aa nur ' n Franzl die versäumte Vaterpflicht nachzuholen , ſein glei, alle zwoa sans Waizen oder gar Tuifle!" Mädchen aufzusuchen und ihr das durch seine Sei staad und mach, daß d' aus der Arbeit ersparte Geld zu bringen. Beim AbStub'n fimmst," sagte Franzl und reichte dem gange mußte er dem Förster versprechen, wieAlten ein Geldstück hin. der zu ihm zu kommen, und Bartl war glück„Ei wohl!" versette dieser, erst das Geld- lich , nunmehr einen Platz zu haben , wo er stück, dann den Geber betrachtend, „ da müaßt ständige, wenn auch schwere Arbeit fand. i do selm der Tuifl ſei ' , wollt i dös Geld nit Bei Burgls Ziehmutter im Zillerthale ervodean. I mach ſtaubaus, von mir aus fann fuhr er nun zu seiner Freude , daß sich da Tuifl ' n Bauern hole ! “ Und er eilte davon. Mirdei seines Mädchens angenommen habe, Nun folgte eine Aufklärung. Der heute zugleich aber auch, daß der Rauecer Franzl, Begrabene war niemand anders, als jener von welcher seiner Burgl Lieb und Treue geschworen, an jenem Kirchweihtage verhaftet worden den Grenzjägern versprengte andere Pascher, welcher Bartl damals zugerufen hatte, sich zu sei, weil er den Finanzwächter zu Boden gewehren. Der Mann hieß Fleyberger. Er schlagen. Dieses genügte, daß Bartl sich sofort hatte die Krare mit den Seidenwaren, welche auf den Weg zum Gerichte machte, wo er Bartl im Stiche ließ und worin sich eine alte Franzens Unschuld fonstatierte und sich selbst Brieftasche desselben mit einigen auf ihn be- als Thäter angab. Er bewies durch den Hieb züglichen Papieren befand , sofort gegen seine, über seinen Arm, daß er von dem betrunkenen weniger wertvolle Gegenstände enthaltendeKrare umgetauscht und damit den Weg über das Gebirge nach Tegernsee gesucht. Die ihm nachsezenden Grenzjäger schickten ihm einige Schüſſe nach, wovon auch einer getroffen hatte. Er schleppte sich mühsam weiter und schien die Wechselalm erreicht haben zu wollen , mußte aber den Weg verfehlt und seine Wunde ihm
Finanzwächter angegriffen worden sei und demselben nur aus Notwehr den Schlag über den Kopf versetzt habe. Bartls Aussage wurde um so wahrer befunden, als der Finanzwächter neuerdings wegen eines ähnlichen Falles in Untersuchung war und deſſen Hang zur Trunkenheit auch seine Entlassung aus dem Dienst zur Folge hatte. Man gab deshalb Franz
nicht mehr erlaubt haben , weiter zu steigen ;
frei, ohne gegen Bartl eine neue Untersuchung anhängig zu machen. So schlugen beide den Weg zum Raueckerhofe ein und glückliche
1) Waizen = Gespenstern.
Maximilian Schmidt . 's Almftummerl.
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Menschen saßen jest Hand in Hand um den Glücke überzeugt, das seiner Tochter zu Teil großen Tisch in der Ecke. geworden, stand er auf und nahm von allen Außen schienen zitternde Lichtfunken zahl- | herzlichen Abschied. Den darob Ueberraſchten teilte er mit , daß nunmehr seines Bleibens loser Sterne vom stahlblauen Himmel hernieder zu flocken auf die schweigende Gegend. nicht länger hier sei , sondern daß er, wie er Der alte Rauecker mahnte zum Aufbruch. es dem Oberförster versprochen, in die Valepp Franz umsing das Mädchen , das sich mit wolle, um dort die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Vergebens suchten ihn die Anseligverklärtem Liebesblicke umfangen ließ von den Armen des Geliebten. So traurig der wesenden von diesem Vorhaben abzubringen. Morgen, so selig war der Abend. Spät erst I hon iaz wieda g'nua g'feiert ," sagte er, „ i siehgs aba scho', i kaannts nimmer datrennten sich die Wiedergefundenen , die Versöhnten. macha , daß i mi no' länger aaf die faul' Haut leget. Mir schmeckt koa' Essen mehr Mirdei richtete für Bartl ein gutes Lager und koa' Trinka, dös i mir nit vodeant hon, zurecht und er fühlte sich unter dem friedlichen Dache wie in seiner Heimat. Tiefe drum laßt's mi wieda eini in d' Valepp . Zum Rührung hatte sich seiner bemächtigt, sein letter Almakirta kommt's nacha in Hoa'gaſt zu mir, Gedanke vor dem Einschlafen war ein Danknacha kann i mit Ehrn aaf oan Tisch mit gebet für all das unverdiente Glück. Ent Play nehma und fidei wolln ma sei', * daß si die ganz Welt über uns g'freut. " * Aber Bartl stieß bei diesem Vorhaben auf Der Frühling hatte bereits die ganze Voll- | großen Widerspruch von seiten seines Schwiegerglut seiner Farbenpracht über die herrliche sohnes, der sich nicht wollte nachsagen laſſen, Gegend ausgegossen und die Strahlen der daß sein Schwiegervater als Holzarbeiter in der Valepp diene, ſondern ihn aufforderte, bei Sonne lagen gleich einem goldenen Neße über ihm auf dem Hofe zu bleiben. dem dunkelgrünen Spiegel des Tegernsees aus"I bin no z ' kräfti, um scho' an' Pfründgespannt, auf welchen die stattlichen, nunmehr fast ganz von Schnee befreiten Berge freund- ner z ' mach'n," meinte Bartl. lich herniedergrüßten. Die Wiesen leuchteten So fannst ja bei mir bleib'n ," mischte in bunter Blumenpracht, grüne Matten schim- sich Mirdei ein ; „bei mir gibt's Arbet g'nua, merten, Waldschatten dunkelten , Quellen und wenn i in Summa ob'n aaf der Alm bin.“ Bäche rauschten und der Gesang der Vögel Der alt Waſtl taugt ja dengerſt zu nix mehr.“ „Na', na',“ erwiderte Bartl. „ I woaß flang darein , so reizend und wonnig , als wäre er verwebt mit dem duftenden Wallen guat, daß ma's scho' überall 'rum woaß, daß i dei' ehemaliga lumpiga Bräutigam g'wesen und Wehen des holden Frühlingszaubers . bin, z'wegn mir sollst in koa' übels G’ſchwaazz Vor dem Hofe des obern Raueckers stand ein junges Paar. Es war Franzl und Burgl. | kemma, Mirdei . I hon dir scho ' Kümmernis gnua g'macht in dein Leb'n ; Gott b'hüt mi, Gestern hatten sie Hochzeit gehalten ; es war *
der erste Morgen des vereinigten Ehepaares. Schweigend sahen sie hinaus in die paradiesische Gegend. Auf einer hohen Esche zunächst des Hofes begann eine Drossel ihr Morgenlied. Beide gedachten des Weges nach der Elendalm , wo der Gesang einer Droſſel das Aufteimen ihrer Liebe begleitete , heute sang sie ihnen vielleicht Glück und Freude zum Ehestand. Vom Untern Rauederhofe schritten langsam zwei Personen heran , Mirdei und Bartl. Sie kamen , dem jungen Paare den ersten Morgengruß zu bringen. Franz und Burgl gingen ihnen entgegen und führten sie dann in ihr prächtiges Haus. Nachdem sich Bartl hinlänglich von dem
daß i no' ' s G'ringste z'gen di voschulden möcht. " Ja no', wie ' s d' moanst," erwiderte Mirdei , aber i kann nimmer sei' ohne an' Herrn im Haus und krieg i koan in Deanſt, so heirat i no', troß meine vierz'g Jahr. I woaß mir aa scho' Dan, der mir taugt. " Dabei blickte sie Bartl lachend an. Auch das junge Ehepaar lachte. Nur Bartl wurde kreideweiß. Auch das Glück will gewöhnt sein , es überwältigt mit seinen unerwarteten Gaben ebenso, wie das Unglück. „Mirdei, du denkst dengerscht mit an den liederlichen, verachten Schönecker Bartl ?" sagte er leise zu ihr.
Auf dem Spielplat. „An den denk i nit.
Dem liederlichen
Schönecker Bartl bin i in Egern mit der Leich gangen, aba den braven , wieder z'jammg'richten Bartl , den nehmet i just no' zu mein Mo', wenn er mi möcht. " ,,Wie, du thaatst di nit schaama ?" „ Schaama ?" fragte Mirdei. „ Schaamt si denn unsa Herrgott, wenn er dem reuigen Sünder verzeiht und wieder zu sich aufnimmt. Was frag i nach die Leut , thua i do' nix Unrechts und also du woaßt, wie i g'stimmt bin." „Mirdei !" rief Bartl , „ dös Glück druckt mi z'samm. I kann so Ebbas gar nit fassen ! Dös hon i nit vodeant ! Dös waar da Himmi aaf der Welt. " „ Du hast d' Höll aaf dera Welt scho' g'nua empfunden," sagte Mirdei. „ Arbet gibt's aaf ' n Hof nach der Auswahl und du sollst mi ja nur heirat'n, daß die Leut nix z'schwaazn hab'n ; verstanden ? D' Hauptsach is, daß der Hof in guat'n Stand bleibt , wenn's amal is, für die Kinda von der Burgl." Als wenige Wochen darauf das ältliche Ehepaar nach Egern zur Trauung hinabstieg und vom Turme die Glocken feierlich zum Amte läuteten, fürchtete Bartl, wieder zu träumen , wie damals auf der Wildfeldalm, wo auch die Glocken läuteten und er mit dem versöhnten Mirdei zur Trauung schritt. Woaßt g'wiß , daß ' s foa' Traam is ? " fragte er mit unsicherem Tone das neben ihm schreitende Mirdei.
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„Wieso moanst dös ?" „Scho' amal bin i im Traam mit dir aaf d' Hochzet ganga , ' s war aaf der Wildfeldalm , d' Glock'n hab'n g'läut' und wier i an' Juchaza tho' hon, bin i aafg'wacht. " „So probiers halt und juchez no' amal," sagte Mirdei lächelnd. Und Bartl juchzte, daß es weit hinauf hallte bis zum Wallberg und hin über den — dunkelgrünen See. Alles blieb , wie es war ; nichts verschwand , als das Echo des freudigen Rufes . So schritt er mit dem Almstummerl zum Altare. Wagte sich auch anfangs das üble Gerede bis zur Schwelle des Rauederhofes, bald verstummte dasselbe angesichts der unermüdlichen Thätigkeit des neuen Bauern. Nach wenigen Jahren galt sein Hof für den bestbewirtſchafteten weit und breit. Rasch flohen ihm die Jahre dahin im Bewußtsein seines eigenen und Mirdeis Glücks und desjenigen seiner Tochter, deren Kinder er in den Feierstunden mit Freuden auf seinen Knieen schaukelte. ,,Arbeit würzt das Leben !" Diesen Spruch hatte er mit großen Buchstaben über die Thüre seines Hofes malen lassen und dies war es hauptsächlich, was er seinen Enkeln schon von Kindheit auf mit Erfolg einprägte. Ihn aber sah man noch im hohen Alter rastlos schaffen an der Seite seiner Rauecerin, dem glücklichen Mirdei, dem unentwegt getreuen " Almstummer!".
Auf dem Spielplak.
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Barl Vogt.
ein leuchtender Schweif hinter der Feuerkugel sich gewahren läßt. Mit dieser Gleichförmigkeit der Erscheinungen bei dem Sturze scheint auf den ersten Blick Karl Bogt. die Mannigfaltigkeit der Zusammensetzung im Widerspruche zu stehen. In sehr verschiedenen Zeiten und an sehr weit auseinander gelegenen ie Meteorsteine gehören im eigentlichsten Orten gefallene Meteorsteine sind oft zum VerDie wechseln ähnlich in jeder Beziehung, während Sinne des Wortes unserem Jahrhundert in wissenschaftlicher Hinsicht an, denn es dauerte andere die größte Verschiedenheit bieten. Eiſen, einige Jahre, bis die Ansichten, welche Chladni metalliſches Eiſen, mit mancherlei Nebenbeſtandin einer , im Jahre 1794 in Riga veröffent❘ teilen, worunter besonders Niael, enthalten faſt lichten Schrift (Ueber den Ursprung der von alle ; es gibt nur einige wenige Beiſpiele von Pallas gefundenen und anderen Eisenmassen Meteoriten, die kein metallisches Eisen, dagegen und über einige damit in Verbindung stehende aber Verbindungen von Kohle enthalten , wie Naturerscheinungen) ausgesprochen hatte , sich sie aus der Zerseßung organischer Substanzen Geltung verschafften. Chladni, der auch durch hervorgehen. Solche Kohlensteine fielen bei die bekannten Klangfiguren sich einen unsterb Alais (Dép. du Gard) 1803 ; bei Bokkeveld lichen Namen in der Physik gesichert hat, wurde am Kap der guten Hoffnung 1838 ; bei Kaba in Ungarn 1857 ; bei Orgueil (Dép . du Tarnanfangs als Narr oder Betrüger behandelt ; et- Garonne) 1864. Diesen Steinen von geheute erkennt man an, daß sein Werkchen ein ringem spezifischem Gewicht gegenüber stehen klassisches genannt zu werden verdient. am Ende der Reihe die Eisenblöcke, in Heute weiß man, daß die Meteorſteine aus fernen Himmelsräumen auf unsere Erde fallen, welchen verschiedene Legierungen und Molekudaß bei ihrem Fall eine mit großer Geschwinlarzustände des Metalls , das oft ſo rein iſt, daß man es unmittelbar schmieden kann, eigendigkeit (20-30 Kilometer in der Sekunde) fast tümliche Kristallisationen erzeugt haben, welche horizontal über oft weite Strecken fortbewegte Feuerkugel erscheint, die ein so glänzendes Licht beim Anägen mit schwachen Säuren sichtbar werden und unter dem Namen der Wiedmannentwickelt, daß man sie sogar beim Schein der hellen Mittagssonne sehen kann; daß die so stättenschen Figuren bekannt sind. wie eine glühende Kanonenkugel fortgeschleuZwischen diesen beiden Extremen finden sich derte Masse endlich mit lautem , einmaligem nun zahlreiche Abstufungen von ſteinigen Maſſen, oder mehrfachem Knalle zerspringt , der bald die eigentlichen Meteorsteine, die man je mit Donner, bald mit Kanonenschüssen vernach der Häufigkeit und Einlagerung des Eisens, glichen wird und daß die Stücke, wie fallende sowie nach der mineralogiſchen Beſchaffenheit der Körper, zu Boden geschleudert und oft auf steinigen Maſſe in zahlreiche, mit verſchiedenen einen weiten Umkreis zerstreut werden. Die Namen belegte Gruppen zerteilt hat. Bei der einen bildet das Eisen noch eine zusammenStücke sind heiß , mit einer in der AtmoDie Bildung der Meteorsteine. Von
ſphäre gebildeten, meist schwarzen und rauhen, seltener glänzenden Schmelzkruste umhüllt, oft außerordentlich zahlreich und schlagen, je nach ihrem Gewichte, mehr oder minder tief in den Boden ein. Das größte, bis jetzt bekannte Eisenstück, das in Brasilien fiel, wog etwa 7000 Kilo, während die Steinmeteoriten nur selten 50 Kilo überschreiten, die Gesamtmaſſe der zugleich gefallenen Stücke aber ebenfalls viele Zentner betragen fann. Von da geht es herunter bis zu Stückchen , die nur 6 Zenti gramme wiegen und wahrscheinlich fällt eine Menge Staub mit, den man freilich nicht leicht auf der Erde sammeln kann, der aber oft wie
hängende, löcherige Maſſe, in deren Zwischenräumen andere Mineralien, Silikate, d. h. Verbindungen von Kieſelſäure mit Baſen , eingelagert sind : von Pallas aufgefundenes Eisen bei Krasnojarsk in Sibirien ; aus der Wüste Atacama von Chili ; von Tula in Rußland Massen, welche großen Eisenblöcken täuschend ähnlich sind , die Nordenskjöld in basaltiſchen Laven bei Ovifak in Grönland fand und die man deshalb auch irrtümlich für Meteoreisen hielt, bis man ihre Einbettung in die Baſaltlava nachgewiesen hatte. In den meisten Meteorsteinen überwiegt dagegen die steinige Maſſe, während das Eisen und
Die Bildung der Meteorsteine.
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seine Legierungen mit Nickel, Chrom, Schwefel, ihm gefolgt sind. Man ſchleift die Geſteine zu dünnen Blättchen, welche durchsichtig oder wenig Kiesel und Phosphor nur in größeren oder kleineren Stückchen und Splittern darin ein- stens durchscheinend genug find , um unter dem Mikroskope und dem Polariskope bei durchgesprengt sind. Aber das Gestein zeigt sehr verfallendem Lichte untersucht werden zu können. schiedene chemische und mineralogische ZusamDiese Bearbeitung hat jest so sehr Platz gemensetzung ; bei einigen überwiegt in den Basen die Thonerde und diese zeigen glänzende Schmelz- | griffen , daß in fast allen Ländern wahrhafte kruſten und wohl ausgebildete Kristalle (Ju- Fabriken für Dünnschliffe von Gesteinen bevinas [ Dép. de l'Ardèche ] 1821 ; Stannern stehen. Vor jezt vierzig Jahren schliff ich mir, in Mähren 1817 ; Jonzac [Charente -Infélange bevor Sorby seine Untersuchungen machte, rieure] 1819, ſo daß sie manchen Laven vom die Fingerspigen wund mit fossilen Zähnen Aetna und von Island sehr ähnlich sehen, in und Schuppen von Fischen ; die Mechanik war welchen Peridot, Pyroren und gewisse Feld- äußerst mangelhaft, die Bearbeitung zeitraubend ; die Resultate dieser Forschungen wurden in den spate eine Hauptrolle spielen. Andere , obgleich vollkommen kristallinisch, sind zum größten Werken über fossile Fische von Agassiz verTeil aus Silikaten von Bittererde, aus Enstatit öffentlicht ; aber erst lange nachher dachte man und Bronzit zusammengesetzt (Bishopville in daran, die Methode zu vervollkommnen und Amerika). auf die Untersuchung der Gesteine anzuwenden. Die Chondrite stellen der mikroskopischen, Eine eigentümliche Art der Kristallisation dieser Silikate von Bittererde zeigen dagegen an Dünnschliffen angestellten Forschung vielfache Schwierigkeiten entgegen. Die verschiededie von Gustav Rose mit dem Namen Chon drite belegten Meteorsteine, unter welchen be- nen Mineralien , welche sie zuſammenſeßen sonders die bei Knyahinya in Ungarn am (wenigstens ein Dußend), durchdringen einander wechselseitig , sind dadurch , sowie durch ihre 9. Juni 1866 gefallenen Maſſen in jüngster Gruppierung häufig in ihrer vollständigen triZeit öfter besprochen wurden. Chondrite will stalliniſchen Ausbildung gestört und unerkenntlich so viel heißen als Kugelsteine ; in der That besteht bei diesen häufigsten Meteorsteinen die und die Kügelchen selbst besitzen eine vielfach Masse fast gänzlich aus kleinen Kügelchen, von wechselnde Struktur. Doch war man endlich, der Größe eines Stecknadelkopfes oder kleiner, durch aufmerksames Studium, dazu gekommen, die eine rauhe Oberfläche besigen , und von zu erkennen, daß die letteren aus Gruppen von metallisch glänzenden und schwarzen Adern und Stängelchen , Säulchen oder Bälkchen zusamSplittern durchschwärmt find. Nur selten werden mengesetzt sind, welche meist insofern eine eigendiese Kügelchen größer ; doch habe ich in einem tümliche Anordnung zeigen, als dieſe Gruppen Steine von Knyahinya ein erbsengroßes Eiradienförmig von einem Punkte ausstrahlen, gefunden , das einen Centimeter im längsten der nicht in dem Mittelpunkte, sondern in der Durchmesser hatte. Nähe der Peripherie des eiförmigen oder in Wenn die deutschen Forscher , G. Rose, einen Vorsprung ausgezogenen Kügelchens geTschermack, Gümbel, Rammelsberg u. a. sich legen ist. Man fand freilich Kügelchen , in vorzugsweise mit dem mineralogischen und che❘ welchen mehrere ſolche Ausstrahlungspunkte sich mischen Studium der Chondrite beschäftigten, so gewahren ließen -im allgemeinen waren diese aber selten. Innerhalb dieser excentrischen Anwaren es einige Franzosen, wie namentlich Daubrée und Stanislas Meunier, welche versuchten, ordnung der bildenden Elemente, welche auch die verschiedenen Formen derselben auf erperidie in den Wolken umhergewirbelten Hagelmentellem Wege künstlich darzustellen und so körner oft in der Gruppierung ihrer Eiskristalle zeigen , fand man aber die mannigfaltigsten durch Versuche der Bildung derselben auf die Spur zu kommen. Während früher die Mine- Variationen in der Ausbildung der Elemente Manche Kügelchen , namentlich die ralogen selten zu anderen Instrumenten als der selbst. Luppe und dem Winkelmesser griffen, fand in kleinsten, zeigten sich gänzlich aus ſtaubförmigen Massen gebildet , die auch die stärksten Verden letzten Dezennien das Mikroskop eine stets größerungen nicht aufzulösen vermögen ; in weiter gehende Anwendung. Der Engländer Sorby war es, welcher zuerst diesen Weg zeigte, anderen ließ sich nur eine leise Streifung gewahren, während in anderen ziemlich dicke Säulauf dem jezt eine Menge jüngerer Forscher 51
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Barl Vogt.
chen die Hauptmasse bildeten oder auch nur als T Zwischenräume, Brüche, Löcher und Rauhigkeiten massigere Rippen zwischen feineren Streifchen dringt die dunkle Rindensubstanz ein. Gelang hervortraten. Ich gebe hier die nach einer es, die Säulchen, sei es durch seine Schleifung, Photographie geschnittene Figur (1) eines Durch sei es durch Säuren, von dieser Rindensubstanz zu befreien, so erschienen sie zwar kristallinisch als Prismen, aber mit nicht ganz reinen Flächen, Kanten und Ecken. Die eigentümliche , strahlige Anordnung dieser, wie sparrige Besenreiser sich verästelnden, von einer dunklen Rinde umgebenen , häufig
quer gebrochenen Elemente der Kügelchen müssen, wie leicht begreiflich, auf den Dünnschliffen, die doch nur eine einzige, durch das Kügelchen gelegte Ebene zeigen können, sehr verschiedene | Bilder erzeugen. Streift der Schliff nur die Peripherie des Kügelchens, die letzten Spizen der feinen Enden der Säulchen quer durchschneidend, so zeigt er kleine, eckige Feldchen; trifft Fig. 1. Dünnschliff eines Ghondriten aus Knyahinya. er quer in der Nähe des Strahlungspunktes, so schnittes von Knyahinya, wo in einem großen, sieht man größere, kristallinische Figuren. Fällt der Schliff mit einer Strahlungsebene zusammit radienförmig gestellten dicken Säulchen durch zogenen Blatte auch einige quere Säulchen sich men, so erscheint das Ganze, wie in der beigefinden. Neben dem großen Kügelchen ist ein fügten Figur (Fig. 2 Chondrit von Vouillé) in Form eines ganzrandigen Blattes, in welchem fleines durchschnitten. Ringsum Kristalle. In seltenen Fällen waren diese Säulchen von einem Ansaßpunkte aus verästelte Rippen nach allen Seiten hin ausstrahlen. Man kann oder Stängelchen, welche die Kügelchen bildeten, einfach und eher gleicher Dicke von dem Aus- sich leicht diese verschiedenen Bilder versinnlichen, strahlungspunkte bis zu dem Rande, meistens indem man einen alten Besen betrachtet , der aber schienen sie sich in spizen Winkeln zu mehr oder minder abgenutzt ist. Die Feinheit und Umrindung der Säulverästeln und allmählich dünner und zahlreicher chen bedingt andere Erscheinungen. Da man werdend, nach allen Seiten hin zu der Oberfläche des Kügelchens zu gelangen , die meist die Schliffe nie so dünn machen kann, daß sie nur eine einzige Lage von Säulchen fassen, so uneben erschien, aber auf den Durchschnitten bedingen die unterliegenden Lagen Schatten in den Dünnschliffen gegen die umgebenden oft und dunkle Streifen, welche um so eher als deutlich kristallinischen oder staubigen Massen, in den Säulchen befindliche Kanäle, Hohlräume welche die Zwischenräume der Kügelchen erfüllten, und Poren aufgefaßt werden, als die Linse des scharf abgegrenzt war. Meist zeigen sich in dieser Umgebung metallische, unter dem Mikro- Mikroskops nur eine horizontale Fläche scharf zeigt. Sodann erscheint unter dem Mikroskope skop wegen ihrer absoluten Undurchsichtigkeit jeder kantige oder eckige, durchsichtige Körper, schwarz erscheinende Krusten, von welchen aus welcher von einer dunklen Hülle umgeben ist, zwischen die Säulchen sich Fortsetzungen er rund, weil die durch die Rinde erzeugten strecken, so daß diese gewöhnlich durchaus von Schatten sich allmählich gegen die Mitte hin einer höchst feinen, dunklen Substanz umrindet abschwächen ; ein umrindetes Dodekaeder erscheint erscheinen. Die Säulchen selbst bestehen aus als Kugel, ein umrindetes sechsseitiges Prisma einem wasserhellen oder etwas gelblich gefärbten als runde Säule. Dem Ungeübten erscheint Mineral , welches die Mineralogen meist als Enstatit (doppelt kieselsaure , Bittererde) beunter dem Mikroskope eine Luftblase, wegen der stimmten, das selbst in kochenden, konzentrierten verschiedenen Lichtbrechung , bei verschiedener Säuren nur schwer löslich ist. Die Oberfläche Stellung das Fokus bald als Kreislinie, bald dieser hellen Substanz ist aber nie eben, sondern als dicker, von einem Loche durchbrochener Ring, bald als feste Perle. Zwischen diesen Chonrauh, löcherig , wie angefressen ; die Säulchen dren finden sich aber stets in allen Meteor selbst vielfach quer gebrochen und in alle diese
Die Bildung der Meteorsteine.
steinen mannigfaltige Gruppen ediger , wohl charakterisierter Kristalle, die aber stets rissig, vielfach zersprungen und zerklüftet sind. Da man diese Kristalle als fehr selten be zeichnet, ja 3. B. in den Meteor
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Eisenblöcke von Ovifat sich in einer geschmolzenen , flüssigen Lava , wie der Basalt ganz zweifellos ist, abgeschieden haben, so mögen die Meteor eisen , die diesen so ähnlich sind , auf dieselbe Weise entstanden sein ; manche durchaus fri-
steinen vonKnyahinya gänzlich ſtallinische Meteor geläugnet steine, die hat, so bil den wir obenein eine Grupdieselben nach pe Minera lien ent= einer Phohalten, wie tographie viele La(Fig. 3) und einen ven, dürf Fig. 2. Chondrit von Bouillé. ten um so stärker eher aus vergrößer ten Kristall (Fig. 4) ab, die gerade den genann- feurig flüssigen Gemengen sich abgeschieden haben, als man an manchen Meteorsteinen wirklich ten Steinen von Knyahinya entnommen sind . geflossene Teile mit dem Mikroskope hat unterUeberblickt man diese verschiedenen Bildun scheiden können .
Fig. 3. Kristalle von Knyahinya. gen der Meteorite, so kann man sich nicht verhehlen , daß sie nicht auf eine einzige Entstehungsweise zurückzuführen sind. Wenn die
Glänzende Beweise für diese Ansichten brachten die Versuche von Daubrée, der durch Zusammenſtallinischen Teilen der schmelzenvon Meteorstei verschiedenen Mineralien ähnlich ne mit metalliwaren. Die Wiedmannschem Eisen stätten'schen Produkte erzeugte, welche Figuren, die einesteils man neuer= dem Meteordings für an= eisen, Pflanzen erdernteils klärte, wurFig. 4. den unzwei- Kristall von Knyahinya. den in solfelhaft frichen künstlich erzeugten Eisenmassen nachgewiesen und ich selbst habe in einer neulich der Pariser Akademie vorgelegten Abhandlung, welche demnächst, von den nötigen Figuren begleitet, erscheinen wird, nachgewiesen, daß Daubrée'sche Schmelzprodukte, von Peridot oder Cherzolit mit Eisen Dünn-
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Barl Vogt.
schliffe liefern, welche kaum von Kristallgruppen in Dünnschliffen von Knyahinya und andere Meteoriten zu unterscheiden sind. Bei meinen Schliffen von Knyahinya machen solche unbestreitbare eigentüm Kristalllichen Anordnung der gruppen, Elemente in deren Winfel, doppelte den Kügel Strahlen chen der ge wöhnlichen brechung c. Meteor man leicht steine oder beobachten fann, wohl Chondriten mehr als ein übrig. Daubrée Trittel der den hatte ganzen Gedanken Masse aus. Aber es ausgesproblieb noch chen , daß die experidieselben Fig. 5. mentelle Ersich in einer Meunier'sches Präparat. flärung der reduzieren den Atmosphäre gebildet haben könnten, in welcher sie umhergewirbelt worden sein möchten, wie die im Inneren stänglichen Hagelförner in unserer Atmosphäre. Stanislas Meunier nahm diesen Gedanken auf. Er ließ in eine bis zur Rotglühhiße erwärmte Röhre die zur Bildung des Enstatits nötigen chemi && schen Elemente in Gasform eintreten. bildete sich ein weißer Niederschlag , äußerst leicht und zart, der vollkommen das Aussehen von Reif hatte und an den Wänden der Röhre sich festsette. Auf meine Aufforderung hin hat Versuchwiedermein Kollege an der Univer holt und dasfität Genf, felbe flockige, Prof. Gräbe, weiße reifähn der bekannte Gebilde liche Erfinder des dargestellt. Ich künstlichen Alihabe in der erzaring oder wähnten Ab= Krappfarbe Fig.von 7. Knyahinya. Säulengruppe handlung
stoffes , den Zeichnungen von Meunier'schen Präparaten unter starker Vergrößerung gegeben, von welchen ich einige, schwächer vergrößert (Fig. 5, 6) neben Säulchengruppen von Knyahinya stelle (Fig. 7, 8), welche durch Behandlung mit Säure zum Teil ihrer Rinde entledigt sind. Mit Ausnahme der dunklen Rinde, die in den Meteoriten die
Säulchen umhüllen , gleichen diese in einer, überhißten Wasserdampf enthaltenden Atmosphäre gebildeten Kristallgruppen denjenigen der Kügelchen in den Meteoriten , wie ein ten : die BeEi dem andern. Es sind unvollständig ausgebildete Säulchen, die sich verästeln von einem Punkte aus, durchQuer-
spalten wie durch Scheidewände geteilt sind gegen die Peripherie hin stets seiner und zahlreicher werden - kurz dieselben Grup-
dingungen, unter welcher dieser künstliche Reif entsteht, müssen denjenigen ähn= lich sein, unter welchen die gewöhnlichen Chondrite gebildet wurden. man Sucht aus diesen Beobachtungen, mikroskopischen Befunden und Ergebnissen der
pierungen wiederholen, wie experimentellen sie von dort bedie Forschung schrieben wurden. Bildung der MeHier kann kein Fig. 6. Meunier teoriten übersches Präparat zu sich haupt Zweifel obwalerklären , so wird man wohl zu der Ansicht kommen, daß die Eisenmassen mit oder ohne Einschlüsse Stücke von Himmelskörpern sind, welche direkt losgerissen und weggeschleudert wurden, daß aber die Elemente der gewöhnlichen Meteorsteine , der Chondrite, in einer stark erhißten reduzierenden Atmosphäre umhergewirAtmosphäre eine belt und zusamoberflächliche mengebacken wurden. So Schmelzung ermögen diese Körlitten , welcher die Kruste zu per denn lange verdanken ist, die Zeit in dem Weltenraume alle unversehr Meteoriten ten sich herumgetrie-
ben haben, bis sie endlich in die Anziehungssphäre der Erde gerieten und beim Sturze auf die selbe in der
zeigen. Wenn auch gar manche De= tailfragen noch Fig. 8. ungelöst waren äulengruppe Knyahinya.von und die theore tischen Ansichten
über den Ursprung der Meteorite, ihr Verhältnis zu den verschiedenen Himmelskörpern und besonders zu der Erde und deren Bildungen oft noch weit auseinander gingen, so
Die Bildung der Meteorsteine.
konnte man doch im großen und ganzen sich mit den bis jezt gewonnenen Reſultaten zufrieden erklären und erwarten, daß durch fernere chemische , mineralogische und mikroskopische Untersuchungen und weitere Ausbildung des in Geologie und Mineralogie noch viel zu ſparſam betretenen Weges der experimentellen Forschung die noch ungelösten Fragen beantwortet werden würden. Da wurde plötzlich die wissenschaftliche Welt durch einen jähen Blig aus ihrer zuversichtlichen Ruhe aufgeschreckt und überzeugt, daß sie bisher nur blind in ägyptischer Finsternis umhergetappt habe. So wenigstens stellt ein begeisterter Apostel die Wirkung der neuen Lehre hinsichtlich der Meteorite dar. Ein geistreicher franzöſiſcher Schriftsteller behauptete einmal , Proudhons journalistisches Verfahren gleiche etwa demjenigen eines Mannes, der bei tiefster Nachtruhe in einer Straße einen lauten Schuß abfeuere und dann, wenn die Bewohner erschreckt in den Nachtmügen die Fenster öffneten und schlaftrunken fragten, was denn los sei ? ihnen einige unbewiesene Enormitäten an den Kopf werfe , um sofort um die nächste Straßenede zu verschwinden. Bum ! Das Eigentum ist Diebstahl ! Bürger! Die Wohlfahrt hängt von der Annahme dieſes Grundſages ab ! Wer sich nicht zu demselben bekennt, ist ein Reaktionär , ein Verräter des Vaterlandes !" Proudhon ist mir schon oft eingefallen. „ Bum ! Die Meteorite sind ein Filz von Tieren , eine Welt von Wesen , ein Gewebe,
dessen Maschen alle lebendige Wesen waren ! Das Meteoreisen ist ein Filz von einzelligen Pflanzen. Wer das nicht glaubt , hat wohl, wie Daubrée, gepreßt, geschmolzen, aufgelöst, berechnet, nur nicht gesehen ! Die bisherigen Untersuchungen mit Ausnahme der Arbeit Gümbels sind , sowohl was Genauigkeit der Beobachtung , noch mehr aber was die auf solcher Beobachtung , auf unbewiesenen Hypothesen und leeren Voraussetzungen ruhende Deutungbetrifft - wenig geeignet, als eine wissen schaftliche Feststellung angesehen zu werden!" Nach diesem Pistolenschusse verschwindet der Proudhon der Wissenschaft fast gänzlich um die Ecke und läßt eine „ neue Weltanschauung“ zurück. Es gibt nämlich in der Wissenschaft, außer Phariſäern und Schriftgelehrten, Zöllnern
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und Sündern , auch Crakel, Propheten und Apostel. Ich habe hier namentlich einen, vor etwas mehr als einem Jahre (Ende 1880) erſchienenen Quartband „die Meteorite (Chondrite) " von Dr. Otto Hahn, und einen Artikel im Augusthefte der Westermann'schen Monatshefte, „ Zur neuen Weltanschauung " von Ernst Kapp im Auge. Die wissenschaftliche Welt war freilich nicht. leicht aus ihrem Schlafe zu rütteln und als sie die ersten Orakel gehört, legte sie sich leider auf das andere Ohr und schlief weiter. Sie wollte nicht einsehen , " welch einen glänzenden. Zuwachs die Reihe der berühmten schwäbischen Landsleute Kepler, Schiller, Schelling, Hegel, Uhland, Strauß, Rob. Mayer" an Dr. Hahn erhalten hat. Aber „ im Unmut über die wenig sachlichen Angriffe der Gegner raffte sich dieser zu ferneren, bei einem anstrengenden Berufe fast über Menschenkraft gehenden Arbeiten auf. Der Löwe schüttelte die Mähnen , und mit welchem Erfolge an neuen , den Kampfplag frei machenden Aufschlüssen !" So der Jünger Kapp. Ex ungue leonem . Sehen wir zu, wie der Löwe seine Krallen zuerst gezeigt hatte,
ehe er die Mähnen schüttelte. In Kanada hatte man im Gneiße der Urformation Brotlaiben ähnliche Knollen gefunden , die aus Kalk bestanden , welcher von einem grünen, Serpentin ähnlichen Mineral durchschwärmt war. Die Einen erklärten die Knollen für Mineralgebilde , die anderen für eine niedere Tierform , eine Foraminifere und nannten sie Eozoon canadense . Mit seinem ersten Löwengriffe in den Württembergischen Jahresheften 1876-79 stellte sich Hahn auf die Seite der Mineralgebilde. - Bei einem zweiten Löwergriffe in der „ Urzelle" 1879 wurde aber der Stein eine Pflanze mit Stengeln und Samenkapseln oder vielmehr Sporenzellen und hieß nun Eophyllum. Welchem Orakel sollte die Wiſſenſchaft glauben ? Eozoon, Eophyllum, Eolithum ? Sie beruhigte sich , ließ die Parteien streiten und gab dem einen oder anderen Recht, am wenigsten aber dem Eophytum . „ Ein Zweiter Pistolenschuß , die Urzelle . seltsam fesselndes Buch", sagt der Jünger. „Keine ermüdende Einführung in das Gala ge= lehrter Polemik, nur kurze Notizen, mit wem
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Stengeln u. f. w., der einem Schwamm nicht zukommt und der auch auf den Photographieen nicht mehr zu sehen ist. Orakel haben das Eigentümliche , daß sie immer unumstößlich sind , wenn sie sich auch widersprechen ; aber leider gibt es manche Querköpfe , die nicht daran glauben und eine Behauptung nicht für einen Beweis gelten laſſen wollen. Die Wiſſenſchaft, welche schon Hunderte von Schwimmern und Tauchern in der dunklen Flut vorweltlicher Forschung an der Arbeit sah , wunderte sich aber nicht im geringsten, nung des Jüngers. „Wirglauben“ , sagt Bütſchli, daß auch ein Schwabe den verwegenen Kopfeiner der gewiegteſten Mikroskopiker, in Bronn's sprung gemacht habe. Sie brummte vielleicht Tierreich, Bd. I, S. 218,,, an den Untersuchungen in den Bart : Tant de bruit pour une dieses Forschers wohl ohne Vorwurf mit Stillomelette ! Sie erinnerte sich vielleicht auch ähnlicher schweigen vorübergehen zu dürfen. Das bePistolenschüsse und Löwengriffe aus früheren rechtigte Aufsehen, welches die Hahnsche Arbeit über das Eozoon einst erregte , erscheint jezt | Zeiten. Ich habe von einem anderen Orte die durch die wunderlichen neuesten Entdeckungen. dieses Forschers in einem sehr zweifelhaften | rührende Historie von Beringer in Würzburg Lichte. " Die Wiſſenſchaft schlief also weiter, erzählt, der Sonne, Mond und Sterne, hebräische trotzdem daß diese , wie der Jünger sagt, Buchstaben und eine ganze Tierwelt bis zu Spinnen im Neze bei dem „ verwegenen Kopf„bändeschwere Schrift ", nach des Verfassers Behauptung „den Beweis führte, daß Granit, sprunge in die dunkle Flut urwelticher ForSerpentin , Gneiß , Kalk, gewisse Sandsteine, schung“ versteinert aus dem Grunde geholt auch Basalt, endlich Meteoreisen und Meteor- hatte und schließlich einschen mußte , daß er steine aus Pflanzen bestehen. " Man sah sich von Studenten gefoppt worden war. vielleicht die Pflanzen, Blätter,, Brutzellen u . s. w . Es gibt neuere Beiſpiele. die inKristallen von Edelsteinen, Quarz u . s. w., Im Jahre 1868 erschien von einem sächstecken sollten , mit bedenklichem Kopfschütteln fischen Bergmeister Jenzſch ein kleines Werkchen an, und ließ sich nicht einmal durch eine voll- mit einigen Tafeln „ Mikroskopische Flora und ständige Pflanze Urania Guilelmi , so ge- Fauna in den Eruptivgesteinen , erster Teil, " nannt zu Ehren unseres Kaisers " rühren, die das von keinem Geringeren als Ehrenberg, mit freisrund gewölbtem Blatt , Samenzellen dem berühmten mikroskopiſchen Forscher, welcher und Samenzellenanfäßen, jungen, spiralig ein- den Grund zu unserer Kenntnis der Infugerollten Blättern als ausgezeichnete Mittel- forien gelegt hat, in der Situng der Berliner form zwischen Alge und Farn fein säuberlich Akademie vom 15. März 1869 besprochen und in schönem Bilde vorgeführt wurde nach einem als höchst wichtige Entdeckung bezeichnet wurde. Dünnschliffe von Knyahinya. Da fanden sich in thüringischen Melaphyren, Also im Jahre 1879 war der Beweis, Quarzporphyren und Fettquarzen nicht etwa daß die Meteorsteine aus Pflanzen bestehen, vereinzelte Pflanzenzellen , sondern ganz vorendgültig und vollwichtig geliefert. trefflich erhaltene, mehrzellige Algen mit scharf Nicht ganz zwei Jahre darauf war in der begrenzten Ausfüllungen der Zellen ; mit SamenSchrift über die Meteorite der nicht minder zellen , Sporenfrüchten , austretenden Sporen vollwichtige und unumſtößliche Beweis geliefert, | (Keimkörnern), mit endständigen Borſtenzellen, daß dieselben nicht ein Pflanzenfilz, sondern ein oft so häufig , daß die abgefallenen Borsten Tierfilz seien , ein " Schwamm Korallen- Cridem Präparate einen eigentümlich schillernden. Glanz gaben ; andere, fadenförmige Algen mit noiden Gestein". In achtzehn Monaten war die arme Urania perlschnurartig aneinander gereihten Zellen ; andere Algen die von einem pflanzenfressenden ein Schwamm geworden ohne Samenzellen, Tier, Rhynchopristis melaphyri, angefreſſen ohne all den vegetabilischen Lurus von Blättern,
und womit der Leser zu thun bekömmt. Dann sofort der verwegene Kopfsprung in die dunkle Flut vorweltlicher Forschung. Kleinod auf Kleinod taucht auf. Kaum daß die Ungeduld der Siegesgewißheit der Feder und dem Stift eine Pause gönnt , um die Ausbeute dingfest zu machen. Härtestem Gestein , durch Schliff gezähmt , entreißt das Mikroskop Bilder der urorganischen Lebendigkeit zu lapidarstilartiger Uebertragung in Wort und Bild. " Mit dieser Ueberschwänglichkeit geht es seitenlang fort. Aber die Wissenschaft war nicht der Mei-
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waren , das noch mit ausgestrecktem Rüssel an der Stelle lag ; da gab es im Melaphyr von Zwickau Rädertierchen, die aus einem sehr komplizierten, zuſammengeseßten Panzer heraus einen tief eingeschnittenen Wimperkranz entkurz , es sollte eine noch im flüssigen wickelten Gestein lebende Fauna und Flora gefunden sein, die im Momente der kristallinischen Erstarrung eingeschlossen worden war. Da hatte man auch Grund und Boden
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etwa 320 , die Korallen 120 , die Crinoiden 16/20 der gesamten Gesteinsmasse ein. Die Korallen und Crinoiden zeigen „so wohl_er= haltene terrestrische Formen, daß ein Zweifel nicht übrig bleibt " . Die Schwämme können schon eher in Zweifel gezogen werden. Dr. Weinland, der die Hahnsche Sammlung von Dünnschliffen und nur diese bearbeitet hat , will die sogenannten Crinoiden. Hahns" nicht anerkennen , wird aber seine
genug, um eine neue Weltanschauung darauf Meinung später sagen. Nach ihm bestehen die aufzubauen . Leider aber erschien der zweite Chondrite „ zu zwei Dritteln und mehr“ aus Teil dieser Untersuchungen nie, zu keiner Zeit Organismen ; nach Dr. Hahn nur aus Drund das Büchlein ist so selten geworden, daß ganismen . Hm ! Sechzehn Zwanzigſtel der Orich es mir nicht verschaffen konnte, sondern zu ganismen, die nach Dr. Hahn zweifellos sind, werden bei Dr.Weinland „sogenannte Crinoiden " den, übrigens sehr genauen Auszügen daraus meine Zuflucht nehmen mußte, die ein Freund und ein drittel Organismen werden bei dem Freunde was ? Das weiß man nicht. zur Zeit auf der Staatsbibliothek in Berlin gemacht hatte. Da es aber nur zwei Arten von fossilen Aber Ehrenberg ? Er erkannte einige der Körpern, organische oder unorganische , geben. Formen als Kieselpanzer tragenden Infu- kann, so könnte man endlich gar zu dem Schluſſe sorien angehörig an, und fand „überraschend kommen , daß die Chondrite, selbst die von die vom Entdecker vorgelegten dicht beisammen | Knyahinya, zu einem Drittel aus unorganischen liegenden Größenverschiedenheiten gleichartiger Körpern oder Krystallen und zu sechzehn Formen, welche unzweifelhaft zu erkennen geben, Zwanzigstel aus falschen Crinoiden bestehen. daß bei denselben Jugend- und Alterszustände Paläontologische Untersuchungen können nur nicht differiren “, fühlte sich aber doch gezwungen, aufvergleichenderGrundlage durchgeführt werden. gegen die Rüssel- und Rädertiere des Ver- Wenn ich behaupte , daß ein fossiler Knochen fassers „das Widerstreben seiner Auffaffung z. B. einem Säugetiere und nicht einem Reptil angehört , so muß ich beweisen , daß er die auszusprechen “, ähnlich wie Dr. Weinland den Crinoiden und manchen anderen Ideen seines charakteristischen Kennzeichen eines SäugetierFreundes Hahn nicht zu folgen vermag. knochens besigt. Erkläre ich dieses oder jenes Troß dieser Anerkennung der ersten mikrosko- Ding, was ich in einem Dünnſchliffe ſehe, für einen Schwamm, ein Korall , ein Echinoderm pischen Autorität wurde es stille , sehr stille, ganz stille um die Jenzſchen Organismen und | ( Stachelhäuter), oder eine Pflanze, so habe ich heute zählen sie nur noch in der Geschichte die Aufgabe , durch Vergleichung von Form der Irrtümer in der Wissenschaft. und Struktur mit bekannten Organismen meine Es kann also wenig rühren , wenn noch Ansicht zu beweisen. Dieser Beweis kann nur so berühmte Namen, „ Zoologen ersten Ranges " , auf die harten Teile des Organismus gewelche der Jünger aufführt, ihre Zustimmung gründet werden ; die weichen erhalten sich nur erklären zu den Hahnschen Organismen in den seltensten Fällen durch Abdruck in dem die Kritik kann selbst einen Darwin nicht schonen. umhüllenden Gestein, das höchstens die Form , Untersuchen wir also ohne vorgefaßte Mei- nicht die Struktur wiedergibt. nung, indem wir zugleich die einseitig betrieAlle der Versteinerung fähige Schwämme bene mikroskopische Untersuchung von Dünn haben ein aus eigentümlich geformten Nadeln schliffen durch andere Methoden die Forschung aufgebautes Skelett. Zittel in München hat die Skelette der versteinerten Schwämme unterzu kontrolieren suchen. Dr. Hahn hat vorzugsweise Dünnschliffe der Meteorsteine von Knyahinya untersucht ; ich habe dasselbe Material benußt. Nach ihm bestehen diese Meteoriten nur aus Tierformen ; der Schwamm Urania nimmt
sucht und abgebildet. Die Nadeln fehlen nirgends . In den Uranien hat auch Dr. Hahn keine Nadeln nachweisen können. Man sieht höchstens feine Streifen, die radienförmig ausstrahlen. Ich habe an Dünnschliffen gezeigt,
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daß diese Streifen nur der optische Ausdruck von seinen Kristallpriſmen sind , welche durch fortgesettes Schleifen sich voneinander trennen lassen und deren Kanten und Endflächen man dann ebenso deutlich sieht, als ihre von Dr. Hahn geleugnete Doppelbrechung des polarisierten Lichtes. Die Form sei die eines rundlappigen Körpers. So zeigt sich allerdings die Form in den Dünnſchliffen. Da diese aber nur Durchschnitte durch Kügelchen sind, so ist eben die Form des durchschnittenen Körpers nicht die eines runden Lappens, sondern die einer Kugel. Ich habe die 10 Millimeter meſſende Kugel, die ich in einem Stück von Knyahinya fand, in acht Lappen zersägen und schleifen lassen, und es wäre wirklich sonderbar, wenn ich sagte : die Form des Körpers ist die eines achtfachen runden Lappens. Man kann eine Zitrone in sehr viele Scheiben zerschneiden . Die sogenannten Uranien zeigen auch nicht die leiseste Spur derjenigen Charaktere, welche den Schwämmen zukommen. Sehen wir zu, wie es mit den Korallen der Meteorite steht . Die Polypen, von welchen die Korallen
den sog. Schwämmen nur dadurch unterschieden, daß die ſie bildenden Säulchen dicker, hier und da verästelt , vielfach quergebrochen und auf ihrer Oberfläche angefressen sind. — Keine Spur jener kristalliniſchen Zuſammenſeßung, welche die Skelette der echten Korallen charakterisiert. Wenn die Säulchen noch mehr verästelt, vielfach quergebrochen , und diese Querbrüche mit umhüllender dunkler Masse ausgefüllt sind, wie in den oben dargestellten Figuren von Knyahinya (Fig. 7 u . 8) oder in den künstlichen. Enstatit-Flocken von Meunier ( Fig. 5 u. 6), ſo werden uns dieselben „ rundlichen Yappenformen" als Crinoiden präsentiert. Die äußere Form ist durchaus dieselbe , wie die der Uranien oder der sog. Korallen ; man kann den Umriß einer Ulranie durchpausen und ihn auf ein solch anderes Ding legen, ohne fürchten zu müſſen, einen Fehler zu begehen. Ein Crinoid, eine Seelilie, besteht, abgegesehen von den weichen Teilen , aus einem Stiele, der von cylinderfömigen, oft außen geriefelten Stücken aufgebaut ist , aus einem Kelche, der die hauptsächlichsten Weichteile enthält und aus Platten zusammengesezt ist, und aus Armen , welche diesem Kelche auffißen, die wieder, ähnlich wie der Stiel, aus cylin
aufgebaut werden, haben becherförmige , mit Armen besezte Körper, deren Magenraum sich in ein System von Kanälen fortſeßt , welche eine dauernde Kommunikation zwiſchen allen | drischen Stückchen gebildet sind . Es gibt in den alten Schichten Crinoiden mit wenigen, verPolypen der Kolonie herstellen. Das Skelett, kümmerten Armen; man hat einige Stücke mit welches die Wohnungszellen der Polypen und die Kanalräume umhüllt , besteht immer aus sechs Armen gefunden , die man wohl mit Recht für Monstrositäten hält ; ſonſt haben alle mikroskopischen Kristallen von kohlensaurem Kalke, welche die Kanten, Flächen und Winkel Crinoiden, die bis jetzt bekannt wurden, fünf, Dieselben sind häufig verästelte Arme. Die Hahnschen meist deutlich erkennen laſſen . Dieſelben eine beliebige Anzahl von bald sternförmig , bald mehr federförmig an- Crinoiden haben einander gepaßt. Mag nun das Skelett mehr | Armen “ ; auf einer ſeiner Photographieen zählt einfache Röhren, mit oder ohne äußere Poren Hahn fünf Arme ; da aber dieſe nur das Bild einer, aus einer kugelförmigen Masse herausoder Querscheidewände darstellen , wie dies bei den wenigsten Korallen der Fall ist, mag geschnittenen Scheibe darstellt, ſo muß auch dieſer es im Innern der Zellen strahlig gestellte Crinoid eine „ beliebige Anzahl von Armen“ Längsscheidewände bilden, immer sind alle diese besessen haben. Von Kelch und Stiel keine Teile aus Kristallgefügen zusammengesetzt, deren Spur; was als solches ausgegeben wird , ist Phantasiegebilde. Das ganze Skelett der echten einzelne Elemente deutlich zu erkennen sind. Crinoiden, Platten, Cylinder, Stücke groß und Von dieser charakteriſtiſchen Struktur zeigen die sog. Korallen der Meteorite keine Spur. klein, zeigt eine maſchige, gefensterte Struktur, die allen Skelettstücken aller Echinodermen, Während wirkliche Korallen bald ästig, baumartig, bald massig sind, zeigen diese sog. Korallen Seeigel, Seesterne u. s. w . zukommt ; von alle absolut dieselbe Gestalt, wie die Uranien ; sie | dieser höchſt charakteristischen Struktur zeigen die zweifellosen Crinoiden “ Hahns, die „sog . find ebenfalls Durchschnitte von kuglichen oder Crinoiden" Weinlands keine Spur, weil sie eiförmigen Konkretionen, haben dieselbe „ rundeben keine Crinoiden sind. liche Lappenform" , wie diese und sind von
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Das Fazit unserer vergleichenden Unter- | durchlesen, diese Entwickelung von Crinoiden aus niederen Formen , als im Ernste vorgetragen suchung stellt sich also so : die sog. Schwämme ansehen zu müssen. sind keine Schwämme , die vermeintlichen Gewiß , Dr. Hahn ist Korallen keine Korallen , die unzweifelhaften kein Zoologe und er hat nicht einmal die Crinoiden keine Crinoiden. Ahnung eines Verständnisses der Deszendenztheorie. Unter solchen Umständen ist freilich Ja, was sind sie denn? „Ten Beweis , daß in den Meteoriten Schweigen Gold. Aber der Beweis ist geliefert vom mineralogiorganische Formen, die mineralogisch sich nicht deuten laſſen, vorhanden sind, hat nach meiner schen Standpunkte aus, daß die in den Meteoriten gesehenen Dinge organische Formen sind ! Ueberzeugung Dr. Hahn vom mineralogischen Wenn ein solcher Beweis überhaupt vom Standpunkt aus vollständig geliefert, und durch mineralogiſche seine photographischen Abbildungen erhärtet," n Standpunkte aus geliefert werden könnte, was wohl sehr zweifelhaft iſt, ſo müßte sagt Dr. Weinland im „ Ausland “ . „Diese doch vor allen Dingen dargethan sein , daß epochemachende Entdeckung ist also sein Verein absoluter Unterschied zwischen organischen dienst. Als meine Aufgabe sehe ich es nunmehr an, die organische Struktur seiner Ge- und unorganischen Formen existierte , welcher bilde speziell mikroskopisch nachzuweisen , die sowohl im Leben , als nach der Versteinerung zum Teil sehr merkwürdigen Formen, die auf erhalten bleiben müßte. Leider existiert ein solcher Unterschied durcheinem anderen Weltkörper gelebt, mit unseren bekannten irdischen Tiergestalten zu vergleichen." aus nicht und die gewöhnlichen Schulbegriffe Unseres Bedünkens hätte man damit anreichen in zweifelhaften Fällen nicht zur Entfangen sollen. Wenn es sich darum handelt, scheidung aus . Mineralformen sind von ebenen Flächen , geraden Kanten , die Winkel bilden, bisher von allen Mineralogen für wirkliche Mineralgebilde angesehene Körper für organische begränzt, organische Formen dagegen von runden. Wesen zu erklären , so ist vor allen Dingen Flächen und Linien; Mineralien haben Blätterder positive Beweis zu führen, den Dr. Weinbrüche , organische Formen nicht ; Zellen und land erst hintennach zu liefern sich anschickt. Röhren können nur organiſch sein und was Aber, sagt uns Dr. Weinland, Dr. Hahn der Unterschiede mehr sein sollen, die man uns ist kein Zoologe , dagegen ein gewiegter vorführt. Alle diese Gründe klingen recht Mineraloge. schön, aber sie halten nicht Stich in zweifelLeyteres mag sein ; wir nehmen es auch haften Fällen. Das Skelett einer Koralle besteht nur aus ohne Beweis auf Treu und Glauben an; daß die erstere Behauptung richtig ist, davon Kristallen und nur diese Kristalle werden hat Dr. Hahn selbst den überzeugendsten Be- bei der Versteinerung erhalten, denn alle übrigen weis geliefert. Ich lese im sechsten Kapitel der Weichteile gehen zu Grunde. Erst die AnHahnschen Schrift , betitelt " Entwickelung" ordnung dieser Kristalle um die zu Grunde folgende Säße. „Daß Urania die einfachste gegangenen Weichteile herum kann uns über Form ist, ist sicher. Diese Form bildet aber ihre Zusammenhörigkeit mit einem Organismus Aufschluß geben. Eine Kristallgruppe auch den Anfang zu den folgenden. Der halbrunde Lappen teilt sich in Schichten, diese aus der Basis eines Koralls ist an und für Schichten in Röhren , die Röhren teilen sich sich und wenn sie, etwa durch Bruch, von dem quer jezt bilden sich Arme , welche ein übrigen Korall getrennt ist, von einer Gruppe Kanal verbindet. Es entwickelt sich eine Krone gewöhnlicher Kalkspatkristalle nicht zu unterzwischen Armen und Anwachsstelle und der scheiden. Die versteinerten Seeigelstacheln zeigen einfachste Crinoid ist da. Mag diese Kette meist die charakteristischen Blätterbrüche des allzu fühn geschlungen erscheinen, die Formen Kalkſpates in auffallender Weise und dennoch fordern unwillkürlich dazu auf. - Aber muß sind dieſe Stacheln Organe eines Tieres. Kridenn, wenn wir nur irgendwo in unseren stalle und Blätterbrüche sind also kein Beweis lebenden Formen eine Entwickelungsreihe auf gegen organischen Ursprung. Man findet in stellen wollen , nicht auch hier die Wandlung Dünnschliffen Formen, welche von organischen vor sich gegangen sein? Sicher." Es ist Formen nur schwer oder gar nicht zu unterwahrhaft haarsträubend, sich durch solche Dinge scheiden sind . Ich will einige Beispiele geben, 52
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gewachsen ! Wer könnte den Kristallgruppierun gen aus einem Diorite von Dillenburg in Nassau (Fig. 13) eine täuschende Aehnlichkeit mit den Vogelsberges u. s. w. haben Formen ableugnen, welche kennen gelehrt. Hier eine diejenigen Korallen zeigen, mikroskopische Alge (Fig. 9), die Mäandrinen genannt bei 500facher Vergrößerung werden? Aber niemand gezeichnet. Nichts leichter, wird diesem Diorit einen als daran das feine Ast- und marinen Ursprung zuerfenLaubwerk , ja sogar solche nen, ebenso wenig als dem Samenkapseln zu demonPhonolith (F. 14), den ich strieren, wie Dr. Hahn sie Fig. 9. Lava von 1669. am Laugarfjall in Island bei seinem Eophyllum und der Urania, als sie noch Pflanze war, gezeich gesammelt habe, an dessen Fuß der große net hat. Aber ich müßte ein Eophyllum Geysir sprudelt und der um zentrale Mittelvulcanicum daraus machen, denn das Gebilde punkte oder Höhlungen gelagerte konzentrische stammt aus einem Glaseinschlusse des Kreise erkennen läßt, welche zellenartig umschrieben und aus feinen Fäserchen Lavastromes vom Aetna, welcher Catania im Jahre 1669 verwüstet und die bekann gebildet sind, die nach allen Seiten hin ausstrahlen und das Bild eines Schwamten Monti rossi bei Nicolosi aufgeworfen mes mit Röhren uns entgegentragen. hat. Ferner ein Stück Holz (Fig. 10) Aber es ist erlaubt, noch weiter zu im Längsschnitte - man sieht deutlich gehen. In Gemeinschaft mit meinem die Harz- und Markzellen, quere AbKollegen an der Genfer Universität, Prosonderungen, Stengelgliederungen entsprechend es ist ein längsgeschliffener fessor Denis Monnier , habe ich nachKristall aus dem Augit - Porphyr des gewiesen, daß man aus absolut unorMonzoni in Südtirol und (Fig. 11 ) ein ganischen Substanzen willkürlich, nach Querschnitt eines ähnlichen Kristalls Belieben, organische Formen herstellen fann : Röhren , Schläuche , Zellen , die zeigt die in konzentrischen Kreisen geordneten Einlagerungen, welche die Struktur unter bestimmten Bedingungen stets dieeines Holzes mit Markstrahlen deutlich selben sind. Der Versuch ist leicht annachahmen. Hätte man nicht einen anzustellen , schlägt niemals fehl und ich deren Querschnitt daneben (Fig. 12), wo Fig. 10. Kristall will das Rezept dazu geben. Jeder, der aus Augitporphyr ein Mikroskop besißt , fann das einfache des Monzoni. an einem abgerundeten Teile edige Kriwelche sich denjenigen anreihen, die Zickel und andere schon längst aus dem Bechstein von Arran, dem Tachylit des
Verfahren wiederholen. stalle , ebenfalls mit Einlagerungen in Man zerreibe ein tristallisiertes , schwefelZonenreihen sich finden, so könnte man glauben,! es sei Holz in der alten Lava des Monzoni saures Metallsalz äußerst sein, so daß es ein unfühlbares Pulver bildet. Schwefelsaures Kupfer , Eisen- und Zinkoryd geben die besten Bilder. Man bringe auf einen gewöhnlichen Objektträger von Glas einen Tropfen von sogenanntem Wasserglas, fieselsaurem Natron in Wasser gelöst. Die LöFig. 12 Querschnitt eines Kristalls. sung muß so verdünnt sein, chen des Metallsalzes fallen, indem man eine Prise daß der Tropfen noch gerade eine halbkugeliche zwischen den Fingern reibt und beobachte nun unForm annimmt. ter einer Vergrößerung von 50-100 Durchm. Man lasse auf diesen Tropfen einige StäubFig. 11. Querschnitt eines Kristalls.
Die Bildung der Meteorsteine.
Ein jedes Stäubchen wird sich mit einer Zellenhaut umgeben und aus dieser Zelle wer den Schläuche oder Röhren hervorwachsen, runde, von einer deutlichen Haut umgebene Röhren, die unter den Augen des Beobachters sich strecken, dehnen, unter einem starken dialy-
Fig. 13. Diorit von Dillenburg.
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tischen Strome durch die Wand hindurch sich mit Körnchen füllen, hier und da Querscheidewände bilden und endlich, wenn die Reaktion erschöpft ist, meist mit einem zugespitzten , geschlossenen Ende aufhören. Die Körnchen im Innern lagern sich häufig an den Wänden,
Fig. 14. Phonolith von Laugarfjall.
oft auch in der Are des Schlauches ab ich Haut hat, lebhafte endosmotische Strömungen habe Röhren, von schwefelsaurem Zinkoryd gegestattet und die Form einer runden, oft gebildet , gezeichnet , welche von einer gewöhn wundenen und mit Querwänden versehenen lichen Nervenfaser durchaus nicht zu unterRöhre annimmt , wie man sie bisher nur orscheiden sind , wäh ganischen Wesen zu stehend glaubte. rend Röhren von Hier ist aber abschwefelsaurem Kupsolut nichts Orga feroryd den Befruchnisches im Spiele ; tungsschläuchen von Florideen in ihrem chemisch reine MiWachstum, wie in neralsubstanzen bringen diese Forihrer Bildung so men unter allen ähnlich waren, wie ein Ei dem andern . Umständen hervor und die Weite und Kieselsaures NaLänge der Röhren, tron, reines Wasserglas, mit schwefeldie Lebhaftigkeit, mit welcher sie wachsen, faurem Kupferoxyd die Menge und Anzusammengebracht, lagerungen der bildet schwefelsaures Körnchen im InNatron, das sich Fig. 15. Schwefelsaures Kupferoxyd. in Wasser löst und nern hängen von unlösliches kieselsaures Kupferoryd ; da aber | Nebenumständen ab , die der Erscheinung an die Flüssigkeit, in welcher die Reaktion vor sich und für sich keinen Eintrag thun. Nimmt man statt Kupfer Nickel oder Kobalt, geht, eine etwas schleimige, dickliche Konsistenz hat, so bildet der Niederschlag nicht ein Pulver, sondern eine kontinuierliche Haut , die alle Eigenschaften einer pflanzlichen oder tierischen
so erscheinen modifizierte Formen. Die Zelle ist dicker, beständiger ; die Röhren strahlen meiſt nur an einer Seite aus, füllen sich dichter mit
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Körnchen, bleiben fürzer und in dickeren Um Haut, innerem Raum und Kern und sehr hüllungshäuten eingeschlossen , welche oft ein zahlreichen , körnigen Porentanälen (in der bräunliches, horniges Ansehen haben; wir haben. fleinen Zelle zeigt eine eingeschlossene Luftblase so Figuren erzeugt, welche jenen Wappenschildern den Innenraum) ; Fig. 18 gibt eine Ansicht ähnlich sehen, die man in der Rokokozeit herzustellen liebte. Wendet man statt des Wasserglases eine Auflösung von zuckersaurem Kalk an, so bilden sich mit den genannten Mineralsalzen dieselben Schläuche und Röhren. Diese Reaktion war in der That diejenige, welche mein Kollege Monnier zuerst gesehen Fig. 16. Doppeltkohlensaures Kali. hatte; da man ihr aber den Vorwurf machen fonnte, daß noch ein organischer Stoff, die der von einfach fohlensaurem Natron gebildeten Zuckersäure, wenn auch nur in Auflösung, hier Zellen mit gewundenen hellen, an der Peripherie mitwirkte, die Röhrenbildung somit eine selbst sich deutlich öffnenden Kanälen. der aufgelöſten organischen Substanz angehörige Ich will auf die weiteren Folgerungen aus Eigenschaft sein könne, so suchten wir nach einem Mineralsalze, das eine ähnliche , sirupähnliche Konsistenz bieten konnte und fanden in dem Wasserglase die gesuchte , rein mineralische Flüssigkeit. Die Identität der Reaktionen zeigte uns, daß die Zusammensetzung der Flüssigkeit, ihre organische oder unorganische Herkunft, abgesehen von ihrer physikalischen Beschaffenheit, Fig. 17. Doppeltkohlensaures Natron. nicht in Betracht kam; daß die Bestimmung diesen Versuchen , mit welchen wir eben noch der Form nur von dem festen kristallisierten beschäftigt sind, nicht näher eingehen ; sie sollen Metallsalze abhing ; alle Metallsalze, mit wel hier nur meine Behauptung erhärten, daß ein chen wir experimentierten, erzeugten genau die absoluter Unterschied zwischen orgaselben Formen mit beiden Flüssigkeiten. So konnten wir denn auch mit solchen Salzen operieren, welche mit dem Wasserglas keinen Niederschlag bilden, wohl aber mit der zuckersauren Kalk enthaltenden Flüssigkeit. Hier zeigte sich nun die merkwürdige Thatsache, daß alle kohlensaure Alkalien Zellen bilden , runde oder eiförmige Zellen, mit von der Mitte ausstrahlenden, bald geraden , bald gewundenen Borenkanälen , die an der Ober-
fläche ausmünden, bald weiter, bald enger und wie die Schläuche von so konstanter Form sind, daß die Gestalt dieser Zellen und ihrer Porenkanäle sogar als Mittel der Analyse benutzt werden kann, indem man z . B. in Gemengen von doppelt und einfach: kohlensauren Salzen die Beimischung an der Gestalt dieser Zellen erkennen kann. So bildet doppelt kohlensaures Kali mit der erwähnten Flüssigkeit dicke Zellen mit einzelnen , weit konischen Porenkanälen (Fig. 16 nach einer Photographie) ; doppeltfohlensaures Natron ( Fig. 17) Zellen mit dicker
Fig. 18. Einfachtohlensaures Natron. nischer und unorganischer Form gar nicht existiert und man deshalb nicht sagen kann, irgend jemand habe vom mineralogischen Standpunkte aus die Unmöglichkeit nachgewiesen, daß eine gegebene Form eine anorganische Form sein könne. Wenn ich in jedem Augenblicke nach Belieben Schläuche, Röhren mit Querscheidewänden aus kieselsaurem Kupfer , Zinkoder Eisenoryd, Zellen, runde, von deutlichen Membranen umhüllte Zellen mit oder ohne
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Porenkanäle aus kohlenſaurem Kalke herstellen : Laie muß auf Treue und Glauben hinnehmen, kann , so hört aller Unterschied zwiſchen an- | was man ihm als beobachtet darbietet ; er hat organischer und organischer Form auf; so kann nicht die Mittel in der Hand, um einen fridie organiſche Natur eines Gebildes , das wir tischen Maßstab anzulegen , die Fehlerquellen im Steine finden , nur dadurch nachgewiesen aufzudecken und die Wahrheit aus dem Gewerden , daß man die Identität der Struktur wirre herauszuschälen. mit derjenigen zweifelloser organischer Wesen Diese Aufgabe ist selbst für den Geübten darthut. in vielen Fällen außerordentlich schwer , bei den sogenannten Organismen der Meteoriten Aus diesem Grunde sagte ich oben , daß ist sie verhältnismäßig leicht. man das Pferd beim Schwanze aufgezäumt Man sagt uns : Alles Leben ! Nur ein habe bei dieser Frage von sogenannten OrgaTierfilz ! Ein Schwamm-, Korallen-, Crinoinismen in Meteorsteinen , indem man jezt erst dasjenige thun will, womit man hätte an- den-Gestein ! Keine Mineralform ! Nur Blätter, Röhren, Arme! fangen sollen, nämlich mit dem Nachweise, daß die sogenannten Schwämme wirklich die Struktur Es hält leicht , durch Behandlung mit von anerkannten Schwämmen haben, die Korallen Säuren , durch Schleifung bis zur äußersten mit unzweifelhaften Korallen, die Crinoiden mit Dünne der Plättchen nachzuweisen , daß alle wirklichen Seelilien in allen Einzelheiten des diese sogenannten Organismen aus Kriſtallen Baus übereinstimmen. bestehen, Kristallen mit doppelter Lichtbrechung, Ich will auf den gespreizten Orakelton, bald mehr massig, bald mehr stänglich entauf die wirklich maßloſe Ueberhebung der eigenen wickelt, von dunklen Subſtanzen umhüllt, welche Arbeit, womit Dr. Hahn ſeine ſog. Entdeckungen das Bild von Röhren erzeugen , vielfältig verkündet und den wohl begründeten Einwürfen, gebrochen und zersplittert , so daß die in die wie sie z . B. Herr Rzehak im „ Ausland" machte, Brüche eingedrungene dunkle Substanz sich als antwortet, ebenso wenig weiter eingehen, als eine Querscheidewand unter dem Mikroskope auf den begeisterten Päan , den Herr Ernst darstellt . Kapp in den Westermannschen illustrierten Es ist nachgewiesen, daß die verschiedenen. Formen , unter welchen sich diese sogenannten Monatsheften" ohne irgend welche Spur von kritischer Sichtung der zu Grunde liegenden Organismen präsentieren, auf künstliche Weise, Beobachtungen angestimmt hat. durch Schmelzung oder unmittelbare UeberHier liegt nun der Beweis vor, daß man führung der bildenden Elemente aus dem gasmit dem besten Willen, bei ausdauernder Arbeit förmigen in den festen Zustand dargestellt werden können, also durch Vorgänge, welche alles irren kann , wenn man sich gewiſſermaßen in organische Leben vollständig ausschließen . Diese eine einzige Methode der Untersuchung verbohrt, weder nach links, noch rechts und noch Versuche waren bekannt, ehe die organiſche Naweniger nach rückwärts schaut, und wie von tur der Chondrite behauptet wurde — warum einer firen Idee befangen , alles in die spaniwiederholte man sie nicht zur Kontrolle der schen Stiefel der vorgefaßten Meinung eineinseitig nur an Schliffen angestellten Beobachzwängen will . So wie die Spiritisten überall tungen? Sie waren ebenso bekannt, wie die Geister sehen, die Magnetiseure überall mag- | Methoden der Behandlung der Schliffe und netisches Fluidum spüren , die Odisten , denn der Chondren im ganzen mittelst Säuren, aufauch diese Schüler des seligen Freiherrn von lösenden Alkalien , die Durchschleifung der Reichenbach tauchen wieder auf, überall bald Schnitte bis zu äußerster Dünne und selbst Warum wandte kühl , bald warm fühlen , ſo ſieht derjenige, gänzlicher Desaggregation . der sich in die Organismen der Meteorsteine man diese Methoden nicht zur Kontrolle der verrannt hat, überall organische Form, Struktur einfachen mikroskopiſchen Beobachtung an ? und der unzweifelhafteste Kristall wird ihm Es war längst bekannt, daß die Versteieine Grundlage, auf die er die organische Natur nerungskunde auf der eingehendsten, bis in das kleinste Detail sich vertiefenden Vergleichung des ganzen Weltalls aufbaut. In der Wissenschaft schaden solche Irrunder lebenden mit den fossilen Organismen beruht, daß nur dann ein Resultat mit Sichergen nicht, sie nützen im Gegenteile, weil sie zu erneuten Forschungen anspornen. heit proklamiert werden kann, wenn diese VerAber der
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gleichung vorgenommen worden ist wo sind diese eingehenden Studien ? Sie sollen erst noch gemacht werden! Statt solcher Beweise tischt man uns allgemeine Redensarten auf von organischer Form, von der Unmöglichkeit des Minerals Zellen und Gefäſſe zu bilden, und wir bringen den Beweis, daß diese ausgesprochensten organischen Formen nach Belieben fünstlich aus Mineralstoffen erzeugt werden. können. Es ist recht schade ! Es geht mir und anderen vielleicht mit den Organismen in den Meteoriten, wie mit der Urzeugung ; es wäre uns recht angenehm , paßte uns in den Kram, wie man zu sagen pflegt ; aber so lange ein zwingender Beweis nicht geliefert ist, alle Beobachtungen und Versuche vielmehr für das Gegenteil sprechen, müssen wir der Wahrheit die Ehre geben. Der neuen Weltanschauung , welche uns Herr Kapp aus den Organismen der Meteoriten entwickelt hat , wird somit freilich der thatsächliche Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre Lage wird allerdings dadurch nicht geändert. Sie schwebte schon vorher in der Luft und kann auch fernerhin schweben bleiben. Unsere Zeit ist außerordentlich günstig für solche harmlose Uebungen. Die Weltanschauungen schlüpfen zu Tusenden, sogar aus ungelegten Eiern aus ; die geringste Frage wandelt sich im Handumdrehen zu dem archimedischen Punkt, vor welchem uns nicht nur die Erde, sondern das ganze Weltgebäude aus den Angeln gehoben und nötigenfalls auf den Kopf gestellt wird. Nehmen wir einmal an, die Existenz von Organismen , die mit den auf der Erde le-
diese Bedingungen mehr oder minder auf der Venus erfüllt seien. Niemand würde den Wert dieser Entdeckung unterschäßen. Aber dabei müßte die nüchterne Naturforschung auch stehen bleiben. Die Organismen eines andern Himmelskörpers können uns kein Tüttelchen mehr sagen über den Anfang des organischen Leben , über das Verhältnis des Organischen zum Unorganischen, kurz über alle die Fragen, welche uns die organische Welt entgegenwirft, als die Organismen der Erde ſelbſt - sie können dies um so weniger, als sie nach den Behauptungen der Entdecker selbst, den Erdorganismen ſehr nahe ſtehen, also unter denselben Bedingungen entstanden sein und gelebt haben müſſen. Die Eisenblöcke können uns über die Himmelskörper, welchen sie entstammen, nicht mehr Aufschluß geben, als das Baſalteiſen von Ovifak über unsere Erde beide können uns nicht einmal über das Innere der Erde und der Himmelskörper belehren, denn der Basalt kann ebensowenig als die Lava aus größerer Tiefe als höchstens 20 km auf die Oberfläche gehoben ſein, weil die Spannfraft des hebenden Wasserdampfes nicht weiter reicht. Was hat aber dies alles mit der Weltordnung zu thun? Es ist also rein unerfindlich , inwiefern
unsere Weltanschauung, unser Begriff von dem großen Weltganzen geändert werden könnte durch den Nachweis, daß es noch andere Weltförper gibt, die an ihrer Oberfläche und in der höchst oberflächlichen Kruste von 10-20km Dicke dieselben physikalischen , chemischen und organischen Verhältnisse besigen , wie sie von unsrer Erde bekannt sind. Wozu also der Lärm ?
benden Tieren niederer Klaſſen große Aehnlichkeit haben , sei wirklich unumstößlich und Nachschrift. Dieser Aufsatz war seit Anendgültig in den Meteoriten nachgewiesen. fang März in den Händen der Redaktion. SeitWelche Schlüsse würde man daraus entnehmen können ? Toch wohl nur soviel, daß diejenigen her sind faſt gleichzeitig erschienen : Meine größere Abhandlung Sur les prétendus organismes Astronomen, welche wie Flammarion und andere, die Existenz bewohnter Weltkörper behaupten, des Météorites " in den Mémoires de vollkommen recht haben ; daß vielleicht in andern l'Institut genevois " und eine kleine Schrift von Dr. Weinland " Ueber die in Meteoriten Sonnensystemen, deren ja so viele existieren, entdeckten Tierreste", in welcher endlich der Vervielleicht sogar noch in dem unserer Sonne | ſuch gemacht wird, die Formen mit wirklichen Weltkörper sich befinden in ähnlichen Verhältnissen wie unsere Erde , ausgestattet mit Organismen zu vergleichen . Wie dieser Verall jenen Bedingungen, wie sie zum Leben nie- such ausgefallen ist, wird sich erst beurteilen. derer Tiere im Meere notwendig sind und daß lassen, wenn die zugesagte größere , mit Abdie Meteoriten von solchen Körpern stammen. | bildungen versehene Abhandlung erschienen ſein wird. Halten ja doch viele Astronomen dafür , daß
Alfred von Wurzbach. Die Naturalisten der Gegenwart.
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flossene Epoche ähnliche Erscheinungen aufwies, und ob wir in der Lage sind, die Ursachen derselben zu erkennen und uns klar zu werden vermögen , zu welchen Konsequenzen sie führen Alfred von Wurzbach. müssen. Vor allem anderen begegnen wir hierbei einer Thatsache , welche bis jest nicht nachBisher entwickelten gewiesen werden konnte. Zinem aufmerksamen Besucher der großen Einem Schulen, berühmten und großen die sich Kunstausstellungen , welche in den lezten Jahren in Paris, München, Düſſeldorf, Wien und wie die italienischen, die spanische, die niederanderen Orten stattfanden, dürfte die ungewöhnländischen und die französische in ihrem engen territorialen Rahmen. Jeder fremde Einfluß, liche Schaffenslust der gegenwärtigen Epoche ebenſo aufgefallen sein, wie der Mangel eines einheit den sie erfuhren , war nur durch die Wanderung des Künstlers nach einer fremden Stadt, lichen Gesamtcharakters an den einzelnen Produktionen. Der Katalog des leßten Pariſer Salons 3. B. Rom, möglich, während welcher er neue, wies 6000 Objekte von Künstlern aller Länder auf, ihm bisher unbekannte Eindrücke aufnahm . jener der lezten akademischen Ausstellung in Mit wenig Ausnahmen ist es aus den Werken Berlin desselben Jahres ( 1880) mehr als 1000 ; aller deutschen , niederländischen und franzögewiß respektable Zahlen , die eine Thätigkeit sischen Künstler , zuverlässig zu konstatieren, ob und wann sie Italien besucht haben. Die auf dem Gebiete der Luxuskünfte konstatieren, neuen Ideen und Formen, welche ihnen be hinter welcher die verflossenen Jahrzehnte und kannt wurden oder welche fremde, aus Italien Jahrhunderte weit zurückgeblieben sind. Aber oder anderwärts eingewanderte Künſtler in die all diese Schöpfungen belebt kein dominierender Schule trugen, sind genau zu erkennen und Gedanke, sie verdanken ihre Entstehung lediglich dem Bedürfnisse des Talentes zu produ- | nachzuweisen. Die Kunst war damals eine in vollstem Sinne des Wortes nationale , ja zieren , und seinem Wunsche , der gesteigerten vielleicht noch mehr als dies , sie war das Nachfrage unserer reicheren und feinsinnigeren Produkt einer rein örtlichen, in ihren Formen Generation zu genügen. Dem Künstler unserer Tage fehlt die klare Erkenntnis deſſen, was er lediglich auf die Erscheinungen im Bannkreise zu schaffen hat , er fühlt nur , daß die Be- einer Stadt eingeschränkten, schöpferiſch reproIch erinnere nur an dingungen , unter welchen er es kann , durch duzierenden Fähigkeit . Harlem, an Antwerpen und die daselbst blühenden täglich zunehmenden volkswirtſchaftlichen den Schulen. Reichtum günstiger geworden sind ; daher überBon ähnlicher Beschränkung kann heute rascht uns ein Stilgemenge der abenteuerauch im entferntesten nicht mehr die Rede sein: lichsten Art ; wir finden den Nachahmer der die Eisenbahnen erleichtern den Verkehr in nie. Antike neben dem Imitator Raphaels und geahnter Weise ; die Photographie trägt die Michel Angelos, den Kopiſten Rembrandtscher neuesten Pariser Schöpfungen, noch ehe ſie auf Lichteffekte neben dem Nachahmer der Rubens der Leinwand trocken geworden , nach Wien schen Formen, den Idealisten und Manieristen und Berlin; ein territoriales Festhalten künstneben dem Naturalisten. Wir stehen einem Die Naturalisten der Gegenwart. - Von
Aufwande von Talent und Geschick gegenüber, der uns wahrlich peinlich anmutet, wenn wir bedenken, daß in all den tausend und tausend Schöpfungen so wenig wahre Originalität und so ungewöhnlich viele fremde Eindrücke zu Tage treten. Die Erscheinungen im intellektuellen Leben der Völker sind immer dieselben ; dieselben Ursachen müſſen dieſelben Wirkungen hervorrufen, und darum reizt uns die Untersuchung, ob es jemals in der Entwickelung der bildenden Künſte etwas Aehnliches gegeben, ob eine andere ver-
lerischer Ideen und Formen ist heute ebenso unmöglich wie das Eindämmen des Einfluſſes der ausländischen litterarischen Geistesprodukte auf das Inland. Ja, die letteren erfordern noch Kenntnis der fremden Sprache, und das zuweilen Zeit und Sammlung heischende Durchlesen eines Buches ; das Bild erfordert nichts , es will nur gesehen sein , um seinen Eindruck sofort geltend zu machen. Die Kunst ist somit eine internationale geworden, oder ist auf dem Wege es zu werden. Ein ungarischer Maler, der in Paris seit Jahren sein Atelier hat, kann nicht
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Alfred von Wurzbach.
mehr für einen ungarischen Maler angesehen | Kunſt einen enormen Einfluß gewonnen, und förmlich entmannend auf das Genie gewirkt. werden; er ist als Magyare geboren, aber geAlles flutet bunt durcheinander, als hätte der arbeitet hat er als internationaler europäischer Künstler. elektrische Strom mitten durch die Werkstätte Ungeachtet dessen, wird jedem Künstler ein des Talentes gespielt und das Genie in seine einzelnen Elemente zerſeßt ; hier hängt eine nationaler Zug immer haften bleiben , den er Landschaft à la Ruysdael, hier eine Maebensowenig wird abstreifen können , wie seine donna à la Raphael , dort ein männliches eigene Haut, aber dieser kann nur als ein inPorträt à la Rembrandt, da ein weibliches dividueller für ihn charakteriſtiſch sein. Wir
haben noch heute deutsche, englische, französische, belgische Maler , aber von einer französischen, belgischen odermünchener und düſſeldorfer Schule kann nur in bezug auf Geburt und Aufenthalt des Künstlers , mechanische Fertigkeiten und Atelier - Traditionen , nicht aber mit Hinblick auf künstlerische Ideen und Formen die Rede sein. Es ist heute nicht der geringste Umſtand geltend zu machen, warum man nicht in Mailand, München oder Wien genau so und dasselbe produzieren solle , wie in Paris oder Brüssel. Früher war dies nicht möglich. Werfen wir aber, von dieser Thatsache ganz abgesehen, den Blick zurück, um zu untersuchen, wo wir ähnliche Erscheinungen wahrnehmen, wie die oben angedeuteten ? Wir müssen
à la van Tyf, nur die Originalität des neunzehnten Jahrhunderts wo ist sie? Und wenn sie irgendwo erscheint , wie sieht sie aus ? Und trozdem klingt es unglaublich : Unter so viel tausend Meistern soll keiner originell sein? Es wird uns Niemand zumuten , eine Zeit, welche so viele Talente in Bewegung seßt, für künstlerisch impotent zu halten. Dies iſt ſie gewiß nicht ; aber was ist die Aufgabe des Talentes , wo liegen seine Stoffe , wie sehen die Formen aus , welche es zu behandeln hat ? Wer hat es zu thun, um nach Jahrhunderten noch genannt und nicht für ewig vergessen zu Welche sind diejenigen , die man werden ?
nennen wird, welche wird man für immer begraben ? Bei diesen kolossalen Unterſchieden aufrichtig gestehen, daß wir nirgends, zu keiner | zwischen den einzelnen Produktionen muß doch bei der einen oder andern auch die Zukunft Zeit, einer ähnlichen Ratlosigkeit, einem der artigen Hin- und Herschwanken in der Aufin betracht kommen, denn alles wird ja nicht in den Kehricht wandern ! faſſung und Darstellung künstlerischer Formen, Wir müssen gestehen, daß diese Fragen nicht einer derartigen Heimatlosigkeit der Ideen begegnen wie heute. Die letzten drei Jahrleicht zu beantworten sind . Vor allem ist es gehunderte, die kunsthistorisch am leichtesten zu wiß, daß jene Bedingungen, welche bis jezt maßüberblicken sind, bieten allerdings ähnliche, aber gebend waren, wenn es sich darum handelte, den Namen eines Künstlers bis auf unsereTage feine analogen Erscheinungen. Wir sehen in Holland die Kunst zwischen einem anspruchszu erhalten, auch maßgebend sein dürften, ihn losen Naturalismus und einer affektierten Nachnoch weiter zu befördern. Van Eyck und Türer ahmung der Antike und der Italiener des sechzehn- kennt jedermann, die Hemskerk und Corie geten Jahrhunderts hin und herschwanken, aber rieten so total in Vergessenheit, daß man die nur zwischen diesen beiden ; wir sehen in Frank- Werke der Träger dieſes Namens nicht einreich die fümmerlichen Anfänge eines nationalen mal vorzuweisen vermag, obwohl die BerühmtNaturalismus mit der größten Anstrengung heit der leztgenannten, unter den Zeitgenossen, gegen die Akademiker kämpfen , und sehen sie jene der van Eyck und Dürers weit übertroffen länger als hundert Jahre unvermögend, zur haben muß. Die beiden lezten waren NaGeltung zu gelangen, aber niemals gab es turalisten im vollsten Sinne des Wortes ; die ähnliche Stilmengung, eine ähnliche Ohnmacht beiden anderen waren nach unseren heutigen Beund Willenlosigkeit in der Selbstbestimmung griffen Manieristen, Nachahmer der Antike und des Künstlers , wie wir heute allerorten ge- der Italiener. Diese beiden Beiſpiele ließen wahren. sich nach Willkür vermehren, aber sie entscheiden. Die oben hervorgehobene Wanderlust für uns stets zu gunsten derjenigen, welche sich an der fremden Formen und Ideen, mit anderen dieNatur, an ihre unmittelbare Umgebung hielten, Worten die technischen Erfindungen unserer und in ihren Schöpfungen einer anspruchsZeit, haben auf den Entwickelungsgang der losen Naivetät gehorchten , ohne sich um das
Die Naturalisten der Gegenwart. zu kümmern, was berühmte Meister , unter ganz anderen , wenn auch ihren Schaffensbedingungen ähnlichen Lebensverhältnissen hervorgebracht hatten. Dies ist unumstößliche Thatsache. Rembrandt z. V., aus deſſen sämtlichen Arbeiten nicht einmal die Kenntnis der Antike oder Raphaels nachzuweisen ist , war ein leidenschaftlicher Sammler italienischer Bilder und Kupferstiche und bezahlte sie mit den höchsten Preisen. Er hat sie somit gekannt , beſeſſen und auch geschätzt, aber in seine Werke ist nicht ein Hauch der Kunst des Südens hinüber gegangen. Er wußte wohl, daß ſie dieſe Miſchung nicht vertragen würden und bewahrte sich seinen unvergänglichen Ruhm für ewige Zeiten. Andere, die nicht so dachten, die von den fremden Formen und Ideen nicht genug in sich aufnehmen zu können glaubten , sind längst vergessen , ihre Werke längst zu Grunde gegangen ! Wer spricht heute noch von dem einſt berühmten Laireſſe ? Es scheint sonach gerade die leichte Vermittelung fremder Ideen, der Weltverkehr auf dem Gebiete der bildenden Künste, jenes Element nicht zu sein, deſſen die Kunst vor allem anderen bedarf, um zu erstarken und zu gedeihen, und wenn wir richtig schließen, so hat plötzlich der arme Maler der ungarischen Pußta, der nichts weiß von Paris, London und Rom, weit gegründetere Aussicht nach Jahrhunderten gleichwertig einem Rembrandt oder Dürer aus dem Kehricht gezogen zu werden, als sein heute berühmter Landsmann, der am Pariser Boule-
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die unbedingt notwendige Grundbedingung jeder | dauernden künstlerischen Produktion, der Klaſſi= | zismus und Manierismus aber in all seinen Erscheinungsformen die Ausgeburt einer mit | unnötigem Wiſſen angepfropften künſtleriſchen Phantasie ; denn es ist gewiß, wenn die größten Naturalisten, die Dürer, Rembrandt, Rubens | berühmt wurden, für alle künftigen Jahrhunderte, ohne die Antike imitiert zu haben, fann der Naturalist unserer Tage gewiß zu derselben Stufe gelangen, ohne sie, oder ohne einen der Genannten zum Vorbilde zu wählen. | Es ist nicht nötig , die Werke Raphaels zu kennen, um ſelbſt ein Raphael zu werden ; das wird wohl Niemand bestreiten ; wo würde auch die akademische Weisheit ein Ende nehmen, wenn das wirklich nötig wäre. Ist dies aber in der That der Fall , dann ist ja derjenige auf dem besten Wege, der von all den Kunstwerken der Vergangenheit gar nichts weiß oder wenigstens nichts von ihnen wissen will, dann sind alle jene Künstler , die sich lediglich an die Natur flammern, an und für sich auf dem
richtigen Wege, und der moderne Naturaliſt ist der Meister der Zukunft! Ja und nein. Zwischen ihnen besteht noch ein gewaltiger Unterschied. Der Naturalismus von heute ist nicht immer der Naturalismus von ehedem. Der lettere fesselte die Personen seiner Umgebung, die Erscheinungen, die unmittelbar auf ihn einwirkten , auf die Leinwand. Der vard die Geliebte des Herzogs N. N. im Ge- | Holländer malte seine Fische , seine Bauern, schmacke Titians fonterfeit. seine Weiber, weil er feine anderen Objekte, feine besseren, keine schöneren kannte. Ihm war Aber das wahre und große Talent iſt, seine Frau so schön, wie uns die schönste Ballwenn seine Existenzbedingungen überhaupt vorhanden sind , unabhängig von der Stätte, an königin sein mag, der holländische Bürgermeister in seiner Amtstracht war seinem kleinstädtischen welcher es dieselben gefunden hat ; welches ist
das Zukunftsberechtigte unter uns , wie sieht demokratischen Gesichtskreise der höchste Würdenträger des Reiches, er hat nie einen höheren es aus ? In der Regel wohl ziemlich unscheinbar, und uns , die wir an Makartsches geſehen , der Schmuß, der ihn umgab , war Farbengetöse gewöhnt sind, dürfte es in vielen für ihn ein unvermeidliches Zubehör. Franz Hals malte seine Hille Bobe , weil und wie Fällen sogar dürftig erscheinen. Aber ganz er sie fand, er suchte sie nicht, um sie zu malen, bestimmt gehört es jenen Künstlern an , die, ohne nach den Waden Michael Angelos und ganz gewiß aber ging er nicht sehr weit, um sie zu finden , denn sie wohnte wohl in derden langen Beinen der medizeeischen Venus zu fragen, die Natur und die Menschen so selben Straße und er sah sie jeden Tag in der Schenke, die er besuchte. Die mythologischen darstellen , wie sie ihnen erscheinen , wenn sie Gestalten des Rubens, die Madonnen Raphaels, dieselben ohne Brille der Antike , ohne Objektiv unserer vielberufenen jüngsten Renais- | lassen sich zurückführen auf ihre Frauen und sance ansehen. ihre Maitressen, durch zahllose Handzeichnungen Es wäre demnach naiver Naturalismus und Skizzen wissen wir , daß es rasch der 53
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Eugen Klimsch. Schlafe, mein Liebling, schlafe ...
0 HG0 UN0 THER B 0 Schlafe, mein Liebling, ſchlafe ... Von Eugen Klimſch.
Natur abgelauschte Züge und Gestalten sind, | jederzeit bewußt werden, so ist er doch nichtsdie wir in den berühmtesten Werken der destoweniger unter zehn Fällen neunmal zu konstatieren. italienischen Meister wieder erkennen. Wenn Aber im letzten Falle, wenn die Schöpfung sie und ihr Gewand uns fremd berühren , so unmittelbar unter denselben Bedingungen entist es nur , weil uns die ganze Zeit fremd stand, wie jene Werke der berühmten alten geworden, mit ihrem Kostüm und übrigen Zu behör ; für sie aber war dies ihr Element. Meister, wenn sie ledig ist , jeder gesuchten Künstelei, jeder unwahren Schminke, wenn der Der Naturalismus aller 'großen Meister ist Pinsel des Malers nichts anderes ist, als das ein berechtigter und notwendiger gewesen, und Medium, welches die Eindrücke unserer Körperuns erscheint nur groß und bedeutend , was welt so veranschaulicht, wie dieselben vor seinem ihnen wahr gewesen. und unser aller Augen erscheinen- dann werden. Und der Naturalismus unserer Zeit ? Der Künstler sucht sich den Vorwurf, er findet ihn die Schöpfungen unserer Epoche, als Spiegelbilder unserer Vorstellungen, die Nachwelt ganz nicht mehr, er ersinnt und kalkuliert das Motiv, aber das natürliche Motiv wird für ihn im mit derselben Bewunderung erfüllen , wie irseltensten Falle zum Bilde; er illustriert einen gend ein Werk Raphaels oder Rembrandts. Aber es scheint, daß unserer Generation, Historiker, aber er malt keine geschichtliche Darstellung, die jedem von uns verständlich wäre; vermöge der obenerwähnten Ursachen , die Fähigkeit , die Dinge so zu sehen , wie sie er legt einer Mythe eine Auslegung , einen Sinn unter, weil der, den sie in der That hat, uns erscheinen, vollkommen abhanden gekommen ist, so daß es unseren Künstlern malerisch ihm unverständlich oder abgebraucht erscheint, dünkt, sie so darzustellen , wie andere , längst und ihm nicht genügt ; er sucht endlich das Außer ordentliche, das Ungewöhnliche, das Schmußige, dahingegangene Geschlechter sie möglicherweise das Gemeine, und nun glaubt er erst mit darstellen würden ; infolgedessen sind sie nicht mehr im stande, ihrem künstlerischen Auge Recht, ein Naturalist zu sein. Es ist ein großer Unterschied zwischen allein zu folgen , sondern wollen durch Brillen diesen beiden Richtungen, und wenn wir ihn sehen, die für ganz andere Augen geschliffen auch nicht sofort erkennen und uns seiner nicht wurden.
Woldemar Baden. Engadina - terra fina.
Engadina
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terra
fina.
Bon Woldemar Kaden.
Zs ist zwölf Uhr mittags. Die Hiße brütet mit bleiernen Flügeln auf den Häusern der Stadt Neapel ; auf dem Golfe liegt ein dichter Schleier glühender Luft, durch welchenhindurch man hier und da das ferne Land , die Inseln zucken und zittern sieht. Menschen und Tiere erliegen dem bangen Drucke einer süd-
lichen Julisonne; die Glieder, unlustig zur Arbeit, sind gelöst , ge= löst sind die Gedanken, wie müde Sonnenfal ter , ohne Zweck und
Fata Morgana, und spiegelt ihnen Palmenhaine mit Seen und Brunnen vor ; und mir, da ich mit Hast ein paar schneegekühlte Gläser dunkelblutigen Lipariweines hinabge stürzt, erschien in der Wüste meiner Gedandie fen frische grüne Dase des Engadin, und wie träumend nahm ich mein Schweizeralbum und ließ sie vor meinenleiblichen und
geistigen Augen vorüberziehen , die Orte, wo ich vor Jahren so glücklich war: St. Dorf St. Morit. Moritz, am Ziel , flattern sie dahin und dorthin, auf blauen See , Silvaplana , das Eismeer von Blumen zu ruhen , die doch ihre Kelche geRoseg, den schneeluftumwehten Berninapaß, schlossen und welk herabhängen lassen ... Dem den weltfernen Puschlarer See und wie sie Verschmachtenden , dem Erglühenden schwebt alle heißen. Und da liegen auch die getrockwohl ein betautes Glas frischen Wassers oder neten Alpenblumen jener Zone: das Kräut ein ganzer Gletscher, von plätschernden bli lein Joa , weiße und rote Alpenrosen , Edelblanken Rinnsalen durchzogen, vor der Seele; weiß, Immergrün , Steinbreche und Vergißden ermüdeten, halbverdursteten Wüstenwandemeinnichtchen, neben Zweiglein von Zirbelkierern erscheint das trügerische Trostgesicht der fern und Lärchen, auch ein getrockneter Apollo-
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Woldemar Baden.
falter, auf den Wiesen Samadens gefangen, liegt dabei, und er erscheint mir wie eine arme Seele, deren Flügel zu ewigem Schlafe erstarrt sind. Ein eigentümlicher Duft haftet an den Blumen und wie er die Erinnerung weckt, seh' ich mich mit dem damals wieder nordwärts ziehenden Freunde im luftigen Postwagen leh nen, der die schöne Straße von Colico durch das Thal von Bregaglio dahineilt , um die steile Straße des Malojapasses zu erklimmen. Wir gemeinhatten schaftlich Sizilien und Süditalien durchwandert und heiße manche Stunde verlebt, umsomehr freu ten wir uns der wonnigen Kühle, die mit breiten
eines südlichen Pflanzenkleides streckte es sich zwischen den gewaltigen Bergzügen von Stalla und Avers einerseits, denen des Veltlins anderseits in die nebelblau verdämmernde Ferne hinein. Dann sahen wir um uns her das wilde Granittrümmergestein, die schroffen kalten Felsmassen, sahen die starren Nadelhölzer wie mit rauhem Werkeltagsgewand das Land, ſoweit das Auge reichte, bekleiden, — und fast wie Italienheimweh wollte es erfassen. uns Da kam aber eine fräuterwürzige Luft vom Osten her , auf dem Bernina geboren und blies uns alle dummen Gedanken mit ein= mal aus der Seele , und das Land blickte uns an, nicht wie eine Südländerin, aus deren dunfeln Glutaugen
Schwingen von allen Hängen herabwehte, und diese Freude wurde des öftern zum Gesang , zu deut= jchen Liedern, die dem schönen Walde aufden Bergen tönten. Mit der
leidenschaftliche Erfüllung fühnWünsche ſter spricht, sondern wie ein deutsches Weib, die mit Blicke sanftem uns zuflüstert:
Malojapaßhöhe hatten wir den höchsten Punkt des Innthales erreicht , fünftausendsechshundert Fuß stehen wir über dem Meere
Suranstalt zu St. Moriz.
und vollzieht sich von hier aus die Schei dung der Wasser nach dem Schwarzen und dem Adriatischen Meer. In dem stattlichen Gasthaus, dem ersten schweizerischen, nachdem wir so lange in italienischen Alberghi gehaust, tranfen wir dem frischen grünen Lande, das wir eben betreten, in Veltlinerwein ein freudiges Willkommen. Und nun wanderten die Blicke von dem hohen Piz della Margna, dem Piz Lunghino hinab in das Thal, in das bezaubernd schöne Thal, das wir eben durchfahren : im Lichte eines fast italienischen Himmels, im Schmucke
,,Du wirst mich lieben lernen . " Wir haben es gelernt, lieben und war diese
Liebe kein Rausch unter Rosen, so hat sie sich desto fester in unserem Herzen eingenistet. So ist es : die Schönheit des Engadin ist keine kokette, keine augenfällige, fie muß studiert werden. Sie besteht vor allen Dingen in der Ursprünglichkeit und Unentweihtheit seiner Natur. Wie es unsere Salonmenschen, die Jahre und Jahre mit ihresgleichen in strenger Form und Etikette verkehrten, die nach den herzvertrockneten Regeln der Konvenienz und Mode leben mußten, wie es diese überrascht und angenehm berührt, einmal im Verkehr mit ur-
Engadina - terra fina.
sprünglichen Naturmenschen , bei Schwarzbrot und Milch und naiven Dialektworten auf die Uranfänge ihrer geleckten und geschleckten Hyperkultur zu stoßen, so wirkt eine Wanderung durchs Engadin, wir haben's damals an uns selbst erprobt, auf den aus konventionellen Ge genden und pikanten Landschaften Kommenden : befremdend anfangs, bald wohlthuend, erheiternd und belebend. Wohl ist das Berner Oberland groß und schön mit seinen gewaltigen Berg stufen und ebenso gewaltigen Abstürzen, seinen
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wilden Felsensprossen und prächtigen Wasserfällen, mit all den reizend gruppierten Dörfern und altertümlichen Häusern , auch die Seegelände, wie schön sind sie, ganz gewiß unterhaltender und romantischer" als das Engadin, dem diese Herrlichkeiten mehr oder weniger abgehen, dem sogar, man sehe doch einmal die in stets gleiches Dunkelgrün gekleideten Berghänge zur Rechten und Linken des Thales an, eine gewisse Einförmigkeit nicht abzusprechen ist. Dennoch fährt das Engadin, jetzt, wo der
Aussicht von Silvaplana. Reiz der Neuheit doch längst vorüber , noch immer fort anzulocken, ja zieht mit jedem Jahr mehr und mehr Bewunderer heran , die des Breises voll nach Hause kommen und im nächsten Jahre neue Freunde hinsenden. Das Berner Oberland regt uns auf, das Engadin beruhigt, das ist vielleicht das ganze Geheimnis. Da sagen einige : Das Engadin ist in die Mode gekommen" das ist gar nichts gesagt: das Engadin ist ein Bedürfnis geworden. Und diesem Bedürfnis kamen die reg samen Bündner allseitig entgegen : sie haben gegraben, gesprengt, gebaut und geebnet, daß es
eine Lust ist ; die Poststraßen sind wahre Meisterwerke, und deren sieben sind es jest , auf denen, wie zu geöffneten Thüren, in Reise- und Postwagen , zu Fuß mit dem Stabe in der Hand, mit Koffern und zahllosem Gepäck oder dem leichten lufitgen Ränzlein, die zahlreichen Fremden aller Länder in das Engadin eintreten, und zuvorkommend in jeder Weise kommen ihnen die Einwohner entgegen, so daß der Gast nichts vermißt, was die große Welt da draußen nur irgend wie ihm bieten kann. So ist seitdem das Engadin mit seinem St. Morit und Tarasp- Schuls zu einemMekka und Medina
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Woldemar Kaden.
der Heilsbedürftigen , in allen seinen übrigen Teilen zu einem Eldorado der Landschaftsfreunde und Bergsteiger geworden. Was uns das Engadin bietet , ist zuviel, um es mit einem Mal , in einem Sommer schauen oder gar genießen zu können. Wer planlos kommt, muß in Verzweiflung geraten, es muß ihm wie dem hastigen Kind auf einer Erdbeerflur ergehen , wie einer Abendbiene, die in jähem Treiben Hunderte von Blüten überſieht, um an den übrigen auch nur in Eile kurz zu nippen. Wir erfuhrens damals, als wir vor unseren Karten saßen und all die Herrlichkeiten aus der Vogelperspektive unter uns hinziehen ließen. Siehe da, diese Berge, dieses lange Thal , diese zahlreichen Seitenthäler, dieses Hochland, das in
einem großen Bogen, wohl neunzehn Stunden lang, sich um den Südosten des Schweizerlandes schwingt und Oberitalien bei Chiavenna
Rojeg Gletscher mit Tirol und
Süddeutschland verbindet : ist das Engadin. Gewaltige vergletscherte Bergzüge, die als souveräne Herren auftreten , trennen es auf der einen Seite von der Mitte und dem Norden des Kantons Graubünden , den bedeutenden Thälern des Prättigaus, Davos, Bergün und Oberalbstein, auf der andern von den südlich angelagerten Landschaften des Veltlins, Poschiavos, Bormios, von dem Münsterthal und Vintschgau. Das Hauptthal, welches in seiner ganzen Länge, vom Septimer an bis zu der zweitausendfünfhundert Fuß tiefer liegenden Martinsbrücke, von dem Jnn durchströmt wird , teilt sich in ein Ober- und ein Unterengadin. Ersteres mit breiter, kräftig entwickelter Thal-
sohle, auf der sich trot ihrer bedeutendenHöhenlage eine rüstige Bevölkerung von über zehntausend Seelen in wohlgeordneten, ja schönen oft sogar reichen und luxuriösen Dorfschaften angesiedelt. Lesteres, mit enger zusammentretenden Bergzügen, hat eine Thalweite, des öftern Thalenge, welche keinen Raum zu den Niederlassungen der Menschen bietet, die sich darum mit ihren weniger schönen Dörfern auf die hohen terrassenförmigen Thalstufen sezten. Im Unterengadin kennt man Tarasp- Schuls , außer diesem wohl aber wenig anderes, denn es ist bis jetzt nur flüchtig in den Bereich der sommerlichen Entdeckungsreisen gezo = gen worden, während gewiß noch manche landschaftliche Berle in seinen Seitenthälern verborgen ruht. Den Namen deines geliebten Engadin wolltest du uns damals, ehrwürdiger Pfarrer Menni von und Chapütschin. Samaden, Ich habe auf mannigfache Weise deuten. mir deine Lehren in mein Taschenbuch geschrieben und da steht es und sei es jetzt zu Nutz und Frommen anderer , ein jeder hat die Wahl, erinnert. In capite Oeni " , was zu oberst am Inn" heißen würde, lautet in der Landessprache " en co d'Oen " , aber in einer Urkunde vom Jahr 930 wird das Thal Vallis Eniatina genannt, und da legt man dann aus und unter : En - Wasser, Jat Gegend, also Flußgegend. Wieviele andere Engadine müßte es doch geben ! Andere sagen Oeni gadina, was im Gaden des Inn" bedeutet, oder Aqua Deng, von der Hofstätte Deng oder Degn in der Nähe des Malojawirtshauses. Mag dem sein wie ihm wolle, wir meinten , das Thal müsse seinen Namen
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selbst hinein. Wie die Perlen an einer Schnur hängt der nachfolgende See von Silvaplana mit dem von Sils zusammen. Hier, wo die alte Julierpaßstraße in das Thal hinabsteigt, Silvaplana liegt Campfèr. und Silvaplana, ein freundlicher Ort, wie zur Ruhe in die mattengrüne stille Bernina Paß.
von dem schönen Jnn haben, noch jezt nennt das Volk alle Bäche, den die aus Seitenthälern stammen , Den. Daß das Oberengadin dieselbe Zweiteilung erfährt, wie das gesamte Engadin, ersieht man deutlich, wenn man den Malojaplatz gen Sils hinabsteigt. Es liegt dieses mit Silvaplana, Campfèr, St. Moris, Cellerina und Samaden oberhalb der Felsenschwelle, die sich bei St. Moris quer, wie ein Festungswall durch das Thal zieht. In der untern, nordöstlichen Hälfte liegen Bevers , Campovasto , Ponte , Zug und Scanfs. Obschon es das erstemal war, daß wir Engadiner Boden betraten, so hatten wir uns vorher doch so gut einstudiert, um nicht als gänzlich Fremde zu kommen. Das ist der Silser See! Und da lag er, mitten im Wiesengrün, der größte See des Engadin, an dessen Üfer die Straße, der von den herandrängenden Bergen kaum Platz gelassen wird , in sanfter Krümmung hinläuft. In den blauen Wassern spiegelt sich Sils und Maria, von Wald umfränzt, von prächtigen Felsengruppen überragt, und das Land steigt in einer waldigen Halbinsel wie zu erfrischendem Bade in die Wellen
Thalfläche hineingelagert. "1 Es lächelt der See" , die Herdengloden flingen von allen Seiten, die Blumen duften , Vögel fingen in den Wipfeln , bunte Schmetterlinge flattern über die Wiesen, in denen die Mäher gehen , wie leuchten die scharlachroten Röcke der Veltliner Frauen : es ist ein Idyll, ein bukolisches Gedicht. Aber groß und episch schauen die Berge herein, deren Felsenfüße auch hier hart an die Straße herantreten. Das sind die Ausläufer des Piz Julier, dessen Paß schon die Römer wanderten und die ihm den Namen des großen Julius gegeben haben sollen, während ihn andere dem Jul, dem Sonnengotte, weihen, der da droben verehrt wurde. Außer der hier mündenden Paßstraße, treffen vor Silvaplana die Straßen. von Chiavenna her und von Bernina zusammen , wodurch der Ort jedenfalls einige Anregungen erhält; sein Name aber " Ebener Wald" hat heute, wo dieser Wald verschwunden, keine Bedeutung mehr. Campfèr , das Schwesterörtchen am See ist ein kleines armes Hüttendorf, der alte Campus ferri , dessen Hütten , gleich Sklaven um den vornehmen Herrn , sich demütig um das Lurushotel Julierhof herscharen. Hier wird es lebendiger auf der Straße, die Nähe von St. Moritz verrät sich und zahlreiche Kurgäste und Touristen wandern, lustwandeln oder fahren daher, sich zum Ziel benachbarte Aussichtspunkte erlesend. Ringsum grünt die schöne Arve, die zarte Lärche, blühen die Wiesen, während die helle Sommersonne sich lächelnd in den glänzenden Eisspiegeln der Berggipfel beschaut und findet, daß sie noch immer schön, wie am ersten Tage sei. Und die Luft! Wie
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erquickend ist sie hier, wie rein und dustig, was braucht es deiner Quellen, St. Moriz, auch in diesem " Tau " muß man sich gesund baden können ! Aber nein, die arme Menschheit ist zu krank geworden : das Hasten und Trängen, der tolle Tanz , der wilde Kampf ums Dasein, Freud und Leid in leidenschaftlichem täglichen ja stündlichen Wechsel haben ihre Konstitution geschwächt , haben sie zu chlorosen , anämischen, nervenleidenden , skrofulosen und verdauungs-
schwachen Geschöpfen gemacht, und die schickt der Arzt zu den eisenhaltigen oder NatronSäuerlingen von St. Moris. „Ein Acetosum fontale, das ich für alle, so inn Europa erfaren hab, preiß, ist im Engadin zu St. Mouris, derselbig laufft im Augusto am sauriſten, der desselbigen Trankes trinket, wie einer Artnei gebürt, der kann von Gesundheit sagen“ .. so preist es Paracelsus. Doch da ist der See, grün und lachend, von Wald gefaßt, dahinter ragt die Spitze des
Weißenstein auf dem Alpulapaß.
allbekannten Piz Languard empor und hier zur Linken, an sanft geneigter Berghalde erscheint es selbst, das freundlich-tröstliche St. Moriz, das höchste Dorf des Engadins . Ad St. Mauritium, San Murezzaun der Romanen, einst ein Wallfahrtsörtlein, hat sich heute zu höch stem europäischen Baderuhme emporgeschwungen, und seine Lage, die trop alpiner Zone die freie Bewegung der Ebene gestattet, die ruhige Einfachheit und Größe seiner Landschaft hat schon ungemein viel nervenberuhigendes ; der Kranke fühlt es, sobald er in seinem Hotel, in seiner Pension abgestiegen, und auch der Gesunde genießt gern dieser wohlthuenden Ruhe.
Wie viel Menschen in St. Morig Unterkommen finden können , wer mag es zählen ? Der Menge der Hotels, Pensionen und „ Maisons" nach zu schließen , muß es aber eine kleine Armee sein. Das alte Kurhaus mit seinen siebenundsiebenzig Wohnzimmern und vierzig Badekabinetten genügte aber schon lange nicht mehr und so entstand ihm in dem neuen Kurhaus, oder besser Kuranstalt , ein mächtiger Nachbar, dessen Speisesaal, ein Beweis dafür, daß es „das Wasser freilich nicht allein “ thut, daß hier auch tapfer gegessen wird, allein hundert Fuß lang, vierzig breit und zwanzig hoch ist, und dreihundert Hungrige auf einmal
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speisen kann. Neue und alte Kurgebäude wurden durch Korridore miteinander in Verbindung gesetzt und das Ganze bildet einen gar ansehnlichen Gebäudekomplex, den der Kurgast allseitig durchwandeln kann , ohne ins Freie zu treten, wenn es, was eben auch vorkommt, im Thale Regen gibt. Auch zu der Paracel susquelle kann er jest trockenen Fußes durch die fast dreihundert Fuß lange Trinkhalle gelangen. Die prächtigen Anlagen vor diesem Kurhause sind auch rühmlich zu nennen , da grünt und blüht noch mancher Strauch, mancher Baum und manche Blume, die man hier oben nicht erwarten sollte, aber die
prächtigsten Anlagen hat die Natur doch eben wie der selbst geschaf fen : die kleine niedliche Nähe ver
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dern, wenn wir hier oben keine Agrumi brechen können, ja wenn uns sogar unsere Freunde aus der grünen Bergregion : die laubschönen Buchen, Eichen, Ulmen und Ahorne, die Nußund Kastanienbäume untreu werden. Im Engadin ist das Reich des Nadelholzes, dem aber ist kein Plaz zu steil , kein Ort zu rauh, es gedeiht in gesunder Fülle , und bei sechstaufend , siebentausend Fuß Höhe wachsen noch Rottannen , Lärchen und Arven so stark und hoch als irgendwo. Möchten doch die armen Damen, die da bleich und schwach unter ihnen her zur schönen Meierei Acla hinaufwandeln,nur einen fleinen Teil der schlanken freudis gen Ge sundheit so eines ferzengerad in denHim mel hineinwach senden Tannenbaumes haben; unser Le Prefe. warmes
schwin detgegen die große Ferne, in die sich hier unser Blick senkt , aus welcher im leuchtenden Eispanzer der Biz della Margna , der Morteratsch, der Piz Nair, Padella und Ot, die dunkeln Höhen des Juliergebirgs , die Gletscher gründe der Suvretta und der wilde troßige Kamm des Piz Languard hervorragen, und die Grüße, die uns diese Mächtigen zu jeder Stunde in unser Thal senden, die frischen und erfrischenden Lüfte, wie gern erwidern wir sie. In unser Thal - aber sind wir hier wirklich in einem Thale ? Zwar die Bedingungen dazu sind da : die Thalsohle, die säu menden Höhenzüge zur Seite geben uns den Wahn, in einem tiefen Thale zu sitzen , und dann erfahren wir, daß wir uns auf dem Promenadeplatz von St. Morit in gleicher Höhe mit dem weitschauenden Rigikulm befinden ! Und da freilich dürfen wir uns nicht wun-
Mitleid vermag ihnen freilich nicht dazu zu verhelfen. Der rüstig durch den See strömende Inn lädt uns zum Weiterwandern ein, wir folgen ihm gern, wir sind ja gesund und die Heilquelle braucht uns nicht zu halten, sehen ihn noch in der Schlucht Chiarnaduras in einem prächtigen Fall hinabstürzen, und begrüßen bald darauf die Hauptstadt" des Engadin : Samaden ; wandern von ihr aus nach Pontresina hinauf , wo sich, da von hier aus unzählige Berg- und Gletscherwanderungen unternommen werden können, die Touristenwelt staut. Schon beim Eintritt in das Dorf, bei dem Unterdorf Laret , erblickt man den blendendweißen Rose - Gletscher mit den leuchtenden Silberhörnern darüber , der Sella , dem Glüschaint, der Monica, dem Chapütschin und wie sie alle heißen. Allesamt gehören sie dem durch 54
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Woldemar Baden. Engadina - terra fina.
seine kühnen Formen, durch die Massigkeit sei ner Schnee- und Eislager ausgezeichneten Berninamassiv an, das den Zentralstock der Engadiner Gebirgswelt bildet. Für gewöhnlich wird Bernina jene Felsenmasse genannt , die zwischen dem Berninapaß und dem Rosegthale emporragt , und von ihr aus gehen die drei Thäler, in die hinein man von Pontresina aus schaut : jenes Rosegthal, zwischen Piz Rosatsch und Chalchagne, aus dessen Hintergrund, den als höchste Erhebung der Biz Bernina oder Monte di Rosso Scerscen frönt , unser Riesengletscher herabsteigt, - östlich davon das Thal, das den Morteratsch gletscher fast ganz ausfüllt, überragt vom Munt Bers. Zwischen leztern und der Berninaspite stehen dann die gewaltigen des Riesen
leit gegeben. Die tiefe Felsenöde, die melancholischen Giumels, die Zwillinge, stimmten uns ernst und trübe, die schönen Tage waren aus auf Nimmerwiederkehr , und als der Wagen die Straße hinauf der Paßhöhe zustrebte, schien er mir der Leichenwagen eines großen Glückes zu sein, das da droben begraben werden sollte. Es begann zu regnen, und als ich, nach PontA resina zurückgekehrt , mich rüstete , über den Berninapaß wieder nach dem Süden, nach Italienhinabzuziehen , da hub es an zu schneien, und der wilde Flockenwirbel und der aus den Gletscher schluchten her abwehende Wind hieß uns an den
freundlichen Berninahäusern landen, das Herz zu mit trösten kräftigen dem aller Trost
Engadinfahrer und Gletscherwanderer, dem trefflichen roten Zupo , Palü Cam Beltliner. und Enzianverkäuferin. Die Sonne brena , samt und sonders von Gletschern umgürtet. Das brach erst wieder durch die Wolken , da wir dritte Thal endlich bildet den Berninapaß, in die liebliche Thalfläche von Poschiavo einfuhren und blau und klar blickte der See zu der sich östlich von den eben genannten und uns herauf. Noch einmal hielten wir an dem neben dem mächtigen Languardgebirge hinzieht. Hier schieden sich damals unsere Wege. freundlichen Dörfchen Le Prese , dann ... Jahre sind seitdem vergangen undheute Der Freund zog nordwärts , sein Weg ging über den Albulapaß über Chur an den Bodenmit einem Seufzer klappe ich das Album meisee, ins liebe Deutschland hinein. Bis zu dem ner Erinnerungen zu. Wie frisch wehen jezt die Lüfte durch das grüne Engadin, und hier stillen Bergwirtshaus Weißenstein an den Albulaquellen droben hatte ich ihm das Gezeigt mir das Thermometer 28 R!
Andor.
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Andor. Roman von Robert Byr. (Fortsehung.)
ndor , von dieser irrigen Auffassung seines völlig harmlosen Anschauens über-
Schwarz, die ſich ſo plößlich zum Aufgeben der Partie entschlossen hatte, geblieben, aber auch sie wurden von ihr fast gebiete-
rascht, wendete seine Augen sofort ab. Es that ihm leid, zu derselben Anlaß gegeben zu haben, da er viel zu ritterlich war, um eine Dame , selbst wo er sich herausgeforDer dert glauben konnte, zu verlegen .
risch zur Teilnahme an der Fahrt ge= zwungen, wie sich Andor mit einem flüchtigen Seitenblicke überzeugte . Sich wieder seinem Freunde zuwendend,
der indeſſen ebenfalls eingestiegen war, sah er eben , wie derselbe aus dem herabgekleine Zwiſchenfall aber hatte ihn zerstreut lassenen Fenster noch einen ehrerbietigen und unwillkürlich blieb seine AufmerkſamGruß an die auf dem Perron Zurückgekeit nicht Duchard , sondern der Gruppe bliebene richtete. zugewandt, aus deren Mitte jezt lebhafte Wie, Sie kennen diese Dame, Duchard ?" fragte er. Wer ist diese Fee Ausrufe an sein Ohr schlugen. Caprice ?“ „Wie, Mademoiſelle, Sie haben Ihren ,,Allerdings kenne ich Sie , das heißt, Vorſay geändert ?" ,,Das heißt uns dem Verrate preisich weiß, wer sie ist, obwohl sie sich meiner geben ! Zuerst arrangieren Sie diesen Aus- | nicht zu erinnern scheint. Begreiflich, ich habe nur einmal flüchtig die Ehre gehabt ." flug und entreißen uns dem süßesten Morgenſchlummer und nun wollen Sie zurück- | Er beugte sich weiter vor, um von den aus den nächsten Fenstern Herausplaudernden bleiben. Ah, ich verstehe, uns schickt man nach Amiens , um ungestört zu sein. Es nicht gehört zu werden und legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund . Indem ist hier ein Geheimnis im Spiele." Wir bleiben auch da! Wir wollen er schalkhaft blinzelte, flüsterte er . „ Nehmen Sie sich in acht , Paris mit dem Apfel! uns nicht aus dem Wege räumen laſſen. “ „ Nein, wir gehen ! Nieder die Tyran- Juno beschwört den trojanischen Krieg über nen ! Auch wenn sie uns mit ihren Saiten sie herauf, wenn Sie Venus vorziehen.“ tönen bezaubern. " ,,Keine Gefahr !" lächelte Andor . „ " Sie " Wir gehen nicht ! Wir trozen Ihrer verraten mir ja ihre Adresse nicht . Olymp, Ungnade!" Nummer fünfhundertsechsundsiebzig ?" Es ist ein Fräulein Näher, näher ! „Wir gehen!" „Ich bleibe ! Ich auch! Ich Ich ziehe von Turulai gab Duchard zur Antwort . die schöne Göttin dem schönen , Gotte von " Touroulahi," accentuierte er mühsam, „ eine Amiens vor." Landsmännin von Ihnen. Sie können sie „Ich gehe, aber in der Kathedrale wird nach Hause begleiten, denn sie wohnt — “ Das Wo entführte die Lokomotive. es zwei , enfants pleureurs' geben. Den Engel und --- mich. " Duchards noch aus der Ferne winkender „Bis zur Abendpromenade sind wir Hut schien Andor zu dem Unterfangen anzurück. Sie werden bis dahin Ihre Migräne eifern und auf die Fremde hinweisen zu wollen. überwunden haben." Als sich Andor jedoch umwendete, sah Ein Das Häuflein hatte sich geteilt. paar Herren waren bei der Dame in er eben nur noch den Saum des schwarzen
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Robert Byr.
und zu beiden Seiten an ähnliche grüne Rasenpläße mit ein wenig Gebüsch und ein paar Bäumen stieß, die dem Kreidehügel abgewonnen waren , von dessen Höhe man den freien Blick auf die Dünen und das II. Meer genoß. Diese, der frischen kräftigenDie Glocken von den Kirchtürmen verden Luftströmung ausgesezte Lage des Hauses hatte auch die Wahl desselben für kündigten schon die Mittagsstunde , als Andor die kleine Villa am Chemin de la die Kranke bestimmt , auf deren gestörtes baraque betrat, deren Nummer ihm Duchard | Nervensystem der junge Schüler Aeskulaps nun in anderer Weise als bisher versucht angegeben hatte. Es war später geworden als er ursprünglich beabsichtigte. worden war, einzuwirken hoffte. Im Ausruhen nach dem Bade , das er, vom Er war , wie Andor im Geſpräche erBahnhofe zurückkehrend , in der Morgen fuhr, der Sohn des alten Beledvarer Arztes, frische genommen , um den überwachten der auch die Praris im Schloſſe ſeit JahrNerven eine Erquickung zu gewähren, war zehnten versah und nach einer von ihm dann der um seine Ansprüche gebrachte Schlaf | ſelbſt angeregten Konſultation einiger Wiener schließlich doch noch über ihn gekommen. Celebritäten, auserſehen worden, Viktorine Andor wurde auf seine Anfrage in den in ein Seebad zu begleiten , die Kur und Garten geführt, wo ihm alsbald ein junger zugleich das kleine Hauswesen zu überwachen, da Baron Rápolt selbst von seiner Mann von bescheidenem intelligenten Auspolitischen Thätigkeit in der Heimat festge= sehen entgegentrat, der, die eben empfangene halten wurde. Karte noch in der Hand haltend , sich als Der Doktor war eben daran , sich in Doktor Raich vorstellte, was freilich in der Auseinanderſeßungen über die neue ſtählende slawischen Aussprache des Namens einiger Methode , der er die bisher falsch behanmaßen von derjenigen Duchards differierte. delte Patientin unterziehe, des weiteren zu „Ich freue mich , Herr Baron , über ergehen, als er mit einmal verstummte und Ihre Rückkehr," sagte er höflich , " weil es mir vergönnt ist, Ihre persönliche Bekanntauf die weiße Erscheinung starrte , die mit schaft zu machen, vor allem aber für unsere ausgebreiteten Armen , wie in langſamem Patientin. Die Unruhe der Erwartung stört Fluge, über den Rasen auf sie zugeſchwebt fam . die von mir erwartete Wirkung der Bäder. „Andor , mein Andor ! Ich habe es Ihre Gegenwart wird besser sein als alle falmierenden und anregenden Mittel zugewußt , daß du hier bist ! Ich habe dich sammen genommen . " gesehen!" rief Viktorinens wohlklingende Stimme. Aber auch jezt noch mußte Andor seine Bruder und Schwester hielten sich innig Ungeduld zügeln. Seine Schwester war umschlungen. Der junge Arzt schüttelte heute besonders aufgeregt gewesen, der Arzt mit bedenklicher Miene den Kopf. Er hatte meinte, als hätte sie in ihrem an Somnambulismus grenzenden Ferngefühle die Nähe seine Kranke im Gartenſaale entſchlummert des so sehr Erſehnten empfunden. Doch verlaſſen und wußte, daß man seinem Beglaubte er dies nur natürlichen Ursachen fehle, sie nicht zu wecken und ihr keinerlei zuschreiben zu müſſen , da ja der Tag der Mitteilung zu machen , sicherlich befolgt Ankunft, wenn auch nicht ganz genau be hatte. Sorglich hatte er es vermieden, den Besucher in die Nähe des Gartensaales zu stimmt , doch ungefähr zu berechnen war. Die Kranke sei eben erst vom Strande führen . Man konnte ihn von dort weder zurückgekehrt und bedürfe unbedingt einer gehört noch erkannt haben und nun war kurzen Ruhe. Andor wolle sich die kleine fie doch da und behauptete , gesehen zu Verzögerung gefallen lassen. haben, was außer dem Bereiche ihrer Augen Aber nein, derlei Langsam durchschritten beide die ſchmalen | vorgegangen war. war ja unmöglich , das widerstrebte allem Wege des Gärtleins, das in seinen ziemlich neuen Anlagen noch wenig Schatten bot eraktem Wissen und ein Mann der neuen Kleides um einen zierlichen Fuß flattern, der über die Schwelle des Wartejaales verschwand.
Andor.
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als hätte sie auch jezt deutlich in seiner Schule durfte sich doch nicht von dem alten Seele gelesen, sezte sie rasch und beſchwichMärchenglauben befangen lassen , als ob es bisher noch unerklärbare Zuſtände gebe. | tigend hinzu . „ , es braucht kein GeMan mußte den Dingen nur auf den heimnis zu bleiben. Meine nicht , daß ich Grund gehen . Und um damit keine Zeit unser Zuſammentreffen vor Rápolt zu verEr wußte von meiner Abzu versäumen, entfernte er sich sogleich, um bergen habe. mit möglichster Gewissenhaftigkeit Nach sicht als ich ging.“ „Und er hat es gestattet und dir keine forschungen anzustellen , indem er die Geschwister unterdes sich selbst überließ . andere Route vorgeschrieben ?" rief Andor voll Erstaunen . Sie hatten sich der Wiedersehensfreude ,,Du thust dem Bruder Unrecht, Andor. hingegeben , die bei Andor nur durch den Anblick seiner womöglich noch weit zarter Glaube mir , er ist nicht böse , nur heftig Auch und gebrechlicher gewordenen Schwester ge- und selbst das nicht gegen mich. trübt wurde. Den Arm um sie geschlungen gegen dich hat er keinen Groll mehr. und die leichte Gestalt so beinahe tragend, Du mußt nicht so finster blicken ! Dieses bittere Lächeln schneidet mir in die Seele, kehrte er langsam zu dem Hause zurück. weißt du ? Ihr habt mir nicht gesagt, was Das fühle Gemach im Erdgeschoffe, das der Kranken zum Tagesaufenthalte diente Ihr hattet , ich dachte , es sei deine Verund sich mit allem Komfort für dieselbe lobung geweſen, aber Rápolt hat ſein Verhalten gegen dich bereut, gewiß, bereut schon ausgestattet fand, lag in der Ecke und bot von dem Tage, wo die Nachricht vom Tode durch die beiden in derselben zusammendeiner Braut und dem Verkaufe Lökes stoßenden Glaswände einen hübschen , doch eintraf. Ich habe es ihm angeſehen, habe durch eine Gebüschpartie beſchränkten Blick Er haßt es aus jedem Worte gehört . in den Garten und nach der anderen Seite und ich weiß nicht warum Löke , -einen weiten Ausblick über das blaue Meer doch wollte er es selbst erstehen . C, es bis zu dem duftumfloſſenen weißſchimmernden war ihm nicht recht, daß alles so gekommen. Küstenstreif Englands hin. Hier saßen sie nun, die so lange geEr hat mir feinen Gruß an dich aufgetrennt Gewesenen und tauschten Versiche geben - " ,,Das konnte ich mir denken. " rungen ihrer unveränderlichen Liebe aus und wollten in Andor Erinnerungen an ,,Nein, er hat mir keinen ausdrücklich aufgetragen," fuhr Viktorine auf dies hinihr leztes Zusammensein und damit verschlungene häßliche Bilder aufsteigen , so geworfene Wort nur noch um so eifriger bedurfte es nur eines Blicks in das glück- fort , vielleicht weil er zu stolz ist , dir lächelnde Auge der Schwester , um die den ersten zu bieten , aber ich weiß, daß bösen Schatten sofort wieder zu verscheuchen. er an dich nicht feindlich denkt und von ,,Du kannst dir denken, " erklärte Viktorine dir mit Achtung spricht. Ich selbst habe in ihrer kindlichen Art, als die von einem ihn gehört , erst neulich , als von deinem zum anderen überspringende gegenseitige Buche die Rede war ; man hat dies und Erzählung dieſen Punkt berührte, „ daß ich das darüber gesagt, was ich nicht verstanein französisches Bad wählte und eines, den habe, er aber hat es ein epochemachendas nicht zu weit von Paris lag. Das des Werk genannt, ein revolutionierendes , Meer ist schön, der Doktor meint, daß es das Geistvollste , was über diesen Gegenmir gut thut, und es wird auch so sein, stand je geschrieben worden sei, die Offenwas mir aber am wohlsten thun würde, barungen einer Kapazität, welche der Staat das wußte ich schon zu Hause. O, wie habe um jeden Preis in seinen Dienst zu ge= Das sind seine ich mich gefreut, dich zu haben, recht lang winnen suchen müsse. mit dir zuſammen zu sein , recht oft dich eigenen Worte. O, ich habe mir sie wohl zu ſehen und nun sind schon zwei Wochen gemerkt ; sie betrafen ja dich und dieſes Zeichen aufrichtiger Wertschäßung that mir zwei ganze Wochen vorüber , — ein so wohl, ich hätte ihm dafür um den Hals Drittel der ganzen Zeit ! Nicht wahr , du gehst nun nicht gleich wieder fort ?" Und fallen mögen. "
Robert Byr. 426 " Daß er seine persönlichen Gefühle der politischen Ueberzeugung unterordnete," jeßte Andor hinzu , doch obwohl es ironisch und sogar herb klang , vermochte er doch nicht ganz den Eindruck freudiger Ueberraschung zu verhehlen . Die aufquellende Wärme verriet sich troß der Bemerkung : „ Um so achtungswerter , da es auf die Gefahr hin geschah, der Parteilichkeit für den Bruder geziehen zu werden." ,, man wußte ja nicht , daß du der Verfasser seist ," beeilte sich Viktorine zu versichern. " Man riet wohl , es müsse ein Ungar sein, doch hat dich keiner unter In deinem In deinem Inkognito erkannt. Briefe hattest du mir deine Beweggründe für dasselbe nicht genannt, jezt verstehe ich sie, jest erkenne ich, was dich veranlaßte, herabzusteigen . Wer lernen will, darf die Daß du aber Schulbank nicht scheuen . für diese Zeit den Namen geändert , war ein Akt des Zartgefühls . Sicherlich rechnet auch Rápolt dir die Schonung seines
Bewegung der Finger , die einzeln hervoralsbald d das gestoßenen Worte zeigten alsbal
Stolzes hoch an. “ Andor schwieg . Sollte er die Schwester aus ihrer glücklichen Unwissenheit reißen ? Mußte er nicht vielmehr dem Bruder dankbar sein, daß er dies unschuldig kindliche Herz darin beWas auch in dem seinen an Laſſen? Bitterkeit gegen diese , selbst im Irrtum noch einseitige Auffassung heranschwoll, niedergehalten wurde, besser , daß es um ein Gemüt nicht zu vergiften, wo der in den Schranken der Erziehung befangene Geist doch nicht belehrt werden fonnte. Geflissentlich suchte Andor dem Gespräche eine andere Richtung zu geben, doch gedieh es nicht weiter . Was die Erwartung in ihrer Steigerung von Tag zu Tag nicht zu stande gebracht , das schien jezt die Erfüllung ihrer sehnsüchtigen Wünsche zu bewirken . Die Aufregung des Wiedersehens hatte die Kranke erschöpft . Es trat jener Zustand gestörten geistigen Zusammenhangs ein, den Andor von früherher kannte, der sich aber seit Jahren fortwährend gesteigert hatte . Wie Schlummer ließ er sich an , aber nur Minuten währte dieser Schein ; das wieder geöffnete, starrblickende Auge , die unruhige nervöse
Gegenteil . Andor ichellte um Hilfe. Der Doktor , welcher unterdes vergeblich alle Gesichtswinkel von der Glaswand dem Garten zu gemessen und die Dienerschaft aufs Gewiſſen ausgefragt hatte, erschien mit der Kammerfrau zugleich. Es war nach seiner Versicherung eine natürliche Reaktion . Er hatte sie kommen sehen, ja jogar schon früher erwartet. Der Nervenreiz des Bades , die Seeluft seien Er sei gegen in Anschlag zu bringen . jedes medizinische Mittel während des Anfalls , doch beklage er, daß eben heute ein anderes fehle , das sich ganz eigentümlich wirkjam erprobt habe. Es sei die Musik . „Wir haben hier in unserer Nachbarschaft eine Künstlerin , mit der uns der Zufall bekannt machte ," schloß er. „ Sie ist so gefällig , seit sie weiß, welche Wohlthat sie der Baronesse erweist , uns öfter zu besuchen. Leider ist sie heute abwesend , sonst würde ich sofort um sie schicken ." „Sie ist ja drüben , ruft sie nur," sprach in diesem Augenblick Viktorine fast in dem Tone eines verdrießlichen Kindes , ohne daß sie bisher ein Zeichen von Teilnahme an dem Gespräche gegeben hätte und auch ohne weiter ein anderes zu geben , als daß sie über des Doktors sanften Widerspruch mit verstärkter Gereiztheit auf ihre Behauptung und ihr Verlangen zurückkam . Ueberzeugt von der Nuglosigkeit , doch nur um ihr den Willen zu thun , gab der Doktor nach und erklärte , selbst in die Nachbarvilla hinüberspringen zu wollen . Schmerzlich bewegt von dem Anblick des unaufhaltsam fortschreitenden Verfalls , trat Andor , da er ja nicht helfen , sondern nur stören konnte , wieder in den Garten
hinaus . Was waren das für halbverblaßte Bilder, bestaubt und mit Spinnweben verhangen, die da von unbefangener Kinderhand aus Leb dem Schutte hervorgeholt wurden ! hafter als seit langem , trat die Vergangenheit wieder vor ihn hin. Die grüne Laube, in der er sich niedergelassen , verwandelte sich in eines der düstern Kreuzgewölbe von Beledvár , er sah sich dem Bruder gegen-
Andor.
über, machte die Fahrt jener Nacht noch einmal, las die Briefe wieder, die ihm sein . Cheim aufbewahrt , hörte das Schluchzen der Mutter Ilka's . Wie ein Schattenreigen zogen die Gestalten an seinem geschlossenen Auge vorüber, deutlich erkennbar, scheinbar zum Greifen nahe und doch zerfließend, zerflatternd, ohne mehr jene starken Gemütsbewegungen zu veranlassen, wie sie noch weit über den Moment hinaus mit der Erinnerung an sie verbunden gewesen. Nur eine leise Wemut vermochte sie zu wecken, und milde wie die Stimmung war auch das Urteil geworden . Die ausgehobene Pflanze hatte eben doch schon frische Wurzeln in das neue Land geschlagen , das fühlte Andor in dieser Stunde erst recht überzeugend. Die Gegenwart, die Zukunft hatte ihre Interessen ; in das Leben , das hinter ihm lag, konnte er sich nur wie in ein Märchenreich versenken. Mit diesen Träumen vereinbarten sich recht wohl die sanften Töne , die von der lauen Luft jezt zu ihm herübergetragen wurden. Das war der Flügelschlag der Schwalbe, die auf ihrem Fluge über die weiten Länder auf ein Wandelpanorama niedersieht . Wie sie sich jezt durch den stillen blauen Aether ſchwingt und jezt durch den wilden Orkan hindurchkämpft, der das arme schwache Geschöpf wütend erfaßt und über und über kollert, bis es wieder Mut und Kraft zum Ausbreiten der zerzausten Schwingen findet, so klang aus dem Rahmen, der sich um die kleinen aneinander gereihten Weisen wob, Lust und Freude, Schreck und Angst , Kampfesdrang und Siegesjubel. - und tiefer senkt sich die Wanderin der Lüfte , müde und doch so froh des erreichten Zieles . Die Ebene wird weiter, die Flüſſe werden breiter, dort die waldige Hügelkette, dies Strohdach hier, die weidende Herde daneben und der lang halsige Ziehbrunnen. Kennst du dies Land ? Kennst du dies Lied? Wie es troßig einspringt, wie es
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auf seiner Bußta ? Gewaltsam mußte sich Andor zusammennehmen, daß er nicht aufsprang und jauchzend einfiel. Was wollte er ? Er war ja ein Fremder in dem Lande, das die Zaubergeige eben heraufbeschworen ; fern, fern davon in einem kleinen Gärtchen an dem Ufer der Pikardie jaß er ; deutsches Blut floß in seinen Adern und dies thörichte Blut regte sich und der kleinſte Tropfen geriet ins Wallen . - Wie kam es doch, daß es ihm jest so heiß aus dem Herzen schoß und jede Fiber zuckte, als ob er aufspringen und die Hand zum Haupt erheben, sein : " Hej ! huj ! magyarember mitsingen müsse ? Ertappte er sich nicht, wie seine Lippen unwillkürlich die Worte flüsterten? Was war es doch, was ihn so bewegte ? Bloß die Erinnerung an die Scholle, auf der er eine Zeit gelebt , bloß die Mahnung an eine Trauer, die ſeine Brust mit Liebe und Sehnsucht erfüllte ? Es lag doch eine ungeheure Macht in dem Zuge des Gedankens , die alle Theorie über Blut und Abstammung über den Haufen stieß . Was ein Herz einmal umfaßt, ſei's ein Mensch oder ein Land , reißt keine Reflerion mehr aus , und sage man ihm hundertmal , es habe sich getäuscht. Und wenn es meint , es hätte längst vergeſſen , genügt ein einziger Ton , es wieder erzittern zu lassen . Das ist eine Naturgewalt, die nichts mit den in der Materie nachweisbaren , auf der Wage berechneten Kräften gemein hat und doch besteht , troy der geringschäßigen Negation der Wissenschaft. Jezt erst verstand Andor seinen Onkel Rainald. Aber hatte er dies Lied nicht schon ein| mal in ganz ähnlicher Situation gehört ? wie war ihm doch ? Der Garten , das Traumgebilde, der Klang des Instruments ! -Wie aus einem Nebel schien die Erinne
rung auftauchen zu wollen , doch statt sich zu zerteilen , schob sich der Dunststreifen, den einen Moment lang die Sonne berührt, wieder dichter zusammen und vorüber an leidenschaftlich anschwillt , als ob das Herz dem weiter streifenden Auge. brechen möchte , und dann doch so rasch, Es ruhte auf einer schlanken Mädchenals wollt' es die Thräne verbeißen, mit gestalt , die an einen Fensterpfeiler des leichtfertigem Spott abschließt. Gartensaales gelehnt , mit kühner Grazie Was war das ? Strich hier ein Zigeu= | den Bogen führte. Andor war nun doch ner seine Fidel ? Warum blieb er nicht aufgestanden und hatte sich dem Hauſe
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genähert, von dem ihn nur noch die dünne Gebüschwand trennte, die seinem Blicke kein eigentliches Hindernis bot. Eine zarte Frauenhand also war es , die der Geige diese klaren und kraftvollen Töne entlockte, die so innig und doch wieder so trosig und leidenschaftlich zu spielen vermochte . Das hatte er nicht erwartet. Und diese Erscheinung war ihm nicht fremd, dies üppige Haar, die vorspringende Stirne , die großen schwarzen Augenlider, dies eigentümlich fesselnde Profil, das ihm jezt zugewandt war, hatte er vor wenigen Stunden erst gesehen. Jeßt begriff er auch den Zuſammenhang der Aeußerungen auf dem Perron. Von bezaubernden Saitenklängen war die Rede gewesen, eine Landsmännin Andor's hatte sie Duchard genannt und ihn zu ihrer Begleitung aufgefordert. Darum also konnte er es thun und die unverstandene Adreſſe war keine andere als die Viktorinens gewesen . Aber in welcher Beziehung stand die Fremde zu derselben? Sie hatte jezt die Geige sinken lassen und beugte sich zur Kranken , der sie liebevoll mit der schmalen Hand über Stirne und Scheitel fuhr. Dies große kalte Auge konnte also auch aufleuchten in inniger Teilnahme und Zärtlichkeit ? Und welch lieblicher Zug frauenhaften Mitleids um die sich in leiſen Worten sanft bewegenden Lippen. Wie gern hätte Andor gehört, was sie gesprochen ! Es mußte wohlthun und zum Herzen gehen wie ihr Spiel. Jest hob sie wieder ihr Instrument ans lang zog sie den Bogen aus, ein Kinn, Hauch, zart wie die Seele eines Akkords , ging fäuselnd durch die Saiten. Diesmal aber durfte Andor nicht mehr ungestört lauschen. Der junge Arzt kam den Kiesweg her. Ich habe Sie überall gesucht und war
der Meinung, Sie wären schon fortgegangen," sagte er. „ Ich wollte Sie nur bitten, sich nicht zu ängstigen. Der Anfall wird vorübergehen, man darf die Patientin bloß In kurzer Zeit wird sich nicht stören. Schlummer einstellen und das wirkt immer beruhigend. Es muß nur jezt alles vermieden werden, was den Eintritt desselben verzögert. Die Musik ist das beste Einſchläferungsmittel und es ist in der That
interessant, die Wirkung zu beobachten . Der Strich der Geige ist dabei ganz unvergleichlich wirksamer als die mehr stoßweise hervor-kommenden Töne des Klaviers . Ich glaube das in der Art der Schallwellen suchen zu müſſen. Die Uebertragung dieser minimalen atmoſphärischen Erregungen dürfte mehr als die Klangfarbe in Betracht kommen. " „ Ich dächte , weniger das Instrument, als wie es gespielt wird, " unterbrach Andor unnachsichtlch den sich in seine Hypothesen vertiefenden Forscher. " Wo das Gemüt, wie hier ergriffen wird, schwingt wohl die Nervenfajer mit. Wer wollte sich solcher Harmonie entziehen ! Die Kunst hat wilde Tiere gezähmt , vielleicht meint die Mythe damit Leidenschaften und Krankheiten." „ Es ist wahr, Fräulein von Turulai ist eine große Künstlerin. Aber sie hat auch Glauben Sie, die Launen einer solchen. daß sie , sonst immer so bereitwillig , heute durchaus meiner Bitte nicht folgen wollte und erst nachgab , als ich ihr versicherte, daß kein fremder Zuhörer anwesend ſei. Sie läßt sich doch sonst auch vor andern hören und zuvor that sie wie das eigensinnigste Kind. Sie dürfen sich nicht zeigen, deshalb suchte ich Sie hier zu treffen." Damit aber begehen wir ja einen Betrug," sagte Andor ernst. " Sie ist be= lauscht und glaubt es nicht zu sein. Ich wälze jede Schuld an dieser Indiskretion ab und will auch nicht länger teil haben daran. " . Er warf noch einen Blick nach dem Saale und schlug dann den Weg ein, der an der andern Seite des Hauses herum dem Ausgange zuführte . "" Sie nehmen das zu ernst," suchte der Doktor seine eigene Verlegenheit zu bemänteln, in die ihn der Vorwurf verſeßte, „Fräulein von Turulai scheint mir nur von einer Verstimmung befallen, selbst ihr Spiel war so ungewöhnlich aufgeregt . Es hängt das vielleicht mit dem Aufgeben des Ausflugs zusammen, der so viel ich weiß für heute projektiert war. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wie Baronesse Viktorine davon erfahren. " Sie möchten ſelbſt Ahnungen haben und wollen sie bei andern nicht annehmen,"
Ferdinand on Villa .Römische Knab
Andor.
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Ist Fräulein von Turulai eine reisende Virtuosin?" fragte er. Der Doktor glaubte sich gegen die Vermutung feierlichst verwahren zu müſſen, als könnte er den intimen Umgang seiner Schußund Pflegebefohlenen mit einer solchen unternicht ein gewisses seelisches Band zwei Freundinnen verbinden ? Meine Schwester kennt stüßen und den Absichten seines Auftrag= gebers derart entgegen handeln. das Fräulein wohl schon längere Zeit?" Ich weiß zwar nur, daß Fräulein von „Aber ganz und gar nicht. Der reine Zufall hat hier erst die Bekanntschaft her- | Turulai verwaist und ſelbſtändig iſt , ſie Gleich am ersten Tage, wäh❘ scheint aber sehr vermögend zu sein und beigeführt . rend eine Erſtarrung , die infolge der Er wohnt hier bei einer befreundeten Dame, die der besten Gesellschaft von Paris anmüdung durch die Reise, vielleicht auch der Wenn der Enttäuschung, Sie, Herr Baron, nicht gegehört , wie man mir sagt. funden zu haben , eintrat , klangen diese Herr Baron übrigens befehlen , daß ich wunderbaren Töne aus dem anstoßenden nähere Erkundigungen einziehe - " Garten zu uns herüber. Ich hatte sofort " Nein, das genügt," fiel ihm Andor Gelegenheit, die Wirkung zu beobachten. Das lächelnd ins Wort. „Ich habe am wenigSpiel hörte jedoch bald wieder auf und die sten Grund , jemand darum geringer zu Patientin wurde unruhig. Sie verlangte schäßen , weil er sein Brot durch Arbeit die Fortsetzung der Musik und als ich ihr verdient . Uebrigens erweist sie meiner Schwebegreiflich machen wollte, daß ich ja keinen ster eine Wohlthat und dafür würde ich Ich Zigeunerin danken . Einfluß auf den Künstler hätte, befahl sie selbst einer spielen, wird Sie . mir, hinüber zu gehen hoffe, es ergibt sich bald die Gelegenheit behauptete sie, wenn Sie ihr sagen , daß dazu ." eine Landsmännin, daß Viktorine Beledényi Sie kam schneller als Andor erwartet ſie darum bittet. Und so war es auch und hatte. von da an datieren die Beziehungen zwiNoch am selben Abende, als er , den schen den beiden Villen . Aber ermessen Sie Doktor ersehend , die Schwester nach der mein Erstaunen, als ich in der That statt Jetée begleitete, sollte er dieser Erscheinung, eines Künstlers eine Künstlerin fand. Woher die seine Phantasie zu beschäftigen begann, wußte sie darum ? Woher wußte sie , daß abermals begegnen . Vielleicht hatte sie sein dieselbe eine Ungarin sei ? Ich kann nur Auge schon zuvor in dem Menschengewühle denken, daß die Baronesse eine Bemerkung gesucht, das hier jeden ſchönen Abend auf- und der Dienstleute erhaschte , obwohl diese niederwogt, während er, die Hand auf das steif und fest das Gegenteil behaupteten. Rollwägelchen gelegt , den faſt anderthalbEs muß doch alles mit natürlichen Dingen tausend Schritte ins Meer hinaus reichenden zugehen!" Bohlendamm entlang wandelte, von dem das Auge den uneingeschränkten Blick über die ,,und kann es denn das nicht ? Vikto See auf die langſam hinabtauchende Sonne rine hat ein feines Ohr, die Bogenführung hat ihr vielleicht die Mädchenhand verraten und rückwärts auf die von ihren Strahlen und ein ungarisches Lied , einen Csárdás beglänzte, an den Hügeln hinangebaute Stadt, kann niemand als ein Ungar spielen." auf das Badeetabliſſement mit den grotesken „ Was Fräulein von Turulai damals Felsen des Aquariums , und weiterhin auf spielte, war der Teufelswalzer von Tartini. die von dem in Ruinen geſunkenen CaliIch habe ihn seither mehrmals von ihr gegulaturme gekrönten Falaiſes genießt. Manhört. " ches hübsche und feine englische oder fran,,Merkwürdig !" zösische Gesichtchen hatte er unter den ProIn Gedanken verloren wandte sich Andor menierenden entdeckt und hier und da war zum Gehen. Doch schon nach einigen Schritauch einmal ein schwarzes Kleid unter den ten wandte er sich zu Doktor Raich zurück, bunten , oft bis zu der äußersten Ertrader an dem Pförtchen stehen geblieben war. vaganz der Mode gehenden Toiletten aufge55 scherzte Andor leichthin , wodurch er lebhaften Widerspruch bei dem sonst so bescheidenen aber für seine Ueberzeugung doch mit selbstbewußtem Eifer eintretenden jungen Manne hervorrief. „Warum soll
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taucht , nirgends aber entsprach der Hülle die Gestalt oder dieser, wenn sie von ferne ähnlich schien , das Antlig der Näherkommenden. Doch war er im ganzen weniger mit der Musterung der für sein an die Mannig faltigkeit der Erscheinungen gewöhntes Auge gleichgültigen Menge beschäftigt , als mit der Schwester, die aus der jahrelangen Einsamkeit zwar mit ein wenig Scheu , doch auch mit dem vollen Interesse und unblasierter Schaulust in diese bewegte farben reiche Welt fam. Sie selbst lenkte seine Aufmersamkeit erst auf ein Schauſpiel, das die Scharen der sich nach der einen Seite hindrängenden Spaziergänger aufs lebhafteste zu fesseln schien. ,,Da kommt Susanne," sagte sie auf das Meer hinausdeutend , ohne eigentlich das Boot nur recht gesehen zu haben, das eben erst hinter dem Leuchtturme hervorzuschießen schien und deſſen große Segel selbst Andor verhinderten, die darin Sißenden zu erkennen. Die Zuseher applaudierten wie im Thea-
ter oder der Rennbahn , freudige Zurufe begrüßten den kleinen Segler und in der Menge hörte Andor mehrfach die bewundernde Bezeichnung : " La belle hongroise ! la jolie intrépide !" Jezt erst erkannte er, was vorgegangen Vor einem jener mächtigen schwerwar. fälligen holländischen Kauffahrer, der eben im Begriffe gestanden war , vollen Laufes in den engen Kanal zwischen den beiden Hafendämmen einzufahren , hatte sich die kleine fliegende Nußschale noch keck vorüberstehlen wollen. Knapp vor dem drohenden Buge vorüberschneidend, war das Wagnis gelungen, das hinterher jedoch beinahe teuer bezahlt wurde, denn nur um Haaresbreite glitt das der ersten Gefahr kaum entronnene Boot an der äußersten Spiße des Dammes hin, gegen den es zu zerschellen drohte. Wie ein Vogel war es mit einer scharfen Wendung mitten im Fluge noch herumgekommen und wie es jegt in einer leichten Kurve unversehrt gegen die Treppe hielt, schien es mit den Schreckniſſen nur gespielt zu haben , und ruhig , als ob es sich eben nur um Alltägliches handle, trat diejenige, deren zarte Hand das Steuer so kraftvoll
und besonnen regiert hatte, sobald der mit den Segeln beschäftigt geweſene Matrose angelegt hatte, auf die unterste Stufe über. Jedesmal, so oft Andor sie gesehen, war sie noch eine andere gewesen . Jest zeigte diese zierliche und doch so stahlfeste Gestalt den Ausdruck einer kaltblütigen Energie, die das Leben wie die Wellen beherrschte und ihr Schifflein sicher an allen Klippen vorbei dem ins Auge gefaßten Ziele zusteuerte. Solche Willenskraft rang Achtung ab, sie hatte aber doch etwas leise Abstoßendes für Andor . Nicht die stolze Weltdame , nicht die kühne Schifferin war es , die ihm eine wärmere Regung abge= wann, so meinte er, nur die milden Züge der Krankenpflegerin, der Strahl des Mitleids und der Begeisterung in dem Künstlerauge waren geeignet , sich dauernd einzuprägen, jene Momente, wo die Seele durchbrach, die von all den sich jest dienstfertig Herzudrängenden wohl kaum geahnt und sicherlich nicht gesucht wurde. Andor erkannte unter ihnen einzelne der heitern Teilnehmer an dem Ausfluge vom Morgen, aber auch die zweite Dame, welche im Bote mitgewesen, war ihm nicht fremd . Er wurde erst jezt ihrer anſichtig, als sie sich von ihrem Siße erhob, an den sie sich mit allen Zeichen der Furcht angeflammert hielt, bis ihr der Matrose den Arm zur Stüße reichte und doch mußte ihr auffallendes blaurotes Marineurkostüm im Gegensaße zu der zwar kostbaren aber doch einfachen schwarzen Toilette ihrer Begleiterin schon von weitem Aufsehen erregen. Diese auf ihren hohen Stöckelschuhen ſo unsicher die Stiege herauftrippelnde Dame in den schreienden Farben der ihre vollen Formen umrauschenden Seide und dem gegen die herrschende Mode und die sommerliche Bequemlichkeit auf den Scheitel geſtülpten Lackhut , unter dem ein dichter Strom dunkelroten Haares weit über den Rücken herabfloß, glich eigentlich ganz einer Karnevalsmaske, doch that dies dem Effekt ihrer Erscheinung keinen Eintrag. Die Damen kritisierten im stillen vielleicht die Details, boten aber ihr entzücktestes Lächeln und zwanzig Herrenhände streckten sich zugleich, für jegliche Verwendung bereit, entgegen, die junge reiche Witwe hatte nur zu wählen,
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ungeschont. Sie spielen von welchem sie sich die Stufen hinauf unverstanden, und durchs Leben führen lassen wollte. mit meinen Nerven ; die eine steuert mich . ins Verderben und der andere lacht dazu. “ Sie aber verschmähte alle und legte die „Aber mein Gott, ich darf wohl lachen! ihre auf Andor's Arm , der denselben der Ist denn das nicht auch eine Art , seine schönen Frau nicht verweigern konnte, auch Freude zu bezeugen ? Soll ich moralisieren. wenn sie nicht die Verwandte seines Chefs gewesen wäre. Leicht und elastisch war ihre und sagen : Warum begeben Sie sich in Gefahr, wenn es Ihnen unbequem ist, darin Begleiterin schon vorauf an Viktorinens Rollwagen geeilt, zu dem sie sich scherzend | umzukommen ?“ Als ob Gefahr bei einer so kleinen durch die sie begrüßende und mit Komplimenten überhäufende Schar hindurchkämpfte, | Segelfahrt wäre ! “ widerlegte ihm Madame „mehr in Gefahr zu stranden oder erdrückt de Drésillon, und damit, ohne daß sie es gewahr wurde, sich selbst . „ Und vollends zu werden, als da unten," wie sie lächelnd bemerkte. unter Sujannens Führung! Wir haben im vergangenen Winter zahlloſe Ausflüge mitMadame de Drésillon, deren Anwesen einander in Nizza gemacht. Sie brachte heit Andor ganz und gar aus dem Geganze Tage auf dem Meere zu . Sie bedächtnis geschwunden war, sah mit einem Blicke kaum verhohlener Glückseligkeit zu ihm | treibt alles, was ſie einmal erfaßt, ſo leidenauf, indes ihr Mund sich schmollend verzog. schaftlich, und das reißt mit, das enthusiasmiert. Wir waren so gute Freundinnen ge,,Unartiger !" schalt sie, sobald sie zu worden und ich wollte sie gleich mitnehmen Atem gekommen war. „Ich glaube , Sie könnten mich eine Beute der Haifiſche wernach Paris . Aber damals lebte ihr Vater noch, er war krank, wir mußten uns trennen. den laſſen, ohne auch nur einen Finger zu Mittlerweile ist er gestorben, nun konnte sie regen!" „Ich wußte ja nicht, daß sie zum Fange meiner Einladung folgen. Ich bin ſo glücklich darüber ! Wir baden, wir promenieren, derselben ausgezogen waren . Sie haben nur das Wichtigste vergessen die Harpune. " wir machen auch hier unsere Bootfahrten . „Ach, schweigen Sie, Spötter !" unter Ich finde sie deliziös , und von Gefahr war brach sie die heitere Laune kurz, in nicht nie eine Rede bis heute. Aber jezt, da ich allzu ernst gemeintem Unwillen . „Ich meinte, mich etwas erholt habe, lache ich darüber. ich ſei des Todes . Dieſer häßliche, schwarze Es war eben nur ein waghalsiges Stück, das unterbricht die Eintönigkeit , das regt Koloß über uns, der dann von uns keinen an, belebt ; ich liebe Emotionen. " Meter entfernt ; es war Tollkühnheit. Ich warnte, ich bat, ich schrie ! Alles vergebens ! Ich schloß zulezt die Augen und ergab mich in mein Schicksal. " " Es ist, sollte ich meinen, ein ganz erträgliches."
hätte mir der Vicomte seine Hilfe angetragen! Ich hätte mich von allem Anfang an ihn wenden sollen. Nein, nein, bleiben wir nicht stehen, ich will ihn nicht erwarten ! So
„Und diejenigen, die Ihnen welche bereiten . “ „ Nun gut, ja . Es ist das Temperament, das uns zu Freundinnen machte. Diese Kraft, diese Energie des Bluts mag manchmal zu weit gehen, aber es ist eben die Eigentümlichkeit der Nationalität, und was ― wollen Sie ich schwärme einmal für alles, was aus Ungarn kommt." Der Blick, der dies unumwundene Geständnis begleitete, ließ kaum einen Zweifel, wem eigentlich die Schwäche für dies der Dame nur vom Hörenjagen bekannte Land galt, und es war ein Zeichen großer Zurückhaltung, wenn Andor ſich den Anſchein gab, die Andeutung nicht zu verstehen. Es konnte bei ihm unmöglich mehr die Schüchternheit des jungen Mannes jein und ebensowenig
ſtehe ich einmal zwischen meinen Freunden
die des Angestellten gegenüber der Nichte
„Gefühlloser ! Sehen Sie denn nicht, daß ich vor Schreck alle Farbe verloren habe ? Ich fühle mich ganz schwach, Sie werden mich tragen müssen. " Mit dem größten Vergnügen, soweit Sie es verlangen und meine Kräfte reichen." „D, da spreche einer mit Ihnen ; immer diese herzlose Ironie ! Wie ganz anders
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seines Chefs , und da die in der Pariser | Blick wie am Morgen, ja ſogar etwas MißGesellschaft aufgewachsene junge Frau auch trauen spiegelte sich darin. Und doch welch ein Auge ! Andor konnte nicht an die Ahnungslosigkeit der eiteln und nach Erfolg jagenden Herrenwelt glauben das seine nicht von demselben abwenden, mochte, so blieb ihr nichts übrig, als sich so klar, so groß, so tief bei aller Kälte und in dies freundschaftliche, jede weitere Entvon keinem nachhelfenden Tuschstriche um wickelung aber fühlbar ablehnende Verhält die langen Wimpern geschwärzt, wie dies nis zu schicken , vielleicht in der geheimen | Madame Dréſillon keineswegs verschmähte, Hoffnung, daß auch ein Herz von Eis eines gleich dem unvermeidlichen Puder, von dem Tages zu tauen beginnen könne. In ihrer auch kein Stäubchen dieser matten , aber gutmütigen Oberflächlichkeit begnügte sie sich reinen Gesichtsfarbe hier Eintrag that, zu vorläufig mit der Ueberzeugung , daß es der die schwarzen Niederländer Spigen einen auch noch von keiner anderen Sonne zum so unvergleichlichen Kontraſt bildeten . " Sie sind meiner armen Schwester mit Schmelzen gebracht worden war. Die über den gefährlichen Punkt leicht hingleitende Erwiderung auf das „für sein Geburtsland so schmeichelhafte Kompliment," daß jenes außer einigen ganz vorzüglichen Produkten auch Zigeuner und Drahtbinder erportiere," wurde ein wenig ärgerlich, doch lachend aufgenommen. „Ich hoffe, daß Sie damit keinen Zweifel ausdrücken, ob meine Freunde zu ersteren. gehören? " fragte sie schlagfertiger, als ihre gewöhnlich zusammenhangslos und naiv über alles mögliche hinflatternde Konversation voraussehen ließ. „Ich bin in der Wahl derselben ebenso vorsichtig als schwer zu befriedigen. Sie Ihresteils mögen selbst urteilen. Doch Sie kennen sich ja noch gar nicht. Apropos, Susanne! Monsieur de Rai-
einem freundlichen, teilnehmenden Herzen entgegengekommen und ihr ein guter Geist gewesen. Ihr Umgang thut der Kranken wohl, aus Ihrer Kunst schöpft sie Linderung im Leiden. Auch wenn sie sich heute so rasch wieder erholt hat, verdankt sie es nur Ihrem wundervollen Spiel. " Man hat Ihnen davon zuviel erzählt . " „ Eine tiefe Röte flutete über das sich Sie abwendende Antlig des Mädchens .
schwand aber plößlich und ein leiſes Zucken ging durch die kleine Gestalt, als Andor, der bisher französisch gesprochen hatte, ſeine Stimme dämpfend, in den Lauten der Heimat fortfuhr : ,,Ja, ich möchte Ihnen danken, recht aus vollem Herzen danken. Groß ist der Einnald, unser überseeischer Gesandter, von dem fluß, den Sie auf meine Schwester gewonich Ihnen schon so viel erzählt habe, was nen haben und man möchte fast zum Aberzu verraten eigentlich recht unklug von mir glauben neigen, wenn man die geheimnisMademoiselle de Turulai, meine volle Relation wahrnimmt , in der sie zu ist ; liebe Freundin, deren übrige Eigenschaften | Ihnen steht . Ich möchte dies Rätsel der Natur mich nur in den Schatten stellen und die nicht wie Dr. Raich lösen, ſondern ihm eine Sympa ich daher aufzuzählen unterlasse. Der feier- tiefere Bedeutung unterlegen. liche Akt ist vollzogen, die Unterhandlungen | thieen und Antipathieen sind vielleicht Vorkönnen beginnen." herbestimmungen, denen der Mensch unterMunter wandte sie sich zu der „ Leibgarde, worfen ist . “ der sie die Gefangenen abgenommen hatte" „Wenn er will ," entgegnete sie mit ernſtem Nachdruck. " Die er aber auch förund von der sie sich jetzt selbst arretieren lassen wolle , um den Rapport über den dern oder bezwingen kann." Lächelnd neigte sich Andor. Dieser fast Streifzug nach Amiens entgegenzunehmen ." „Ich bin Madame de Drésillon sehr männliche Ton war es nicht, der seinem Gefühle entsprach. Es klang daher auch verpflichtet," sagte Andor, an der Seite der ihm Vorgestellten weiter wandernd, „ daß weit weltläufiger, was er erwiderte. Eben darum will ich diese dritte Besie es mir ermöglicht hat, Ihnen, mein gegnung nicht vorübergehen lassen, um Sie Fräulein, meinen Dank auszusprechen ." „Wofür ? " Die Frage klang hart, auch mir günstig zu ſtimmen. “ das Auge hatte wieder jenen abweisenden „Die dritte ?" Fast im Stammeln kam
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es über ihre Lippen und der scheue Blick | sich wieder seines Armes bemächtigt hatte. traf ihn wieder. Zum Glücke wurde nur selten eine Antwort Zu spät erinnerte er sich, das Wort war von ihm verlangt. Sein Blick hing an einer in der beginnenden Dämmerung ihm entschlüpft. „Nun ja, heut' morgens die erste," er- | allmählich verschwindenden schlanken, biegklärte er und überhörte das leiſe : „Ah ! der samen Geſtalt, die sich in freundlichem GeErleichterung ," das die Brust seiner Bespräche zu Viktorinen neigte, an deren Wagleiterin hob. Das zweitemal als ich gen sie hinschritt. Die Sonne war längst hinabgesunken mich selbst überzeugte, daß man mir nicht zuviel von Ihrer Kunst erzählt. " in das Meer, auf dem die lezten Spiegellichter ihres Widerscheins am Himmel erAbermals kam und ging die Farbe auf ihren Wangen. loschen. Lange feurige Streifen liefen von den Leuchttürmen über die dunkelnde Fläche „ Man hatte mir versichert, " ſagte sie. „Und als ich dies erfuhr, entfernte ich | hinaus und vom Strande her ſtrahlte das mich gehorsam und diskret," fiel er ein. Etablissement in einem Kranze von Gas,,So ist es jeßt das drittemal. " flammen auf. Heller als diese aber meinte Andor zwei Augen glühen zu ſehen und „Und Sie sind abergläubiſch ?" Ein aus der rauschenden Musik, die der Abendleises Lächeln glitt bei dieser Frage um ihre hauch vom Strande herübertrug, hörte er Lippen, und nun hatte das Auge auch einen anderen, ganz anderen Blick für Andor. immer wieder die wunderſamen Weiſen jener Zaubergeige aus der fernen, fernen, gemiede„Ja," antwortete er heiter, doch nicht nen und doch so heiß geliebten Heimat. ohne Nachdruck. Ich glaube an gute Geister und doch ganz realistisch auch an die Bezwingbarkeit von Antipathieen. " III. Was sprechen Sie für eine abscheuliche Vor einem jener kleinen, koketten Hotels Sprache?" mischte sich Madame de Dréin den Champs Elisées, deren zierliche, von sillon, der diese Unterredung schon zu lange dauerte, ein wenig eifersüchtig ein. spielenden Wassern stets in frischem Grün erhaltene Vorgärtchen die Avenue Gabriel Andor gab lachend Auskunft. „Auch sie kommt aus Ungarn." begrenzen, hielt eine elegante Equipage . Der „ Mag sein, aber das ist Landesverrat ! " Kutscher vertrieb sich die Zeit damit, in stolzer erklärte die nie um eine Antwort verlegene Haltung die zahlreichen Spaziergänger zu Dame. „Merken Sie sich, unverständliche mustern, die der schöne Septembernachmittag barbarische Jargons werden nicht geduldet in ins Boulogner Gehölz lockte ; weniger gemeinem Hause. Ein ganzer Tag, daß Sie lassen fanden sich die edlen Karossiers, denen hier umhergehen, und Sie haben noch nicht die schon gegen Westen sinkende Sonne kihelnd in die Nüſtern blinkte, in das Warten. an die Thüre desselben gepocht. Abscheulich! Entschuldigen Sie sich nicht. Sie mußten So ungeduldig sie aber mit den Hufen meine Adreſſe wissen. Wenn Sie leugnen, stampften und die Köpfe warfen, schien der ist es eine neue Beleidigung . Und ich wäre Augenblick der Erlösung noch immer nicht kommen zu wollen, da ſich noch nicht einmal so schön zu Hause gewesen. Alle Welt war der seiner Herrin vorauseilende und den in Amiens, kein Mensch besuchte mich. Was soll ich in alten Städten mit schrecklich beSchlag öffnende Lakai blicken ließ. rühmten Kathedralen ? Ich verstehe nichts Madame de Drésillon war eben gewohnt, davon. Daß Susanne zurückkehrte, war mir mit der Zeit als etwas ganz Unwesentlichem recht ; aber ich habe sie doch bis zu Tische umzuſpringen, das auf Damen ihrer Stellung nicht gesehen. Sie hätten mir so hübsch von keinerlei Zwang auszuüben vermochte. Sie Ihrer Reise erzählen können. Ist es wahr, kam eben erst aus ihrem Ankleidezimmer und daß man dies Jahr in New York Hüte | rauschte , die lange Schleppe ihrer cremeà la Cromwell trägt ?" farbigen Robe über den Teppich ſchleifend, durch die schweren Portieren eines kleinen, So plauderte sie unausgefeßt, aber Anganz in Gold und Blumendamast eingedor hörte nur sehr zerstreut zu, obwohl sie
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Ist das nicht ent-
richteten Eckboudoirs , durch dessen Erckerfenster das sich schon bräunende Laub der Allee hereinblickte. Ohne davon Notiz zu nehmen, daß sie einen eben begonnenen Sah ihrer Freundin unterbrach, rief sie ihr lärmendes : Bonjour, bonjour ! Vous me trouvez execrable, n'est- ce pas, Marquis ? " Sie legte dabei die rosigen Spißen ihrer Finger flüchtig in die große, weiße Hand Savagna's , der sich bei ihrem Eintritte rascher als man seinem Embonpoint zugetraut hätte, aus dem im Stile Pompadour geschweiften Armſeſſel erhoben hatte, den er bis jest in lebhaftem Gespräche, dem an=
kanntschaft.
er dann in ſeiner nachläſſigen, perſifflierenden Weise fort, die aber niemals verleßend wurde. „Ich bin Ihnen in der That dankbar für die Ueberraschungen , die Sie mir bereitet haben. Das ist eine wirklich bezaubernde Aufmerksamkeit. Sie wissen, ich liebe Ueberraschungen, sie beleben und verjüngern. “ „Wie so ? ich verstehe Sie nicht, “ fragte Madame de Drésillon, während sie vor den in ein abenteuerliches Gewirr von goldenen Schnörkeln eingerahmten, hohen Kaminspiegel trat. Ich schlendere durch das verödete Paris, voll trübseliger Reflerionen über das unge-
die Dame des Hauses . „Ich lege Beſchlag auf Sie, wie man es mit uns gethan hat. Sie haben ganz recht : Paris iſt abſcheulich um diese Zeit. Es ist auch nur für einige Tage, daß wir hierherkommen . Es war ein Akt der Freundschaft. Dieses arme Fräulein von Beledényi ! Wir wollten Sie wenigstens bis hierher begleiten. Finden Sie nicht, daß ich alle Anlagen zur barmherzigen Schwester habe ? Nur das Koſtüm derselben ist so abschreckend . Manon muß wirklich daran gedacht haben , meiner Toilette heute etwas von diesem Charakter zu geben." ,,Wirklich ganz Nonne!" stimmte Sa-
störte Stillleben der Jahreszeit, da erblicke ich Ihren Wagen vor dem Hause. Erste Ueberraschung. Sie sind also da . Ich stürme den Plaß und werde angenommen . Zweite Ueberraschung. Ich hoffe, Sie wieder zu sehen und finde eine andere alte Be-
vagna mit vergnügtem Blinzeln zu . Sie zuckte nur die Achseln und überging ſeine ironische Bemerkung . " Und kaum sind die Mausefalle zu. klappt wir hier , Mein Onkel benüßt die Gelegenheit, uns das Vergnügen eines kleinen diplomatiſchen
zückend ?“ „Sie sind also schon lange wieder zurück. Waren Sie nicht in Ostende ?" Der Marquis fonnte ein eigentümliches Lächeln und einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. Sein Seitenblick schien sagen zu wollen : „ Ach, wären wir doch lieber noch länger allein geblieben ! Lohnt es sich denn der Mühe, an diese in ihre eigene Schönheit verliebte Puppe seinen Wiß zu verschwenden ?" Immerhin verschmähte er es nicht, sich an dieser Schönheit zu ergößen, die seinem indiskreten Auge im Spiegelbilde allerlei kleine mutigen Gaſte des Hauſes gegenüber einnahm . | Geheimniſſe enthüllte, während Madame Anscheinend immer derselbe, war er nicht gede Drésillon an dem tiefen , herzförmigen altert seit jener ersten Begegnung am Sagen- | Ausſchnitte ihres Kleides ungeduldig nestelte und das in nachlässigen Locken gelöste Haar brunnen, deren er sich eben erinnert hatte, bald auf die weiße Brust vorzog, bald wieder nur das Haar des in die Vierziger tretenden Lebemannes mochte noch dünner, der auf die Schultern zurückwarf. Seine AntSchnurrbart noch spizer , der Henriquatre wort war auch nur so nebenbei gegeben : noch länger und die Griffe der Jahre an „ Nein, ich bin vierzehn Tage in Trouville den Augenwinkeln mochten noch zahlreicher gewesen. Sie wissen ja, wir arme Leute und welker geworden sein. von der Politik dürfen nie länger von deren Sein erstes Wort war natürlich ein Zentren entfernt bleiben. Weit besser ist Protest, der in einem Ausrufe der Bewundees mir in den letten zwei Jahren noch in London ergangen ; dort schläft zu gewissen rung gipfelte . Zeiten die ganze Maschine ein ; hier aber " Eine schöne Dame, die uns ein Têteà-tête mit einem anderen ermöglicht , hat ist man immer auf dem qui vive. Sogar in immer Anspruch darauf, liebenswürdig und der toten Saison. Man kömmt sich vor reizend gefunden zu werden, auch wenn ſie wie die Schildwache auf einem Friedhofe." nicht in so blendender Toilette erschiene," fuhr ",,So kommen Sie heute mit uns !" rief
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Sie werden Ihrem Versprechen getreu Diners zu geben . Ein Botschafter , ein bleiben?" paar Fremde, was weiß ich. Das trifft sich Und den einen Ihrer beiden Namen nun herrlich. Ich bin nichts weniger als Diplomatin. Da bringe ich Ihnen meinen verschweigen? Der König der Lüfte will Stellvertreter mit. Ich lasse Sie nicht unerkannt unter den armen kriechenden Gefort. Wir haben noch Play in unserem | schöpfen der Erde wandeln . Fürchten Sie denn Wagen. " nicht, daß sich die mächtigen Schwingen nicht Sie sind sehr gütig, Madame. Ihr so ganz unmerklich zusammenfalten lassen ?" „"1 Meinen Sie die des Genies oder die Vorschlag ist überaus verlockend — nicht um der Diplomatie willen, sondern troß der des - Adlers ? Das war ein sehr zweiselben." Der Marquis verbeugte sich dabei deutiges Kompliment, Marquis . Himmel ! Sie werden mich doch des verbindlich gegen die beiden Damen . „Aber Spottes nicht fähig halten. Ich suche mich mein Anzugich müßte doch noch Zeit haben, mich in Full dress zu werfen." nur über die Gründe dieses Versteckspiels „ So eilen Sie nach Hauſe . Wir haben zu orientieren . “ Susanne errötete leicht und ihr scherzhaft versprochen, etwas früher da zu sein ; meine Tante will uns eine seltene Blüte zeigen, spöttisches Lächeln wich einer leisen Heftigkeit. "Ich darf wohl auch ein Inkognito bebei Tageslicht natürlich und ich liebe Blumen so sehr . Aber Sie können immer wahren,“ ſagte sie, „ wenn andere das Gleiche hin noch den Zug erreichen ; auch Monsieur mir gegenüber thun.“ Der Marquis sah sie durchdringend an. de Rainald wird denselben benüßen, und wenn wir vor Ihnen in Vésinet sind, sende | In blizſchneller Kombination faßte er die Andeutungen zusammen. ich Ihnen den Wagen an die Bahn . „Zielt das auf Herrn von Rainald ?“ Nein, nein! Es ist rein unmöglich, ich weiß nicht, wo Manon die Augen hat . Was „Ja," lautete die unverzögerte Antwort. Vortrefflich ! Es sieht aus wie eine kümmert mich die Mode ? Ich bin es, die sie macht. Diese alten Spigen zu meinem Intrigue vom Maskenball . Man kennt sich Teint, zu meinem Haar es ist der Gipfel und kennt sich doch nicht, oder thut doch so . der Abgeschmacktheit . Sagen Sie selbst, Ich finde das amüsant . Aber wird es nicht Susanne, habe ich nicht recht, wenn ich auf auch einen ähnlichen Ausgang haben? " Höhnisch begegnete Susanne dem lauernmeinen mattblauen Fichu bestehe ? - Auf den Blick , ihre verächtlich emporgezogene Wiedersehen, Marquis . Ich zähle auf Sie. “ Und damit war die schöne Frau , die sich während der ganzen Zeit nicht vom Spiegel getrennt hatte, wieder verschwunden. Die Pferde konnten schon noch ein Weilchen warten . Der Marquis hatte seinen Hut vom Teppich aufgenommen , aber in dem Moment, wo er sich verabschieden wollte, legte sich eine Hand leise auf seinen Arm . " Sie wollen der Einladung Folge leisten ?“ Gewiß, ich bin entzückt darüber. Es hätte mir kein größeres Glück widerfahren können. Sie zweifeln doch nicht daran, Mademoiselle Susanne ? Ich werde nun den ganzen Abend an Ihrer Seite verbringen können. " Er faßte die Hand, die sich ihm nicht entzog, aber ernst und gleichmütig blickten die Augen und mahnend klang die Stimme des stolz aufgerichteten Mädchens :
Oberlippe entblößte die blinkenden Emailspißen der weißen Zähne. ,,Seien Sie um den Ausgang ganz unbesorgt . Wenn mich der Scherz zu lang= weilen beginnt , mache ich ihm ein Ende, wenn es mir bis dahin auch gefallen mag, ein Spiel zu treiben." ,,Wie mit manchem andern, der ein Opfer Ihrer Grausamkeit geworden . “ „Warum nicht ? Die Männer , die es sich gefallen lassen, verdienen es eben nicht anders . “ ,,Nennen Sie mir ein Mittel zu revoltieren ! Sie fordern Gehorsam, leiſtet man ihn - und wodurch ließe sich sonst ein erihn gebenes Herz erkennen, - wird man verspottet, verweigert man ihn aber - “ „ So trifft den Rebellen die vollste Ungnade. Verbannung für ewige Zeiten," fiel Susanne scherzend ein, indem sie dem
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mat nahm das Unvermeidliche mit der besten Marquis verabschiedend die Hand reichte, die er galant an die Lippen zog . „ Jezt aber Miene und gedachte, wenigstens den größtgehen Sie, denn ich will nicht schuld daran | möglichsten Vorteil daraus zu ziehen. Hier ſein, Sie um ein köſtliches Diner zu bringen . bot sich Gelegenheit zu voller Orientierung. Sie sind Gourmand, Epikuräer." Sie saßen kaum auf dem Verdeck des „Leider !" seufzte der Marquis mit einem Waggons, das Savagna der Luftigkeit und bedeutungsvollen Blick und Händedruck. seiner Zigarrette zuliebe zu erklettern vor„ Ich weiß im Leben das Köstlichste zu geschlagen, als er auch schon mit dem Ausschäßen. Um so schwerer übt sich die Ent= | holen begann. Fröhlich, mein Freund, fröhlich! Sie jagung !" Dieser sentimentale Abgang trug ihm sehen so ernst aus , als ob Sie zu einem aber nichts weiter ein, als ein skeptisches Begräbnisse und nicht zum Diner in einem Achselzucken. Er konnte es zu ſeinen früheren Hauſe gingen, das den ersten Koch, den beErfahrungen schreiben . Hatte er sich dieses rühmtesten Keller von Paris beſißt und in Wiedersehens gefreut, so mußte er sich jest welchem uns die schönsten Augen sehnsüchtig ſagen, daß seine Aussichten auf Erfolg bei entgegenblicken. “ Fräulein von Turulai keine größeren waren, Hatte er ein verräterisches Lächeln, eine als einst bei Suſanne Adler. - Und wieder dissimulierte Verlegenheit erwartet, so sah schien ihm dasselbe Hindernis im Wege zu er sich getäuscht. Andor nickte in ruhiger stehen, das er damals mit scharfem Auge Zustimmung. „In der That,“ ſagte er, „ es kostet mich erkannt . Es war vielleicht klüger, diese Fäden nicht wieder aufzunehmen und sein heute einige Ueberwindung, der Einladung Ziel bei Frau von Drésillon weiter zu ver- Folge zu leisten, und wenn Monsieur d'Evert folgen ; doch am Ende konnte man ja vielleicht nicht so ausdrücklich auf meinem Erscheinen bestanden hätte, würde ich mich am liebsten. eine Karte gegen die andere ausſpielen. entschuldigt haben." Als er eine halbe Stunde später die "I Bah, man muß seiner Stimmung GeGare St. Lazare betrat, erkannte er sofort in jener hohen Gestalt im lichten Sommer walt anthun, der Geſellſchaft wegen . " ,,Oder sie meiden." überrock, die sich eben zum Schalter nieder,,Was haben Sie denn, Freund ? Sie beugte, denjenigen, der seine Gedanken während der ganzen Zeit, deren er zum Toilette- sehen aus, wie jemand, dem etwas ſehr Niederwechsel bedurfte, ſo lebhaft beschäftigt hatte. | drückendes begegnet ist — ich möchte sagen, ,,A merveille, monsieur de Rainald? wie jemand, der einen Korb erhalten hat." Andor schüttelte lächelnd den Kopf. Nehmen Sie zwei Billets , da wir denselben „Den erhält nur, wer sich ihn holt. " Weg haben, wie ich schon aus ihrer weißen Krawatte schließen könnte, wenn es mir nicht " Und Sie sind zu vorsichtig , sich der bereits zuvor ein schöner Frauenmund verGefahr auszusehen ?" Diesmal meinte der raten hätte." Marquis denn doch, ein plößliches ZusammenDie Begrüßung war trog Andors pressen der Lippen, ja sogar ein leiſes ErZurückhaltung von seiten des Marquis röten seines Begleiters zu bemerken und ver eine völlig fordiale, auch nicht in der klein- suchte, die Spur nachdrücklich weiter zu versten Nüance von der in alter Zeit ver- folgen. Können sie denn aber wissen, ob es eine solche Gefahr für Sie gibt ? Wie, wenn schieden. Savagna war von zu vollSie mit offenen Armen erwartet würden ?" endetem Takte, um einen alten Bekannten Ich kann mir nicht denken," entgegnete die veränderte Stellung merken zu lassen, Andor, befremdet aufsehend und kühl, " daß wenn er ihm eben nicht aus dem Wege gehen konnte ; binnen der wenigen Monate seit seiner neuerlichen Versehung nach Paris hatte er ein paarmal Andor begegnet, doch unter Umständen, die ein flüchtiges Vorüberstreifen entschuldigten. Diesmal war ein Ausweichen nicht gut möglich, und der Diplo-
irgend jemand Sie beauftragt haben sollte, mir Mut zu machen. “ Das war wieder ganz jene stolz ablehnende Art , in dem Savagna's Einmengung schon ehedem zurückgewiesen worden. Wollte er wirkliches Vertrauen
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erwecken, so mußte es auf anderem Wege geschehen. Er beeilte sich denn auch, den Fehler gut zu machen und Andor nur seiner aufrichtigen Teilnahme zu versichern , aus der die Frage entsprungen.
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jagte er nach einer Weile. „ Es ist hart genug, wenn wir von einem Menschen, für den wir nur Wohlwollen und Achtung fühlten, unser Vertrauen getäuscht sehen. “ Verdruß über den Irrtum des eigenen
„ Sie müssen aber in der That sehr Urteils , mit deſſen Unfehlbarkeit wir uns schmeicheln . Weiter nichts . " verstimmt sein, wenn Sie den kleinen Scherz übelnehmen. Und da ich glauben muß, daß „Nein, es ist mehr . Die Erschütterung des Glaubens an die Menschheit, die Furcht, es nur der Abschied von Ihrer Schwester alles wanken zu jeben." ist, die, wie ich hörte, gestern in die Heimat zurückkehrte, was Sie so traurig macht, so ,,Das ist doch eine Erfahrung, die uns jeglicher Tag bringt . Wer wird auch so hätte ich Sie gerne auf andere Gedanken thöricht sein , sich mit Glauben und Vergebracht. " trauen zu befaſſen ? Das sind nur Worte „Ja, es ist mir nahe gegangen," gab Anaus einem Diktionär zum Gebrauche für dor wieder in ernst freundlichem Tone zur Volks- und Kanzelredner. " Antwort. „ Ich habe sie jahrelang nicht mehr gesehen, und wer weiß aber das ist eben " Sie haben recht, wer wird so thöricht sein ! Mißtraue jedem, dir ſelbſt am meiſten. “ nicht zu ändern und das Seebad ſcheint ja ,,Sie werden bitter. Das ist nicht die doch von der besten Wirkung gewesen zu richtige Art , mein Freund . Ist denn ein ſein, wenn man auch keine gänzliche Genesung Mensch wert, daß wir uns seinetwegen die hoffen darf. Es ist nicht das, was mir den gute Laune verderben und die Verdauung Sinn verdüstert. Von Menschen scheiden, die man liebt, ist schmerzlich ; aber wir denken stören lassen ?" ,,Auch damit haben Sie recht, - in an ein Wiedersehen, oder es bleibt doch, diesem Falle wenigstens . Sie erinnern ſich selbst wenn sie gestorben sind , ihr holdes meines ehemaligen Verwalters in Löfe ? Bild in unserer Seele; die Gemeinschaft ist Vielleicht haben Sie den Mann damals schon nicht gelöst. Schwer aber fällt es , eines richtiger beurteilt als ich. Er hat sich ums dieser Bilder vom Nagel zu nehmen und Leben gebracht und den wider ihn erhobenen gegen die Wand zu kehren.“ , Sie haben ein Liebesverhältnis aufge- | Beſchuldigungen der ungeheuerlichſten Schurgeben?" riet der Marquis nach der ihm fereien dadurch Bestätigung gegeben. Und einzig möglichen Auffaſſung und dabei doch ich war troß allen späteren Anzeichen noch immer von seiner Redlichkeit überzeugt, ja ſein Ziel im Auge behaltend . „ Eh bien ! ſelbſt mein Onkel hat felfenfest auf ihn geMan hängt ein anderes , frisches Bild an die Stelle des alten. Das iſt ſelbſtver- | baut, ſo daß ſeine Erschütterung womöglich ständlich." eine noch größere sein muß, als die meine. Er scheint davon völlig krank geworden zu Andor verstummte. Diese irrige Ausdeutung seiner Worte traf ihn doch, wenn auch sein, wie ich aus seinem Briefe schließe. auf den Moment nicht passend, seltsam, wie Aber das wird Sie kaum intereſſiren.“ die unerwartete Selbstschau in einem plöß,,Doch, doch !" bat Savagna, und Andor, der unterdessen den Brief aus der Brustlich vorgehaltenen Spiegel. War nicht auch bei ihm eine Wandlung vorgegangen ? Wie tasche ſeines Ueberrocks geholt und ihn ſchon sehr hatte er einst Ilka zu lieben vermeint, wieder zurückschieben wollte, las eine Stelle des in seinen großen altväterischen Zügen und jest waren ihre Züge verblaßt und die Phantasie war bereits emsig daran, sie zu ſelbſt jezt in der tiefen Dämmerung noch ganz gut entzifferbaren Schreibens, das er übermalen. Wo früher ſanfte, braune Augen unter Tags erhalten: fromm und ergeben geblickt, da belebte jezt Ich habe mich fast unter die Erde ein Glutblig zurückgehaltener Leidenschaft hineingeschämt , aber erfahren sollst du's den klaren Blick festen Willens und scharfen doch, habe ich mir schließlich gesagt. Vor Verſtandes, und so war jede Linie im Ueber dem einen Spizbuben habe ich dich gewarnt, gang begriffen . den andern aber dir selbst noch anrekomIch hatte einen anderen Fall im Auge," 56
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mandiert, und wenn ich denke, daß ich dem Gauner auch noch die Stange gehalten, als er vor einem halben Jahre wegen allerlei unklaren Geschichten entlassen wurde ! Ich könnte mich selbst ins Gesicht schlagen ! Ich meinte, es geschehe dem Manne unrecht. Dem Herrn Inspektor denn so hat er sich titulieren lassen, Verwalter war ihm zu wenig wurde aber besser auf die Finger geschaut, seitdem das Gut wieder in feste Hände überging. Dein dritter Saggläubiger hatte ja nur mitgeboten, um seine For derung nicht zu verlieren, und da hat sich fein Mensch um die Wirtschaft gefümmert . Seither ist es anders geworden. Wenn ich denke, daß ich den Elenden noch in Raab besuchte, wo er den gekränkten Ehrenmann spielte ! Du wirst aber fragen , wie alles auffam . Durch Görbedán . Endlich haben sie doch den verlumpten Geiger eingefangen und der hat geradezu auf Potyondi ausgesagt. Von ihm ist er erst zur Brandlegung angeſtiftet worden, das Einſperren war nur eine Komödie. Sogar die Brücke ist nur abgetragen worden, um die Feuersprißen aufzuhalten ! Ist es nicht ungeheuerlich ? Auf mein Getreide war es abgeſehen, damit du das deine von Adler zurückkaufen mußteſt. Alles ist klar. Wenn es nicht so wäre, wozu brauchte der Beschuldigte dann ins Wasser zu gehen ? Die einen ſagen, der Schlag habe ihn getroffen und er ſei dann in die kleine Donau gefallen ; die anderen meinen , er habe sich ertränkt, aber ſein liederlicher Sohn sei Schuld daran . Mag sein, daß der auch mit einen Nagel in seines Vaters Sarg geſchlagen ; aber Görbedán hat recht, das laß ich mir nicht nehmen. Man hat in dem Nachlaß Briefe gefunden, die deutlich genug beweisen , daß Potyondi mit Adler unter einer Decke steckten, und wenn dieser geadelte Schurke, der noch im Tode seine eigenen Spießgesellen sogar um ihr Geld prellte, mir nicht schon vor einem halben Jahre unter den Händen ins Jenseits entschlüpft wäre, so würde ich, bei Gott, keine Ruhe geben, bis ich den Hallunken samt seine im Feuer vergoldeten Rittersporen ins Zuchthaus gebracht hätte. " „Und so weiter ! " schloß Andor , das Schreiben wieder zusammenlegend. „ Der alte Herr liebt kräftige Ausdrücke,"
scherzte Savagna . „ Aber wie das alles wieder lebendig wird. Ich sehe Bukraház vor mir, den Brand , den Korb — ah , ah ! Der krumme Zigeuner also ? - Wie hieß doch der Brunnen, an dem wir Adler trafen mit seiner schönen Tochter? Ja so, Sie haben dieselbe damals nicht gesehen. Der junge Potyondi war später erpicht darauf, sie zu heiraten. Er wollte offenbar das Geschäft der Väter zum Abſchluſſe bringen. Was aus ihm geworden sein mag ? Verlorene Chancen ! " Es prikelte ihn, noch mit einem Worte weiter zu gehen, und einen Moment war er nahe daran, gegen das ihm ausdrücklich auferlegte Verbot zu handeln. Doch wog er die wahrscheinlichen Vor- und Nachteile gegeneinander ab und besiegte ſchließlich den fast unwiderstehlichen Reiz und zog es vor, die Gelegenheit zu abermaligem Sondieren zu verwenden. ,,Doch ich vergesse, daß Sie ein strenger Gegner aller Heiraten sind, die den Zweck verfolgen , derangierte Verhältnisse zu restaurieren. Oder haben sich vielleicht Ihre Ansichten geändert ?" Andor ward erst durch die leßte Frage aus den düstern Gedanken gerissen, in die er zurückversunken war. "! Der Mann muß wenig Achtung vor sich selbst haben," sagte er eigentümlich gepreßt, „ der sich der Achtung jener Frau begibt, aus deren Hand er die lebenslängliche Abhängigkeit annimmt. “ „ Ich bewundere Sie fürwahr ! Und doch wie schade ! Ich gestehe, daß mein Stolz die Probe zwischen jenen zwei Damen, die mir heute beide vor Ihnen sprachen, schlechter bestanden hätte . Mich ließe die Schönheit - den Reichtum übersehen. Und Sie als Geschäftsmann müssen doch auch den Wert des Geldes schäßen." ,,Weit höher noch den der Gesinnung !“ entgegnete Andor mit Nachdruck, der es Sa vagna rätlich erscheinen ließ , nicht weiter in ihn zu dringen. „ Ich bewundere Sie, wie gesagt !" rief er. "1 Es ist nicht jedermann so konſequent, mein lieber Baron Beledényi ." ,,Rainald, wenn ich bitten darf !" fiel Andor ein. „Nun ja, wie Sie wollen. Ich ehre ja "/ Um so Ihr Inkognito und verstehe es. mehr hätte es mich gefreut, die Ursachen
Andor.
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desselben bald behoben und die dunkle Hülle # Der Skeptiker erhielt keine Antwort. durch eine schöne vergoldete Hand abgestreift Es war Andor's Geſchick, von dieſem Manne, zu sehen." neben dem er in der gesellschaftlichen OberAbermals hörte Andor die von seiner flächlichkeit stets in leidlichem Behagen hinSchwester ausgesprochene Vermutung als gegangen, immer wieder kalt und entfremdet ganz natürlich hingestellt, und diesmal hielt zu scheiden, so oft eine ernste Frage der ihn keine Rücksicht ab , seinen Standpunkt Grundverschiedenheit ihres Wesens Anlaß ausdrücklich zu wahren. zum Hervortreten gab. ,,Sie irren, Marquis," sagte er mit geEs war auch keine Zeit mehr, eine unmessenem Ernst . Mein Onkel hat mich ge- mögliche Verständigung zu suchen oder den seßlich adoptiert und ich werde nie einen Widerspruchfortzujeßen. Asnières, Nanterre, anderen als seinen Namen führen. WesChatou waren vorübergeflogen . Die Stahalb, ist meine Sache . Keineswegs aber, tion Vésinet war erreicht. Madame de Drésillon hatte Wort ge= um mich, wie Sie vorauszuseßen scheinen, vor den mitleidigen oder tadelnden Blicken halten ; ihr Wagen wartete und fuhr die meiner Bekannten zu verfriechen . Ich habe Angekommenen durch den dunkelnden Wald feine Ursache dazu . Ein Name kann mich mit seinen lieblichen Villeggiaturen zu dem nicht ehren, nicht verkleinern, nicht ver- zierlichen Schlößchen, dessen Vorhof bereits größern. Er ist mein Kleid ; ich halte auch von großen auf antiken Erzständern brendarauf, daß der Rock, den ich trage, ganz nenden Pechflammen erleuchtet war. und rein iſt, ſein Sklave aber bin ich nicht ; Der Millionär hatte eine Vorliebe für diesen einfachen Landsiz auf der sich gegen er darf mich auch bei der Arbeit nicht beengen. Soll ich mich etwa ihrer schämen? Ich belächle die Schwäche derjenigen, welche so meinen. Ist Besit Ehre ? Mit welchem Recht ist jemand stolz darauf, der Notwendigkeit zu arbeiten enthoben zu sein ? Warum also all die Mühe , diesen Schein zu wahren ? Welchen materiellen oder auch nur ideellen Borteil habe ich davon, wenn ich für wohlhabender gehalten werde, als ich bin ? Die Wertschäßung meiner Mitmenschen , wenn sich darauf überhaupt eine Wertschäßung gründen kann ? Aber dann ist es ein Betrug, wie ihn so viele aus falscher Scham, aus jämmerlicher Eitelkeit verüben . Verleugnen mich darum, weil ich mich von dem selben freihalte, meine alten Bekannten, so waren sie meiner Freundschaft nie wert . Sie mögen dahin fahren, und ich werde neue, edlere finden . Mir ist die Arbeit zur Lust, zum Lebensbedürfnis geworden, ich freue mich meiner Leistungsfähigkeit, bin stolz auf die Resultate und bedaure die Müßiggänger, wie der rüstige Mann den Hypochonder, der sich um einer Einbildung willen am Essen, Trinken und Gehen, an der freien Bewegung seiner Glieder beschränkt. " ,,Gut, gut, es ist alles, alles nur Vorurteil wir sind einverstanden dann aber auch der Stolz, die Ehre u. s. w. u. s. w. geben Sie es nur zu ?“
Montesson hinziehenden Anhöhe , von der aus man einen so anmutigen Blick auf den Wald, die Seine und St. Germain genoß, und zog den Aufenthalt in der ländlichen Stille und doch so in der Nähe der Stadt für den größten Teil des Jahres ſeinem Pariser Hotel wie all den stolzen Schlössern auf seinen Besigungen vor , die er den beiden Söhnen zur Benüßung überließ. Er konnte hier ungestört sein Steckenpferd pflegen . Wie seine Frau eine Blumenzüchterin, war er ein Sammler von Siegeln, Kupferstichen und Autographen . Mit dem Studium und der Sichtung seiner Schäße brachte er seine Mußestunden hin und nie war er glücklicher, als wenn er mit Lupe, Bürstchen und Schwämmchen bewaffnet, irgend eine wichtige Entdeckung gemacht und sollte es selbst nur eine von den berühm von niemanden , selbst testen Kennern nicht wahrgenommene Fälschung sein. Er war stolzer auf einen solchen Fund, als auf eine glücklich einschlagende Geschäftsspekulation , die ihm vielleicht Hunderttausende brachte. Und nicht minderen Wert legte seine Frau auf irgend eine neue Blume oder eine besonders reich entfaltete Blüte , der sie ihre Sorgfalt gewidmet. Auch diesmal
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hatte sie ihren Gästen den Besuch der ausgedehnten Glashäuſer nicht erlassen. Als Andor und Savagna in den großen, schön aber keineswegs prunkvoll ausgestatteten Empfangsjalon des Erdgeschosses traten, kam die kleine Gesellschaft eben von dem Gang durch dieselben zurück. Der Hausherr begrüßte die Neuangekommenen und flüsterte Andor freundlich zu , es sei jest nicht mehr Zeit zu einer förmlichen Vorstellung, nach Tiſch werde sich wohl die Gelegenheit ergeben. ,",Sie kommen so spät, daß ich glaubte, Sie würden nicht mehr erscheinen.“ Oh, nachdem Sie befohlen hatten „Befohlen , befohlen! Ich bin kein Monarch," kicherte der alte Herr behaglich. „Habe keine Unterthanen . Seine Erzellenz hat den Wunsch geäußert , den Verfasser der handelspolitischen Studien kennen zu lernen. Voilà tout. Er ist der Vertreter Ihres Monarchen. " Andor hatte den Grafen längst erkannt. Er war mit demselben in frühern Jahren wohl schon in Gesellschaft zusammengetroffen , doch mochte sich derselbe seiner faum erinnern. Im Augenblicke stand er im heitersten Gespräche mit einigen Herren, die sich um die Dame des Hauſes gruppiert hatten. Sie trug ein Kleid von äußerster Einfachheit und statt jeden Schmucks eine eben aufgeblühte Orchidee an der Brust. Ihre Erscheinung unterschied sich dadurch auffallend von der Toilettenpracht ihrer Nichte , die mit einem kleinen geschickten Manöver plöglich unmittelbar vor Andor stand , der in stolzer Bescheidenheit seiner
es.
Aber soll ich denn wie die Tante umhergehen ! Sehen Sie ſie einmal an ; nicht die armseligste Brosche, nichts . Sie fürchtet sich, ihren Schmuck zu verlieren, sollte man meinen. “ ,,Das ist aber, wie ich Madame d'Evert kenne, sicherlich nicht der Fall," entgegnete Andor, indem er sich des ihm übertragenen Geschäftes rasch zu entledigen suchte. Ich weiß, ich weiß, sie will nur nicht den Anſchein haben, als beabsichtige ſie die Welt mit ihren Edelsteinen zu blenden, als lege sie Gewicht auf ihren Reichtum . Sie will nicht beneidet sein. Verstehen Sie das?" „Gewiß. Wenn jeder so dächte, würde der Neid wohl nicht verschwinden , aber doch weniger Anlaß haben , sich zu bestärken und in Begehrlichkeit umzuschlagen. “ "„ Sie predigen die Furcht," mengte sich Susanne, die ebenfalls herangetreten war, ein. Ich aber antworte Ihnen mit Ihren eigenen Marimen. Man muß den Mut seiner Ueberzeugung haben. Halte ich den Reichtum für einen unberechtigten Vorzug, dann muß ich mich seiner entäußern. Im entgegengesezten Falle aber darf ich mich seiner auch nicht schämen . Besiß ist Macht, Herrschaft, und darin liegt Genuß. " ,, nicht wahr ? Ich finde es so hübsch, beneidet zu werden . Wir wollen ja niemand reizen und aufstacheln. Was gehen uns die abscheulichen Communards an! Nur untereinander wollen wir rivaliſieren . Und ſagen Sie, was Sie wollen : Schmuck hebt die Schönheit.“ " Läßt aber immer den Verdacht zu, daß
Stellung in diesem Hauſe eingedenk, nicht sie deſſen bedarf,“ ergänzte Andor den Ausspruch , indem sein Auge dabei beredt_auf zu der größern Gruppe, sondern zu einem Tischchen mit Albums und Zeichnungen ge= Susannen ruhte , die er heute zum erstentreten war , die er in Augenschein nahm. male in einem helleren Kleide sah, zu dem ihr aber die Trauer reicheren Schmuck noch Madame de Dréſillon hatte jezt jenes Diese schlanke , biegsame Himmelblau um den tiefen Ausschnitt ihres | nicht erlaubte. Mädchengestalt, dies bedeutende Profil ließ Kleides , das ihrem Teint die gewünschte denselben in der That nicht vermissen. Zartheit verlieh und war wirklich von verWelchen Diamanten hätte dies Auge nicht führerischem Reiz , als sie Andor lächelnd überstrahlt? den vollen weißen Arm entgegenstreckte. Madame de Drésillon , welche auf An" Sie kommen eben recht, mir den widerdor's Bemerkung nur ein scheues zögerndes ſpenſtigen Reif zu schließen. Ich hätte ihn beinahe verloren," sagte sie, und es viel,,Glauben Sie ?" hatte, nestelte an dem leicht nicht einmal bemerkt. Habe ich wirkdiesmal ganz gut schließenden Armband lich zu viel Gold an mir ? Susanne meinte so lange, bis es ihr wieder in die Hand fiel .
Andor.
Sie legte es, scheinbar ungeduldig, auf den Tisch. ,",Ach, es will doch nicht halten !" sagte jie. „ Nicht doch, Sie ſollen ſich nicht mehr bemühen. Ihr Geschmack ist ja ohnehin die Einfachheit und wir haben keine Zeit mehr . Man ruft zu Tisch." Es war Bewegung in die kleine Gesell schaft gekommen, die Hausfrau hatte des Botschafters Arm genommen. Monsieur d'Evert bot den seinen der nicht mehr ganz jungen Frau eines anwesenden Senators , der eben auf Madame de Drésillon zukam. Sie ließ einen Moment ihren Blick erwartungsvoll auf Andor haften, der diese Aufforderung jedoch ebenso unbewegt hinnahm , wie das vorangegangene naive Geständnis , daß es sein Geschmack sei, auf den Gewicht gelegt werde. Beſcheiden trat er einen Schritt zurück und gewährte so dem Herankommenden Play, daß die schöne Frau, der Einladung, welcher er nicht zuvorkommen wollte, folgen mußte. „ Sie lassen sich die Dame entführen, “ scherzte Susanne. Ich werde mir auch die zweite entführen lassen müssen, " entgegnete er , auf den eben herbeieilenden Marquis deutend, mit einem Achselzucken heiterer Reſignation. Und auf ihre frühere ohne Widerspruch gelassene Aeußerung anspielend , sezte er " Man muß den Mut seiner ernster hinzu: „ Stellung haben .“ „Aber auch den seiner Wünsche !" erwiderte sie rasch mit einem ſtolzen Aufblizen ihres Auges. Aufzuckend unter diesem Vorwurfe verjenkte Andor seinen Blick in dasselbe ; er
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„ Ei , ei , ſolches Spiel ist gefährlich ! “ flüsterte Savagna Suſannen zu . „Vielleicht, doch nicht für mich, “ lautete die fast heftig gegebene , geringſchäßige Antwort. „Ich will es mir als günstiges Omen deuten , daß ich so glücklich bin, Sie vorläufig zu Tisch geleiten zu dürfen." "„ Ein Glück sehr zweifelhafter Art. Sie werden Ihre Aufmerkſamkeit zwiſchen Ihren Auſtern und mir teilen müſſen . Ich eſſe keine und will mittlerweile unterhalten ſein. Sie haben sehr unflug gehandelt, Marquis, sich eine so anspruchsvolle Nachbarin auszusuchen ; ich fürchte, Sie werden Ihr Opfer bereuen." Der Marquis schwur zwar das Gegenteil, doch blieb es fraglich, ob er nicht im Verlaufe der nächsten Stunde einigemale selbst der Meinung seiner Dame war, die es mit einem ungewöhnlichen Aufwande von Geist und Lebhaftigkeit darauf abgesehen zu haben schien , die volle Hingabe des Feinschmeckers an die gebotenen Gerichte zu hintertreiben, was, je reicher und seltener dieselben waren , seine Tantalusqualen um so mehr erhöhen mußte. Mochte die Hausfrau auch Scheu tragen, mit ihrem Schmuck den Gästen zu imponieren, so war das doch nicht in gleichem Maße betreffs des Mannes der Fall . Den kostbaren Aufsäßen, Meisterwerfen der Goldschmiedkunst, dem prachtvollen Porzellan, Silber und Kriſtall entsprachen auch die aufgetischten Leckerbissen. Es war ein feines Mahl, zu dem die herrlichsten Weine in die zierlichen Kelche flossen. Selbst die
ſuchte zu erforschen, wie das Wort gemeint sei . „Ich glaube, Sie mißdeuten dieſelben," sagte er dann gedämpft mit einem ganz leisen schmerzlichen Lächeln . „ Sie würden sie selbst für unerreichbar halten. " „Als Mann feinen!"
zarten Frauenlippen nippten so oft daran, daß die heiterste Laune alsbald_dem_anfänglich etwas feierlichen gedämpften Tone folgte. Der Botschafter war unerschöpflich in fleinen Calembourgs, für die er eines gewissen Rufes genoß. Wißige Bemer-
Sie wendete sich im selben Augenblicke und legte ihre Hand auf Savagna's Arm, ehe derselbe noch seine Verbeugung gemacht. Nun war es zu spät für Andor, der Regung zu folgen. Wie von einem elektrischen Funken berührt, stand er still und sah ihr nach, bevor er langsam, die Lippe zwischen die Zähne gepreßt und seine Bewegung bewältigend, der andern folgte.
fungen und Scherzreden belebten die Tafelrunde und unter allen Gästen war nur einer, der ernst und still blieb in dem allgemeinen fröhlichen Geplauder. So sehr er sich bemühte , die gleiche
Stimmung zu finden, wollte es Andor doch nicht gelingen. Zum Glücke hatte ihm der greise Haushofmeister , der einen ganzen Stab von gallonierten Dienern , mit der
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War das Ruhe eines Feldherrn von dem nach eng | Wohl also gegen Savagna ? ein Mann, um den ein schönes , begabtes , lischer Sitte gerüsteten Büffett aus kommandierte, ſeinen Plaß zwischen einem Oberst, reiches Mädchen werben konnte und wie der seine Dame zur Rechten mit den über- , ſtand es um den Wert derjenigen, die dies raschendſten Jagdabenteuern unterhielt und dennoch vermochte ? Er wandte seine Gedanken gewaltsam einem älteren Professor angewiesen , der wieder ſeinem gelehrten Nachbar zu . Wohin zwar vorgab , sich durch Andor über die waren sie im Wunsche , den Widerspruch Flora Afrikas und Amerikas wichtige Aufschlüsse erteilen lassen zu wollen, dabei aber zu lösen, geraten? Was zog sie ab ? Sie unausgesezt selbst das Wort führte, ſo daß sollten nicht über die vom Verſtande ſtreng es nicht auffiel , wenn der zum Schüler gewieſenen Schranken hinaus ſchweifen. Wo Gepreßte bis auf wenige höfliche Worte war der Wächter an denselben ? Der Mannesſtumm blieb , während er einen ganzen wille, dessen er sich gegen Savagna auf der botanischen Kursus über sich ergehen ließ . Herfahrt erst gerühmt, durfte nicht beſtechSeine Blicke konnten dabei ungehindert lich werden. über die Tafel hinschweifen und Sujanne Chnehin gab es für ihn eine wichtige beobachten , die er noch niemals in glän Frage zu lösen, die unter anderen Verhält nien ihn wohl ausschließlich beschäftigt zenderer Laune gesehen. hätte. Er hatte die scheinbaren ZufälligWar das wirkliche Lust an der sprudelnden Unterhaltung mit ihrem Nachbar, keiten des Lebens und des geſellſchaftlichen für den ſie faſt ausschließlich Auge und Chr Verkehrs viel zu scharf ins Auge zu faſſen und auf ihren tiefern Zuſammenhang prüfen zu haben ſchien , was ihre Wangen rötete, ihre Blicke aufleuchten ließ ? Was besagte gelernt, als daß er nicht einen besonderen das leise Lächeln, während sie mit jenem Zweck der ihm gewordenen Einladung geauf einen von ihm für die andern unhör- sucht hätte. Auf die bloßze Anregung seiner Sollte bar gemurmelten Toast anstieß ? Nichte hin hätte Monsieur d'Evert schwerlich so hartnäckig auf dem Erscheinen gehier wirklich ein Einverständnis aus früheren rade des einen und wie sich Andor Tagen herrschen, über das der schlaue Di-
der andern flüchtig verrauschten Minute, die ohne Wiederanknüpfung geblieben war. Und jezt diese Hingebung an den Moment, nachdem er eben erst einen Blick in
sagen mußte — des in seiner Eigenſchaft als Angestellten des Hauses wohl am wenigsten berücksichtigten Gastes bestanden. Die Andeutung des von dem Botschafter ausgesprochenen Wunsches verriet das ganze Arrangement. Welche Absicht lag aber dieser, keineswegs- wie es den Anschein haben sollte vom Zufall veranstalteten Begegnung zu Grunde ? Was eigentlich wollte man von ihm ? Dieselbe Frage mochte sich auch Madame de Drésillon vorgelegt haben , denn ſie verschwand, als nach aufgehobener Tafel die ganze Gesellschaft auf die mondbeschienene Terrasse hinaus trat. Die Nacht war zu schön , als daß die Damen den
ihre Seele gethan zu haben glaubte, der die mächtigste Bewegung in ihm hervor gerufen. war So hatte er sich getäuscht oder sie kokett ? doch nicht ihm gegenüber , dem armen , ernſten Manne, der in seiner Abhängigkeit nichts zu bieten hatte, selbst nicht die Folie einer auszeichnenden Huldigung.
Herren die Wahl zwischen ihrer Geſellſchaft und der Zigarre schwer gemacht hätten . Auch Madame de Drésillon hatte den Aufenthalt im Freien nicht zu kühl gefunden, als sie sich zurückzog ; ein Spürauge hätte sie leicht hinter der Gardine des leßten. auf die Terraſſe hinausführenden franzöſiſchen Fensters entdecken können , in deſſen Nähe
plomat ſtillschweigend hinweggegangen war, als er seiner Bekanntschaft mit Sujannen nur so beiläufig Erwähnung that ? So angeregt sie sich auch zuweilen zeigen konnte, nie noch hatte sie einem Herrn des Kreises, der sich unter den Badegästen um die interessante Fremde gebildet, solche Zeichen von Vertraulichkeit gewährt, wenn nicht Andor überschlug rasch und doch mit peinlich treuem Gedächtnisse die kurzen in Boulogne verbrachten Wochen wenn nicht ihm selbst und dann nur in einer und
Andor.
die Vorstellung Andor's endlich stattge= funden hatte und der Botschafter sich mit demselben längere Zeit angelegentlich unterhielt, während die anderen Gruppen sich disfret fern hielten. Ein Staatsgeheimnis war es wohl nicht gewesen, was sie erlauschte , denn als sie zuleßt, nachdem alle Gäste beinahe sich bereits entfernt hatten, mit ihrer ganzen kindlichen Offenherzigkeit sowohl ihre Neugierde als die Art, wie sie dieselbe zu befriedigen gesucht, eingestand, gab sie gleichzeitig auch ebenso naiv ihrem Mißvergnügen Ausdruck, ſchließlich doch nicht zum Ziele gelangt zu sein. „ Ah, dieſes häßliche Deutſch ! Ist es denn möglich, daß gebildete Menschen sich in solchen Lauten ausdrücken," rief sie aus : „Ich habe es schon einmal zu lernen versuchen wollen, aber das ist eine Unmöglichkeit. Immerhin habe ich einige Fortschritte darin gemacht. Gewisse Ausdrücke muß ich , ohne es zu wissen, behalten haben . Sehen Sie zum Beispiele : Smyrna , Kairo , Konſulat das ist klar. Ich habe es mir ganz bestimmt gemerkt, denn es wurde mehrere Male wiederholt." Sie fand es sehr sonderbar, daß man über ihre „ Forschritte im Deutſchen “ lachte . Doch war sie nicht abgeneigt , mit einzustimmen , bis ihr Oheim die Bemerkung hinwarf. „Ich hätte es wohl denken können. de Rainald Man sucht uns Monſieur zu entführen. " Andor , bei dem so direkte angepocht ward, zögerte einen Moment mit der Antwort und als er sprach , war es nur ein scherzhaftes Ausweichen. ,,Derlei Attentate werden doch nur an unbequemen Kronprätendenten ausgeführt. Selbst die Zeiten der Sabinerinnen sind vorüber." Aber der Ton seiner Stimme, der Blick, alles an ihm verriet , so sehr er sich beherrschte , die freudige innere Aufregung und die gewiegte Menſchenkenntnis des Banfiers ließ sich nicht irre führen. ,,Seine Erzellenz ist zwar auch musikalisch," sagte er kaustisch , die Unwider stehlichkeit der Syrenenstimmen scheint ihm . aber doch nicht ganz zu eigen. Und ſelbſt
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gegen diese hat ja Ulysses die seinen zu Es gibt allerlei Mittel wahren gewußt. gegen die Deſertion . Wir wollen einmal darüber nachſinnen. “ Seine Nichte war , obwohl sie den bedeutsamen Blick, der ſie ſtreifte , nicht gewahrte , doch sehr ernst geworden und ſie blieb auch im Gegensaße zu ihrer gewöhnlichen Plauderhaftigkeit eigentümlich stumm während der Rückfahrt . Suſanne und der Gelehrte trugen allein die Kosten der Unterhaltung , die sich um die Glashäuser des eben verlaſſenen Schlößchens drehte. Ihm war der Plaß im Wagen angeboten worden , auf den Savagna im stillen mit Sicherheit gerechnet hatte . Den vierten nahm still und in sich versunken Andor ein . Nur hin und wieder beteiligte er sich gezwungen am Gespräche, um sich dann wieder in tiefes Schweigen zu hüllen. Sein Auge allein sprach. Es stellte eine Frage an diejenige, auf der es unablässig ruhte und manchmal schien es , als ob das ihre eine Antwort habe. Aber dann war sie ganz wieder in der heute übernommenen Rolle der Plaudernden
und nichts schien für sie Intereſſe zu haben, als die Auseinanderseßungen des lebenden Herbariums . Der lange Blick, dem Andor eben begegnet zu sein glaubte, war doch wohl nur eine Täuschung gewesen.
IV . Die Fahrt war zu Ende. Die Equipage hielt vor dem kleinen Hotel in der Avenue Gabriel und Madame de Drésillon schien jest erst aus ihrem Halbschlummer zu erwachen , denn daß sich die lebhafte junge Frau hinter dem herabgezogenen Schleier nur einem bei ihr ganz ungewöhnlichen Gedankenweben hingegeben haben sollte, war kaum anzunehmen . Sie lud Andor ein, mit hinauf zu kommen und noch eine Tasse Thee zu nehmen. Die gleiche Auffordernng war auch an den Botanifer ergangen, doch machte derselbe die ihm gleichzeitig in den Mund gelegte Entschuldigung geltend und so fuhr ihn der Wagen dann nach seiner Wohnung weiter. In dem zierlichen Boudoir war bereits
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ein kleiner Theetisch gerüstet, doch auch das Gold und der rote Atlas der anstoßenden Salons strahlten in dem Lichte mehrerer Lampen, im Kamine verglühte ein an den Herbst gemahnendes Feuer. Es war, als befände man sich mitten in der Saison, und in Erwartung einer kleinen Geſellſchaft, die sich hier versammeln sollte. Nur das Schalten und Walten der alten Dame am Theetische erinnerte an eine Improvisation . Für gewöhnlich erschien sie, der die Füh rung des ganzen Hauswesens anvertraut war, nicht, jezt aber , wo durch den Sommeraufenthalt der Herrin die Dienerschaft geteilt und der Lakai weitergefahren war, mußte sie wohl oder übel die Funktionen desselben übernehmen. Gestört durch ihre Anwesenheit blieb Madame de Drésillon noch im Salon, sie wollte ihr erst Zeit lassen, alle Vorbereitungen zu beendigen und trat, nachdem sie sich ihrer leichten Hüllen entledigt , in die offene Thüre des Balkons , durch welche allerlei Töne des noch nicht erstorbenen Lebens hereindrangen . Ach wie schön, wie verlockend !" sagte ſie. „ Man möchte sich gerade in den Trubel hineinstürzen. Wie wäre es mit einem kleinen Inkognito ? Machen wir eine Promenade!" „Doch nicht in dieſer Toilette," wendete Susanne ein. „Es ist wahr, wir müßten uns erst umfleiden. Wie schade !" Ungern auf ihren bizarren Einfall verzichtend, trat Madame de Drésillon vollends auf den Balkon hinaus , wohin ihr die andern beiden folgten. Durch die mondhelle Nacht blinkten die unzähligen Gasflammen aus den elyseeischen Feldern herüber. Das Geplauder von Menschenstimmen , Musik , Gesang , waren hier deutlich und ließen das Treiben in den Alleen und in den zahlreichen offenen Café Chantants erraten, das sich in solchen lauen Herbstnächten noch einmal zur vollen ſommerlichen Lust steigert. „D, wie schön ist Paris ! " rief die junge Frau mit einem Seufzer des Entzückens . Und zu sagen, daß es Menschen . gibt, welche auch anderswo leben zu können behaupten ! Ist es möglich ? Was jagen Sie dazu, Monsieur de Rainald ?"
Daß Sie selbst ja von dieſem Baris sich so wenig als möglich gönnen . Sie sind im Frühjahr in Nizza , im Sommer auf Ihren Besizungen oder in der Schweiz, im Frühherbst am Meere , im Spätherbst in Italien und im Winter -- in der Oper, Sie sehen in Geſellſchaft , auf Bällen . Paris eigentlich nie bei Tage." „ Nun ja, man ist aber am Ende doch hier, man kehrt wieder zurück, man wurzelt in diesem Boden. Könnten Sie sich ganz losreißen von demselben, Sie?“ „Warum nicht." ,,, abscheulich !" Andor lächelte. „ Sie vergessen, daß Paris nicht meine Heimat ist , daß , so sehr es mir auch gefällt, ich doch durch keine anderen Bande hier gefesselt bin als durch die der Pflicht , die gelöst werden können, sobald sich für mich andere Lebensbedingungen geltend machen . ' ,, also ist es doch wahr , es ist doch wahr !" rief sie mit einer Heftigkeit aus, Ich habe es nicht die befremden mußte. für möglich gehalten, aber ich sehe, daß es Sie denken daran , fortzudoch so ist. gehen. “ „ " Es war ja nicht davon die Rede, sondern nur im allgemeinen die Möglichfeit oder Unmöglichkeit zu erwägen. “ Ein leiser Freudenruf hob die Brust der schönen Frau. Sie hatte aus dieser unbestimmten Erwiderung das heraus gehört, was ihr zujagte. „Ah, es ist nicht die Rede davon ! So
ist es recht ! Es ist also abgemacht , Sie bleiben bei uns ?” Sie hatte die langen Handschuhe abgestreift ; während er mit einer Antwort zauderte, fühlte er seine abwehrend erhobene Hand von den warmen Fingern umfaßt und festgehalten. Wollte er sich nicht gegen dies erzwungene Versprechen feierlich verwahren , so mußte er ein kleines Zugeständnis machen. ,,Vorläufig wohl jedenfalls ." Das durfte er ja der Wahrheit gemäß sagen. „Und auch später. Das Provisorium dauert so lange, bis es sich in einen defi= nitiven Zustand verwandelt. Man bleibt, bis man nicht man bleibt und bleibt mehr daran denkt , daß es auch noch eine
Unsere Volkslied.
Hausmusik. Von Emil Burgstaller.
Emil Burgstaller Andante.
Gesang.
1. Wem dim. Piano.
smorz
cresc.
p
es hal - ten Gott ein braves Lieb' belcheert, der foll von ihm nicht scheiden , der foll Gott ein braves Lieb' belcheert, der foll von ihm nicht scheiden; die Welt ist hier wohl Gott ein braves Lieb' belcheert, der foll von ihm nicht scheiden; ein Stünd - lein lang, ein
p
cresc.
ge - het auch lein Herze mit und treu und felt, denn wenn er's wie- der schei - denläßt, lo be-los; und wenn lein Lieb-lter Schei-den geht, wie'n Schön und großz, ist doch lo kalt und lie Stündlein breit, und zwi-lchen liegt die Ewigkeit; und der euch lang dies Lied- chengut, der
pt cresc.
frit. Frieden find't er Vög-lein oh - ne klagt es Gott,wie
cresc.
pp
nim-mer nit, und Frie - den Bettlein steht , wie'n Vög · lein weh' es thut, der klagt
dim.
find't - er ne oh Gott,. wie erese.
frit.
- mer nim lein Bett weh' ୧୫ dim.
pp
1.u. 2.
nit. Cteht. thut.
2. Wem 3. Wem
ten dim.
'smorz
#
Schluss.
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andere Möglichkeit geben könnte . Sagen | Geschmack zu finden ! Welche Lockungen ! Davon kann doch im Ernſte nicht die Sie, Susanne, hassen Sie nicht auch diese Rede sein! Was vermöchte man Ihnen für Pedanterie, die alles prinzipiell lösen will ?" „ Während es sich doch ſo ſchön immer nur von Fall zu Fall dahinlebt, " ließ sich die Angerufene mit leichtverständlicher Fronie vernehmen . „ Ich kann mir denken , daß es recht unbequem ist, auf die Würde eines
so viel Entbehrungen auch zu bieten? „Die Selbständigkeit ," meinte Andor. ,,, das begreife ich. Selbſtändig zu Eine Witwe darf sein, hat seinen Reiz .
entschlüpfte ; sie hatte ernſter als den ganzen Abend gesprochen. Um so heiterer schien ihre Freundin, doch nur infolge einer nervösen Aufre gung , die sich zunächst in dem unruhigen Spiel ihrer Finger mit den zerfaferten Blättern kundgab, die ſie rücksichtslos von den die Ecken des Balkons ausfüllenden
das nicht sagen , ohne sich einer falschen Deutung auszusehen. Ich wage es doch. Aber dazu braucht man nicht in den Orient zu gehen. Sehen Sie meine Vettern, auch sie sind in ihres Vaters Geſchäft und doch ſelbſtändig.“ Das ist ein Verhältnis, das sich wohl kaum mit dem meinigen vergleichen läßt, auch wenn dieſes ſich noch günstiger gestalten sollte. Ich bleibe doch immer nur der Diener des Hauſes . “ Sie können dessen Associé werden, Sie können ein neues etablieren ; dazu braucht es ja blos Geld." ,,Allerdings, nur muß man es haben,' gab Andor lächelnd zu . ,,, das finden Sie bald ." Madame de Drésillon zauderte eine Sekunde , dann warf sie , als ob es sich thatsächlich um nichts anderes als eine ganz allgemeine Vorausseßung handle, hin : „Nehmen wir an, zum Beispiele, Sie heiraten eine reiche Frau , so haben Sie mit einem Schlage Ihre Selbständigkeit. " „ Deren bedarf ich , um ihr gegenüber zu treten, “ versezte Andor rascher als ihm unmittelbar darauf lieb war . Wie leicht konnte das Wort als eine Erklärung aufgefaßt werden, wo er weit davon war, eine im Hinblick auf den ihm so greifbar nahe
Pflanzen pflückte und auch in dem raschen Ueberspringen von einem Einfall zum anderen, wobei der Grundgedanke darunter dennoch fortlief, bis er wieder unvermutet zum Vorscheine fam. Wir haben also Ihre Zuſage, daß Sie bleiben . Wo sollten Sie denn auch hin ? Nach Smyrna, Kairo ? Gut , man besucht es, aber man kehrt schließlich sicher zurück. unter Fellahs und BeDort leben ? duinen? In diesem fürchterlichen Klimawo die Frauen nicht unverschleiert ausgehen dürfen , à la Turque auf ihrem Divan sigen, aus schlangenartigen Pfeifen rauchen und so einfältig sind, das alles nach ihrem
gelegten Fall in diesem Sinne zu geben ! Abermals suchte er seine Worte auf eine besondere Beziehung zu stellen und zu einem gemeingültigen Grundſay zu formen . „Ich spreche hier im Namen eines jeden Mannes von Ehrgefühl und Achtung für sich selbst, der in dieser von Ihnen vorausgesezten Lage wäre, denn das Gegenteil müßte ihn ja erst in die tiefste und unerträglichſte Abhängigkeit bringen, in die Abhängigkeit von seiner Frau." Und sind Sie denn nicht von Ihrer Regierung auch abhängig, wenn Sie deren Gehalt und deren Befehle annehmen ?“ ſuchte ihn die sich Ereifernde zu widerlegen. „ O,
Charakters Anspruch zu machen . Man wird in seinen schönsten Anläufen durch die Konsequenz derangiert." , wie seid ihr doch langweilig ! " schalt Madame de Drésillon. „ Dieſe be rühmten großen Charaktere sind sicherlich nicht die glücklichsten Menschen und wer nur genau hinter die Kulissen sähe , würde vielleicht auch bei ihnen gar manche Inkonsequenz entdecken . Soll ich heute schon einen Pelz tragen, weil es in einem Vierteljahre schneien wird ? Oder mir heute einen Ball versagen , weil ich in fünfzig Jahren das Tanzen für eine Sünde halten werde ? Nein, ich will den Tag genießen und mir keine Sorge darum machen , was morgen geschieht." Sie haben recht , Noëmi. Wer würde den Schmetterling nicht um sein Dasein beneiden . Nur hat nicht jeder die Natur dazu .“ Fast war es ein Seufzer , der Susanne
Andor.
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ihr stolzen Männer , die ihr euch immer etwas gegen eure Frauen zu vergeben fürchtet, und die kleinen Opfer verschmäht, während ihr die großzen mit kaltherzigem Egoismus fordert. Selbst wo ihr nehmt , muß es
ihre Klagen hervor. Es ist immer dieAlphons selbe Sache! auch er mußte immer aufs Meer hinaus, bis er nicht wiederkam Er machte mich zur Witwe für seinen Ehrgeiz -o, dieser verabscheuungser ist das Herz der den Anschein einer Gnadenbezeugung haben !" | würdige Ehrgeiz Männer!" „Dies trifft doch wohl am wenigsten Sie schleuderte ihre thränenbeneßten. bei denen zu , die im Dienste des Staates stehen," versezte Andor, um so besonnener Handschuhe von sich, als ob es dieses Herz die Frage in der Allgemeinheit festhaltend, wäre und eilte fort. Weder Andor noch Susanne hatten die je mehr er sah, daß sich seine Gegnerin in so leidenschaftlich Erregte zurückzuhalten verderselben zur leidenschaftlichsten Persönlich feit hinreißen ließ, die sich nur zur Not noch sucht . Die Szene war so unerwartet gehinter einem Ausfall gegen die Männer kommen, daß sie in beiden nur ein Gefühl Daß er allein gemeint peinlicher Befremdung hervorrief und beide überhaupt barg . sei , fühlte er wohl, doch um so ruhiger hinderte, der so plöglich Verschwundenen zu suchte er zu bleiben . Er unternahm es, in folgen. Es mußte ihr Zeit gelassen werlängerer Auseinanderſeßung seine Meinung den, ihre Fassung wieder zu finden. Das zu vertreten und den Unterſchied darzustellen, Zufallen einer Thür zeigte , daß sie nicht der aus dem geänderten Verhältnisse des nur den Salon, sondern auch das Boudoir einzelnen in der Gesamtheit entspringt. " | verlassen hatte. ,,Es thut mir leid, diese Erinnerung an "„Das Geben ist ihr gegenüber Pflichterfüllung , welche die höchste Genugthuung ge- den toten Gatten wach gerufen zu haben,“ währt und das Empfangen ist nur ein sagte Andor, bemüht, eine Erklärung für Teilhaben, in dem keine Demütigung liegt, das wohl anders zu deutende seltsame Bedie der einzelne dem einzelnen gegenüber tragen, dessen Zeuge sie gewesen, zu geben. auch dort noch oft empfindet, wo sie nicht | „ Es iſt ganz unabsichtlich geschehen. “ Noëmi ist ein Kind," lautete die gebeabsichtigt wird , und deren Möglichkeit
allein schon hinreicht, jedes wahrhafte hin- | laſſene aber ernſt klingende Antwort. „ Eigengebende Vertrauen durch die unausgesezte willig, aber auch gutmütig und launenhaft wie ein solches . Nehmen Sie ihr ein SpielBedrohung zu stören.“ Von der ganzen Erläuterung hatte Ma- zeug , sie weint , geben Sie ihr ein neues , sie lächelt noch unter Thränen. Ihr Widerdame de Dréſillon in steigender Aufregung wieder nur das Eine gehört, daß die höchste | spruch hat sie alteriert. “ Genugthuung im Staatsdienste zu finden. Er war vielleicht überflüssig, aber habe ich wirklich Herzloſes gesprochen ? Denken ſei und unbekümmert, ob dies willkürliche auch Sie so?" Herausgreifen eines Saßes berechtigt sei, „Nein gestaltete sie denselben nach ihrer Aufich verstehe Sie." So leise diese Worte auch gesprochen faſſung aus. „Man hat Sie gefödert . Ich wußte es waren , für Andor hatten sie einen wunderja. - Ihr alle wollt Titel haben, Orden, baren Klang, der in seiner Seele ein zitwollt eine Rolle spielen . Darüber ist euch terndes Frohgefühl wachrief. Sie verstand ihn. Was lag daran, alles gleich. O dieser Ehrgeiz, dieser häßliche Ehrgeiz!" wenn seine Worte nebenher auch an tauben Ohren und einer findlich unentwickelten Sie konnte nicht weiter. In ein nervöjes Schluchzen ausbrechend drückte sie Fassungsgabe abgeglitten waren , diejenige, der sie gegolten und an die er dabei ge= die in einen Knäuel geballten Handschuhe plößlich an die Augen und dann an die dacht, hatte sie verstanden und nicht nur die Worte , sondern auch die Anschauung, Zähne, die sich darin verbissen. Sie schob welche sie ausgedrückt, die Grundsäße, aus Susannens Arm , der sich begütigend um sie welchen sie erwuchs, den Charakter, der sich schlingen wollte , fast unsanft zurück und stieß in krampfhaft abgebrochenen Lauten
auf diese aufbaute.
Wo immer er einen
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Mathilde Lammers.
Punkt der Uereinstimmung mit ihr entdeckte, fühlte er sich beglückt, denn mehr als einmal in der kurzen nur nach Wochen zählenden Frist , seit er dies Mädchen zum erstenmale gesehen, waren schwere Stunden des Zweifels über ihn gekommen, ob überhaupt die zwischen beiden oft so scharf hervortretende Verschiedenheit in der Beurteilung der Welt, ihres Treibens und der bewegenden Ursachen, sich bis zu den tiefsten, ins Innerste der Seele geschlagenen Wurzeln, an denen sich jede Ueberzeugung großsäugt, erstreckte, oder hier doch noch ihre Lösung fand. Jener Abend auf der Jetée zu Boulogne hatte eine Reihe fast regelmäßiger Begegnungen eingeleitet, die immerhin eine Erörterung selbst ernsterer Fragen möglich machte, wenn auch die zahlreichen Teilnehmer an den Promenaden, Spazierfahrten und gesellschaftlichen Zerstreuungen im Kurhause auf den Ton der Unterhaltung Einfluß nahmen , aber zwischen den Stunden lärmender Tageslust fanden sich doch auch immer wieder stillere, in denen sich die Bewohner der Nachbarvillen näher treten konnten. Den größten Teil seiner Zeit brachte Andor bei seiner Schwester zu, für sie hatte er den ihm so freundlich angebotenen Urlaub dankbar angenommen und hier konnte er die Aeußerungen eines Gefühlslebens beobachten, das niemand diesem wunderbaren Wesen voll Geist und Laune, Stolz und Kühnheit, zugetraut hätte, das sich so sicher und über-
raschend in der Schar der die beiden inter essanten Erscheinungen umdrängenden Verehrer bewegte, dabei aber in zahllosen kleinen Zügen eine fast erschreckende skeptische Kalt= herzigkeit verriet. Selbst auf die Kunst erstreckte sich diese eigentümliche Zweiteilung, das Allerheiligste derselben wurde der Menge nicht geöffnet, so wenig Susanne ihr Talent verbarg. Hatte sie aber einen größeren Zuhörerkreis, dann war es das eine oder das andere banale Virtuosenstück , durch das sie den selben verblüffte und zu überschwänglichem Beifall heraus forderte, den sie dann doch nur mit dem verächtlichen Lächeln einer Bändigerin wilder Tiere hinnahm, im eisigen Blicke und dem leise gesenkten Mundwinkel den Spott: " Was bedarf ich eurer Anerkennung ? das war gut genug für euch !"
| In der Einsamkeit mußte man sie spielen | hören, die freigeſchaffenen Rhapsodieen aus | einer kühnmalenden und von unerklärlichen Anregungen tiefbewegten Dichterphantasie, und dann wieder die einfachen von voller Empfindung getragenen und darum auch | so mächtig zum Herzen sprechenden Lieder, mit denen sie der Kranken trübe Stunden erhellte und ihren verſtimmten Nerven wieder Wohlbehagen brachte, um nicht allein die angelernte Technik, sondern die aus einem reichen Naturquell schöpfende muſikaliſche Kraft zu erkennen und dabei sich staunend zu fragen, wie diese Lostrennung einer rein äußerlichen Kunſtfertigkeit von der faſt geheim gehaltenen künſtleriſchen Weihe möglich sei. War es doch, als schämte sie sich der= | selben, wie jeder Regung des Gemüts , das nur in jenen Augenblicken unbelauschten | Verkehrs mit Viktorinen durchbrach, sich | rasch aber wieder verbarg, sobald ein forschendes Auge hinter die flüchtig gelüftete Verkappung dieſes Herzens zu ſchauen verſuchte. (Fortsetzung folgt.)
Yolks - Kaffee häuſer. Von Mathilde Lammers.
er immer sich um öffentliche Angelegen= w heiten kümmert oder auch nur mit offenen Augen in seinem engeren Kreise die Erschei= nungen des Privatlebens verfolgt , weiß, daß einer der größten Schäden unseres Nationalwohls die Trunfsucht ist. Sie bedeutet nicht nur Verschwendung von Geld und Gut, von Zeit und Kraft für den Einzelnen, sie richtet nicht nur mit entseßlicher Sicherheit und in immer wachsenden Zahlen Einzelne zu Grunde : sie untergräbt das Familienglück, sie legt ungeborenen Geschlechtern einen unverdienten Fluch auf, sie veranlaßt mehr Verbrechen als irgend eine andere einzelne Ursache , und sie hat bis jezt noch aller Anstrengungen, sie im Großen zu bekämpfen , gespottet. Mäßigkeitsvereine, Trinkerasyle , Schankgesetzgebung mögen hier und da von ihren Außenwerken etwas abge= bröckelt haben ; die Zahl der wegen Trunk-
Volks-Baffeehänser.
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Englisches Kaffeehaus Kakaobaum" zu Pinner.
sucht Bestraften, die für geistige Getränke jährlich in Deutschland verausgabte Summe ist noch nicht im Abnehmen begriffen. Es hat jezt den Anschein, als ob von einer ganz anderen Seite her als den bislang versuchten ein Sturm auf die Festung von größerem Erfolge sein dürfte. Die Versuchung zum übermäßigem Alkoholgenuß , der vorzugsweise die untersten und ärmsten Schichten der Bevölkerung erliegen, ist nämlich keineswegs allein oder hauptsächlich in einer angeborenen körperlichen Neigung für Reizmittel zu suchen. In sehr vielen , vielleicht in den meisten Fällen, treibt zuerst der Mangel an einer wohlthuenden , behaglichen Häuslichkeit den von seinem Tagewerk heimkehrenden Arbeiter an den Ort, wo er unter der Bedingung für ein paar Groschen Bier oder Branntwein zu verzehren, alles findet, wonach ihn verlangt : einen freundlichen Willkommen , einen geräumigen , hellen , luftigen, im Winter warmen Raum , die Gesellschaft von seinesgleichen , Unterhaltung, sei es durch Gespräch , Spiel oder Gesang. Was hat er statt dessen vielfach zu Hause ? Eine kleine dumpfige Stube, in der vielleicht die nasse
Wäsche am Ofen trocknet ; als einzigen Play, auf dem er die müden Glieder ausstrecken kann , das Bett , wo obendrein die kleinsten Kinder schlafen; wenn er ein Buch hat und lesen mag was beides nicht oft der Fall ist - kaum soviel Licht , um zu sehen , sonst die Unterhaltung seiner Frau , die ihrerseits auch von einem sauern Tagewerk müde, ihn etwa mit Klagen empfängt und nicht versteht, mit den unzulänglichen Mitteln das Haus Der unverheiratete anziehend zu machen. Arbeiter aber hat ja nicht einmal das, sondern in der Regel nur eine Schlafstelle. Es bleibt solchen Leuten also sonst keine Wahl, als das Wirtshaus . Und dort wird bei den bekannten physiologischen Wirkungen des Alkohols aus einem Schoppen Bier bald ein halbes Dußend, aus einem Glase Branntwein ungezählte, und der unselige Hang zum Trinken ist da. Daß der Arbeiter an sich nicht mehr dahin
neigt, sich im Trunke zu übernehmen als der Gebildete, das kann sich erst zeigen, wenn ihm die Möglichkeit geboten wird, seine Freistunden an einem Orte zuzubringen , wo für seine wahren Bedürfnisse gesorgt, aber die Versuchung zur Unmäßigkeit sorglich ferngehalten ist. Solche
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Mathilde Lammers.
und viele einschlägige Anzeigen , und ist in Orte sind die seit einigen Jahren in England entstandenen, schnell in verschiedene andere England für einen Penny die Nummer zu haben. Eine äußerst geschickt abgefaßte Broschüre mit Länder verpflanzten und jezt auch in Deutschland sich einbürgernden Volks - Kaffeehäuser, aller nötigen Auskunft über die Schritte, die welche es verdienen, in möglichst weiten Kreisen zur Errichtung eines Kaffeehauses zu thun bekannt zu werden : Schänken, aus denen alle sind , und über Verwaltungsgrundsätze wird spirituösen Getränke durchaus verbannt sind, außerdem durch den Buchhandel zu geringem wo aber statt dessen Kaffee, Thee, Kakao feil- | Preise versandt. In England hat die Bewegung seitdem gehalten werden und zwar beste Waare zu außerordentliche Fortschritte gemacht. In den billigsten Preisen. drei Jahren von 1876 bis 1879 sind nahezu Die Idee läßt sich über dreißig Jahre 160 Vereine entstanden, im Jahre 1881 allein zurückverfolgen. Schon um 1850 herum hat ein schottischer Edelmann in Dundee eine 38, und die Zahl der im Betrieb befindlichen. Lokale kann vielleicht bald nach tausenden geKaffeewirtschaft für das Volk errichtet. Livingstone , der große Missionar , sprach 1857 in schäßt werden. In Kanada und den Vereinigten Staaten, in Holland und in der Schweiz , einem Briefe die Absicht aus , das ihm für in Auſtralien und neuerdings auch in Deutscheinen Vortrag in Glasgow zugesicherte Honorar zur Anlage einer Schänke ohne Spirituosen land beginnt die vortreffliche Idee Wurzel zu zu verwenden. In Cork, Irland, wurde eine schlagen. Ein Geistlicher hat seit etwa zwei Jahren in Berlin die Sache in die Hand ge= solche, die noch beſteht und blüht , 1865 ernommen, und es sind dort bereits drei Kaffeerichtet, in Leeds durch einen Fabrikanten eine andere zwei Jahre später. Das waren in- | häuser errichtet worden. In Bremen ist verfuchsweise von einem um das Gemeinwohl sehr dessen nur sporadische Vorzeichen der großen verdienten Kaufmann ein Lokal im Innern allgemeinen Bewegung für die Sache , welche ſich im Anschluß an das Auftreten der ameri- der Stadt , der seit drei Jahre mit Erfolg arbeitenden Volksküche gegenüber, am 17. Jakanischen Methodiſtenprediger Moody und Sankey im Jahre 1875 in Liverpool erhob und nuar dieses Jahres eröffnet worden und hat von Anfang an regen Zuspruch gefunden. Vorbald nicht bloß über ganz England verbreitete, sondern in London zu einer förmlichen und aussichtlich wird im Herbst ein zweites Lokal in einem hauptsächlich von Arbeitern bevölkerten sehr wirksamen Organisation führte. Unter Stadtviertel dazu kommen. In Lübeck bestehen dem Vorsitz des Herzogs von Westminster konstituierte sich dort im Sommer 1877 ein seit Anfang dieses Jahres zwei Kaffeestuben, Verein für Volts-Kaffeehäuser, mit dem Zweck, die gut besucht werden. die Errichtung von Schänken ohne den VerWo die Sache richtig gehandhabt wird, kauf berauschender Getränke , und zwar mit kann es auch gar nicht fehlen , daß sie viel Gutes stiften muß. Sie wird sich überall zu dem Geschäftsgrundsaß der Selbſterhaltung, afklimatisieren haben , d . h. es würde nicht zu fördern. Dies geschieht durch Lenkung der allgemeinen Aufmerksamkeit auf die Sache, wohlgethan sein, was in einem anderen Lande durch Sammeln und Verbreiten genauer Kunde und Volke vorgemacht ist, ohne weiteres buchvon derselben, und durch Bildung eines Fonds, stäblich nachzumachen, denn gerade das Anpaſſen an nationale und örtliche Bedürfnisse verbürgt der zur Einrichtung und Verbesserung von Kaffeehäusern dienen soll, entweder durch Darihr Gedeihen : herrscht doch auch in England, lehen zu mäßigen Zinsen oder durch Zuschüsse | dem Ursprungslande, die größte Mannigfaltigoder in anderer Art. Eine illustrierte Monatskeit der Ausgestaltung bei aller Uebereinstim mung des Grundprinzips . Soweit die Erschrift, welcher das diesem Artikel beigegebene einladende Bildchen eines ländlichen Kaffeehauses fahrung bis jetzt reicht, scheinen aber folgende in der Umgegend von London entnommen ist, Regeln überall der Beachtung wert, wo man bringt Leitartikel, Berichte über den Fortgang an eine Einführung der Volks - Kaffeehäuser denken möchte. Erstlich darin stimmen in der Bewegung aus allen Teilen des Königreichs und des Auslandes , praktische Mitteilungen England alle Sachverständigen überein - muß über Einrichtung und Geschäftsführung, Rezepte, die Sache auf geschäftliche Grundlagen aufgeBeschreibungen von Maschinen und Geräten baut werden. Die Wirtschaft muß sich nicht
Volks-Baffeehäuser. allein selbst erhalten , sondern sie muß den jenigen , welche ihr Geld hineingesteckt haben, angemessene Zinsen abwerfen , und thut das auch, wenn sie auf die rechte Weiſe verwaltet wird. Wollte man die Anlage- und Verwaltungskosten von milden Gaben bestreiten, so würde man erstlich alle die Kunden abschrecken, die sich für zu gut halten ein Almoſen anzunehmen. Man würde überdies mit Sicherheit darauf rechnen können , daß derjenige Teil des für milde Zwecke flüssigen Kapitals , der Heute den Volks -Kaffeehäusern zugewendet wird, über ein paar Jahre von neueren Zwecken in Anspruch genommen sein würde. In England sind daher Aristokraten und Kaufleute , Geistliche und Juristen darüber einig , daß jeder Privatmann , der ein Kaffeehaus errichtet , so gut wie jede Aktiengesellschaft dabei nach streng kaufmännischen Grundsägen verfahren müsse. Thatsächlich werfen denn auch die meisten englischen Unternehmungen dieser Art eine Dividende ab, und zwar im Durchschnitt der letzten Jahresberichte von 82 Prozent, was einer Steigerung von 14 Prozent gegen das Vorjahr gleichkommt. auch ein kaufDie zweite Hauptsache -- ist, männischer Grundsay, wenn man will daß das Gebotene von bester Qualität , das
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hinlänglich Aufsicht führten , während in den größeren Provinzialstädten , Bradford , Leeds, Birmingham, York u. a. sehr gute, zum Teil sogar glänzende finanzielle Resultate erzielt worden sind. Auf dem Lande wiederum scheint die Geschäftsleitung mit größeren Schwierigteiten verknüpft zu sein, weil der Zuspruch so viel geringer ist. Der „ Kakaobaum “ zu Pinner, dessen anmutige Außenseite die Leser an der beifolgenden Abbildung bewundern können, macht davon eine erfreuliche Ausnahme. Er ist das Eigentum eines Rechtsgelehrten , Mr. * William Barber, von diesem auf eigene Kosten mit einem Aufwande von 2400 Pfd . Sterl. (48000 Mk.) vor bald vier Jahren etabliert, und wird mit Hilfe eines Geschäftsführers von diesem Herrn auch selbst verwaltet. In dem ersten vollen Geschäftsjahr 1879 nahm er 800 Pfd. Sterl. ein. Davon blieben nach Abzug der Betriebskosten 197 Pfd . Sterl. Reingewinn. Mr. Barber rechnete fünf Prozent Zinsen auf sein Kapital von der Eröffnung an mit 140 Pfd., 30 Pfd. für Abnutzung und konnte mit seinem Geschäftsführer noch 27 Pfd. teilen. In den ersten neun Monaten von 1880 hatte er bereits 900 Pfd . aufge= nommen und würde 50 Pfd . reinen Ueberschuß zu teilen gehabt haben , so daß , wie er mit einigem Humor sagt, die Kaffeewirtschaft ihm immerhin noch durchhelfen könnte , falls es mit der Jurisprudenz einmal nichts mehr wäre.
Lokal so anziehend wie möglich , die Reinlich keit über allen Zweifel erhaben, die Bedienung prompt und zuvorkommend , die Ordnung in Wenn jeder Beziehung musterhaft sein muß. Wenn es troßdem statthaft ist, den Preis für eine Fürs dritte wird von der großen Mehrgroße Tasse Kaffee auf nicht mehr als einen zahl der Urteilsfähigen betont, daß die VolksPenny (8 Pfg.), für eine Tasse Thee auf Kaffeehäuser weiter nichts sein müssen , als anderthalb Pence zu stellen , so kommt das sie zu sein vorgeben , nämlich nicht Orte, an denen allerlei religiöse , soziale oder politische daher , daß die Einkäufe so hoch hinauf wie möglich im Großhandel gemacht werden und Zwecke neben dem Hauptzweck verfolgt werden. Sie wollen der Mäßigkeitssache dienen , aber in England Kolonialwaaren keinen Eingangszoll bezahlen. In der bremischen Volks -Kaffeees soll in ihnen niemand zum Eintritt in eine Mäßigkeitsgesellschaft beredet werden . Sie ſtube bekommt man sogar eine große Tasse wollen leibliche Erfrischung bieten ; man soll sehr guten Kaffee mit Milch für fünf Pfennig, weil das dortige Publikum durch die frühere aber daneben keinem geistige oder geistliche Erfrischung aufdrängen, der nicht danach verGrotenrechnung an das Teilen eines Fünfpfennigstücks nur schwer zu gewöhnen ist. Ob langt. Wenn die oberen Stockwerke der zu bei diesem Preiſe das Unternehmen ohne Zu- | Kaffeeſchänken benutten Häuser größere Räume schüsse bestehen kann , wird sich erst zeigen zu Versammlungen bieten, was sehr häufig müssen. Verschiedene Londoner Etablissements der Fall ist , so mögen dieselben zu Vorlesunsollen in der letzten Zeit daran gescheitert sein, gen , zu Bibelstunden , an Gesangvereine , an daß sie schlechtes Getränk geliefert und es an Veranstalter von Sehenswürdigkeiten vermietet der unerläßlichen Sauberkeit haben fehlen lassen, werden, aber dann muß der Ein- und Aufgang wahrscheinlich weil die Vereinsvorstände nicht | von dem Schanklokal getrennt sein, damit auf
Joseph Kürschner.
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Remand auch nur der Schatten eines Zwanges ausgeübt werde. Im übrigen, wie schon erwähnt , hat die Idee in England die verschiedenartigste Aus-
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Vorbeigehen mit einem warmen Trunk erquicken könne. Es ist daher auch vollkommen berechtigt, daß der Veranstalter der ersten bremischen Kaffeestube sein Werk einen Versuch nennt ; an jedem Orte wird auszuprobieren sein, welche Einrichtungen am besten den örtlichen Gewohnheiten entsprechen und den größten Zuspruch verheißen. Daß man bald vieler Orten den Mut haben möge, solche Versuche anzustellen, ist im Intereſſe der Volkswohlfahrt dringend zu wünschen.
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Drei Parterre des englischen Kaffeehauses „Kalaobaum“. Klubzimmer; B und C Schlafzimmer; D Wohnzimmer. führung gefunden, um sich überall dem augenblicklich vorliegenden Bedürfnis anzupassen . Hier werden Kaffee, Thee und Kakao geschenkt,
H
E C
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Erster Stock des englischen Kaffeehauses „Kalaobaum“. A Kaffeeftube ; B Schenkraum ; C Küche; D Flur : E Gesellschafts. jimmer; F Speisekammer; G Sigungszimmer; H Hof ; 1 Bedeckter Weg. dort auch warme und kalte Speisen verabreicht. Das eine Kaffeehaus hat ein besonderes Lesezimmer, das andere ein Rauchzimmer , das dritte ein Zimmer für Frauen oder Knaben, das vierte ein Billard ; dieses ist mit einer Volksbibliothek in Verbindung, jenes mit einer Badeanstalt , ein anderes nimmt Schlafgäste auf , wieder ein anderes schickt einen kleinen Wagen mit den warmgehaltenen Getränken durch die Straßen. Viele sind schon morgens nm vier oder fünf Uhr geöffnet , damit der ans Tagewerk gehende Fabrikarbeiter sich im
Dichterbilder. 1)
Litterarische Bemerkungen.
Muß es auch den Fachblättern überlaſſen bleiben, die Angelegenheiten des litterarischen Marktes in eingehender Weise zu besprechen, so darf doch wohl auch an diesem Ort der Anzeige dreier neuer vortrefflicher Bücher Einiges angefügt werden, was zwar nicht neu ist, aber die Berechtigung in sich trägt , dem lieben Publikum immer von neuem gesagt zu werden . Drei biographische Werke eines Mannes, der mit den erdenklichsten Mühen seit Jahren, ja seit Jahrzehnten auch den kleinsten Spuren nachgeht, die zur Erkenntnis unserer nationalen Litteratur und ihren Angehörigen führen, der in Dußenden von Büchern mit sorgsamer Hand die Feinheiten litterarischer Meisterwerke zergliedert , sie durch die Resultate seltenen Wissens auch weiteren Kreisen tiefer verständlich macht - das mag wohl der rechte Hauptund Zentralpunkt sein, an den sich ohne etwaige wiſſenſchaftliche Prätenſionen eine Menge nicht überflüssiger Bemerkungen anknüpfen lassen. Während nämlich einerseits eine Reihe von Männern der Wissenschaft Stein auf Stein zusammentragen, um das herrliche Gebäude der deutschen Litteraturgeschichte nach allen ¹) Heinrich Dünger , Goethes Leben. Mit 50 Illustrationen und 4 Beilagen . Leipzig, 1880. Fues' Verlag (R. Reisland) ; derselbe , Schillers Leben. Mit 46 Juustrationen und 5 Beilagen ebd. 1881 ; derselbe, Lessings Leben. Mit authentischen Illustrationen : 46 Holzschnitte und 8 Faksimiles , ebd. 1882. Ed. Wartigs Verlag (Ernst Hoppe).
Dret Dichterbilder. Seiten hin zu vollenden und auszubauen, gibt es anderseits ganze Scharen von Leuten, die dieses Thun geringschäßen und ihrer Gering schätzung oft dazu auch noch eine recht beleidi gende Form geben. Was hat nicht alles die Goetheforschung über sich ergehen lassen müssen! Da war bald von Waschzettellitteratur die Rede und bald von Kärrnern, die im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten , weil ein König etwas gethan. Der tiefer Zuschau ende hat sogar das immerhin amü sante Schau spiel gehabt, in ein und demselben Verlage Bücher verlegt zu sehen , deren Autoren sich in scharfen Bemerkungen über die durch
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aber nichts davon. Denn wer jemals sich dem Zauber der litterarischen Detailforschung hin — gegeben und auch der Laie vermag es bis zu einem bestimmten Grade - wird nicht mehr. die Narretei begehen, ihr die Berechtigung abzusprechen. Wie das wächst, wie sich an der gewaltigen Zentralsonne immer neue Strahlen ansehen, wie sich Alles erhellt, auch das Fernliegendste in Beziehung zu dem Großen tritt, auch das scheinbar Nebensächliche mit überraschender Genauigkeit sich in das Bild, dessen Totalität ergänzend einfügt! Es ist ein gewaltiger Irrtum, in dem sich die rabiaten Gegner der, von ihnen
zahlreiche andere Werke desselben Ver= vertre lags tene kritischhistorische Richtung gefielen. Wenn das am dürren Holze ge= schieht, wiesoll da erst es beim grünen
FHeueXA Gotthold Ephraim Leffing. Nach dem Gemälde von Tischbein in der Berliner Nationalgallerie. (Aus Düngers Leffings Leben".)
sein ? Schlimm genug ! Der erste beste Zeitungsschreiber glaubt sich berechtigt , über eine verdienstliche Arbeit wie das Geigersche Goethe- Jahrbuch, seine trivialen Bemerkungen zu machen; jeder der die Namen unserer Klassiker und die Titel einiger ihrer Hauptwerke kennt , ist rasch bei der Hand, seinen Witz an der kritisch - historischen Thätigkeit unserer Litteraturforscher zu üben. Den meisten geht es damit freilich wie vielen mit Wagner scher Musik: sie haben etwas darüber gehört,
spöttisch so benannten Zettellitteratur befinden, daß es sich hier um uur antiquarische Interessen handele, daß es dem Gelehrtenzopf nur um die zu Freude
thun sei , sich mit Bücher=
staub zu pudern, oder bibliographischen Lüsten und Eitelkeitsteufeleien auf Kosten der Großen der Nation zu fröhnen. In solcher Thätigkeit liegt im Gegenteil ein tieferer Reiz , der mit Liebe für den behandelten Stoff innig verbunden ist. Da sagt die Menge freilich, was brauchen wir Leben und historischen Hintergrund der großen Dichter, ihre Beziehungen zur Zeit und zeitgenössischen Gesellschaft zu kennen, was Erläuterungen ihrer Werke, deren Verständnis uns die Em58
Joseph Kürschner.
sto lze n Plu ge
greifen und zu verstehen , zu würdigen und zu verehren ? Freilich würden auch die gewaltigen Werke unseres größten Dichters an sich
die du gewommen hast , dahin . Sei , e glücklich dem intr äg Be en ch Hörblid r eze n vo ſtür win Trau Erwach dic rige h en s nin Den Blu men glei ch , die
wert, gekannt zu werden, notwendig sogar, um dieses schöne Gebilde voller Menschlichkeit recht zu be-
schmücken . Blicke, n
n,
hirga
Berung dieser allumfassenden Individualität
drinne die r en nu n de entfernt
die nur
Deinen
schaffen vermag? Ist nicht jede fleinste Neu-
sin pflanze so
Geſchaften vrd el k we en si e
Wrimer Agrib 1758 4. 3...
Dichtung, von so hoher, unerreichter Harmonie, wie sie nur die Natur zu
FrSch idri illch er.
waltigsten der deutschen Nation das Leben und das Auswirken des Lebens nicht eine selbst
Ueberzählen taumelst süßen Froch Du im Grazien Scheizen und
. n erzwunge Die deühl in Gef be ſe lt , Bet rac hte hie ! – do ch pfl ück e sie nic ht ab !
Erdenb ürg ern an . ni e entwei cht er Jug end ,
diesen trotzen kami der – !
Stammbuchblatt für“„(). Charlotte von Lengefeld. Dünzers Schillers Aus Leben
meisten dreht. Ist bei diesem, vielleicht Ge-
nd kien blüh n Eid
Glücklicher unhäpft ſpielt Welt Lotte dich der die uum die du so – , , gemacht Seelen der , Herzen Deinem in mahlt ſie ſich Deiner Beebe ſchönen Spiegel fällt , in en ! die – sie doch nicht Erbberung , deiner Blicke ſingereich zählt , je d e r die Keele sanfte
packend und überwältigend wirken , wenn wir nichts wüßten von ihrem Schöpfer ; aber wie vertieft sich noch ihre Wirkung, wie lichtet sich unser Horizont in immer weiteren Fernen, wenn wir
, die der Statuen die Her zen die , dei eig n ens dir err ung en , die Wund er di e du ſel bſt get han , Die Reitze die , dein daseg e ihm gege ben danc , hes die je näher ihrem Grab
Die rech net du für Schätz e diese m Leben ,
uns Lugenden für
Zauber Holden Dem
, Talisman mächtgem Engelgüte der der Majestät der Unſchuld der und Augend , de n wi ll ic se h hn
pfindung allein vollkommen lehrt ? Und dazu schlagen sie auf die Stelle, wo sie das Herz ſizen haben, wie schlechte Schauspieler , die von Schulung und Bildung nichts wissen wollen. Als ob man den modernen Dichter so pure von seinem Werke trennen fönnte und gar nun einen Goethe, um den der sich Kampf der Wissenschaft dem mit Laientum am
norr
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ſeinKämpfen und Streben nachempfin rückden , wärts schauend eine an= dere Zeit, andere Men= und schen Strömun gen vor unserem geisti gen Auge lebendig werden lassen ! Auf keinem Gebiete bes gnügen wir uns damit, etwas Fertiges einfach hinzuneh men, warum soll es gerade dem auf Dichtder kunst anders sein, wo doch die höchste Produktion mit dem Pro-
duzenten der= innig bunden ist. Selbst wenn keine Schöpfung unserer Dichter erhalten ge= blieben wäre,
ihr geistiges Ringen, ihr Leben in und mit der Welt zu betrachten, würde allein schon ein Genuß sein, denn in erster Linie steht uns der Mensch als solcher ja doch am nächsten, beansprucht mit seinen geistigen Lebensäußerungen am ehesten unser Intereſſe und nun
Drei Dichterbilder. gar wenn es ein Goethe ist. So ein Leben kann für den, der es recht zu fassen und zu nehmen weiß, ein beseligender Trost, das beglückendste und erhabendste Empfinden sein, es versöhnt mit dem eigenen Schicksal, es reißt empor aus dem Trübsal und dem Jammer, die unseres Fleisches Erbteil, zu reineren Gefilden, es gibt Einem Mut zu kräftigem Weiterwirken , es beglückt durch den Beweis, den es erbringt, wie hoch die Menschheit zu steigen vermag und erfüllt unser Herz mit überquellender Liebe für den, der es gelebt. Gerade bei den drei Dichtern,
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deren Leben uns Dünger erzählt , bei Goethe, Schiller und Lessing ist dies der Fall und am meisten bei dem ersten, der seine goethische (mir fehlt ein treffendes umschreibendes Wort) Art auch dem Winzigsten aufdrückte, das von ihm ausging. An biographischen Schriften über die Genannten ist auch bisher kein Mangel gewesen, nur bei Goethen hat sich die Forschung verhältnismäßig mehr in Einzeldarstellungen als in der Schilderung der Gesamtheit seiner Erscheinung , seines Lebens und Wirkens gefallen. Das ist erklärlich,
Abendkreis der Herzogin Amalie. Nach einer farbigen Zeichnung von J. M. Kraus. (Aus Düngers " Goethes Leben".) denn eine Dichterbiographie in höchster Potenz soll nicht nur das gesamte vorhandene Material sichtend und prüfend verwenden, sie soll zugleich in der Darstellung selbst ein Kunstwerk sein , eine Schöpfung, in der nicht nur ein Plan und das zu seiner Ausführung verwendete Material erkenntlich wird, sondern ein einheitlicher Geist weht und dem Ganzen den Stempel des Vollendeten, in sich Abgeschlossenen aufdrückt. Bei Goethen aber ist die Lösung dieser Aufgabe am allerschwierigsten. Ich bezweifle, daß ein Mann , wie Dünger , der auch von seinen wissenschaftlichen Gegnern um seiner Gründlichkeit und erstaunlichen Kenntnisse hoch gehalten wird , seine Werke als abschließend
betrachtet , er wird im Gegenteil besser als viele andere wissen, wie viel zu thun der Zukunft noch vorbehalten bleiben muß. Allein es war verlockend genug für ihn , der wenige Jahre nach Goethes Tode bereits mit der Schrift " Goethes Faust in seiner Einheit und Ganzheit “ (Köln 1836) debütierte und seitdem zahlreiche Werke über den Olympier , ferner über Schiller , Klopstock , Lessing , Wieland, Herder , Knebel , Zacharias Werner 2c. ge= schrieben hat, den Ergebnisse der Forschungen eines Menschenalters in gesamten und umfassenden Werken niederzulegen. Von der Tiefe, Ausführlichkeit und Gründlichkeit jener Forschungen geben diese Arbeiten denn auch ein
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Joseph Kürschner. Drei Dichterbilder.
beredtes Zeugnis. Dünger hat in ihnen, ohne daß sie zu einer den Verhältnissen nachunförmigen Dicke angewachsen wären, etwas geliefert, das sachlich auf der Höhe der Wissenschaft steht. Er hat dabei, was gerade für einen an Wissen so außergewöhnlich reichen Forscher nicht hoch genug anzuschlagen ist , auf jedes gelehrte Beiwerk von Noten 2c. verzichtet und dadurch die Lesbarkeit seiner Biographieen nicht wenig erhöht. Auch von aufdringlicher Rechthaberei ist bei ihm feine Spur zu finden , mit Objektivität und Gewissenhaftigkeit sind alle Daten und Einzelheiten nebeneinander gesezt, so daß der Leser selbst ein eigenes Urteil aufGrund der mitgeteilten Thatsachen sich zu bilden vermag. Ein besonderer Reiz liegt für den Leser darin, drei so vornehme Geister von einem Gesichtspunkte geschildert, in gleicher Form behandelt zu sehen , von denen zwei in inniger Wechselwirkungstanden und der erste den anderen die Stätte bereiten Parallelen zu half. ziehen liegt da nahe und man kann thatsächlich von solchen sprechen, wenigstens von innerlichen: von dem
ungleich kürzere Lebensbahn beschieden war, als dem ebenfalls zu früh verstorbenen Lessing. Dafür war ihm aber vergönnt, was Lessing fast immer gefehlt : voller Erfolg, ein frohes Haus, ein gefestetes Leben. Die Mythe von dem Hungertuch , an dem eine im Absterben begriffene Generation den deutschen Lieblingsdichter bis an sein Ende zehren läßt , kann — heute nicht mehr weiter gedeihen. Da es jetzt zur Mode gehört, auch etwas über das Aeußere der Bücher zu sagen, das zur Zeit, im Gegensatz zu dem sprichwörtlich ge= wordenen Löschpapiergewand der privilegierten Klassikerausgaben oft mehr wert ist, als der Inhalt, so soll es auch hier nicht übergangen werden. Die Kunst des Schriftsezers steht ja leider heute oft höher im Wert als die des Schriftstellers und auch wer nicht an die allein-
seligmachende Kraft des äußeren Bucheindruces glaubt und nicht von dem goldenen Schnitt der Satform die Zahl der Abnehmer abhängig Charlotte Albertine Erneftine von Stein. macht, muß wohl oder Nach der Photographie ihres von ihr selbst zwischen zwei Spiegeln 1790 gezeichneten Bildes. (Aus Düngers Goethes Leben".) übel mit den Verleger-
wölfen heulen. Ich Durchringen der Geister zum Licht, zur Wahr- ❘ will mich nicht damit aufhalten, von der Dicke des Papiers und seiner Färbung, von dem schönen heit und zur vollen Auswirkung ihres Ichs. Anders freilich stellt sich die Sache äußerlich, Schnitt der modernisierten Schwabacher Schrift zu sprechen, sondern einfach konstatieren, daß die denn fehlt es auch Lessing durch Mendelssohns Bände ziemlich reich illustriert sind. Wer aber Freundschaft nicht an dem Glücksgefühl und dem fördersamen Einfluß eines Freundesnach dieser Mitteilung etwa auf Bildchen rechnet, bundes, wie ihn ähnlich Goethe und Schiller die ein halbes oder ganzes Dußend , meinetverband, so divergieren doch die äußeren Lebenswegen auch ein Schock berühmter Künstler" mit Hilfe ihrer Phantasie angefertigt haben, linien der drei Heroen gar bedeutend und wie dies jetzt bei Klassikern üblich wird, nachwährend Goethe auch äußerlich den höchsten Gipfel erreicht , getragen vom Glück , muß dem der Moor der Prachtwerke seine Schuldigkeit gethan hat und gegangen (worden) ist, Lessing von Etappe zu Etappe seine Hoffnungen schwinden sehen, bis ihm endlich der begleitet vom Segen aller wahren LitteraturTod auch noch das schwer errungene Weib freunde — wer darauf rechnet, der hat seine Rechnung ohne die Herren Reisland und nach kurzen Sonnentagen erbarmungslos von Wartig gemacht. Man hat hier im Gegender Seite reißt. Glücklicher gestaltet sich das teil von dem für historische Werke allein beLos Schillers , wenn auch diesem eine noch
Otto Spielberg. „ Du. "
rechtigten authentischen illustrativen Material Gebrauch gemacht und an Porträts der Dichter und ihrer Zeitgenossen, an Abbildungen denkwürdiger Stätten, Faksimiles von Dokumenten. und Manuskripten eine ſtattliche Zahl zusammengebracht. Einige derselben sind als Illustrationsproben der Düngerschen Werke , mit Erlaubnis der Herren Verleger, hier wieder abgedruckt. Möchte doch die von litteraturgeschichtlichen Darstellungen ausgegangene Reformation oder wenn man so will Reaktion des Jllustrationswesens sich immer mehr ausbreiten. In allen den gut gemeinten und wenn auch noch so brillant ausgeführten freien Illustrationen historischer oder poetischer Meisterwerke liegt für den denkenden und verständigen Leser doch nur ein Uebergriff des Jllustrators in die Thätigkeit der Leserphantasie. Joseph Kürschner.
,, Du.“ Modernes Sittenbild von Otto Spielberg.
Ir war der Sohn seines Vaters. Mehr Et läßt sich von ihm nicht sagen. Bei seiner Geburt gelobte der Alte : mein Junge soll es einmal besser haben als ich und während er das dritte Hunderttausend mit abscheulicher Pfennigfuchserei zusammenkragte, ließ er den herangewachsenen Herrn Sohn in der Chaise fahren, auf einem Pony reiten und Reisen nach Paris und der Schweiz machen. Dem Sohn wurden die Thaler in die Hände ge= legt wie Spielmarken und mit der Leichtigkeit des Empfangens fam, wie daraus hervorgegangen, die Leichtigkeit des Ausgebens . Der Sohn wurde die personifizierte Splendidität. Wenn der Alte fünfzig Kreuzer für die Ueberschwemmten schenkte, zeichnete der Sohn das Zehnfache. „Aber, Herr Rohleder", sagten die Komitee" Mitglieder, Ihr Herr Sohn hat so viel — „ Ja, meine Herren", fiel ihnen der Alte in die Rede, „mein Sohn kann das, der hat einen reichen Vater." " Papa, ich hatte gestern Abend Pech ..." "Im Jeu-Jeu?" "Zwei tausend Thaler."
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„Bfui Teufel !" Der Graf Klinkowström hat mir's abgenommen “ , das versöhnte den Alten wieder, weil's ein Graf war , der mit seinem Sohne gespielt und so zahlte er. „Aber ich ermahne dich, laß es das Lette sein, was verloren ist. “ „Verloren ist es nicht", entgegnete lachend der junge Bonvivant und drehte sein Schnurrbärtchen. „Ei, was denn sonst?" " „Es ist nur in andern Händen.“ " Der Wit war nicht übel und beinahe hätte auch der Alte gelacht darüber , wenn's nicht zweitausend Thaler gewesen wären. „Trinken wir auf das Wohl unseres freigebigen und ehrenwerten Bruders Rohleder," erhob sich der Vorsitzende im Klub der Maikäfer,“ der aus lauter jungen Leuten bestand, die mit Geist und vieler Raffiniertheit das Leben wie Spargeln auszuzuggeln verstanden. Man zuggelt aus , was man nicht ganz genießen mag, sondern in seinen Schalen, Kernen und Stielen wegwirft. Das Wort ließe sich, weil uns ein besseres fehlt, dem Schriftdeutschen einverleiben. Die Mitglieder der „Maikäfer“ erhoben sich mit vollen Gläsern : Hoch ... hoch ... dreimal hoch! Natürlich mußte Herr ... dreimal Rohleder ein Dußend Cliquot zum besten geben. Diese Art zu leben, gefiel ihm so sehr, daß er sich erst Mitte der Dreißiger Jahre und zwar auf den Rat seiner Freunde - eine Frau nahm. Die Werbung war originell genug . . . „Mein Fräulein, " hat er gesagt , „ würden Sie geneigt sein, mir auf dem Pfade des Lebens eine getreue Gefährtin zu sein? " Wörtlich genommen, sagte die Dame, auf seinen Lebenswandel anspielend, müsse sie seinen Antrag ablehnen , aber symboliſch gesprochen, würde sie ihn annehmen. Auf der Rückfahrt von der Hochzeitsreise sah er durch's Koupeefenster seine Klub-Brüder einen Ausflug machen. ?? Elischen," sprach er bei der nächsten Station, in der Zeit, daß du nach Hause fährst, könnte ich mich meinen alten Kumpanen anschließen. Ich hoffe, daß wir uns heute noch wiedersehen. “ Damit stieg er aus dem Waggon. Seitdem war die junge Frau immer allein. Eine Frau allein - allein in ihrem Alltäglichen, in ihrem Einerlei, wird bald ihr Dasein
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Otto Spielberg. ,,Du. "
als ein verfehltes betrachten lernen . Sie wird in Gleichgültigkeit versinken , Allotria treiben, um die Zeit zu vertändeln und Haus und Herd, an dem der Mann keinen Anteil nimmt und der darum auch für die Frau nicht freudevoll sein kann , fremden , nur für sich sorgenden Menschen überlassen. Die Frau muß in der Ehe gleich im Anfang, wenn noch der Zauber des ersten Glückes, der Rausch der Seligkeit das hochzeitliche Paar umstrickt, den Mann erziehen. Sie muß ihn erziehen, auf die Gefahr hin, daß die Elemente schon am ersten Tag zusammenplatzen. Denn es ist besser, es geschieht gleich , als nach einem langen liebevollen Sichgehenlassen, in welchem der Schlendrian seine erste Nahrung findet. Als er aus dem Koupee sprang und sie allein fahren ließ, stieg allerdings ein eigenes Gefühl, ein Gefühl unendlicher Traurigkeit in ihrer Seele auf, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, das ändert sich noch ... die Sache macht sich noch. Und sie half ihm den Rock anziehen, wenn er in den Klub der Maikäfer ging ... „Karlchen erkälte dich nur nicht." „Karlchen, soll ich dir den Shawl geben ? " " Karlchen, willst du deine Pulswärmer ?" Karlchen kam erst nach Mitternacht nach Hause. Bei stürmischemWetter blieb sie wach ... sie wäre so besorgt um ihn, sagte sie, sie hätte keine Rube. Nur einmal suchte sie sich energisch zu zeigen ... Die Kinder würden jezt immer größer, sie würden ungezogener ; er möge doch zeigen, daß er der Vater ist. Er spuckte auf den Zimmerteppich : „ Ekelhafter Geschmack“, sprach er, „hab' alten Chesterkäs gegessen ... die Kinder, meinst du, schick' sie in die Schule, dafür sind die Schulen da “. Die Schulen - der Staat darauf verläßt sich der moderne Vater und kehrt der eigentlichen Stätte der Erziehung, dem Hause, den Rücken und geht seinem Vergnügen nach. „Dafür sind die Schulen da ….. “ Das klang so rauhbauzig und polternd bum ... . . . bum ... bum . . . als wenn der Ton aus einem alten Blechtopf, den der Rost angefressen, käme. Das flang wie aus einem vollgestopften Ofenrohre, denn das viele Trinken in Verbindung mit dem Qualm der Zigarre sett in der Gurgel einen Ruß an , der krächzend in die Höhe steigt und jede reine Aussprache benimmt.
Solche Bäter haben wir im lieben Deutschland, schlecht gezählt, eine Million . . . „Dafür sind die Schulen da “ ... mit diesen Worten zündete sich der saubere Vater eine Zigarre an, pfiff eine Melodie aus der „ Fledermaus “ und winkte einem Dienstmann ... " Friße, gehen Sie in das Maikäfer-Lokal und sagen Sie, ich gebe heute eine Erdbeer-Bowle für zwölf Personen, präziſe fünf Uhr. “ „Karlchen, soll ich mit dem Abendbrot auf dich warten ?" "Iß mit den Kindern allein. “ „Karlchen , wollen wir noch heute das Hausſtandsbuch in Ordnung bringen ?“ " Morgen ist auch noch Zeit" Morgen wundert sich der Mann, wo das Geld geblieben ist. Er zieht das Futter aus den Westentaschen ... weiß der Teufel , ich hatte doch noch einige Kronen . . . „Kathrine!" ruft er in die Küchentür, „schauen Sie ' mal in die Stiefelſchäfte, ob mir nicht Geld durch die Hoſenbeine gerutscht iſt ?“ „Karlchen", sagt seine Frau und blickt ihm liebevoll in's Auge, " Karlchen , wo warst du denn gestern Abend ?" „Ach “, sagt er, „ das weiß ich eigentlich nicht so genau“ . „Karlchen, du wirst das Geld verloren haben ; “ „Karlchen, sollten auch deine Taschen Löcher haben ?" Der Frau war es rätselhaft ... Die Taschen hatten keine Löcher. Hm, hm ... Sie hat lange gedankenvoll den Kopf gestützt und nachgesonnen ... Hm, hm, ... So viel stand fest, das rätselhafte Verschwinden machte ihm weniger Sorge wie ihr. Papa", sprach sein kleinster Bube, der mit der Mappe auf dem Rücken aus der Schule kam , „ Papa , der Lehrer hat gesagt , daß alle hundert Jahre in jeder Familie , und wäre es in der reichsten , Einer den Bettelsack auf den Buckel nehmen müſſe. Weißt du, Papa “ - und der Kleine sah dem Vater unschuldvoll mit seinen himmelblauen Augen ins Gesicht, ,,wer in unserer Familie den Bettelsack tragen wird ?" " Wer denn?" „Du Der Vater schlug dem Jungen auf den Mund, aber es war zu spät, das Wort war schon heraus.
Juli.
Der
Sammler. Inhalt:
Gedenktage im Juli. Unser Hausgarten. Juli. Von 6. U. Fintelmann. Mit der Abbildung der Bambusa metacca. Trachten der 3eit. Mode-Neuigkeiten. Von Jda Barber. mit 2 figuren Toilette für junge Mädchen, 4 figuren Bébé, fleidchen, 5 Figuren Damenkleider, Regenmantel und Paletot . 4 Figuren Hüte, 2 figuren Handschuhe. Dor: Küche und Baus. Juli : Jahreszeit des Eßbaren . schrift : Schwammbrühe (Catchub). Speisezettel für Juli. Ein chemisches Experiment. Zum Kopfzerbrechen. Schachpartie Nr. 3. Anagramm. Silbenrätsel. Rebus. Rätsel. Auflösungen zu Zahlenrätsel. Schlüffelrätsel. Charade. Heft 9. Rechenaufgabe. Die Verzehrung schlagender Wetter. Ein Kugel-Velociped. Mit 2 Abbildungen. Das Naumburger Kirschfest. Das lustige Quartett. Don Otto Seit. Der gestirnte Bimmel im Monat Juli.
Gedenktage im Juli.
1. 1646 geb.6.2 . v.Leibniz, deut. Philos. 2. 1724 geb. F. G. Klopstod, deut. Dichter. 3. 987 Hugo Gapet getrönt. 4. 1519 geft. Joh. Tezel, Ablaßkrämer. 5. 1849 Schlacht bei Fridericia. 6. 1809 Schlacht bei Wagram. 7. 1728 geft. A. H. Niemeyer, Pädagog. 8. 1709 Schlacht bei Pultawa. 9. 1807 Friebe zu Tilfit. 10. 1584 Pring von Oranien ermordet. 11. 1859 geft.Erzherzog Johann v.Desterr. 12. 1806 Errichtung des Rheinbundes. 14. 1789 Erftürmung der Bastille. 15. 622 Mohameds Flucht (Hedschra).
16. 1857 geft. P. 3.Beranger, frz. Dichter. 17. 1793 Charlotte Gordan guillotiniert. 18. 1814 Ferdinand IV. w. König v. Sizil. 19. 1838 Leipzig.Dresd. Eisenb. eröffnet. 20. 1820 Revolut. d. Carbonari in Reapel. 21. 1798 Schlacht bei den Pyramiden. 22. 1861 700jähr. Jubil. d. Kölner Doms. 23. 1562 geft. Göt von Berlichingen. 24. 1698 Stiftung d. Hall. Waisenhauses. 25. 1761 gft. Charl. v. Kalb, Schill. Frndn. 26. 1757 Schlacht bei Haftenbed. 27.-29. Juli-Revolution in Paris. 30. 1419 Suffiten ftürm.Rathaus in Prag. 31. 1556 gft. 3g. Loyola, Stift. d.Jef. Ord.
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F.Thiersch . 81.
G. A. Fintelmann. Unjer Hausgarten.
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Unser Hausgarten. Von 6. H. Fintelmann.
Juli. Schüre, du Sommer, die feurige Glut, Beilchen ist lange geschieden; Rose verbirgt sich und Lilie ruht, Nachtigall schweiget zufrieden.
Was der Frühling begonnen , der Sommer muß es vollenden. Mit heißer Liebe pflegt er seine Kinder und reist zur Frucht, was Blüte war. Die Saaten wachsen empor und färben sich , geschmückt mit blauen Kornblumen und rotem Mohn, die Obstbäume beginnen, ihre Früchte zu schwellen, Kirschen und Beerensträucher geben erquickende Kost. Die Wärme der Jahreszeit gestattet lang dauernden Aufenthalt im Freien, ein ruhiges Genießen der Schönheit des Gartens, der in aller Frische erhalten werden muß, wenn auch die Sonne mit glühendem Eifer ihr Werk vollendet. Ich bin die Blum' im Garten und muß in Stille warten, Wann und in welcher Weise Du trittst in meine Kreise läßt Rückert die Blume ergebungsvoll sprechen, und wie sehr lohnen uns die Pflanzen die ihnen zu teil gewordene Pflege, durch kräftiges Gedeihen die Arbeit, die das Bewässern, das Auspußen mit sich bringen. Alle Schäße unseres Gartens erhalten aber erst den Ausdruck der Vollendung durch den sie begleitenden schönen Rasen , auf dessen Anlage nicht leicht zu viel Sorgfalt verwendet werden kann. Er muß die dem Auge so wohlthuende, saftige Fülle besigen, weich und dicht sein, um den malerischen Kontrast verwirklichen zu helfen, den wir mit Recht als die Duelle aller natürlichen Schönheit betrachten dürfen. Wie ein sanft bewegtes Thal erscheint die grüne Fläche, dessen Ränder von Bäumen und Sträuchern eingefaßt sind, die in kecken Vorsprüngen und sanften Zurückweichungen dem Leben bringenden Spiel von Licht und Schatten freien Raum gewähren und dem Auge eine Fülle von Abwechselung bieten , indem sich die untern blütenreichen Zweige zur Erde neigen oder zart, wie die Trauerweide, den dichten Grasteppich berühren , während die Umrisse der höheren Bäume gegen den Horizont das natürliche Gemälde umrahmen. Einen eigenen Reiz verleihen den Rasenflächen die Blattpflanzen, wenn sie ihrem Charakter gemäß einzeln oder zu unregelmäßigen Gruppen vereint so vor den Gehölzgruppen angebracht sind, daß sie die Konturen derselben verlängern , die tiefen Einschnitte noch deutlicher erscheinen lassen. Die Größe ihrer Blätter bedingt ihre Verwendung als Ausschmückung des Vordergrundes , ihr natürliches Vorkommen auf feuchtem, sumpfigem Terrain erheischt , sie auf die tieferen Stellen der Partie zu verweisen, ohne daß
fie Unruhe oder Zerteilung des Bildes verursachen dürfen. Eine unbedeutende Senkung des Bodens wird der Maler der natürlichen Landschaft als Motiv für ihre Aufstellung benüßen oder bei durchaus ebenem Terrain die Punkte wählen , die durch die Anordnung der Pflanzungen, die Form und Richtung der Rasenflächen tiefer gelegen erscheinen. Auf diese Weise lassen sich auch in rauheren Lagen ganz vortreffliche Gruppierungen tropischen oder subtropischen Charakters herstellen, die für die Dauer des Sommers eine effektreiche Wirkung hervorbringen und sich in natürlicher Weise mit den Pflanzen unserer Heimat zu einem harmonischen Bilde vereinen. Eine Bedingung frischen Gedeihens dieser Pflanzen ist , daß man die Beete im Rasen einen Meter tief ausgraben läßt , dieselben mit einer 30 Centimeter hohen aus Laub und Pferdedung bestehenden , erwärmenden Unterlage versteht, mit einer nahrhaften Erde 60 Zentimeter hoch auffüllt und darauf die betreffenden Pflanzen sezt. So behandelt und mit reichlichem Wasser versehen, sind die Blattpflanzen und Blattpflanzengruppen schon zu Anfang dieses Monats in vollster Ueppigkeit. Außer den bekannten und überall gefundenen Arten des indischen Blumenrohrs und den großblätterigen Caladien , wähle man zu diesen Zwecken den bis 5 Meter hoch werdenden Wunderbaum , Rizinus, unter den baumartigen Gräsern den Riesenmais mit bunten Blättern , das breitblättrige Rohr Arundo Donax, — das Federborstengras - Gymnothrix latifolia, - Bambusa metacca (Fig. 21)
Fig. 21. Bambusa metacca,
eines jener unvergleichlichen Gräser , von denen einige Arten im Freien überwintert , andere alljährlich mit Ballen herausgehoben und in Kellern oder Kalthäusern vor Frost geschüßt werden, ferner das durch graziösen Bau und üppigen Wuchs ausgezeichnete Pampasgras, Gynerium argenteum und das ihm ähnliche Andropogon formosum, zu denen sich, kleiner bleibend , das breitblättrige Hirsegras, Panicum plicatum, der auch im Zimmer stets mit Erfolg kultivierte Cyperus alternifolius und die
3da Barber. Trachten der Beit. Papierstaude der alten Aegypter , der interessante Papyrus antiquorum gejellen möge. Der neu seeländische Flachs , Phormium tenax , läßt sich leicht überwintern und bildet mit seinen breiten, schilfartigen , graugrünen Blättern eine dekorative Pflanze von großem Werte. Andere zur einzelnen Anwendung auf dem Rasen geeignete Pflanzen des temperierten Hauses können im Frühjahr leicht aus Pflanzenhandlungen bezogen werden , so vor allen die majestätische Musa ensete , eine Banane von rieſigem Wachstum, im Halbſchatten und im Schuß unserer großen Gehölzgruppen gedeihend und mit diesen einen Kontrast von überraschender Wirkung bildend, ferner die durch grandiose Blattentwickelung ausgezeichneten Arten von Wigandia, Urtica, Solanum , Cosmophyllum und anderen Gattungen . Wenn über die Pflege der Rasenflächen schon wiederholentlich Andeutungen gegeben ſind, ſo mögen jeßt, wo unter den versengenden Strahlen der Sonne der grüne Teppich des Gartens um so überraschender wirkt, einige kurze Bemerkungen gestattet sein über die maßgebenden Grundsäße bei der Anlage. Schnell wachsende Gräser von gutem Futterwert müſſen aus der Nähe des Hauses verbannt sein. Gewählt werden solche Gräser , die langsam wachsen, feine, kriechende Wurzeln besißen, und die den Untergrund vollständig bedecken. Schon die nicht überall gleichmäßige Beschaffenheit des Vodens bedingt die Anwendung mehrerer Arten, einer Mischung, die mit Sorgfalt vorgenommen werden muß, weil die Beschaffenheit der Samen eine sehr verschiedene iſt. Den dritten oder vierten Teil jeder Mischung sollte das englische Raygras, Lolium perenne, ausmachen, eine Grasart, die sich vorzüglich zur Bildung eines schönen Gartenrasens von seiner Beschaffenheit eignet. Durch reiche, kriechende Wurzelbildung zeichnen sich die Wiesenrispengräſer, Poa pratensis und P. trivialis, aus , P. compressa verleiht durch seine bläuliche Farbe dem Rasengrün eine tiefere Farbe. Gleiche Eigenschaften hat das Straußgras, Agrostis alba und A. stolonifera, die auch an schattigen Stellen noch gut gedeihen , besonders wenn sie mit dem Hainrispengras , Poa nemoralis vereint wachsen. Vier der genannten Arten mögen je einen oder zwei Teile der Geſamtmiſchung ausmachen. Trockene, ſandige Abhänge müſſen zu zwei Teilen Raygras, je zwei oder drei Teile Schwingel, Festuca tenuifolia und F. ovina und das Kammgras , Cynosurus cristatus erhalten, unter deren Schuß dann auch noch Poa und Agrostis gedeihen. Es ist vorteilhaft, ziemlich dicht zu säen ; ein Kilogramm der Mischung reicht für 25 bis 30 Raummeter. Alz Zeit der Aussaat wird man im Ziergarten in den meisten Fällen zwar das Frühjahr wählen. Einen guten Erfolg bei geringerer Arbeit bietet das Ansäen Mitte August , wo feuchte Nächte und wohl auch Regengüſſe das Keimen und Gedeihen der jungen Graspflanzen begünſtigen. Während des ruhigen Genießens der Annehm lichkeiten , die der Garten jest bietet , arbeitet die Phantasie gern an Plänen zu Veränderungen und Verbesserungen, die mit dem erwachenden Frühling zur Ausführung kommen, aber es ist auch Zeit der Pflanzen zu gedenken, die bisher reiche Ernten für die Küche geliefert haben. Die Spargelbeete werden
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jezt durch einen tüchtigen Guß , dem man aufgelösten Chiliſalpeter zufügt, gekräftigt und etwa entstandene Lücken mit neuen Pflanzen ausgefüllt. Von den Erdbeerbeeten wird nach beendeter Ernte die Fruchtunterlage entfernt. Man schneidet die Ranken ab, hackt die Beete, bedeckt sie mit gut verrottetem Dünger und gießt sie nach Bedürfnis, um den durch das Fruchtbringen erschöpften Pflanzen neue Kräfte zuzuführen und reichen Ertrag für das nächſte Jahr ſicher zu ſtellen. Kartoffelzwiebeln und Schalotten sind jest reif. Sie werden herausgenommen und zum Nachreifen auf den Boden gebracht. Auf die abgeräumten Erbſenbeete pflanzt man Grünkohl. Im Obstgarten sind die Pfirsichspaliere in Ordnung zu halten. Zu Anfang des Monats müssen auch die Hecken geschnitten werden.
Trachten der Zeit. Mode
- Neuigkeiten. Von Jda Barber.
Charakteristisch für die diesjährige Sommermode iſt es , daß ſie glänzender , farbenprächtiger erscheint , als wir ſie ſeit langer Zeit geſehen. Mit der blühenden und grünenden Natur draußen, rivaliſieren die auf Hüten, Kleidern, Lingerieen 2c. angebrachten Blumendeſſins , die oft so täuschend ähnlich sind , als sollte man sie für echte halten. Alt und jung trägt die im Pompadourſtil gehaltenen Roben, die mit reichen Stickereien oder Unisstoffen gemischt , eine kleidsame und eigenartige Tracht bilden; zwar dürfte ihr keine allzu große Dauer vorauszusagen sein , da erfahrungsmäßig alle die Trachten, denen die Jahreszahl aufgedrückt ist, auch mit dem Jahre schwinden , doch wie we nige lassen sich heut bei der Toilettenwahl von praktischen Motiven leiten ! Man kauft, was modern ist und frägt wenig danach, ob es noch in nächſter Saison gelten wird. Die goldenen Zeiten, in denen die Enkelin aus Großmutters Sonntagskleid ein neues Kostüm erhielt, ſind längst vorbei. - Man sieht jest weder darauf, daß die Stoffe noch nach Jahren ihren reellen Wert haben, noch erzieht man die Jugend zu jener ehedem als Norm geltenden Einfachheit und Sparsamkeit in Toilettensachen, die sie zumeist besser kleidet , als all der neumodische Tand. Gar oft kann man sich wohl eines Lächelns beim Anblick jener kleinen Modepuppen nicht erwehren, die in den denkbar neuesten Stoffen und ſeltſamſten Façons dahin ſtolzieren, als wollten sie sagen : L'Etat c'est moi ! Vom erziehlichen Standpunkt läßt sich gar sehr gegen die jezt an den Kindern zutage tretenden Modesucht streiten , man erstaunt, wie selbst vernünftige, nach pädagogischen Grundsäßen handelnde Mütter ihre Kinder zu solchen Modekarikaturen herauspußen , dennoch heißt es mit gegebenen Faktoren rechnen und einmal, wenn 59
Ida Barber.
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auch nur andeutungsweise, der Kindergarderobe das Wort zu reden. Lettere hat sich in der That zu einem ganz selbständigen Mode- und Industriezweige entwickelt. Tausende von Schneidergeschäften, die nur für Kinder arbeiten und einen förmlichen Wettkampf eröffnen , wer denn nun die kleinen Dingsda möglichst als grands seigneurs und demoiselles herausstaffieren könne ; es macht sich in diesem Genre gar oft eine ganz raffinierte Toilettenkunst geltend, fast ist vorauszusehen, daß die sechsjährigen Schulbuben demnächst im Frack, die gleichalterigen Mädchen im Schleppkleide mit Schnebbentaille erscheinen werden. Der ehedem so praktische Kittel, in dem die Buben sich zwanglos bewegen konnten, die lose Bluse, die den Mädchen so prächtig stand, sie sind ganz out of fashion. Unsre jeunes demoiselles tragen so gut wie ihre Mütter Fischbeintaillen, Schnürmieder, bis ins Unendliche garnierte Röcke, Drapees, Plissees, wohl gar Tournüren und dem nächst - Reifröcke, man puht und garniert so lange an den kleinen, ohnehin mehr als nötig kurzen Kleidchen, bis von dem Grundstoff fast gar nichts zu sehen ist und alles Garnitur erscheint. Fig. 1 und 2 sind beispielsweise solch moderne Backfisch-
habit , das ohne Taillenschluß gearbeitet ist , nur durch einen Gürtel gehalten und mit breitem Achselkragen garniert ist. Für Damenkleider scheint man die Panierform noch beibehalten zu wollen. Fig. 9 repräsentiert eine
Fig. 3 und 4. Bébétleidchen. der beliebtesten Toiletten aus glattem Stoff. Der Rock ist unten mit breitem Plissee gedeckt, darüber dicht gezogener Puff, dem sich das Oberteil des Rockes, bestehend aus einem in Hohlfalten gelegten, unten gezogenen Volant anreiht. Die Taille ist hinten und vorn spit zulaufend auf den Hüften geschweift mit kurzer, vorn geraffter Tunique ; die
Fig. 1 und 2. Toilette für junge Mädchen . toiletten , die man (Fig. 2) mit Volants , Stickereien, Schleifen , Drapees , Tunique , Panzertaille, Fantasiekragen 2c. fertigt und das Ganze vielleicht schließlich enorm einfach findet; Fig. 1 zeigt einen ganz plissierten mit Samtlagen gedeckten Rock, to= kett gerafften Drapees, Schnebbentaille mit façoniertem Einsatz und breitem Samtkragen. Noch überpußter sind die sogenannten Bébékleidchen, (Fig. 3 bis 6) die aus Stickereien ganz zusammengesezt erscheinen. Wenigstens ist man bei ihnen heuer von dem seither beliebten Taillenschnitt zurückgekommen, man fertigt diese Röckchen möglichst geradlinig, zumeist am Hals geschlossen, doch Gar manche Arme und Beine vollständig frei. Kinderkrankheiten möchten wohl schwinden , wenn wir uns entschließen wollten , diese nudités nicht schön zu finden. Figur 3 zeigt ein neues, wegen seiner Einfachheit sehr empfehlenswertes Kinder-
Fig. 5 und 6. Bébétleibchen. Taillengarnitur beginnt erst unterhalb der Brustnähte und zeigt da einen nach unten zugespizten gezogenen Laz. Blumige und gemusterte Stoffe sieht man vielfach wie in Fig. 10 verarbeitet. Weite, vorn schräg geraffte offene Tunique , die den glatten , bis hinauf froncierten Rock zur Geltung kommen läßt,
Trachten der Beit.
Schnebbentaille mit 4-6fachen glatten Gurtstreifen, in Falten gelegter Achselkragen. Figur 11 zeigt uns eines der jetzt sehr beliebten , mit Stickereien gar= nierten Kleider. Der Rock ist mit 6 gestickten Volants , deren jedes mit einem Puff abschließt , gedeckt. Die Tunique ist in Panierform aus gestickten Stoffteilen gefertigt , die Taille mit eingeseztem , gezogenem Lak, unter welchem eine erst quer , dann senkrecht gehende Broderie gesezt ist , die unten in der Schnebbe ausläuft ; Aermel halblang mit angesezter Manschette. Regen- resp. Reisemäntel trägt man viel von
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hellgrauen, staubfarbenen Lamas oder Lodenstoffen, die Nähte erhalten wie bei Figur 7 einen farbigen Passepoil. Die Achsel- und Schulterdraperieen sind äußerst kleidſam ; man unterfüttert sie mit farbigem Taffet , rafft sie hinten und vorn ent weder mit schmalen Taffetschleifen oder mit SeidenKordons. Für junge Damen erscheint der dem Drapee eingelegte farbige Seideneinsatz, der nach oben hin reich gezogen ist und mit einer Rüsche abſchließt, sehr kleidsam. In dieser Form erscheinen die Regenmäntel , die ehedem wie Herrenschlafröcke unschön und unkleidsam gearbeitet waren , noch acceptabel. Paletots sieht man viel aus brochiertem Stoff
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Fig. 7-11. Damenkleider, Regenmantel und Baletot. (Fig. 8) vorn halb offen mit breitem Reverskragen. Die Hinterteile sind reich mit Schleifen, eingesetzten Quetschfalten und Rüschen garniert. Unsre Hüte anlangend, gewährt die Mode dem invididuellen Geschmack den denkbar freiesten Spielraum. Man sieht schmal anliegende Baretts (Fig. 15) neben hochgeschweiften, zumeist in saumon oder hellblau gefütterten abstehenden Formen (Fig. 12), fleine Kapottehüte, die nur mit einem Blumentuff gepußt werden (Fig. 14) und voll mit Schleifen und Guirlanden garnierte Gionelli- Formen, Schäferhüte mit schmalem Kopf und desto breiterem Rande werden nur mit einem 2m langen Gazeschleier umwunden , die namentlich für Badeorte sehr be liebten Helgoländer aber ohne jeden Aufput , nur aus gezogenem blumigem Crétonstoff gefertigt. Ganz aus Blumen gefertigte Hüte gelten für hochfein. Zu hellen Toiletten wählt man aus Mai-
glöckchen oder Vergißmeinnicht zusammengesette, zu dunkleren meist Veilchen oder Goldlack. In gleicher Art werden einzelne Teile der Schirme ganz mit Blumen bestreut ; überhaupt scheint es Göttin Mode heuer darauf abgesehen zu haben , unsere Echirme recht bizarr zu gestalten. Bald sehen wir 16, bald 12 oder 8 Teilungen, lettere zumeist überreich mit Plissees und Puffen garniert; die eigentlich praktischen Formen , die großen Schattenspender, werden in hübschen, fast glockenartigen Formen aus Bast oder indischem Foulard gefertigt , mit blauem oder dunkelgrünem Seidenstoff gefüttert. Von besonderer Eleganz sind die mit französischen Gestellen versehenen Schirme ; Stock und Spangen scheinen versilbert oder ver goldet und heben sich daher effektvoll von dem dicht auf das obere Schirmteil aufgelegten Seidenfutter ab. Double face- Stoffe (auf der Außenseite dunkel,
Küche und Haus.
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auf der Innenseite violett, blau oder rot), sind für diese Schirme sehr zweckentsprechend. All denen , die sich seither im Sommer über die oft in der That recht lästigen Lederhandschuhe beklagten, dürften die jest in Aufnahme kommen den leichten Gants de dentelles sehr willkommen sein; sie sind belgisches Fabrikat , entweder aus Guipure, Brüsseler Tüll oder points d'aiguilles gefertigt , zumeist mit passenden Spitzenmustern durchzogen. Figur 16 zeigt uns solch einen hohen, bis zum Ellbogen reichenden Handschuh, der ungeachtet seiner Durchsichtigkeit so elegant ist, daß er zum feinsten Anzug benutzt werden kann . Einfacher und weniger kostspielig sind die in der Farbe des Kleides zu wählenden , aus Seide filierten Handschuhe (Fig. 17), die mit abstehender, in Seide unterfütterter Manschette getragen werden. Schwarze Filethandschuhe gelten für unfein, dagegen hält man es für bon gout selbst zu hellen Toiletten schwarze Strümpfe zu tragen. - Die Zeit dürfte nicht gar fern sein, in der die vielgeschmähten " Blaustrümpfe" wohl auch noch modern werden. Freundin Mode ist eine so kapriziöse Dame, daß sie vor keiner Er zentrizität zurückschrickt. Zwar sind die femmes savantes nicht immer auf ihrer Seite , doch wer weiß, vielleicht macht sie ihnen gar eine Konzession,
Wohl nünftig Denkenden aufrichtigen Dank. sind noch genug Bethörte, die ihre Füße , wie die Chinesinnen , unnatürlich einschnüren und einzwängen , doch so lange es eine Mode gibt , wird es auch Modenarrheiten geben. Gegen diese, heißt es, wollen wir nicht die ganze Mode in Mißkredit bringen, energisch protestieren , wann und wo sie sich zeigen.
* Fig. 16 und 17. Gants de dentelles.
Küche
und
Haus.
Juli. Jahreszeit des Eßbaren. Hammel, junge Schweine , Hirsche und Rehböcke sind von vorzüglichem Geschmack. Der Hühnerhof bietet eine reiche Auswahl ; doch ist sie noch größer unter dem Federwild der Wasserhühner. Von Fischen sind Karpfen , Värse und Aeschen wieder gut. Die Gemüseproduktion hat eine noch größere Fülle, jedoch mit Ausnahme der Schwämme keine Neuheiten mehr aufzuweisen. Von den Pilzen machen wir außer den im vorigen Monat genannten Arten noch die folgenden als empfehlenswert namhaft : Ziegenbärte , Königspilze, Keizker oder Kischling, Hirschling und Schaf- Champignons , auch unter dem Namen : Heiderling, Träuschling oder Gukemuk bekannt. Die mannigfachsten Obstsorten stehen uns zu Gebote : Melonen, Pflaumen , vielerlei Kirschen , wie Herz besonders Sauerkirschen u. a. Aprikosen und Frühpfirsiche, Ananas und hier und da schon Preiselbeeren.
Fig. 12-15. Hutformen. um die Zahl ihrer Anhängerinnen zu vergrößern. Die Schuhe werden vielfach zum Kleide passend, aus farbigem Leder, Serge oder Goldlack getragen. Allgemach kommt man von der Ansicht zurück, daß nur die Fußbekleidung schön sei, die den Fuß über Gebühr einzwängt. Die schmalen, mit spigen Absähen versehenen Stelzstiefel, die einen wackeligen, ungraziösen Gang erzeugten, dürften gar bald von gefälligeren , genau nach dem Fuß gearbeiteten Formen ersetzt werden. Unsere Aerzte plaidieren schon seit langer Zeit für anatomisch gearbeitete Stiefel, welche der Bildung und Krümmung des Fußes Rechnung tragen und genau nach Maß gemacht werden. Die Wiener Schuhfabrikation , die weithin als vorzüglich anerkannt ist, sucht auch nach dieser Richtung hin ihrem Rufe Ehre zu machen. Einige Firmen liefern bereits jene anatomisch ge= arbeiteten Stiefel und ernten seitens aller ver-
Vorschrift. Schwammbrühe (Catchub). Man nimmt eine größere Menge recht frischer Pilze , pust , wäscht und zerschneidet sie ; dann schichtet man sie in einer neuen Schüssel fingerdick, streut Salz darauf und fährt so lagenweise fort. Obenauf kommt eine Handvoll grüne Nußschalen, die man eingesalzen aufbewahrt hat. Nun überspannt man die Schüssel mit einem weißen Tuch und legt einen Deckel darauf. Nach fünf Tagen zieht und drückt man den hellen Saft durch ein reines Tuch , bringt denselben in einen Pfannentopf, läßt ihn kochen und thut zwei Lorbeerblätter, 1/2 kg Kalbsgallerte , 4-5 Sardellen und einen Theelöffel Cayenne- Pfeffer dazu . Man kocht diese Mischung halb ein, nimmt die Blätter heraus und läßt die Flüssigkeit kalt werden. In einer gut verschlossenen Flasche aufbewahrt , gibt man diese Sauce zu Fischen .
Ein chemisches Experiment.
Speisezettel für Juli. 1) Kirschkalteschale. Gedämpfte Kalbsleber mit Spinat. Neue Kartoffeln mit Butter und Heringen. Spanferkel mit Salat und Erdbeeren . 2) Legierte Suppe mit Reis . Hummersalat. Hammelkeule mit geschmorten Gurken und Kartoffeln. Kirschtörtchen. 3) Fischsuppe . Rinderbrust mit Schnittlauchſauce und Kartoffeln . Vortulakgemüſe mit Bratwurst. Schnepfen mit Salat und Aprikosen. 4) Suppe mit geschnittenem Eierkuchen. Karauschen mit Buttersauce und Kartoffeln. Kalbsfrikandeau mit Spargelsalat. Gebackene Reisbirnen mit Himbeersauce. 5) Taubensuppe mit Gries. Kalbsmilch à la Villeroi. Kohlkeimchen mit Cervelatwurst. Rinderbraten mit Kartoffeln, Salat und Johannisbeeren. 6) Legierte Suppe mit Pilzen . Karpfen mit Remouladensauce. Karotten mit Schinken. Hirſchziemer mit Salat und Prünellen. 7) Suppe mit grünen Erbsen und Schwemmklößchen. Geröstete Lammbruſt mit gefülltem Kopfsalat. Wasserhühner mit gebratenen Kartoffeln und Gurkensalat. Omelette mit Preißelbeeren. 8) Französische Suppe. Aal in Biersauce mit Kartoffeln . Brechspargel mit Spickgans. Frischling mit Salat und Katharinenpflaumen. 9) Pommersche Suppe mit Kartoffeln und Ente. Blumenkohl und Krebse. Rehfeule mit Kartoffeln und Salat. Aprikoseneis. 10) Wildbretsuppe. Makkaroni in Muſchelschalen. Grüne Bohnen mit Hering. Rinderfilet mit Kartoffeln, Salat und Melonen . Gebackene 11 ) Suppe mit Fleischklößchen. Weißfische mit Sardellenbutter. Kalbsschnißel mit Kartoffeln und Spargelsalat. Flammeri von Kartoffelmehl mit Himbeersauce. 12) Flaumsuppe. Grilliertes Rindfleisch mit Sauerampfer. Wildschweinsroulade mit Cumberland Sauce. Wilde Ente mit gerösteten Kartoffeln, Salat und Kirschen. 13) Reis- Kaltschale. Steinbutte mit Krebssauce und Kartoffeln . Morcheln mit Briſolets . Hammelkarree mit Salat und Stachelbeeren. 14) Suppe mit Blumenkohl. Hefenteig- Pastetchen mit Wildragout. Kalbskeule mit Kartoffeln und Salat. Bereifte Johannisbeeren . 15) Suppe Potrock. Krebse. Große Bohnen mit Schinken. Roaſtbeef mit Kartoffeln, Salat und Preißelbeeren. 16) Kräutersuppe mit verlorenen Eiern. Fleischrouladen mit Kohlrabi. Tauben mit gerösteten Kartoffeln und Salat. Windbeutel. 17) Suppe mit Nudeln. Heringe en papillotes. Wirsingkohl mit Bratwurſt. Wildſchweinsbraten mit Kartoffeln, Salat und Melonenkompott. 18) Legierte Reissuppe. Frikassee von Kalbfleisch mit Kartoffeln. Gebratene Schnepfen mit Salat und Himbeeren. Kalte Mehlspeiſe à la Portugaise. 19 ) Rotwein Kaltschale mit Sago . Karauschen mit Dill und Sahnenſauce, dazu Kartoffeln . Telto: wer Rüben mit Spickgans . Hammelkeule mit Gurkenfalat und getrockneten Pflaumen .
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20) Fischsuppe . Rinderbrust mit Kräuterſauce Kartoffeln und Sellerieſalat. Blumenkohl mit ge= backenen Hühnern. Karthäuserklöße mit Kirschen. 21 ) Suppe mit grünen Erbsen und Einlauf. Kalbszungen à la Tartare. Spargel mit Morcheln und Krebsen. Entrecôte von Rindfleisch auf Hamburger Art mit gebratenen Kartoffeln , Salat und Brünellen. 22) Suppe mit Leberklößchen. Gebratene Weißfische mit Salat und Kartoffeln . Glacierter Kalbsrücken mit Makkaroni. Rote Grüße mit Vanillenſauce. 23) Suppe Julienne. Blanquette von Kalbfleisch mit Reisrand . Schneidebohnen mit Hering. Hirſchbraten mit Kartoffeln, Salat und Johannisbeeren. 24) Kaltschale von Erdbeeren mit Wein. Karpfen mit Butter und Kartoffeln . Karotten und grüne Erbsen mit Cervelatwurst. Schweinsfilet mit Salat und Preißelbeeren. 25) Suppe mit Blumenkohl. Geschmorte Kalbsleber mit Kartoffeln und Gurkensalat. Kochsalat mit Kalbsſchnißeln . Früchte in Weingelee. 26) Wildsuppe. Mayonnaise von Fisch. Wirſingkohl mit Briſolets . Rinderbraten mit Kartoffeln, Salat und sauern Kirschen. 27) Legierte Suppe mit Pilzen. Rinderzunge mit Madeiraſauce und Kartoffeln . Große Bohnen mit Schinken. Gebratene Ente mit Salat und Himbeer. 28 ) Suppe mit Graupen. Hummer mit Remouladenſauce. Rinderfilet à la jardinière mit Gurkensalat. Auflauf von Kirschen. 29) Himbeeren-Kaltschale. Klops von Kalbfleisch mit Champignons -Ragout . Artischoken mit Zunge. Rehbraten mit Kartoffeln , Salat und Quitten. 30) Suppe à la reine . Fischwürstchen mit Madeirasauce. Geschmorte Gurken mit Hammelkoteletts. Gebratene Wasserhühner mit Salat und Johannisbeeren. 31 ) Suppe mit Griesschnitten. Omelette mit Kalbsnieren. Friſchling mit Kartoffeln und Bohnensalat. Aprikosenbrötchen.
Sin chemisches Experiment. Gras aus Papieraſche wachsen zu laſſen. Ein hübsches , zur Erheiterung in ge= selligen Kreisen viel beitragendes Experiment wird auf folgende Weise ausgeführt. Zweifach chromsaures Ammon wird in Wasser gelöst , ge= wöhnliches Schreibpapier in diese Lösung getaucht und bei nicht zu hoher Temperatur getrocknet. Das Papier wird dann in beliebig große Stücke zerschnitten und jedes Stück fächerartig gefalten. Ein solcher kleiner Papierfächer wird an der Spiße mit einer Nadel auf ein Brett senkrecht befestigt und an ſeinem breiten Ende angezündet. Das Papier fängt an zu glimmen, es bildet sich durch die Papierasche zusammengehalten grünes Chromoryd, das dem Gras ähnlich sieht. Die Adern darin werden durch die Falten gebildet , es empfiehlt sich daher, dieser möglichst viele zu machen.
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વે
Bum
Kopfzerbrechen.
Schachpartie Nr. 3. In folgender, noch nicht in Deutschland veröffentlichten Partie gibt Paul Morphy seinem Gegner den Damenturm (Turm auf al ) vor, welcher vorweg vom Brette zu entfernen ist. Abgelehntes Königsgambit. P. Morphy. Arth. Napoleon. P. Morphy. Arth. Napoleon. Schwarz. Schwarz. Weiß. Weiß. f6-h7 e7 -e5 1. e2- e4 17. Lg5 - h4 Ld8 - f6 c5 Lf8 2. f2- f4 18. Lh4- g3 b7-c6: b8-c6 19. b5- c6: 3. Eg1 - f3 Dd7-c7 Lc5-b6 20. Ed2- c4 4. b2-b4 Sh7-f8 Sc6- d4 21. h2- h3 5. b4- b5 22. d4 - e5 : Lf6-e5: Lb6-d4 6. f3 - d4 : d6 - e5 : 2d4-b6 7. c2- c3 23. Lg3 - e5 : 24. f5 - f6 Dd8 -e7 Ta8-d8 8. Lf1 - c4 Th8-g8 d7 -d6 9. d2 -d4 25. f6 - g7: Lc8-e6 26. g7 -f8: + Tg8-f8 10. Rochiert T18 -h8 27. Dd3 - e3 De7-06: 11. Lc4- e6: Th8 -f8 28. De3 - c5 Dc6-d7 12. f4- f5 Dc7- e7 c7-c6 29. Tfl-f6 13. Dd1 - d3 30. Dc5 - c6 + De7 - d7 Sg8-16 14. Rg1- h1 Lb6-d8 31. Ec4- d6 + Re8-e7 15. Lcl - g5 h7-h6 16. Sb1- d2 32. d6- f5 + Aufgegeben .
Silbenrätsel. Die Mitternacht zog näher schon, 3n süßer Ruh' schlief Bankier Cohn, Da öffnet leise sich die Thür, Die Erste langsam schleicht herfür. Sie öffnet leis' des Bankiers Spind Und nimmt sich ' raus das Geld geschwind. Sie hatte fast ihr Werk vollbracht, Da ist der Reiche aufgewacht. Die Erste scheu nun um sich sieht, Verzweifelt sie die 3 weite zicht, Doch eh' Herr Gohn um Hilfe schreit, Die Erite ist wer weiß wie weit. So hat die Erste in der Nacht Die Ganje tollkühn doch vollbracht.
Auflösungen zu Heft 9. Silbenrätsel: Leo, Del. - Logogryph : Augenblick. - Homonym : Au. 1 Anagramm: Eule, Leu. - Rebus: Rhätische Alpen. Charade . Eichendorf.
Anagramm. Zu jedem Schiff gehöre ich Mein letztes Zeichen vorne an Gestellt, braucht manche Pflan ze mich, Daß hoch hinaufsie wachsen fann.
Bahlenrätfel. Nimmst du 1, 2, 3 und 4, Zeigt sich dir ein schwarzes Tier, Ist die 1 am letten Plak, Dientdas Wort dem Gegen satz.
Schlüsselrätsel
Rätfel. Kurz bin ich, dann bin ich wieder lang, Ich werde ge messen mein Leben lang ; Ich steige, wieder darauf, ich fall' Oft schredlich mein Steigen, oft schrecklich mein Fall. Rebus.
Suss
Die Ranken sind in der Reihenfolge zu lesen, wie die Ziffern angeben , und stets von der Wurzel aus.
Charade. Die Erst' ent steht aus Feuers Glut, Die Zweite ra get aus der Flut, Das Ganze ist ein mächt ges Reich Wer kündet mir die Lösung gleich?
Rechenaufgabe. Ein Weinhändler, dem immer viele Weinflaschen gestohlen wurden, ohne daß er wußte, wieviel ihm fehlten, ließ, um dies stets zu wissen, einen Kasten mit 8 Fächern machen, etwa so: 3
1
SS 5
SS 6
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SS
Lucke
In der Mitte war kein Fach. In jedes Fach setzte er eine Anzahl Flaschen, jedoch so, daß die Summe der Flaschen einer Reihe stets 9 betrugen; also Fach 1. 2. 3. zählten zusammen 9 Flaschen, ebenso 1. 4. 6.; 3. 5. 8 ; 6. 7. 8. Im Ganzen waren in allen 8 Fächern 32 Flaschen. Der schlaue Dieb aber, der ein Diener des Händlers war, nahm sich 2 Flaschen, versetzte aber die andern so, daß jede Reihe immer noch 9 zählte. Bald nahm er wieder 2, versetzte sie ebenso, dann nochmals 2, dann noch 2, und dann nochmals 2 Flaschen. Jedoch versetzte er sie jedesmal so, daß jede Reihe immer 9 betrug ; also erst waren es 32, dann 30, dann 28, dann 26, dann 24, dann 22. Als es noch 22 Flaschen waren, ward er gefaßt und weggejagt. Nun ist aus zurechnen, wie er jedesmal die Flaschen in den Fächern verteilte, ohne daß man es merkte, da ja jede Reihe 9 Flaschen betrug.
Die Verzehrung schlagender Wetter. - Ein Angel Velociped.
Die Verzehrung schlagender Wetter.
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Oberfläche der Glühkapseln vernichtet , ohne daß lettere ihre Temperatur dadurch wesentlich erhöhen. Der Apparat funktioniert stets ruhig ohne Detonation und verzehrt das bedeutende Quantum von 1 bis 1,5 cbm explosibler Schlagwetter pro Minute oder 1500 bis 2000 cbm pro 24 Stunden. Alle 24 Stunden ist das Bassin mit Ligroin zu füllen ; in der Zwischenzeit erfordert der Apparat keine Bedienung.
Das entseßliche Grubenunglück bei Bochum, bei dem in der Zeche „ Pluto " 63 Menschen ihr Leben einbüßten, 8 schwer und 30-40 Mann leicht verwundet wurden, gibt folgender Notiz eines unserer Mitarbeiter ein attuelles Interesse. Der größte Feind des Bergmanns sind die sogenannten schlagenden Wetter , jene explosiblen Gase, die, entzündet, mit Ein Kugel- Velociped. furchtbarer Gewalt alles zerstören, was ihnen im Einen originellen VorWege ist. Man hat schon schlag macht ein franzö früher verschiedenartige sischer Velociped - FabriVersuche gemacht , die kant in Betreff der Herstellung eines neuen gegen Grubenarbeiter diese schlagenden Wetter Vehikels zur Fortbewe zu schützen. Am zweckgung, nachden Prinzipien des Velocipeds. Er denkt mäßigsten sind noch die sich eine hohle Kugel von Sicherheitslampen, deren durchsichtigen, einem früheste Davy konstruierte, widerstandsfähigen und allein auch sie gewähren nur dann Schuß , wenn unzerbrechlichen Stoff, derBergmann nicht leicht1½ - 2 Meter im Durchmesser. Die Innenfläche Kugel Velociped. Fig. 1. sinnigerweise den Behäl ist sorgsam poliert, so daß ter öffnet. Leider ist lezteres häufig genug der Fall und schreckliche Kata- zwei ebenfalls gut polierte kleine Kugelnwiderstandslos darin umherlaufen können. Laufen diese Kugeln strophen häufig die Folge. Unter solchen Um ständen scheint ein neuer Apparat , den Guido nun einerseits an der Wand jener Innenfläche, so Körner sich patentieren ließ, von größter Wichtig- anderseits in zwei Metallschalen , die durch einen keit. Er hat den Zweck, Eisenstab verbunden sind, in dessen Mitte ein Sit die schlagenden Wetter zu „verzehren". Er beruht mit Lehne angebracht ist. auf gewissen Eigenschaf Durch eine Deffnung, die nach gemachtem Gebrauch ten der Platinmetalle und wieder zu verschließen ist, besteht im wesentlichen aus steigtder Velociped- Läufer einerLigroinlampe, deren Brennerrohre Asbestkapin die große Kugel ein, seln tragen. Diese Asbestnimmt Plaß auf dem Sih kapseln werden bis zur und bewegt sich durch gröRotglut erhitzt und der Bereoderkleinere Schritte, Apparat dann in die die er ausführt, schneller oder langsamer fort. Grube gebracht. Die Rotglut wird durch das mitStemmt er die Füße auf den der Erde zunächst lietelst der Dochte nachgesogene Ligroin dauernd genden Punkt, so hält die unterhalten, ohne daß die. Maschine an, neigt er sich in entsprechender Weise, Kapseln jemals die Weißso gibt er ihr eine andere glut erreichen. Es ist also jede Gefahr einer als die zunächst eingeschlagene Richtung. Wie Entzündung der Schlagwetter an den Glüh der Fabrikant behauptet, ausgeschlossen, Kapseln würde die Kugel auch und selbst wenn die Gase kleine Flüsse ohne Gefahr Kugel Velociped. Fig. 2. überschreiten. Die Luft plöslich in einem Bläser oder aus dem „Alten Mann" in großen Massen innerhalbder Kugel würdefür geraume Zeit ausreichen austreten, können sich dieselben an den Glühkapseln und könnte durch Deffnen der Thüre stets erneuert nicht entflammen. Der Apparat kann daher ohne werden, wenn man es nicht vorzöge, eine Luftzufuhr Bedenken in jedes Quantum Schlagwetter, selbst in durch entsprechende Durchlöcherung der Kugel herbeizuführen. Ueber die Stellung der das Velociped beexplosibles Gemisch, eingehängt werden. Die Schlag wetter werden durch dunkle Verbrennung auf der wegenden Personen geben Fig. 1 u. 2 Aufschluß.
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Das Naumburger Kirschenfest. - Das Inftige Quartett. - Der gestirnte Himmel im Monat Juli.
Das Naumburger Kirschenfeft. Eine Erinnerung an den dreißigjährigen Krieg finden wir in dem Kirschfest, welches noch alljährlich im Juli von der Schuljugend zu Naumburg auf der gefeiert Vogelwiese wird. Es findet dabei ein Schießen mit der Armbrust statt, wofür jede Klasse einen besondern Vogel hat und den Schluß bildet eine reichliche Kirschenbe wirtung. Später wird auch ein MädchenO.Seitz 10Suits! Kirschfest gefeiert und dies ist der eigentliche Tag. Immer am Das luftige Quartett. (2.) Das luftige Quartett. (1.) Donnerstag vor Jakobi (25. Juli) werden die weißgekleideten Mädchen müssen. Da schickten die Bürger am 28. Juli ihre erst auf den Markt, dann in die Kirche geführt, jüngeren Kinder , 238 Knaben und 321 Mädchen, wo sie ein Lied singen und hierauf nach der Vogeldie letteren in weißen , schwarz bebänderten Kleiwiese ziehen. Dort begrüßt dieselben ein Schullehrer, dern zu dem feindlichen Feldherrn hinaus, der die der über die Bedeutung des Tages spricht, worauf Kinder vor sich führen ließ und dem sie, um Gnade die Bewirtung mit Kirschen folgt. Die kleinen flehend, zu Füßen fielen. Prokop nahm die Kleinen Knaben führen dabei nach einer immer gleichmäßig freundlich auf , ließ ihnen von böhmischen Musiwirbelnden Trommel einen altherkömmlichen Tanz kanten zum Tanz aufspielen , bewirtete sie mit Musik Kinder wie kehren unter Abends die aus. Kirschen, Birnen, Schoten und Wein und hob am nahe dem aus grünen mit ge= andern Tage die Belagerung auf. , beim Auszug und legenen Buchholz gebrochenen Zweigen versehen unter stetem Trommelwirbel und : Heisa Viktoria ! "Rufen in die Stadt zurück. Der geftirnte Simmel im Monat Juli. Der Ursprung des Festes wird auf den HussitenUm die Mitte dieses Monats glänzt Wega in führer Prokopius zurückgeführt , welcher Naumburg der Leier nahe dem Scheitelpunkte und in klarer 1432 belagerte. Die Stadt hatte mehrere Stürme dunkler Nacht erkennt man, wie die Milchstraße sich glücklich abgeschlagen, war aber ausgehungert wor gleich einem ungeheuren , mild leuchtenden Bogen den und stand auf dem Punkte , sich ergeben zu etwas östlich vom Scheitelpunkte von Norden gegen Süden über den ganzen Himmel erstreckt. Im Osten kommt das Sternbild des Wassermanns allmählich über den Horizont herauf, ebenso im Nordosten der Pegasus und Andromeda. Man findet die lettere leicht auf, wenn man eine Linie vom Nordpol des Himmels über die Kassiopeia gezogen denkt und diese Linie gegen den Nordostpunkt des Horizonts hin verlän gert. Im Westen ist der das Sternbild Jungfrau im UnterSeit Peitz gehen und der große immer Bär neigt sich Das fuftige Quartett. (3.) tiefer. Das luftige Quartett. (4.) Verantwortl. Herausgeber : W. Spemann in Stuttgart. Redakteur : Joseph Kürschner ebenda. Nachdruck, auch im Einzelnen, wird strafrechtlich verfolgt. Uebersetzungsrecht vorbehalten. Drud von Gebrüder Kröner in Stuttgart .
Harro
Harrsen.
Eine Warschen- und Alpengeſchichte in ſieben Bildern. Bon
Hermann Allmers.
I.
Heimat mehr begeiſterten hätte ich wohl schwerlich finden können. “ n einem heiteren Septembertage " Und ich schwerlich einen liebenswürdigeren des Jahres 1862 sah man gegen Sonnenuntergang zwei und empfänglicheren Fremden," entgegnete der rüſtige Männer nordwärts auf | junge Landwirt. Wiederum stand Werneck betrachtend still mächtigem Seedeiche dem nordfriesischen Dorfe Bantum zu- und blickte jegt entzückt zum westlichen Himmel. „Sehen Sie doch einmal die prächtigen schreiten , dessen uraltes Kirchlein von rohem Erdsteingemäuer ihnen in der Entfernung einer Wolkenbildungen dort, das sieht man nie im halben Stunde hell und freundlich von seinem Hochlande. Welche Schönheit der langgezogenen Linien , welche Feinheit in den Uebergängen Werfthügel entgegenwinkte. Oft hielten sie an und ließen ihre Blicke der Farbentöne und dort das purpurne Gebirge mit den Goldſäumen auf dem goldzur Rechten über das Wattenmeer mit seinen grünen Himmelshintergrunde, und wie zart derInseln und Halligen und zur Linken über die grüne herdenbelebte und von einzelnen gelben selbe nach oben hin allmählich sich in das Kornfeldern unterbrochene Weidefläche schweifen, Blau des Zeniths verliert. " "Was, was sagen Sie da , der Himmel voll Behagen ob des köstlichen Herbsttags, dessen Sonnenglanz und Himmelsbläue die grün?" entgegnete sein Begleiter . „ Aber wahrganze Gegend verklärte. Ein mit einem Reise- haftig, jezt seh' auch ich's, hätt' mein Lebtag foffer bepackter Bursch folgte. nicht geglaubt , daß der Himmel grün sein fönnte." Es gehörte eben kein scharfer Blick dazu, ?? Aber nun erst die Wirkung des Ganzen um in dem einen sofort den behäbigen und gebildeten Marschbauern zu erkennen, im andern auf der spiegelnden Meeresfläche ,“ rief der aber den Fremden und Neuling , über dessen Maler entzückt aus . ?? Sehen Sie einmal, die ganze Farbensfala des Himmels wiederholt sich Beruf der braune Samtrock , sowie Mappe, Feldstuhl und Malerschirm ebenfalls keinen auf der Flut , und doch wieder gleichsam in Zweifel aufkommen ließen. etwas anders gestimmter Tonart. Das ist ja ganz herrlich !“ Es war Otto Werneck, deſſen vielseitiges Talent und Fleiß bald im Porträt , bald in „ Gewiß , das ist sehr schön," sagte, ebenGenre- und Schlachtenbildern, bald wieder in falls im Sonnenuntergangsschauspiel versunken, feingestimmten Landschaften sich bereits vielfach der Landwirt. "„ Aber offen muß ich's gestehen: fundgegeben hatten und selten eine deutsche Wie schön es ist , sehe ich erst jezt, nachdem Ausstellung unbeschickt ließen. Sie mir's gezeigt und erklärt haben. Ge„Und nie hätte ich doch geglaubt, “ sagte freut hab' ich mich allerdings schon darüber, er jezt nach einer Pause stillen und freudigen daß die Sonne so untergeht, das gibt morgen Betrachtens , „ daß Ihre ſo einförmigen Marschen | gut Wetter zum Hafer einfahren und ich bin mir ein solches Intereſſe bieten , ja selbst noch sehr damit zurück, denn wiſſen Sie, wenn solche stimmungsvolle Schönheit entfalten könnetwas am Himmel passiert, denken wir Landleute vor allem dabei , was es uns bringen ten. Aber glücklich kann ich mich auch schätzen, wird und dann hinterher erst wie's von Farb' in Ihnen sofort einen solchen Führer zu treffen. Einen besseren, einen kundigeren und für seine und Gestalt ist. Aber jezt sehen Sie einmal 60
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Hermann Allmers.
dort hin,“ fuhr er fort, landeinwärts zeigend, | Bantum und kaum zehn Minuten dahinter liegt jene kleine Erhöhung ist die Wurt , wo der Wehlhof. Verfehlen können Sie ihn gar Bischof Ansgar die erste Kapelle hier im Lande | nicht.“ gebaut haben soll , die aber mit samt dem " Gibt's viele so große Gutsbesizer hier ganzen Dorf, das da gelegen hat , in der in der Gegend wie Harresen einer ist ?" „Bauern wollen Sie doch wohl sagen, großen Allerheiligenslut fortgespült ist. Ja so eine echte Sturmflut, die müßten Sie einantwortete der Landwirt mit ironischem Lächeln. mal in unſeren Marschen erleben. Dann sieht's Harresen mag ſich auf seinen Reiſen vielleicht Gutsbesitzer nennen und sich des Bauern hier anders aus. Wenn ein tüchtiger Nordwest die Flut gegen den Deich treibt, daß er zittert | schämen . Er bleibt's darum doch und thät besser und bebt vom Wogendrang, wenn der Sturm stolz darauf zu sein , daß er ein Marschbauer ist. “ einen schier zu Boden wirft und den Wellen?? Sie sind selbst ein solcher, wie ich merke, schaum weithin ins Land schleudert , daß die Dächer davon weiß sind , als wären sie beund stolz auf das , was Sie ſind. “ schneit. Das müßten Sie sehen, das ist riesig. “ „Wenigstens dank ich Gott , daß ich kein Geestmann "„ Das muß prächtig sein , das muß ich Geestmann bin. Mein Hof ist freilich nicht viel fleiner und schlechter als der Wehlhof, sehen. So bleibe ich hier bis zum nächsten Deichbruch," rief Werneck heiter dazwischen. aber stolz darauf bin ich doch gerade nicht.“ Dann lassen Sie sich hier nur begraben, „Und wären Sie's , wär's ja , wie Sie denn sonst möchten Sie's nicht abwarten können. selber sagten, auch in der Ordnung . Ein Gut besißen kann jeder, der so glücklich ist, eins Unsere Deiche sind endlich so hoch und so zu bekommen, aber ein Gut bebauen erfordert stark , daß wir es ruhig mit der See aufnehmen dürfen. Gleich kommen wir aber Kenntnisse. Also steht der Bauer des Bodens an die Stelle, wo in der Weihnachtsflut das jedenfalls höher im Range als der bloße Besizer." Wasser einbrach. Sehen Sie dort, wo innerhalb des Deichs der kleine Kolk ist , den die So ist es, gerade die richtige Ansicht von Gewalt der einbrechenden Wassermasse in den der Sache haben Sie da. Und dazu sind wir von je freie Bauern und sind es gewesen, so Boden eingewühlt hat. In allen Marschen gibt es solche Kolke , solche Unglücksdenkmale. lange unsre Marsch aus der See geschaut hat. Wehlen heißen sie hier zu Lande, in anderen Gutsherren und Gutspflichtige , wie's da in Marschen nennt man sie Braken. “ Holstein oder gar Gutshörige, wie's in Mecklen„Und von einer solchen Wehle hat auch burg gab , kannte man gottlob nie bei uns , und der Taglöhner ist hier geradeso frei, wohl der Wehlhof seinen Namen erhalten ?" „Ohne Zweifel , er liegt auch ganz dicht wie der Hofbesizer, der ihm Arbeit gibt. Das mag einem wohl in der Seele freuen. Von an der größten, die wir haben. Kennen Sie Adel war nimmer eine Spur im Lande. “ den Wehlhof ?" " Aber von Adelstolz ," warf Werneck ein. " Noch nicht, doch ich will ihn kennen lernen. „ Nun wie Sie's nennen wollen . AllerIch bin gerad auf dem Wege, seinen Besitzer, dings dürfen wir uns gerade so gut halten meinen Reisefreund Harro Harresen, mit meinem wie Edelleute. Fürstendiener ist noch keiner Besuch zu überraschen.“ „ Ahnte ich's doch gleich, wie Sie sagten, von uns gewesen. Lange Jahrhunderte waren Sie seien ein Maler. Schon mehrere sind wir nur dem deutschen Kaiser Unterthan und hier gewesen und stets auf dem Wehlhofe. selbst dann brauchten wir nicht einmal HeerWissen Sie , Handwerksburschen , Hausierer, folge zu leisten , wenn er Krieg führte, weil Viehhändler und Handlungsreisende ſind ſonſt wir Frieſen einen ewigen und ganz andern die einzigen Fremden , die sich bis zu uns Krieg mit Wind und Wogen zu bestehen versteigen, daß Sie aber keiner von all denen hatten. Darum hat Nordfriesland auch den waren, sah ich auf den ersten Blick, als Sie Reichsadler im Wappen und eine Zahl alter Bauergeschlechter führen ihn ebenfalls. Nur zu mir stießen." der deutsche Kaiser sollt' unser Oberherr sein, „Wie weit habe ich denn bis zu meibedeutete der Adler." nem Freunde ?" „Etwa eine halbe Stunde ist's noch bis „ Mir ist's gerad als ob ich schon meinen.
Harro Harrsen.
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Es Harro höre," sagte Werneck. „ Mitten in der | anzusehen , wie tüchtig er dran ging. gab bald keinen beſſeren Landwirt, keinen umSchönheitswelt Italiens ward er oft nicht müde, seine freie Marschenheimat am Nordseestrande sichtigeren Viehzüchter weit und breit in der Marsch. Dazu nun seine allgemeinen Kenntzu preisen. Ja, seine mächtige Begeisterung dafür steckte mich an und erweckte fast eine nisse, seinen Eifer für gesunden Fortschritt, seine Klarheit, seine Beredsamkeit, seine SittenSehnsucht in mir, Ihre Marschen kennen zu Nimmer genug konnt' ich ihm zulernen. reinheit und Herzensgüte, ich sage Ihnen, so hören, so prächtig konnt' er schildern. Ein solch einen zweiten gab's nicht wieder.“ „Sie werden ja ganz begeistert ," warf Heimatsgefühl war mir noch nie vorgekommen. Werneck dazwischen . Nun, Sie werden ihn ja auch so kennen ?“ Ob ich ihn kenne. Ich hätte bald ge= „Das waren wir alle von ihm und bald sagt: leider. Wir waren zusammen auf der war er der Erste und Einflußreichste unter Bürgerschule in Husum, wohnten dort in einem seinesgleichen. Natürlich wurden ihm schon Zimmer und auch noch später war ich lange allerlei Gemeindeämter übertragen und in sein einzigster Freund und bei Gott, auch sein | unserem landwirtſchaftlichen Verein wäre er wahrer. Aber das ist vorbei , lang vorbei, ist | Präsident geworden, wenn er nicht allzu jugendlich gewesen wäre . Er selbst aber stiftete aus, gründlich aus, " sagte der Landwirt , indem plöglich seine Miene und Stimme einen mit Hilfe verschiedener Lehrer einen Bildungsverein , eine kleine Gemeindebibliothek voll solchen Ausdruck von Grobheit annahm , daß schöner belehrender wie unterhaltender Bücher der Maler davon betroffen ward. und hielt gar im Winter öffentliche Vorträge, "Ich sehe, Sie sind nicht gut auf ihn zu sprechen. Darf ich den Grund davon nicht | bald landwirtſchaftlicher, bald naturwiſſenſchaftwissen ?" licher Art , am liebsten aber aus der alten „Warum nicht, aber das ist eine lange Geschichte unserer Marschen. Das war ein Genuß, sag ich Ihnen, so klar, so kräftig und unerquickliche Geschichte ; die Geschichte seines ganzen Lebens möcht ich' sagen, " antwortete begeistert hab' ich noch keinen anderen Redner nun mit fast traurigem Tone der andere. gehört. Das kam anders, als wir's von der „ Die eben möcht' ich erfahren , " sagte | Kanzel zu hören gewohnt waren . Vor allem, Werneck. „Zu mir hat er nur von seiner wenn er gegen das dänische Joch predigte. Wie glühend sein Haß damals gegen die Jugendzeit und seinen Reisen erzählt. Ich nehme aber das größte Interesse an ihm. Dänen war, wie sehnsüchtig er hoffte, einmal Wie gern höre ich darum , was andere von die Waffen gegen den verhaßten Feind schwingen ihm sagen. Sei es was es sei . Bitte, seien zu können und an meiner Seite ins Feld zu ― denn ich war auch ihm der Liebste Sie ganz offen und wahr gegen mich, seien ziehen es dreht sich mein Herz Sie versichert, ich werde Ihre Offenheit nicht | und Vertrauteste Vertrauteſte mißbrauchen." im Leibe herum , wenn ich jetzt daran denke . „ Der Versicherung bedarf's hier nicht. Sie Und welche Gewandtheit und Kraft er beſißt, welch ein schöner Kerl er ist, müßten Sie doch dürfen ihm immerhin sagen , was Sie von mir über ihn erfuhren und dasselbe erfahren auch wiſſen. “ " Wohl weiß ich das , ich hab' ihn auch Sie hier von jedem.“ einmal gemalt. Ein wahrer Siegfried ist er "Ist er vielleicht hochmütig geworden ? an Schönheit und Gestalt. " Man schien mir's schon anzudeuten , als ich ?? Und doch wie weich von Gemüt er zugleich mich in Husum nach ihm erkundigte.“ war , weiß auch keiner besser als ich. Maß„Das wohl gerade nicht, aber wohl Eitelkeit und Wankelmut ist es," antwortete der los war sein Schmerz als seine Mutter starb. Landwirt. " Sein Sinn wendete sich , sobald Es war schier, als ob er auf einmal alle Luſt er die große Welt gesehen hatte. Wie mir zum Leben und zu seinem Berufe verloren hätte. Da kam nach einem Jahre durch den das leid thut , wie ich ihn früher verehrte, welche Hoffnungen wir alle auf ihn bauten. Tod seines alten Onkels Hansen die große - ich kann's Ihnen gar nicht beschreiben. Erbschaft. Plötzlich und zu aller UeberAls er nach dem Tode seines Vaters noch | raschung verkaufte er in öffentlicher Versteigesehr jung den Wehlhof antrat, war's eine Lust rung Pferde und Viehstand , entließ seine
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Hermann Allmers.
Leute, verpachtete seine Ländereien auf mehrere Jahre und verließ den Wehlhof, um zu reisen, während seine sogenannte Tante Elka nebst ein paar alter Dienstboten das Haus bewohnte. Er ist in England und Frankreich , in der Schweiz und Italien gewesen, ich glaube gar in Jerusalem." „Und warum sollte er's denn nicht ", fiel Werneck ein.
„Mich wundert aber , daß er dann nicht lieber fortzog," verseßte der Maler. „Das wundert mich gar nicht, denn tro alledem ist er doch im Grunde des Herzens ein echter Sohn der Marsch geblieben. Und so einer zieht nimmer nach der Geest . Wenigstens keiner aus unserer Marsch.“ Werned mußte lächeln. „Nun aber kam das Jahr 1848, der lang ersehnte Kampf gegen den alten Feind brach „Wir nehmen's ihm auch gar nicht übel, " Das war eine Zeit , ein Frühling! los. fuhr der Landwirt fort. „ Leider kam er nur nicht als der alte zurück. Er war großartig ge- Damals hab' ich Harro zum Lezten gesprochen. Fast unsere sämtlichen Bekannten traten gleich worden , wie man bei uns zu sagen pflegt. Da mir ins Wasmersche Jägerkorps ein. Der Umgang mit seinen alten Jugendgenossen konnt' ich's wirklich nicht laſſen auch ihn wieder genügte ihm nicht mehr . Unsere Lebensweise, unsere Zustände, der ganze Umgangston, alles aufzusuchen, seine Hand zu ergreifen, ihn auffand er langweilig, kleinlich, ich hätt' bald ge- | zufordern , ja ihn zu beschwören bei unserer sagt ,gemein ' . Dagegen war er bald mit alten Freundschaft und bei seiner Ehre und ihn an eine Stunde zu mahnen , in welcher allen adligen Gutsbesißern auf der Geest im er selbst einmal mir und anderen aufs feierVerkehr, und was das Schlimmste war, selbst lichste Handschlag und Wort abgenommen hatte, mit ſolchen, die als die eifrigſten Dänenfreunde nicht an seiner Seite zu fehlen , wenn der galten, ja mit Dänen ſelbſt und hielt sich gar heilige Kampf , den er so heiß ersehnte , loswochenlang in Kopenhagen auf. Daß ein brechen werde. paar Staatswagen und ein Kutscher mit Goldtressen nicht länger fehlen durfte, versteht sich „Er stand gerade im großen Thorweg, der Was meinen Sie, auf den Hof führt. von selbst. So dauerte es denn nicht lange kein Wort, auch kein einziges hatte er zu erund alle seine alten Bekannten hatte er sich widern. Stumm stand er da , den Blick am entfremdet. Ich freilich war der lezte darunter, doch auch gegen mich war er längst Boden geheftet , aber rot im Gesicht vor Scham, das war er wenigstens . nicht mehr so offen und herzlich wie einst. " Endlich brachte er dann mit unsicherer Dagegen gab's anderen Besuch aus allen Stimme ein paar Redensarten hervor , daß Gegenden genug bei ihm . er leider nicht könne und nicht dürfe, er hätte Da plötzlich verlobte er sich mit der Tochter des dänischen Baron Eckholm und damit war sein Wort darauf geben müssen, sich nicht am Kampfe zu beteiligen, die Hand seiner Braut die allerlegte Trennung zwischen ihm und seinen Heimatsgenossen vollzogen." nämlich stehe auf dem Spiele und wenn er „ Ich weiß es , er hatte sie in Gastein sein Wort, das er seinem künftigen Schwiegerkennen gelernt." vater gegeben habe, breche, doch auch seine Ehre. " Ach, und sein altes, aber so behagliches ,,,Sprich mir nicht noch von Ehre. Wort und noch ſo festes elterliches Haus riß er ſogar | und Handſchlag nahmst und gabſt Du einst. schrie ich ihm Ich pfeif' auf deine Ehre ― ein und ließ durch einen Architekten einen fast schloßartigen Bau aufführen mit groß- ins Gesicht, kehrte ihm den Rücken zu und artiger Einfahrt, Türmchen und Erkern und, ging meines Wegs . " Seitdem hab' ich noch kein Wort wieder wie ich hörte, prächtigen Räumen im Innern, das er dann mit weitläufigem Park umgeben mit ihm gewechselt. Kaum grüßen wir einander. Nun , und wie schmachvoll der herrlich ließ. Natürlich so eine Baronin durfte ja nicht in einem Bauernhause leben. Von all der Herrlichkeit habe ich freilich noch soviel wie nichts gesehen , hörte indes , daß es ihm doch nicht ganz leicht geworden ist, sein altes Vaterhaus umzureißen. Aber, was thut man nicht einer Baronin zu Gefallen. "
begonnene Kampf für uns endete , weiß ja die Welt.
„Während des ganzen Kriegs soll er nicht auf dem Wehlhofe gewesen sein. Wer weiß wo . Vielleicht bei den Eckholms . Doch nun kommt das Beste. Nach einem Jahre , als
Harro Harrsen.
das Schloß fertig, der Park angelegt, die Ausstattung aufs glänzendste hergerichtet ist, da - erhält unser hochstrebender Freund urplöt lich und zu jedermanns Gaudium, was meinen Sie wohl ?" „ Einen nachträglichen Korb doch nicht ?“ „Einen Korb , einen so ausgezeichneten und wirksamen , wie nur je einer auf Erden ausgeteilt wurde. „Es hieß einfach wegen eingetretenen Familienverhältnissen könne leider nichts aus der Heirat mit dem Bauern werden, das hieß nämlich auf deutsch, wegen einer plößlich eingetretenen Verlobung der Edlen und Getreuen mit einem hochadligen Better auf Seeland , ich glaube gar einen Grafen. Das war das Ende vom Liede. Sie können nicht glauben, welch Hohngelächter sich darob im Lande erhob. Das war Dänentreue." „Hören Sie," sagte der Maler nach einer Pause ernsten Nachdenkens, "nach allem, was ich da von Ihnen vernommen , verdient unser armer Freund weit mehr Ihr Mitleid als ſolchen Groll und Haß , wie Sie gegen ihn an den Tag legen." „Von Haß gegen ihn ist keine Rede bei mir, aber obwohl er mich selbst oft dauern mein Groll wird nicht so leicht erwill
löschen. Wer sich mit den Erzfeinden unseres mit dem habe ich Landes befreunden kann nichts zu schaffen." " Sie sind mir aber ein richtiger Dänenhaffer." „,, mein Herr, nicht mehr und nicht weniger als jeder andere ehrliche Kerl im Lande."
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in den bleigefaßten Scheiben des alten Granitfirchleins erglänzte. Hier wollte sich der Landwirt verabschie den, um landeinwärts zu gehn. Werneck überreichte seine Karte. Und darf auch ich wissen, wem ich solch offenen Bericht über meinen Reiſefreund Harreſen zu verdanken habe ?" „Warum nicht , auch ihm selber mögen Sie's immerhin sagen, wenn er's nicht gleich errät , daß es kein anderer sein konnte als Ricklef Ricklefsen. Rickleffen. Das ist mein Name, das Ricklef dort mein Hof. Leben Sie wohl Herr Werneck und mag's Ihnen hier gefallen.“ Rasch stieg er die Deichtreppe hinunter. Von mannigfachen Gedanken durchwogt, schritt der Maler weiter, hatte bald das Dorf im Rücken und erblickte jezt vor sich von üppigen Weiden und Kornfeldern umgeben in geringer Entfernung eine nicht eben hohe, doch um so dichtere Baummasse gleich einem Haine. Ein daraus emporragendes neues Schieferdach mit vergoldeter Wetterfahne, mit Türmchen. und Erkervorsprüngen verkündigte ihm , daß er am Ziele sei. Noch einmal ſtand er still, ließ den Blick hier über graues Watt ins dunkle Meer und dort wieder über die reiche Marschebene mit ihren Einzelgehöften , Dörfern , Turmspitzen und Windmühlen schweifen , weidete sich noch einmal an all den Gold- und Purpurtönen des Abendhimmels, stieg dann die breite Sandsteintreppe hinab und betrat den Wehlhof.
II. „Nun und Harro, wie führt er jetzt sein Leben ?" „Kaum weiß man davon. Bald ist er fort, bald ist er da, und wenn er da ist, hört und sieht man ihn nicht viel mehr, als wenn er fort ist. Wie ein Einsiedler lebt er, denn auch mit den vornehmen Besuchen scheint's aus zu sein. Ich kann Ihnen darum auch feine Gewißheit geben, ob er jetzt auf seinem Hofe, ich wollte sagen Schloffe, ist oder nicht. Seit Monden sah ich ihn nicht. Gute Aufnahme aber finden Sie jedenfalls , denn Frau Elta hat die Fremdenzimmer stets in Ordnung." Die beiden Wanderer waren eben vor
Nur wenige Minuten lagen die Gebäude des Wehlhofs vom Deiche entfernt und dicht hinter dem ansehnlichen Weiher , dessen stille Wasserfläche mit ihren Seerosen, ihrem dunklen Rohrsaume samt den Gebüschgruppen und Weidenbäumen am Ufer einen so malerischen Anblick gewährte , daß Werneck mit Wohlgefallen sich einige Zeit daran weidete. Auf einem saubergehaltenen und mit harten Backsteinen belegten Wege , den zwei Ulmenreihen beschatteten , schritt er dann auf die dichteren Baummaſſen zu, welche die Gebäude umgaben, paſſierte auf weißbemalter Holzbrücke eine breite Graft , auf der eine Entenschar
Bantum angelangt, als der lezte Sonnenstrahl
schwamm und als
er auch deren buſchreiche
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Ufer hinter sich hatte, lag das neue Schlößchen | ich mich darauf, ihn wieder zu sehn, zu überin malerischer Unregelmäßigkeit vor ihm, um- raschen. Vor fünfzehn Jahren war ich mit geben von Rasenpläßen, Kübelgewächsen,Blumen- | ihm in Italien. “ beeten und Blattpflanzengruppen und selbst „Ach, nun weiß ich schon , wer Sie sind, aufs üppigste berankt von wildem Wein , der der Herr Werneck , nicht wahr , kein andrer bereits in den warmen Tönen des Herbstes als Herr Werneck , Harrsens liebster Reisezu prangen begann. Daß das Ganze eine freund , von dem er mir so viel erzählt hat . Schöpfung jüngster Zeit war , sah man auf Ich sah's auf den ersten Blick fast, obwohl Sie jetzt einen viel stärkeren Bart haben, als den ersten Blick. Nur ein paar mächtige Linden waren wohl aus früheren Zeiten zwischen all auf Ihrem Bilde. Ich hab noch gestern den den jungen Pflanzungen stehn geblieben und Rahmen abgewischt. Ja richtig, Zug für Zug auch jene verkrüppelten alten Apfelbäume mochten Herr Werneck. " „Und Sie sind natürlich keine andre, dem Besizer aus der Jugendzeit so lieb geals die Tante Elka oder vielmehr die gute worden sein, daß er sich zu ihrem TodesurVor Tante Elfa, wie Harro sie stets bezeichnete. " teil nicht hatte entschließen können. Ja freilich, er nennt mich Tante, oballem aber fesselte Werneck das Schlößchen selbst , das ausgeführt aus gelblichen Flens- | wohl ich nur eine Jugendfreundin seiner seligen Mutter war. - Aber nun kommen burger Backsteinen, in den Formen der Spätgotik mit seinen unregelmäßigen Ecken , VorSie, legen Sie ab , was Sie da alles tragen und ruhen Sie. Wollen wir hier in der Veranda sprüngen und Winkeln, seinen Erkern und Doch nein, der Abend wird schon bleiben ? Türmchen, offenen Galerieen und abgetreppten Giebeln und mit seinem Schieferdache , das kühl, drinnen ist's besser und die Fremdenabermals vielfach durch Dachecken, Türmchen kammer stand seit Jahren für Sie bereit, Sie kamen nur nicht. “ und Schornsteine unterbrochen war , dazu geschmückt mit goldstrahlenden Wetterfahnen das Sie nahm ihre zinnerne Bohnenschüssel reizvollſte Durcheinander bildete, das man sehen und winkte Werneck ihr zu folgen , der rasch konnte , während es endlich noch durch einen den Träger seines Koffers ablohnte. Sie traten ein und Werneck hielt freudig runden Aussichtsturm , der an einer seiner Ecken emporstieg und eine Flaggenstange trug, überrascht an, als ihn eine altertümliche Halle überragt ward. umgab , die mit ihrer braunen Holztäfelung, ,,Lebt er wie ein Schloßherr, so wird er geschnitter Balkendecke, den hochlehnigen ledergepolsterten Stühlen , schweren Eichentischen nicht anwesend sein, " dachte Werneck , sonst Er stand jezt würde die Flagge wehen." und Brettern voll blinkenden Pokalen , alten dicht vor einem offenen Nebenportal, das um Krügen, Messing- und Zinnschüsseln das vollendete Nachbild eines ähnlichen Raumes in einige Stufen vom Boden erhöht an eine weinEine prachtvolle der alten Tyroler Burg Reichenstein war, die umrankte Veranda stieß. dänische Dogge von riesenhafter Größe schlug sie einst gemeinsam so erfreut hatte. An diese Halle schlossen sich dann die ein paarmal an und sprang dem Kommenden in gewaltigen Säßen entgegen. übrigen Zimmer an, zugleich wieder untereinander verbunden. „Ruhig, Branno , hierher ! “ ließ sich aus der Veranda eine weibliche Stimme vernehmen. Sie durchschritten eine Reihe derselben. Eine ältliche Frau in grauem Hauskleide und Obwohl es bereits zu dämmern begann, erkannte Werneck die stilvolle Durchbilmit blaffem und sanftem Antlitz hielt mit ihrem Bohnenschneiden inne und schaute fragend dung des Ganzen , den eben so edlen wie dem Herantretenden entgegen. reichen Schmuck an kunstvoll geschnißtem Ge„ Ist Herr Harresen anwesend ?" fragte rät, schweren Vorhängen, prachtvollen Teppichen Werneck. " und guten Bildern und endlich überall die " Bedauere, seit acht Tagen verreist," war ruhig schöne Wirkung tiefgesättigter Farbentöne. Frau Elka wollte Werneck in einem der die Antwort. „" O wie schade ! so hätt ich die Reise von Hamburg hierher vergebens gemacht. Hört ich dort doch, man träfe meinen Freund jezt immer in seinem Daheim. Wie freute
Gemächer zum Niederſeßen einladen. Er bat indes, das lezte Tageslicht noch zur weiteren Betrachtung des Hauses benutzen zu dürfen .
Harro Harrsen.
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„Dann müſſen Sie vor allem dies Zim | Sie deſſen bedürfen und hole Sie nachher zum einfachen Abendbrot. Dann wollen wir mer sehn. Es ist ganz seinen Reiseerinne weiter reden und morgen zeige ich Ihnen die rungen und namentlich seinen liebsten Menschen geweiht. Hier in diesen Mappen , die Sie andern Räume, seine Bibliothek und oben die da auf den Gestellen sehen , bewahrt er eine großen Staatszimmer. Kommen Sie eine Menge unterwegs gesammelter oder selbst an- Treppe höher. “ Als Werneck auf seinem reizend und begefertigter Zeichnungen , Skizzen oder Photographieen, dort in jenem Schranke stehen neue haglich eingerichteten Zimmer allein war , beBücher , die von allen Ländern und Städten schloß er, etwas verstimmt über das Verfehlen handeln, die er besucht hat und rings an den seines Freundes , andern Tags , nachdem er Wänden hängen die Bildnisse seiner Freunde durch Frau Elka die Geschichte desselben verund Reisegefährten. Sehen Sie dort das nommen, sowie den neuen Schloßbau genugsam Ihrige hat den Ehrenplag in der Mitte der betrachtet , und endlich seinem Freunde einen Brief hinterlassen hatte, sich wieder auf die Wand, gerade seinem Schreibtische gegenüber.— In diesem Zimmer weilt er oft , weilt halbe Reise zu machen , zunächst nach Schleswig, Tage lang darin , blättert in den Wappen, dessen Dom in Brüggemanns herrlichem Schnißliest in den Büchern und steht vor den Bil- werk längst ein Ziel seiner Sehnsucht enthielt, dern. Vor dem Jhren sicher am längsten. endlich nach Kopenhagen, wo mancher WanderAber nun sollen Sie auch noch sein wahres freund und Kunstgenosse seiner wartete. Er verließ bald sein Zimmer, durchschritt Heiligtum sehen. Kommen Sie hierher." Sie öffnete damit eine kleine Thür und einen mit Jagdgerät und Hirschgeweihen geWerneck stuzte , als er sich plößlich in einer schmückten Korridor und trat in eine offene niederen zwar behaglichen aber äußerst be- Galerie, die einen Blick über den Deich ins scheiden eingerichteten Stube befand , die mit weite abenddunkle Meer gestattete. Hier verweilte er und blickte lange nach Westen , wo ihren unschönen Möbeln aus dem Anfange des Jahrhunderts , ihren Gardinen von Flut und Himmel sich tiefschwarz und trübgelb gegeneinander abseßten und nach kaum Kattun und ihrem Alkoven, der noch gar der einer halben Stunde wieder saß er mit Frau Zopfzeit angehören mußte sich äußerst kleinbürgerlich gegen die vornehme Ausstattung der Elka in ihrer langen hellen Stube beim landesandern , fast noch einmal so hohen Räume | üblichen Thee und Abendbrot und ließ sich ausnahm . von der guten Alten erzählen. „Es ist das langjährige Wohnzimmer ſeiner „Ach es wäre wahrlich anders gekommen, Eltern mit allem und jedem , wie es war, hätte er nur nicht so viele Freude am Reisen da seine Mutter starb. Selbst noch ihr an gefunden," sagte Frau Elfa mit tiefem Seufgefangenes Strickzeug liegt dort in jenem Arzer. „Das leidige Wandern und Schweifen hat beitskorbe, auch die Myrten und Roſen am ihn und sein ganzes Leben umgewandelt . Vor Fenster sind noch die alten und dort liegt ihre seiner Wanderschaft war er der Liebling und Bibel mit dem Merkzeichen, wo sie zuletzt ge- die Hoffnung des ganzen Landes , möcht ich lesen. Als er sich endlich entschloß, oder besser sagen , ein Landwirt wie er nur sein -konnte, der Beste , der Bravste , der Unermüdlichste, gesagt entschließen mußte, ſo hart es ihm ankam, das alte Haus, das noch ein Strohdach der Klügste von allen weit und breit umher. hatte, abzubrechen, diese kleine Stube durften Und so jung er war, welche Geltung , welch sie nicht berühren und mußte ganz so wie sie ein Vertrauen hatte er schon erworben. Keine war, in den Neubau mit aufgenommen werden. Deputation, feine Kommission gab es in LanEs gab viele Schwierigkeiten und der Architekt, desangelegenheiten, wo er nicht dabei ſein mußte. auch ein Freund von ihm , wollte erst gar Auch in die Landesversammlung wäre er sicher nicht daran , er aber bestand fest darauf und gewählt, hätte er nur das erforderliche Alter Er war sechzehn Jahre alt, dazu gehabt. es ist gegangen.“ als sein Vater starb und fast zu gleicher Zeit Mit Rührung schaute Werneck sich das fleine freundliche Gemach an. starb auch mein seliger Mann , der Organist „Doch nun führe ich Sie erst in Ihr in Bredstedt , und wir zwei Witwen lebten nun hier zusammen. Als dann nach Jahren Zimmer, schicke Ihnen frisches Wasser , wenn
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das war auch laſſende Händedrücke — aber auch seine Mutter starb, blieb ich auch ferner auf sein Bitten bei ihm als seine mütterliche alles. Er empfand's wohl , daß es anders Freundin. Was hatte ich zu thun, ihn zu hätte sein müssen, ich sah's ihm gleich an . " Und das liebe alte Haus , das noch so trösten, ganz unbeſchreiblich war ſein Schmerz, fest und gut , so warm und wohnlich war, aber gab es auch ein Verhältnis zwischen Mutter und Sohn wie hier wo ? — Als nun fast ein obgleich es schon sein Ururgroßvater gebaut dessen Todesurteil war dann auch hatte Jahr verging und seine Betrübnis nicht abnehmen wollte, riet ich ihm selbst, sein Haus- bald gesprochen. Wie hätte die vornehme Dame auch unter einem Strohdache wohnen wesen und seine Landwirtschaft aufzugeben und auf Reisen zu gehen. Eine Sehnsucht , die fönnen! Und wie hielt er's früher so hoch in Ehren und zeigte jedem mit Stolz das Welt zu sehen , war immer in ihm . Hätte ich ihm doch den unglückseligen Rat nicht ge- alte Familienwappen im Giebel und sagte immer, das könne gut noch ein paar hundert geben ! Aber konnt' ich denken , daß ihn das Jahre den Stürmen trozen , so eisenfest sei Wanderleben so verändern würde . Und nun „Eine Unruhe, eine Unzufriedenheit hatte. das prächtige Eichenholz darin. erwarten, Zeit die kaum einmal konnte er auf er mitgebracht, ein zerfahrenes unschlüssiges Wesen, daß ich den einst so festen , frischen wo es an der Erde lag , um diesem Schloßbau Plaz zu machen. Nur die alte Wohnund klaren Jungen kaum wieder kannte. niederzureißen - Sie haben sie ja ge= stube Gegen mich freilich war er stets noch der sehen — das brachte er doch nicht übers Herz . alte, immer lieb und gut und anhänglich, Ich natürlich wäre ja um keinen Preis geaber es nagte etwas in ihm , das sah ich wäre die Eckholm seine Frau gewor blieben, klarer von Tag zu Tage und als ich mir den, ich dachte schon daran zu meiner Schwester einmal das Herz nahm und ihn geradezu nach der Hardesvoigtin zu ziehen, die in Tönning der Ursache fragte, fuhr er mich an und stürzte fort, wie er's nie gethan. Das war einmal | wohnt. Als er aber das hörte , da fuhr er auf und rief aus : Nein, Tante Elka , das und nicht wieder. Ich hütete mich wohl, das sollst du nie und nimmer ; willst du nicht bei anzurühren. Nun hatte er auf seinen Reisen uns wohnen, dann bau ich dir ein kleines die Familie des Barons Eckholm, des eifrigſten Dänenfreundes im Lande, kennen gelernt. | behagliches Haus mit hübschem Gärtchen dran gleich hinter unserm Park. Darin sollst du Wie die ihn nach und nach mit all seinem dich in deinen alten Tagen pflegen und ich Sinnen und Denken einnahm , das können Sie will dir ein Mädchen und eine Kuh halten sich kaum vorstellen . Ganze Wochen, sag' ich und täglich dich besuchen und sehen wie dir's Ihnen, verbrachte er da auf ihrem väterlichen Und die Thränen stürzten dem guten geht. Gute bei Flensburg. Und war er auch hier, Jungen aus den Augen. im Geiste war er doch drüben. Ich dachte „ Aber es sollt anders kommen . gleich, daß etwas anderes ihn dort fesselte, „Der Neubau war fertig , auch der alte als die Jagden, die großartige Landwirtschaft Garten mit seinen buchsbaumgefaßten geraden oder das vornehme Leben. Und richtig , es Beeten und seinen Espalierbäumen in den war so. Kein Jahr und er hatte sich mit neuen Park umgewandelt. Ein Teil der Zimder Baronesse Ulrike verlobt. Und nun war's mer war eingerichtet und die übrigen harrten plötzlich eine Glückseligkeit und Ueberschwengauf die Aussteuer. Zwei schöne Wagen hatte lichkeit , daß erst recht nicht mit ihm auser in Hamburg gekauft, dann ein Gespann zukommen war. „Da kam dann bald der alte Baron und von Grauschimmeln, daß es eine Pracht war die gnädige Baroneſſe. Schön und stattlich und Tag und Nacht ſann er auf neue Verſchönerungen des Wehlhofs und sein ganzes Geund stolz war sie , wenn auch nicht gerade mehr jugendlich. Er stellte natürlich seine ſicht strahlte immer vor Glück und freudiger Tante Elfa als seine treueste Seele Hoffnung. auf Erden vor und ich hatte wahrlich zum „Wie grausam sollten die aber im Nu zuguten Empfang gethan und bereitet, wie ich's sammenbrechen. nur wußte und konnte. Ja, ein paar höf= „Bald nachdem er sich die Grauschimmel liche und gnädige Redensarten, ein paar herab- | und den eleganten offenen Wagen angeschafft,
Harro Harresen.
er damit voll Freude nach Flensburg gefahren, um das schöne Gespann seiner Braut und deren Vater vorzuführen. Schon andern Tags war er zurück und eine tiefe Verstim mung konnte man ihm anmerken. Der Baron war samt seiner Tochter seit acht Tagen schon nach der Insel Seeland gereist, ohne ihm die geringste Nachricht zu geben. Die sollte aber bald kommen.
" Ein paar Tage darauf, da eben der Postbote bei ihm gewesen, geh' ich auf seine Stube, um ihn zum Essen zu rufen. - Jesus, was sah ich! Da saß er auf dem Sofa oder lag vielmehr. Das Haupt weit hinten übergelehnt, das Gesicht totenblaß mit faltem Schweiß bedeckt und mit einem so gräßlich verzweiflungs-
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ist er seitdem nie wieder geworden, stets wortkarg, ernst und teilnahmslos , stets die Einsamkeit aufsuchend. Tagelang mit Lesen beschäftigt oder den Blättern in seinen Mappen. Umgang in der Nachbarschaft hat er so gut wie gar nicht, auch der ganze Neubau und der Park ist ihm völlig gleichgültig geworden, er läßt ihn ja schon wieder verkommen. An die Familie Eckholm darf ihn keiner erinnern, selbst die Grauſchimmel und neuen Wagen hat er wieder verkauft. Am liebsten spricht er mit mir von vergangenen Zeiten, da seine Eltern noch lebten und ſigt ſtundenlang einſam in der alten Wohnstube.
So verstrichen wieder sechs bis sieben Jahre, in welchen, wie ich erfuhr, die Baroneſſe Eckvollen Ausdruck mich anſtarrend, daß mir der holm ſich mit einem reichen adligen Vetter Schreck in alle Glieder fährt. auf der Insel Seeland vermählt hatte. „Da endlich vor einigen Wochen merke ich, ,,,Lieber Junge, was hast du ? ruf ich aus. daß plöglich in ihm eine ganz besondere VerKeine Antwort. Sprachlos und regungslos in einem fort starrte er mich an und als ich änderung vorgeht. Er wurde auf einmal nicht ablaſſe mit Fragen und Bitten in ihn heiter, friſcher, teilnehmender an allem, freilich zu dringen , deutet er endlich schweigend mit ohne mit einem Worte zu verraten , was die der Hand auf einen Brief, der ihm entfallen | Ursache davon war. Ich riet lange hin und auf dem Fußboden lag. Ich hob ihn auf her, was es ſein möchte, das ihn von neuem und lese ihn. Ja, da ſtand's mit klaren und so belebte , bis ich endlich etwas entdeckte, das kalten Worten. Sie löfte einfach die Verdamit zusammenhängen mußte. „Auf seinem Schreibtisch fand ich nämlich lobung auf, weil, wie sie schrieb , eingetretene seit einiger Zeit eine Bleistiftzeichnung aufgeEreignisse solches erforderlich machten. Sie bat ihn noch, sich in's Unvermeidliche mit stellt, das Bild eines jungen Mädchens war Männerwürde zu finden und nicht wieder zu es mit einem gar lieben und freundlichen Geschreiben. Die bereits gewechselten Geschenke sichtchen , um den Kopf ein Tuch und eine schlug sie vor zur Erinnerung beiderseitig zu Art Mieder tragend , das die kräftig runden behalten und bat ihn schließlich um Bewah- Arme fast ganz frei ließ. Im Hintergrunde rung eines freundlichen Andenkens. sah man eine niedre Hütte mit flachem stein"„ Ein zweites Schreiben vom alten Baron beschwertem Dache, wiſſen Sie, wie die Schweizerbestätigte mit wohlwollend bedauernden Worten häuſer abgebildet werden und daneben Felsen den ersten Brief, natürlich überströmend von und weidendes Vieh. " Ich sah nun, wie er dies Blatt fast jedesausgezeichneter und ewiger Hochachtung u . s. w.— mal betrachtete, wenn ich in seine Stube trat. „ Das war nun ein Zustand. Da bald darauf verkündete er mir, er würde „ Drei Tage lang hat er fast nichts geauf unbeſtimmte Zeit nach Salzburg und weiter nossen. Ich kann Ihnen sagen , ich fürchtete, in die Alpen reisen. In drei bis vier Tagen er könnte sich ein Leid anthun, mit so schreckmöchte ich die Wäsche, die er mitnehmen wolle, lichem Gesichte schlich er schweigend im Hause und im Felde umber. Nur zuweilen sprach besorgt haben. Nun, das war schnell gethan und so reiste er rasch ohne weiteres ab. Er er mit sich selber, wenn er sich allein glaubte. Ich hab's wohl gehört , was er fagte. Ich sagte freilich , nur das Verlangen triebe ihn, einmal die Alpen wieder zu sehen. Aber es hab's ja verdient , hab's ja verdient !" Das war's, was er stets vor sich hin redete. muß doch noch andern Grund haben, das laß Aber ich hütete mich wohl, nach dem Warum ich mir nicht ausreden und einmal sagte er zu fragen. Wochen , sag' ich Ihnen , verauch geradezu : „ Gebe der Himmel , daß ich mein Ziel erreiche. " gingen, ehe er sich wieder faßte. Heiter aber 61
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„Hat er denn keine Weiſung hinterlaſſen, | freundlichem Lichte zeigte, verklärte die Alpenwelt vor den Blicken Harros , der vor einigen wohin etwaige Briefe ihm nachzusenden sind ?“ fragte Werneck. Tagen beim Auerwirt zu Hohenzell angekom " Freilich, hier ist seine Adreſſe," antwortete men, sich nun an den Wiltachsee begeben hatte. Frau Elka, stand auf und holte aus ihrem In der Touristenwelt ist dieser kleine BergArbeitskästchen ein Zettelchen mit der Adresse : kessel bis jetzt äußerst wenig bekannt. Kaum , Hohenzell in Oberbayern. Abzugeben im eine Wegstunde von Hohenzell liegt er mit ſeiner Gasthaus des Auerwirts ." dunkelgrünen und fast eiskalten Flut tief ein" Jest weiß ich wohin und warum er gebettet zwischen ungeheuer steilen Wänden von reiste, " sagte Werneck. Kalksteinfelsen, die zum Teil völlig nackt, zum "Ich weiß nun auch; wen jenes Bild darTeil spärlich an den weniger steilen Flächen stellt, von dem Sie sagen , daß er es so oft und auf den Kuppen mit ſtarren Krüppeltannen anschaute. oder niederem Latschengestrüpp bewachsen und hier „Ich selber habe es gezeichnet. Die Senund dort wieder von einem mächtigen Schneenerin Afra ist es auf der einsamen Sternalm, haupte überragt ſind . Düſterer, einſamer, ſtiller die hoch über dem Wiltachsee liegt . Er ist ist kein See weit und breit umher. Das einauch droben gewesen und hat sie kennen ge- tönige Rauschen eines Gießbaches, der an der lernt, aber später als ich. südlichen Wand von der Hinteralm herabkommt „ Als er das Blatt in meinem Skizzenbuche und der einzelne hellflingende Schrei eines Falken erblickte, ließ er nicht ab mit Bitten, bis ich's | sind die einzigen Laute , die das schauerliche ihm herausschnitt. Nicht wahr , auf gelb- | Schweigen in dieſem schattendüſtern Bergkeſſel unterbrechen. Was sich an Menschen zeigt, sind lichem Papier war die Zeichnung , von dieser allenfalls ein paar Fischer , denen die kalte Größe und ein paar Ziegen weideten im Vordergrunde. Flut an Alpforellen die reichste Beute bietet. „ Ja , ja, ganz recht , ein paar Ziegen , " Während das südliche Ufer fast in ewigem bestätigte Tante Elfa. Schatten gehüllt erſcheint, iſt das nördliche doch etwas flacher und freundlicher. Die drei ein„ Eine alte und plötzlich wieder auflodernde Liebe ist es sicherlich. Meine Zeichnung mag zigen Kähne, nur aus einem gehöhlten Baumihm nach langer Zeit einmal wieder vor Augen stamm bestehend, ſieht man hier angekettet in gekommen sein und hat schöne Erinnerungen. der fleinen übers Wasser hinausgebauten Hütte liegen, zu welcher der Auerwirt in in ihm zurückgerufen . " „ Dann gebe Gott, daß es zum Heile führt, Hohenzell , der die Fischerei gepachtet , den schloß die gute Alte. Schlüssel besitt. In einem dieser " Einbäume" , wie dort zu Am anderen Morgen beschaute Werneck mit lebendigster Theilnahme noch einmal alle Räume, Lande dieſe primitiven Kanots genannt werdie Bilder und Bücher , die geschnigten Geden, stand Harro mit einem alten weißköpfigen räte, die schönen Trinkgefäße und die übrigen Fischer, deſſen vom Spithut beschattetes GeGegenstände des Hauses. Auch einen flüchtigen sicht und von kurzer Lederhose bloßgelassenes Besuch stattete er den leeren und vornehmen Knie so knochig und braun waren, als wären sie aus dem verwitterten Felsgestein gemeißelt. Gemächern des ersten Stockwerks ab , welche Schweigend fuhren beide auf der stillen Flut die Ausstattung der adeligen Braut einzudahin , der linken Uferwand entgegen , auf nehmen bestimmt waren. Rasch warf er dann die Harro ſeine ganze Aufmerksamkeit gerichtet noch für Harro einige Zeilen aufs Papier, hatte. Als sie demselben schon ziemlich nahe drückte nach dem zweiten Frühstück der guten waren, brach der Alte zuerst das Stillschweigen. Alten herzlich die Hand zum Abschiede und „ Lieber Herr," begann er, „ noch einmal möcht i verließ den stillen Wehlhof , um die Fahrt nach Schleswig anzutreten. bitten, sollten's doch lassen, von hier aus auf die Sternalm zu gehen. I sag's Ihna, der Weg ist ruiniert vom Bergwasser schon seit III. Jahren. Da hinauf steigt heuer kein Mensch Derselbe heitere Septembertag , welcher mehr , alle gehen den neuen Weg über den Werneck die Marschenküste der Nordsee in so Schrattenbühl. I mein's gut mit Ihna, lieber
Harro Harresen.
Herr. Lassen's das , laſſen's das , da ' nauf kommen's halt nimma.“ Seid doch ruhig, Alter, ich werde schon. hinauf kommen, wenn's hier auch ein bißchen mühsamer ist als über den Schrattenbühl. Ich hab nun einmal meinen Kopf drauf gesett, nur diesen Weg und keinen andern zur Sternalm zu nehmen. Zurück will ich ihn auch nicht. " "I hab nur Angst, daß der Herr sich versteigen könnt. Aber wiſſen's, heut und morgen bleib ich und der Andres , mein Bub , den ganzen Tag hier. Wir fischen zunächst drüben am Südend vom See, unter der Hinteralm, schauns dort , links vom Waſſerfall , wo der Felsvorsprung ist, die Seekanzel heißt man ihn, weil er so fast überm See hinausragt. Droben hat einmal der heilige Rupert stande und den Fischen das Evangelium predigt , als die Menschen ihn nit haben hören mögen. Da drunten sind wir heut den ganzen Tag." „ Sollten's wirklich fehl gehn oder Ihna sonst was zugestoßen, dann schreien's nur recht laut. Wir hörens dann schon. Auch immer Obacht wollen wir vom See aus auf den Weg geben. So , da sind wir. Jezt müssen's erst grad aus durch jene Tannen und Latschen gehen, dann rechts auf die roten Steine zu und dann zulezt durch die Rinne da drüben. Dann haben's bald die Sternalm vor sich.“ Auf das Reichlichste lohnte Harro dem Alten die Fahrt, verabschiedete sich, ihm freund= lich die Hand reichend , sprang mit raschem Sag auf einen Stein des Ufers und kletterte sofort die steile Höhe hinan , indes der Alte topfschüttelnd zurückruderte. Unrecht hatte der Greis nicht gehabt. Der alte Weg war kaum mehr zu entdecken, so sehr verändert hatte sich in den wenigen Jahren die Oberfläche des Felsbodens. Je höher er
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einmal, nur von dieser Seite her die Sternalm zu erreichen , denn mit Leib und Seele wollte er jegt alten Erinnerungen nachleben. Fünfzehn Jahre waren verflossen, seitdem er zuerst diesen Weg zur Sternalm emporgestiegen war, berauscht und beſeligt ſchwelgend in den Wundern der Alpenwelt, die sich dem Sohn der Marschen hier zum erſtenmale in ihrer Herrlichkeit aufgethan hatten. Jezt kam er an eine Stelle , die er an einem seltsam geformten Felsen in der Nähe wieder zu kennen glaubte. Still betrachtete er sie lange. Hier that er damals von einem Geröllsteine zum andern springend einen Fehltritt, rutschte aus und verleßte und verstauchte sich nicht unbedeutend den Fuß. Wie lebendig traten jene Stunden jezt vor seine Seele, wie er sich hinkend und blutend weiter geschleppt hatte, bis die grüne Alm vor ihm lag; wie er oft niederſißen und ruhen mußte, weil Schmerz und Geschwulst von Minute zu Minute sich mehrten; wie er bald keinen Schritt mehr thun konnte, so daß er schon glaubte, die Nacht am Wege liegen bleiben zu müssen ; wie aber plößlich der hellklingende Juchzer einer Sennerin in ziemlicher Nähe aufstieg, den er mit lautem Hilferuf dann erwiderte.
Und nun stieg ein herzerfreuend Bild vor ihm empor, die Geſtalt jenes wackern, kräftigen Mädchens, mit den großen lieben blauen Augen und dem rosigen Angesicht voll Entschlossenheit, das ihn Jugendfreude, Unschuld und Treue fand , emporhalf und mit kraftvollem Arm stüßend , ihn dann zur Sennhütte führte. Immer lebendiger, immer mächtiger drang, indem er weiter schritt , die Erinnerung an jene Stunden auf ihn ein und vor allem, als er nun bald die grüne Alm selbst erreicht hatte. und alles wieder sah , was ihn einſt ſechs unkam , desto steiler und beschwerlicher ging's . | vergeßliche Wochen umgeben hatte. Die SennJa , als er die Strecke mit den krüppeligen hütte mit ihrem flachen, steinbeschwerten Dach Tannen hinter sich hatte, stand er plößlich vor jamt dem kleinen Heustadel an mächtigem einer solchen Steilung, daß er lange hin und Felsblock gelehnt , das plaudernde Brünnlein, her suchen mußte, ehe er eine Strecke fand, um dessen Trog sich eben ein Teil der braunroten Viehherde drängte und namentlich die die das Weitersteigen erlaubte. Erst als er die bezeichnete Felsrinne erreicht hatte, die vom alten gewaltigen Bergriefen ringsum , blauSee abwärts und grade auf die Sternalm duftig und schneehäuptig auf das sonnig grüne zuführte, nahm die Steilheit merklich ab und Almfleckchen herniederschauend . Alles und jedes war noch, wie er's vor fünfzehn Jahren schaute. hier auch entdeckte er offenbare Spuren des Er trat an die Hütte hinan. ehemaligen Weges. Aber wenn auch nicht geAuch sie fand er , bis auf ein paar unfährlich, beschwerlich war das Klettern hier immer noch. Indes sein Wille war's nun bedeutende Kleinigkeiten, unverändert.
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Hermann Allmers.
Er setzte sich vor die Thür, auf den alten sah er die Sennerin derselben drüben vom Holzblock, demselben, auf welchem er einst zuerst | Heuſtall auf ihn zuschreiten und mit einem „ Grüß di Gott “ stand sie vor ihm. niedersaß und von der Sennerin seinen Fuß mit Wasser fühlen ließ. Afra war es nicht , das wußte er schon drunten vom Auerwirtshaus her. Wo sie aber Welche Tage begannen damit. Afra hieß das wackere Mädchen, und stand hingekommen , das konnt ihm dort niemand wieder vor seiner Seele so kernig und rosig sagen , aber wie eine Ahnung war's in ihm, wie einst , ihn anblickend mit den lieben undaß er's vielleicht hier oben erfahren würde. schuldigen Augen , die ihm damals in unsägDie jetzige Sennerin hinkte stark und war lichem Gefühl sein ganzes tiefstes Herz aufunanſehnlich und alt, dazu redselig und voll zittern machte. Neugier. Ach, er war einst zu lange hier oben Die Afra wollt Ihr suchen, die Afra Lechner geblieben, war geblieben, da der schnell geheilte vielleicht gar, die vor Jahren hier g'hausert hat ?" " Freilich meine ich die," rief mächtig erregt Fuß ihn hätte längst wieder hinab tragen sollen. zu den anderen Menschen in der Welt da Harro aus. „ Sagt, ſagt, lebt sie, wo iſt ſie, unten. wo find ich sie ?“ Aber nimmer und nimmer hatte das Leben „Ja wenn Ihr die suchen wollet , dann hättet Ihr Eure Müh sparen sollen, die ist ihm solch hochwonniges Glück geboten, als es hier auf diesem stillen weltentlegenen Fleckchen halt nimmer hier oben , aber unten im Dorf ist sie da drüben beim Kirchlein von Sankt Erde an der Seite dieses einfachen Naturkindes Rupert, da ist ihr Grab im Armenwinkel. Sie kennen lernen sollte. Und doch - konnte es von Dauer ſein? war ja nit von hier. “ Sollte er sein Leben fern der teuern Heimat Tot ist sie lang, lang schon, g'storben im beschließen Kindbett, die Armselige. Aber wisset, der Bub, sollte er sie der ihren entreißen, sie mit sich führen und in eine Kulturwelt den sie geboren hat, das Kind von dem Fremverpflanzen , in der sie nimmer und nimmer den, dem Verruchten, der die arme Afra unglückhätte gedeihen und glücklich sein können? Und lich gemacht hat, das ist am Leben blieben, ausendlich noch eins hatte er nicht noch wenige than worden in der G'moand , wisset so von Armenmitteln. Ein Bub ist's jetzt , so von Wochen vorher zu Gastein der schönen Baronesse Ulrike zu tief ins Auge und ins Herz ge14 oder 15 Jahren , Friedel hat man ihn schaut, um Hoffnungen in der Seele zu nähren , | tauft, aber sie heißen ihn nur den Keyerfried❜l. A Geißbub ist er und ihr brauchet halt gar die ihn zuzeiten in einen wahren Rausch versehen konnten ? nimmer weit zu gehn nach ihm. Da drüben Dies Almleben wenigstens mußte für ihn auf der Hinteralm am End vom See hütet ein Ende haben , dies fühlte er mit überzeu= er heuer seine Geißen, ' s ist kein viertel Stündl bis dahin." gender Gewißheit.
Starr und lautlos vernahm Harro die Darum rasch entschloſſen — das Herz zu- fort , fort , sie fliehen , sie Worte der Alten. ſammengepreßt — „Aber wollet Ihr nit eintreten ?" fuhr sie verlassen, ehe es zu spät ist. Fort, fort, mag sie immerhin weinen und klagen, wenn ich nicht geschwäßig fort. „ Wollet ihr nit ein gute Milch, wiederkomme, wie ich's versprach. ein Käs und Brot, ich hab auch ein Enzian Und es war zu spät , als er dann floh. | drinnen und ein Schmarren kann ich Euch machen, wenn Ihr's wollet. " Weh, er war zu lange geblieben. - Und „Nein, Nichts, Nichts , nur einen Trunk sie hatte ihn zu lieb gehabt. Wassers vom Brunnen dort gebt mir. “ Und jezt saß er wieder da, nach 15 Jahren mit mächtig pochendem Herzen. Afra , Afra, In dumpfem Schweigen wankte er bald rief er schmerzlich aus, ich Elender, der ich dich fort. Dann, als er die Hütte aus dem Gesicht so schändlich verließ. Fänd ich dich wieder, verloren hatte , warf er sich zur Erde und fänd ich dich wieder, du Treue, du Gute, du starrte in namenloser Qual lange vor sich hin. Reine! -- Und ein Strom von Thränen stürzte Endlich aber brach er in heftiges Weinen über seine Wangen. aus. " Afra ! Afra ! " rief er in wildem Schmerze: Die Hütte war leer und offen, aber jest „du Arme , du Arme, und ich - ich elender,
Harro Harresen.
ich erbärmlicher Schurke ! daß ich dich betrügen konnt, verlassen konnt, gebracht in Elend und Verachtung. " Wie lange er so dalag , wehdurchwühlt, jammernd und ſtöhnend , er wußte es selber nicht.
IV .
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gegangen im großen unfaßbaren All der Natur. Die herrlichste und heiligste Stunde , die er mit ihr verlebt hatte, war es gewesen. In all ihrer Schönheit und Herzenswonne stand sie wieder vor seiner Seele, aber die Erinnerung zerwühlte ihn jest mit nie gefühlten Qualen der Selbstverachtung. Den beschwerlichen Schuttwall , welcher kahl und öde die Sternalm von der Hinteralm trennte , hatte er bald erreicht und überklettert und konnte Die zerstreute nun die lettere überschauen. Ziegenherde sah er weiden, den Hirtenknaben aber suchte sein haſtig schweifendes Auge ver-
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Harro sich endlich wieder aufraffte. Seine heißen Thränen waren versiegt und ein einziger Gedanke erfüllte mit Weh und mit Wonne Zusammengebens. das nahe Zusammenzugleich seine Brust treffen mit seinem Sohne. Tausendfach und Eine plötzliche Ahnung stieg in ihm auf. tausendfach an ihm zu fühnen und zu verSollte er heut gerade die Seefanzel zu seinem gelten das Leid und die Schmach der armen Aufenthalte gewählt haben. Noch verbargen Mutter. Das war alles, was er denken und ein paar mächtige Felsblöcke dieselbe seinen. fühlen konnte. Das Leben hatte nach langer Blicken. Eilends umschritt er sie und ſpähte wieder Zeit plötzlich wieder einen Inhalt für ihn bekommen, er hatte eine Aufgabe, eine schöne, in fieberhafter Erregung nach der Richtung . Wahrhaftig, seine Ahnung hatte ihn nicht hohe heilige. betrogen. Kaum einen Büchſenſchuß entfernt Rasch sprang er auf und wandte sich mit festen Schritten der Hinteralm zu. sah er die vorspringende Felsplatte und oben Er kannte sie recht wohl von jenen Tagen auf dem Grat lag ein Knabe rücklings hinher. Die kleine saftgrüne Fläche lag hoch über gestreckt wie schlafend . dem Südende des Sees und war nicht leicht In zitternder Haft beflügelte Harro seine Schritte, vor seinen Augen flimmerte es, ſein zu erreichen. Von drei Seiten durch steile und völlig kahle Felswände begrenzt, brach sie Blut wallte und sein Herz pochte, als ob es gegen den See hin, jäh und plöglich ab und Jezt stand er dicht ihm zerspringen wollte. der kleine Bach, welcher sie durchfloß , stürzte neben dem Schlummernden. Ein fräftig gebauter Knabe war es, in hier als brausender Wasserfall zu ihm hinunter. Wie eine enge Baſtion trat der FelsAntlig, ärmlich grober Bergtracht gekleidet. vorsprung der Seekanzel hart am Bache in Hals und Brust wie die nackten Glieder tief den See hinaus, dessen Flut tiefgrün herauf blickte. Das war ein köstlich Pläßchen , den ganzen schmalen Seespiegel überschaute man von dort, aber schwindelfrei mußte man sein, denn nur wenige Fuß Breite bot die grün bewachſene schöne Platte des Vorsprungs, dessen Fuß sich im Schatten des kleinen Tannengehölzes verlor. Ja, diese Stelle kannte er nur zu gut. Mit Afra hatte er sie einmal besucht. Hand in Hand hatten sie eng umschlungen und in tiefer Stille droben geſeſſen, hinabschauend auf die dunklen Tannenwipfel, auf den grünen Seespiegel, auf die Bergriesen ringsum und wieder lange hinauf in das schöne tiefe wolkenlose Blau des Himmels versunken und verloren, weltentrückt und weltvergessen , eins in stiller Seligkeit, eins in Liebeswonne, auf
sonnenbraun, aber von einem Ebenmaß und einer Kraftfülle, die eher einen Jüngling als Knaben vermuten ließen. Leis gehoben ruhte das dunkelblonde Haupt auf den daruntergelegten Händen. Wohl durch eine unwillkürliche Bewegung war der grüne Spithut, der es vor den Sonnenstrahlen geschützt hatte, zur Seite geschoben und ließ ein Antlig sehen, dessen Züge von einer geradezu hinreißenden Unschuld und Lieblichkeit waren und nur die feinen festgeschlossenen Lippen fügten zugleich einen eigentümlichen Ausdruck von Energie und Willensstärke hinzu. Harro stand und blickte lange regungslos auf den Schlafenden. Dann ließ er sich auf ein Knie an seiner Seite nieder , immer ſtill und fest den Blick auf die jugendlichen Züge gerichtet. Nur seine Brust arbeitete mächtig.
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Ja tein Zweifel war mehr in ihm , das war Zug für Zug das Angesicht seiner Afra, der armen Verlassenen und Betrogenen. das war ihr Kind war sein Sohn. „Er ist es , er ist es," flüsterte er leise und mit einem Gefühl unendlicher Seligkeit beugte er sich zitternd vor Erregung tiefer und tiefer zum Schläfer , schaute ihn wieder und wieder an und drückte endlich so leise, wie er nur vermochte, aber wie von einer nie empfundenen Macht getrieben, den ersten Kuß auf die roten Lippen. Der Knabe regte sich, zog die Füße näher an sich und schlug zwei große Augen auf. Dann aber, als er die Gestalt eines Fremden so nahe über sich sah, fuhr er erschreckt und erstaunt rasch in die Höhe. Auch Harro richtete sich empor. Beide standen aufrecht und schauten sich stumm eine Weile an. Der Knabe brach zuerst das Schweigen. "1‚Was willst, was willſt von mir ? “ stieß er wie mit einem Ausdrucke von Bestürzung hervor. Vor innerer Bewegung konnte Harro kein Wort hervorbringen . Und wieder standen beide und blickten sich an. Und von neuem
fragte der Knabe. „ So sag', was willst und was schaust mi so an? " --„ Dich ſuche ich, dich will ich, “ brachte Harro endlich hervor ; „komm reich mir deine Hand. " Ein Zug von Unwillen und Mißtrauen verfinsterte das Antlig des Knaben. Er verbarg beide Hände hinter seinem Rücken und wich scheu ein paar Schritte zurück, da sich Harro ihm nahen wollte . " Geh fort , i mag di nit , i will nichts „ wissen von ei'm Fremd'n ; " stieß er wieder hervor. Ich bleib' dir kein Fremder ," sprach Harro sanft. „Komm her doch; es meint's keiner so gut mit dir , es wird dich keiner auf Erden ſo lieb haben, als ich. So komm, sag mir deinen Namen, lieber Junge , und sag, was bist so scheu ? warum reichst mir nicht die Hand, wie ich dich bitt'. ― Er be ſtrebte sich jezt in der Mundart der Gegend zu sprechen, dieser Ton, dachte er, würde ihn dem Knaben weniger fremd erscheinen lassen. „Weil du ein Fremder bist , ein Städtischer, darum hüt i mich vor dir.“ „Nun denn, so sag mir erst, was dir die
Fremden, die Städtischen für Leids angethan haben, daß du nichts wissen willst von ihnen? Sind sie denn alle bös und schlecht, wenn's vielleicht einer geweſen ? “ So sanft und liebevoll auch seine Stimme klang, den Knaben schien es nur um so verschlossener zu machen. Wieder eine Weile stand er stumm vor sich blickend da , dann versuchte er mit raschem Seitensprunge auf dem schmalen Felsrücken an Harro vorüber zu kommen. Aber ebenso rasch vertrat ihm dieser den Weg. "Halt ," rief er , du kommst nicht vom Fleck, ich thu dir nichts, aber erst sollst mir sagen, warum du ſo bös auf die Fremden bist. Hier , gleich set dich neben mich und Mit fester Hand faßte er gib Antwort. " des Knaben Arm und zog ihn zu sich nieder. " So, jest sprich und erzähl. Sollst sehn, ich bin dir gut und werd's dir reich vergelten, wenn du's auch mir bist. " Und lang und innig schaute er ihm wieder in die Augen. Da endlich schien's, als ob der Knabe einiges Vertrauen zu ihm faßte und mit weniger scheuem Ausdruck fing er, freilich oft genug stoßend und innehaltend, an zu reden. " Friedel heiß ich, Friedel Lechner schreibt man mich , aber i selbst hab halt nit g'lernt zu schreiben. Da unten bin i her von St. Rupert, wo mein Muhm ' wohnt hat , die Muhm Barbara, aber die iſt jeztund a ſchon g'storbu und i bin alloan - mutterseelen alloan. " „ Nun und was haben dir denn die Fremden Leids gethan ? " fragte Harro wieder. „Mir selber halt goarnichts. Aber — ein ein Kezer, ein Lump hat mein Fremder arm Mutter betrogen , die hat sich zu Tod g'weint drüber. Da hat sie mich geboren und ist g'storben, verstoß'n und veracht elendiglich. — Und i bin dann austhan worden von der Gemoand zur Muhm ' Barbara. Sobald ich's
konnt, hab ich die Geißen g'hüt't." „ Bist denn nimmer in die Schule gangen ? " „Ja freili a biſſel, aber halt nit goar viel. “ „Kannst denn dann lesen mein Friedel ?“ „Ja so a weng, doch halt nit guat. Aber beten kann i und beten thu i. Das Vaterunser und den englischen Gruß. Und ein G'bet hab i von mein Muhm' lernt , des ist mirs liebste. Daß Gott verdamm'n soll die Kezer, die Lutherischen in die tiefste Höll hinab und vor allem soll strafen ewig mit
Harro Harresen.
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Jammer und Bein mein'n Vater , den Lump in ein'm schönen Haus wohnen und Küh um und Pferd haben , schönere als du sie jemals den. Sieh das G'bet thu ich alle Tag. Und a soll er strafen all die Bub'n da unt'n in geschaut, wolltst dann mit mir gehn in meine Sankt Rupert , die mich immer den Kezer Heimat." Der Knabe sah ihn groß an. " Was Friedl heißen, aber am meisten den, der mein sagst da ? I mit dir gehn von d'r Alm ? arm Mutter umg'bracht hat." mit „Ja ja, das wird er, das thut er Siehst, du bist wie alle Fremden, willst mi a betrüge und belüge. Nein, fort, fort, laß Jammer und Bein, armer armer Junge du," rief Harro aus, vom wildesten Schmerz durch | mi aus. " Und abermals sprang er auf und wühlt. versuchte seitwärts an ihm vorüber zu ſchlüpfen. Und wiederum hinderte ihn Harro daran. "Und g'lobt hab ich's der Muhm , koan „Nein, Friedel, nicht sollst du mir entkommen, Fremd'n auf der Welt will i guet sein , und träfi mein'n Vater, i wollt ihn erwürg'n, aber wissen sollst du , wer vor dir steht , wer erwürg'n wollt i ihn ― und i thät's , i thät's mit dir redet und dich glücklich machen will. au. " Dein Vater selbst ist es , der Unglückselige Er ballte seine Fäuste bei diesen Worten. Leichtsinnige, Schuldbeladene, Reuedurchwühlte Seine Züge nahmen einen troßig finstern ist es. Vergieb ihm, veracht ihn nicht , verstoß Ausdruck an. ihn nichtkomm, fomm in meine Arme, sei „Lebt denn dein Vater und weißt du mein Sohn, mein Sohn!" von ihm ?" Vor ungeheuerster Aufregung schwanden ihm fast seine Sinne. „Nein, auf und davon ist er gangen, der du lügst, du lügst !" Laß mi, laß mi, Lump, hat die Muhm Barbara g'sagt. Keiner hier weiß von ihm. " schrie der Knabe jetzt laut auf. " Sei wer du „Und wenn er nun lebte und käme wie- seist, i will nichts von dir ! " der und wäre selber voll Jammer und wollt Und zum drittenmal schneller und heftiger an dir vergelten tausendfach, was er an deiner als vorher sprang und drängte er vorüber, auf die Alm zu gelangen . armen Mutter gesündigt hat , und wollt dich lieb haben wie noch niemand auf Erden dich „Nein nein, du entkommst mir nicht ! Sohn geliebt hätte ?" Sohn, in meine Arme , an meine Brust !" „Das wird er halt nimmer. Thät er's Er umschlang ihn mächtig , troß seines Sträubens und Stoßens . i wollt ihn doch erwürgen.“ Stumm rangen sie miteinander. Es war „ Du weißt vielleicht noch gar nicht, wie's ist, wenn dich einer so recht lieb hat. entsetzlich. Zum See hinaus, wie rechts und „Nein, mi hat noch keiner lieb g'habt links , nur wenige Fuß Breite bot die Platte, und i a noch keinen." auf der Vater und Sohn hin und her arbeiteten. „Auch dein alte Muhme Barbara nicht ?" Der erstere zitternd und bebend, seiner Sinne „Nein, die hat mi schlage Tag für Tag, nicht mächtig , der andere , wie ein wildes wenn sie bös war, daß i halt nimmer wußt Tier, mit dem Aufgebot aller Kräfte sich hab' warum. Und's war auch mein recht wehrend und windend, stoßend und schlagend . Bald ließ er etwas nach wie aufathmend, Muhm' ja nit. I hab bloß Muhm ' zu ihr dann wieder ein heftiger Ruck - und wieder sagen g'mußt. " einer. ,,, du Armer, du Armer." „ Aber wenn ich dich nun lieb haben wollt Jetzt waren sie auf äußerstem und abund wollt dich mit mir nehmen, dich halten schüssigſtem Rande. — Und abermals ein Ruck wie meinen Sohn und du solltst Kleider haben und beide dann ein gellender Aufschrei beſſere als der reichste Bauersohn drunten im ſauſten in die grausige Tiefe und verschwanden zwischen den Aesten der Tannen. Dorf, solltst essen und trinken haben vom Besten vollauf, solltst noch recht etwas lernen (Schluß folgt.)
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Rizzio Welser. Sizilianische Kulturbilder.
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Sizilianische Kulturbilder.jenigen , was wir im Norden unter Räuberwesen zu verstehen pflegen , in gleiche Linie stellen. Heutzutage noch, wenn von den siziDas Briganten wesen. lianischen Banditen oder Briganten gesprochen Von wird, denken alle die dies Land nicht kennen, Rizzio Welser. an Zustände und an Vorgänge , wie man sie in Deutschland, nach dem dreißigjährigen Kriege, oder noch in neueren Zeiten erlebt, an SchinDrüben, in Sizilien, schreibt Goethe in seinen derhannes und an seine Banden , die eben italienischen Reisebriefen , „ sieht es auch nichts anderes waren als ein Konglomerat von in der Wirklichkeit nicht so gefährlich aus , als raublustigem Gesindel, deren Zweck das Stehlen, man es in der Ferne zu machen beliebt." dessen Mittel Sengen , Brennen und Töten. waren. Wesentlich anders gestalten sich aber Diese Worte passen auf die heutigen Zustände die Dinge für denjenigen, der dies Land beder gefürchteten Insel noch viel besser, als sie reist , und sich mit deſſen Vergangenheit, mit auf die damaligen , vor bald hundert Jahren dessen innerer Entwickelungsgeschichte, mit deſſen passen mochten. Sizilien ist , bis in jüngster Zeit, für die Nordeuropäer etwa dasselbe geeigentümlichem Charakter vertraut gemacht hat. Er erkennt, nicht ohne Staunen, daß das rowesen, was für die alten Römer und Griechen mantische, besser noch als romanhafte Kolorit, das afrikanische Küstenland war , ein Stück das man von alters her dem südlichen BriErde, von dem man nur mit einem gewiſſen Gruseln sprach, das wie ein Geheimnis hinter sei- | gantentum beigelegt, und das man dem nordinem halbdurchsichtigen Schleier lag, eine Terra schen Räuberwesen , wie es sich in den Unportentosa voll ungeheuerlichem Getiere, felt thaten eines Schinderhannes kennzeichnete, beizulegen niemals versuchen konnte, kein so ungesamen Naturerscheinungen , und noch seltsam rechtfertigter ist, als manche es glauben dürften. ungeheuerlicheren Menſchen. Griechenland, Italien, Spanien hatten den nordischen Forschungen Mord und Diebsgesindel gab es gewiß auch ſchon ihre Thore eröffnet , als Sizilien noch damals in Sizilien, wie anderswo ; aber mit dem eigentlichen typischen Brigantentum haben zwischen ihnen lag , unergründet , unerforscht, die hier wie in allen anderen Ländern vorfast unbesucht, ein übelbeleumundetes Kyklopen eiland , von dem man zwar hörte, daß zivili- | kommenden Fälle von gewöhnlichen Diebstählen oder Mordanfällen nichts gemein , und, ohne sierte Menschen in einigen Küstenstädten lebten, - aber was dürfte dies schließlich für ein daß ich mich als Verteidiger , noch als BeLeben, und was dürfte dies beim näheren Bewunderer der sizilianischen Briganten hinſtellen schauen für einen Zivilisierten sein, mitten unter möchte, muß ich doch diesen Unterschied betonen, und den Briganten eine andere Stelle Vulkanen , Erdbeben , Schwefelfeldern , und Räubergesindel! Denn daß das Innere der einräumen, als diejenige ist, in welche wir die Insel nichts weiter sei , als eine von Mordlandläufigen Miſsethäter einzuziehen pflegen. gesellen durchzogene, und nur von Banditen Das wahre sizilianische Brigantenwesen hat bewohnte Brigantendomäne, das war und das etwas Antikgriechisches, zugleich etwas Ritterlichmittelalterliches an sich; es knüpft an an ist heute noch für viele ein unanfechtbarer Glaubensartikel. Daß, in dieser lezten Hindie fahrenden Ritter , die zuweilen auch recht ſicht, der Ruf der süditalienischen Insel ein ab- | schlimme Wegelagerer werden konnten, und an ſolut unverdienter sei, will ich gewiß nicht be- die alten Heroen, Theseus und Herkules, welche haupten; Sizilien , Kalabrien und die vorauszogen, um das Land zu säubern, das kleine maligen päpstlich-römischen Gebietsteile waren Volk von irgend welchen Ungetümen oder Räuwährend langen Jahrzenten nicht mit Unrecht bern befreien , und welche ihrerseits gewaltals der Siz und der Hort eines aller Gethätig und räubermäßig auftraten; im Mittelalter und im Altertum brachten es die Zeiten ſeße und Ordnung spottenden Brigantenunwesens gefürchtet und geächtet ; aber die Zeiten so mit sich, daß die jüngsten sizilianischen Briganten ein Stück Mittelalter in die Neuzeit haben sich einesteils geändert , und anderseits darf man auch die damaligen Zustände, hereingeschleppt , und sich mit den modernen. das Brigantentum, nicht ohne weiteres mit dem Anschauungen in Widerspruch gesetzt haben, 62
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Rizzio Welser.
das muß von vornherein betont werden , so wie nun auch anderseits hervorgehoben werden muß , daß dieses Stück Mittelalter nach damaligen Begriffen , nicht den verwerflichen Charakter des modernen Räuberweſens, ja, daß dasselbe bisweilen , und in gewissen speziellen Fällen , ein wahrhaft ritterliches Gepräge an sich trug. Das sizilianische Brigantentum ist das natürliche Produkt der ganzen historischen Entwickelung des altsikulischen Volkes. Soweit wir in die Geschichte dieser Insel hinaufzudringen vermögen, finden wir die Urbewohner, Sikanen und Sikulen, von fremden Eroberern unterdrückt ; es waren die Phönikier zuerst, dann die Griechen und Karthager, später die Römer, die Sarazenen, die Normannen , die Spanier, die Franzosen , vorübergehend auch die Oesterreicher und die Engländer, die diese reiche Insel in Besit nahmen. Die ersten Eroberer segten sich zunächst in den Küstenstädten fest, machten teils die Urbewohner zu ihren Sklaven, teils drängten sie dieselben in das unwegsame Innere zurück; später , unter den Griechen und Römern, dehnte sich die Fremd herrschaft über das ganze Land aus, und bis in den Anfang dieses Jahrhunderts lebte das fizilische Volk in dem Gefühle der Unterjochung Dazu kam noch der und der Rechtlosigkeit. Umstand, daß alle Fremdherrschaften, faſt ausnahmslos, das Land als eine reiche, lediglich zur Ausbeutung ihnen offenstehende Domäne betrachteten; nicht Verres allein legte sich hier auf das systematische Plündern ; auch dessen spätere, von anderen Ländern herüber gekommene Nachfolger , verwalteten Sizilien in der altrömischen Weise. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts bezog zum Beispiel der Bischof von Rom allein eine Million Frank von seinen fizilianischen Besitztümern ; die Kirchen von Ravenna und Mailand besaßen dort unermeßliche Latifundien ; Gregor I. verteidigte das Sklavenwesen in Sizilien und noch lange Jahrzehnte nach ihm bestand, wie sich ein berühmter Kenner der dortigen Geschichte, D. Hartwig (Kultur- und Geschichtsbilder von Sizilien , Preußische Jahrbücher) ausdrückt , der größte Teil des Reichtums der Nachfolger Christi in Sklaven. Die Sarazenische Eroberung trug gewiß nicht dazu bei, das Volk von diesem Zustand zu erheben, da sich zu der Willkür des Erorberers der alte
Nichtmohammedanisches vernichtende Glaubenshaß gesellte. Als die Normannenfürsten Sizilien von den Sarazenen befreiten, führten sie dort die Feudalherrschaft ein ; das Land wurde zwischen Krone, Kirche und Adel verteilt ; das Volk folgte seinem Lande und kam von dem Sklaven in den Lehenzustand, und bis in die jüngste Periode bezw. bis zum Jahre 1838 hat sich dieser Zustand, wenn auch mit anderem Namen und unter veränderten äußerlichen Verhältnissen, bewahrt. Die Folge war die, daß das Land in volkswirtschaftlicher Hinsicht verarmte , der Handel , Ackerbau und Reichtum sich in und um die größeren Städte konzentrierte, das Innere aber je mehr und mehr vernachlässigt wurde und verwüstete ; in politischer und in sozialer Hinsicht aber, daß das Volk sich in das Gefühl hineinlebt , daß es ein blindes, rechtloses Werkzeug in der Hand eines Eroberers sei, daß sein eigentlicher Feind derjenige sei , der die Herrschaft besäße und folglich auch dann gegen diesen Tyrannen alles erlaubt ſei , um die Unterdrückten zu befreien, oder wenigstens um dieselben gegen dessen Willkür zu schüßen , oder auch noch um Rache zu nehmen gegen den einen oder den andern, der es mit dem „ Tyrannen“ hielt und in Gemeinschaft mit demselben das Volk unterdrückte. „ Keiner von uns darf erwarten, daß ihm die Regierung zu seinem Rechte verhelfe ; unser Recht müſſen wir selber auf eigene Gefahr hin wahren" : dies war der Gedanke, der in dem ganzen Lande obwaltete. So geschah es, daß der eine oder der andere , wenn er sich in seinem Rechte verleßt glaubte, zu der Selbsthilfe griff, daß Gewalt thaten gegen diejenigen Beamten oder reichen. Grundbesitzer, deren Handlungsweise man besonders schwer empfand, unternommen wurden, und wie in Corsika der mit der Obrigkeit in persönlichen Konflikt Gekommene in das undurchdringliche Dickicht der Mâquis , so flüch tete der Sizilianer in das unwegsame Innere der Insel, wo er, von den gleichgesinnten, ſeiner That Bewunderung zollenden Landbewohnern aufgenommen, in irgend eine Höhle versteckt und monatelang genährt und unterhalten wurde. 1) Was der einzelne unternommen , das unter-
1) Latitanten und Briganten hieß man die Leute ; sie waren geachtet wie die serbischen Heiducken , wie die corsikanischen Maquisbewohner, die auch nichts anderes als solche „Briganten“ waren.
Sizilianische Kulturbilder. nahmen mehrere, die sich in demselben Gedanken einer gemeinsamen Rache zusammengefunden und eine Bande" war gegründet. Die politischen Parteien bemächtigten sich dieser willkommenen und willfährigen Werkzeuge. Zu den Elementen, die, in den Städten, seit etwa einem Jahrhundert an der Erhebung des Volkes arbeiteten , fühlten sich die persönlich mit der Regierung oder den bestehenden Verhältnissen Verfeindeten hingezogen, und jenen Elementen konnte nichts erwünschter sein, als solche thatenlustige und mutige Kampfgenossen Anderwärts gesellten sich aber zu finden. freilich wieder zu diesen „Briganten" andere Elemente, wie sie sich in allen Ländern und unter allen politischen und sozialen Verhältniſſen vorfinden : gewöhnliche Strolche und Diebe, entlaufene oder freigelassene Sträflinge, eine buntgemischte Gesellschaft, die bald die eine, bald die andere Seite herauskehrte, bald als wild-politische, die Revolution vorbereitende oder derselben in die Hände arbeitende, bewaffnete „Partei " , bald als eine zu einem besonderen Zwecke der persönlichen Rache vereinigte „Maffia“, bald als eine einfache Diebsbande auftrat. Aus dieser bunten Zusammensegung erklären sich auch die widersprechenden Urteile, die über das fizilianische Banditentum gefällt worden sind. Je nachdem ein Schriftsteller oder ein Zeitungskorrespondent dieses oder jenes Moment besonders ins Auge gefaßt hatte oder von demselben besonders berührt worden war, malte er die Briganten in der einen oder in der anderen Färbung aus ; heute waren es romantische Helden, die die Unschuld beschüßten , die sich, wie südliche Karl Moors, zum Kampfe für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erhoben und deren sich sogar die Oper bemächtigte, um sie als moderne fahrende Ritter zu verherrlichen, und morgen waren es blut- und gelddurstige Missethäter, die den Reisenden hinter einem Felsblock auflauerten, dieselben in eine Höhle mitschleppten, sie pfändeten und schließlich erwürgten, der Abschaum der Menschheit und die Schande Italiens . Seit einem oder zwei Jahrzehnten hat ſich in dem Brigantentum vieles verändert und in der nächsten Zeit dürfte Sizilien mit Eröffnung der neuen Eisenbahnen mehr und mehr in die Bahnen der geregelten, nordeuropäischen Kultur eintreten. Mit der Herrschaft der
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Bourbonen hörte auch die eigentliche Herrschaft der Briganten auf. Eine Herrschaft darf man dies damalige Brigantentum nennen, denn soweit waren die Dinge gediehen, daß die Provinzialverwaltungen selbst sich mit den Briganten ins Einverständnis zu stellen gezwungen waren, um nur noch einen Schatten von Sicherheit in dem Innern aufrechtzuerhalten. Die Bevölkerung war nämlich mit den Räubern in geheimer und allseitiger Konnivenz ; diese fanden überall Obdach und Unterstützung ; überfielen sie einen Postwagen, so stellten sich die darin Befindlichen niemals zur Wehr ; sie ließen geschehen, was geschehen sollte, und ſuchten sich noch mit den Räubern auf guten Fuß zu sehen: die Briganten waren mächtiger als die Regierung, und mit dem Mächtigen darf man es nicht verderben, sagt die sizilianische Weisheit. Wollte damals ein Kaufmann, der eben nicht durch besondere Umstände mit den Briganten verfeindet war, oder auf den dieselben es nicht förmlich abgesehen hatten, seine Waren oder sein Geld sicher von einem Ende Siziliens an das andere führen, so brauchte er nur, durch Vermittelung der Provinzialverwaltung , die Banditen von seinem Vorhaben zu benachrichtigen; eine Summe, die an dieselben abzuzahlen sei, wurde vereinbart, und erfolgte die Zahlung pünktlich , so war niemand sicherer, als dieser kluge Reisende ; die ihn begleitenden Dragoner waren von den Räubern beschützt, und niemand wagte es, ihnen ein Haar zu krümmen. War aber irgend ein Grundbesitzer oder ein Beamter mit einem Mitgliede dieser Gesellschaft, oder mit einem Freunde derselben, in Streit geraten, hatte er sich an jemandem , der mit dieser „Maffia“ zusammenhing, vergriffen, dann konnte ihn auch nichts vor seinem Schicksal bewahren : auf Schritt und Tritt wurde er bewacht, verfolgt, bis er bei passender Gelegenheit den Räubern in die Hände fiel. Diese schleppten ihn fort, versteckten ihn in einem Landhause, in einer Höhle, und nun ging es an das regelmäßige Pfänden der Unglücklichen. Nicht immer war es die blasse Habgier, welche die Räuber bei einem solchen Handstreiche leitete : meiſtenteils lief daneben noch ein anderes, tiefer liegendes Motiv mit. Es handelte sich darum, sich zu rächen, der Regierung oder dem Grundbesizer eine, in der Meinung der Briganten unrechtmäßig erhobene Summe Geldes wieder abzu
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Erich Hernack. Junge Rose.
nehmen, dieselben auch wegen dieser unrechtmäßigen Handlung zu strafen, ihnen und ihren ---Anhängern Furcht einzujagen; zugleich aber auch die Kasse der Banditen wieder zu füllen, denn Geld brauchten sie, um Pulver, Flinten, Pferde zu kaufen und um ihre Helfershelfer in guter Stimmung zu erhalten. Mit diesen Zuständen hat man heutzutage nicht mehr zu rechnen. Die jeßige Regierung hat ihnen ein Ende gemacht : was übrig geblieben, ist was man in allen, auch in den gesittetsten Ländern findet , eine gewisse Anzahl von Strolchen und gewöhnlichen Dieben, deren Auftreten eben dem Wesen der sizi lianischen Verhältnisse, der Natur des Landes, der Beschaffenheit des Bodens entspricht. Es kommt noch vor , obwohl in immer spärlicherer Erscheinung, daß sich einige Raubgenossen verbünden, um einem bekannten, reichbegüterten Mann aufzulauern, ihn fortzuschleppen und auszupfänden ; gegen Unbekannte, Unbemittelte, oder gar gegen Fremde, wird aber ein solches Unternehmen nicht in Szene gesetzt und mit vollem Rechte konnte Mommsen erklären , man sei sicherer in Sizilien als nachts im Tiergarten von Berlin. In dem Jahre 1880 sind meines Wissens nur zwei solche Fälle vorgekommen , bei Palermo und bei Girgenti ; beide waren auf seemännliche Verfeindung und Rache zurückzuführen ; und während der erste ein tragisches Ende nahm so gelang es im zweiten den Behörden, den in einer Höhle untergebrachten Unglücklichen noch rechtzeitig zu befreien , und seiner Räuber habhaft zu werden. Der lettere Moment ist dadurch merkwürdig und bedeutend, daß die Bevölkerung den Karabinieris half, den Briganten auf die Spur zu kommen, und den Schlupfwinkel, in welchem sie ihre Opfer versteckt hatten, zu entdecken. Ohne die Mitwirkung der Einheimischen ist es überhaupt undenkbar , daß die Gendarmen mit Erfolg einer solchen Räuberbande die Jagd geben, da besonders in dem südlichen Teile der Insel unendliche Höhlen , frühere Schwefelminen , verlassene Gruben, sich nach allen Richtungen hin durch die Felsen und Berge winden, und ein unförmliches Labyrinth bilden, in welchem derjenige, der der Konnivenz der Bevölkerung sicher wäre, sich jahrelang allen Nachforschungen zu entziehen im stande wäre. Fängt aber die Bevölkerung an, den Vertretern der Obrigkeit
an die Hand zu gehen, so hat auch die lezte Stunde des Brigantentums geschlagen ; die Furcht, die bis vor zwanzig Jahren, den Einheimischen die Arme gebunden hielt, ist ge= brochen; und da überdies der Nimbus, den die staatlichen Konstellationen früher um die Briganten gezogen hatten , verlöscht ist, so scheint der Tag gekommen zu sein, wo Sizilien zwar noch, wie alle andern europäischen Länder, Diebsgesindel, entlassene, oder entlaufene, und auf neue Unthaten ausgehende Sträflinge, welche hier und da einen Gebietsteil unsicher machen können, besigen, wo aber das immerhin unheimliche Brigantenwesen verschwunden und nur noch, wie so manches andere, in dem Bereich der Geschichte und der wunderbaren Romane zu verlegen sein wird.
Junge Rose. Don
Erich Bernaɗ.
Junge Rose, lieblich entſproſſen, Duftest so süß, duftest so hold, Leuchtest von holder Scham übergoffen, Glühest und funkelst wie schimmerndes Gold .
Junge Rose, halb erst erschloffen, Blickest so kensch, blickest so rein, Strahlst von des Abendlichts fluten umflossen Herrlich in lichtem himmlischen Schein. Junge Rose, kaum erst geboren, Schütze dich wohl, wahre dich gut! Schnell bist du welk, verachtet, verloren , Birgst du dich nicht vor des Mittags Glut. Junge Rose, reizende, hehre, Deck' mit den Blättern dein zartes Rot, Daß nicht des Sturmes Gewalt dich versehre, früh dir bereitend grausamen Tod !
Kallmorgen & Rathaus zu Emden.
Ins
Seebad !
Bon Joseph Kürschner.
it den Bädern ist es ähnlich | Baltrum, Norderney und Juist, die wie sie wie mit den Frauen , die sämtlich preußisch sind, bildet sie eine Kette, schönsten und prunkendsten die sich längs des Jeverländchens und der ostsind nicht immer die ange- friesischen Küste hinzieht — die Reste eines nehmsten, wenigstens nicht für den, der in der Ehe Ruhe und Behag lichkeit , in den Bädern Erholung und Ausspannung sucht. Wer diese braucht , eilt nach irgend einem stillen Erdenwinkel , deren es Gott sei Dank noch immer für alle Arten von Bedürfnissen gibt. Solch ein kleiner Flecken, weltabgelegen , umrauscht von den Fluten der See, wenig gekannt, unberührt vom lärmbringenden Touristenstrom ist die kleine ostfriesische Insel Borkum , welche weitab vom Festland, draußen in der Nordsee liegt. Mit ihren Genossinnen Wangeroog, Spiekeroog, Langeroog,
vom Anprall der Wogen allmählich zerbrochenen Dünenrings. Die beste Gelegenheit, zu diesem heilkräftigen Eilande zu gelangen , ist die Dampfschiffverbindung von Emden aus, wo der Weitherkommende gewöhnlich übernachten und, wenn es die Flut, von der die Dampfschiffahrt abhängig ist, will, auch noch einige Stunden des Tages verweilen muß. Aber gerade für den, der aus andern , dem Meere fern gelegenen Gegenden kommt , ist dieses Hindernis nicht halb so schlimm, als es dem das Ziel Ersehnenden für den ersten Augenblick erscheinen mag. Es bietet der Sehenswürdigkeiten genug
Joseph Kürschner.
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und nicht nur in Einzelheiten , sondern auch in dem Gesamt der Erscheinungen.
Emden. Wer abends mit dem Eilzug angekommen ist, sich müde niedergelegt, darauf geschlafen hat,
Rettenbrüde in Emden.
bis ihn die Sonne aus füßem Traume weckt und dann den Kopfzu den schwerfälligen Schiebefenstern hinaussteckt, wird sich verwundert die Augen reiben. Er sieht sich in eine andere Welt
wasserhafen erhoben und den Ems-Jade-Kanal in Angriff nehmen lassen. Einen schönen Blick auf die See, vor deren Ueberflutungen die Stadt durch Eindeichungen geschützt ist, hat man vom Turm des Rathauses aus, das besonderes Interesse verdient. Es stammt aus dem 16. Jahrhundert und ist dem berühmten Rathaus in Antwerpen nachgebildet. Unter den Sammlungen, die sein Inneres birgt, erfreut sich mit Recht die Rüstkammer eines guten Rufes , deren Eindruc leider in manchen Teilen unter einer wenig entsprechenden Aufstellung leidet. Aber um Waffen zu sehen, braucht man nicht ans Meer zu reisen und gewiß ziehen den Fremden die sehenswerten Schiffswerften , das Bahnhofsdock, und selbst die Emdener Heringsfischerei mehr an, als alle Hau- und Schießwerkzeuge des Emdener Rathauses. Die Emdener Fischerei ist wichtiger als sie dem Laien erscheinen mag. Troß aller trüben Erfahrungen, die sie eigent lich seit ihrem Bestehen bis vor kurzer Zeit gemacht hat, wird sie doch noch für Deutschland
versezt : die sauberen Häuser mit ihren breiten, kleinscheibigen Fenstern, ihren verschnörkelten Giebeln, die gravitätisch nach der Straße schauen , gemahnen an Holland, und die Kanäle, auf deren Wasser sich träge Schiffe und Kähne schaukeln, die Laute, die heraufdringen bis an das Ohr des Fremdlings , bestärken noch seinen Wahn, als befinde er sich in dem Lande der Mynheers. Kurze Zeit freilich ist auch die alte Hauptstadt Ostfrieslands holländisch ge= wesen, aber es war nur wenige Jahre in jener verhängnisvollen A. Clors.X.J. Zeit, da ein Königreich Holland der Botmäßigkeit Frankreichs unterstand. Jezt ist sie wieder gut preußisch wie seit anno 1744 , während sie 1815 bis 1866 zu Hannover gehört hatte. Preußen hat die gute Lage der aufblühenden See- und Handelsstadt recht zu nüßen gewußt, den trefflich gelegenen Hafen zu einem Hoch
A
Landungsplatz in Emden.
die eigentliche Zubringerin der Meeresschäße werden. Nachdem viele Versuche fehlgeschlagen sind , gelang es der Emdener-HeringsfischereiAktien Gesellschaft endlich 1880 im ganzen 8065 Tonnen Heringe auf den Markt zu bringen,
Ins Seebad!
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die 250 483 Marf erzielten. Auch sonst ist durch Emdens Vermittlung unserem Vaterland schon viel von dem lebenden Reichtum des Meeres zugeflossen und so langweilig auch alle statistischen Angaben zu sein pflegen , mag es doch noch erwähnt sein, daß Emden schon in einer Woche 13 Waggons voll Schellfische Mit der Zeit nach dem Inland abführte.
Emden liegt nicht direkt an der Ems, die früher an der Stadtmauer vorbeifloß, sondern ist jezt durch einen breiten Kanal mit ihr verbunden, durch den auch die Dampfschiffe ihren Weg nehmen, welche Passagiere nach Norderney und Borkum führen .
werden sich diese Verhältnisse noch heben und vieles zum allgemeinen Wohlstand beitragen, besonders dann , wenn die Regierung ihnen fräftige Förderung angedeihen läßt.
Als ich zum erstenmale diese Wasserstraße entlang fuhr, war es noch früh am Tage, der Himmel schaute trüb und verdrossen drein und ließ nirgends durch das finstere Gewölk ein
Die Ueberfahrt.
Ostfriesische Sägemühlen.
gut Wetter verheißendes, blaues Fleckchen hindurchschimmern. Langsam bewegte sich das Schiff zwischen den bald grünen, bald schlammgelben Ufern des Kanals vorwärts, die auf dem eintönig grauen Hintergrund einen unendlich melancholischen Eindruck machten. Nachdem die mächtige Schleuse passiert worden , begannen sich die Ufer zu weiten, die Wogen trieben stärker, frischer bließ die leichte Brise und freier und rascher verfolgte das Gefährt seinen Lauf. Von einer Klärung des Wetters zeigte sich indessen keine Spur im Gegenteil. im Es war wirklich nicht mehr zum Aushalten mit diesem grauen Gewölk, das sich nicht damit be-
gnügte, langweilig zu sein, sondern allen zum Aerger, gläubigen Wetterpropheten zum Troß auch noch einen feinen Regenschauer herniederrieseln ließ, der jedes Kleidungsstück durchdrang und schließlich die Passagiere in den Zustand des " Gebadethabens vor dem Abtrocknen" verseßte. Man hätte allen Grund gehabt, dem Himmel. ernstlich zu grollen , allein er kam darin den Uebellaunigen zuvor. Unverhofft durchzuckte eine flimmernde Helle die Luft und einige Sefunden darauf rollte ein leichter Donner über die lebhaft bewegten Wasser. Allein auch die Hoffnung , daß ein Gewitter die Prosa der Fahrt in etwas verdrängen würde, erwies sich
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Joseph Bürschner.
als trügerisch; das Wetter zog rasch vorüber und nur der Regen blieb uns treu. So mochten zwei Stunden verflossen sein, als sich endlich das Gewölk ein wenig lichtete. Die nassen Schauer kamen nur noch stoß weise, der Nebel schien in den Fluten zu versinken, und nun erkannte das staunende Auge, daß der Dollart hinter dem Schiffe zurückge blieben, daß vor ihm die See ausgebreitet lag. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das beim ersten Anblick der See in menschlichen der Seele erwacht. Das Bild der Unendlichkeit , des ewig des Lebendigen , Befortdauernd wegten, des Großartigen in seiner gewaltigsten, überwältigendsten Form hier ist es gefunden. „Das Bild der wahren Größe Erhab❜nes Meer bist du!" der
Beim Anblick gewaltigen,
wellenbewegten Wasserfläche ver= stummen die thörichten, nach klein-
einsamkeit ! Kein saftiges Grün säumt ihren Strand, fein baumgekröntes Berghaupt ragt über die Dünen den Wolken entgegen. Ded und melancholisch steigt sie aus den Fluten hervor, die in stets erneutem Laufe andringen, die sandbedeckten Dünenhügel mit erfrischendem Naß zu neßen und zwischen den spärlichen Anpflanzungen bunten Muschelschmuck und duftig weißen Schaum zurückzulassen. Aber unempfindlich für das trauliche Spiel kosender Wellen, wie für die begierdevollen Angriffe hastig sich überstürzender Wogen stößt sie das schmeichelnde wie das stürmische Meer zurück, wohl wissend, daß Hingebung an das Werbende der eigene Untergang. Nur noch eine kurze Strede hatte das Schiff zum Strande zu durchmessen, da erfüllte sich das lang Erhoffte: ein sonniges Lächeln glitt über das thränen-
feuchte Himmelsantlig und warf feine erwärmenden Strahlen auf die Sandhügel, daß sie, wie verklärt, ein Willkommen den
lichen Dingen trachtenden Wünsche, die Brust wird. Auf der Ems. entlastet vom Druck Nahenden zu bieten schienen. der Alltäglichkeit, der Geist so frei und leicht, daß er sich hineinDort, hinter uns, ist es hinabgesunken, das große Festland mit Freud und Leid und den stürzen möchte in die Unendlichkeit des Raumes, und im Herzen klingt's ernst und feierlich und tausend Anknüpfungspunkten, an die Liebe und Gewohnheit uns gekettet. Eine gewaltige Kluft, aus den Tiefen menschlichen Fühlens und Emgefüllt mit einem trügerischen Elemente, trennt pfindens schwingt sich ein Gefühl bewundernder Anbetung empor zu dem Ewigen über uns.uns von ihm, und als Ersatz alles dessen, was Nur kurze Zeit ist die Wasserfläche beim wir verlassen - das einsame Inselland dort, kaum eine Stunde breit und ihrer vier in Austritt aus dem Dollart für das Auge eine nach vorn unbegrenzte; bald erhebt sich die Länge. Wenn du auch einsam und kalt ausgeschaut im Norden des Horizonts die Dünenkette der Insel Borkum. als ich zum erstenmal dich sah, wellenumwogtes Eiland, bist du mir doch ein freundlich Wie verlassen liegt sie da in ihrer Waſſer-
Ins Seebad!
Heim geworden, deine Dünen ein festes Bollwerk gegen Uebles und Aufregendes. Die Allen anhaftende Begier, der faustische Drang des Unersättlichen, sie vergingen vor deiner Einfachheit, die so wohlthätig erfrischt und gesundet. Darum sei gepriesen, Heimat des Friedens, hab Dank für deine gastfreundliche Aufnahme! Näher und näher rückt die Dünenkette, die Bewegungen des Schiffes vermindern sich,
An Bord des Kronpring".
ein kurzer Ruck : das Dampfboot „ Kronprinz" ist auf der westlichsten der ostfriesischen Inseln, auf Borkum, gelandet. Hochräderige Wagen, die bis über die Aren in dem am seichten Strand verlaufenden Wasser fahren , nehmen die Passagiere auf und im ruhigen Tempo geht's durch einen Einschnitt in den Dünen dem Dorfe zu, dessen saubere Backsteinhäuser in ländlicher Frische zwischen dem vollen Grün weitgestreckter Wiesenflächen prangen. Stillleben innen und außen. Kräftige Seeluft strömt zu meinem Fenster herein und ein verirrter Sonnenstrahl spielt auf dem Strauße duftiger Rosen, mit dem
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eine unbekannte Hand mein Zimmer geschmückt. Es ist ruhig und still um mich her, nur vom Strand her tönt das Rollen der Wogen und hinter mir tidtackt die mächtige Wanduhr. Ein seltsames Stück, diese Uhr ; alt und ehrwürdig , aus Eichenholz geschnitt und mit blinkendem Messing reichlich geziert. Ihr Schlag klingt geheimnisvoll und der Pendel nicht bedächtig bald nach dieser, bald nach jener Seite, als wäre er erstaunt und unzufrieden zugleich über den neumodischen Gast, der so gar nicht in die altväterische Umgebung paßt. Oben, über dem mächtigen Zifferblatt hat der geschickte Uhrmacher ein kleines Ruderboot angebracht, das bei jeder Schwingung des Pendels sich bewegt und gewiß schon mehr als eine heranwachsende Generation erfreut hat. Wie mancher Schlag dieser Uhr mag mit bangem, oder vor Freude klopfendem Herzen erwartet worden sein ! Wer kann es wissen, wer kann es erraten! Nur ein Ereignis aus ihren Erlebnissen hat sie mir mitgeteilt die alte Uhr und auch dieses nur bruchstückweise, so daß ich die alte Wirtin — eine saubere Frau mit viel Lebendigkeit, troß ihres Alters - um eine Ergänzung bitten mußte. Vielleicht war es der bedeutungsvollste Moment des einsamen Uhrdaseins , den ich da erfuhr und er war nicht erfreulich, vielmehr so traurig , daß die alte Uhr seit jenen Zeiten ihren kräftigen Schlag verloren hat und nur noch heiser und stockend die Stunden verkündet. Es ist eine einfache Geschichte und doch von herzergreifendem Weh, diese Erinnerung aus dem Leben einer alten Uhr. Es lag damals Schnee ringsum auf Wiesen und Dünen, Eisschollen trieben am Strand und der Sturm heulte, daß man glauben konnte , die Insel gehe ihrem Untergang entgegen. Drinnen in der Stube, aus deren Fenstern ich jetzt über die grünenden Flächen schaue , saßen bei mattem Licht zwei Menschenkinder, die nichts zu hören schienen von der Wut mit der die Windsbraut tobte und die Kälte nicht empfanden , die draußen herrschte, denn in ihren Herzen erflangen süße Harmonieen der Liebe und das Feuer gegenseitigen Wohlgefallens erwärmte sie. Er war ein stämmiger Bursch, dem der blonde Bart gut zu dem gebräunten offnen Gesichte stand, seine Arme waren so kräftig und sehnig, daß das Mägdlein wohl Sicherheit empfinden 63
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Joseph Bürschner.
und in diesem Gefühle des Geborgenseins den brausenden Sturm überhören konnte. Es war der Tag vor dem Weihnachtsabende , an dem das glückliche Paar vor den Altar treten und den Bund fürs Leben besiegeln sollte. Erst als die Glocke der alten Uhr Mitternacht ver-
das fahle Tageslicht hinten am Horizonte hervorkam, klopfte es ungestüm am Hausthor Tenna öffnete. Welch ein Anblick! Bier Män ner brachten den Geliebten , der heute ganz der Ihre werden sollte, brachten ihn , bleich und kalt und tot. Seine Kleider waren durch-
kündete, trennten sich beide und Tenna wies schelmisch auf das Ruderboot über dem Ziffer beim Sprechen halb erblatt und meinte rötend - „Wenn noch 12mal sechzig das
näßt und von den Haaren rann Tropfen auf Tropfen - der Arme hatte in den Fluten seinen Tod gefunden. Gestrandeten Schiffern war er zu Hilfe geeilt und bei diesem Werke christlicher Barmherzigkeit vom frühen Tod ereilt worden. Und nachdem " 12mal sechzig das Schifflein sich bewegt" saß Tenna weinend am Sarge des Geliebten, den sie mit bräutlichen
Schifflein sich bewegt hat, dann -". Sie schloß den Saß nicht, aber er wußte was sie sagen wollte und füßte die frischen Lippen. Dann schieden sie. Am nächsten Morgen, eben als
Ginzäunung mit Walfischknochen.
Armen in dieser Stunde zu umfangen gewähnt. — Arme Tenna, haucht es aus dem Schallloch der alten Uhr heraus und dann tidtacte es so gleichmäßig weiter, als wenn nichts geschehen wäre. * * * Ueber die Erzählung der alten Uhr ist die Zeit verstrichen ; die Sonne neigt sich dem Westen zu, die Schatten verlängern sich und in den Winkeln der Stube wird's dämmerig. Das Herz ist wehmütig gestimmt, es treibt aus den engen Wänden hinaus ins Freie, und willig folg' ich dem Drang. Ein schöner, ein friedlicher Abend !
Ruhe, herzerquickende Ruhe überall , allüberall : ein liebliches wohlthuendes Bild, wohin immer das Auge sich wendet. In scharfen Linien heben sich die lang= gestreckten, nahgerückten Dünenketten von dem blauweißen Himmel ab, an dem leicht zusammengeballte weiße Wölkchen ruhig dahinziehen. Stattliche Herden weiden auf den saftig grünen Wiesen, die zwischen den Dünenhügeln sich ausbreiten. Vor mir liegt das Dorf; eine Anzahl meist einstöckiger Backsteinhäuser mit hohen Dächern und einem Ausbau nach der hinteren Seite, in dem sich die Wirtschafts- und Wohnräume der Insulaner befinden , während die Fremden in dem Hauptbau bequemes Unter-
Ins Seebad!
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allmor
ge
Al105$.Sc.
Dünenformation.
kommen finden. Gartenähnliche Vorplätze, bald von einer bemoosten Steinwand, bald von grün bewachsenen Erddämmen, auch leichtem Latten= werk oder vom Wetter arg mitgenommenen Walfischknochen umschlossen, ziehen sich um die meisten Wohnungen, vor denen Mütter nach des Tages Last zärtlich mit ihren Kindern spielen. Nur wenige Fremde bewegen sich auf den ziegelgepflasterten Wegen, viele bringen den Abend daheim, in der vor keinem Hause fehlenden, Segeltuch überspannten Hütte zu, die meisten aber haben sich gesellig in den Gärten der drei Gasthäuser versammelt und kürzen mit Plauderei und mannigfachem Spiel die Stunden oder promenieren bei den Klängen lustiger Weisen, mit denen eine kleine Kurkapelle nicht kargt. Alles atmet Frohsinn und Heiterkeit, keine drückenden Formen verderben die Laune, kein Zwang herrscht in dem gesellschaftlichen Zusammenleben und was an Eleganz und Komfort abgeht, ersetzt vielfach die wohltätige Freiheit, mit der man sich hier bewegt. Eines Schmuckes freilich entbehrt Borkum fast gänzlich : das sind Bäume und Sträucher, die nur an einigen geschüßten Stellen und auch an diesen nur spärlich gedeihen. Dieser Mangel gibt der Landschaft einen ganz eigen artigen Charakter. * * *
Die scheidende Sonne hat die Wolken mit
zartem Rot umsäumt wenige Minuten später und sie sinkt hinab. Die Dämmerung bricht ein und bald folgt völlige Dunkelheit, durch die das Licht des Leuchtturmes meilenweit seine erhellenden Strahlen sendet, ein Trost- und Warnungszeichen für einsame Fahrer auf weiter See. Am Strande. Berwichene Nacht hat's start gestürmt, donnernd haben sich die Wogen überstürzt, als wollten sie die Insel verschlingen mit Mann und Maus. Manch schwaches Frauenherz mag in Furcht gebangt haben, ums eigene Leben, wenn's einer Fremden, um das des Geliebten, der draußen schwimmt auf hohem Meer, wenn's einer Einheimischen gehört. Aber nun ist's vorbei und der Himmel schaut so blau, als wenn die Nacht nur ein böser Traum gewesen, und Jung und Alt ist auf den Beinen nach dem Strande. In Dorfe trennt sich der backsteinbepflasterte Badeweg, das schöne Geschlecht zweigt zur linken, das starke zur rechten Seite ab, denn nicht wie in ausländischen Seebädern baden hier Männlein und Weiblein ungeniert zusammen, sondern fein sittsam sind sie geschieden voneinander durch eine ansehnliche Strecke. Bis die Höhe der Dünen erreicht ist , bleibt das Meer dem Auge verborgen, dann aber offenbart es sich plöglich in seiner vollen Pracht, zu dem hohen Genuß des Bades
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Joseph Bürschner.
einladend.
Auf sanft nach den Fluten sich | neigender Ebene gelangt man ins kühle Naß. Das angenehme Gefühl der ersten prickelnden Wogen macht uns fühner, Schritt für Schritt wagen wir uns weiter vor, bis mit einemmale eine mächtige Welle zischend und brausend her niederfällt und mit
Meer laufen und dessen wuchtigen Anprall abschwächen. Nicht nur, daß man von hieraus dem Spiel der Wogen und dem lustigen Durcheinander der Badenden zuschauen kann , sieht man von hieraus auch da und dort am Horizonte ein Schiff vorüberfliegen und hat Gelegenheit unmittelbar
zu Füßen einen Einblick zu thun in eine fremde Welt. Denngerade an den Buhnen schwemmt das Meer
überraschender Ge schwindigkeit den fühnen Eindringling auf den Kopf stellt. Lustiges Geschrei über das Mißgeschick des
am ehesten seine wunderbaren
Neulings erfüllt dieLuft, schon der beim nächstenmale vorsichtiger, in gebückter Stellung die Welle „ab-
fängt". Kaum minder anregend als das Bad selbst ist die Strandpromenade nach demselben. Fühlt man sich auch et was abges spannt , die frische Brise erweit die Lebens-
all rgenr mo
Tak
geister, das muntere Treiben und die Neuheit der Umgebung machen alle Müdigkeit vergessen. Zudem laden Bänke zum Sißen ein und wer besonders vorsorgt, bringt sich große, laubenartige Körbe mit, die gegen allzustarken Wind trefflichen Schutz gewähren. Am gesuchtesten sind die primitiven Ruhesize auf den Buhnen, jenen aus mächtigen Steinquadern bestehenden breiten Dämmen, welche vom Strand aus ins
Der alte Leuchtturm. Kinder am Strande. - Strandforb.
Gewächse an; dort sind es die fleinen feinfädigen rötlichen Ceramien, hier grün- oder schwarzsamige Algen. Aber auch das Tierreich sendet an diese Stelle zahlreiche seiner Bertreter . Neben Aktinien, Seeanemonen und Meertannen
findet man die gallertartigen Quallen , die schön gestrahlten Seesterne, die verschiedenen Muscheln, die in zahllosen Exemplaren auch den Strand bedecken, Krabben, Meerflöhe, zahlreiche Fischarten und die schmackhaften Granellen, die , wie andere Geschöpfe des Meeres , in Menge auf Borkum gefangen werden. Man kann einen großen Teil der Insel während der Ebbe auf dem breiten Strand
Ins Seebad!
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umgehen, der da, wo ihn die Flut voll trifft, | Untersinken durch zwei große eiserne Kasten bezur Ebbezeit eine angenehm zu beschreitende wahrt. Rings um den oberen Rand läuft ein Fläche bildet, während die sonst weniger dem mit Segeltuch überzogener Korkring, der nicht allein die Tragfähigkeit vermehrt, sondern auch Wasser ausgesetzten Teile den Gehenden leicht ermüden. An verschiedenen Stellen wird der das Anprallen an andere Schiffe unmöglich macht. Die an den Seiten an Ketten herabhängenden Weg unterbrochen durch Strecken Schlicks, einer zähen, dunkeln, schlammartigen Masse. Wenn Holzkugeln haben den Zweck, im Augenblick die Flut naht, füllen sich all die kleinen Rinnder Gefahr Rettungsbedürftigen, die im Boot selbst keinen Plaß mehr finden können, einen sale am Strande mit Wasser, rings gurgelt und Halt zu gewähren. Diese Vorsicht ist keine überzischt es, als ob das Wasser aus dem Boden selbst heraus käme , und wer unachtsam ist, flüssige ; schon mehr als ein Schiff zerschellte dem fann es wohl passieren, daß er sich plötz in der Nähe Borkums , und wie Sylt hat lich rings von dem feuchten Naß umgeben sieht. auch Borkum seine Heimatstätte für Heimatdie Während lose", hier „ Drindie Zeit der von Flut feldoden den BadenKardhof" heißt Auf den benutzt wird, ist die ihm schläft Beit der so mancher Ebbesorecht den ewigen Schlaf, des eigentlichdie Herkunft ZeitdesPronur noch menierens Einer weiß. und SichDie Geergehens. DieKleinen fährlichkeit finden der Einin dem Sandfahrt in die Ems zu ver boden , den meiden, sind fie mit ihren auf Borkum Holzschaufeln und die sog. Spaten zu "Kaaps " Co X. ol . z J. A bearbeiten aufgestellt, wissen , ein Krabbenfischer. mächtige leicht zu be Holzgerüste, welche dem Seefahrer anzeigen, wo er sich behandelndes Material, das sich zur Aufführung befindet und welchen Weg er zu nehmen hat. kleiner Festungen und Schanzen gar wohl eig net, die freilich schon die nächste Flut wieder Während der Dunkelheit übernimmt das feste, weiße Licht des Leuchtturms die Aufgabe, den dem Erdboden gleich macht. Die Gesellschaft der Großen findet an anderm. ihre Freude und Schiffen ihren Weg zu weisen. Und selbst dann nicht zum letzten an der Ankunft der täglich wird der Strand noch nicht leer. Denn wenn neue Gäste bringenden Dampfschiffe. Auch die auch bei völliger Finsternis das Rauschen des Rettungsboote ziehen die Aufmerksamkeit des Meeres einen unheimlichen, Furcht erweckenden Binnenländers auf sich. Borkum besißt ihrer Eindruck macht, so bietet die Wasserfläche ein um so überraschenderes und anziehenderes Bild, zwei, ein großes für 12 und eines für 6 Ruderer: das erstere befindet sich auf dem wenn das Mondlicht die Kämme der Wogen Westland und ist dadurch dem Fremden am mit seinem Lichte versilbert, oder das seltenere ehesten zugänglich. Aus wellenförmig gepreßSchauspiel des Phosphoreszierens das Wasser erglänzen läßt und Milliarden von Tropfen in ten und mit Zink und Delfarbenanstrich überzogenen Eisenplatten gebaut, wird er vor dem bläulich glitzerndem Lichte aufleuchten.
Ernst Voges.
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Das Ostland. Innerhalb der Grenzen seiner Dünen bietet Borkum wenig. Zwar erquickt das frische Grün der Wiesen das Auge, aber dauernd vermag dieser Reiz nicht zu fesseln und so wendet sich die Aufmerksamkeit stets von neuem dem Meere zu. Einige Abwechslung gewährt dagegen die Fahrt vom Westland, auf dem sich das Dorf und Bad befindet, nach dem Ostland, jenem fleinen Teil der Insel, der im 17. Jahrhun dert durch das anstürmende Meer von Westland abgerissen wurde und jezt nur noch durch einen schmalen Sandstreifen mit diesem verbunden ist. Der Weg dahin führt durch die inneren Dünen, deren reichere Vegetation mehr anzieht, als die spärliche der äußeren , auf denen nur magerer Sandhafer ein trauriges Dasein fristet. Kurz bevor man die Dünen des Westlands verläßt, wird der Blick auf ein fleines Ziegelhaus gelenkt, dessen Fenster mit eisernen Läden verschlossen sind. Es bezeichnet die Stelle, an welcher der elektrische Weg über Borkum läuft, der Deutschland mit Amerika verbindet. Sobald die Dünen durchschritten sind,
breitet sich ein verhältnismäßig großes Ackerland aus, von niederem Strauch- und Buschwerk umrahmt, aus dem da und dort ein rotes Das Ziegeldach freundlich hervorleuchtet.
einigem auch von einfacheren Badegästen schmerzlich als fehlend empfundenen Komfort wird sich reichlich lohnen und dem gastlichen Eiland von Jahr zu Jahr mehr und mehr Fremde von Nah und Fern zuführen.
Die Nase der Insekten. Bon
Ernst Boges. Ganze macht mehr den Eindruck des Festlandes und steht in einem angenehmen Kontrast zu dem weit dürftigeren Westland. Das Ostland ist zugleich eine Heimstätte zahlloser Seevögel, die in mehr als einer Hinsicht für die Insel wichtig sind ; denn bilden schon ihre Eier einen gesuchten Handelsartikel, so haben die Vögel selbst auf das Fortkommen des Sandhafers Einfluß, von dessen Gedeihen und Wachstum die Festigkeit der Dünen und damit der Bestand der Insel zusammenhängt. Daß dieser aber noch lange währe und von Jahr zu Jahr mehr gesichert werde, wird Jeder wünschen, der auch nur einmal den heilkräftigen Einfluß Borkums an sich selbst wahr genommen hat. Möchte doch auch von Seiten der Regierung außer der Sicherung durch Buhnen und Strandarbeiten manches geschehen, was den Aufenthalt auf der Insel noch angenehmer und anziehender macht und was dem wenig vermögenden Fischervolk zu thun nicht möglich ist. Die Beschaffung von
Jarum sollten die Insekten auch keine Nase Wa haben? Unstreitig riechen oder wittern sie doch. Denn wie will man es anders als hieraus erklären, wenn ich einen mit Flor umspannten Kasten, in welchem einige Schmetterlingsweibchen sißen, auf den Gartentisch seze und sich nach einiger Zeit mehrere Männchen derselben Art einfinden, von denen vorher nichts zu sehen war. Geradezu possierlich sieht es aus, wie sie mit begehrlichem Ungestüm gegen die Wände des Kastens stürmen und über den Flordeckel hasten, um zu ihren Holden zu gelangen. Und welche schwachbenervte Dame hätte nicht schon , plötzlich erschreckt vor der davon fliegenden Wespe, die Hand von der einladenden Traube gezogen. Nur ein ausgeprägtes Witterungsvermögen zeigte der Wespe den Weg und leitete ihre Auswahl bei der schönen Herbst-
Die Nase der Insekten.
gabe. Daher auch das Sprichwort : Die schlechtesten Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen. Und macht es ferner nicht den Eindruck, als berieche die Wespe die Bohrlöcher in den alten Weidenbäumen, um Larven auf zufinden, an denen sie ihre Eier ablegen kann ? Ebenso verhält sich die Biene. Stellt man im Freien an irgend einem Ort eine Schale mit Honig auf, so währt es nicht lange und die fleinen geflügelten Diebe sind zur Hand. Ja durch ein flötendes „ tütt, tütt" locken sie sogar noch mehr Gefährtinnen herbei , um die süße Beute einzuheimſen. Auch unter den Käfern gibt es große Riecher. Man lege nur ein Stück Fleisch an eine versteckte Stelle und es wird nicht lange dauern, so finden sich gewisse Käfer ein, denen man ohne dieses Hilfsmittel sonst oft vergeblich nachstellt. Oder man achte auf seinen Spaziergängen nur einmal auf die am Wege liegenden Tierleichen. Hier finden wir eine, die noch ganz frisch ist und nur kurze Zeit gelegen haben kann. Noch gewahrt das Auge nichts Auffälliges an ihr , aber bei unserer Rückkehr, da sehen wir eine rege Thätigkeit auf ihrem Plate. Es sind die Totengräber, welche die Sippe der Käfer dem Tierreich gestellt hat. Sie bestatten die Leiche , nachdem fie freilich vorerst ihre Eier in den Kadaver abgelegt haben. Und wie kamen diese lichtscheuen, anders selten gesehenen Tiere, die meist nur nachts ihr Wesen treiben, gerade an diesen Ort ? Ihr Geruchssinn leitete sie wie den Geier der seine zum Aas. Ja von gewissen Sklaven haltenden Ameisen behauptet man sogar, daß sie den Boden beriechen, gleich Hunden, welche des Wildes Spur verfolgen und , daß sie Artgenossen , die jedoch nicht ihrem Staate angehören, am Geruch erkennen sollen. Es ließen sich diese Thatsachen, welche für ein Witterungsvermögen sprechen , noch vermehren. Allein der geneigte Leser wird schon aus den angeführten zu der Ueberzeugung gekommen sein, daß wir den Insekten ein Organ zuschreiben müssen , das in seiner vielgestaltigen Form bei vielen der Menschen fast schon funktionslos geworden ist. Aber wo sigt die Nase der Insekten ? Haben wir sie, wie bei uns, mitten im Gesicht zu suchen, oder an einem anderen, ungewöhn lichen Orte?
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Das sind Fragen , mit denen sich schon die älteren Forscher beschäftigt haben. Aber erst gegen Mitte unseres Jahrhunderts glaubte Lefebure auf Grund physiologischer Experimente die Fühler der Insekten als Siz des Geruchsorgans nachgewiesen zu haben. Dementgegen behauptete freilich der geistreiche Oken , daß die Antennen nicht Geruchs , sondern Gehörorgane seien. Dieser Ansicht pflichteten die späteren Forscher bei, bis denn Erichson, Perris und Leydig infolge erneuerter , eingehender Untersuchungen sich für die erstere Ansicht wiederum erklärten. Darnach brachte Lespés Ende der Fünfziger Jahre die Okensche Meinung von neuem zur Geltung. Indes mirabile dictudictu- der nachfolgende Forscher desavouierte immer seinen Vorgänger und so behauptete denn Wolff wieder einmal, die Antennen seien keine Geruchsorgane , eine Behauptung , der sich auch Graber anschloß. Und in neuester Zeit hat denn auch diese Meinung ihren Gegner in Gustav Hauser gefunden, der mit der Ansicht hervorgetreten ist, daß der alte Lefebure
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einer Hummel. (30fache Vergrößerung.) Fig. 1. Schlundrohr g Gaumenfegel ; s Sinnesborsten ; n Rerv, der an die Sinnesborsten hinantritt; a Speicheldrüfen ; m Muskellagen. wohl Recht hätte und die Antennen der Insekten Geruchsorgane vorstellten. Aus diesen auf unsere Frage bezüglichen historischen Angaben ersieht man schon , daß wir es mit heifeln Untersuchungen zu thun
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Ernst Voges.
haben müſſen, um die Insektennaſe unzweifel- | zeigte nicht die geringste Bewegung , sondern aft aufzufinden. Und in der That, hier kann verblieb nach wie vor ruhig auf seinem Siße. Darauf beneßte ich die Feder mit Terpentin nur das Experiment entscheiden. Denn bloß aus gewissen histologischen Befunden und Erund brachte sie nach einiger Zeit wieder in wägungen das Organ nachzuweisen, hieße ein- | Fühlernähe - und nach wenigen Sekunden, seitig vorgehen und nicht alle Untersuchungs- | oft auch alsogleich, ging mit dem Käfer eine momente berücksichtigen. Läßt man sich lediglich plögliche Veränderung vor. Mit der Lupe davon leiten , dann würde wohl niemand anin der Hand verfolgte ich seine drolligen Beſtehen, jenes eigenartige Organ, welches Wolff wegungen. Zuerst reckte der kleine Sechsbeiner im Schlunde der Biene fand und für das den Kopf, er wurde unruhig, bewegte äußerst Geruchsorgan erklärte , auch dafür zu halten lebhaft die Fühler und verließ dann schleunigſt (Fig. 1). Diese weiche Riechhaut" liegt seinen erhabenen Posten. Dauerte die Einwirkung länger, so wurde nämlich bei Bienen und Wespen zwischen der Mundhöhle und dem Schlundrohr. Sie trägt er geradezu ungebärdig . Er lief hin und her, auf ihrer Oberfläche kleine Borsten, an welche verkroch sich ja stemmte schließlich eins der feine Nervenendigungen hinantreten. Die baum- Borderbeine auf und wischte den Fühler zwiartig verzweigten Nervenfäden gehen von einem schen den behaarten Tarsengliedern ab, obwohl zweiteiligen Nervenſtrang aus, der vom Gehirn auch nicht die Spur Terpentin darauf gekommen sein konnte. Oder er fuhr auch wohl entspringt. Wir hätten somit ein Organ , das recht einigemal mit den Vorderfüßen über die Fühler wohl als Geruchssinn funktionieren könnte. hinweg, um sie von dem vermeintlichen unbeDenn es ist zweckmäßig placiert, da alle Nahquemen Stoffe zu reinigen. rungs- und Riechstoffe in seine unmittelbare Aehnlich verhielt sich der Käfer gegen EffigNähe kommen und anderseits mit Nerven= säure. Aber er reagierte weit später darauf, endapparaten ausgerüstet , welche Geruchseinein Umstand, der immerhin erkennen läßt, daß drücke zur Empfindung bringen könnten. das Geruchsvermögen des Tieres für qualitativ Allein die physiologischen Experimente be- verschiedene Stoffe empfänglich ist. stätigen zunächst diesen anatomischen Befund nicht Ein gleiches Unbehagen zeigte der Ohrwurm, wenn ich mit der essigsäurehaltenden Feder besonders, sondern sie sprechen vorerst mehr zu Gunsten der Fühler. Experimentieren wir näm in die Nähe seiner Fühler kam. Im Nu lich, so leitet uns folgender Gedanke : hat das lagen die anfangs gestreckten langen Fühler Insekt einen Geruchssinn , was wir aus den längs den Körperseiten und allgemach konzentrierte sich das Tier rückwärts . Auch den angeführten Beobachtungen bereits schon gefolgert haben , so wird es auch , sobald wir Tausendfüßern ist es nicht einerlei, was man stark riechende Stoffe in seine Nähe bringen, ihnen unter die Nase hält. Hielt ich ihnen in der ein oder anderen Weise darauf reagieren. eine reine Stahlfeder vor , so kehrten sie sich Sind nun die Fühler Siz des Geruchsorganes, nicht weiter daran. War die Feder aber mit dann vermitteln sie jene Empfindung und so- | Essigsäure getränkt, dann fuhr selbst der träge bald sie entfernt werden, dürfte das Tier nicht | Julus überrascht zurück, während der lebhafte mehr in gleichem Maße reagieren. Lithobius entsetzt davonlief. Und beide zogen Jüngst hat nun Gustav Hauser mit einer darauf die Fühler, obschon sie gar nicht berührt Anzahl Gliedertiere derartige Experimente an- waren , wiederholt durch den Mund , um die gestellt , die ich größtenteils bestätigen kann. übele Einwirkung los zu werden. Aehnlich Obwohl ich seiner Zeit nur über wenige Ver- verhielten sich die Tiere gegen Terpentin, aber suchstiere verfügte , genügten diese doch, um ſie reagierten nicht so rasch und so energisch. zu höchst interessanten Reſultaten zu gelangen. Vergleichsweise habe ich auch mit einem Ich stellte meine Versuche mit einigen fleinen Krebse , mit unserer bekannten Kellerassel exLauffäfern an. Nachdem die Tiere sich an ihr perimentiert , worüber meines Wissens noch Gefängnis gewöhnt hatten, brachte ich in die keine Beobachtungen vorliegen. Anscheinend unmittelbare Nähe der Fühler eines Käfers, ganz behaglich lag das Tier eingerollt auf dem Rücken und ließ sich durchaus nicht stören, der recht gemächlich und ruhig auf einem Erdflümpchen saß, eine reine Stahlfeder. Das Tier wenn ich mit der reinen Feder dicht vor seinen
Die Nase der Insekten.
Fühlern wiederholt und längere Zeit hin und her fuhr. Sobald ich jedoch mit der in Essigsäure getunkten Feder in die Nähe der Fühler kam, bewegten sich plötzlich die Fühler und unter mächtigem Gestrampel der Beine suchte das Tier hoch und davon zu kommen. Oder saß eine Assel eingescharrt in der Erde und ich brachte in die Nähe der hervorstehenden Fühler die ominöse Feder , so schlug sie die Fühler zurück , wich ruckweise aus und reinigte nach längerer Einwirkung die Antennen mit den Borderfüßen. Aus all diesen Beobachtungen folgern wir, daß die Fühler der Gliedertiere , soweit wir die einzelnen Vertreter derselben fennen gelernt haben, für gewisse Stoffe empfindlich sind und daß die Tiere diese Empfindung auf die eine oder andere Weise zum Ausdruck bringen. Kurz, wir übertragen in diesem Falle unsere Empfindung auf die Tiere und sagen, sie können riechen. Wie aber verhalten sich die Tiere , wenn ihnen die Fühler genommen sind ? Riechen sie auch dann noch? Auf Grund unserer , obschon nicht abgeschlossenen Untersuchungen, können wir dennoch auf diese Frage mit ja antworten. Freilich
P
b.
Fig. 2. Stück des Tasters eines Lauftäfers. Flächenansicht. (436fache Bergrößerung.) p Flaschenförmige, perzipierende Organe, zahlreich im Innern des Taftergliedes gelagert; b Borsten.
reagieren die fühlertragenden Tiere weit schärfer, als die fühlerlosen. Allein sie reagieren doch auf die vorgehaltenen Stoffe nicht minder als jene. Und hiernach dürfte wohl das Geruchsvermögen nicht einzig und allein auf die Fühler lokalisiert sein und diese schlechthin als Geruchsorgane gedeutet werden , sondern das Geruchsvermögen muß auch noch anderen Or-
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ganen, als den Fühlern zukommen. Und in der That , es ergibt die anatomische Untersuchung, daß beispielsweise bei gewissen Käfern auch die Taster der Mundwerkzeuge dieselben histologischen Elemente enthalten , denen man die Vermittelung der Geruchsempfindung in den Fühlern zuschreibt (Fig. 2). Doch bevor wir auf das eigentliche Geruchsorgan selbst eingehen , seien vorerst die fühlerlosen Versuchstiere abgethan. Ich hatte den Käfern , Tausendfüßern und Asseln die Fühler exstirpiert und experimentierte sodann auf dieselbe Weise wie früher. Bei allen Versuchen darf man jedoch eins nicht außer acht lassen , nämlich : die Tiere sich an ihren neuen Zustand erst gewöhnen zu lassen. Andernfalls laufen sie unruhig umher und rennen unbekümmert selbst in die essigsäurehaltige Feder hinein. Zunächst wartete ich den fühlerlosen Käfern mit Essigsäure auf. Allein sie reagierten oft erst nach zwanzig und mehr Sekunden darauf. Alsdann hielt ich ihnen Terpentin vor und nach wenigen Sekunden stoben sie davon unter lebhaften Bewegungen der Mundwerkzeuge. Eigentümlich bei diesen Versuchen ist , daß diese Käfer schneller und energischer nach Terpentin, als nach Essigsäureeinwirkung reagierten, während es bei den übrigen Tieren gerade umgekehrt ist. Ebenso äußerten einige fühlerlose Julus ihr Unbehagen, als ich Essigsäure in Kopfnähe brachte. Sie bogen den Kopf zur Seite, wichen, wo sie konnten, stets aus und machten sich schließlich aus dem Staube. Das gleiche Mißvergnügen zeigten die fühlerlosen Asseln. Während sie sich bis dahin auf alle unberührenden Angriffe auf ihre Ruhe indifferent erwiesen, gingen sie, sobald Essigsäure in Kopfnähe kam, allemal nach acht bis zehn Sekunden unter lebhaften Bewegungen rückwärts und führten auch mit den Vorderfüßen Bewegungen aus, als wollten sie die Fühler reinigen. Schließlich nahm ich den Käfern, so gut es eben anging, auch die Taster. Und dennoch zeigten sie unverkennbare Spuren des Mißbehagens, wenn ich die unleidigen Stoffe in die Nähe ihres Mundes brachte. Der eine warf schon nach wenigen Sekunden den Kopf hin und her, bewegte die Oberkiefer und fuhr mit dem rechten Vorderfuß wiederholt nach der Mundgegend, um, wie es schien, die unan64
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Ernst Voges. Die Nase der Insekten.
genehmen Einwirkungen in dieser Gegend zu entfernen. Bei meinen fühlerlosen Asseln fand ich nun sogar, daß es gar nicht einmal nötig war, die Ingredienzien in Mundnähe zu bringen, um die beschriebenen Reaktionserscheinungen zu beobachten. Dasselbe erzielte ich nämlich, wenn der essigsäurehaltige oder terpentinhaltige Glasstab in die Nähe der Schwanzgriffel, zweier stabförmigen Anhänge des lezten Körpersegmentes, gebracht wurden. Nach sechs bis zehn Sekunden entfloh allemal das Tier unter Zeichen des Unbehagens. Das Geruchsorgan der untersuchten Gliedertiere besteht nun allgemein aus einer Grube, oder aus einem hohlen Kegel, worin gemeiniglich eine stabförmige Zelle liegt, die durch eine Nervenfaser mit dem vom Gehirn ausgehenden Fühlernerv in Verbindung steht. Solche Organe finden sich zahlreich zerstreut im Fühler und Taster. Ein höchst instruktives Präparat erhält man am Querschnitt eines Wespenfühlers
(Fig. 3). Wir erkennen bei entsprechender Vergrößerung, wie vom Zentrum des kreisrunden Querschnittes zahlreiche stabförmige Gebilde nach der Peripherie hin verlaufen. Im Zentrum des Schnittes sehen wir ferner noch die kreisförmig, elliptisch oder ringförmig gestalteten Querschnitte von Luftröhren , Nervenfasern und Pigmentzonen. Die Peripherie des Querschnitts
-tr
S
Fig. 3. Ein Stück des Querschnittes eines Wespenfühlers. (150fache n Durchschnittener Rerv ; tr Luftröhre; s Sinnes Bergrößerung. zelle; g Geruchsspalte ; k Geruchskegel.
zeigt kleine Borsten , zahlreiche Spalten und vorstehende hohle Kegel. Sehen wir uns jene stabförmigen Gewebselemente bei einer ſtärkeren Vergrößerung etwas näher an , so entdecken wir, abgesehen von besonderen Strukturverhältnissen, in dem hohlen hervorstehenden Kegel ein spit zulaufendes Stäbchen , das sich nach dem Zentrum des Schnittes zu stark bauchig erweitert und hier einen großen Kern mit zahlreichen Kernkörperchen enthält. Das ist
die Sinneszelle (Fig. 4), welche mit dem Fühlernerv durch eine Nervenfaser in Verbindung steht. Sie vermittelt die Geruchsempfindung, indem die mit dem jeweiligen Riechstoff geschwängerte Luft in den hohlen Kegel tritt
K
S
2
Fig. 4. Eine Sinneszelle (stärker vergrößert). z Kern mit zahl reichen Kerntörperchen der Zelle s; k Regel, in welchem die Spige der Zelle s liegt. und so in unmittelbare Berührung mit ihr gelangend , einen bestimmten Reiz auf die Nervensubstanz ausübt. Dieselbe Funktion haben die Geruchsgruben, die wir am Fliegenfühler recht schön wahrnehmen können. (Fig. 5.) Schon Leydig hatte diese Organe in den Fliegenfühlern nachgewiesen, aber erst Professor Graber in Czernowitz brachte sie zur allgemeinen Kenntnis und Diskussion, als er sie für das neu entdeckte Gehörorgan der Fliegen ausgab. Seine Angaben sind nachher von Paul Meyer und Gustav Hauser berichtigt und während Meyer zugibt, daß jene Organe Cinnesorgane seien , erklärt sie Gustav Hauser für Geruchswerkzeuge. Solche Gruben beschreibt Hauser bei einer Fliegenart als dunkle , durch die äußere Flügeldecke scheinende Ringe. Ihre Gestalt ist trichterförmig. Der Boden der Grube ist mit kleinen Borsten ausgekleidet. Zwischen diesen stehen kleine warzenartige Erhöhungen, welche in ihrer Mitte kleine Deffnungen haben. Durch diese Deffnungen treten die Riechstäbchen und ragen in den freien Raum der Grube hinein. Die Riechstäbchen bilden die direkte Fortsetzung
3. Uffelmann. Ueber Genesungsstätten für Binder, Schulsanatorien und Ferienkolonieen. elliptisch gestalteter Zellen, welche durch Nervenfasern mit dem Antennennerv verbunden sind . Auch bei den Tausendfüßern und Asseln sind es gewisse Borsten , die als Sinnesorgane funktionieren. Doch es würde uns zu weit führen , an diesem Orte noch näher darauf einzugehen.
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oder Taster des Tieres lokalisiert zu sein, sondern auch andere Körperstellen scheinen eine Geruchsempfindung vermitteln zu können. Das Kapitel über den Geruchssinn der Insekten ist also keineswegs als abgeschlossen zu betrachten, es bleibt vielmehr noch viel zu beobachten übrig, ehe wir zu einem zweifellosen Resultat gelangen werden !
Ueber n Genesungsstätten für Kinder, Schul-
-Sanatorien und Ferienkolonieen . Von
S-
J. Affelmann.
Fig. 5. Fühler einer Fliege (Eristalis tenax.) Bom letzten Fühlergliede ist die Fühlerdede zum Teil abgelöst worden. (150fache Vergrößerung.) n Fühlernerv, baumartig verzweigt ; tr Luftröhre; s @innesorgan, bon Prof. Graber als Gehörorgan ange geben, nach jetziger Ansicht aber das Geruchsorgan: g gelentige Verbin dung des legten mit dem vorauf. gehenden Fühlergliede. An die vorigen histologischen Befunde schließt sich nun eine interessante Thatsache. Es steht nämlich die Stärke des Geruchsvermögens eines Tieres mit der Anzahl der Sinneszellen im Verhältnis . So treffen wir an den Fühlern der Immenarten , welche ja ein ausgesprochenes Geruchsvermögen besigen, äußerst zahlreiche Sinneszellen , während die Blattwespen in Uebereinstimmung mit ihrer einfacheren Lebensweise deren weit weniger haben. Und noch eine Reihe ähnlicher Beispiele ließen sich anführen , welche dies Gesetz illustrieren und wo anatomischer Befund und physiologisches Experiment übereinstimmen und sich gegenseitig bestätigen. Wenn wir nun schließlich das allgemeine Ergebnis aus unseren Beobachtungen ziehen, so geht dasselbe dahin : Die beobachteten Glieder tiere haben ein Geruchsvermögen. Die perzi pierenden Organe für den Geruch sind beson dere,metamorphosierte Borsten, die durchNervenfasern mit dem Fühlernerv oder mit anderen Nerven, welche die Leitung zum Gehirn übernehmen, in Verbindung stehen. Das Geruchs vermögen scheint nicht etwa auf die Fühler
m Junihefte dieser Zeitschrift habe ich einen kleinen Auffag über Seehospize und Soolbäderheilstätten für Kinder bringen können. An ihn anknüpfend und ihn ergänzend will ich nunmehr einige anderweitige Anstalten besprechen, welche gleichfalls für schwächliche und kränkliche Kinder bestimmt , wie jene anderen sämtlich der neuesten Zeit ihre Entstehung verdanken und unser aller volles Interesse in Anspruch zu nehmen geeignet sind. Die Seehospize und Solbäderheilstätten sind, wie in dem erwähnten Auffage ausführlich dargestellt wurde, in erster Linie für Stro fulöse gegründet worden. Es gibt nun aber unter den Kindern der weniger bemittelten Klassen auch so viele, welche allgemein schwächlich , mit schwindsüchtiger Anlage, hochgradig blutarm , durch dauernd schlechte Ernährung und mangelhafte Pflege heruntergekommen, einer traurigen Zukunft entgegengehen , wenn ihnen nicht angemessene Hilfe zu teil wird . Eine solche finden sie nur ausnahmsweise in den gewöhn= lichen Krankenhäusern. Diese nehmen vielfach Patienten der eben erwähnten Art gar nicht einmal auf und bieten ihnen auch kaum je die Bedingungen der Heilung. Nicht besser ist es um viele andere Kinder bestellt , welche nach überstandener Krankheit sich zu langsam erholen, weil die Verhältnisse, in denen sie sich befinden, der Wiederherstellung ungünstig sind. Es gehören dahin beispielsweise zahlreiche kleine
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3. Uffelmann.
Patienten , welche eine schwere LungenentzünDeutschland besitzt von solchen Instituten die Kinderheilanstalt zu Godesberg bei Bonn, dung , einen schweren Typhus , einen langdauernden Keuchhusten , böses Scharlachfieber | das Bethlehemſtiſt zu Auguſtusbad bei Radeoder Diphtheritis durchmachten und stark geberg in Sachsen, das evangelische Johannesschwächt, nicht die gehörige Ernährung bezw. stift von Plößensee bei Berlin, welches alljährlich kränkliche Kinder zu mehrwöchentlicher Pflege finden, die ihnen zu ihrer völligen Rekonvaleszenz nötig ist. Luft- und Milchkur aufnimmt, und das ElisaAuch solche Kinder bethenhaus zu Marburg , das 1879 ersind sehr , sehr schlecht daran. Für sie , wie für jene anderen, ist rasche und verſtändig geöffnet, auch dazu bestimmt ist, jüngere, durch leitete Hilfe unerläßlich; sonst laufen sie Geunzureichende Nahrung und Pflege verkommene Kinder aufzunehmen. In Bad Elster ist schon fahr, in völliges Siechtum zu verfallen. Denn seit Jahren die Gründung einer ländlichen Gegerade bei den noch wachsenden Individuen mit ihrem regen Stoffwechsel und ihrem relativ nesungsstätte projektiert ; vorläufig werden dort sieche Kinder in einer Mietwohnung untergroßen Nahrungsbedürfnis erzeugt ein Still stehen oder ein zu langsames Fortschreiten der gebracht und verpflegt. Wiederherstellung nach einer schwächenden KrankZum Anhalt für etwaige später zu begründende Anstalten kann diejenige zu Godesberg heit ungemein leicht und oft eine tiefe Schädigung der ganzen Konstitution, ja den Keim zu dienen. Sie liegt etwa 10 Minuten vom Rhein vor dem Dorfe und hat zwei Gebäude, die von schweren Allgemeinerkrankungen, die ihrerseits frühes Siechtum und frühen Tod imGefolge haben. einem zwei Morgen großen Garten umgeben Was diesen zu langſam ſich erholenden und sind . Das eigentliche Kinderhaus iſt maſſiv, jenen durch mangelhafte Pflege elend und kränk- | zweiſtöckig , mit Empfangszimmer , Speiſeſaal, lich gewordenen , oder mit Krankheitsanlagen Spielzimmer , Schlafräumen und Baderaum, geborenen Kindern die nötige Hilfe bringen sowie mit einer geräumigen, bedeckten Veranda. Etwa 25 Meter von diesem Hause befindet sich fann, ist mit wenigen Worten zu sagen . Man verseße sie unter hygienische Verhältnisse , in ein Isolierhaus für solche Kinder , welche dauernd gute , reine Luft , sorge für saubere etwa von einer übertragbaren Krankheit beWohn- und Schlafräume, für angemessene Haut- fallen werden. Auf dem Grund und Boden pflege , für kräftige , richtig zusammengeseßte, der Anstalt liegt außerdem noch ein Stallgerichtig zubereitete, ausreichende Kost, und wird bäude für Kühe, welche den Kindern die frische sehr bald in der Lage sein , die erfreulichsten | Milch liefern. Die Leitung des Sanatoriums Fortschritte in der Gesundheit konstatieren zu liegt in den Händen einer Hausmutter , der können. Der kindliche Organismus ist zwar Pflegerinnen zur Seite stehen ; die eigentliche weniger widerstandsfähig als der erwachsene, Behandlung aber wird von zwei Aerzten geübt. Von ausländischen Genesungsstätten veraber auch ungleich bildſamer , und erholt sich deshalb viel rascher, als dieser. dienen eine Erwähnung die vortrefflich geleitete Um nun solchen Kindern der weniger BeAnstalt zu Oranienbaum bei Petersburg, mittelten die hier soeben für nötig erklärten welche, gegründet von der Großfürstin Katharina Michailowna , schwächliche , der ErBedingungen der Heilung zu gewähren , sind besondere Sanatorien und Rekonvales holung bedürftige Kinder aus den Spitälern zentenhäuser gegründet worden. dieser Stadt aufnimmt ; ferner die französische Die Anstalten dieser Art liegen fast alle zu Roche- Guyon , eine Stiftung des Grafen auf dem Lande, zum Teil inmitten vom Wald von Larochefoucauld und jezt Eigentum der oder ganz nahe demselben und bieten den Kleinen Generalarmenverwaltung zu Paris , mit 100 neben Obdach und Verpflegung sorgsame Be- Betten, von denen ein großer Teil lediglich für aufsichtigung durch approbierte Aerzte und ge- rekonvaleszente arme Kinder bestimmt ist. schulte Wärterinnen. Die Kurmittel, welche Holland hat die Anſtalt Bethanien bei Zeyſt. Die Convalescent homes von England zur Anwendung gelangen, sind : reichlicher Genuß der frischen, reinen Land- und Waldluft, sind ungemein zahlreich , zahlreicher als in Bäder und kräftige Diät , beſonders reichliche | irgend einem anderen Lande, dienen aber meiſtens Milch von gesunden , gut gehaltenen Kühen, zur Verpflegung von Erwachsenen und Kindern. sowie Fleisch und Eier. So gibt es zu New - Brighton bei Liverpool
Ueber Genesungsstätten für Kinder, Schulsanatorien und Ferienkolonieen.
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eine Convalescent institution für Frauen | währen aber den betreffenden Kindern die Geund Kinder , ein allgemeines Convalescent nejungsstätten. Die in ihnen erzielten Erfolge home zu Eastbourne , zu Coatham , zu Cum- lehren zugleich, was ohne Medikamente bloß berland . Aber wir finden dort auch Genesungsdurch hygienische Anordnungen Großes erreicht werden kann. stätten, die lediglich Kinder aufnehmen, so zu Highgate und zu Croydon , beides Filialen Die oben besprochenen Anstalten haben aber von Londoner Kinderspitälern und von diesen noch in anderen Zuständen heilsam sich erausschließlich zur Verpflegung der Rekonvaleswiesen , nämlich bei chronischen Brustzenten benut , ferner zu Brighton und zu katarrhen und bei Anlagen zur Elms. Schwindsucht. Das ist von sehr großem Die Erfolge dieſer Anſtalten sind überBelange. Schon in einem früheren Aufſaße aus erfreulich. Das Bethlehem stift zu habe ich darauf hingewiesen, daß erfahrungsgemäß die Solbäderheilstätten sich durchaus Augustusbad bei Radeberg nahm in drei Jahren auf . . 175 Kinder, von dieſen nicht eignen für Kinder mit verdächtiger Lungen" d. h. über 45 % , affektion, mit dem Keime der Tuberkulose, daß genasen völlig . 80 wurden wesentsie ihnen mehr schaden, als nüßen . Zugleich d. h. " 52 %. ?? wurde betont, daß eben solchen Patienten der lich gebessert . 91 wurden nicht ge= Gebrauch von Seebädern keinen Vorteil bringe, 4 " beſſert . . d. h. nur 2 % , und daß sie bei etwaiger Aufnahme in ein SeeDas Konvaleszentenhaus zu Oranien- hospiz nur zum Genusse der Seeluft zuzulaſſen baum verpflegte in den Jahren 1872 bis seien. Unter solchen Umständen muß es doch von sehr großem Werte sein , daß die länd1881 im ganzen . . 616 Kinder, von diesen 314 " genasen völlig d. h. 51 %, lichen Genesungsstätten aushelfen können, daß wurden wesentsie für Kinder mit Anlage zur Schwindsucht, 251 " d. h. 40 % . ja noch für solche mit den Anfangsſtadien dieſer lich gebessert wurden nicht ge= Krankheit Bedeutsames leisten. Es sind wiebessert . 32 Kinder. derum vornehmlich die Milchkur und die gute In diesem leßtern Asyle wurden von 102 Luft, welche die günstige Wirkung erzielen. Schon aus diesem Grunde möchte ich die blutarmen Pfleglingen nicht weniger als 92, Neuanlage von ländlichen Sanatorien aufs d. h. 91 % völlig wiederhergestellt und 9 andere wesentlich gebessert , so daß nur ein einziges dringendste befürworten. Die bis jezt in unseKind die Kur ohne Erfolg durchmachte. Rerem Vaterlande hergerichteten sind viel zu sparkonvaleszenten von schweren Krankheiten nahm sam, zumal die Zahl der Hilfesuchenden ungemein bedeutend ist. Die vorhandenen aber die Anstalt auf 73, und heilte diese sämtlich. Kinder mit chronischen Brustleiden wurden rezipiert 57, und von diesen völlig geheilt 25, wesentlich gebessert 23. Der eminent heilsame Einfluß der Pflege in diesen Genesungsstätten ist hiernach mit Sicher heit festgestellt. Die in ihnen erzielten Resultate stehen sogar denen der Sechospize gar nicht nach. Ueberraschend vorteilhaft haben sie sich nach allen uns vorliegenden Berichten in der allgemeinen Schwäche und Blutarmut der Kinder , aber auch in der zu langsamen Rekonvaleszenz derselben erwiesen. Dies dürfte auch sehr leicht zu erklären sein . Die Grundbedingung der Beſſerung in den eben erwähnten Zuständen iſt ja, wie wir vorhin gesehen haben, vernünftige und ausreichende Ernährung , sowie der Aufenthalt in reiner Luft. Beides ge-
zeigen uns den Segen, der durch weiteres Vorgehen erzielt werden kann. Hoffentlich vereinigen sich einmal thatkräftige, für das Wohl der Jugend intereſſierte Männer zur gemeinſamen Förderung auch dieses Liebeswerkes , wie sie sich zuſammengefunden haben zur Förderung der Anlage von Seehospizen. Es dürfte sich dann empfehlen , nicht einige große , sondern viele kleine Genesungsstätten zu gründen und dieselben möglichst über ganz Deutschland zu verteilen. Das würde ihren Wert entschieden um ein Bedeutendes vermehren . Für derartige Anstalten werden zweifellos in allen Teilen des Vaterlandes geeignete Pläge zu finden sein, so daß keine Provinz der anderen nachzustehen braucht ; auch werden sie sich mit einem geringeren Aufwand an Geld als Seehospize und Solbäderheilstätten herstellen laſſen.
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Den eben besprochenen Instituten nahe ver das seinige in dem anmutigen Kurorte St. Blasien. Auch dies ist eine Höhenwandt sind die sog. Schulsanatorien. Man versteht darunter Heilſtätten, in welchen schwäch- | station, die 2500 Fuß hoch im südlichen badischen Schwarzwalde inmitten des romantiſchen lichen und kränklichen Kindern Obdach, Verpflegung und ärztliche Behandlung gewährt, Albthales liegt, von schönen Tannenwaldungen umgeben und gegen Nord- wie Nordostwinde aber auch Unterricht erteilt wird , oder PenDas hier eingerichtete völlig geschützt ist. fionate, die für eben solche Kinder bestimmt sind und in denen neben dem Unterricht die Schulsanatorium nimmt lungenschwache und Pflege der Gesundheit besonders berücksichtigt allgemein schwächliche Kinder (Knaben) auf wird. Solche Anstalten sind von ungemein und gewährt ihnen Unterricht in Gymnasialhohem Werte. Unter den Schulkindern aller wie Realfächern. Ueber die Erfolge kann nur Orte, besonders der Städte, sind so manche, das Beste berichtet werden. Auch in Görbersdorf , dem bekannten welche nicht geradezu krank, doch schwächlich, blutarm, mit Krankheitsanlagen behaftet , an und berühmten Höhenkurorte Schlesiens , ist dem Unterricht in den gefüllten Klassen nicht 1880 ein ähnliches Institut gegründet worden. ohne schweren Nachteil für ihre Gesundheit Dort hatte 1854 Dr. Brehmer die erste teilnehmen können. Für sie ist es unumgäng- Heilanstalt für Lungenleidende im Höhenklima lich nötig, daß die Zahl der Schulſtunden ein- | eingerichtet ; eine zweite trat später hinzu. geschränkt, daß bei dem Unterrichte jedes UeberDas uns interessierende Institut dieses Ortes ist das Pensionat der Frau Pastor Wendt. bürden und Heßen mit peinlichſter Sorgfalt verhütet, jede Verschlechterung der Schulstubenluft | Dasselbe muß nach dem mir vorliegenden Prospekte gleichfalls als ein Schulſanatorium anferngehalten, Ernährung, Hautpflege und Musgesehen werden. Es nimmt nämlich lungenkelthätigkeit fortwährend und nach rationellen leidende, katarrhaliſch affizierte, bleichsüchtige, Grundsäßen geregelt wird. Fehlt eine der artige Obsorge, so können sehr leicht die vornervöse, in der Rekonvaleszenz begriffene, der handenen Krankheitsanlagen sich zu KrankErholung und Stärkung bedürftige junge Mädheiten entwickeln, können leicht lungenschwache chen und Knaben, die letzteren jedoch nur in dem Alter von 6-11 Jahren auf, verpflegt Kinder wirklich lungenkrank werden, nervös dissie, läßt sie ärztlich beaufsichtigen , bezw . beponierte in thatsächliches Nervenleiden verfallen. An Beobachtungen dieser Art fehlt es leider handeln und sichert ihnen außerdem privaten nicht ; jeder Arzt wird sie gemacht haben, eine wissenschaftlichen Unterricht, sowie Unterricht ganze Reihe derselben aufzuzählen im stande in der Gymnastik zu. Ein Schulpensionat (das des Dr. Riefenstahl) für blutarme, sein. Darum ist es nicht genug anzuerkennen, bleichsüchtige Mädchen findet sich zu Bad Dridaß sich Persönlichkeiten gefunden haben, welche burg , ein anderes, das der Frau Mathiesen , Sanatorien für derartige, in ihrer Gesundheit bedrohte Kinder einrichteten. Es Es war für skrofulöse, nervöse , allgemein schwächliche war doch doch In dem HarzKinder zu Norderney. immerhin ein mit großen Kosten verbundenes städtchen St. Andreasberg ist die schöne Wagnis. und sehr nachahmenswerte Einrichtung geDen Anfang machte Direktor Perthes troffen, daß dortige Lehrer lungenschwache und mit der Gründung seines Institutes für lungender Erholung in Bergluft bedürftige Kinder, schwache Kinder zu Davos. Dieser Ort liegt 1556 Meter, oder 5600 Fuß über dem Meere, Knaben wie Mädchen, in ihre Familie aufnehmen, verpflegen, beauffichtigen und unterin reinster Luft, hat ungemein viele sonnige richten. Tage und doch nie lästige Hitze. Zu ihm wandern alljährlich Phthisiker in großer Zahl; Endlich will ich nicht vergessen, mitzuteilen, daß ein ganz besonderes Schulsanatorium zu liegt er doch in der sog. schwindſuchtsfreien Görlig besteht, ich meine das ärztliche PädaRegion. Der Ruf dieser Höhenstation, die das gogium Dr. Kahlbaums für jugendliche Nerganze Jahr über offen ist, darf als ein wohl ven- und Gemütskranke. Hier sind spezielle begründeter angesehen werden. Eben dort legte also Perthes ein Schulsanatorium an, das Lehrer für die hauptsächlichsten Schulgegensehr bald der besten Erfolge sich erfreute. stände sowohl der Gymnasial- als der RealEin Jahr später gründete Dr. Fresenius
fächer, auch für Handfertigkeit angestellt.
Die
Ueber Genesungsstätten für Kinder, Schulsanatorien und Ferienkolonieen.
Anstalt soll den Pfleglingen nur den für sie nach ärztlichem Ermessen zusagenden Unterricht gewähren, soll ihnen ganz besonders Sinn für Arbeit und Freude am eigenen Schaffen wecken.
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Gewicht zugenommen , einzelne ſogar vier bis fünf Pfund. Im Sommer darauf wurden von der nämlichen Stadt aus 133 Kinder, nämlich 85 Knaben und 48 Mädchen aufs Land geschickt. Alle waren erholungsbedürf Für die Kinder der weniger bemittelten tig , wie dies schon allein aus der Thatsache Klaſſen fehlen bei uns ähnliche Institute. hervorgeht , daß sie ausnahmslos nicht das Doch hat man auch ihrer gedacht und für sie Durchschnittsgewicht ihres Alters hatten. Nach die Ferienkolonie en geschaffen ! Wir ver- Beendigung der Ferienzeit ergab sich, daß von ſtehen hierunter die auf die Dauer der großen ihnen 109 an Gewicht zugenommen, 9 weder Sommerferien berechnete Ansiedelung von er- ab- noch zugenommen und ebenfalls nur 9 holungsbedürftigen, unbemittelten Schulkindern abgenommen hatten. Im Sommer des Jahres in ländlichen Ortschaften unter Aufsicht von 1880 wurden von 524 zur Einreihung in die Lehrern bezw . Lehrerinnen. Die erste An- Kolonieen empfohlene Kinder 165 ausgewählt regung zu dieser segensreichen Einrichtung und mit 7 Lehrern , sowie ebensoviel Lehrehat der Pfarrer Bion zu Zürich gegeben. rinnen fortgesandt. Wiederum hatten fast alle Im Jahre 1876 entsandte er zum erstenmale | Kinder ein zu niedriges Gewicht , diejenigen mit den für diesen Zweck ihm überwiesenen der höheren Altersklassen ( 13–14jährige) ſoMitteln 64 Knaben und Mädchen auf das gar in sehr beklagenswertem Grade; sie waren Land. Vollständiger Erfolg krönte ſein menschen- | alſo in der That schwächlich , der Kräftigung freundliches Vorgehen und warb der Fort- bedürftig . Der Landaufenthalt von 25 Tagen führung des Werkes rasch eine große Zahl brachte die gleiche günstige Wirkung wie in neuer Freunde. Während des folgenden Som- den beiden andern Jahren hervor. Die durchmers konnte bereits 94 Kindern der nämlichen schnittliche Gewichtszunahme der Knaben beStadt dieselbe Wohlthat erwiesen werden. trug für jeden 2,88 Pfund , der Mädchen für Gleichzeitig verbreitete sich aber auch die Kunde jede 2,68 Pfund . Ebensolche Einrichtungen sind getroffen von den Erfolgen des Liebeswerks nach allen Richtungen hin, und schon nach wenigen Jahren. worden in Hamburg, Köln , Dresden , sehen wir von den verschiedensten Städten Berlin , Bremen , Magdeburg , Nürnsolche Ferienkolonieen ausgehen, nicht bloß in berg , Breslau , Stuttgart , Wien und der Schweiz , sondern auch in Deutschland | noch in einigen andern Orten. Ueberall wurden und Desterreich. Bei uns gebührt das Ver- die besten Erfolge erzielt ; auch nicht von einer einzigen Seite hat man Klagen gehört. Ja , dienst, sie ins Leben gerufen zu haben, einem das Liebeswerk ist so rasch gediehen, in solchem Vereine von Männern in Frankfurt a. M. und besonders dem Geheimen Sanitätsrat Maße gefördert, daß man bereits eine OrganiDr. Barrentrapp daselbst. Diese Stadt ent- sation desselben durch unser ganzes Vaterland sandte zuerst im Sommer 1878 schwächliche hat ins Auge faſſen können ! Das spricht Schulkinder auf vier Wochen fort in den doch dafür, daß es in Wahrheit ſegensreich ist Odenwald und auf den Vogelsberg ; es waren und gesunden Boden hat. Nur allzuviele ihrer 97, in acht Abteilungen gesondert, deren bleiche Gesichter und schwächliche Gestalten erjede von einem Lehrer geführt wurde. Zum blicken wir unter der heutigen Schuljugend . Aufenthalte wählte man Ortschaften , welche Wohlhabende Eltern entsenden die erholungsgesunde Lage , gutes Trinkwaſſer , nahe Wal- bedürftigen ihrer Kinder an die See, ins Gedungen und in denselben gute Spazierwege birge, aufs Land, oder gewähren ihnen die Gehatten. Die Kinder bekamen einfache , aber legenheit zu Ferienwanderungen , die eine ſo kräftige und reichliche Kost , mußten fleißig mächtige Korrektur aller der gesundheitlichen im Freien sich tummeln und thaten dasselbe Schäden bieten , welche die Jugend in der auch nach Herzenslust. Der Erfolg dieser Schule treffen. Liegt es da nicht sehr nahe, ersten deutschen Ferienkolonie war ein ganz Vereine ins Leben zu rufen , welche mit den vorzüglicher. Bei der Rückkehr zeigten alle milden Gaben Besigender den schwächlichen Kinder ein wesentlich friſcheres Aussehen, als Schulkindern der weniger bemittelten Klaſſen beim Abmarsche , und fast alle hatten an die Wohlthat eines kräftigenden Landaufent-
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3. Uffelmann.
halts während der großen Ferienzeit zu ermöglichen sich angelegen sein lassen ? Daß aber solche Vereine binnen wenigen Jahren in so großer Zahl erſtanden , daß ihnen verhältnismäßig ſo reichliche Mittel zufloſſen, ist nicht bloß ein hocherfreuliches Zeichen der Hebung des Wohlthätigkeitssinnes , sondern auch ein sprechender Beleg des unverkennbaren Interesses , welches man jezt selbst in nichtärztlichen Kreisen allem entgegenbringt , was eine Förderung der Gesundheit unserer ― sagen wir es ruhig und offen - leidenden Schuljugend bezweckt. Die Ferienkolonieen sind somit ein Zeichen der Zeit ; sie sind die schöne Frucht der Verbindung, welche die hygienische Strömung unseres Jahrhunderts mit der humanen eingegangen ist , aber es erfüllt auch mit stiller Wehmut und Trauer der sich immer aufdrängende Gedanke , daß sie überhaupt nötig wurden ! Kann es denn nicht anders sein , müssen denn insbesondere die Kinder der städtischen Schulen hinter denen. der ländlichen so sehr an Frische , Kraft und Frohsinn zurückstehen ? Diese Frage ist die nächſtliegende und sollte mit einem kräftigen Vorgehen gegen notorische Uebelstände beantwortet werden. Neue Einrichtungen haben in der Regel ihre Feinde ; den Ferienkolonieen sind diese lepteren nur in sehr geringer Zahl erſtanden. Einige wenige haben behauptet , der angenehme Ferienaufenthalt verwöhne die Kinder der Dürftigen und bewirke , daß sie bei der Rückkehr sich schwer wieder an die Verhält nisse der eigenen Familie und des eigenen Eine solche Behauptung Hauses gewöhnen . ist nicht bloß nicht erwiesen, sondern durch die Klagen dieser Thatsachen völlig widerlegt. Es haben Art sind gar nicht vorgekommen. auch Personen in völliger Unkenntnis sich dahin ausgesprochen , daß die Einrichtung der Ferienkolonieen auf nichts weiter hinauslaufe, als darauf, den Kindern der Dürftigen auch einmal eine vergnügte Ferienzeit zu schaffen. Solche Menschen wissen nicht oder wollen es nicht wissen , daß alle Vereine , welche die Ferienkolonieen ausrüsten , nur wirklich erholungsbedürftige , schwächliche Kinder auswählen, daß sie bei der Prüfung der Quartiere feine andere Rücksicht nehmen , als diejenige auf möglichste Förderung der Geſundheit, daß sie überhaupt nur darauf ausgehen,
zu kräftigen, sanitäre Nachteile, welche Schule und Haus gebracht haben, soweit es möglich, zu beseitigen bezw. zu mildern ! Und schließlich, wer sollte den armen Kleinen nicht auch einmal eine fröhliche Ferienzeit gönnen, die einen Lichtblick in ihr kümmerliches Leben wirst und noch so lange in der Erinnerung fortlebt ! Ich kann an dieser Stelle nicht unterlassen, noch einer herrlichen Einrichtung kurz zu gedenken, welche für schwächliche Schulkinder der Stadt Brüssel ins Leben treten soll . Es wird dies eine Schulvilla am Meeresstrande sein. Im Jahre 1879 veranstalteten nämlich die Vereine, welche den Namen Schulpfennigbund führen, eine allgemeine Subskription und beschlossen auf die Initiative eines Herrn Tempel aus dem Ertrage eine Anstalt in Middelkerke bei Ostende zu erbauen, die dem Bür germeister von Brüssel bei der Feier der 50jährigen Unabhängigkeit des Landes übergeben werden und zur Aufnahme kränklicher bezw. erholungsbedürftiger Schulkinder der Dürftigen während der Sommerzeit bestimmt sein sollte. Es handelt sich also um die Gründung eines festen Heims für dieselben, eines Sanatoriums . Man beabsichtigte, dasselbe so groß zu erbauen, daß nicht weniger als vierhundert Kinder mit den Lehrern und dem Wartepersonal Aufnahme finden sollten, und wollte die Einrichtung dahin treffen, daß vom 1. Mai bis zum 1. Oktober jeden Jahres abwechselnd eine Serie von Kindern volle vier Wochen, eine andere vierzehn Tage, sich dort aufhalten könnte. Die Pfleglinge sollten die Seebäder gebrauchen , fleißige Bewegung im Freien sich machen - und außer dem nicht im Gebäude ſelbſt, ſondern am Gestade des Meeres, zwischen den Dünen Unterricht empfangen. Zu meinem Bedauern vermag ich nicht zu sagen, wie weit das Projekt schon zur Ausführung gelangt ist. Daß es verdient, in vollem Umfange der Absicht der Spendenden gemäß verwirklicht zu werden, dürfte überflüssig sein , zu bemerken. Die belgische Schulvilla wäre dann gewissermaßen die erſte stabile Ferienkolonie , oder das erste Schulsanatorium für Unbemittelte. Allerdings gibt es schon seit einer Reihe von Jahren andere Institute, die für eine bestimmte Klasse von armen, kränklichen Kindern bestimmt, auch als Schulsanatorien aufgefaßt und bezeichnet werden können, ich meine die sog. Schulen für Rhachitiſche, d. h. also für Kinder,
Ueber Genesungsstätten für Kinder, Schulsanatorien und Ferienkolonieen.
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welche an der englischen Krankheit oder Knopädische Apparate und chirurgische Instrumente. chenweichheit und deren Folgen leiden. Diese Neben dem Justitut breiten sich schöne GartenAnstalten sind, wie die Seehospize , zuerst in anlagen aus, in denen man Vorrichtungen zur Italien erstanden. Es war die Marchese Gymnaſtik antrifft. Falleti di Barolo , welche im Jahre 1845 Die Leitung der Anstalt liegt in den Häneine Pflege- und Erziehungsanstalt für den des eben genannten Dr. Pini und mehrerer Assistenten. Vornehmste Kurmittel sind eine rhachitische und skrofulöse Mädchen sehr kräftige, vorwiegend animalische Kost und gründete. Dies Institut beſteht noch jezt und fleißige, ärztlich überwachte Gymnastik. Dawirkt in segensreicher Weise fort ; es ist das Ospedale di Santa Filomena zu Turin, neben kommen Bäder, Douchen und Elektrizität welches Kinder im Alter von 3 bis 12 Jahren zur Anwendung. Aufgenommen werden die Kinder schon mit. aufnimmt. Im Anfange der siebenziger Jahre trat dann ebendort der Graf Riccardi di vollendetem zweiten Lebensjahre. Am SchulNestro mit dem Plan hervor , ausschließlich | unterrichte aber, der zunächst ein rein elefür rhachitische und verkrüppelte Knaben und mentarer ist, partizipieren sie erst vom vollendeMädchen Institute einzurichten , in denen sie ten sechsten Jahre an, vorausgesett natürlich, daß ihr Befinden es überhaupt zuläßt. Die den gewöhnlichen elementaren Unterricht emälteren Pfleglinge gedenkt man auch zum Erpfangen und bei richtiger Pflege zugleich regellernen einer Kunst oder eines Gewerbes anzumäßige ärztliche Behandlung erhalten sollten. halten, sobald die Mittel des Instituts die AnZur Verwirklichung des Planes steuerte er selbst eine beträchtliche Summe bei ; das Muni- stellung weiterer Lehrkräfte erlauben. zipium von Turin wandte ihm eine SubvenPrinzip ist, daß die Kinder nur den Tag tion zu , milde Beiträge aus der Stadt und über, d. h. von morgens 8 Uhr bis nachmittags 4 Uhr in der Anstalt verbleiben , nachts aber Umgegend vervollständigten den Fonds, und so fonnte am ersten Mai 1872 die erste , bloß bei ihren Angehörigen schlafen. Die Krankenfür Rhachitische bestimmte Schule zu Turin er- fäle, von denen oben die Rede war, sind für öffnet werden. Sie war noch recht bescheiden Operierte und solche bestimmt, die eine Behandund konnte nur zwanzig Kinder aufnehmen. lung mit anhaltend ruhiger Lage im Bett durchAber der Erfolg brachte auch hier bald neue Hel- | machen müſſen. fer und Freunde. Schon drei Jahre später hatte Der Erfolg des Instituts ist ein ungemein die nämliche Stadt zwei weitere Institute dieser zufriedenstellender. Denn von 67 Pfleglingen, Art und jezt besitzt sie im ganzen vier mit die in den beiden ersten Jahren dasselbe beetwa 200 Zöglingen. Andere Schulen erſtan- | ſuchten, wurden 41 vollſtändig geheilt oder ſehr den fast gleichzeitig zu Genua , Mantua, wesentlich gebeſſert. Palermo und Mailand. Schon beginnt man auch in andern Ländern. diesem Vorgehen eine lebhafte Aufmerksamkeit Die am besten eingerichtete und am besten zuzuwenden. Der Munizipalrat von Paris geleitete Anstalt ist unstreitig diejenige zu Maihat die Einrichtung zweier ähnlicher Institute land. Ich möchte bei ihr ein wenig länger verweilen , um dem Leser ein Bild von der für Rhachitische beschlossen, und der Stadt Einrichtung dieser, uns Deutschen ja noch ganz Brüssel ist 1879 durch den Vicomte de Grimberghe eine halbe Million Franks zur fremden Schulen zu geben. Die fragliche Anſtalt, auf die Initiative des verdienten Dr. G. | Gründung einer Heilanſtalt für ebenſolche KinPini aus Mitteln privater Wohlthätigkeit ge- der vermacht worden. gründet, liegt frei an der Peripherie der Stadt Der geneigte Leser , welcher die frühern auf etwas erhöhtem Terrain. Das Gebäude, Das Gebäude, Mitteilungen über Seehospize und Solbäderim Jahre 1875 völlig neu erbaut , ist zwei heilstätten sich wieder vergegenwärtigt und der stöckig und hat ein Ambulatorium (zur Ratsdiesmaligen Darstellung gefolgt ist , wird die Ueberzeugung gewonnen haben, daß ein unvererteilung für nicht bettlägerige Rhachitiſche aus der Stadt), mehrere Krankensäle , einen Saal kennbar reges Streben auf dem wichtigen Gefür Rekonvaleszenten, zwei Schulzimmer, einen biete der Kinderpflege Plaß gegriffen hat. Turnsaal , Baderäume , Zimmer für Aerzte, Die Gegenwart sucht schwere Versäumnisse Lehrer, Wärter und Wärterinnen, für ortho- der Vergangenheit wieder gut zu machen ; 65
Apell.X.D. Kinderschule im Freien. sie hat klar erkannt, daß eine Hebung der allgemeinen Gesundheit nur dann möglich ist, wenn diejenige des heranwachsenden Geschlechts gefördet wird , mit dessen Gedeihen das Glück der Familien und das Wohl des Staates so unzertrennlich verbunden sind. Hoffen wir,
Von R. Langhammer. daß dieses hocherfreuliche Streben nicht nachläßt daß es vielmehr noch reger wird, noch weiteren Kreisen sich mitteilt und auch fernerhin zu gunsten der Gesundheit unserer Jugend ähnliche Einrichtungen ins Leben rust, wie diejenigen, welche hier dem Leserkreise vorgeführt wurden !
Robert Byr. Andor.
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Andor.
Roman von Robert Byr. (Fortseßung.)
o hatte das Herz des noch so jungen Mädchens schon solch herbes Verschließen gelernt, das nichts mit der kindlichen יScheu der aufblühenden Jungfrau gemein hatte? Aus welchen Erfahrungen hatte sich der Wille dazu entwickelt und wo lag eigentlich der Schwerpunkt dieser Doppelnatur ? Hatte ein warm empfindendes Weib sich in die Rolle der Weltdame gefunden oder gab diese nur zeitweilig Gefühlsregungen nach, um solche ihr selbst unverständliche Anwandlungen hinterher zu bespötteln? Vielleicht war es eben dieser Zweifel, der Andor immer neuen Anlaß gab, sich mit Susannen zu beschäftigen. Ein unerflärlicher Reiz , den Ausgleich für diesen Gegensatz zu finden, gab jedem seiner Gedanken die gleiche Richtung und über die Frage , ob dies Herz sich seines Daseins noch nicht bewußt geworden , oder aber dieses Bewußtsein vergessen wolle, hatte er allmählich, ohne daß er es wahrgenommen, sein eigenes verloren. Da er deſſen inne wurde, war es auch für jede Vorsichtsmaßregel zu spät, wenn es überhaupt eine wirk same gegen den geheimnisvollen Zug gibt. Sah er auf die Tage seines Aufenthalts in Boulogne zurück, so war es ihm, als hätte er ihn vom ersten Momente an in gleicher Unwiderstehlichkeit empfunden und nur die Erkenntnis derselben sich in der Zeit entwickelt. Und mit der Erkenntnis erst war der Kampf gekommen. Von Madame de Dré sillon wußte er nur ſoviel über ihre Freundin, daß sie eine reiche unabhängige Waise sei; sein Vaterland war zu groß , als daß er jeden der zahllojen adeligen Namen kennen hätte sollen und seine Verbindung mit der Heimat keine solche , die es ihm erleichtert hätte, Erkundigungen einzuziehen.
Worauf hätten sie sich auch bezogen ? Legte er , der Familienloſe, auf Familienverbindungen einen Wert ? Und sich von der Sicherheit ihres Besißtums zu überzeugen, hätte ihm ja nur in den Sinn kommen fönnen, wenn er darauf ausgegangen wäre, es sich anzueignen . Hier war es nur, im Gegenteile, ein Hindernis , das ihn selbst vor dem Versuche zurückschreckte , sich Gewißheit über die Gefühle des geliebten Mädchens zu verschaffen . Zuweilen meinte er in der Zergliede rung eines und des andern von der Erinnerung heraufbeschworenen Moments ihres Zusammenseins die Spuren unzweifelhaften Entgegenkommens zu finden , aber genau so treu hatte sein Gedächtnis all die Einzelheiten eines nicht minder unzweideutigen, in launenhafter Wandlung um so empfindlicher wiederkehrenden Zurückziehens bewahrt. Wie ein den unerforschlichen Geſeßen der Natur folgendes Ebben und Fluten war es gewesen, nicht wie jenes bewußte Anziehen und Abstoßen geschickter Koketterie, das er diesen Abend erst an Suſannen zu bemerken geglaubt. Hätte er dies vorher schon entdeckt , würde er sich vielleicht erfältet abgewendet haben , so war ihm dies Verhalten nur als ein neues Rätsel zu den übrigen getreten. Die logischen Beweisführungen der Vernunft waren freilich nicht das richtige Mittel gewesen,das Herz von seinem Unrecht zu überzeugen,und die Unfruchtbarkeit seiner Wünsche vermochte diese selbst nicht zu ersticken . Sie schienen sich nur der Notwendigkeit zu beugen, um beim ersten Wiedersehen der Geliebten sich mit vollem Ungestüm gegen ihren Unterdrücker zu erheben. Welch schweren Stand hatte da der verständige Wille ! Und war derselbe ihm nicht sogar zum Vorwurfe gemacht worden?
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Robert Byr.
aber den Blick sogleich wieder. Sie verDen Mut seiner Wünsche müſſe man haben. Als ob es Zaghaftigkeit wäre, die suchte zu lächeln. „ Ich soll Ihnen das Zugeſtändnis machen, ihn zurückhielt . Aber nein, nichts begrünin einem Irrtum befangen geweſen zu ſein. dete die Vorausſeßung , daß Suſanne ihn Nun wohl, Sie mögen diese Genugthuung damit zu einem kühnen Vorgehen gegen sie ſelbſt anſpornen wollte, nichts als ein augen haben , obgleich ich nicht begreifen kann, was Ihnen an derselben liegt. Sie hätten blickliches Aufhämmern seines Herzens , einer jener Lichterscheinungen, die einen dunklen | sich an der thatsächlichen Widerlegung ge= Pfad erhellen - aber auch täuschen und nügen lassen sollen ; sie wird schlagend sein, irre führen können . Er hatte Grund, ihnen sobald Sie Noëmi versöhnt haben." zu mißtrauen. ,,Dazu die Macht. „Dazu fehlt mir vielleicht Auch glaube ich nicht, daß dies die richtige Warum hatte er früher nie gezweifelt an der Macht seines Wesens und EinEntkräftigung Ihres Vorwurfs wäre . “ flusses ? Wie kam doch diesem Weibe gegen,,Doch erinnere ich mich noch genau der Umstände. Sie ließen sich Ihre Tiſchnachüber die lähmende Unsicherheit über ihn ? barin entführen. Ich hielt das für vorDie Erinnerung an Ilka war es wohl, bedeutungsvoll und wollte Sie warnen. die seine Zuversicht erschütterte. Auch jenem Nun haben Sie freilich auch noch ein zweites Mädchen hast du alles sein wollen, mahnte gut zu machen.“ sie , und deine Liebe konnte es nicht dem Tode entreißen , dem es in seiner unge„Bei wem ?" stillten Sehnsucht nach einem andern ver" Wie Sie doch fragen. Bei meiner gekränkten Freundin .“ fiel. Wie dann , wenn du auch hier zu ,,und dazu ermutigen Sie mich ?" Anspät kommst ? Doch darauf kam nicht mehr die Antdor schwieg. War das nun doch wieder ein kokettes Spiel ? Nein, sie konnte unwort der Resignation . Ein heftiger heißer möglich so arglos neben ihm hergegangen Schmerz erfaßte ihn und die Qual drohte all seine Vorfäße, seinen ganzen Stolz zu sein. Ein drittes schien noch denkbar, daß übermannen. Nicht wie eine Lockung des sie ihm eine direkte Ablehnung ersparen wollte, indem ſie ſeinen Blick in eine andere Ehrgeizes hatten die Vorschläge des BotRichtung lenkte. Dann aber geschah_es, schafters in diese Stimmung hineingeklungen, sondern wie ein Ruf der Erlösung aus uner- weil sie selbst eine Entscheidung getroffen. träglich gewordenen, selbstgeschmiedeten Fes | War wirklich Savagna der Mann, an den ſeln. Nun war ja mit einmal dies fol- sich dieſes Weſen binden konnte ? Wie immer es stand , es sollte klar werden . Der Beternde Ringen zwiſchen Herz und Kopf zu weis wenigstens mußte geführt werden, daß Ende , er brauchte die schwere und nach er den Mut seiner Wünsche hatte. „ Es jeder Seite tödliche Wunden bietende Wahl zwischen Entsagung und Mißachtung der scheint, Sie schlagen mein Verlangen, mich innersten Ueberzeugung nicht mehr zu treffen . | mit Madame Dréſillon in friedlicher UeberFreigegeben war ihm die Frage und es einstimmung zu finden, zu hoch an. Sollten Sie denn wirklich glauben , daß ich bei bedurfte jest nicht einmal der Erklärung mehr, warum er sie nicht früher schon ge- freier Wahl - ihr den Arm geboten hätte, zu Tisch zu führen, selbst wenn wagt , denn die Gründe dafür waren ver- um sie standen und triftig genug erfunden wor- wir dies als ein Symbol nehmen wollen." den, wenn er sie auch noch nicht ausdrückSusanne wendete sich rasch , sie beugte lich in dieser Beziehung dargelegt. Sie den Kopf vor, um in den Salon zu blicken, mußte sich ja von selbst ergeben. und leiſe glitt sie gegen die Thür. Es war "! Sie stimmen also mit mir überein, die Bewegung einer schlanken Eidechſe, die zu entschlüpfen sucht . in allem , was ich gesagt?" fragte er, dann nehmen Sie vielleicht auch die harte An= „Wir sprechen von Noëmi und bekümmern uns doch nicht um sie. Wollen wir nicht flage auf Unentschlossenheit und Schwachmut zurück.“ wenigstens unterdessen zum Thee ?" Susanne fah plöglich zu ihm auf, senkte „ Lassen Sie uns doch hier bleiben, Fräu-
Andor.
lein Susanne ! Wir können ja auch hier Madame erwarten. Sie wird wohl wieder kommen und uns zum Thee rufen. Mir ist eine Frage, die ich an Sie stellen möchte, weit wichtiger." Wie sich ihr Herz zusammenzog bei diesen Worten ! Da war er jeßt, der Moment, den sie kommen gesehen, den sie erwartet und zu beschleunigen gewünscht hatte - und nun? Hätte Andors Hand sich nicht mit so sanfter Gewalt auf ihren Arm gelegt, sie wäre davon geeilt. Wie seltsam! Aber die bloße Berührung seiner Finger lähmte jede Muskel , sie fühlte ein Hin sterben ihrer Kräfte und mußte sich an der Balustrade stüßen , um ihren wankenden Knieen zu Hilfe zu kommen. Sie wollte gehen und blieb doch. Warum auch sollte sie nicht bleiben ? Erschrak sie vor der Macht , die in ihre Hände gelegt war ? Seit Jahren hatte sie sich darnach gesehnt und auch zur Zeit, wo sie dieses Begehren in sich erstorben gemeint , hatten ihre Träume der Ruhe des Tages gespottet und ihr den Besit jener Macht vorgegaukelt . Einst hätte sie die selbe mit Wonne erfüllt, weil sie zur Glückspenderin geworden wäre, jest war sie nur noch ein Mittel zur Vergeltung. Der heiße lechzende Durst darnach war in den langen Jahren nicht erloschen . Aus dem bei allem Ernste doch frohen und
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besißen müſſen, um nicht doch allmählich zu einem milden Urteile über Andors Verhalten zu kommen . Die Nachricht von seiner Verlobung mit Ilka mußte er ihr verſtändlicher machen, die erlittene Verlegung aber war eine zu tiefe, als daß ſie ſo leicht zu heilen gewesen wäre. Immer wieder klangen die höhnischen Worte jener vernichtenden Zurückweisung in Susannens Ohren, wenn sich ein innerer Fürsprecher mit versöhnlichen Vorstellungen geltend machen wollte. Die Tropfen , welche löschen sollten, verflüchtigten, ehe sie noch die Flamme erreichten, das brennende Herz wollte von feiner Linderung wissen. Es spann Haß und Rache in sich ein und zuletzt konnte Suſanne es für erstarrt und regungslos halten. Daß das Leben für sie dabei leer, der Himmel götterlos und die Welt zu einem tollen Kampfplay zwiſchen List und Gewalt, Eigennuß und Thorheit geworden, erschreckte sie nicht ; eine pessimistische Philosophie , die in allem und jedem nur die niedrigsten Leidenschaften wirken sah , gab ihr sogar eine scheinbare geistige Ueberlegenheit, durch die sie andere beherrschte und in der sie eine all die kleinlichen Menscheneitelkeiten weit überragende Befriedigung zu finden meinte. Der so stark
bei ihr ausgesprochene Selbständigkeitstrieb nährte sich daran und ließ sie selbst den Tod ihres Vaters, so schwer ſie ſeine Zärthingebenden Mädchen hatte eine schmerzlichkeit vermißte, doch gefaßter hinnehmen. In der Tiefe aber , ganz insgeheim, liche Erfahrung ein kaltes, mit den Mända lag indessen die Glut zusammengenern verächtlich spielendes Weib gemacht, häuft und zehrte weiter. Von Madie schlimmen Keime hatten das Gefühl überwuchert und die über die Erkenntnis dieſer dame de Drésillon hörte Suſanne zuerst Entwickelung zuweilen in Suſannens Seele wieder Andors Namen nennen. Sie fragte aufsteigende Bitterkeit mußte sich gegen den nicht nach ihm , als sie Paris betrat , und doch mochte ein unklarer Impuls sich den Urheber derselben wenden . Reich, gefeiert, umworben , empfand sie doch immer den Beweggründen zur Annahme der Einladung, Stachel, verachtet und verschmäht worden dahin zu kommen, geſellt haben. Die Hoffzu ſein und zwar um solcher Eigenſchaften nung auf einen Tag der Heimzahlung regte willen, die sie ebensowenig abschütteln konnte, sich bei der Ankündigung eines bevorals sie sich dieselben verliehen hatte und in stehenden Wiedersehens . Als dies endlich dieser Einnerung hatte sie jede Huldigung, stattfand, war das Gefühl nun doch kein die ihr dargebracht wurde, mißtrauisch auf einheitliches mehr. Der Begegnung mit die selbstsüchtigen Nebenabsichten geschäßt, Andor war die mit seiner Schwester vordie einen Mann allenfalls veranlassen konnten, ausgegangen , hier hatte keine Berechnung die Vorurteile dieſer dünkelvollen , maßge dem waltenden Zufalle nachgeholfen und benden Welt beiseite zu setzen. das Mitleid , das sich in der dafür unzuSie hätte keinen so scharfen Verstand gänglich gehaltenen Brust regte, wurde un-
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vorhergesehen zum Gegengewichte des Haſſes . So mußte sich wohl dies unbegreifliche Schwanken erklären lassen , das Suſanne erfaßte und sie bald antrieb , den Mann zu meiden, der sie so unheilbar verwundet, bald wieder zu dem Spiele reizte, das ihn in ihre Hände liefern sollte . Wie anders hatte sie sich selbst an diesem verräterischen Werke gedacht, wie eifrig im Locken, wie geschickt in der Lüge, wie dreist in der Verführung, bei jedem Schritte, der dem Opfer abgewonnen war , den vernichtenden Schlag im vorhinein genießend . Ein Irrlicht mochte so frohlockend dahinhüpfen über das heimtückische Moor. Er zählten nicht die Sagen von dem wilden Auflachen , das in den Ohren des Versinfenden gellte, wenn das wilde Flämmchen erlosch und ihn allein ließ in Nacht und Verzweiflung ? Nichts war so geworden. Eine fremde Macht hatte ihren Willen gelähmt, ein fremder Geist aus ihrem Munde gesprochen und selbst in diesem Augenblicke noch war ja ihr Gefühl mehr Schreck als Freude gewesen über die Nähe der Rache. Nun die Stunde schlug, sollte sie seig sein, und sich von einem schmachvollen Zittern beschleichen lassen, für das jene belächelten Lehren der Menschenliebe und Selbstver leugnung beschönigende Benennungen, wie : „ Erbarmen, Seelengröße, Herzensgüte" bereit halten?
gezogen; sie sah und hörte nichts davon. Die Außenwelt war verschwunden , jeder Sinn spannte sich in Erwartung ; ohne daß Andor sie berührte , glaubte sie zu fühlen, wie auch er sich herabbeugte und nur der Laut seiner Stimme fiel in ihr Ohr. Jedes Wort meinte sie voraus zu wiſſen und ihre Antwort war bereit ; - aber nein, nicht so - nicht so lautete die Frage. Glauben Sie , daß ich Sie absichtlich beleidigen könnte ?" Was wollte er damit ? Wer hatte sie tiefer verlegt als er ? Aber sollte sie ihm das jest sagen, bevor er ein Geständnis gemacht hatte ? Das war dann eines ihrerseits. Und anders stand es in der GegenOb er sie beleidigen wart als damals . fönnte mit Wiſſen und Willen und jezt ? „Nein," fast widerwillig gab sie's zu und doch war es in Wahrheit ihre Ueberzeugung. ,,Nun denn," fuhr er fort, so erinnern Sie sich daran, wenn Sie in meiner Art, mir über Wichtiges Gewißheit zu verschaffen, ungeziemende Neugierde zu finden meinen. Sie sind so schön und intereſſant, bedeutend an Geist und Talent, daß Sie nicht unbe-
merkt durchs Leben gehen konnten , das begreift sich." „Eine seltsame Einleitung , fürwahr ! Von Ihnen!" fiel sie ironisch ein. „Keine seltene sonst. Ich vermisse in der Komplimentenreihe noch immer einige Eigenschaften. Sie dürfen nicht vergessen, hinzuzuseßen, daß ich reich bin. Das erhöht um vieles den Glanz der übrigen.“ ,,Legen Sie selbst so viel Wert darauf?" „Warum nicht ? der Besiß ist die Freiheit, die Unabhängigkeit , die ja doch auch Soll ein Mädchen Ihnen so viel gilt.
Nein , sie hatte kein Herz mehr , sie wollte feines haben ! Sie, die andern her ausfordernd zurief, doch den Mut ihrer Wünsche zu haben , durfte ſelbſt nicht in Feigheit und weibische Schwäche verfallen, der Moment war da, kein Ausweichen mehr. Mochte die Rüstung sich bewähren ! Langsam, ohne Andor zu der angekündigten Frage zu ermutigen, doch auch ohne weiteren Versuch , ihm dieselbe abzuschnei den , wendete sie sich wieder herum und lehnte sich über das Marmorgeländer. Die Zweige streisten ihr Haar , sie fühlte es nicht. Der Mond malte große Schatten hinter den Bäumen und glißerte in dem leiſe rauschenden Brunnen da unten, all die zirpenden Stimmen der kleinen Instrumente übertönend , kam wie der Gesang schwellender Sehnsucht eine Fanfare von
sich nur in der Sklaverei glücklich fühlen, wie ihr in euren feinen Unterscheidungen von Weiblich und Unweiblich' nachweisen
Waldhörnern aus den Bosketten herüber
dem gierigen Ringen der Not nicht erwehren
wollt ? Als lobenswertestes Ziel des Ehrgeizes stellt man dem Weibe die Unterwürfigkeit vor und lockt es damit in die Knechtschaft. Der Reichtum ist das Mittel, mich über der drängenden und stoßenden, neidischen und grausamen Menge zu halten, er bewahrt mich selbst vor den unedlen Regungen, deren auch ich mich vielleicht in
Andor.
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könnte , er gewährt mir die Möglichkeit, meine Ideen zu verwirklichen , mein Leben nach meinem Gefallen zu gestalten . Wer mag es wissen , vielleicht ist nur er der Stolz , nur er alle Seelengröße , nur er das Glück. "
„Und wann sollen diese Beobachtungen an mir gemacht worden sein?" "Deute. " Wahrscheinlich nachdem ich ein oder zwei Gläschen Wein rasch getrunken hatte. Und die Wirkung wird ohne weiteres meinem „ Vielleicht bei manchem, doch nicht bei | Tischnachbar zugeschrieben ? Warum nicht ? Ihnen. Ich gebe Ihnen Ihre Bemerkung auch er hat seinen Teil daran . Er plaugegen mich zurück , mein Fräulein," sagte dert amüsant, erzählt heitere Geſchichtchen, Andor, der kopfschüttelnd zugehört. „Warum ist liebenswürdig und ich lache gern. Sie thun Sie sich selbst Unrecht ? Es ist weit meinen das Gegenteil von mir zu wiſſen, von mir, den Beſiß zu mißachten ; wenn ich Sie brüsten sich, mich zu kennen , aber wie, wenn Sie nur eine Seite meines Wesens dieser Eigenschaft zuvor nicht Erwähnung that , so geschah es nur darum , weil mir bisher gesehen hätten ?“ „ Es sind zwei, und streng voneinander die anderen allein schon genügend schienen, geschieden.“ und weil ich sie durch Hinzufügung der legten herabzuwürdigen meinte. Chnedem „ Vielleicht drei, vier, ein Dußend. O ihr hatte ich sie nur einfach aufgezählt und drolligen Pedanten mit dem untrüglichen Ihnen damit nichts gesagt , was Sie nicht Scharfblick, was wißt ihr von einer Frauenselbst schon wiſſen . Ein Kompliment muß seele ? Da lob ich mir Savagna . Er veranders klingen und hätten Sie mich nicht langt keine Einblicke , keine Enthüllungen, unterbrochen, so würden Sie sofort gehört stellt keine Rechenerempel auf, nimmt dankbar von der Minute , was sie ihm bietet, haben, daß ich mit dieser Voranstellung nichts weiter beabsichtigte , als die Erkläfreut sich, daß es ihm gelingt, Funken aus rung dafür zu geben, wie natürlich es sei, dem Stein zu schlagen, zum Scherze anzuwenn Hunderte die Hand nach solchem regen und frägt nicht, ob das frohe Lachen, an und für sich, auch ohne die Beigabe das seine Einfälle lohnt, Dauer hat oder wertvollem Gute ausstrecken. Ich selber in Gähnen umschlägt . Was kümmert's ihn, wenn er gegangen ! Das ist die Sorte, die war ja Zeuge. Wie mögen Sie umworben worden sein ! Und war denn unter mir gefällt. Man nimmt ihn auf und ―― diesen Männern keiner kein einziger, läßt ihn fallen , wie es sich fügt. Solch einen Mann verzieht man gern. " den Sie für würdig hielten ihrer Hand ?" Und liebt ihn nicht," seßte Andor fast „Dann hätte er sie. Die Frage war müssig.“ freudig hinzu. So dachte Andor aber nicht. Wohl "Ist das zum Leben nötig ? " Es klang hob sich seine Brust in einem tiefen Atem= wie ein bitterer Sarkasmus , der sich aber zuge, die Befreiung war jedoch immer noch sogleich wieder in Uebermut und Leichtſinn feine vollkommene. „Hören Sie wie zu verwandeln schien. das singt und klatscht und lacht! Warum „ Es könnte die Vergebung ja eben erſt kommen Sie nicht lieber mit unter das im Zuge sein," meinte er. ,,Dann würde ich das Geheimnis kaum fröhliche Volk, statt mir so langweilige dem nächstbesten Beichtvater verraten ; ich Fragen zu stellen ? Ich weiß, Savagna müßte ihn denn selbst dazu gewählt haben.“ hätte sich längst als chevalier zu un Wer Frauen serer Begleitung erboten. „Manches, was wir geheim zu halten denken, verrät sich unwillkürlich selbst. Wer gewinnen will , muß ihren Launen schmeiSie, mein Fräulein kennt, und dann plößlich cheln , ihnen entgegenkommen , die Wege in einer völligen Verwandlung sieht , muß ebnen, alles herbei schaffen, um sie zu beauf eine Gefühlsaufregung schließen , die friedigen, vielleicht noch ein bißchen darüber ihren Grund vielleicht in dem Erscheinen hinaus forcieren, bis das Intereſſe in Widereines Mannes hat, in dessen Gesellschaft Sie willen umschlägt ; heute dies , morgen jenes ; zu beobachten sich früher noch keine Gelegen | immer von Reiz zur Sättigung, bis keine heit ergab." Lockung * mehr winkt, so ist der Arm des
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Führers allmählich unentbehrlich geworden und wir schwachen Geschöpfe sind schließlich froh, an dieser vertrauten Stüße stille halten und ein wenig ausruhen zu dürfen. Sei denn das Leben einmal in dieser Weise versucht, wenn es ſonſt allzu ſchal zu werden droht. Ist die Ermüdung wieder gewichen, nun, so tritt man eben von neuem in die Welt , es ist doch von einer andern Seite. Das weiß Monsieur le Marquis und manchem ist der Plan schon gelungen. Doch wie unvorsichtig , nun habe ich Ihnen das Rezept verraten ! Sind Sie nicht alte Freunde ? Da werden Sie es gegen ihn wohl nicht mißbrauchen. " ,,Nein!" klang es mit gewichtigem Ernst mitten in ihr leises Lachen hinein. So sehr ihn einerseits die frivole Laune befremdete und beinahe abſtieß, empfand er doch wieder Erleichterung und Zuversicht. Nur von den Lippen der Einfalt kommt nie ein verlegendes Wort. Ein geistvolles Kind plaudert oft mehr aus , als es weiß die Gedanken anderer, die dem eigenen keuschen Herzen fremd geblieben , so keck die Zunge auch mit ihnen spielt. Früh genug kommt das Alter und lehrt Takt, wo nicht zuvor der Eigennuß schon als Lehrmeister der Heuchelei erschienen . Nicht wie Mißbilligung, fast wie Frohlocken klang Andors Ausruf : „ Es ist wahr, Sie lieben nicht, wer ſo ſpricht, hat es nie gethan. Er weiß nicht einmal, was Liebe ist. " ,,Auch diesmal ein unfehlbarer Schluß !" spottete fie, durch die unerwartete Führung des Gesprächs ihren eigenen Vorſäßen untreu gemacht, und im zunehmenden Fieber der Erregung von dem Irrlichtspiele zu einem ihrem Charakter weit mehr entspre= chenden Ausbruch der in ihr aufgehäuften Bitterkeit abgelenkt. " An einem Thor pocht einer um den andern und weil sich's nicht zur Stelle jedem aufthut, so soll's auch nur eine Blende sein. Niemals zuvor war's noch geöffnet ; dahinter ist nichts als die starre Mauer. Aber es geht eine Sage um : einmal joll es offen gestanden haben und jeder, der eintrat , war freundlich willkommen . Es war ein gastliches Haus , in dem die Menschlichkeit wohnte. Der Hungrige ward gespeist, der Müde gelabt und der Trauernde fand Trost oder doch Teilnahme. Eines Tages
aber ward ein Vorübergehender von einem Unberufenen angehalten und hineingeführt bis zur innersten Kammer, wo die Schäße des Hauses aufbewahrt lagen. Tritt ein, greif zu , sie sind für dich ; ich weiß um das Geheimnis , in dieser kostbaren Kapsel ist's verschlossen. Der Fremde aber schlug den wohlmeinenden Ratgeber , zertrat das Gefäß , verhöhnte das Gastrecht , stieß den Wein von den Tischen und warf Staub auf das Brot, ehe er weiter ging. Da schlugen die Thorflügel zu , der Schlüssel liegt in einem tiefen, tiefen Abgrund und keiner mehr holt ihn herauf." Gleichnis ?" ,,Ein " ,,Ein altes Märchen, wenn Sie wollen." feiner mehr holt ihn " und feiner herauf?" Keiner!" verseßte Susanne mit der scharfen Bestimmtheit eines unbeugſamen Willens . " Und wenn's nun doch einer versuchen wollte, diese wohlverſchloſſene Herzenspforte zu öffnen, ja ſelbſt — gibt sie nicht nach gewaltsam zu erbrechen , dürfte er da nicht die Zeit zum Helfershelfer haben, die alles zermürbt , der nichts widersteht, auch selbst die Erinnerung nicht ?" Susanne hatte sich aufgerichtet und ihr troßiger Blick flammte in sein Auge. " Und solchen Einbruch hält ein Mann für möglich , der im eigenen Herzen das Bild einer Toten bewahrt? Die Züge müssen arg verblaßt sein. Mit mehr Recht als Sie kann wohl ich sagen : Wer so spricht, der hat nie geliebt !"" Wunderlich hatte die Mahnung ihn berührt. Wie gelangte Susanne zu dieſer Kenntnis ? Doch in der mächtigen Hochflut seines Empfindens kam er nicht zur Erwägung einer nebensächlichen Frage. Es war ja leicht möglich , daß sie von seiner Vergangenheit gehört. Das Wort, das sie gegen ihn zurückgewendet , hatte ihn tief getroffen. Vielleicht haben Sie Recht," sagte er, sich in die eigene Seele versenkend , mit träumerisch gedämpftem Tone. „" Es ist mir selbst, als wäre es so . Vor Jahren glaubte ich ein Mädchen zu lieben. Es war ein ruhiges inniges Gefühl , fast nur die Genugthuung, die ein Arzt empfinden mag,
Andor.
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anzweifelbarer Realität ? - War's nicht so : wenn er ein Heilmittel für eine Kranke keiner hat den wunderbaren Schlüſſel wiedergefunden zu haben glaubt. Ich freute mich Aber das Haus ist da mit gefunden' ? einer glücklichen und zufriedenen gemeinallen seinen Schäßen . Nicht eingestürzt, nicht ſamen Zukunft. Keine Ungeduld war dabei, verwüstet, durch den Frevel nur verſchloſſen keine Sehnsucht, selbst kein Verlangen, diese ward es, das reiche Herz. - Darf ich die Seele ganz an mich zu reißen. Nein, nein, Frage wiederholen : Hat keiner ein Recht wenn ich zurückdenke, ich fühlte kein Zittern, daran ?“ wenn sie mein Hand berührte , kein Herz Leiſe, nur noch wie der Hauch des Tages, klopfen , wenn ich sie an die Brust schloß, es riß mich nicht an ihre Lippen , die Erwar es in die Nacht hinaus geflüſtert, was ja auch ihn traf : wartung , sie wiederzusehen , erſchien mir „Reiner!" nicht unerträglich , kein Zweifel zerquälte Da war es, als ob ſein Atem ihr Chr mir das Hirn in schlaflosen Nächten , ich berühre und seine weiche Stimme bat sanft rang keinen Kampf durch, in dem ich mich und innig : zu verbluten meinte, selbst der Gedanke an ",,So liebe mich, Susanne!" einen Nebenbuhler erregte nur Unmut und Jäh aus dem Herzen quoll ihr ein keine Eifersucht in mir, ich habe ihren Tod wunderſames heißes Gefühl . Wo war der betrauert, aber mich nicht zu ihr ins Grab Haß ? wo war der Hohn ? wo war die geworfen, es war nicht das namenlose Weh und das Bewußtsein einer furchtbaren Ein- | Kraft ? samkeit für das ganze übrige Leben, wie Das Antlig sank ihr in die Hände. es das Schreckgespenst einer Trennung von Sie brachte keinen Laut hervor und regte sich nicht , als sein Arm ſich ſachte um der einzig Geliebten schon erweckt. Und so Aber das Herz , dies vermuß es sein ! Damals wußt ich es nicht, sie schlang. schlossene Herz , in dem es so wild und heut weiß ich es." In immer größere Wärme hatte er heftig pochte, daß Andors Hand die Schläge sich hineingesprochen. deutlich fühlte, ſprach für ſich und glücklich Jedes Wort drang wie ein glühender Pfeil in Suſannens über dies Geständnis beugte er sich herab Herz und doch schmerzte er nicht. und drückte einen Kuß auf den weißen wunderbar ! Längst lehnte sie wieder auf der Marmorbrüstung und lauschte diesem selt samen Widerruf, der zugleich ein Bekenntnis war und absichtslos einen tiefen Einblick in die edlen Antriebe dieſer Natur gewährte, wie sie die Vergangenheit gestaltet hatte. Wo war der Mut hin, dieſen Mann zu locken und dann mit vernichtendem Hohn zurückzustoßen ? - Aber wenn er doch von selbst kam ? Deine Genugthuung ! Dein durch Jahre heißgehegter Wunsch ! - Ein Wort nur! Stockend fast unvernehmbar brachte sie es über die Lippen . „ Auerbach hat , meine ich , in irgend einer seiner Erzählungen auch so eine Art Liebesspiegel. " „Ich aber halte mich an den lebendigen," ſagte er fast fröhlich. „Auch ich könnte ein Märchen bieten von dem echten und unechten Kleinode, die man erst im Vergleiche unterscheiden lernt ; aber warum ein Mär chen aus der Wirklichkeit machen , die im Gegenteile erst erstehen soll in voller un-
Nacken, der durch die halbgelösten schweren Locken blinkte, wie der Marmor dicht da= neben durch das Gezweige . Ein Beben ging durch den schlanken Körper, der noch immer wehrlos und ohne Bewegung auf dem Steingeländer ruhte, Beute einer Ohnmacht, in der aber die Sinne nicht schwanden , sondern nur von einem wunderbaren Wohlgefühl umsponnen und gefesselt wurden . Doch im nächsten Momente hatte Suſanne die süße Lähmung überwunden, sie erhob sich und ihre feuchtschimmernden Augen begegneten den seinen ; ein Leuchten unsäglichen Glückes entſtrömte den Sternen . Diese Augen , die ſo hart und kalt blicken konnten und die fascinierend wirkten , wenn sie im Feuer der Erregung aufblißten, ſchimmerten jezt feucht, und in dem weichen Ausdrucke des Vertrauens, sanfter Schüchternheit und unendlicher Hingebung floß ihr Blick warm in den seinen über . Ein leises Geräusch hatte die Störung 66
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Robert Syr.
hervorgerufen. Der rasche Fußtritt, der sich der Balkonthüre genähert, war von beiden vernommen worden . Sie hatten Ort und Zeit vergessen, jezt erst fanden sie sich wieder in dieselben. Madame de Dréfillon war nicht wiedergekommen , die alte Dame am Theetisch hatte sich längst entfernt, und von niemand waren die Schläge der Pendule auf dem Kaminsims beachtet worden. Erst der Laut der französischen Sprache rief die von den Schwingen ihrer Gefühle weit hinweggetragenen vollends auf die Erde zurück. Es war der Diener , welcher mit dem Wagen unterdes durch das rückwärtige Thor des Hotels zurückgekehrt sein mußte und der auf einer Platte Suſannen eine Karte präsentierte. „Madame läßt sich entschuldigen, sie hat Kopfweh und ist zu Bett gegangen," meldete er. „ Die Kammerfrau hat mir diese Karte mitgegeben. Sie könnte für Mademoiselle sein. Es war fast unmittelbar , nachdem wir ausgefahren, ein Herr hier, der durchaus mit Mademoiselle Adler sprechen wollte. Es wurde ihm geſagt, er müſſe ſich täuschen, er blieb aber bei seiner Behauptung Mademoiselle Suzanne Adlère de Turulai wiederholte er und ließ seine Karte da. " Susanne hatte sofort mechanisch dieselbe an sich genommen und während der Diener noch sprach, einen Blick darauf geworfen. Es war wie die Berührung einer Nessel. Unter dem Namen : Eugène de Potyondi' stand ungarisch : Wann kann ich Sie sehen ? Ich werde morgen wiederkommen , wenn Sie mir bis dahin nicht die Ihnen genehme Stunde zu wissen machen." Die beigefügte Adresse ließ sie ein Ausruf Andors nicht mehr lesen . Derselbe machte ihr im Augenblicke erst klar , was eigentlich geschehen . Die Ankündigung dieses unangenehmen Besuches trat dagegen völlig in den Hintergrund . Mit einem bittend
wie in einem Zaubermärchen mit einem Schlage verwandelt ſchien. Das war eine jähe Ernüchterung aus der seligen Trunkenheit. Susanne Adler," sagte er, als müsse er es sich selbst erst begreiflich machen nach einer Weile, während welcher sich der Diener wieder entfernt hatte. „Ja," Susanne Adler von Turulai, „ die Tochter Moriz Adlers . “ Nur die ersten Silben klangen unsicher, bei den spätern zitterte die Stimme nicht mehr. Jedes Wort sprach Susanne klar und deutlich aus . Sie hatte den Schreck bemeistert, der sie aus wonnigem Entzücken gerissen und auch die Scheu des Blickes begann in leisen Troß überzugehen bei dem tiefernsten Nicken, mit dem Andor die Bestätigung aufnahm. " Und das wurde mir verborgen ge= halten," sagte er dumpf und ſein Auge zwang eine dunkle Röte auf ihre Wangen, die das aufsteigende Gefühl des Unrechts verriet. Sie hatte gewußt, wer er war, und ihn über sich absichtich im unklaren gelassen . Das gehörte eben mit zu ihrem Plane. Derselbe hatte einen andern Ausgang ge= nommen, durfte sie darum ein Vorwurf aus seinem Munde treffen ? Es ließ sich ja alles dem Zufalle zuschieben . Aber nein, der Stolz verwehrte ihr die Lüge . So wie sie war, sollte sie geliebt werden, ſelbſt um den höchsten Preis konnte sie nicht die Heuchlerrolle einer Reumütigen oder Ver= fannten übernehmen. „Ich habe keinen falschen Namen geführt , nur den , den Sie kannten, nicht. Aber bin ich dadurch eine andere geworden ? Bedarf es da einer Entſchuldigung ?“ Und doch brachte sie es nicht zu ſtande, die Hand zu heben , die sie ihm mit einer
bangen Blick sah sie zu Andor auf, der unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten war .
solchen entgegenstrecken wollte . Wie bleiern hing sie herab. Es war nicht " Es war nicht recht. recht! " wiederholte er mit schwerem Nachdruck. Kein ehrlich Spiel !" Fürchten Sie dabei verloren zu haben? -Oh, Jhr Einsaß steht noch immer un-
In Auge und Zügen malte sich die mäch tige Wirkung des ausgesprochenen Namens und geblendet von der plöglichen Enthüllung starrte er auf diejenige , die ihm wirklich
behoben. “ Er entgegnete nichts . Das war wieder jener Ton von Uebermut und kalter Frivolität , der ihn schon so schmerzlich verlegt
Andor.
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hatte und sein Schweigen empörte hinwieder | Sinn. Hatte nicht Ilka wiederholt von dem musikalischen Talente ihrer Freundin ihr stolzes heißes Herz . gesprochen? Und nun verstand er auch, „ Es ist spät geworden," sagte Susanne 3u wie Susanne zu der Anspielung auf seine mit einem scharfen Anflug von Spott. tote Liebe gekommen. Sein Scharfsinn spät , um sich noch länger Zeit zum Besinnen zu lassen . Wer es besonders genau mußte eben ganz entſchlummert gewesen mit ſeinen Entſchlüſſen nimmt, pflegt sie ja sein. Allerdings hatte manches dazu beizu beschlafen . Gute Nacht!" getragen auch das Chr , das sonst so aufUnd auch jest machte Andor keinen Vermerksam zu ſein pflegt , in ſeiner Harmsuch sie zurückzuhalten . Erst als sie den losigkeit zu erhalten. Ilka, auch Adler hatten Salon schon verlassen hatte, trat er einen nie anders als von „Zsuzsi“ gesprochen . War das auch dasselbe wie „ Susanne", Schritt über die Schwelle , aber es blieb bei dieser Bewegung. der Klang ist es hauptsächlich, der überNein ! Wohl bedurfte eines von ihnen rascht und weckt. Auch „ Turul “ war ja der Zeit zum Besinnen, nicht aber er. Sie nur die ungarische Ueberseßung von „ Adler “, war es, die ihr Unrecht empfinden, die es wenngleich nicht die gebräuchliche. Immereingestehen , die es abbitten mußte. Hier hin hätte eine Ideenverbindung auf dieſe konnte nicht die Frage sein, wer die Hand Uebertragung führen können , wenn auch zu bieten hatte . des Cheims Briefe, wohl aus Abscheu und gerade durch die Magyarisierung nur noch Wie ganz anders hatte er noch vor wenigen Minuten dies Haus zu verlassen erhöhten Verdruß, derselben keine Erwähnung thaten , wo in denselben von dem gemeint. War es das Haus im Märchen und schlug die Pforte abermals hinter ihm zu ?
V. „ Sujanne Adler !" Es fummte der Name immerfort in Andors Ohren und wollte nicht aus seinen Gedanken weichen. "„I Su= sanne Adler!" Die Tochter jenes Mannes , der ihn, wie er lange schon einsehen gelernt , mit seinen Fäden umſponnen und immer tiefer in das Neß hineingezogen hatte, um sich dann wie jenes häßliche giftige Tier , das auf seinem Rücken das heuchlerische Mal trägt, einen Moment der Wehrlosigkeit erspähend , auf das ausersehene Opfer zu stürzen und es auszusaugen . Jahre waren seit jenen Szenen vergangen und Andor wich ihnen selbst in der Erinnerung aus ; so lag für ihn der Einfall, die Gegenwart mit ihnen zu verbinden , zu fern . Dennoch wollte es ihm nunmehr unbegreiflich erscheinen , daß er auch nicht mit einem einzigen flüchtigen Gedanken , wie sie ja manche Minute zu Hunderten nach allen Richtungen aufschießen läßt, das thasächliche Verhältnis je gestreift. Jest freilich kam ihm jo manches in den
, geadelten und zum Ritter geschlagenen Wucherer" in allen Wendungen eines gereizten Sarkasmus die Rede war. Jest hinterher schloß sich allerdings Ring um Ring der Kette zu, es fügten sich sogar noch solche Glieder ein , die nur in der Esse einer leidenschaftlich aufgeregten Phantaſie hinzugeſchmiedet wurden . Wie von dem Vater, sah Andor auch von der Tochter planmäßig ein Nez um sich gewoben, das Ziel, das ſchon jener ins Auge gefaßt, auch von ihr, nur mit mehr Er empörte sich darErfolg, angestrebt. über, daß er Schritt für Schritt mit verbundenen Augen sich hatte gängeln laſſen, um schließlich dennoch troy allen Sträubens dort anzulangen, wohin man ihn von allem Anfange hatte haben wollen . Gab . es denn Leute, die mit weit scharfsichtigerem Geist alle Wege und Mittel überblicken, wie geübte Schachspieler den Gegner genau nur den Zug machen lassen, den sie in ihrem Plane schon voraus berechnet haben ? Was er vor Jahren mit Widerwillen verweigert , darnach hatte er schließlich doch mit heißem Begehren die Hand selbst ausEr fühlte sich überliſtet und je gestreckt. weniger Kunstgriffe darauf verwendet worden, desto tiefer beschämt. Daraus ſog der Unmut immer wieder neue Nahrung .
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Eine Nacht aber ist lang, wenn sich in wilder Haft, die das Blut nicht zur Ruhe und das Gehirn nicht zum Schlummer kommen läßt, Gedanken in endloser Folge und schier unentwirrbarem Durcheinander blißartig drängen. Da ist für jede Anklage eine Entkräftung, für jede Entschuldigung auch ein skeptischer Einwurf vorhanden , jeder
Was wollten die Rassenunterschiede über= haupt noch in einer Zeit , wo in die fortwährend im Fluß befindlichen Völker immer wieder fremde Elemente eingeſchmolzen wurden und die ganze menschliche Gesellschaft mit all ihren Eigenschaften und Regungen. einem unaufhaltbaren Wandel zutrieb ? Er kam aus Amerika , wo nur des Menschen
edlen Regung folgt das cyniſche Gekicher, aber auch jeder gehässigen Verdächtigung der großblickende ernste Tadel des Gewissens so unmittelbar , daß das Ringen zwischen den Scharen dieser zahllosen Streiter , die sich alle im Einzelkampfe messen, lange unentschieden bleiben muß . Nach und nach werden aber doch der unermüdlichen immer weniger und weniger und nun kommt zum Schlusse ein Zuzug und bringt Hilfe und Sieg der Partei , zu der er sich schlägt. Und blindlings geschieht dies zumeist, denn das Gefühl folgt nur dem Instinkte. Es führt aber schon seine schlauen Kronanwälte mit sich, die den Erfolg begründen und dienstbeslissen das Recht nachweisen . Da führt der eine aus : der Zufall dürfe nicht negiert werden, der zweite : daß man die Kinder nicht für der Eltern Thun verantwortlich machen dürfe.
Leistung seine Geltung bestimmt und konnte seine Vergleiche ziehen mit dem entschlummerten und absterbenden Oriente und deſſen zum Verfall treibenden Kastenwesen. Nein, solche Geſpenſter konnten keine Macht mehr über ihn üben. Mochte es einen Stachel der Selbstironie für ihn gehabt haben, als er in ein Dienſtverhältnis zu einem Juden trat, in einem Lande lebend, wo er täglich dessen Glaubensgenossen in den höchsten Stellen , mit Ehren überhäuft , überall in gleicher Linie mit allen andern sah , war er längst über die Eindrücke seiner Heimat
„ Denk noch so frei“ , ruft der dritte, ""‚ noch so klar , zuzeiten schlägt dich der Aberglaube ins Genick , der unvertilgbare Reſt deiner Kindheitseindrücke. Aber schäme dich, demselben über eine Sekunde hinaus Einfluß auf deine Denk- und Handlungsweise zu gewähren! Der Aberglaube ist des denkenden Menschen unwürdig." Hatte nicht vielleicht wirklich das Vorurteil am lauteſten die Stimme in ihm erhoben und beinahe mit derselben Beweisführung, deren Logik er so oft bei seinem hartnäckig auf den alten Anschauungen bestehenden Cheim bekämpft ? Mochte Adler mit seinem Christentum auch der ekelhaften Kreuzspinne gleichen, in der Religion trennte Andor keine Scheidewand von Susannen und was die Abstammung betraf, konnte er an sich selbst die Erfahrung machen, wie wenig sie gegenüber der durch die Erziehung geleiteten Entwickelung von Geist und Charakter ins Gewicht fiel . Er war kein anderer geworden, seit er die Ueberzeugung von der Echtheit seines Blutes verloren .
hinweg. Wenige Stunden erst waren es, wo er an der Seite seines Chefs Gesandte und hochgestellte Offiziere, Akademiker und Politiker getroffen und er sollte darin eine Bedeutung suchen, ob das Blut in den Adern des geliebten Mädchens aus dieſem oder jenem Quell entsprang , deren verschiedene Zuſammenſegung doch noch kein Chemiker nachzuweiſen vermochte. Und war es nicht ganz so mit allen anderen Bedenken, die sich seiner hatten bemächtigen wollen ? Er hätte nicht lieben müssen, wenn sie nicht weit vor dem Glücke in den
Hintergrund getreten wären . War er ja doch auch der Neigung des Mädchens gewiß ! Wie eine plögliche Helle schoß es ihm auf, daß er längst und voll besessen, was er so zagend und in ängstlicher Befürchtung gesucht . Als er noch unsicher nach Gewißheit tastete, da war sie ihm schon geworden, und alle die befremdenden Uebergänge in dem ganzen ganzen Wesen Susannens erklärten sich daraus . Dies Entgegenkommen und scheue, ja troßige Zurückziehen, das jähe Umschlagen der Stimmungen und alles, was ihn oft feltsam berührt , es waren nur verräteriſche Zeichen eines mächtigen Gefühles geweſen, die jest hinterher so leicht zu deuten waren . Das Märchen von der verschlossenen Herzenspforte hatte jezt einen ganz anderen Sinn . Der Nebenbuhler, dessen Angedenken zu be-
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kämpfen, war sein eigener Schatten. Das ermüdenden als kräftigenden Schlafe seine Thor war zugefallen und hatte ihn ausgeSänftigung . Und der Rückschlag entsprach sperrt ; aber sein Bild war innen geblieben. naturgemäß der Heftigkeit der vorangegangeDie Erinnerung an ihn hielt Wache und nen übermäßig gesteigerten Aufregung. öffnete als sein Verbündeter, da er kam Tiefund unauslöschlich fühlte Andor noch und sachte anpochte. Das Herz war sein, die Liebe zu Suſannen ; aber das ſcharfe Tageslicht zeigte an dem vergötterten Marmorbilde, war immer sein geweſen, und welch ein Herz das eine glühende Phantasie in ihren Träuwar das, das sich einſt mit so viel Jnnigmen in seiner idealen Vollkommenheit gekeit an Jika angeschlossen und Selbstverleugnung geübt noch bis an das Grab der schaut, die mancherlei Mängel wieder, die noch einer liebevoll nachhelfenden Hand beBraut des Mannes, den es für sich selbst durften , wenn diese Schöpfung jemals in | gewählt ! Alles wühlte ſein Gedächtnis wieder hervor, was einſt Jlka und deren Mutter ihrer ganzen Reinheit und Größe zum bejeelten Ausleben kommen sollte. Dann erst von der Freundin in Lobreden gesprochen, konnte er dies Wesen, welches ihm schon so deren Unerschöpflichkeit ihn damals mit leiſer unmittelbar nahe gestanden und doch wieder Ungeduld erfüllt ; jezt fügten sie Zug an entfremdet worden war , wirklich als das Zug zu dem Bilde , das in leuchtender seine betrachten. Gegenwart vor seiner Seele stand und Es mußte zwischen ihnen beiden zum mächtige Freude erfüllte ihn, daß dies kostAussprechen kommen; der Tag sollte jezt bare und heißersehnte Gut nun doch in seinem unstrittenen Besit war, und selbst bei ruhigerem Blute nachholen, was in der Nacht, ſo ſchrill abgebrochen, nicht mehr zum der Gedanke, daß es von jeher so gewesen, Ausklingen gelangt war ; aber von des Tages daß die erste, die volle jungfräuliche Liebe dieses Herzens , in dem kein anderer außer Stunden lag noch eine Reihe vor ihm , über die er nicht als Herr verfügen konnte. Nie ihm gewohnt, ihm gewidmet war und blieb vielleicht noch hatte er ſeine Abhängigkeit ſo durch lange Jahre blieb, auch als er für schwer empfunden, als in der Erwartung immer verloren ſchien, umschmeichelte ihn mit unnennbarer Wonne. des Moments, der ihm endlich Freiheit geben. Was wollten die einzelnen Schatten- sollte. Ganz schweigsam aber durfte die Zeit flecke gegen so viel Licht ? War er nicht ein bis dahin nicht verstreichen , ein Zeichen thörichter fischblütiger Pedant geweſen, die Hand fahren zu lassen , die er in der wenigstens sollte der Geliebten sagen, daß er an sie denke. Blumen mochten unterseinen festgehalten ? Anstoß nehmen an der artig nebensächlichen Dingen, wo es sich um dessen für ihn das Wort führen . So trat
er denn auf dem Wege nach dem Bankhauſe in einen Gärtnerladen und wählte ein Körbchen dicht gefüllt mit Roſen, zwiſchen die er seine Karte steckte, auf welcher er seinem Namen noch einen kurzen Morgengruß vorangestellt. Es sollte ihr beim Erwachen die Erinnerung an die süßeste Stunde vor dem kurzen Abschied zurückrufen und die Botschaft seiner innigen Gefühle bringen. Der Zufall aber , der tückische Geselle, war , ja ſogar Ernüchterung und schmerz- | der es oft darauf abgeſehen zu haben ſcheint, der Menschen Absichten zu entstellen und die liches Mißbehagen die erſten unmittelbaren Folgen der Enthüllung hatten ſein können. Dinge in ihr Gegenteil zu verkehren, schob auch hier ein Zwischenspiel ein. Wenig fehlte , und er wäre noch bei Als Susanne erst um die Mittagsstunde grauendem Morgen hingeeilt und hätte Sujannen seine Kälte abgebeten. Aber dies blaß und sichtlich angegriffen in dem Boufieberhafte Sieden des Blutes fand schließdoir erschien, wo das Frühstück ſerviert war, da fand sie Madame de Dréſillon bereits lich doch in einem kurzen unruhigen, mehr den Erguß eines mächtigen Gefühls handelte, konnte nur ein solch abgemessener Verſtandesmensch, — und ſo und schlimmer schalt er sich selbst in der Erinnerung an seinen schweigenden Abschied , wo er der Geliebten glückselig und im Dankesjubel des Entzückens zu Füßen hätte fallen sollen. Jest in dem wirbelnden Rausche, der ihn erfaßt, fand er es unbegreiflich, wie diese Erkennt nis in jenem Augenblicke nicht eingetreten.
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im Besize des kleinen Korbes , über dessen Bestimmung das einsilbige „ bonjour ! “ ja keinen Aufschluß gab. War Susannens Adresse verloren gegangen, wurde der Bei= saß von dem Ueberbringer als unwichtig fallen gelaſſen, vom Portier überhört oder in anderer Weise von Hand zu Hand eskamotiert? Die junge Hausfrau, die ihren Verdruß vom vorigen Abend in einem wunderbaren Traum von allerlei Modereformen vergessen hatte, durfte mit vollem Recht die Huldigung für sich in Anspruch nehmen, und es war nur ein Zeichen ihrer Gutmütigkeit, wenn sie auch die Freundin daran Anteil nehmen ließ. „ Sehen Sie doch , Suſanne, welch allerliebste Rosen uns Herr von Rainald sendet. Er bereut, er will versöhnen, er wird sich jeine orientalischen Ideen aus dem Kopfe geschlagen haben. Wozu braucht man auch nach Persien zu gehen, da es uns auch hier an Nachtigallen und Rosen nicht fehlt. Wollen Sie riechen ? ach, welcher Duft !" „ Nein !" Es klang fast verlegend, aber das Unwohlsein, die verstimmten Nerven erklärten in natürlicher Weiſe den Widerwillen und die festgeschlossenen Lippen verrieten den Gedanken nicht : Eine banale Höflichkeit, die, beiden gemeinsam erwiesen, fie aber nur wieder in gleiche Linie stellte und symbolisch den Unterschied aufhob, dessen Bedeutung durch die spezielle Widmung herder Selam,, der vorgehoben worden wäre. Ein Selam leicht zu lesen war. ,,Sie Arme! auch ich kann den scharfen Geruch nicht ertragen, wenn ich Kopfschmerz habe. Nachwehen des Diners , der Heimfahrt, die Vorahnung dieſes häßlich trüben Tages, - ich habe glücklicherweise die Anwandlung verschlafen . Sie sehen mich auch schon vollkommen gekleidet und bereit zum Ausfahren. Werden Sie mich begleiten ? Ah, Sie verlangen Ruhe, ich begreife das , und doch hätte ich so gerne Ihren Rat gehört. Aber nein, um so besser, es gibt Ueberraschungen. Der trübe Himmel hat nämlich eine ganze Welt von Sorgen in mir heraufbeschworen . Der Herbst ist da und die Toiletten sind nicht mobil gemacht. Aber da sehen Sie das Laub der Bäume. Das ist der Herbst. Dies zarte Gelbgrün, Gelbbraun, man weiß nicht, wie man es nennen sollte in seiner
| Verſchwommenheit , und es muß herrlich kleiden! Was sagen Sie zu Kaſchemir und Plüsch feuille -morte in beiden Nüancen ? Ach, es ist höchste Zeit, daß ich mich auf den Weg mache , wenn wir doch morgen schon nach Boulogne zurück wollen . Bis abends müssen Sie gesund sein. Wir werden zu Hause sein, nicht wahr? Ich lasse Rainald, Savagna und was noch zu haben . ist, zusammentrommeln eine Taſſe Thee und eine Zigarette es wird ſcharmant sein. Aber Sie müssen sich wohl fühlen , guter Laune werden. Ein bißchen Luft und Bewegung , ein wenig ins Bois . Ich kann Ihnen ja den Wagen schicken ; ohnedem werde ich bei der Kousine meines Mannes bleiben. Vielleicht behalten sie mich zu Tisch. Ihr Gatte ist Kapitän der Artillerie, sie leben den ganzen Sommer in Paris, die Armen. Wie müssen sie gelitten haben ! Aber sie sind so stolz und empfindlich es würde sie verlegen , wenn ich ihnen keinen Be| such machte oder nicht à la fortune du pot bleiben wollte. Auf Widersehen , meine
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Liebe, heute abend geistreich, verführerisch, verführerisch und zum Verzweifeln falt wie immer. Wenn ich nur wüßte, wen ich Ihnen zum Herzbrechen herbeirufen soll ! Es ist kein Mensch in Paris. Savagna ist --dazu unbrauchbar er hat kein Herz, nur die Instinkte einer Trüffelnaſe. Bah! Doch Apropos ! Wäre es vielleicht dieſer Herr — dieser Herr - ach Gott, wer spricht das aus ! Enfin , der junge Mann, den Sie gestern suchte . Ich habe vergessen Ihnen zu sagen, daß er heute schon wieder da war und durchaus zu Ihnen wollte, obwohl man ihm bedeutete, daß Sie noch ſchliefen. Ein ungestümer Mensch, aber hübsch, sagt Manon, und sie hat Geschmack. Ein Ungar voll feuriger Gewaltsamkeit. Ich liebe das. Wäre er nicht für unſeren Abend verwendbar ? Zum Herzbrechen ? C, Sie wechſeln die Farbe ! Kennen Sie ihn schon lange ? Sieh, sieh ! Ein kleines Geheimnis vielleicht ? C, ich bin verschwiegen ! Sie müſſen mir erzählen , wenn ich zurückkomme ! A revoir , ma chère ma chère Adolaire ! Welch drolliger Name ! Iſt er ungarisch ? Ich heiße auch Jeanette Noëmi , der lette ist di stinguierter . Adolaire? O, Sie haben recht. Susanne' gefällt mir besser. A re-
Andor.
voir, Suzanne Adolaire ! bébé!"
A revoir mon
Ah, dieser Name! Susanne war es in diesem Augenblicke, als ob sie ihn haßte. Die ganze Szene der Nacht war wieder heraufbeschworen ; sie sah sich Andor gegenüber, jah sein Befremden, das Erlöschen des Blickes, das Aufeinanderpreſſen der stummen Lippen , das langſame Kopfschütteln , und heiß quoll ihr das Blut in die Wangen. Das erste Aufbäumen des Troßes war schnell verflogen gewesen und sie hatte sich so unglücklich gefühlt , nachdem sie Andor verlaſſen, daß sie eiligst zurückgekehrt wäre, wenn sie hoffen hätte dürfen , ihn noch zu treffen. Ja, sie wollte allsogleich schreiben, ihm erklären, wie alles gekommen, ihm abbitten, ihm sagen, daß sie noch den Wonneschauer fühle, mit dem ſein Kuß ſie durchzitterte, daß sie nicht so gesprochen, wie es ihr ums Herz gewesen, daß er zurückkehren Nein, möge, daß sie ihn liebe, daß nein ! wie konnte sie das alles schreiben ? Das war ja nicht möglich, nie und nimmer hätte sie es über sich gebracht ! Und dann, was war denn abzubitten ? Hatte sie denn wirklich eine Maske getragen ? Und wenn es geschah, war denn der Zweck ein so verwerflicher ? Würde er sich nicht von ihr abgewendet haben, sobald er wußte, wer sie war, wie schon einmal, und mußte sie darüber nicht schweigen, wenn er, unbeirrt von jedem Vorurteil, bloß der Einwirkung ihrer Persönlichkeit gegen-
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mehr! Lieber sterben, als so in Scham vergehen! Und wer weiß , ob er das nicht jett schon von ihr dachte ? Es mußte sich bei Nennung des Namens sofort der Verdacht in ihm regen, wenn nicht schon zuvor ihr passives Verhalten, das wehrlose Geschehenlassen all ihre vorangegangenen Worte als lügenhafte Vorspiegelungen dargestellt hatte ? Und doch war es keine Lüge, was sie gesprochen. So hatte sie gefühlt und gedacht in dem Augenblicke und jahre - jahre lang vorher . Auch jezt dachte sie wieder so . Es konnte ja ein einziger Moment unmöglich alles umgestoßen haben. Dieser selbst ein und er allein war der Irrtum, kurzer und doch tödlicher Irrtum! Nicht einmal der durfte eingestanden werden , sollte der Hohn sie nicht treffen. Die Absicht, in der sie sich einer Unaufrichtigkeit schuldig gemacht , mußte festge= halten bleiben. Ja, er war ein Mittel zur Erreichung ihres Zieles geweſen ; dies jedoch war die Rache und nicht die Liebe , worin es die Schwäche verkehren zu können meinte. Sie aber wollte stark sein , stark ſcheinen und lieber elend bleiben, als verſpottet und verachtet. vielleicht Auch bei ihr hatte die Nacht alle Stim men des Gefühls und Verstandes zu Einflüſterungen, Aufreizungen, Warnungen und Widersprüchen , zu der wilden dialektischen Schlacht entfesselt, in der sich der Geist des Lichtes und der Finsternis mit ihrem Heergefolge bekämpfen, und die Sophiſtik hatte für den Dämon Stolz den Sieg davongetragen. Auch ein Weib mußte konsequent bleiben können und die Kraft haben, auf sich zu nehmen, was immer sich auch daraus ergab . Diese Frau, die da lachend und gedankenlos davontrippelte, war doch nicht der Typus des ganzen Geſchlechts mit all ihrer Wandelbarkeit, Charakterlosigkeit und dem ganzen leichten Chaos ihrer sich für Gefühle und Gedanken ausgebenden Einfälle , die in ihrem steuerlojen Geplapper ein so treues
überstehen sollte ? Die Natürlichkeit dieses Wunsches mußte er ja anerkennen. Die Natürlichkeit dieses Wunsches ? Ihr Herz stockte. Sollte er glauben dürfen, daß sie seine Spur verfolgt und wieder und wieder seine Schritte zu freuzen gesucht, um ihn zu gewinnen, zu fesseln, sie, das Mädchen, den Mann? Sollte er glauben dürfen, daß sie um seine Liebe geworben mit offenen und geheimen Mitteln , mit dem Anschein des Troßes und der Männerverachtung , mit aller List der Koketterie und unter dem Schuß des Inkognitos, nur um ſich ſchließ= | Abbild fanden. Und diese Puppe nannte Susanne ihre lich wie irgend ein anderes geschicktes und des schlaues Dämchen an den Arm Freundin! Wie war es nur möglich geweſen, daß sie sich jemals zu ihr hingezogen fühlen glücklich Eingefangenen zu hängen und an den Altar führen zu lassen ? Nimmerkonnte? In diesem Augenblicke empfand sie
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sogar etwas wie Zorn und Haß gegen dieselbe. War's um der Rosen halber ? Unwillig stieß Suſanne das Körbchen weiter von sich. Wie unerträglich der aufdring liche Geruch war! Müde und abgeſpannt lehnte ſie ſich in den tiefen Fauteuil zurück, nachdem sie die Glocke berührt. Sie wollte allein sein, ungestört, den Schlummer nachholen, nur eine Tasse Thee sollte man ihr laſſen, das Frühstück forträumen, und die Blumen auch, in den Salon hinaus, wie immerhin, nur ihr aus den Augen. "" So soll ich niemand vorlaffen?" Es war die Kammerfrau , welche der Ton der Glocke herbeigerufen. Susanne erinnerte sich Jenö Potyondi's . Von ihm war die Entdeckung, der Umschwung ausgegangen . Freilich, es hatte jo kommen müssen und ein Glück war es zu nennen , daß es noch zur Zeit gekommen war, wo sie das Wort der Liebe, das Bundeszeichen derselben, den Kuß, nur regungslos hingenommen und nicht auch schon erwidert hatte. Eine Sekunde noch, und es wäre zu spät für sie geworden, der Aufruhr der Sinne lieferte sie ihm aus und sie sank hinab unaufhaltbar. Ja, zu rechter Zeit war das Zauberwort gesprochen worden , von Jenö war es gekommen , ihm mußte sie danken dafür und doch - empfand sie Abscheu und Groll gegen ihn, statt Dank. Fand denn dieses Schwanken, dieser Widerspruch nie ein Ende in dieſem ſchmerzenden Kopf ? Ich werde also Monsieur de Rainald sagen , daß Mademoiſelle unwohl ist und nicht empfängt." „Rainald ?" Er war da ! Sollte auch ihm die Abweisung gelten ? Niemals noch war der Widerspruch größer geweſen ; ein jähes Wollen und Verwerfen . Erst noch hatte es als ein Beweis seiner Lässigkeit gegolten, daß er sich mit seinem Erscheinen nicht übereilte und ruhig bis zur Stunde der gewöhnlichen Besuche wartete , als ob heute ein Tag wie ein anderer sei — ja, das ſollte wohl auch deutlich zum Ausdruck kommen, schloß die verlegte , krankhaft gesteigerte Empfindlichkeit und jest jest war dies heftig pochende Herz nahe daran, aus Furcht vor sich selber die Annäherung zu verweigern . Würde es
auch stark sein gegen diese weiche , wohllautende und unwiderstehliche Stimme, gegen die Ueberredung dieser Augen ? Und wenn Nein, er flehend ihr zu Füßen ſank ? nein! schrie der Troß, und das Herz zitterte doch bei dieser Vorstellung . In Furcht oder in geheimen Wünschen ? Sie wollte es nicht entscheiden ; sie schloß die Augen und preßte die Hände gegen die hämmernden Schläfe. Du weisest ihn ab und damit ist's ge= than, flang's in dem einen Ohr . Nein, es muß gesagt werden, was Euch trennt, rief's Er könnte meinen , du in das andere. wagtest ihm nicht mehr ins Auge zu sehen, du fliehest im Gefühle deines Unrechts , wie deiner Schwäche. Und wär's nicht das Klügere? Willst du der Feigheit Gehör geben ? Sei wahr, und du gewinnst ! Sei siegreich, und du herrschest ! Inzwischen wartete die Kammerfrau noch, der Tisch war abgeräumt, sie stand im Begriffe, zu gehen. Sollte auch sie ihre Schlüsse aus dieser Unsicherheit ziehen ? Ich lasse bitten. " Es war kaum gesagt, so hätte sie's am liebsten zurückgenommen ; aber als sich ihre Hand abermals nach der Glocke ausstreckte , ließ sich schon der rasche, leichte, und doch feste Tritt im Salon vernehmen, deſſen Rhythmus ſich ihr in leßter Zeit so genau eingeprägt hatte, daß sie ihn von ferne schon erkannte. Sie war im Begriffe, sich zu erheben. und sank doch wieder in ihren Fauteuil zurück. Noch im lezten Momente gab sie demselben eine Wendung und ergriff den Schürhaken, um mit dem kleinen Feuer im Kamin zu spielen . So hatte sie doch noch eine Weile, sich zu fassen, ehe sie dem Blicke des Eintretenden begegnen mußte. Mit offenem Herzen war Andor gekommen. Die ernste, strengere Beurteilung war von Stunde zu Stunde wachsender Unruhe gewichen, so unterlag ſein Vorſay, bis zum Abende fern zu bleiben. Eine Besprechung beim Botschafter, zu der ihn dieſer schon gestern nach dem Diner aufgefordert, hatte ohnehin eine Unterbrechung der Geschäftsstunden notwendig gemacht, und die Unfähigkeit zur Arbeit zurückzukehren, bevor er sein Gemüt beruhigt, erkennend, war er darauf bedacht gewesen, sich frei zu machen. Mit froher Zuversicht durch die Unterredung
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wohl erlauſchen ? Sind Sie denn so sehr erfüllt , die jene ersten Andeutungen in nahezu feſten Abmachungen verwandelt hatte | in Ihre Unterredung mit dem Elementargeiſte vertieft, daß wir ſimpeln Erdenmenschen gar und ihm den Eintritt in den Staatsdienst sicherte, wollte er in einem Zuge seine ganze nicht mehr für Sie vorhanden sind ?“ Die Beklemmung wich, die Angst war Zukunft feststellen . Er hatte sich gefreut, überflüssig gewesen . Hatte sie sich denn als er vernahm , daß Suſanne allein daheim wirklich geängstigt ? wovor ? Dies erbärmlich sei ; so brauchte er nicht eigens ein Zwie schwache Herz, das immer zitterte, wenn es gespräch unter vier Augen zu fordern . In der frohen Bewegung seines Gemüts erſchien | fest bleiben sollte ! Wer scherzen konnte, bei ihm alles günstig und ein rasches Finden dem ging die Erregung nicht tief. Und sie der Herzen, die einander ja schon gehörten, allein alſo ſollte um ihre Selbstbeherrschung galt ihm für so natürlich, daß er nur einem ringen? freundlich verschämten Blicke, einem schüch = Bonjour !" Es war ein kalter Gruß, ternen, entschuldigenden Lächeln, einer in eine gleichgültige Geste, die ihm den Siz gegenüber anbot, während die andere Hand stummer Bitte ausgestreckten Hand zu begegnen erwartete , die jeden Vorwurf ent= sich in ihrem Geschäft nicht stören ließ. waffneten, indem sie sich an die Großmut Kein Wunder, daß er einer solchen Aufwandten. forderung nicht Folge leistete. Statt dessen saß sie da, ihm den Rücken Ist es denn zweckmäßig, das Feuer noch mehr zu schüren ?" zukehrend, die Gleichgültigkeit gegen ſein ErWar das Scherz oder eine scharfe Anscheinen, von dem sie nicht einmal Notiz nahm , deutlich zur Schau tragend. Das spielung eine vorwurfsvolle Frage ? „ Mich_friert. “ konnte nicht ohne Absicht geschehen, und er empfand , daß er hier mehr Großmut zu " Ein innerlicher Frost ?" " Vielleicht." üben haben werde , als er vorausgesehen. Eine Krankheit ?" Doch sein Herz sprach viel zu laut für sie, ,,Nein." er konnte nicht wieder von hinnen gehen, wie es ihm eine erste unmutige Regung Es war so natürlich, daß er in der Beeingab. sorgnis ihr gegenüber an den Kamin trat, Er war einen Augenblick stehen geblieben; um ihr Aussehen zu prüfen, und sein „ Gottnun, da ſie ſich immer noch nicht umwandte, lob !" war ein aufrichtiger Seufzer der Ertrat er unmittelbar heran und legte die leichterung . ,,Nein, es ist nichts Ernstliches . Lieber Hand auf die Lehne ihres Stuhles . eine Laune als eine Krankheit ; unter jener ,,Sujanne!" sagte er leise. Sie neigte sich noch tiefer und stocherte leide doch nur ich . Warum vermeiden Sie, noch eifriger in dem brennenden Holze. Nur mich in ihr Auge blicken zu lassen?" nicht sprechen ; sie hätte das Schluchzen nicht „Ich vermeide es nicht . Mich amüſiert unterdrücken können ! Wenn er sich jetzt es mehr , dem Spiele der Flammen zuzuniederbeugte, sie umfaßte wie dieſe Nacht, | sehen. “ ,,Nun diesen , amüsanten' Anblick können kraftlos , widerstandslos wäre sie ihm aberSie auch haben, wenn Sie Ihren Blick mir mals hingegeben gewesen, sie fühlte diese zuwenden . Dies graujame Spiel wiederholt vernichtende, und doch ſo ſüße Lähmung wieder durch die Glieder schleichen . O, wenn sich in meiner Brust. " er es that ! Der scherzhafte Ton rief nur ein geAber Furcht wie Wunsch blieben uner- reiztes Lächeln bei ihr hervor und spöttisch füllt. Die ausbleibende Antwort reizte diesdie Achseln zuckend entgegnete sie: „Ich hätte sie solcher sentimalen Anmal nicht zur Kühnheit, das aufquellende Gemüt hatte Zeit, sich zu feſtigen . Einem wandlungen und ſolch banaler Vergleiche troßenden Kinde kann der Mann nur mit nicht fähig gehalten." „ Der Gemeinplaß stellt sich eben ein," Strenge oder leichter Ironie begegnen . Es klang auch fast heiter als er sprach. ſagte er gleichfalls lächelnd , aber mit deutlich hindurchleuchtendem Ernste, "I wo die Sprache " Welche Naturgeheimnisse mögen Sie 67
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blickte. Das liebevolle Wort, das schon auf für die Macht und Tiefe des Gfühls keine Andors Lippen schwebte, wurde wieder zurückausreichende Bezeichnung mehr hat, oder gedrängt ; doch verlor er auch die Lust, in wo die Brücke des Verſtändniſſes von Herz zum Herzen abgebrochen ist . Ein Blick erset dem angeschlagenen scherzhaften Tone fortzufahren. tausend Worte. Warum wollen Sie diese „Warum diese Bitterkeit , Suſanne ?“ Brücke nicht schlagen, Susanne? Sehen Sie mir ins Auge, wenn ich nicht denken soll, sagte er in herzlicher Weise. " Was hat Sie verstimmt ? Was hat diese Veränderung daß Sie es nicht wollen, weil Sie es nicht können!" hervorgebracht ? Denn Sie sind anders, als „Einzweifelloser,tiefberechtigterSchluß !" Sie gestern abend waren. " erwiderte Susanne mit zürnender Jronie, in„Und gleicht denn bei Ihnen ein Tag dem anderen ?" dem sie, gleichgültig sich zurücklehnend, mit „Nein, es ist wahr . Empfindungen, festem Blick, wenn auch nur für eine ZehntelSekunde, zu ihm aufsah. Ueberzeugungen, Wünsche und Vorsäge entwickeln und beſtärken ſich. “ Die tiefen, dunklen Schatten unter den kalten, ja feindseligen Augen verrieten deut„Oder sie schwächen sich ab und schlagen lich genug die Abspannung, welche eine aufwohl auch um.“ geregte, schlaflose Nacht hinterlassen, selbst „Ist das die Frucht jenes Besinnens, der rote Atlasfragen des nach Herrenart das uns die Nacht bringen sollte?" „ Nicht mir. Von Ihnen allein war geschnittenen Schlafrockes aus schwarzem . Samt, auf den sich die nur lose aufgedie Rede.“ nommenen Haare wie schwarze Schlangen ,,Und doch war es Ihnen vielleicht notniederringelten, vermochten dem bleichen Gewendiger als mir. “ „Daß ich nicht wüßte. “ sichte sowenig als das Feuer des Kamins Farbe zu geben ; aber auch so übte es einen So ist in Ihnen auch nicht einen unwiderstehlichen, ja fast fesselnderen Reiz. Augenblick lang ein Bedauern erwacht, um Diese feinen, eigenartigen Linien bedurften nicht zu sagen Reue ?" Er war näher ge= nicht der Frische stroßender Gesundheit, die treten und legte seine Hand leise auf ihren Arm , als sie sich aufrichtete und in ihrer so oft die einzige eigentliche Schönheit man= ches anderen, um seines Zaubers gerühmten bewegten Seele um ein stolzes Wort der Antliges ist. Erwiderung kämpfte. „ Nein, Suſanne, es ,,Ach, die Sonne ist also doch da !" jagte ist kein Bekenntnis , das ich von Ihnen erzwingen will . Verzogene Lieblinge des Andor. „Warum aber nur einen einzigen Strahl vom froſtigen Winterhimmel ? Jst Glückes beugt man nicht mit Gewalt. Eher sie denn nicht im ſtande, dieſe Schneewolken laſſen ſie ſich von derselben brechen, ich weiß es. Ein Mädchen mit Ihrem Verstande, zu zerteilen ? Es kommt nicht darauf an, ob sie hindurch zu ſehen wünſcht, sondern | Ihrem Herzen und Ihrer Willenskraft erob sich ein Frierender nach ihrem Anblick gibt sich nicht, wie jene Bramarbaſſe, die sehnt. Sie soll ja scheinen über Gerechte gegen die ganze Welt zum Kampfe gerüstet und Ungerechte." zu sein vorgeben und doch nur jenen Stärkeren herbeisehnen, dem sie als Sieger huldi ,,Eine Zumutung, bei der es auf ihre gen können . Sie sind keine jener ungepersönliche Neigung oder Abneigung wenig anzukommen scheint und die zudem ein auf- | zählten Widerſpenſtigen nach Shakeſpeare's munterndes Beiſpiel der Ungerechtigkeit gibt. Muster, die nichts Besseres wünschen, als Glücklicherweise ist der Mensch nicht zu gewiſſermaßen gliedweise geknickt und gegleicher Selbstverleugung und Unparteilich zähmt zu werden; aber ich glaube auch nicht, daß Sie sich die Waffen mit List und feit gezwungen ." Wie sie so die purpurne Quaſtenſchnur Schmeichelei entwinden lassen. Und wenn um ihre weißen Finger ſchlang, sah es aus, dem so wäre, würde dies mir widerstreben. als ob Blut über dieselben rieſele ; aber nicht Ich habe geſchwiegen, so hart es mir fiel, das ihrige, ſondern das eines Gegners , auf insolange ich schweigen zu müſſen glaubte ; das sie gelaſſen und erbarmungslos niederich habe gesprochen, als ich mich dazu be-
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Andor.
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rechtigt hielt, und frei und offen wie ich ihren. Aber die bestrickende Macht war gebrochen. Wie triumphierender Scherz hatten forderte , eben so glaube ich auch , daß es Ihrer Natur entspricht , zu gewähren, die in Jubel zitternden Worte an Susannens frei und offen — nicht freiwillig als ein | Ohr geklungen, wie stachelnder Hohn, und im heißen Niederringen des stürmisch klopfenGeschenk. Bewahre ! Sie müssen , weil Sie nicht anders können. Sie müssen , den Herzens riß sie sich empor , als seine weil Ihr eigenes Herz Sie unwiderstehlich | Lippen die ihrigen beinahe ſchon berührten . dazu drängt . Was immer auch der Ur Hoch aufgerichtet stand sie da, gewachsen, sprung der Zurückhaltung sein mag, sie endet, wie es schien. Alles Blut war wieder aus wo das Vertrauen eine Bedingung des Lebens den Wangen gewichen und aus dem bleichen wird . Und wo die Liebe einkehrt , in ein Antlige glühten die dunkeln, eingeſunkenen edles , keuſches Mädchenherz , da kann sich | Augen. Wie die Flammen zu ihren Füßen, dasselbe nicht mehr verschließen ; es muß verzüngelte Hohn und Haß auf ihrer Stirne trauen, unbeschränkt vertrauen, oder es verund in jedem Zuge ; so glich sie in ihrem schwarzen, wallenden Gewande mit den roten, geht. " Suſanne fah nicht auf, haſtig, als hinge | wie von Blut und Feuer geränderten Säuihr Leben davon ab, wand und knüpfte sie men, einem jener Dämonen, in denen ſich das Grauen der Menschenseele bildnerisch die Schnur um ihre Finger. Die raschen, die Leidenschaft vergegenwärtigt. tiefen Atemzüge und das sachte in ihr Antlig strömende und bis zur Stirne auf„Ich muß ?" bebte es von diesen farbsteigende Blut verrieten deutlich genug den loſen , ſtolz gekrümmten Lippen . „ Nein ! Eindruck, den Andors Worte hervorriefen. Ich kann noch wollen und ich will nicht!" Näher und näher neigte sich der Sprecher Was ist dir, Susanne ?" fragte Andor, und seine vom Gefühl mächtig bewegte und der sich ebenfalls rasch erhob, betroffen, indem er ihre Hand zu fassen suchte. seltsam gedämpfte Stimme kaum noch beherrschend, fuhr er fort : „O bleiben Sie nur in Ihrer demütigen „ Und weil ich dies weiß, darum wurde Stellung ! " ſpottete Suſanne und ihre Stimme wurde fester. " Sie werden sich derselben doch ich beinahe irre. Einen Moment nur ; aber nicht schämen ? Es käme nun zu spät, die ist mir dies zu verdenken ? Der Mangel an Vertrauen ließ mich an der Liebe zweifeln, Genugthuung ist mir geworden. Das thödie ich einen Augenblick zuvor zu besigen richte Judenmädchen kann lachen , wie es gemeint, die mich so stolz, so unbeschreiblich einst selbst verlacht worden ist." Sie versuchte es , ihre Worte zu verglücklich gemacht . Doch seither habe ich mir gesagt, daß ich nahe daran war, ein falsches wirklichen, aber die heiseren, widerwärtigen Urteil zu fällen, daß ja die Geburtsstunde Töne hatten nichts mit Lachen gemein, doch des Vertrauens erst gekommen war und mit auch ihr Blick begegnete nicht mehr so fest dem Sonnenaufgange der Liebe zuſammen- | den ernſten, erstaunten Augen, die fragend auf ihr ruhten. Andor war einen Schritt treffen mußte. Du aber hatteſt eben den ersten Strahl geſchaut, denn jenes Gestirn, zurückgetreten und schwieg ; in ihr dagegen das dir ehedem leuchtete und das du unterdrängte es , sie mußte sprechen , alles das gegangen glaubtest, kann ja nicht Liebe geherausfördern , was seit Jahren in ihr aufwesen sein, kein Gefühl nur ein Spiel gespeichert lag ; fie mußte erklären , versich selbst überzeugen . So nichten und der Phantasie. Sag ' es selbst, jezt erst ist dein Herz erwacht , jezt erst bist du mein. fuhr sie denn haſtig Saß an Saß fügend, Früher war's ein freiwilliges Geschenk, das um jeden Einwurf abzuschneiden und mit war nicht das echte. Jezt, Susanne, jezt leidenschaftlichem Eifer fort : fannst du nicht anders und magst du dich „Einen Vorwurf gedachten Sie mir sträuben so viel du willst du mußt! mußt !" " daraus zu machen , daß ich Ihnen den Langsam hatte er sich herabgebeugt, sein Namen nicht nannte, der Sie an eine vielKnie berührte das Wolfsfell, auf dem ihre leicht von Ihnen schon längst vergeſſene Füßchen ruhten , seine Arme unschlangen Szene gemahnt hätte. Welches Recht hatten Sie denn dazu ? Sie maßten sich an, mich ſie und diesmal nahte ſich ſein Mund dem
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Lied von Emil Hartmann. Emil Hartmann.
Andante tranquillo. Gesang.
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1. Leg' nun das Haupt auf's 2. Träu - me, mein Kind, von
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Killen Kind und schliel' die Auglein die kla - ren, es wacht ra - die - les Freu - den; es kom fel- ger Beit , von Pa
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dein Müt-ter- chen men Engel
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bist mein Lieb- ling, bräch - té nie lie be Gott hat fie ge-landt, -
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Robert Byr.
dafür strafen zu wollen und ich sollte reuevoll und dankbar Jhre Großmut bewundern, wenn Sie mir die Schuld verziehen. - Aber Sie vergessen , mir dieselbe zu weisen. Wo ist sie denn? Bin ich zu
der Charakter. Ach, wer beginge denn nicht zuweilen die kleine Nichtswürdigkeit, die Unſchuldigen unter seine Füße zu treten ? Was weiter ? Aber ich ich wollte nicht mehr zum zweitenmale der Getretene sein. Nein, nicht nur um mich vor dem Hohne zu sichern, habe ich geschwiegen und mich verleugnet, das genügte nicht, ich that's , um mich zu rächen. Und der Erfolg ist für mich. Nicht ich bin verspottet , ich selbst bin es , die spotten ich bin gerächt. Das spotten kann, kann,
Vertrauen gegen Sie verpflichtet ? Die Liebe schuldet es , so waren Ihre Worie, die meine aber war ja nicht die echte, ein nicht wahr, sie war nicht die echte ? Traum der Phantasie und jezt ist auch der erloschen. Aber ich will nicht sagen, ich harmloſe Kind , das Sie einst mit Verachhätte es unterlaſſen einfach darum, weil ich tung von sich stießen, als es ohne Arg ſein es nicht thun mußte. Nein, ich will nicht Herz erschloß , das ist versunken und be lügen, ich will nicht heucheln mehr ; ich habe graben und diejenige, die als seine Erbin es genug, denn bisher that ich es . Ja, absichtlich mit vollem Bewußtsein des Zweckes eintritt, ist eine ganz andere und kann heute Vergeltung üben. Die Tochter Adlers that ich es. Ich habe geschwiegen, ich habe ward einst zu gering geachtet, zu der ſtolzen mich verleugnet, um nicht verspottet zu werden. Sollten Sie achſelzuckend auf mich Höhe emporgehoben zu werden, auf der sich Andor von Beledényi feſt und sicher träumte ; weisen und Ihren Bekannten unter zwei lieber wollte er ſein Wappenſchild mit eigener deutigem Lächeln zuflüstern dürfen : Seht Hand zerbrechen, als ihm dieſe Schmach anhin, das ist Suſanne Adler, die mich einst durchaus heiraten wollte. Ihr Thoren be | zuthun ; heute ist der Play, auf dem er steht, werbt Euch um ihre Gunſt wie um ein mir zu gering. Ich steige nicht herab zu Wie du mir, so ich dir !" unerreichbares Gut, ich habe es besessen ihm . und weggeworfen, denn es ist wertlos !" Ein Wirbelwind hatte sie erfaßt und Wo war da ein Unrecht, wenn ich mich damit fortgerissen. Wild jubelndes Frohlocken gegen schüßte? So sollte von mir kein Mann klang unheimlich aus den lezten Worten. ,,Sie sind außer sich , Susanne!" rief sprechen, aber es sollte mich auch keiner zur mächtig bewegt aus . „ Sie klagen Andor Flucht zwingen, da ich als Weib ja wehr- | mich einer Handlung an und übertreiben los der Nachrede ausgesezt bin, ohne den ſie im selben Moment ohne Maß und Ziel . Spötter und Verleumder züchtigen zu können. Ist es denn dasselbe, was Sie thun und Ich konnte mich verbergen, ohne zu fliehen, Vergeltung nennen? Ich habe die Zumutung es bedurfte keiner besonderen Klugheit, die Wahl zu treffen. " zurückgewiesen , eine Unbekannte , eine inir „Und einer solchen Nichtswürdigkeit wurde ich also fähig gehalten!" sagte An dor bitteren Tones , der heiße Blutwellen nach Suſannens Schläfen trieb . Wie Flammen im Windhauche begannen ihre Augen unruhig zu werden ; aber die Mahnung an ein neues Unrecht war nur ein weiterer Stachel, der die vom Sturm in seine Arme Genommene vorwärts trieb . „Es ist ja nur ein Triumph der Eitelfeit, den sich ein Mann nicht gerne verWas liegt sagt," entgegnete sie lachend. daran, wer dadurch verlegt wird, wie tief die Wunde geht ? Zeigt mir doch den Einen, der in Wahrheit zu groß und zu stolz dazu ist, sich diese Befriedigung zu gönnen ! Nicht an den Worten, an den Thaten erweiſt ſich
völlig Fremde um finanzieller Vorteile willen zu meiner Frau zu machen. Ein Handel Sie weisen war es, den ich abgelehnt. ein Herz zurück, das kennen zu lernen, Sie sich Zeit genommen und das Sie gewonnen --das Sie angenommen, wenn nicht ſogar angelockt haben. " Um es zu quälen. O könnt ich es, ich hätte die größte Genugthuung daran. Aber es gelingt nicht so leicht bei Euch Herren der Schöpfung , die ihr euch mit eurer Männerkraft und Manneswürde groß macht. Ihr behaltet euer Herz hübsch in der Hand. Nur bei uns soll es ein „ Mußz“ sein , das euch schmeichelt ; bei euch bleibt es immer nur ein souveränes „ Ich will !“ euch gegenüber bleibt unsere Hand immer
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waffenlos ! Ihr ſeid zu gut gepanzert. Achilles , | jannes Hand und zog ihren Arm in den Siegfried, das sind eure Vorbilder. Was ist seinen . ,,Mein Herr und sehr geehrter da viel Mut daran , wenn einer sich in Freund , wir erklären uns zu Alliierten. den Kampf wirft , der sich unverwundbar Was gedenken Sie auf diese Notifizierung weiß ! Wo ſchlägt man euch, daß es schmerzt ? einzuwenden ?“ „Nichts," jagte Andor. So schmerzt, wie wir das Weh empfinden! Ihm war als stocke das Blut in seinem Nie, nie langt das Maß! - Gleichviel ; Herzen zu Eis . Er griff nach seinem Hut, ich habe getilgt, soweit ich konnte. Unsere Rechnung ist ausgeglichen und zerrissen ! " „Und zerrissen," wiederholte Andor, der sehr bleich geworden war, wie das Echo aus einer Gruft. Welch ein Wesen war ihm hier entgegengetreten! War das jene Susanne, die er geliebt ? Er mußte sich erinnern, wie er sie im Verkehr mit Viktorinen geſehen, um nicht völlig zu zweifeln, daß sie ein Herz habe. Oder war auch das nur Spiel und Heuchelei gewesen? Dennoch, durch all die Bitterfeit und das Leid arbeitete sich in ihm das immer heißere Begehren durch, sich noch einmal in den scheinbar beendeten Kampf zu werfen. Wer so glühend zu hassen vorgab , der mußte noch einen Funken Liebe in sich tragen, und hier Sieger sein, hieß ein doppeltes Glück feiern. ,,Sie meinen damit alles abgethan ?" nahm er das Wort wieder auf. Wie aber, wenn es nun an mir wäre, den Ueberschuß auszugleichen? Sie kennen das Gesez der Blutrache."
verbeugte sich stumm und ging. Selbst Savagnas Munterfeit blieb von dem Ernst des Moments nicht unberührt, doch fand er rasch seine Unbefangenheit wieder, um scheinbar scherzhaft, aber doch mit schlauer Gewandtheit seinen Vorteil aus der Situation zu ziehen. „ Wir haben also ein Bündnis geſchloſſen,“ jagte er, den Arm noch immer festhaltend . ,,Wird es ein dauerhaftes sein, eins auf Lebenszeit?“ Susanne jah noch immer nach der Thüre, durch die Andor verschwunden war. Nichts von Hingebung oder zögernder Beklemmung war in ihrer Stimme und ihrem Wesen. Trosig, als spräche sie es noch immer dem Gegangenen zu Gehör, jagte йe : Wenn Sie so wollen. “ Sujanne! Sie werden also meine
Wünsche endlich erfüllen ? meine Frau werden? wie liebenswürdig von Ihnen! Sie machen mich zum glücklichſten der Menſchen. Meine anmutige Braut !" War es der Ton erkünstelten Entzückens, „Ich werde mich zu sichern wiſſen, " | der Klang der franzöſiſch gesprochenen Worte oder der huldigende Handfuß, der Suſanne entgegnete sie, den Kopf ſtolz zurückwerfend . fremdartig berührte ? Wie eine erwachte Im gleichen Augenblicke verließ sie ihren Schlafwandlerin schraf sie auf. Plaz am Kamin und ging Savagna entwenn ich „ Ich weiß nicht, ob Sie gegen, den sie, der Thüre zugewendet, durch "1 den Salon kommen gesehen, während An- | Ihnen sage ,, nicht doch, nicht doch !" unterbrach dor im Sturme seiner Aufregung die Schritte auf dem Teppich überhört hatte. "IWillSavagna ihre stockenden Worte. „ Ich habe kommen, Marquis !" mich, ohne erst nach den Rechtsgründen und „Ah , hier scheint eine Kriegserklärung | den Ursachen der Feindseligkeit zu fragen, auf Ihre Seite gestellt. Wir haben den Gegner erfolgt zu sein,“ scherzte dieser, indem er in die Flucht geſchlagen. Nun müssen Sie die ihm gebotene Hand faßte und festhielt. Sein geübtes Auge las leicht in den Zügen mir erlauben, auch meine Intereſſen wahrder beiden Gegner. zunehmen. Es gibt feine uneigennüßige Allianz . Ich halte Sie beim Wort und „Und ich begebe mich freiwillig," sie betonte das Wort „freiwillig“ mit besonbei der Hand. " derem Nachdruck, in Ihren Schuß." „Wenn sie allein Ihnen genügt," ent"! Charmant ! Man bietet einer befreun= | gegnete Susanne leiſe. „ Mein Herz Ich weiß," fiel er abermals ein und deten Macht nie vergeblich Gelegenheit zu ein cyniſches Lächeln zuckte dabei in allen einer Intervention. " Er hob lächelnd Su-
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Linien seines abgelebten Gesichtes , „ ich weiß, | schlich sie stets von neuem der Gedanke an ihre Unzulänglichkeit . Ihr war es, als hätte Sie lieben ihn und darum werden Sie mein. Das aber ist eben die beste Art der sie sich im Eifer, den gehaßten Gegner zu Rache." vernichten, im Ringen mit ihm gemeinsam Er füßte abermals ihre Hand, schlang vom Felsen gestürzt. Das Leben war nun aus. ganz, ganz anders hatte sie sich seinen Arm um sie und zog sie an sich . Widerstandslos gab sie nach, es schien aller den Triumph ausgemalt ! Immer tiefer wühlten sich ihre Füßchen in den WolfsWille, alle Kraft von ihr gewichen ; vielleicht war es auch nur Ermattung und Gleich | pelz ein ; sie fror nun wirklich . Aber ihre Hand griff nicht nach dem Schürhaken. gültigkeit, als sie den Kopf so tief senkte, daß blos die Schläfen von den Lippen des Wie im Traume tastete sie und ſank dann matt herab, als sie nicht fand, was ſie ſuchte . glücklichen Bräutigams berührt wurden . Ihn störte das nicht in den Beteuerungen Die Geige war in Boulogne geblieben. Was sie wohl gesprochen hätte ? seines Entzückens . Er pries den Zufall, der ihn gerade im richtigen Moment hierhergeführt. Madame de Drésillon, welche ihn nach ihrer Weise ganz ohne weiteres in die VI. Equipage gepackt und der zu Hause gebliebenen Freundin zur Spazierfahrt als ,, mein Fräulein, ich kann nichts dafür ! Ich allein vermag ihn nicht zurückzuBegleiter geschickt, seinen Stern endlich, der halten. Monſieur iſt ſo ungeſtüm und Henri Sujannens Geiſt ihm zugelenkt und zu dem unten beim Wagen. Was sollte ich thun? raschen Entſchluſſe angeeifert, und ſo wohlMonsieur forderte mit Gewalt, vorgelaſſen gesezt seine Worte klangen, so rücksichtsvoll er sich in seinem Verhalten zeigte, ebenso zu werden . Ich sagte, daß Mademoiselle taktvoll und geduldig ließ sich der zukünftige allein zu bleiben wünſchten, noch nicht Toilette gemacht hätten, aber es nüßte nichts, Ehemann jezt schon aus dem Wege schaffen, als Susanne ihm erklärte, sie fühle das und da bereits Monsieur de Rainald und der Herr Marquis Bedürfnis , allein zu sein. Die Kammerfrau kam mit ihren Ent„In einer Stunde also bin ich wieder da, Sie abzuholen, “ verabschiedete er sich geschuldigungen nicht weiter, die lezte Wenhorsam mit einem neuen Handkuſſe . „ Eine dung hatte ohnedem schon verraten, daß es Stunde genügt wohl für die Toilette . ihr mit der gut gespielten Bestürzung und Wenn ich zurückkomme, finde ich Sie schön, Entrüstung nicht allzuſehr Ernſt ſei ; ſie hatte als wohlgeschulte Pariser Zofe das Ihrige blühend, strahlend und – gefaßt. Ich benüße die Stunde , um mein Glück auszu- | gethan ; nun mochte „ ce gentil monsieur " mit dem reizenden schwarzen Bärtchen für posaunen, mich beneiden zu lassen und ein den Rest selber sorgen . wenig zu frühstücken . Und dann in's GeEr war ihr auf dem Fuße gefolgt, so hölz, uns zu sonnen. Wir sind die große daß es wirklich den Anschein hatte, als ob Neuigkeit des Tages, alle Welt wird uns anstaunen und wir wir werden sie zerer sich mit Gewalt den Eintritt erzwungen malmen." habe . Sein Blick , seine Miene stimmten Mit tief gesenkter Stirne saß Suſanne | dazu, sogar sein Aeußeres ; es war etwas wieder vor dem Feuer. Sie fühlte sich Verkommenes in demselben, was ſofort ins ſiegesstolz, aber der Sieg war teuer erkauft, Auge fiel und es nicht einmal leicht machte, und sonderbar ! - das Gefühl war doch in dieser zweifelhaften Erscheinung den eleeigentlich ein herbessie ganten, jungen Offizier von ehemals zu ersie hatte keine rechte Freude daran. Wo war der wilde Jubel kennen. Es gibt Menschen , die nicht um des hochschwellenden Herzens geblieben ? Tief, eine Welt ohne Manschetten sein möchten, tief untergetaucht in der Rache bis zur Sätti- sie tragen lieber schmußige als gar keine. gung, hatte ihr diese doch keine Genugthuung | Zu dieser Sorte gehörte Potyondi. Sein gebracht. So oft sie sich auch zur Em Anzug verriet die Herkunft aus dem Kleiderpfindung derselben künstlich aufstachelte, beladen, er war nicht ganz passend , nicht
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„ Das heißt wohl, ich hätte mich kurz zu fassen," nahm Jenö wieder das Wort, darauf bauend, daß ihn die nur zögernd sich Entfernende, die gerne klarer über das Verhältnis zwischen beiden geworden wäre, doch nicht verstehe. „ Das ist freilich nicht der freundliche Gruß , mit dem ich mir als treuer Verehrer empfangen zu werden Doch nein , ich erwartete schmeichelte. es nicht anders, ich wußte, was mir bevor-
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mehr neu und die Stußerhaftigkeit , mit der er getragen wurde, vollendete den Eindruck, den der Engländer shody " nennt. Es war aber auch sonst eine gewiſſe Verwilderung in seinem ganzen Wesen auffallend . Die Augen, welche schmachtend und zärtlich wie die eines liebekranken Mädchens blicken konnten, rollten unruhig und ausweichend zwischen den geröteten Lidern. Wo war die sanft geschmeidige Weise, die
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gedämpfte Stimme , mit der sich Jenö so stand, wenn ich der Flüchtigen unversehens entgegentrat . “ sicher durch das Chr der Frauen in ihr „Der Flüchtigen?" Susanne hob die Herz zu schmeicheln verstand ? Sie klang Achseln mit unverhohlener Geringschätzung fast rauh und heftig, als er jeßt seinen unanund ließ sich lanajam auf dem kleinen Digemeldeten Eintritt rechtfertigte. van nächst dem Erker nieder , wohin ihr Zweimal abgewiesen, mußte ich mich vorſehen, daß mir nicht zum drittenmal das- | Jenö , durch den davorſtehenden Tisch geselbe Schicksal widerfuhr. Ich mochte doch hindert, nicht folgen konnte. „Gewiß!" jagte er. Sie können nicht nicht vergeblich nach Paris gekommen sein. Sie werden mir den kleinen Ueberfall nicht leugnen, daß Sie geflohen sind . Sie verübelnehmen, schöne Susanne." schwanden so plöglich, hatten so sorgfältig Die Angeredete hatte sich hastig erhoben. Ihr Reiseziel, Ihren Aufenthalt verborIhr musternder Blick verhehlte weder die gen, daß nur ein Zufall mich auf Ihre Scheu noch den Widerwillen , die sie em- Spur führte. Auf dem Bahnhofe von Avripfand. Auch nicht die leiseste Kopfneigung court, wo der Eilzug von Paris sich um sechs Uhr abends mit dem Straßburger fonnte für einen Gruß gedeutet werden. In jedem Zug ihrer Miene sprach sich die Abweisung und der Wunſch, den Eindringling fernzuhalten, aus. Fast hatte sie Reue beschleichen wollen über den Schritt, der sie zu Savagna's Braut gemacht ; jezt kehrte die Befriedigung darüber wieder in ihre unruhig gewordene Seele zurück. Sie hatte entschieden über ihr Schicksal und es war recht so . Auch gegen das Andrängen von dieser Seite, gegen diese unerträglichen Anforderungen, die sich immer wieder erhoben und mit wachsender Hartnäckigkeit verfolgten, hatte sie jest Schuß. Der tröstliche Gedanke gab ihr Gelassenheit. Zur Kammerfrau gewendet, die um so neugieriger ihre schlauen Aeuglein von der❘ Freundin ihrer Herrin zu dem interessanten jungen Manne und wieder zurückwandern ließ, als die fremde Sprache, deren er sich jezt bediente, weit unverständlicher klang, wie die goldklingende, durch die er sich Zutritt erbeten, erklärte Susanne, daß der Wagen noch warten solle. „Und dann, Manon, sagen sie meinem Mädchen, daß alles bereit sei . Ich werdesogleich kommen, mich zur Ausfahrt anzukleiden. "
Zuge kreuzt, der mich hierhergebracht, mußte ich vorgestern auf einen Freund treffen, der in den Mitteilungen über seinen Boulogner Aufenthalt mit begeiſterter Schilderung Ihren Namen nannte. So erhielt ich Kenntnis von Ihrem Verstecke, und nur Doktor Raich verdanke ich Ihre Adreſſe, die offenbar für mich denn vor ein Geheimnis bleiben sollte, mir allein sind Sie geflohen." „Wenn Sie das so bestimmt wissen, weshalb folgen Sie mir dann ?" ,,Sie können noch fragen ? weil ich Sie liebe, Susanne, weil der Widerstand mich nur reizt, weil Sie mein werden müssen. " Sie vergessen, “ ſiel sie ihm in die pathetische Erklärung , „ daß es eben dieſe Redensarten waren , deren Aufdringlichkeit ich mich vielleicht zu entziehen wünschte, wenn ich ein baldiges Wiedersehen zwiſchen uns zu vermeiden suchte . Ich erkläre Ihnen offen, daß ich wenig Vergnügen an solchen Szenen finde und meine Ihnen das früher schon so deutlich zu verstehen gegeben zu haben, daß ich mich nur verwundern muß, wie Sie noch nach einer Wiederholung trachten konnten. Aber ich sollte wohl Ihren 68
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Worten weniger Bedeutung beilegen, weiß ich doch, wie Sie die Thatsachen zu be leuchten lieben . Sie ſind ebensowenig meinethalben nach Paris gekommen, als ich floh . Sie haben ja selbst gestanden, von meiner Anwesenheit erst unterwegs Nachricht erhalten zu haben. Wir werden demnach Ihre Gegenwart wohl irgend einem anderen Beweggrunde verdanken. " Der kalte, abstoßende Sarkasmus blieb nicht ohne Wirkung auf Jenö. Er kaute an seiner Lippe und schien einen Moment unschlüssig ; doch war die Regung rasch überwunden. Dreist hob er das niedergeschlagene Auge, eine Art wilden Troßes schien über ihn gekommen und die Art , wie er sich lachend in den Fauteuil warf und die Arme übereinanderschlug, hatte etwas Verzweifeltes . Nun ja !" rief er, die Stirne bietend.
Ich würde vor Ihrem Scharfsinne eine Rolle nicht lange durchzuführen vermögen . Ihr Auge ist nicht nur schön und unwiderwie heißt es doch in dem Heinestehlich schen Liede? Du hast mich zu Grunde ge= richtet, mein Liebchen, was willst du mehr ? Ein Prophet, dieſer Heine, der mir meine Zukunft vorausgesagt — dieſes ſchöne Auge ist auch durchdringend. Bleiben wir also bei der Wahrheit ! Und Sie lieben auch die Umſchweise nicht . Ah, das ist es ja eigentlich, was Sie so ganz anders macht als die übrigen Ihres Geschlechts und worüber man rajend werden könnte vor Liebe ! Bei Ihnen klingt es nicht an, dies sanfte Flöten, Sie wollen keinen girrenden Täuberich; die anderen verlangen es nicht besser , als umschmeichelt, umkoſt und - belogen zu werden. Für Sie heißt es andere Saiten anschlagen. Ich glaube, daß ich das von jeher hätte thun sollen, dann wäre ich Ihnen vom ersten Anfang an intereſſant erschienen. Wenn ich jener Nacht gedenke, wo ich Sie in jenem verteufelten Turme zuerst sah wer mir damals gesagt von Bukraház hätte, daß ich Ihnen heute so gegenübersigen werde! Was datiert sich nicht alles von jenem Abende ? Ich behaupte, mein ganzes Schicksal. Es steht wenigstens alles im nettesten Zusammenhange und genau genommen, wurde damals schon mein Auswanderungsbillet nach Amerika abgestempelt, das ich mir noch vor drei Tagen in Havre
zu holen gedachte. Seit vorgestern hat sich freilich mein Reiseplan geändert. Ich bin abergläubisch und folge dem Fingerzeig zu meinem Glücke. Warum auch soll ich fort aus dem lieben, schönen Europa ? Es gefällt mir ganz gut in demselben und ein neues Leben läßt sich auch hier anfangen, ein neues, ein herrliches Leben ! Meinen Sie nicht, Susanne? Weiß Gott, seit ich in Paris bin, fließt ganz anderes Blut in meinen Adern. Ich bin zuversichtlich, ich spiele mit dem Glücke und ich weiß, daß ich Glück haben werde in diesem Spiele. Sie kennen ja das Sprichwort mit der Liebe und den Karten, die immer Antagonisten sind . Nun, mit den Karten habe ich's gründlich verdorben, davon konnte ich mich heute nacht überzeugen . Ich wollte es noch einmal versuchen und dann den Verdruß, daß ich Sie verfehlt hatte , mir hinwegspülen. Es war mein Reisegeld, das ich ein neuer verlorder lezte Pfennig Fingerzeig. Ja, ja, ich bin abergläubiſch. Ich sollte nicht weiter ! Hier war mein Ziel ! Ein neues Leben, ganz recht, ein neues Leben ! Ein neues Leben mit Ihnen, denn " Sie, Susanne, sind es mir schuldig." „ Eine seltsame Art, Ansprüche zu erheben! Wollen Sie mich nicht auch verantwortlich machen, daß Ihnen, wie der lezte Versuch, sich im Spiele zu restaurieren , schon viele andere, die vorhergegangen sein mögen, fehlgeschlagen sind Ich soll wohl die sind?? tiefen Wunden vergüten , die Ihnen von andern Frauen grausam geschlagen wurden. Zählen Sie nicht vielleicht auch den Schmerz dazu , den Ihnen Jlka's Tod bereitete, jenes guten, edlen , unvergleichlichen Ge- Ach ich will nicht in diesem schöpfes. schöpfes . Tone fortfahren ! " unterbrach sich Susanne selbst, indem sie der aufschwellenden Entrüstung Raum gab. " Sie haben kein Recht, mich zu beleidigen und ich bin nicht verpflichtet, Sie weiter anzuhören. “ „ Wer will Sie beleidigen. Ich gewiß nicht. Aber sind Sie denn jezt, wo es darauf ankommt , die Wahrheit zu hören, doch so wie alle anderen Frauen, troy allem und allem ? Bah, besinnen Sie sich auf sich selbst. Wenn ich sage , Sie schulden mir das neue Leben, nehm' ich's natürlich nur bildlich. Wie eine Tochter die VerpflichSie
Andor.
tungen ihres Vaters einzulösen hat, den sie beerbt. Wer hat mir das alte Leben zerstört? Derselbe , der meinen Vater ins Unglück gebracht, der ihn in den Tod gejagt hat, der es mir unmöglich machte, mich länger zu halten. Ja, ich war verschuldet, ich will mich nicht besser machen als ich bin, aber noch war der völlige Ruin auf zuhalten. Da kam das Ende. Der Sohn des gebrandmarkten Selbstmörders konnte Sie erschrecken, nicht Offizier bleiben. Sie wissen noch nicht darum ? D , Sie werden noch mehr erschrecken, wenn Sie erst hören, welcher Art die Angaben jenes elenden Zigeuners , jenes mordbrennerischen Schurken waren , die meinen Vater dazu getrieben, sich in die Donau zu werfen. “ So ist Görbedán gefangen ?" murmelte Susanne betroffen. „Leider hat ihm die Kugel der Panduren das Lebenslicht nicht rasch genug ausgeblasen. - Aber wie ist das ? Sie kennen seinen Namen. Was wissen Sie von ihm ?" Susanne schwieg und blickte in Erinnerungen verloren und schmerzlich träumend vor sich hin. Es bedurfte wiederholter Aufforderungen von Seite Jenö's, der sich in Verwünschungen und mit allerlei zurückgreifenden Andeutungen vermengten Klagen ergoß , um sie zum Sprechen zu bringen . „ Sie sollten mich nicht drängen, Ihnen zu sagen, daß ich seit Jahren um die Beteiligung Ihres Vaters an jenen Vorgängen weiß, wie um die Rolle, die Sie selbst dabei gespielt. " ,,Das heißt, die man mich spielen ließ. Es war ein artiger Anſchlag, bei dem mich "1 mein eigener Vater beinahe gebraten hätte. Das rohe Auflachen aber sogleich wieder unterdrückend, fuhr er lauernd fort. " So so , Sie wußten also seit Jahren darum und das also wird wohl die Ursache des konsequent ablehnenden Verhaltens gewesen sein , das ich mir nicht zu erklären vermochte. Ich bin Ihnen immer der Sohn des Urhebers jener Brandnacht , nur selt sam, daß gerade dieser Umstand nicht viel mehr Mitgefühl als Abſcheu bei Ihnen erweckte. Zwischen Menschen in gleicher Lage bildet sich doch sonst immer eine ge_ _ _ Sie sehen mich so wisse Solidarität.
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| verwundert an, als wenn Sie nicht wüßten, was ich meine, aber Sie wissen es recht gut. Warum hätten Sie denn sonst da= mals und durch Jahre geschwiegen und sich so gewiſſermaßen der Verhehlung eines Verbrechens mitschuldig gemacht ?" „Diesen Vorwurf,“ entgegnete Suſanne, ihre Unruhe bemeiſternd, „ hätte ich am wenigsten von Ihnen , von dem Sohne des Mannes erwartet, den die Enthüllungen am schwersten treffen mußten." so wollen Sie ,,Aus Mitleid also ,
mir glauben machen. Nun ja, die Legende von dem erbarmungsvollen Frauenherzen, daß die Strafe anderer lieber selbst auf sich nimmt, ist recht hübsch und erbaulich . Nur übersehen Sie Eines dabei : Daß man im Grunde so wie mich, auch meinen Vater nur eine Rolle spielen ließ und der Dirigent des Puppentheaters kein anderer " Jenö hielt ein wenig inne, ehe er, war sich auf seinem Sit sarkastisch verbeugend und mit boshaftem Lächeln schloß , „ ale eben Ihr eigener Herr Vater." „Es ist nicht wahr !“ fuhr Suſanne empor. Aber im selben Momente, als sie es sprach, tauchte ein Bild in ihrer Erinnerung auf. Sie sah sich selbst in dem
| engen Raume des Schiffszimmers, der Schein des blakenden Lichts fiel grell auf die verzerrten Züge des Krüppels, und alles, was derselbe damals gesprochen, tönte wieder in ihr Ohr. Das lezte Wort ihres Protestes | kam nur noch erstickt über die Lippen . Schweratmend ſtand ſie neben dem Tiſchchen und ihre darauf gestüßte Hand zitterte wie die einer Greisin. „ Ach ja, die Pietät für die Alten wird ja den Kindern immer als die schönste Tugend gepriesen,“ versezte Zenö mit einer wegwerfenden Handbewegung , „ als ob ſie etwas ganz Besonderes und nicht Menschen wie wir und alle anderen wären . Papa Adler war eben nur geschickter und abgefeimter als der meinige. Er dirigierte die Marionetten und wußte sich klug hinter den Kuliſſen zu halten , wenigstens bis der | Vorhang für ihn gefallen war und ſelbſt der Schluß war noch ein brillanter Theaterkoup . Er wußte die Menschen zu benüßen und fallen zu lassen, wenn er sie nicht mehr brauchte und behielt sie dabei doch in der
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Robert Byr. Andor.
Hand, daß sie gegen ihn nicht aufzutreten vermochten. Wie oft nannte sich mein Vater selbst einen Narren, der für einen andern. gearbeitet und nichts als Undank geerntet habe. Undank von dem Vater und Undank von der Tochter , die ihn entließ als sie endlich im Besiße des Gutes war, das doch er nur ihr in die Hand gespielt." ,, nein, neines ist Lüge!" „Man sagt doch, daß gegenwärtig Sie die Besizerin von Löke sind . Die Käufer, die es zuletzt erstanden , sind vorgeschobene Namen. Es ist ja ihr eigener Vormund, der es übernahm und der meinen Vater seiner Stelle enthob. Oder sollte derselbe sich getäuscht haben ?" Diesmal hielt Susanne den durchdringenden Blicken mutig stand. Wohl überflutete heiße Röte ihr Antlig, ihr Kopf aber hob sich trozig in den Nacken. „Und wenn es so wäre, was soll dar= aus geschlossen werden ? Ist die Erwerbung etwa ein Unrecht ?" „Warum verbergen Sie dieselbe dann ?“ Ich habe Ihnen für meine Gründe keine Rechenschaft zu geben," sagte sie haſtig und um ihre Verwirrung zu verbergen, mit gesteigerter Heftigkeit . " Das aber weiß ich, daß dieser Kauf vollkommen rechtlich abge-
schlossen, mit meinem Gelde bezahlt ist, und daß Ihr Vater mit demselben nichts zu schaffen hatte, wie auch in keinerlei BeUnd er soll mir ziehung zu ihm stand. dies Gut in die Hände gespielt haben ? Dazu hätte ich diese Hände hergeben und sie Ihre in den Schmuß tauchen müssen. Behauptung ist eine Unverschämtheit mein Herr !" Nun denn, es fiele mir " Wirklich ? ſehr leicht, sie zu beweiſen, ſelbſt mit authentischen Schriftstücken sogar." Fälschungen vielleicht. Ich habe nie eine Zeile an Ihren Vater gerichtet. " Wohl aber Ihr Herr Papa. Und es ließe sich daraus, wie aus den Aeußerungen des meinen doch am Ende eine ziemlich flare Darstellung der Art und Weise konstruieren, wie Löke seinem ehemaligen Befizer aus den Taschen eskamotiert wurde . Ich könnte Ihnen die Kunststücke ziffer mäßig berechnen , durch die Andor Beledényi zur Veräußerung gezwungen wurde.
Daß es dann im gegebenen Momente Papa Adler , der sich schon die Hälfte des Wertes angeeignet hatte, nicht zuſagte, das Gut um die andere Hälfte zu erstehen, ist eine Sache für sich . Beabsichtigt war diese Acquisition gewesen ― vielleicht im Zuſammenhange mit anderen fehlgeſchlagenen Plänen". Sujanne schwankte sie mußte sich festhalten an dem Tische . Es ist nicht wahr ! - Es ist nicht - " Die Stimme erlosch im Stammeln. Weshalb fragen sie Andor nicht selbst ? Sie stehen ja, wie ich höre, neuerlich wieder in Verbindung mit ihm . Er könnte Ihnen die beste Auskunft geben. " " -! er selbst ",, Er Es kam wie ein Aechzen aus der röchelnden Brust. Susanne war bleich geworden wie eine Leiche, ihre Augen starrten, als ob sie aus den Höhlen treten wollten, Feuer flog in wilden Kreiſen durch die plöglich hereinbrechende Nacht, die sie umfing. Sie barg das Gesicht in die Hände und ſank zerbrochen auf die Kissen nieder. So lag sie bewegungslos wie eine Ohnmächtige, den Kopf in die auf dem Tische liegenden Hände vergraben , während um die Lippen ihres Gegenübers nur ein cyniſch ungläubiges Lächeln spielte. Er ließ sie eine Weile gewähren, dann als ihm das stumme Spiel ", wie er es innerlich nannte, schon zu lange dauerte, äußerte er leichthin : Ueber die Zweifel wären wir nun wohl hinaus ?" , warum haben Sie nicht früher gesprochen !" stöhnte sie , ohne ihr Haupt zu heben. Weil man sich in der gesitteten Gesellschaft für gewöhnlich nicht so unangenehme Sachen sagt . Wer wird einer Dame erklären , daß sie Runzeln habe , oder sich schminke , wer einem Herrn , daß man ihn für einen Wucherer , für einen Ehrloſen halte ? Da müſſen ſchon besondere Anstöße kommen ; die waren nicht vorhanden, - auch hatte ich meine Gründe, dem ſtolzen Kavalier die Demütigung und den Ruin zu gönnen. “ ,, Er wußte - ?" „ Natürlich,“ versette Jenö spöttiſch.
A. Kögler. Gruß von oben.
Abermals aufstöhnend schlug Susanne, die einen Moment mit anflammernder Angst aufgesehen hatte, die Hände wieder vor die Augen und lehnte sich wie aufgelöst zurück.
Gruß von oben. verlegenden Worten gegen ihn gestanden und hatte sich eine Heldin gedünkt, die eine große That vollführt hatte, als sie sich rächte. Rächte, wofür ? Daß er vergaß, was ihn von der Tochter des Mannes schied , der
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Er hatte darum gewußt und hatte geschwiegen , auch jest noch geschwiegen in edler Großmut und sie, die auf die Kniee hätte sinken müssen, war mit unbarmherzig
Bon
. Kögler.
ihn umstrickt und ausgesogen , und über alles Bedenken hinweg seiner Liebe zu ihr folgte , dieser Liebe , die sie beseligte und die sie einer eingebildeten Beleidigung geopfert. (Schluß folgt. )
Line Kaffeeplantage in Brasilien. Von F. Keller- Lenzinger.
Rio de Janeiro, 10. März 1882. Hochgeehrte Freundin!
LIEDERS
Wie er gebraut und getrunken wird, der erfrischende Trank der Levante, wissen wir, - weniger aber wie und wo die edle Frucht, aus der er gezogen, blüht, grünt und reift. In früheren Jahren bin ich nun so recht in die Gegenden gekommen, die, wenn auch nicht die beste Qualität , so doch den größten Teil der jährlich auf dem weiten Erdenrunde konsumierten, aromatischen Bohnen hervorbringen und kann daher als Augenzeuge wahrheitsgetreu berichten von der fremdartigen Landschaft, den dichtbepflanzten Kaffeebergen (fagen wir nicht auch Weinberge ? "), den wie dunkle Bronze glänzenden, und n'en déplaise, schweißtriefenden Burschen , die mit vollen Bambuskörben und dem bekannten „ scheuen Sklaventritte" (von dem ich übrigens nicht viel bemerft) einhereilen, sowie dem ganzen erotischen Treiben einer brasilianischen Plantage".
F. Beller-Lenzinger. Eine Kaffeeplantage in Brasilien.
Da ich kein Botaniker bin, so haben Sie nicht zu befürchten, daß ich Sie mit sorgfältig gezählten Staubfäden , Pistillen , Kelch und Kronenblättchen langweile, - aber sehen Sie : wenn ich hoch zu Roß oder zu Maultier, Notizbuch und Prismen-Bussole in der Hand, die steilen Pfade auf und abritt , um zu sehen, wie ich mit meiner Straßen- oder Eisenbahntrace am besten und verstrecktesten (gestatten Sie mir den ecig-technischen Ausdruck) - die Höhe des „ Sattels " (wieder einer !) erreichen könnte, - und mir dabei die schwanken, tief
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herabhängenden , blüten- oder fruchtbeladenen Zweige ins Gesicht schlugen, so konnte ich nicht umhin dem interessanten Pflanzenindividuum einige Aufmerksamkeit zu widmen. - Dantbarer aber wurde ich noch gestimmt gegen den herrlichen Strauch, wenn ich in seinem kühlen Schatten meinen Theodolit oder Gefällsmesser aufstellen konnte , während der süße Duft seiner tausend Blüten meine Sinne berauschte, - und schließlich ein gut aussehender, " proper" gekleideter Sklave aus dem naheliegenden Herrenhause , von dessen Fenstern man mein
Vegetationsbild,
Treiben längst schon beobachtet, eine Tasse des erfrischenden Trankes auf silbernem Präsentierteller überbrachte, nebst einem freundlichen Gruße seiner Herrin: Der Senhor Doutor möge gut aufnehmen was man ihm sende, es sei das Bier Brasiliens! Und man braut dort nicht schlecht! - $3 ist nicht das schwachmatische Getränk unserer Kaffeekränzchen , das mit zweifelhafter , wenn auch gesundheitsrätlich geprüfter Sahne gemischt jene undefinierbare an den Solenhofener Stein erinnernde Schattierung annimmt ; es ist auch nicht der blonde , theeartige Absud , den Albion trinkt, - sondern es ist der echte, tief schwarzbraune , aromatische , aus ungezählten Bohnen bereitete Extrakt von solcher Stärke,
daß er, im Uebermaße genossen, ein nervöses Zittern der Glieder wohl hervorzurufen im stande wäre. Die Zubereitung ist, wie bei allen guten Dingen, die einfachste von der Welt : die Bohnen werden unter Zugabe von etwas Zucker (der dort nebenbei bemerkt , immer pulverförmig, leicht gelblich in Farbe und — von - im Vergleich zu unserm harten, blauweißen, nichtssagenden Rübenzucker, höchst angenehmen Pflan―- dann zengeschmack ist —sehr stark geröstet in einem Mörser pulverisiert, was dem groben, ungenügenden Mahlprozesse bei weitem vorzuziehen, in ein Säckchen gefüllt und mit siedendem Wasser übergossen. Zichorienwurzel, geröstete Feigen und andere
F. Keller-Lenzinger.
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Surrogate wären bei den unglaublichen Zöllen, welche eine hohe kaiserliche Regierung und den dito Prozenten, welche die Herren Importeure und Detaillisten zu nehmen geruhen (beides zusammen dürfte den drei und vierfachen Ankaufspreis der betreffenden Ware in Europa wohl erreichen) , doch allzu teuer und so ist man bis jest wenigstens vor diesen Verbesserungs- und Verschönerungsmitteln ziemlichsicher. — Aber ich kenne meine Brasilianer und deren unbezwinglichen Nachahmungstrieb! In wenig Jahren dürfte man tro alledem dort auch Gesundheitskaffee trinken und nikotinfreie Zigarren rauchen! Das „ Neueste",
Nachdem man sich vor kurzem den Lurus eines kleinen Kulturkampfes gestattet und einige Bischöfe eingesperrt hat, die nicht mit der Mode gehen wollten, segelt man nun in der ehemalig portugiesischen Kolonie, in der die protestantischen Kirchen auch heute noch keine Glocken haben, glücklich im breiten Golfstrome allgemeiner Toleranz horribile dictu, - schon soweit und ist, gekommen durch Senatsbeschluß sowohl den Naturalisierten , wie auch den im Lande geborenen " Ausländern" , - denn Ausländer waren sie bis jegt das Bürgerrecht zu schenken! Was soll aus dem Lias noch werden, wenn solche Dinge geschehen? - läßt Scheffel seinen Ichthyosaurus flagen? Lassen Sie mich versuchen, diese heitle Frage soweit zu beantworten, als Zeit und Gelegenheit es hier gestatten. Brasilien ist zu groß und der Zusammenhang der einzelnen Teile zu locker, als daß es auf die Länge den zentrifugalen Kräften, die schon seit mehr denn vier Jahrzehnten dort thätig sind , widerstehen könnte. — Die einzelnen Provinzen werden sich je nach Lage, Handelsinteressen 2c. in mehrere Gruppen formieren , um als selbständige Individuen weiter zu leben, - und bei dieser Gelegenheit könnte, wenn einstweilen nichts überstürzt und berechtigten Empfindlichkeiten gebührende Rechnung getragen wird, —das deutsche Element in den Südstaaten eine hervorragende Rolle zu spielen berufen sein. Wenn man jedoch fortfährt, so ganz
ungescheut von dem großen Reiche als einem heute schon Verstorbenen zu sprechen, über dessen Hinterlassenschaft so ohne weiteres zu verfügen sei , so möchte man doch die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben. und abgesehen von allem andern , - vor der Zeit dort Zustände heraufbeschwören, die bei dem heißen Blute der Eingeborenen
Kaffeeftrauch mit Früchten beladen.
was man drüben im alten Europa, besonders im SeineSeine Babel, ausgeheckt , muß mitgemitge macht und durchgekostet werden und paßte es auch, wie die Faust aufs Auge!
bis zu einem gewissen Grade an die fizilianische Vesper erinnern könnten. Es wäre gewiß höchst wünschenswert, wenn Deutschland eigene Kolonicen hätte und seine auswanderungslustigen Söhne etwas anderes zu thun hätten, als die große transatlantische Republik noch größer und fetter zu machen, als sie es schon ist, wenn das Band, das die Scheidenden mit dem Heimatland verbindet, nicht so schnell zerschnitten, wenn die Vorteile, welche deren steigende Prosperität für
Eine Baffeeplantage in Brasilien.
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das wäre gewiß recht Handel und Wandel bringen muß, nicht so ganz in | seinigen zieht ; fremde Taschen flößen , wenn mit einem schön und gut und nichts weniger denn un— aber wie kommt es denn, daß man, Worte Deutschland denselben Gewinn von seinen auswandernden Söhnen ziehen würde, wie England ihn in Kanada, Australien 2c. aus den
da doch diese Ueberzeugung keineswegs so aller neuesten Datums ist, als vor kurzem ein wirk-
Eingang der Bai von Rio de Janeiro. (Von Corcorendo aus gesehen.) lich herrenloses , wenn auch kleines Paradies für ein Geringes zu haben war, einem großen
Staatsmanne die Mittel dazu rundweg abschlug ? Die Samoainseln sind allerdings
Eingang der Bai von Rio de Janeiro. (Von Jiovahh gegen die hohe See hinaus gesehen.) feine Provinz Rio Grande do Sul, - aber ist denn ein Sperling in der Hand nicht besser, denn die Taube auf dem Dach? - Man wäre, wie die Sachen laufen, beinahe versucht zu behaupten , Fürst Bismarck würde der kaiserl.
brasilianischen Regierung, die von all diesen Geschichten sehr wenig erbaut sein muß, einen wahren Stein vom Herzen nehmen , wenn er ihr unter der Hand die Versicherung zugehen ließe , daß er nächstdem die Erwerbung der 69
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F. Keller-Leuzinger.
Provinz Rio Grande, oder eines sonstigen | aliquoten Teiles des Kaiserreiches ernstlich ins Auge fassen werde. Aber ich wollte Ihnen ja eine möglichst getreue Beschreibung einer brasilianischen Kaffeeplantage geben! Die Vermessung war zu Ende , der lette Pflock geschlagen und Theodolit nebst Ge❘ nossen wohl behalten in die respektiven Behälter verpackt ; - ein treuer , alter Angolaneger, ein Oncle Tom ohne Beigeschmack, hielt mir mit jenem freundlichen Lachen der Augen, das tief in die Seele blicken läßt, den Steigbügel und ein kräftiges Maultier, das jeit mehreren Stunden ungeduldig am langen Halfter zerrte und die ihm vorgeworfenen zarten Bambustriebe nur ungnädig beschnuppert hatte, um sie gleich darauf mit den scharfen Hufen tief in den weichen Boden zu treten , trug mich im Fluge zu der hochgelegenen Eingangspforte der Fazenda . Also : Fazenda, meine Gnädige, und nicht : Hacienda, wie es im Spanischen heißt, - einem Idiom, das sonderbarerweise die Tendenz hat, das F im Anfange der Worte in ein kaum aſpiriertes H umzuwandeln , so daß aus dem lateinischen Verbum facere , dem italienischen fare , dem franzöſiſchen faire , im Portugie | sischen facer oder fazer, im Spanischen Hazer wird , und man ein größeres , der Landwirtschaft dienendes Gut in der Sprache des Camoens : Fazenda, in der des Cervantes : Hazienda nennt. Große Dichter, edle Menschen waren beide ; beide fochten tapfer gegen der Mauren wilde Scharen; beide hatten unter dem schändlichsten Undanke , dem Haſſe und Neid ihrer Zeitge❘ nossen schwer zu leiden ; beider Werke (be sonders das klaſſiſche, mit Bildern und Citaten aus der Mythologie überreich gespickte Epos des Portugiesen) werden, - gestehen wir es uns so ganz im stillen , heute allzuwenig gelesen, - Fidalgo aber nannte sich der eine, Hidalgo mit Stolz der andere. * * *
So ein landwirtschaftliches Etablissement, Zentrum einer Kaffeeplantage, oder wie Sie es nennen wollen , hat nun mehr oder weniger folgendes Aussehen : ein großer , zweihundert oder mehr Schritte langer, gänzlich baumloser Hof, der zum Trocknen der Kaffeebohnen dient, und den Eindruck einer riesigen Tenne macht,
wird auf zwei Seiten von den gleichmäßig durchgehenden, zusammenhängenden Negerwohnungen umſchloſſen, vor denen auf größeren Plantagen manchmal ein schmaler, von einem Vordache bedeckter Gang einherläuft. Die einzelnen Abteilungen oder Zimmer, deren jedes eine Familie birgt, haben außer der Thüre keine weiteren Lichtöffnungen, weder nach dem Hofe zu, noch in der die allgemeine Umfassungsmauer bildenden Rückwand, es müßten denn die Löcher sein, welche von diebischen Negern zeitweilig in leştere gebrochen werden, um den dem Herrn gestohlenen Kaffee nächtlicherweile unbemerkt davon tragen und im nächsten Schnapsladen gegen Cachaça umjeßen zu können. Fensterscheiben und Gardinen sind also, selbst in diesen, nach erfolgter Entdeckung besonders hart bestraften und sogleich unterdrückten Versuchen zu Erweiterung des häuslichen Komforts gänzlich überflüssig und würden mit der unglaublich primitiven , anderwärtigen Ausrüstung des Gemaches wohl auch in allzugrellem Widerspruche stehen. Das ganze Mobiliar besteht nämlich nur aus wenigen Binsenmatten und halbzerfetten, ärmlichen Decken, die des Nachts als Lager dienen, und über Tag zusammengerollt in einer Ecke, oder auf der schlechten, aus Bambuslatten oder Prügelholz roh konstruierten Pritsche liegen, diesich Oncle Tom, oder Paë Sé (Vater Joseph, José), wie wir seinen Leidensgenossen im Süden etwa nennen könnten , in ſonntäglichen Musestunden mit dem einfachen Waldmesser gezimmert . Ein paar rußige halbzerbrochene Kochtöpfe, die in der Mitte des selbstverständlich ungedielten Gemaches um ein verglimmendes Feuerchen stehen, nebst einigen Kalebassen und großen Bambusrohren, die ober- und unterhalb der je= weiligen Knoten und Zwischenwände abgeschnitten und mit einer seitlichen Oeffnung versehen als Wasserbehälten dienen , sind eine „Apology" für jede weitere fulinarische Einrichtung, werden aber selbst in dieser Skizzenhaftigkeit noch von dem betreffenden Herrn mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet. Könnte da nicht auch einmal eine „herrschaftliche " Mandiocwurzel gekocht werden, untermengt mit jenen, welche von den kleinen jeder Familie zugewiesenen , und von dieſen des Sonntags kultivierten Bodenfleckchen stammen , oder ein dito Hühnchen brodeln neben der Beutelratte, dem Leguan oder dem Peri-
Eine Baffeeplantage in Brasilien.
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quito, den Afrikas dunkler Sohn in seiner stillen | jungen die Zügel zu. „Mein Haus steht zu Ihrer Verfügung“, sagt mir mein Gegenüber Weise erlegt oder gefangen ? Auf der andern Seite aber ist es ja wieder ein schätzbarer mit jener verbindlichen Urbanität, die den roZuſchuß zu den täglich aus der großen allgemanischen Völkern in allen Schichten der Ge= meinen Küche gelieferten Rationen an schwarzen sellschaft angeboren scheint, und wenn ich auch das bildliche der Redensart wohl zu würdigen. Bohnen und Angu, d. h. Maismehlbrei oder Polenta der Italiener, und das Fett, das durch verstand, so wußte ich doch, daß ich mich als Träger von Neuigkeiten, als Ingenieur der diese aus eigenen Mitteln beigebrachte oder teilweise gestohlene Nahrung etwa angelegt wird, Regierung, als Vorläufer längst erſehnter matebekomme ich ja doch wieder in Form von Arbeit, rieller Verbesserungen und schließlich als Kuriodenkt der Herr und schweigt. Es ist, wie Sie sum aus fernen Landen in Wahrheit als gerne sehen, meine Gnädige, das hochwichtige Prinzip gesehenen Gast betrachten durfte. Mein Wirt, ein Mann von circa 35 Jahvon der Erhaltung und Umsetzung der Kraft, ren, zierlicher, beinahe schmächtiger Gestalt, mit dessen universelle, das Weltall umfassende Gültigkeit von unsern Gelehrten neuerdings wiederfeingeschnittenem Profil, weißer Hautfarbe und holt konstatiert wurde, zur großen Satisfaktion | blauſchwarzem, leicht gelocktem Haupthaar, in und Beruhigung derjenigen, die in aller Naivideſſen Tracht mich nur die weichen, halbhohen tät dasselbe früher schon, allerdings nur prakrehledernen Stiefel mit den schweren ſilbernen tisch verwertet haben wollten, wie z . B. unsere Sporen (er mußte soeben von einem Ausritte Techniker, die Turbinen und Wasserräder nach der Roça, d . h . der Pflanzung zurückgebauen, und mit dem Kohlenstoffe untergegan= | kehrt ſein) daran erinnerten, daß ich mich im gener Wälder, uraltem Sonnenscheine, DampfInnern und nicht in Rio de Janeiro befand, maschinen treiben, von deren Gesamtleistung führte mich die steile Holztreppe hinan und hieß an Arbeit, Getöse und Qualm, besonders von mich in der großen Sala angelangt, nochmals freundlich willkommen . letterem , auch nicht ein Jota verloren geht, und wie dieser brasilianische Pflanzer, derAuf sein scharfes Händeklatschen erschien Fachblätter und Abhandlungen nie gelesen! ein Negerjunge und gleich darauf der landesAber zurück zu unserer Fazenda: also zu übliche, dampfende Trank nebst Zigarretten in beiden Seiten des Hofes die eintönig rot- Maisstrohumhüllung und einemkleinen silbernen. gelben, niedern Erdwände der Negerwohnungen Becken mit glühender Kohle. oder Sensalas, und im Hintergrunde das hohe Und der Gast muß zugreifen , auch wenn Herrenhaus mit dem Zubehör des wohlveres die sechste Tasse wäre, die er an diesem schlossenen Kaffeemagazines zur Seite. Tage schon zu sich genommen und nur bei der Zigarrette aus starkem schwarzem Tabak wäre Aber Sie dürfen sich auch da nichts irgend allenfalls die Entschuldigung : nao fumo Senhor wie architektonisch Bedeutendes , Imposantes, gestattet. Einige Erkundigungen über die BeSchloßähnliches, oder auch nur malerisch Interschaffenheit des zurückgelegten, meist herzlich eſſantes vorstellen : es ist ein häßlicher, weißgetünchter Kasten im sogen. Kasernenstil mit schlechten Weges , leiten die Unterhaltung ein, 4 bis 8 oder sogar 10 großen Fenstern in der in deren Verlauf Behörden und Regierung, die nichts , gar nichts thue, um der mit den Front entweder Erdgeschoß oder auch ein Stockgrößten Schwierigkeiten kämpfenden Landwirtwerk hoch, und von einer nach europäischen Begriffen höchst mangelhaften Ausführung : Holz- schaft auf die Beine zu helfen, gewöhnlich scharf mitgenommen werden. pfosten, Fachwerk und Lehmfüllung. während „Ja, ja die Gevatterschaften, “ ruft mein Gedas Dach mit den im ganzen Lande gebräuchgenüber aus, „sind es, die unser Land ruinieren ! lichen schweren Hohlziegeln gedeckt ist. Sie haben es heute wohl gesehen, in welchem Meine treue Zigana" trägt mich bis vor die kleine Freitreppe, auf deren oberster Stufe Zustande der Weg nach dem nächsten Hafenorte sich befindet, der Weg, auf dem ich meine der Hausherr mich erwartet ; erst auf eine 30000 Arrobas Kaffee versenden muß! Die freundlich einladende Handbewegung von seiner Seite und ein lebhaftes " Steigen Sie ab, mein Brücken zerfallen , tiefe Löcher, in denen die Herr!" springe ich, so will es die Landessitte, Maultiere stecken bleiben ; nirgends eine Spur von Reparatur und doch erhält der Commenaus dem Sattel, und werfe dem nächsten Neger-
F. Beller-Lenzinger.
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dador Cypriano, mein Nachbar, jährlich 120 Contos (240000 Mark) für dessen Unterhaltung ; aber (mit in die Höhe gezogenen Brauen) es ist ein Mann von Einfluß bei den Wahlen und der Herr Minister und auch der Präsident der Provinz bedürfen seiner! Wissen Sie, Senhor Doutor, wer der beste Ingenieur und Straßenkonservator in unserm Lande ist?" - Ich wußte es, wollte ihn aber des Vergnügens nicht berauben, den alten Scherz aufs neue aufzutischen. Nun, " sagte er, „das
ist die Sonne ; wenn die in der trocknen Zeit vier Wochen lang tüchtig geschienen haben wird, so dürften auch die tiefsten Schlammlöcher ausgetrocknet sein, die Sie heute, dank Ihrem starken Tiere , ungefährdet passiert haben ! Die Vollendung der Fahrstraße , die Sie da abstecken, werde ich sicherlich nicht mehr erleben ; o nein! wissen Sie , es wäre ja auch schade; wenn wir Halbwilde unsern Kaffee anders transportierten , als unsere Vorfahren es gethan ; Nur keine Ueberstürzung, sagen unsere Staats-
BWiegand
Kaffeeplantage.
männer ! Und darin sind sie alle gleich, die Liberalen, wie die Konservativen ! Aber nun kommen Sie mit , wenn Sie nicht zu müde sind , ich möchte Ihnen gerne mein neues En genho zeigen." Das Engenho, die Stampfmühle, ist der Stolz des Fazendeiro ; mag sie noch so primitiv sein, sie ist sein Werk, das er manchmal nur mit Hilfe von ein paar Negerzimmerleuten unter seiner eigensten Aufsicht und mit nicht wenig Kopfzerbrechen von seiner Seite entstehen sah. Ein einfaches , oberschlächtiges Wasserrad
treibt eine dicke Welle, deren Daumen schwere, eisenbeschuhte Stampfen heben, die beim Herabfallen die scharfgetrockneten Kaffeebohnen in den unterliegenden konischen Trögen von der äußern Umhüllung befreien. Alles ist aus dem besten und härtesten
Holze konstruiert und wenn es auch seinen Zweck feineswegs vollkommen erfüllt (die Bohne bekommt dadurch leicht eine unscheinbar graue Färbung, die dann bei uns wieder künstlich „verbessert" werden muß), so ist es doch das AeuBerste, was er herstellen kann und hatte sein kindlicher Stolz manchmal etwas Rührendes für mich.
Eine Kaffeeplantage in Brasilien.
Als wir wieder hinaustraten aus dem einfachen Bau mit seinem dicken Staube und dem unleidlichen Geklapper und Gestampfe, vergoldeten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne den großen Hof, auf welchem eine zahlreiche Negerschar die zum Trocknen ausgebreiteten Bohnen in große Haufen zu ſammenfegte, die dann mit ungegerbten Ochsen häuten sorgfältig bedeckt wurden. ,,Por causa das duvidas ," sagte mein freundlicher Wirt und zeigte mit besorgtem
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Blick nach dem teilweise bewölkten Himmel, der mit nächtlichem Regen drohte. ,,Aber nun , mein Herr , wenn's beliebt, zum Nachtessen !" Der große Tisch in derselben Sala, wo ich den Kaffee genommen , war mit einem groben , aber schneeweißen Baumwollentuche bedeckt, — in großen Fayenceschüsseln dampften die zwei Hauptgerichte : schwarze Bohnen mit gesalzenem Speck und Reis mit Huhn. Als besondere Beilage und als Zeichen , daß der Gartenbau nicht ganz vernach lässigt war, paradierte ein Teller mit feingeschnittenem, in heißem Fett kaum halb gargekochten Kohl, der für verwöhntere Gaumen kaum genießbar sein dürfte. Aber die schwarzen Bohnen mit der obligaten Farinha de Mandioca oder de Milho, sowie der Reis sind ausge-
und zeichnet würden jeder europäischen Tafel Ehre machen.
Kaffee Stampfmühle. Wein gibt es im Inneren des Landes nur ausnahmsweise und an festlicher Tafel ; der Brasilianer ist in dieser Hinsicht überaus mäßig und das goldene Naß von den Ufern des Douro und Tajo durch die hohen Zölle und den schwierigen Transport über Stock und Stein doch zu teuer. Dafür wird ein Gläschen des meist sehr guten Zuckerbranntweines, der Cachaça, selten verschmäht. — Eine für den Neuling auffallende und wohl aus dem weinreichen Portugal herrührende Sitte ist die , daß sich auf der Tafel kein Wasser befindet ; - will man welches haben, so muß man sich an den aufwartenden Negerjungen wenden, der dem Gaste dann in dem einzigen, gemeinschaftlich benüßten Trink
glase welches präsentiert; der echte Brasilianer trinkt aber erst nach der Mahlzeit davon, die er damit gewissermaßen formell beschließt. Aber noch etwas anderes berührt den Europäer weniger angenehm : es ist die Abwesenheit der Damen des Hauses. Man kann wochenlang als werter Gast aufs beste und freundlichste aufgenommen sein und bekommt die Frau und die Töchter seines Wirtes nicht zu sehen ! Nur dann, wenn man selbst in Begleitung einer Dame erscheint, wird dieses altportugiesische an maurische Traditionen erinnernde Herkommen umgangen und hat man die Ehre , der übrigens auch dann noch etwas scheu und wortfarg auftretenden Wirtin vorgestellt zu werden.
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F. Keller-Leuzinger.
säumenden Büsche : es ist ein großartiges und majestätisches Bild ! Nur von den Hütten der Neger her ertönt noch der dumpfe Klang der Sabumba und afrikanisch wilde Laute , womit sie ihren Tanz begleiten, - aber bald ersterben auch diese und nächtliche Ruhe lagert über dem Ganzen. ,,Sie werden müde sein, Senhor Engenheiro, lassen Sie uns schlafen gehen !" Mit diesen Worten führt der Fazendeiro den Gast in sein Zimmer; der Negerjunge bringt eine Kerze und boas noites ! Das Mobiliar ist von spartanischer Einfachheit und das breite, roh gezimmerte Bett von dito Härte, aber weder dies noch ein paar schwirrende Fledermäuse vermögen jenen gefunden, tiefen Schlaf zu verscheuchen, nach dem der gesetzte, überreizte Kulturmensch der Städte, tros des weichen Pfühls so oft vergeblich seufzt, der dem physisch Thätigen, körperlich Angestrengden jedoch ganz von selbst zufällt und seine Glieder zu neuen Mühen stärkt. In aller Frühe kommt der Negerjunge mit schwarzem Kaffee, und wenige Minuten später stehen wir, gestiefelt und gespornt, an der Hausthüre, woselbst unser treuer Page aus Gruppe wildverschlungener Lianen. Angolas maldigen Thälern das sauber gepußte, lebhaft um sich schauende Maultier Ich rede hier von jenen wenig besuchten abgelegenen Gegenden des eigentlichen Innern des am silberbeschlagenen Kopfzeuge hält. Landes; in der Nähe der Küste und besonders in "Hat sie gut gefressen ?" ist unsere erste den Städten haben sich die alten Sitten schon Frage. vielfach geändert und jeder Gast hat da sein , Sim, Senhor , gestern Abend und heute Wasserglas und wohl auch eine gesprächige, Morgen jedesmal den ganzen Bornal (Futtermanchmal recht niedliche Nachbarin zur Seite. sack) voll Mais ; - oh ! es ist gut hier, der Herr ist kein Knicker und die Weide, auf der ,,Nun noch einen Cigarro, Senhor Doutor, " apostrophiert mich mein Wirt , als wir nach ich sie die Nacht über laffen durfte, ganz fett aufgehobener Tafel auf der kleinen hölzernen mit Gras so hoch! Sehen Sie doch , wie Freitreppe vor dem Hause sißen, um nach des sie sich voll gefressen hat !" und dabei schlägt Tages Last und Hize noch ein wenig frische er lachend mit flacher Hand gegen den prallen Wanst des Tieres und zum Schlusse noch Luft zu schöpfen. Hell bricht das nächtliche Gestirn durch mit geballter Faust auf den feisten Rücken, treibende Wolkenmassen und übergießt den Hof dessen isabellfarben glattes Fell mir sagte, und die umgebenden Gebäude, die nächstliegendaß er Striegel und Bürste nicht geschont. Doch da kommt der Herr , mein guter den Berge und Hügel mit ihren Kaffeesträuchern, Palmenwipfeln und Bananengruppen Wirt , der seinen kleinen Morgengang durch mit silbernem Schein ; in der Ferne blizen die verschiedenen Gebäulichkeiten, das Engenho die Wasser des Stromes durch die sie um- nicht zu vergessen, gemacht hatte.
Eine Kaffeeplantage in Brasilien. " Wie, Sie wollen schon reisen, Senhor ?" rief er ; — ,,wohl, dann begleite ich Sie bis auf die Höhe jenes fernen Kaffeeberges dort, woselbst meine Neger heute noch mit der Ernte beschäftigt sind. - Heda ! Mein Pferd !" In leichter , heller Jacke , Pantoffeln an den Füßen , den Chilehut keck auf die Seite gerückt, schwang er sich in den Sattel, — ein Neger riß auf seinen Wink noch in Eile einen glühenden Brand unter einem in der Nähe brodelnden großen Kessel hervor. — Die unvermeidlichen Zigarros wurden angezündet und die Hacken in den Weichen der Tiere ging es zuerst durch eine Furt des nahen Baches ( O forte " da Fazenda , wie er ihn nannte, denn er trieb ja sein Engenho) und dann den steilen Weg jenseits hinan, an endlosen Reihen von Kaffeesträuchern vorbei, zwischen denen da und dort eine kleine Lichtung zum Trocken- und Stapelplate hergerichtet war. Auf einem solchen Plaze hart bei der Kuppe des Berges war es nun, daß sich ein geschäftiges Leben entfaltete : Mehr denn hun dert Neger und Negerinnen sammelten da unter der Aufsicht eines alten Graubartes die reifen, wie rote Kirschen aussehenden Beeren, um sie entweder auf dem freien Plaße im Scheine einer heißer und heißer werdenden Tropen sonne auszubreiten, oder sie in die bereitstehenden, zweirädigen Ochsenkarren zu schütten, die sie unter dem Knarren und Pfeifen der hölzernen, niemals geschmierten Achsen nach dem großen Trockenplage im Thale bringen sollten. Eine dicke, ernst und würdig dreinschauende Negerin wartete der zwei großen Kessel mit Bohnen und Polenta (Angú), während der schwarze Nachwuchs sich still und zufrieden, wie
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cephal, schmuzig und fett, in derselben Weise, mit Steinchen und Beeren am Boden vergnügte, wie hoffnungsvolle, zukunftsichere junge Europäer dies zu thun pflegen. Mein getreuer Joaquim war, während wir die Szene betrachteten und von seiten meines neuen Freundes verschiedene Anordnungen in kurzem, scharfem Tone getroffen worden waren, mit dem Saumtiere, meinem Gepäck und Instrumenten elastischen Schrittes nachgekommen ; verbindlichst dankend reichte ich meinem liebenswürdigen Wirte vom Sattel aus die Hand , und weiter ging es auf unbekannten Pfaden, Notizbuch und Bussole in der Hand, um vielleicht nach Jahren erst an der Spize einer Arbeiterkolonne wiederzukehren, unter deren wuchtigen Hieben Kaffeesträucher, Palmen, Bananen und hundert andere botanische Merkwürdigkeiten mittleidslos zu Boden gestreckt werden sollten, um Plaz zu schaffen für die große Neuigkeit des Tages : eine wirkliche, echte Fahrstraße, die auch von anderen, allerdings ringeren" Ingenieuren als die Sonne es ist, unterhalten werden sollte und auf der nun mein Freund, dem schimpfenden und beim jüngsten Wechsel des Ministeriums zur Seite geschobenen Kommendador Cypriano zum Troße, seinen Kaffee ohne Gefahr des Steckenbleibens und zum zehnten Teile der Kosten nach dem Hafenplage bringen kann. Sehen Sie , meine Gnädige, so geht es zu, da, wo er wächst, der erfrischende Trank, den wir heute nur schwer entbehren könnten, und wenn Sie bei dessen Genuß dann und wann des getreuen Berichterstatters gedenken wollten, so sollte dies herzlich freuen Ihren ergebensten
Negerkinder immer sind , wollhaarig, dolicho-
Kell
Franz von Holhendorff.
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Marco
Minghetti . Von
Franz von Holtendorff.
Is ist zweifellos, daß die große Mehrzahl der Es Gebildeten, zumal in Deutschland, seit dem Jahre 1848 über das Verhältnis von Staat und Kirche zuviel gehört zu haben glaubt. Weitaus lebhafter als auf dem Festlande, bethätigt sich die Teilnahme an geistlichen Dingen in England. Aber auch in England gehört es zu den Anzeichen schlechten Umgangssitten, wenn in ein Tischgespräch kirchenpolitische Erör terungen eingeflochten werden. Wirklich oder vermeintlich Gebildete halten es für selbstver ständlich, daß man binnen fünf Minuten zu einem Abschluß seiner Meinung über Probleme gelangen könne, die, so denkt man, höchstens für mittelalterliche Konzilien würdig wären, Gegenstand des Streites zu sein. Unter solchen Umständen erscheint es um ſo begreiflicher, daß gegenwärtig in Deutſchland, nachdem ein völlig unfruchtbarer Kirchenstreit im märkischen Sande verlief, das Interesse an staatskirchlichen Angelegenheiten einen noch tieferen Stand der Ebbe erreicht haben mag, als zuvor. Diese Wahrnehmung beeinträchtigt aber in keiner Weise die Berechtigung der Forderung, daß jeder Denkende gerade jetzt darnach trachten sollte, über den jüngst abgelaufenen Abschnitt unserer Zeitgeschichte Klarheit zu gewinnen, Antwort zu erhalten auf eine Reihe von Fragen, die im gegenwärtigen Augenblick mit Notwendigkeit zu stellen sind : Aus welchen Beweggründen und in welchen Erwartungen wurde ein Kampf gegen die Kurie unternommen, der nach zehn Jahre dahin führte , daß sich ein Feldherr, der bisher als unüberwindlich galt, gleichsam verzweifelnd am Kampfe in sein cigenes Schwert stürzte ? Welche Ursachen ließen den großen Steuermann , der so viele Gegner überlistete, an dem Felsen scheitern? Was bedeutete der so viel berufene Kulturkampf? War derselbe so zu verstehen, daß es sich, wie viele meinten, dabei um einen Gegen sag zwischen moderner Staatskultur und mittelalterlicher Unkultur der Kirche handelte? Oder muß man unter „Kulturkampf “ den Streit
zweier alter Kulturprätendenten verstehen? Welches Endurteil hat die von den Schwankungen der Tagespolitik unabhängige Staatswissenschaft über den letzten deutschen Kulturkampf zu fällen ? Wer sich über diese für das Verständnis der neuesten Geschichte und der nächsten Zukunft gleich bedeutsamen Fragen ein Urteil bilden will , sollte ein Buch nicht ungelesen lassen, das einen der hervorragendsten Staatsmänner Italiens zum Verfasser und durch eine formvollendete Uebersetzung bei uns in Deutschland das Bürgerrecht erworben hat. Marco Minghettis Buch : „Staat und Kirche 1), bewährt den schriftstellerischen Ruf, den der erfahrene Staatsmann schon vor langer Zeit auf dem Gebiete der ſtaatswiſſenſchaft: lichen Litteratur erobert hat. M. Minghetti besigt volle Befähigung zum wissenschaftlichen Richteramt über die streitenden Parteien. Er kennt nicht bloß den italienischen Klerus und die geheimen Triebfedern der vatikanischen Kirchenfürsten aus eigenster Anschauung ; sein Beobachtungsfeld erstreckt sich, zeitlich genommen, über die gesamte Kulturgeschichte, räumlich genommen von dem Gestade der neuen Welt bis an die Grenzen Rußlands . Keine unter den wichtigeren Arbeiten der Rechtswiſſenſchaft iſt ſeinem prüfenden Blicke entgangen. Noch mehr : Er ist im seltensten Maße unbefangen von jeder kirchlichen Ueberlieferung des Katholizismus und Seine Streitweise gegen Protestantismus. Andersmeinende darf als mustergültig bezeich net werden. Was will Minghetti beweisen ? Die Richtigkeit und Wahrheit dessen, was der Begründer der italienischen Staatseinheit in kurzer Formel ausgedrückt hat : „ Freie Kirche im freien Staat!" Und folglich auch die Unrichtigkeit oder schließliche Erfolglosigkeit desjenigen Systems, das in Preußen geschei= dert ist und als der Grundſaß der präventiven kirchlichen und staatlichen Wohlfahrtsordnung bezeichnet werden mag, von Minghetti selbst jedoch als „ Jurisdiktionalsystem" bezeich= net wird, weil darin die rechtliche Unterordnung der Kirche unter den Staat verwirk-
licht wird. 1) Die nach der zweiten Auflage veranstaltete Uebersehung erſchien 1881 bei F. A. Perthes in Gotha.
Marco Minghetti.
Soweit endgültige Schlußfolgerungen nach dem bisherigen Gange der Geschichte überhaupt zugelassen werden können, scheint es so gut wie gewiß, daß von den älteren Systemen der staatlichen und kirchlichen Rechtsbeziehung für die Zukunft der Europäischen Kulturstaaten jene beiden ausgeschlossen bleiben müssen, welche entweder im Römischen Kirchenstaate bis 1870 als theokratisches System oder in Ruß land als byzantinisches Staatskirchenrecht verkörpert waren. Unser geschichtliches Bemußtsein vermag es nicht mehr zu fassen, daß die staatliche Entwickelung vom Priestertum äußerlich beherrscht sein sollte. Vor dreihun dert Jahren erschien ein von geistlichen Kongregationen beherrschter Kirchenstaat als eine besondere Art der divina comedia , wonach die Unvernunft zur Hölle verurteilt, der Nepotismus zum Paradiese begnadigt war. Römiſcher Kirchenstaat und russische Cäsarenkirche führen zu dem gleichen Endergebnis des Scheinfriedens, der einen ehrlichen Kampf zwischen Staat und Kirche ausschließt. Nichts anderes ist dies als der Tod der sittlichen Kultur, die Ruhe des Kirchhofs . Im Hinblick auf diese beiden alten Systeme des Kirchenrechts darf man diejenigen Nationen als die glücklichsten preisen, die überhaupt befähigt erscheinen , in irgend einer Gestalt ihren Kulturkampf zwischen geist licher und weltlicher Gewalt auszufechten. Der Dualismus zwiſchen Kirche und Staat bedeutet eine unabhängige Grundbedingung in der Entwickelung der christlichen Gesellschaft, einen Markstein der Gesittung , der uns nicht nur von den Nationalstaaten der alten Geschichte, der Griechen, Römer, Aegypter und Hebräer auf immer scheidet, sondern auch von der orien= talischen Staatenwelt und der Einförmigkeit islamischer Staatenbildung trennt. Fraglich ist nur, ob dieser Dualismus die Gestalt eines feindlichen Gegensatzes behalten muß ? Und wie die Thatsache eines jeweilig hervortreten= den Gegensatzes zwischen Kirche und Staat während ihres Bestehens zu behandeln sei ? Das Endziel eines dauernden Kulturfriedens zwischen Staat und Kirche muß leider aus den politischen Berechnungen der Gegenwart ausscheiden. Solange die Kirche bei dem Anspruche verharrt, in ihrer bisherigen Lehrweise und ihren Dogmen, die doch selbst nur ein Produkt der Geschichte sind, abſolut unabänderliche Heiligtümer, und dazu
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auch in ihrer äußeren Kirchenverfaſſung unantaſtbare Institutionen zu behaupten, kann sie sich niemals in Einklang seßen mit denjenigen menschlichen Ordnungen, die, gleich dem Staate, von der Erkenntnis notwendiger Fortbildung und Entwickelung getragen sind. Diese Grundthatsache, die allen Betrachtungen zu Grunde zu legen ist, bezeugt für die Gegenwart und den unserem Blicke zugänglichen Horizont der nächsten Zeiten die Gegenfäßlichkeit in den Bestrebungen des Staates und der Kirche, oder, was dasselbe bedeutet : Die Teilung der Staatsgesellschaft nach vorwiegend politischen oder vorwiegend religiös-kirchlichen Interessen. Im 17. und 18. Jahrhundert, d. h. solange die große Mehrzahl der europäischen Festlandsstaaten absolut regiert wurde, konnten die Fürsten kaum darüber im Zweifel sein, wie sie sich zu dem gegnerischen Kirchenbestrebungen zu verhalten hatten. Soweit Unterdrückung unmöglich oder religiöse Verfolgung unthunlich war, blieb nichts anderes übrig, als überwachende Aufsicht oder vorsichtige Beschränkung der kirchlichen Gesellschaften von Staatswegen. Nach dem Westfälischen Frieden entſtand daher in Deutschland jenes kirchliche System, das Minghetti unter der in Deutschland nicht gangbaren Bezeichnung des Jurisdiktionalsystems versteht. In diesem Sinne ordnete das preußische Landrecht vom Jahre 1794 die kirchlichen Verhältnisse unter vollster Anerkennung der Gewissensfreiheit. Eine gleiche Richtschnur des Verhaltens beobachtete Kaiser Joseph II . von Desterreich. Die große Mehrzahl der katholischen Staaten folgten, mindestens zeitweise, dem französischen Muster, das entweder in den Ueberlieferungen der Gallikanischen Kirche oder in den Vorschriften des Konkordats von 1801 die staatlichen Selbständigkeitsrechte verbürgt und dem Staate auf die äußere kirchliche Ordnung (Besetzung der geistlichen Aemter, Verwaltung des Kirchenvermögens u. s. w.) einen mitbestimmenden Einfluß wahrte. In der Hauptsache führte daher unser System der präventiven ſtaatlich-kirchlichen Wohlfahrtsordnung, sei es, daß es auf ſtaatliche Vorschriften, sei es , daß es auf Vereinbarungen mit der Kurie beruhte, der katholischen Kirche gegenüber folgenden Zustand herbei : 1 ) Selbständigkeit der Kirche innerhalb ihres überlieferten 70
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Franz von Holhendorff.
Glaubensstandes und des Kultus . 2 ) Selb | pflege durch die Geistlichkeit irgend einer von ständigkeit des Staates innerhalb seiner politi ihm geseßlich bevorzugten Kirche; die Kirche bedarf keiner weltlichen Machtmittel zur Verschen Regierungsthätigkeit, insbesondere der Rechtspflege. 3) Zuſammenwirken von Staat folgung ihrer rein religiösen Lebenszwecke. und Kirche in denjenigen Akten der äußeren Eine eigentümliche Gestaltung der VerhältKirchenregierung ( Stellenbeſeßung, Vermögensnisse ergab sich außerhalb Italiens, vornehmlich in verwaltung u. s. w.), bei denen sowohl geist Preußen, wo unter dem Einfluß der 1848 gangbar gewordenen Bestrebungen, die katholische Kirche liche als weltliche Kenntnisse in Betracht kommen. 4) Recht des Staates zur Hinderung durch die Verfaſſung von 1850 in Gemäßheit der Separationsidee völlige Selbständigkeit und ſolcher kirchlicher Akte, die ihm als Uebergriffe Freiheit für sich erlangte, während die evange in sein Rechtsgebiet erscheinen (durch Verweigerung des Placet, Aburteilung von Beschwerden lische Kirche nicht nur in ihrem alten Abgegen Mißbrauch des geistlichen Amtes, Ein- | hängigkeitsverhältnisse von der Staatsbehörde mischung des Staates in den Verkehr der Bi- | verblieb, sondern es auch erleben mußte, daß freisinnige Richtungen, welche die absolute Moſchöfe mit dem römischen Stuhle, Temporaliensperre). narchie zu Schleiermachers Zeit geachtet hatte, auf dem Boden der Theologie und der JugendDiesem System , das bis zur Belgischen Revolution in Europa das vorherrschende geerziehung mit dem konsistorialen oder miniblieben war und noch gegenwärtig in den süd- | steriellen Bann belegt werden konnten. In deutschen Staaten aufrecht erhalten wird, trat Preußen bestanden somit nach 1850 zwei Sydiejenige Auffassung gegenüber, die ursprüng- steme gleichzeitig nebeneinander. Das Freiſyſtem lich auf amerikanischem Boden erwachsen war: für Katholiken, einigermaßen verdunkelt durch zahlreiche von Staatswegen der Kirche erwieſedie Forderung der rechtlichen Trennung der Kirche vom Staate. In den Erinnenen Dienstgefälligkeiten, und das Bevormunrungen der an die amerikanischen Küsten verdungssystem für die evangeliſche Kirche, einigermaßen verdunkelt durch ungerechte Hemmungen schlagenen Dissenters und ihrer Abneigung der freisinnigen Theologie. Mit dem nach der gegen jede Staatskirche wurzelnd, entsprach der Scheidungsprozeß zwischen Kirche und Staat Errichtung des neudeutschen Kaiserreichs ausgebrochenen sog. Kulturkampf veränderten ſich die sowohl der Denkweise solcher, die sich gewöhnt Dinge in der Richtung, daß unter Abänderung hatten, die Kirche als überwundenen Stand der preußischen Verfaſſungsartikel die katho= punkt zu nehmen , als auch der Folgerichtig keit, wenn man von dem Grundſaße der un- lische Kirche den präventiven Einwirkungen der behinderten Vereinsfreiheit ausging und die Staatsgewalt unterworfen, die protestantische kirchlichen Genossenschaften rechtlich für gleich- | Kirche einer synodalen Scheinfreiheit teilhaftig gemacht wurde, womit die preußische Staatsbedeutend ansah mit einer Aktiengesellschaft. regierung versuchte, sich zu den beiden großen In besonders hohem Maße mußte diese Aufgleichberechtigten Konfessionen der Katholiken fassung der kirchlich-staatlichen Rechtsbeziehungen italienischen Staatsmännern einleuchten, als und Protestanten in ein rechtlich gleichgeordnetes Verhältnis zu setzen. Gleichzeitig that es darauf ankam, Rom zur Hauptstadt des man einige Schritte zur Trennung der Königreichs zu erklären und das Auseinanderſeßungsverfahren zwischen Königtum und Papſt- | Kirche von den staatlichen Zwangsgarantieen : der Austritt aus den kirchlichen Korporationen tum durchzuführen. Was die Aufstellung des Nationalitätsprinzips durch Terenzio Ma- ward den einzelnen Staatsbürgern freigegeben, miani und Mancini auf völkerrechtlichem die Zulässigkeit einer Zwangskindertaufe kam Gebiete gegenüber der Fremdherrschaft der in Wegfall , die Zivilehe ward obligatorisch. Ueberhaupt darf man sich nicht vorstellen, Desterreicher und der Bevormundung durch Frankreich politisch bedeutete, dasselbe bedeutete daß irgendwo in der Welt eines der beiden die Separationstheorie auf kirchenrecht- moderner Kirchenrechtssysteme in den scharfen, lichem Gebiete gegenüber dem Papst und der schnurgeraden Linien logischer Berechnung durchgeführt worden wäre. Selbst in Nordamerika, ultramontanen Kirchenlehre. Damit war aus gesprochen : der Staat bedarf zu seiner Selbst- wo man sich dem Grundſaße der unbehinderten erhaltung nicht mehr der moralischen Kranken- | Kirchenfreiheit am meiſten angenähert hat, beſtehen
Marco Minghetti.
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Einrichtungen, die damit nicht in vollen Ein- | vergessen, daß auf dem Boden der Lebensſitten flang zu bringen sind. Nordamerikanische Staaten die Gesellschaft auch unabhängig vom Staate erzwingen eine strenge Sabbatfeier durch Sonnund den Zwangsmitteln der Kirche einen eigentagsgesetze, die nach der Meinung deutscher Ein- | tümlichen Machtvorrat besißt, der den einzelnen wanderer beinahe tyranniſch ſind, und in ge- | Staatsbürger nötigen kann, sich ein gewiſſes wiſſen Staaten wird zur Erlangung staatlicher Herrschaftsverhältnis der Kirche gefallen zu Aemter ein Glaubensbekenntnis verlangt, das laſſen, was sich beiſpielsweise darin zeigt, daß ungefähr dem Standpunkte des Theismus entder Einzelne auch gegen seine persönliche Neispricht. Niemand nahm daran Anstoß, daß gung in England zum Kirchenbesuch oder zur von dem Nachfolger des Präsidenten Garfield Beobachtung der Sonntagsfeier , in katholifür die gesamte Union ein Buß- und Bettag schen Ländern zur öffentlicher Beichte und in verordnet ward. Ebenso ist es bekannt, daß den Städten des Massenunglaubens zur in manchen Staaten die Schulen verpflichtet Beobachtung kirchlicher Form bei Taufen und Trauungen genötigt wird. Die Ziffer der find, ihren Unterricht mit einer täglichen Bibelstunde zu eröffnen. kirchlichen Trauungen im Verhältnis zur einMinghetti formuliert die entscheidende fachen Zivilche bedeutet keineswegs die ProGrundsätze des Separationssystems, wie folgt : portion des Glaubens zum Unglauben, sondern 1) Die Gesetze herrschen über alle Staats- enthält ganz überwiegend den Ausdruck geſellbürger, ohne Unterschied der Religion, die sie schaftlicher Rücksichtnahme. Die gesamte Denkweise unseres Jahrbekennen. Jeder Staatsbürger, welcher Art hunderts bewegt sich nach dem Ziele , der Glaube auch immer sei, dem er anhängt, die freie Kirche im freien Staate zu be ist auch aus dem Grunde allein, daß er Staatsgründen. Wir geben das zu. Aber wie bürger ist, in gleicher Weise mit den übrigen viele Menschen vermögen denn überhaupt mit dem Geseze unterworfen. 2) Die religiösen Vereinigungen der Staats- der reinen Vernunft zu denken ? Und sind die bürger untereinander sind autonom und unab- denkenden Männer , die ein welthistorisches hängig innerhalb der Sphäre, welche der Staat Problem nach allen seinen Seiten, wie Minzum Schuße der Rechte des Einzelnen und der ghetti , zu erfaſſen vermögen, bei uns die in Sicherheit der Gesellschaft bestimmt. Kirche und Staat entscheidenden Personen ? Sind solche Männer, die über die Richtungen In dem letzten Abschnitt seines Buches, worin die Mehrzahl der Leser wahrscheinlich den des menschlichen Geistes in einer bestimmten. Glanzpunkt seiner fesselnden Darstellungsweise Zeitperiode rein und klar , d . h. unbehindert finden wird, weist Minghetti auf das Ueber durch eigennüßige Interessen, selbstsüchtige Abzeugendste nach, daß die Richtung der gesamten sichten, überlieferte Gewohnheiten und eingeDenkweise unseres Jahrhunderts auf das von wurzelte Herzensneigungen zu denken verCavour gesteckte Ziel hinsteuert. Ist die Ver- mögen , auch jedesmal befähigt , die Mittel mischung staatlich kirchlicher Angelegenheiten, anzugeben, durch deren Anwendung das von die Mengung politischer und religiöser Dinge ihnen gesteckte Ziel erreicht werden kann ? So viel ist sicher: Grundsätzliche Trenfür alle diejenigen, die nicht von selbstsüchtigen. Interessen oder von kurzsichtiger Furcht be- nung von Kirche und Staat schließt die Befangen sind, unerträglich geworden und mit dem rührung beider in der Alltäglichkeit der wirkmodernen Freiheitsgefühl ſowohl auf ſtaatlichem, lichen Dinge nicht aus . Die Grenze zwischen wie auch auf geistlichem Gebiete unvereinbar, diesen beiden historischen Mächten läßt sich nicht so bleibt die Entwirrung der heutigen Kirchen mit der Genauigkeit eines astronomisch festgezustände nur durch eine für beide Teile an- stellten Meridians ermitteln. Und dann : Wer nehmbare Trennung zu ermöglichen, ſo daß die soll das Teilungsurteil sprechen ? Der moGesellschaft des kommenden Jahrhunderts gleich- | derne Staat kann nirgends das Urteil des ultrasam in schiedsrichterlicher Weise sich selbst zu montanen Standpunktes annehmen. Ebensoentſchließen hätte, ob sie ihr soziales Gewicht wenig ist der Ultramontanismus gewillt, sich nach der Seite des Staates oder nach der der staatlichen Entscheidung zu fügen. Wer Seite der Kirche in die Wagschale werfen also ist kompetent, das Scheidungsurteil zu will. Denn nur zu häufig pflegt man zu sprechen ? Wenn sich Staat und Kirche bisher
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Franz von Holhendorff.
im wirklichen Leben auf die Dauer miteinander nicht zu verständigen vermochten, so wird es der Staatswissenschaft auf der einen Seite und der Kirchenrechtlehre auf der anderen Seite noch
und der römischen Kurie erscheint seine Darstellungsmethode sogar bewundernswürdig. Was verlangt also Minghetti für den modernen Staat, dessen Grundsätze Pius IX. in seinem Syllabus verdammt hat ? Was gewährt er der Kirche, die ein Teil der radi=
viel weniger gelingen. Auf dem Boden der modernen Geschichte bleiben somit bis zu einer weiteren Umgestaltung der gesellschaftlichen Zu- kalen Politiker als überlebte Einrichtung betrachtet ? stände oder bis zum Eintreten einer neuen, von einzelnen Katholiken, wie namentlich von Für die Kirche bewilligt er : völlige SelbLaurent , gehofften Zukunftsreligion, nur zwei ständigkeit in ihren Glaubensangelegenheiten, Möglichkeiten. Entweder der hinreichend er- das Recht, eigenes Vermögen zu besigen, die starkte Staat seßt der grundsäßlich frei erUnabhängigkeit der Geistlichkeit vom Staatsklärten Kirche die Rechtsschranken , innerhalb budget (zumal schon Cavour den Plan der welcher ſie ſich ungehemmt bewegen darf, oder Bezahlung des Klerus aus Staatsmitteln entbei annähernd gleichen Machtverhältnissen an schieden gemißbilligt hatte), die Erlangung kircheinem endgültigen Siege über den Gegner ver- licher Korporationsrechte für ihre auf verzweifelnd, vereinbaren sich Staat und Kirche mögensrechtlicher Basis ruhenden Genossenwegen eines, gleichsam auf täglicher Kündigung schaften und Stiftungen, die Befugnis, Klöſter beruhenden modus vivendi, gleich jenen un- und Schulen zu gründen. glücklichen Ehegatten, die vor den Augen der Für den Staat verlangt er unter VerzichtWelt eine Anstandsformel ausfindig machen, leistung auf präventive Sicherungsmaßregeln durch welche eine gesetzlich für unlösbar ergegen die Ausschreitungen kirchlicher Organe: ein überall wirksames Aufsichtsrecht, Kenntnisklärte, aber innerlich zerrüttete Ehe äußerlich aufrecht erhalten wird. nahme von den äußeren Vorgängen des kirchMinghetti geht in seinen an italienische lichen Lebens, Anerkennung der rechtlichen Unverbindlichkeit von Gelübden, Inspektion der Verhältnisse anknüpfenden Ausführungen von der nicht in allen Ländern zutreffenden An- | Klöster zur Sicherung der persönlichen Freinahme aus , daß es ganz vornehmlich vom heitsrechte, Aufstellung gesetzlicher NormativStaate abhänge, das von Minghetti mit so leistungen für die Erlangung kirchlicher Korporationsrechte, Aufhebung des Patronatsrechts, großem Geschick befürwortete Separationssystem durchzuführen und die Kirche sich end- | Einschränkung des kirchlichen Besißes zur toten Hand, Spezialgesetzgebung zur Feststellung der gültig, vielleicht nach einem längeren Zustande der Geistlichkeit wegen ihrer Angriffe auf die des Sträubens am Ende des 19. Jahrhunderts auf europäiſchem Boden ebenso in die zu schaf- | Staatsordnung aufzuerlegenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit, Verordnung der allgemeinen fende Lage finden werde, wie sie sich am Ende Schulpflichtigkeit. des 18. Jahrhunderts bereit finden ließ, das Würde die katholische Kirche in Italien Separationssystem in Nordamerika anzunehmen. diese Normen annehmen ? Von Minghetti darf man in keiner Weiſe vorausseßen, daß er Sehen wir nun zu, wie Minghetti sich, von seinem Standpunkte aus, die Grenzregu- | sich durch die Luftſpiegelungen eines gemütlichen Optimismus blenden ließ. Der italienische lierung zwischen freiem Staate und freier Kirche vorstellt. Von vornherein ist dabei an- Katholik ist, psychologisch genommen, vom deutzuerkennen, daß in seinem Buche überall rück- schen Katholiken mindeſtens ebenso verschieden, haltlos eine aufrichtige Achtung vor der Reliwie der Türke vom Ruſſen. Denn in Italien gion bezeugt wird und es nirgends an un- besteht tro annähernder Glaubenseinheit und parteiischem Wohlwollen für die Kirche ge- einer unanfechtbaren Dogmatik in Wirklichkeit bricht. Angesichts einer Frage, die in Deutſch- bereits eine vollständige Trennung von Kirche und Staat in der Denk- und Empfindungsland und Frankreich ohne Leidenschaftlichkeit Nation.. Gerade diesen Erfolg hat und Verbitterung vor einem großen und ge- weise der Nation bildeten Leserkreis außerhalb der gelehrten Welt die weltliche Herrschaft des Papsttums für Itakaum erörtert werden kann, und im Hinblick lien vorbereitet. Der deutsche Katholik, der auf das Sündenregister des italienischen Klerus nicht zu den Freidenkern gehört, kritisiert in
Marco Minghetti.
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übrigens unwirksames Placet irgend eines allen Kleinigkeiten seine Staatsregierung, für deren Fehler und Mängel er unglaublich scharf- | Monarchen hinderlich in den Weg gelegt wird, oder Mißbrauch des geistlichen Amtes vor Gesichtig, empfindlich oder auch phantasievoll erricht verfolgt werden kann. Vor dem Gerichte scheint. Gleichzeitig verehrt er seine Kirche deutscher Zentrumsmänner ist Minghetti um so mehr, als sie auf deutſchem Boden in der Minderheit sich befindet und darin als bedroht | einfach schon deswegen gerichtet , weil er die Strafbestimmungen eines Kanzelvergehens zuerscheinen könnte. Anders der Italiener : Er verehrt in seinem Herzen die Grundidee der lässig findet und sogar das von Katholiken politischen Einheit und Größe, mag er nun und rechtgläubigen Protestanten gleichmäßig verworfene Kulturexamen billigt. Republikaner oder Royalist sein, und erkennt mit kritischem Blicke alle Schwächen seiner Minghetti sagt : „ So scheint mir unter heiligen Kirche. Ich kann diese Verschieden den leßten preußischen Geſeßen, welche allerheit nicht besser veranschaulichen, als durch eine dings nach dem jurisdiktionalen Prinzip geReiseerinnerung. Als ich im Jahre 1875 in schaffen sind, dasjenige doch von allgemeinem Rom war, hatte ich eine längere Unterredung Wert und auch anderwärts annehmbar, welches mit Garibaldi , bei dem ich durch einen be- zur Ausübung eines geistlichen Amtes oblirühmten Staatsmann eingeführt worden war. gatorische Studien vorschreibt. (Preuß. Geſeß Unter den Anwesenden, die dem General ihre vom 11. März 1873. ) Es liegt klar am Tage, patriotische Verehrung zu bezeugen wünschten, daß, nach unserem Plan, der Staat sich nicht befand sich ein Italiener, der sich gleichzeitig in theologische Fragen einmischen darf; aber für die nächstfolgenden Tage um Zulassung es wäre gar kein Widerspruch gegen das von zum päpstlichen Empfang im Vatikan beworben uns behauptete Prinzip, wenn denjenigen, die hatte und es ganz natürlich fand, knieend ein sich dem Berufe der Kirche weihen , gewisse Prozent des Kirchensegens für sich in Empfang allgemeine wissenschaftliche Studien und Prüzu nehmen. Garibaldi als Republikaner und fungen vorgeschrieben wären ; sie sind um so Verteidiger von Rom gegen die französischen An- | mehr gerechtfertigt, je freier die Bildung der griffe von 1849, König Viktor Emanuel, der religiösen Vereinigungen ist und je mehr die dem Papst die weltliche Herrschaft konfiszierte Garantieen , welche die alten Verordnungen und Pius IX., der alle Kirchenräuber mit dem geben, sich vermindern. " Aber auch diejenige Richtung, welche, poBann belegte, alle drei vertrugen sich in der Seele der meisten Italiener vortrefflich mit- litisch genommen, Minghetti bei uns am einander. Jeder hatte seine eigene Rolle. Der nächsten steht, wird sich kaum bereit finden lassen, Enthusiasmus für Garibaldi erlaubte vielen, den allen Schlußfolgerungen zuzustimmen. Unter päpstlichen Segen für das Seelenheil vorteil- allen zwischen Staat und Kirche streitigen Gehaft zu finden. Die Kniebeugung vor dem bieten ist für Deutschland die Schule und das Papst gelegentlich einer kirchlichen Zeremonie Unterrichtswesen das unleugbar wichtigste, wähschließt nicht aus, daß Männer von tadelloser rend der italienische Klerus bisher keine VeranDogmatik dem Könige auf dem Quirinal zu- | laſſung fand, sich um die staatlichen Schulen jubeln. Mit einem solchen Naturell vergleiche besorgt zu zeigen. Noch herrscht der geistlichman die Geiſtesbeſchaffenheit rheinischer Ka- | scholaſtiſche Typus des Unterrichtswesens in pläne, westfälischer Bauern oder oberbayrischer den mittleren und den ohnehin wenig zahlreichen Wallfahrer, bevor man die Frage beantwortet: Elementarſchulen Italiens . Minghetti verob die psychologischen Vorbedingungen für die langt als Schlußfolgerungen seines Syſtems Trennung der Kirche vom Staat überall in dieses: 1) Der Staat hat das Recht, allgemeine Schulpflicht und Schulzwang zu verordgleicher Weise gegeben sind ? Was Minghetti für Italien als durch- nen. Die Lehrfreiheit der Kirche dagegen bedingt , daß auch die Kirche vorbehaltlich führbar erachtet und als Kirchenfreiheit be zeichnet, würde von der großen Mehrzahl deut- staatlicher Aufsicht und des Befähigungsnachscher Katholiken als unerträgliche Staats- weises für die Lehrenden — auf allen Stufen des niederen und höheren Unterrichts eigene tyrannei verschrieen und abgelehnt werden. In Anstalten neben den staatlichen errichten darf. den Augen der Klerikalen macht es nicht den 2) Religionsunterricht wird in staatlichen Anmindeſten Unterſchied, ob Kirchenbeſchlüſſen ein
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Franz von Holhendorff.
ſtalten nicht erteilt ; doch gewährt der Staat nicht begreifen , warum ein Italiener Gariin seinen Anstalten diejenigen Räumlichkeiten, baldi, Pius IX. nnd Viktor Emanuel gleichin denen , unabhängig von jeglichem Zwang, zeitig verehren könnte, so wird anderseits ein der Religionsunterricht durch die verschiedenen | Staatsmann, von Minghettis AuffaſſungsKonfessionen erteilt werden kann. gabe, nicht verstehen, woher es eigentlich komme und möglich sei, daß in Deutschland UltramonGegen dieses System würde trot unleugbarer Konsequenz bei uns sowohl der Klerus, tane, Lutheraner, Geheime Regierungsräte und als der Staat, und sogar der Liberalismus, Liberale einen obligatorischen , konfessionellen gleichzeitig sich auflehnen . Der Liberalismus : Religionsunterricht in den Staatsschulen erweil er im großen und ganzen auf dem Boden zwingen und nur darin eine Meinungsverder Unterrichtsverwaltung seine Gegnerschaft schiedenheit walten lassen , ob die staatliche gegen den Klerikalismus durch kurzſichtiges FestSchulanstalt eine konfessionelle sein muß, oder halten an den zentraliſtiſchen Verwaltungssäßen eine ſimultane ſein darf. der alten Staatsbüreaukratie bethätigt, außerFür Italiener ist die in unseren deutschen dem auch die Kulturmacht der bisherigen Schulgesetzgebungen und Verfassungen ausgeprägte Gedankenreihe geradezu unfaßbar. Und Volksschule häufig überschätzt. Der moderne deutsche Staat würde Minghettis Vorschlag diese Reihe besagt folgendes : Allgemeine Glaubens und Gewissensfreiheit, Gleichberechtizurückweisen , weil er darauf zählt , an der Geistlichkeit eine Reservepolizeimacht zu haben, gung sämtlicher Bekenntnisse, Unzulässigkeit des welche zur Verminderung gemeiner Verbrechen, Laufzwangs zur Vermehrung der Christenheit, zur Pflege „ guter Gesinnungen “ , zur VerbesseFreiheit der Eltern, ihre Kinder durch Unterrung der Wahlreſultate , zur Anpreiſung je- | laſſung der Taufe zu Heiden heranwachſen zu weilig bestehender Welt- und Staatsordnungen lassen aber auch : Zwang der Eltern, die Kinder in einen konfessionellen Religionsunternoch etwas mehr beizutragen vermag, als eine von Staatswegen inspirierte Regierungspresse. richt zu senden , der in den seltensten Fällen Der protestantische und katholische Klerus eine Lehre verkündigt, die auf religiöser Uebereinwürde auf die Zulassung geistlicher Unterrichtsftimmung der beteiligten Organe der Familie, anstalten in Deutschland kein Gewicht legen, der Kirche , des Staates und der Schule weil es ihm tros augenscheinlichen Wachstums beruht , meistenteils vielmehr so beschaffen ist, daß entweder die Kirche, oder die Staatsseiner Anhängerschaft doch zweifelhaft bleiben damit unzu= würde, ob er, zumal nach geschehener Abschafregierung oder die Eltern frieden ſind . fung des Schulgeldes, jemals im ſtande wäre, Daß ein der Kirche so wohlwollender die erforderlichen Geldmittel zu beschaffen. Das Ziel des katholischen Klerus in Deutschland ist | Mann , wie Minghetti , unter Berufung auf ausländische Gesetzgebung den religiöſen zu klar ausgesprochen , als daß der geringste Zwangsunterricht in der Staatsschule verwirft, Zweifel darüber möglich wäre, was er in Gemeinschaft mit den strengkirchlichen Parteien ist eine Thatsache, die der allgemeinsten Aufdes Protestantismus erstrebt : konfessionelle merksamkeit würdig bleibt. Wenn die SiHerrschaft der Geistlichkeit über die multanſchule auch da, wo sie den Wünschen der Bevölkerung entsprach, verdrängt werden sollte vom paritätischen Staate begründete und in streng konfessionellen Schulen jenes und bezahlte Schule , Verbannung aller System die Oberhand gewinnt, das den Staat Unterichtsgegenstände , die das Prinzip durch die Elementarschulen den geistlichen Herrder Kirchenherrschaft beeinträchtigen , schaftszwecken dienstbar machen will, so wird konfessionellen Geschichtsunterricht auf den auch in Deutschland späterhin die Frage unGymnasien, vielleicht auch noch Erteilung eines vermeidlich, die Minghetti bejahend beantkonfessionellen Turn- und Schwimmunterrichts , wortet : ob es nicht dem geſellſchaftlichen Frie-Verufung theologischer Profeſſoren an staatliche den und der Religion selber am dienlichſten Universitäten nach Vorschrift oder Empfehlung der Kirchenbehörden. wäre, wenn der Religionsunterricht dem GeSo entstand in Deutschland ein heilloser wissen der Eltern ebenso anheim gegeben würde, Zustand der Verwirrung auf dem Gebiete wie die kirchliche Trauung und die Taufe, die der Schulgesetzgebung . Wenn deutsche Pastoren doch als Sakramente der Kirche angesehen
H. Nestel. Abendstimmung. werden, was bisher von den Bibelstunden eines Volksschullehrers noch nicht gegolten hat. Im übrigen ist es für uns zweifellos, daß die Annahme des von Minghetti entwickelten Systems den Kulturkampf in Deutschland für den Staat keineswegs unvermeidlich gemacht haben würde. Aber ein für solche Zwecke grundsäglich, ohne politische Nebenrücksichten, mit Ausdauer, Folgerichtigkeit und
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schonender Milde geführter Kampf würde möglicherweise einen anderen Ausgang genommen haben , als manche mißlungenen Versuche anderer Art. Als Minghetti sein Buch schrieb, konnte er die Erfahrungen der neuesten Zeiten in Frankreich und Deutschland noch nicht verwerten. Jeder Verdacht, daß ihm an einer Anspielung auf das Ende des deutschen Kulturkampfes ge-
CHEVER Abendstimmung.
Von H. Nestel.
Legen gewesen sein könnte, ist von ihm ausgeschlossen .
Fragmente
Um so bemerkenswerter ist , was der italienische Staatsmann über die Mittel der Kriegführung gegen die Kirche sagt. Er urteilt, wie folgt: „Die schlechteste Politik von allen wäre die, daß man einer geräuschvollen Popularität auliebe, die religiöse Frage grundlos in Anregung brächte und dem Klerus Gelegenheit gäbe, über Verfolgung zu schreien und sich als Opfer zu gebärden, ohne daß man darum zu der Lösung der religiösen Probleme unserer Zeit einen Schritt vorwärts machte. "
über Wein- und Tafel- Philosophie. Von Karl Braun - Wiesbaden.
ielleicht wundert sich mancher Leser, wenn ich Dihm sage, daß ich diese meine Abhandlung mit Plutarch anfangen muß. Denn unter einem "Plutarch" versteht heutzutage die Mehrzahl derjenigen Menschen, die überhaupt jemals dies Wort gehört haben,
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Barl Braun-Wiesbaden.
funde des Ordens der Vegetarianer betrachtet und denselben auf das Angelegentlichste emDer wirkliche Plutarch , der kein Bücher= | pfohlen werden) - – „ Sind die Land- oder titel , sondern ein lebendiger Mann war , ein Wassertiere gescheiter. “ Diese Titel allein werden genügen , dem Mann von Fleisch und Blut , von Verstand geneigten Leser, und nicht minder der verehrten und Gelehrsamkeit, lebte im ersten und zweiten Leserin, einen Begriff von der Wichtigkeit und Jahrhundert unserer Zeitrechnung (unter dem der Mannigfaltigkeit dieser Schriften zu geben, Kaiſer Trajanus, der ihm den Charakter der von welchen man wirklich eine deutsche Auskonsularischen Würde verlieh) und schrieb ein wahl veranstalten sollte. Griechisch, das dem der Besten nicht nachstand. Sein in der modernen Welt bekanntestes Das Hauptstück darunter aber sind „die Werk sind allerdings die vergleichenden LebensTischgespräche" oder „Tischreden " . Sie beschreibungen, oder Parallel-Biographieen. Sie sind nun beinahe achtzehnhundert Jahre alt und geben uns einen ganz anderen Einblick in die sind in das Lateinische übersetzt (von Xylander) und in alle lebenden Sprachen Europas . Von ihnen Lebensgewohnheit und die Lebensweisheit der ist unser moderner Begriff eines " Plutarch" her- Alten , als alle jene modernen Romane , in geleitet , obgleich unsere neuen und neuesten welcher die Menschen zwar in antiker Gewan" Plutarche" die Kunst der parallelen Grup dung einherstolzieren , aber jeden Augenblick pierung verschmähen und gewöhnliche Einzel- in Gefahr sind , über den Zipfel ihrer Toga biographieen liefern, die an den alten Plutarch zu stolpern , denn sie sind weder Römer, wenig erinnern. noch Griechen, noch Aegypter, sondern deutsche Meines Erachtens aber thut man dem alten Kleinstädter des neunzehnten Jahrhunderts . Böotier - Plutarch war in dem durch die Recht gemütliche, gefühlvolle und gebildete Menbekannte Schlacht so berühmten böotischen Neste schen; aber warum sind sie nur so dumm, ſich eine antike Maske zu wählen , die ihnen so Chäronea geboren schreiendes Unrecht, wenn man über seinen vergleichenden Lebensläufen seine unsagbar komisch und schlecht zu Gesicht steht? übrigen Schriften vergessen hat, die man zuDie Auslaſſungen Plutarchs über Speiſen und Getränke sind fast mit Brillat-Savarin sammengefaßt unter dem Titel „ moralische Abhandlungen" , obgleich darin wenig „Moral" zu vergleichen. im modernen Sinne des Wortes , dagegen desto Wir finden da z . B. eine gelungene Abmehr antike Lebensweisheit enthalten ist , die handlung über Morcheln, Schwämme und Trüfauch den Menschen des neunzehnten Jahrhun- feln. Von den leztern glaubten damals viele, derts nichts schadet. sie entstünden dadurch , daß der Blitz in die Um dem geneigten Leser, der kein Griechisch Erde einschlägt, denn die Trüffelsucher fänden dies edle Gewächs am leichtesten, wenn sie in kann, einen Begriff von dem hohen Interesse dieser Abhandlungen, welches wir in unserem den von dem Gewitter herrührenden Erdspalten heutigen Jargon " Plutarchs vermischte nachsuchten. Der aufgeklärte Plutarch aber ist anderer Meinung. Schriften" nennen würden, zu geben, will ich hier nur einige Titel anführen: „Wie ein „Wie kann der Donner Trüffeln erzeugen ?" junger Mann die Dichter lesen soll" — fragt er , „ das käme doch auf das nämliche Von der Kunst zu hören" Ueber heraus, wie wenn man sagen wolle, daß der die Pflichten der Ehegatten" - „ Von Regen die Schnecken erzeuge und nicht bloß sie aus der Erde hervorlocke und sichtbar mache den großen Eigenschaften der Frauen" für die Menschen ?" -Warum heutzutage das Orakel seine Bekanntlich herrschen heutzutage ähnliche Bescheide nicht mehr in Versen erteilt" Vorurteile. Man denke nur an den sog. „Blut„Wie kann man sich selbst loben, ohne Anstoß zu erregen?" „ Warum regen“ und den „ Froschregen “ und dgl. - „Warum man sich hüten soll, Geld auf Zinsen Noch weit interessanter sind die Mitzu borgen " „Ueber den Mann im teilungen Plutarchs über den Wein und die Meinungen und Thaten der Alten bezüglich Mond“ „Ueber das Fleisch- Essen“ desselben. (diese Abhandlung , wenn sie, worüber man Bekanntlich wird im heutigen Griechenland streitet, echt ist , kann als die Stiftungs -Urirgend eine Sammlung von Lebensbeschreibungen berühmter Männer.
Fragmente über Wein- und Tafel-Philosophie.
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auszupichten. Und in vielen Gegenden, z . B. der weiße Wein mit Pinienharz versezt . Die auf Euböa in Griechenland und in Italien an Griechen sagen uns , in dieser Zubereitung halte den Gestaden des Po mischt man Pinienharz er sich besser, auch sei er gesunder für den menschlichen Magen. Darüber ließ sich wohl sogar unter den Wein. Aus der Gegend von streiten. Aber ich muß gestehen, daß, obwohl | Vienna in Gallien (dies ist das heutige Vienne in der Dauphiné) wird sehr viel resinierter mir dieser gepichte oder geharzte Wein ( „ vino resinato " ) anfangs im höchsten Grade zu- Wein ausgeführt, der in Rom sehr gesucht wider war, ich doch bei meinen wiederholten ist. Ein solcher Zusatz gibt dem Wein nicht Reisen in Griechenland mich nach und nach an nur ein schönes Boukett, sondern veredelt ihn. auch, indem er bei dem jungen Weine die rohen denselben gewöhnte und ihn am Ende sogar und wässerigen Teile absorbiert. " mit Genuß trank , besonders wenn es recht Plutarch erzählt uns auch , was Coluheiß war. Deutsche, die in Griechenland anmella (de re rustica) beſtätigt, daß die Alten gesiedelt sind, trinken ihn mit den Eingeborenen um die Wette. schon etwa die nämlichen Manſchereien und Pantschereien mit dem Wein getrieben, wie sie Ein deutscher Philologe und Altertümler dagegen, mit dem ich auf dem klassischen Boden. heutzutage.im Gang sind, ohne daß die Imperatoren oder „ Volk und Senat von Rom“ eine Strecke weit reiste, geriet über diesen ge(S. P. D. R.) es für nötig hielten, ein „ GepichtenWein in eine förmliche „ethisch-pathetische sez wegen Fälschung der Genußmittel " zu er= Entrüstung" . Diese niederträchtige Behandlung lassen. Aloe , Zimt , Safran , ja sogar Seedes Weines, meinte er, sei schon hinreichend, um zu beweisen , daß die modernen Griechen wasser wurden bei der Weinfabrikation von damals verwendet. Sprit und Traubenzucker nicht die Söhne des Perikles , Themistokles und Epaminondas, nicht die Nachkommen der antiken Hellenen seien. Ich erlaubte mir damals , in all jener Bescheidenheit, welche einem Unzünftigen nach deutschen Begriffen ziemt, an den antiken Thyrsus-Stab zu erinnern . Auf dessen Spize prangt doch der Pinienapfel , und was soll denn das anders bedeuten, als daß man den Wein schon zur Zeit des Bakchos und der Bacchanten refinierte ? Allein der gelehrte Herr verharrte in seinen Vorurteilen. Da ich aber nachgehends, nachHause zurückgekehrt, wieder einmal die Tischreden meines alten Plutarch zur Hand nahm, so fand ich in denselben eine wundervolle Betrachtung über den Zusammenhang zwischen den Pinien und dem Wein. „Dem Bakchos ," schreibt Plutarch, hat man die Pinien (und den Pinienapfel) geweiht, weil die Pinie dem Wein einen lieblichen Geschmack gibt. Wo Pinien wachsen, wächst auch guter Wein. Dies schreibt Theophraft der Hiße des Bodens zu . Die Pinie,' sagt er, wächst nur in Thon- oder in Thonschieferboden. Der Thon aber ist von Natur hizig ; daher hilft er die Traube recht reif kochen. Die Pinie selbst aber hilft den Wein zu erhalten und ihm eine lange Dauer zu geben. Ueberall pflegt man die Gefäße, worin der Wein aufbewahrt wird, mit Pinienharz
waren unbekannt. ¹) Dagegen empfiehlt Plutarch die Anwendung von Borretsch, Borrago (auf griechiſch „ Ochsenzunge", ẞovyλwosos genannt) ; „ denn,“ ſagt er, " dem Wein Borretsch zusetzen und den Boden. des Speisesaals mit einem Aufguß von Eisenhut und Frauenmantel (letzteren thut man am Rhein auch in den Maiwein, oder man that es wenigstens in meiner Jugend) besprengen, das macht die Gäste fröhlich und guter Laune." Bekanntlich erzählt uns Tacitus , unsere germanischen Vorfahren hätten ihre parlamentarischen Beratungen inter pocula gepflogen. Wir zimperlichen Menschen von heute halten das für abscheulich, und die Reichsgesetzgebung scheint sogar von der Ansicht auszugehen, daß die sonst so ehrbare deutsche Nation eine solche Neigung zur Trunkfälligkeit habe, daß es drakonischer Maßregeln dagegen bedürfe. Auch hier bitte ich unsere tugendreichen Gesetzgeber, bevor sie ihre unsterbliche Parlamentsreden halten, die Tischreden des Plutarch nachzuschlagen. „Wir waren einst," schreibt Plutarch, „bei unserem Freunde Nikostratos in Athen zu Gaste und kamen auf die Tagesordnung der 1) Das Nähere hierüber findet sich in meinem Buche : " Reiseeindrücke aus dem Südosten.“ Ungarn, Istrien, Dalmatien, Montenegro, Griechen land, Türkei. Stuttgart, 1878. Bd . III , S. 20-27. 71
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Karl Braun-Wiesbaden. Fragmente über Wein- und Tafel-Philoſophie.
allgemeine Kneipe“, bevorstehenden Bürgerversammlung zu sprechen. | Mittwoch abend seine Ei, meine Freunde, meinte einer der Gäste, auf welcher sich Angehörige aller Parteien in Frieden und Freundschaft zusammenfanden. ‚wir verfahren ja nach der Geschäftsordnung der Perser , die ja auch nur beim Seitdem aber die Konservativen und Klerikalen obenauf sind, hat das aufgehört. Gegenwärtig Weinbecher beratschlagen. ,Warum sagst du nach persischer Sitte?" bestehen nur noch Partei- Essen, welche man in entgegnete Glaukos , warum sagst du denn dem höchst barbariſchen Parlamentsjargon "Fraktions -Diners " nennt, und außerdem jene nicht lieber nach griechischer Sitte ? War einseitigen " parlamentarischen Diners ", es denn nicht ein Grieche, welcher sagt : einseitig deshalb, weil nur die Minister die ,Kluger Rat fommt oft aus vollgetrunkenem Bauche ?' Abgeordneten einladen , nicht aber auch „Und ?? wie war es vor Troja ? (Iliade umgekehrt. VII, 324.) Fand denn da nicht die WeisIm allgemeinen kann man sagen , daß heit ebenfalls erst dann Eingang, nachdem man heutzutage , im Gegensaße zu der oben geordentlich Wein getrunken hatte ? Erst nachdem schilderten Sitte der Perser, Griechen und der Germanen , der Schwerpunkt des Essens und die Helden gehörig gespeist und getrunken, Trinkens nicht mehr in den Volksversamm" Redete Nestor sie an mit folgenden Worten der Weisheit. “ lungen liegt und in den Parlamenten, sondern „Und eben dieser kluge und beredte Greis rät in den Zusammenkünften der Diplomaten, welche dem König Agamemnon, die Führer zu Tiſche | sich in der Regel durch einen außerordentlich guten zu laden und nur nach einem solchen Mahl Magen auszeichnen und recht alt dabei werden. meint er : Was der " Wiener Kongreß " an Essen und Trinken geleistet hat, ist wahrhaft erstaun9 Sind wir dann alle versammelt , so müssen sie jenem gehorchen , lich. Kaiser Franz klagte, die Leute, d. h. welcher das Trefflichste rät ' die Diplomaten, äßen ihn arm. Den Glanz (Iliade IX , 74-75). punkt des anno 1863 in Frankfurt a. M. " So ließen denn auch diejenigen Staaten abgehaltenen Fürstentages bildete „ das große Griechenlands , welche eine gute Verfaſſung | Diner im Römer " , auf welchem auch der traditionelle Krönungs - Ochse paradierte (natürhatten und mit Sorgfalt über dem alten Herfommen wachten , wie Kreta und Sparta, lich auf der französischen Speisekarte französisch ihren Magistrat zur Beratung wichtiger polials Le boeuf historique " ). Nur bekam diesmal das Volk nichts davon, wie dies bei tischer Dinge nur beim Wein zusammentreten. “ Theophrast urteilt so abfällig von den beden alten Kaiser-Krönungen in Frankfurt der Fall war. ratschlagenden Versammlungen , in welchen es Wie sehr damals die Debatten hinter dem keinen Wein gibt, daß er sie verächtlich als „Barbierstuben" bezeichnet. Effen zurückblieben , beweist folgende Aeußerung eines Ministers : Noch heutigestags , gerade so , wie vor „Könnte das deutsche Volk einmal hier achtzehnhundert Jahren, sind in Griechenland und in der Türkei die Barbierstuben der zuhören, so glaube ich, würde Deutschland morgen Republik sein," Sammelplatz der Schwäßer und Müßigwelche Worte der hochkonservative Oskar gänger, vor allem aber der politischen Kanne-
gießer. Darin wenigstens hat sich Athen nicht | Meding verbürgt hat ( „ Memorien zur Zeitgeschichte," Band I , S. 308) . geändert. Neben dem Essen der Diplomaten ver= In dem übrigen modernen Europa werden heutzutage die delibrierenden Verſamm- | dienen noch die Fest- oder Zweck - Eſſen der Nicht-Diplomaten, d. i. des Volks, einer kurzen lungen ohne Libationen abgehalten . In dem Plenum der Parlamente wird Erwähnung . Sie sind zuweilen wichtig. Im Februar nicht ex pleno getrunken. Dagegen ist, wenn 1848 z . B. hat der Sturz der Dynastie Orein sogen. " Frühstücks- Redner" oder „ Hausleans von einem unterdrückten Pariser ZweckLeerer" spricht , oft die Trinkstube (sprich : und Demonstrations - Essen seinen Ausgang ge„Restaurant" ) besuchter, als der Situngssaal. nommen, Früher hatte der deutsche Reichstag an jedem
A. Wahrmund. Prinzipien.
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In Deutschland haben die Feſt-Eſſen immer erst das tapfere Trinken , welches, im Gegenzur Zeit der Reaktion am meisten in Blüte saß zu dem Essen, kein Geräusch verursacht gestanden. Von unpolitischem Standpunkte und weder im Reden noch im Hören behindert. Meines Erachtens sollten wir die englische betrachtet, sind sie geſchmacklose Einrichtungen. Sitte und das ist die alte germanische Bei solchen Massen Abfütterungen sind Speise Sitte -- bei uns wieder einführen und jene und Trank nicht gut , und die Reden häufig Sitte nicht besser : Es ist der alte Bundestag , der Abweichung, durch welche wir vormals unsere auch diese Geschmacklosigkeit auf dem Gewiſſen dumme Polizei überliſten mußten , abſchaffen. hat. Denn da derselbe alle politischen Vereine | Freilich müßte dann auch bei uns das Servieren und Versammlungen , in welchen öffentliche ein etwas raſcheres Tempo annehmen. Man Angelegenheiten hätten öffentlich besprochen wer- serviert nirgends so langsam, wie in Deutschland. Vor allem aber darf das , was bei Tisch den können , verbot und unterdrückte , da die Leute aber doch irgendwie ihrem Herzen und gesprochen wird, nicht langweilig sein, für die ihrer Zunge Luft machen wollten , so ergriff Tafelrunde. Das steht auch schon in Pluman jede, passende und unpassende Gelegentarchs „Tischreden" und zwar in dem heit, wie Denkmals- Errichtungen, Gedenktage, Kapitel , worin er die Frage beantwortet : „ Darf man beim Trunk über philoJubiläen , Verfaſſungsfeſte, hundertjährige Geburtstage, Ovationen für noch lebende berühmte sophische Materien sprechen ? "Ja," sagt Plutarch, „man darf, aber nur Männer, um Feste zu feiern und Reden zu halten , durch welche man die Gesinnungsgedann, wenn der weitaus größere Teil der Genoſſen verſtändigte , sammelte , ermutigte und sellschaft aus Gelehrten besteht, wie bei Agathons disziplinierte. Am schlimmsten wüteten diese Gaſtmahl , oder bei dem des Sokrates . Die Nicht- Gelehrten mag man dann als Mitlauter Zweck Essen in der Zeit von 1832 bis 1847. betrachten, die mitten unter Selbstlautern stehen Nach dem März 1848 waren sie plötzlich verund durch diese sowohl zu einem annehmbaren schwunden. In der Zeit von 1858 bis 1865 als zu Begriffen gelangen. Ist das aber Laut, kehrten sie, freilich etwas gemäßigter und vernicht der Fall, so soll sich selbst der Philosoph nünftiger, wieder. Denn ebenso der Gesellschaft anbequemen. Aus der Aera der Fest- Essen haben wir wie die Bacchantinnen des Euripides ihre Anin Deutschland eine schlechte Gewohnheit beibehalten, deren Entstehung begreiflich und ge- | greifer, ohne Schwert und Spieß , bloß mit ihren Thyrsus- Stäben überwinden , ebenso rechtfertigt war ; denn damals galt es der können auch die Scherze echter Philosophen Polizei ein Schnippchen zu schlagen , indem man sagte: „Wir essen , - nichts als Essen“ Essen".. | auf jeden Empfänglichen Eindruck machen und eine heilsamere Wirkung hervorbringen. “ Deshalb hielt man zu jener Zeit die Reden Mein höchster Ehrgeiz würde befriedigt und Trinksprüche während der Mahlzeit, zwisein, wenn der geneigte Leser und die verehrte schen den Gängen, ja sogar während derselben. Leserin meine Plauderei für Scherz - Ranken In England, dem Vaterlande der Toaste, echter Lebensphilosophie gelten laſſen hält man das anders. Dort würde es jederwollen, die sich um den Thyrsus - Stab mann für lächerlich halten , zwischen Suppe und Fisch, zwischen Fisch und Braten , oder winden; und obgleich ich noch viel auf dem zwischen Braten und Süßigkeit (was man Herzen habe, so will ich doch mit diesem frommen in Berlin " Speise " und im Süden „ Dolce“ Wunsche schließen. nennt), Reden zu halten ; -— während die Löffel oder die Messer und Gabeln vom vorigen Gange noch klappern und die Kellner mit Prinzipi e n. dem nächsten Gange schon in Reihe und Glied Prinzipien sind wie Demantſpißen, stehen und nicht mit Unrecht ungeduldig Die auch den härtsten Felsen rizen ; werden. In England weiß man , daß das Mit ihnen schreibt auf Urgeſtein Reden dem Essen und das Essen dem Reden Ein Heros seinen Namen ein. A. Wahrmund. im Wege steht. Man fängt dort erst an zu toasten, nachdem abgegessen, abgetragen und das Tischtuch hinweg ist. Dann beginnt auch
10 • 1 • A . .X
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Erfreuliche Lektüre.
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Wars.
Von Herm. I. Klein.
Daß es neben unserer Erde andere Welten gibt, haben die Denker aller Zeiten geahnt, aber der wirkliche Nachweis konnte erst ge= liefert werden, nachdem durch Erfindung des Fernrohrs der natürliche Gesichtskreis des
Menschen in unerwarteter Weise sich erweiterte. Noch sind nicht drei Jahrhunderte verflossen, seit die " Wunder des Himmels " sich zuerst menschlichen Blicken zu entschleiern begannen und schon ist eine so unermeßliche Fülle von
Herm. I. Klein. Der Planet Mars.
Beobachtungen gewonnen worden , daß daneben alles, was die Jahrtausende vorher auf astronomischem Gebiete geleistet, fast in nichts verschwindet. Es ist nicht übertrieben, von den „Wundern des Himmels “ zu sprechen , denn Wunderbares beherbergt der Ozean des Raumes und die Vorstellungen, welche die moderne Wissenschaft vom Bau und den Zuständen. des Sternenhimmels gewonnen hat , lassen die Bilder der Phantasie weit hinter sich zurück. Sogleich ist es aber notwendig , daran zu erinnern , daß diese Merkwürdigkeiten des Himmels nicht sofort bei bloßem Schauen durch ein Fernrohr erblickt werden können . Ist das Fernrohr auch noch so mächtig, so wird doch der Eindruck weit hinter den Erwartungen zurückbleiben , mit denen der Laie an die Besichtigung der Himmelskörper her antritt. Ein lehrreiches Beispiel bietet in dieser Beziehung der Planet Mars , der uns Wir werden finden, hier beschäftigen soll. daß man von diesem Weltkörper sehr vieles weiß, daß man die Verhältnisse seiner Oberfläche bis zu einem Grade erforscht hat, den die frühere Zeit unerreichbar gehalten hätte; aber der erste Blick, den der Laie durch ein großes Teleskop auf diesen Planeten wirft, ist für ihn stets sehr enttäuschend. Im vergangenen Winter bot sich eine schöne Gelegenheit, den Planeten Mars in Augenschein zu nehmen und ich wurde von einigen Freunden aufgefordert , ihnen den Planeten im Fernrohr zu zeigen. Bei sehr ruhiger Luft wurde er an 500 facher Vergrößerung eingestellt , aber das Urteil der beiden Himmelsbesichtiger lautete einstimmig dahin, der Planet erscheine als ein so kleines Scheibchen , daß man unmöglich etwas darauf sehen könne. Groß wurde nun die Verwunderung, als ich erkärte, daß bei Anfertigung der besten Karten des Mars dieser Planet nicht leicht bei so starker Vergrößerung beobachtet worden wäre, und es nur der ausnahmsweise ruhigen Luft zu danken sei , daß am gegenwärtigen Abend solche Vergrößerung anwendbar erscheine. Als ich ſchließlich auf ein kleines Fernrohr hinwies und erklärte, daß mittels eines Instrumentes von dieser Größe die erste genaue Karte des Mars von Mädler entworfen worden sei, erreichte das Erstaunen seinen Höhepunkt. Ich Ich habe dies hier angeführt, um klar zu machen, daß die Thätigkeit des Aſtronomen am Fern
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rohre durchaus nicht darin besteht, etwas von selbst sich Darbietendes ohne Anstrengung aufzufassen, sondern daß sie eine mühevolle und sehr anstrengende Detailarbeit ist, die nicht an und für sich, sondern öfters erst später, in ihren verarbeiteten Resultaten, den Geist mit erhabenen Vorstellungen zu erfüllen vermag. Wenden wir uns jetzt dem Planeten selbst zu, der durch sein rotes Licht sich am Himmel besonders dann, wenn er um Mitternacht im Süden glänzt, sehr bemerklich macht . Er ist in der Reihe der Abstände von der Sonne der vierte Planet, während unsere Erde die Seine Bahn umdritte Stelle einnimmt. schließt also die Erdbahn und er kann sich uns bis auf 8 Millionen Meilen nähern, aber auch bis 54 Millionen Meilen von der Erde Seine mittlere Entfernung von entfernen. der Sonne beträgt 30 Millionen Meilen , er kann sich dieser bis zu 273 Millionen Meilen nähern und bis zu 333 Millionen Meilen von der Sonne entfernen. Die Bahn des Mars weicht also ziemlich merklich von der Kreisform ab und diese Abweichung war es, welche Kepler auf die Entdeckung leitete, daß die Planeten sich in Ellipſen um die Sonne bewegen. Der wahre Durchmesser des Mars beträgt 6700 Kilometer , während der äquatoreale Durchmesser unserer Erde 12760 Kilometer mißt. Sonach beträgt also der MarsDurchmesser nur 13/25 des Erddurchmeſſers seine Oberfläche nur 25 und sein Volumen noch nicht 4/25 von demjenigen der Erde. In seiner größten Annäherung an die Erde erscheint uns Mars im Durchmesser 25,6 Bogensekunden groß , während der mittlere Durchmesser des Mondes 1865 Bogenſekunden umSonach wird also dann Mars bei spannt. 80facher Vergrößerung im Fernrohre so groß erscheinen als die Mondscheibe dem bloßen Auge. Nun befindet sich dieser Planet zwar nur ausnahmsweise in seiner größten Erdnähe, allein wenn er um Mitternacht im Süden glänzt, zur Zeit der sogenannten Oppositionen, beträgt sein scheinbarer Winkeldurchmesser doch meist etwa 15 Bogenſekunden , so daß er bei Anwendung von 250facher Vergrößerung als ansehnliche Scheibe erscheint. Deshalb ist uns auch die Oberfläche dieses Planeten nächst derjenigen des Mondes am besten bekannt . Schon die ziemlich unvollkommenen, jedenfalls sehr unbequemen Fernrohre, welche die Aſtro-
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Herm. 3. Klein.
nomen vor 200 Jahren allein nur benutzen konnten, zeigten auf dem Mars dunkle und helle Flecke, aus deren Bewegung Dominikus Cassini schon vor zwei Jahrhunderten , das Resultat ableitete, daß Mars sich in der Zeit von 24 Stunden 40 Minuten einmal um seine Axe dreht. Diese Bestimmung hat sich durch alle späteren Beobachtungen als sehr nahe richtig erwiesen und gegenwärtig iſt dieſe Umdrehungsdauer bis auf ungefähr den hundertsten Teil von einer Sekunde genau ermittelt. Sie be
Dort treten die Länder in einer Zone rings um den Aequator auf und sind durch zahlreiche Meerstraßen, oder lange schmale Meere, ähnlich unserm Roten Meere oder dem Kalifornischen Meerbusen, in kleine Partieen zerschnitten.
Auf der südlichen Hemisphäre des Mars be finden sich andere Ländergebiete, welche in mit den vorhergehenden nahezu parallele Zonen verteilt sind. Zur bessern Unterscheidung und fürzern Bezeichnung der einzelnen Oberflächenteile hat Prof. Schiaparelli denselben diejenigen Namen gegeben, welche in der Karte eingetragen trägt 24 Stunden 37 Minuten 22603/1000 Sekunden. Die Gesamtdauer von Tag und sind. Wie man sieht, haben diese Namen meiſt Nacht ist also auf dem Mars etwas größer eine geographische, historische oder mythologische als auf unserer Erde und jener Planet wälzt | Bedeutung. Im Jahre 1877 entdeckte Schiaparelli einige Regionen der Marsoberfläche, die sich erheblich langsamer um seine Are als in ihrer Farbe etwa die Mitte halten zwischen. unser Weltkörper. dem Dunkel der Meere und dem hellen RotWilhelm Herschel war der erste , der es Es sind dies vorzugsgelb der Festländer. unternahm , auf Grund der Beobachtungen weise Inseln und Halbinseln im Erythräiſchen mit seinen großen Teleskopen eine Karte der Meere (Mare Erythräum s. d . Karte), nämlich Marsoberfläche zu entwerfen . Eine weit vollder nördliche Teil von Ausonia, Noachis, Pyrrha, kommenere Arbeit ist Mädler zu verdanken, Deucalion, Proteus und einige andere. Dieſe der in den Jahren 1830 bis 1839 auf der Regionen sind auch noch dadurch ausgezeichnet, Privatsternwarte von Beer in Berlin mit daß sich über ihnen häufig Nebel bilden, welche einem kleinen Fernrohre eine ausgezeichnete uns also den Anblick derselben entziehen. So Weltkarte des Mars entwarf. Diese Karte ist geradezu bewundernswürdig, wenn man die fand Schiaparelli die Landschaft Noachides monatelang von Nebeln verhüllt und erst im geringen Hilfsmittel bedenkt, welche damals Dezember 1879 konnte er ihre wahre Gestalt Mädler zu Gebote standen. Später hat Kaiser ermitteln ; die Landschaft Proteus wurde abin Leiden, besonders aber in jüngster Zeit wechselnd durch Nebel verdeckt. Dieser EinSchiaparelli in Mailand , mit Hilfe eines fluß jener Regionen ist, wie Schiaparelli bemerkt, ausgezeichneten Fernrohres , eine sehr interdemjenigen gleich, den auf unserer Erde Sandessante Marskarte geliefert. Die Untersuchunbänke und Untiefen auf die Luftschichten ausgen von Schiaparelli bezeichnen den Höhepunkt üben; der genannte Astronom schließt daher, unserer Kenntnis des Mars . Die dunklen Flecke auf dem Mars erschei- | daß jene Regionen auf dem Mars Gegenden sind, die nicht sehr hoch vom Wasser bedeckt nen im Fernrohre graugrün oder nach Secchi bisweilen bläulich. Es kann keinem Zweifel sind , eine Art überschwemmtes Flach- oder Sumpfland. Schiaparelli entwickelt auch optische unterliegen, daß sie Waſſeransammlungen, AnaGründe , weshalb die Wasserhöhe über jenen loga unserer Meere sind. Die hellen Teile seebedeckten Gegenden nicht sehr groß ſein könne welche rötlich erscheinen , bezeichnen das Festund bemerkt , daß selbst manche der Meeresland. Nebenstehend ( S. 563) iſt Profeſſor straßen zwischen den einzelnen Mars -Inseln Schiaparellis Karte der Marsoberfläche , in unmöglich sehr tief sein könnten, da troß anMerkators Projektion getreu wiedergegeben. sehnlicher Breite ihre Färbung sehr schwach iſt. Wenn man dieſelbe mit einer, in derselben ProAls die dunkelsten stellten sich Nilus, Nepenthes jektion entworfenen Erdkarte vergleicht, so erkennt und Triton dar , die fast wie mit chinesischer man sogleich, wie sehr verschieden von unserer Tusche gezeichnet erschienen. Von andern KaErde auf dem Mars Festland und Meer vernälen konnten viele bis zu 100 Kilometer teilt ist. Während bei uns die Kontinente Breite deutlich erkannt werden , doch existieren große kompakte Maſſen bilden, die zum über gewiß auch noch schwächere, die sich der Beobwiegenden Teile der nördlichen Erdhälfte anIm Verlauf der Unterachtung entziehen. gehören, ist es auf dem Mars wesentlich anders .
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suchungen kam es einigemal vor, daß die Atmosphäre über Mailand, wo Schiapa relli beobachtet , fast vollkommen ruhig und durchsichtig wurde. Dann schien es," sagt Schiaparelli, ,,als würde ein plöglich von Schleier dem Planeten hinweggezogen und die Oberfläche des Mars zeigte sich wie eine verwickelte bunte Stickerei. Aber stets waren die Momente dieser größten Klarheit so furz, daß es unmög lich erschien, das Gesehene wiederzugeben. und nur der unbestimmte Eindruck eines dichten Netzes von seinen Linien und kleinen Flecken in der Erinnerung blieb." Von Interesse ist das häufige Aufgroßer treten Wolkenmassen in der Mars-
atmosphäre. Stets sind wolfenartige Produkte in jener Lufthülle vor-
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Herm. I. Blein.
handen und verdecken mehr oder weniger einzelne Teile der Oberfläche des Mars . Dies geht soweit, daß Laſſell 1862 mit ſeinem Riesen teleskope die Umdrehungsdauer des Mars nicht genau bestimmen konnte, weil die Gegenwart von Nebeln und Wolken das Wiedererkennen
unsere Erde zweifellos an ihren Polen ähnliche helle Flecken zeigen wie uns der Mars . Schiaparelli hat außerdem gefunden , daß die Bewölkung in der Marsatmospähre zur Winterszeit am größten ist. Während aber auf unſerer Erde die Kalmenzone einen ewigen bestimmter Konturen verhinderte. Der erste, Wolkengürtel um die tropische Zone schlingt, welcher auf dem Mars helle, wolkenähnliche fehlt ein solcher auf dem Mars. Im allFlecke sah, die ihre Geſtalt veränderten, war gemeinen ist die Eis- und Schneemenge auf der ältere Herschel. Schröter sah einen wolkendem Mars vielleicht nur etwas geringer als artigen Streifen, der seinen Ort auf der Marsauf unserer Erde, auch die mittlern Temperaturoberfläche langsam veränderte und schloß daraus, verhältnisse dürften dort nicht sehr von denjenigen unseres Planeten abweichen, jedenfalls dasselbe sei ein wolkenartiges Produkt, das vom Winde mit einer durchschnittlichen Geschwindig aber werden sich die extremen Jahreszeiten keit von 20 Fuß in der Sekunde fortgetrieben Sommer und Winter, dort stärker ausprägen. werde. Später sah Dawes über einigen Ozeanen. Man erkennt dies an den größeren Schwankundes Mars sehr helles Gewölk, das man vielgen , welche die Ausdehnung des Polareises leicht für Schneewolken halten kann. Daß auf zeigt, denn während dieſes auf der Südhalbdem Mars Schnee und Eis vorhanden sind, scheint | kugel im Winter bis zu 55 Grad südlicher unbestreitbar, weil in der Umgebung der beiden Breite vordringt , zog es sich im Sommer ( 1877) soweit zusammen, daß der Pol vollPole helle, fast kreisrunde ganz weiße Flede kommen frei wurde , was wahrscheinlich auf sichtbar sind, die ihre Größe den Jahreszeiten unserer Erde niemals der Fall ist. entsprechend verändern. Dies hat zuerstHerschel In der Zeit vom Herbst 1879 bis März festgestellt. Beer und Mädler bestätigten diese 1880 konnte der Planet Mars von Schiaparelli Wahrnehmung. Nach ihren Beobachtungen reichte 1830 in denjenigen Monaten, welche dem Somwiederum genauer untersucht werden , ja die Beobachtungen gelangen teilweise noch besser mer der Südhalbkugel des Mars entsprachen, als 1877. Im ganzen wurde die Lage von der dortige Südpolfleck bis zum 85. Grade 114 Punkten auf der Marsoberfläche nach Länge südlicher Breite , war also sehr klein, dagegen hat er sich im Jahre 1837, zur Zeit des Winund Breite beſtimmt und hierdurch die feste ters , für die Südhemisphäre des Mars bis Grundlage für die Konturen gewonnen, welche zum 55. Grade südlicher Breite ausgedehnt. die Karte zeigt. Wie auf unserer Erde die Diese Wahrnehmungen sind durch Lassell und Längen von einem beliebigen Punkte (der Insel besonders durch Schiaparelli durchaus bestätigt Ferro, oder von Greenwich) aus gezählt werden, worden. Man kann es gegenwärtig als That- so auch auf dem Mars. Schiaparelli wählte als ersten Meridian einen schon von Mädler sache betrachten, daß jeder der weißen Polardafür genommenen Punkt. Er bildet die Spige flecke auf dem Mars sich in dem Maße zueiner Landzunge, welche aus einem Meerbusen . sammenzieht, als der Sommer der entsprechenvorspringt , der den Namen Sinus Sabäus den Halbkugel herannaht. Diese Abnahme dauert erhalten hat. Durch seine jüngsten Unterfort bis ungefähr 2 Monate nach dem höchsten Sonnenstande, d . h. bis zu der Zeit, welche suchungen ist Schiaparelli zu der Ueberzeugung gelangt, daß in der Zwischenzeit seiner erſten der größten Erwärmung der betreffenden MarsBeobachtungen in einzelnen Teilen der Marshemisphäre entspricht , dann beginnt der Fleck sich anfangs langsamer , später aber immer oberfläche merkliche Veränderungen stattgefunrascher auszudehnen bis zu Ende des Winters. den haben. So sind viele Abzweigungen und Natürlich hat der Nordpol Sommer, wenn der Kanäle an Orten sichtbar geworden, die auch Südpol Winter hat und umgekehrt und so ist 1877 sehr gut gesehen wurden , so z. B. in auch stets der eine Polarfleck am kleinsten, wenn den Umgebungen des Lacus Solis . Die Region Araxes , deren Gestalt 1877 aufs genaueste der andere am größten ist. Es ist also kaum festgestellt werden konnte, zeigte sich 1879 bis noch daran zu zweifeln, daß die Polarflecke des Mars wirkliche Eis- und Schneezonen sind . 1880 in ganz anderen Formen ; ferner ist die Ausdehnung der Syrtis magna an einem kleineren, und vom Planeten Venus aus gesehen , wird
Der Planet Mars.
wie ein absichtlich gesezter Markstein gelegenen und bestgesehenen Punkte, dem Lacus Moeris, sicher zu konstatieren. Man könnte freilich zunächst glauben , daß diese Veränderungen nur scheinbar seien und durch Nebel oder wech= selnde Bewölkung hinreichende Erklärung fänden , aber diese Möglichkeit hat sich Prof. Schiaparelli selbst auch vorgelegt und da er sie abweist, so muß man seine Ansicht wohl gelten lassen. Er glaubt , daß jene Veränderungen wirklich stattgefunden haben und entweder durch Schmelzung, Eindringen von Waſſer oder Vegetationserscheinungen und ähnliche Neubildungen auf der Marsoberfläche zu erklären seien. „ Wir haben hier," schließt Schiaparelli, „ eine ganze Welt zum Studium vor uns, deren Aussehen richtig zu deuten und deren phyſiſche Verhältnisse mit Sicherheit kennen zu lernen , nur von einer fortgeseßten , fleißigen Beobachtung und der eingehenden Diskussion aller Einzelheiten zu erhoffen ist. " Die jüngsten Beobachtungen von Prof. Schiaparelli haben endlich die überraschende Thatsache enthüllt, daß sich zahlreiche Kanäle auf dem Mars zu gewiſſen Zeiten verdoppeln, indem neben dem einen allwöchentlich noch ein anderer auftritt, der genau dieselbe Richtung einhält. Eine Erklärung für diese seltsame Erscheinung kann zur Zeit nicht gegeben werden. Die Spektralanalyse hat nachgewiesen, daß die Atmosphäre des Mars reich an Waſſerdampf sein muß und ihre Zuſammenſeßung im übrigen nicht wesentlich von derjenigen unserer irdischen Lufthülle abweicht. Mars ist überhaupt derjenige Weltkörper, welcher unter allen uns bekannten der Erde am ähnlichsten ist. Nur darin schien er von unserem Weltkörper abzuweichen, daß kein Mond ihn umkreist. Das Jahr 1878 hat jedoch das Irrige dieser Meinung dargethan , denn mit Hilfe des Riesenfernrohrs zu Washington entdeckte Hall zwei außerordentlich kleine Monde, die so rasch den Mars umkreisen , daß der Entdecker anfangs zweifelhaft war, ob nicht noch mehr Monde vorhanden seien. Die Entfernung des äußern Mondes , vom Zentrum des Mars beträgt 23 300 Kilometer, diejenige des innern sogar nur 9300, ja dieser lettere Mond kann einem Punkte der Marsoberfläche sogar bis auf 6000 Kilometer nahe kommen : das ist eine Entfernung , geringer als diejenige von England
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i nach der Südspiße Afrikas. Der äußere Marsmond läuft um ſeinen Planeten in 30¼ Stun| den, in der Richtung von West nach Ost. Da der Mars selbst sich in 24 Stunden 37 Minuten in gleicher Richtung um seine Axe wälzt, so kommt der genannte Mond für einen Beobachter auf den Mars scheinbar nicht so rasch vorwärts als seiner wahren Geschwindigkeit entspricht, er braucht vielmehr 132 Stunden , um wieder dieselbe Himmelsrichtung zu | erlangen. Für den innern Mond tritt sogar vom Mars gesehen die Eigentümlichkeit ein , daß seine Bewegung der des äußern entgegengesetzt ist. Er bewegt sich nämlich in jeder Stunde wirklich um einen Bogen von 47 Grad | ostwärts , die Umdrehung des Mars beträgt aber nur stündlich 14 Grad. Daher kann die wahre Bewegung des innersten Marsmondes nicht durch die Umdrehung des Mars ſelbſt verdeckt werden. Die etwaigen Bewohner dieses Planeten sehen also ihren nächsten Mond, abweichend von allen übrigen Himmelsbögen im Westen auf- und im Öften untergehen und zwar scheint sein gesamter Umlauf 11 Stunden zu dauern. Wer aber dennoch glauben sollte , daß die beiden Monde die Nächte des Mars wesentlich erleuchten würden , befindet sich in großem Irrtum. Für einen Ort der Marsoberfläche ist der äußere Mond 72 Stunden unter dem Horizont und nur 60 Stunden lang darüber, der innere nahe 42 Stunden über und 62 Stunden unter dem Horizont, dazu kommt, daß die Monde niemals Volllicht zeigen, sondern dann stets im Schatten des Mars | stehen d . h . verfinstert sind. Die Trabanten zeigen sich also dem Mars nur in ihren Phaſen. In den Polargegenden des Mars sind sie überhaupt nicht sichtbar. Die wirklichen Durchmesser der beiden Monde sind ungemein gering und werden sicherlich niemals von der Erde aus direkt gemessen werden können. Aus der Schäßung ihrer Helligkeit hat man jedoch auf indirektem Wege geschlossen , daß der äußere Mars vielleicht 2 , der innere 112 deutsche Meilen im Durchmesser hat. So geringe Durchmesser hat aller Wahrscheinlichkeit nach selbst feiner der bis jetzt bekannten Asteroiden und man kann bei den Marsmonden wirklich von „Taschenplaneten“ sprechen. 72
Franz von Löher.
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Leben . Land und Leben. Meerabgewonnen Land Von
Franz von Löher. (Schluß.)
Jie atmet Brust und Seele auf, kommt man Wic aus dem bleichen Elend solcher Städte, wie Lille und Gent, wo die dichten Scharen der Armen sich bald die Luft streitig machen, nach Holland! Dieses Land ist tief verschuldet, die Zinsen verzehren mehr als ein Dritteil des ganzen Staatseinkommens , und doch wie wohlhabend , wie nett und tüchtig schaut alles aus, wie frisch und kräftig ist das Volk! Es wird den Holländern nachgesagt , sie seien ſparſam und knauserig wie die Kirchenmäuse : im Grunde laſſen ſie ſich an ihrem Leibe nicht das Geringste abgehen und sie haben immer noch übrig. Wohl gehen sie haushälterisch um mit ihrem Geld , ihren Kräften, ihrer Zeit, und geben wenig davon aus für Vergnügen, gar nichts im Müßiggehen. Sie überdenken. und überrechnen erst alles , was sie beginnen, hin und her , und kommen schwer zum Entschluß. Allein was sie einmal beschlossen haben, daran arbeiten sie stetig mit derselben kühlen Berechnung, langsam und geduldig : was sie schaffen, ist immer fest und tüchtig , und sie lassen nicht los vom Werke, bis es fertig ist. Diese ruhige Klarheit im Beſchließen, diese haushälterische Tüchtigkeit bei der Arbeit, diese zähe, unerschütterliche Ausdauer im Vollenden
Zeichen, daß der Polder noch jung iſt. Endlich wird es hinter der legten Pappelreihe ganz licht , dort ist keine dunkle Baumlinie mehr dahinter, nur das offene helle Meer flutet dort. Doch was ist ein Polder? Es gibt kein Wort, keine Kunst, die für Geschichte und Bestand der seeländischen Inseln wichtiger wäre, als das Poldern. Es bedeutet eben dem Meer Land wegnehmen , es einfangen , entwässern, und gegen die Wiederkehr der Fluten schüßen. Die Holländer haben eine Behörde , in welcher besonders geschickte Wasserbaumeiſter vereinigt sind , der Waterstaat oder das Waſſeramt. Mit Stolz erzählt man , daß Männer aus dieser Behörde den Vorsiz und das erste Wort in der europäischen Versammlung führten , welche die Durchstechung der Landenge von Suez beriet. Mit noch mehr Selbstgefühl und Seelenruhe vertraut der Holländer jeden Abend , wenn er sich zu Bette legt , dem Waterstaat sein und seines Landes Glück und Leben. Denn diese Deichbehörde hat Nacht und Tag zu wachen und zu schaffen, daß die Dämme in gutem Stande seien , daß die Strömung von Wind und Welle scharf beobachtet und ihr bei Zeiten begegnet werde, daß nicht Sandbänke den Schiffen den Lauf der Flüsse versperren. Ganz Holland liegt ja gleichsam wie ein Kriegsschiff im offenen Meer, und hat wohl auszuschauen , ob seine Anker halten. Insbesondere hat das Wafferamt sich um-
zusehen , wo die Wogen Land anschwemmen, oder wo sie vom Lande zurückweichen . Ist ein solcher Platz ermittelt, mit dem Senkblei
hat das holländische Völkchen so groß gemacht, hat ihm einen so breiten und glänzenden Plaz in der Weltgeschichte der vorigen drei Jahr hunderte erworben. Sein größtes Werk aber, das man immer wieder anschauen, stets von neuem bewundern muß, ist die Wiſſenſchaft und geduldige Energie, mit welcher so große Strecken Landes dem Meere abgerungen und gesichert worden. Stück-
untersucht , sind Ebbe und Flut dort genau beobachtet , so wird der Plaz zum Poldern ausgeschrieben , gewöhnlich in der Breite von einer halben bis zu einer ganzen Stunde. Eine Aktiengesellschaft bildet sich , man baut, schrittweise vordringend , Dämme ins Meer hinaus, und wenn scharfer Oftwind das Waſſer vom Ufer treibt, wird rasch der lezte Damm ihm als Riegel vorgezogen, daß es vergebens
chen für Stückchen ist es erobert. Wo jest der Morgen Landes 30-50 Gulden Pacht trägt , segelten vielleicht noch vor 30 oder 50 Jahren die Schiffe. Lange Dammlinien, deren Höhe mit Bäumen besett ist, ziehen sich kreuz und quer durchs Land. Sie schließen die Polder ein. Je näher dem Meer, desto spärlicher werden Häuser und Bäume - ein
wieder heranstürze. Dann gehen die Pumpen und Schöpfräder an ihr Werk, um das innere Windmühlen , in Wasser herauszubringen. neuester Zeit auch Dampfmaschinen , werden auf der Dammhöhe errichtet, um Hebel und Räder in Bewegung zu sehen. Ein Neß von kunstreichen Kanälen führt das Wasser aus dem Polder heraus; öfter , wenn der Polder
Meerabgewonnen Land and Leben.
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tief liegt, laufen die Kanäle, der eine über dem . Zeiten Bilderdyck. Welche Stierkraft liegt in andern, und die Maschinen heben und schöpfen | dem Ausruf: „ Wühlt, Elemente all ! Schäum', das Wasser aus dem untern in den höheren See ! Blast, grimme Winde ! Droht, drängt all was ihr könnt ! " Und wie ungemein natürlich Kanal, bis es gesammelt im obersten Kanal auf der anderen Seite herunterfließt. Ihr kriegt mich doch nicht in die ist das und diese Wendung ist Klemme!" Denn Ist der Polder ausgetrocknet, so wird er „Der Himmel ist mit vermeſſen, zerteilt, verkauft und mit Delsaat wahrhaft poetiſch besät, später mit Weizen. Zum Erstaunen ist mir , der soll euer Wüten binden. " Darauf aber wird das Fazit notiert. „Mit Rechten es, was der fruchtbare Schlammboden, der in den ersten Jahren keinen Dünger braucht, für schreib ich dann : ich kämpfe und entſchwimme. “ Wer freilich sollte denken, das echt holländische prächtige Ernten liefert. Füllen und Lämmer „Worsteln" könne bedeuten, was man im Hochspringen wählig zwischen üppigen Saaten, wo furz zuvor die Kabeljaus die Scharen der deutschen unter heldenhaftem Ringen versteht? kleineren Fische verfolgten. Freilich sammelt In der neueren Zeit , wo die Menschen sich noch längere Zeit das Grundwasser hier so große Fortschritte in der Kunſt machten, die und da im Polder in großen Teichen und tiefen Natur durch Naturkräfte auszubeuten und zu Kanälen, an deren Ufer das Waſſergevögel sein | leiten, sind auch die Polder und Dämme größer Paradies findet. Da schnattern die Enten, und stärker geworden. Die Inseln Seelands da schlagen die Wildgänse die Flügel, da spa- sind , wie sie daliegen, allmählich zuſammengepoldert , und nun läßt sich kein Grund abzieren ernst gewichtig die Reiher und Störche. sehen, warum das nicht fortschreiten , warum Den Jäger reißt es in allen Gliedern , er möchte dazwischen knallen. Allein wenn er nicht der größte Teil des Meerbodens, welcher
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jezt noch zwischen den Inseln mit Waſſer bedeckt ist, nach und nach ebenfalls in Land verwandelt werden sollte. Das Haarlemer Meer wurde trocken gelegt , das ist eine Thatsache, – ist es jezt noch unmöglich, auch die Zuyderſee wieder ins Meer zu treiben, daß man trockenen Fußes von Enkhuysen nach Stavoren gehe ? Wie rasch vergrößerten sich die Polder , als Umschrift. Eine Welt voll Angst und stiller man die Pumpen und Schöpfräder durch WindGröße liegt in diesen Worten. Sie lag darin, mühlen treiben lernte ! Jezt aber haben die der Löwe schwimmt jezt ruhiger. Wenn Menschen den Dampf zu ihrem Knecht gees nicht in Gottes Ratschluß liegt, daß Sturmfluten, wütender und gewaltiger als das ganze | macht ; kein Heer von Windmühlen leistet ſoviel als dieser Starke , und er ist zur Zeit lette Jahrtausend sie erlebte, über Hollands erst ein Jüngling. Seit Cäsar die Schelde blühende Fluren hereinbrechen sollen, -- dann noch in die Maaß fließen sah seit das wird der Löwe sich ohne Zittern über dem römische Kastell bei Catwyk vermöge der SenWasser halten. Wie aber der Seeländer das alles innerkung des Bodens ins Meer sant - ſeit Dortlich fühlt , das mögen uns ein paar ziemlich recht vom festen Lande losgerissen wurde ſeit Brügge's Hafen , der Zwyn , in welchem unbekannte Verse sagen, die schon im 17. Jahr ehemals die Flotten des Welthandels sich ſamhundert Jan de Brune dichtete. Sie stehen melten, völlig versandete — wie viel ungeheure in der ältesten Chronik Seelands von ReygersVeränderungen hat der Boden von Holland berg (Ausgabe von Borhorn) und lauten: erlitten ! Und doch fiel alles dies nur in eine Woelt Elementen al ! schuymt zee ! blaest felle winden ! verhältnismäßig junge geschichtliche Zeit. Und ick blyve Dreicht, dringht al wat ghy kondt es sind gar erst die leßten vierhundert Jahre, buyten Klem , seit das Blatt sich wendete, seit die Menschen De hemel is met my, di sal u wreedheit binden : anfingen in immer größeren Strecken wieder Met reden schryf ik dan : ick worstel end' ondschwem . zu erobern , was ihnen das Meer entrissen ſich den Jagdschein mit 21 Gulden gelöst hätte, müßte er erst noch bei jedem Grundbesizer schriftlich Erlaubnis holen , sonst dürfte er dessen Gebiet mit feiner Flinte betreten. Seelands Wappen ist ein Löwe, der tapfer mit den Wellen ringt. Luctor et emergo ist die ich kämpfe und ich bleibe oben!
hatte. Mit jedem neuen Jahrhundert wurden Man sieht, der alte Jan de Brune dich tete schon so ganz holländisch , wie zu unsern | ſie kühner und erfolgreicher ! Das leßte Men-
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Franz von Löher.
schenalter sah Werke vollendet, deren Gedanken früher der waghalsigste und hartnäckigste Friese für Thorheit erklärt hätte. Sind die Schlüsse zu fühn , welche man aus diesen Thatsachen schon für die nächste Zukunft ziehen darf? In diesen Errungenschaften und Aussichten, dann aber auch in der Eroberung und Besiede lung der Kolonieen und der sich daraus entwickelnden Handelsgröße , besteht im wesentlichen die Geschichte Hollands in den lesten dreihundert Jahren. Seeland erscheint auf den ersten Blick etwas geschichtslos , bis man die Rettungshügel aus der ältesten , die vielen Festungen aus der letzten Zeit wahrnimmt. Jedoch eigentümlich mußte sich hier die Geschichte gestalten , ähnlich wie auf den vene tianischen Inseln im Ausflusse des Po : die Ortsnatur machte die Geschichte. Natürliche Festungen waren diese Inseln, das Fahrwasser dazwischen ein Labyrinth voll Krümmungen und Untiefen. Eine kleine Macht, die hier heimisch war, besaß nach allen Seiten Ausgangspforten , aus denen sie unvermutet auf den Feind stürzen konnte , und besaß zugleich nach jeder Richtung hin Schlupfwinkel, in welche zu folgen nur der ortskundige Feind wagen durfte. Die Römer erfuhren das zur Genüge, als die Bataver den Aufstand erhuben, der den Kaiser Vespasian heimlich zittern machte in seinen Goldpalästen auf dem palatinischen Hügel. In Karl des Großen Zeit hatten sich die Normannen die seeländischen Inseln als Sammelpunkt und Waffenplay erforen : von hier aus fuhren ihre raschen Schiffe die Küsten entlang und die Flüsse hinauf um mit verheerendem Raub das Uferland heimzusuchen. Noch lange Zeit nach ihnen blieben die Inseln gefürchtet als Hort und Hecke der Seeräuber. Seeräubervolk aber gibt gutes Handelsvolk, und selten blüht Seehandel empor, ohne den Seeraub zum Vater zu haben. Beide waren ja verwandt in Lust und Gewinn, Fahrten und Abenteuern. In der ersten Hälfte des Mittelalters, als Utrecht und Tiel noch lebbaft am Seehandel
teilnahmen, waren die Häfen von Middelburg, Zierichsee , Westkappel, Veere , Domburg , Ry merswael , Tholen und andern seeländischen Orten von aller Welt besucht. Damals flaggten dort die Schiffe, die einen großen Teil der Güter trugen, welche zwiſchen Deutschland, England,
Frankreich und dem südlichen Europa ver" In diesen Zeiten , " berichtet der tehrten. alte Chronist von Seeland , „ waren die von Ziericksee über alle Städte und Seeplätze die stärksten und mächtigsten an großen Schiffen, von denen man in diesen Niederlanden wußte zu sprechen. Die Schiffe fuhren nach allen Landen über See, so daß die holländischen und andern Schiffe nicht so wohl bekannt waren. Bald darauf," so heißt es weiter, habe man auch zu Beere , Middelburg , Westerschouwen, Aremuyden Schiffe gezimmert und befrachtet nach Frankreich, Spanien , England und nach dem Ostlande. Da seien die Kaufleute statt nach Brügge mit ihren Schiffen nach Seeland gekommen, und viel Geld im Lande gewesen. " Zeigte sich doch auch die Bedeutung auf dem Meere darin, daß in den seeländischen Städten Westkappel und Damm das vom Altertum her überlieferte Seerecht in Artikel gebracht wurde. Allein schon in der Hohenstaufenzeit ging es mit der Blüte Seelands abwärts . Es ist das eine Art geschichtlichen Gesezes, das auch in unserer Zeit in den Niederlanden sich geltend macht, daß die Vorherrschaft im Welt= handel der einen Stadt genommen und der andern gegeben wird. Mit stillem Aerger blickten die Seeländer auf den reichen großstädtischen Verkehr, der sich in Holland entwickelte, wo damals Dortrecht der Hauptplat wurde. Um so entschiedener nahmen sie in den blutigen langwierigen Bürgerkriegen, welche die zweite Hälfte des Mittelalters erfüllten, die Partei der Hoeks, der Anhänger des alten Rechts und Bestandes, welche ihre Gegner, die städtischen Geldherren , Großhändler und Gewinnmacher , sowie die reichen adligen Güterfäufer, die von den Einbußen der kleinen Leute und Hofbesizer mächtig wurden, mit dem Namen Kabeljaus belegten. Denn der Kabeljau ist ein Raubfisch, der fett wird vom Einschlingen der kleinen Fische, während der Hoek der Angelhaken ist, an welchem der Kabeljau sich fängt. Es gab noch andere zärtliche Namen , welche die Hoefs, die Partei der Konservativen, für
ihre liberalen Gegner erfanden , wie Gapers Maulaffen, Groothoofden Dickköpfe, Fettkooper Talghändler, ganz im holländischen Geschmack. Der letzte und leidenschaftlichste Kampf tobte sich aus in der Regierung der schönen und unglücklichen Jakobäa von Bayern, 1417 bis 1428. " Wenige Kapitel in der histori-
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schen Romantik," sagt Lothrop Motley , der Auf der Grenze des Weichbildes von Geschichtsschreiber des niederländischen Frei- ter Goes begrüßte mich das bayrische Wappen. Ihre Lieblingsstadt schmückte Jakobäa von heitskriegs , „haben so viele Thränen gekostet. Bayern mit dem Wappen ihres Hauses. An Jakobäa hat für die Niederländer das unvergängliche Leben einer Iphigenie, Maria Stuart, diese Fürstin knüpfen sich die bedeutendsten Erinnerungen von Südbeveland . Die treue Jungfrau von Orleans und anderer geheiligter Ortschaft ter Goes war von Jakobäas ritterFrauengestalten." Mit 16 Jahren regierende Fürstin, aufgezogen in den ritterlichen Grund- lichem Vater zum Rang einer Stadt erhoben, und als die Bürger im Jahre 1417 seiner säßen der Hoeks, höchst anmutig in ihrer Erscheinung, im Innern voll Feuer, Heldenkühn- sechzehnjährigen Tochter Treue gelobten , und heit und erfinderischem Geist, hatte Jakobäa der neuen Fürstin, wie es bei Landeshuldigung Sitte war, auf silbernem Teller 600 Goldfast fortwährend Krieg zu führen mit den gefürchtetsten Staatsmännern und Feldherren. stücke darbrachten , erteilte ihnen Jakobäa das Defter siegreich erſchien ſie, wenn das Schlachten- | Recht , ihren Plaß zu einem befestigten , das glück ihr entgegen war , plößlich wieder , wo heißt zu einer echten Stadtburg zu machen, und bald darauf erhielt diese auch einen achtniemand sie vermutete, ihr ruhmreiches Banner in der Hand, in der Mitte ihrer Ritter und tägigen Jahrmarkt. Die „ Goosenaers " waren nun obenauf. Mit der Fürstin Hilfe bauten Bauern, diesichbegeistert für sie in den Tod stürzten. In Axel kam ich schön an. Die Leute be- sie sich eine Kirche, so herrlich und weiträumig haupteten steif und fest, sie hätten eine „ Vrouw wie eine Kathedrale. Nun erst waren sie eine rechte und ganze Stadt. Auch die Burg darin, Jacoba van Beyeren“ auf ihrem Rathaus, in das Schloß Ostende , bekam wieder Leben, Lebensgröße mit dem Schwert in Händen, in Jakobäa erſchien dort öfter zum Besuche. Dieſe Del gemalt und an der Wand fest gemacht. Die Potentatin erwies sich aber als eine Burg hatte vor Zeiten dem altberühmten und Göttin der Gerechtigkeit, die irgend ein irrender | mächtigſten Geschlecht in Seeland, den Borſſelen, Künstler des 17. Jahrhunderts den rechtliebengehört, deren Macht und Herrschsucht den dorden Schöffen von Axel gemalt hatte. Jedes tigen Freiſaſſen gefährlich wurde. Sie waren bedeutende Frauenbild, das keinen Namen hat, die Eifrigsten , um Landſtrecken einzudeichen soll eine Jakobäa oder doch eine Maria von und Handelsschiffe auf See zu schicken. Ein Burgund sein. Mich entschädigte das kleine Borsselen war nie etwas anders , als ein aufArchiv auf dem Rathaus . Es enthielt zwar | richtiger Kabeljau , und bei einem Aufſtande hatte ihnen der Fürst ihre Hauptburg, Ostende, wenige Urkunden aus dem Mittelalter , es fonnte sie auch kein Mensch in dem Städtchen genommen, und die Umwohnenden schlossen sich nun um ſo feſter an den Fürsten. Auch für lesen, aber es war doch eine Freude zu ſehen, wie die alten Schriften sämtlich genau geordnet, Jakobäa erprobte sich gründlich die seeländische wohl verzeichnet, sauber aufbewahrt erschienen. Treue. Während die Borsselen dem Haupte Wie viele Städtchen gibt es denn in Deutsch- | der Kabeljaus, dem glänzenden Herzog Philipp land von 1200 Einwohnern, die ihr Archiv in von Burgund , dem übermächtigen fremden so schöner Ordnung halten ? Jeder Holländer | Landräuber dienten , stießen die anderen seeliebt seinen Geburtsort wie eine Jugendgeliebte. ländischen Ritter , wenn Jakobäa sie aufrief, Er fennt alles , was sich von Bedeutung in klirrend und fröhlich ihre Schilde zusammen. ihm ereignete, wenigstens bis zurück zum UnSie verließen die junge Heldin in keiner abhängigkeitskriege gegen die Spanier, und es Schlacht und Unternehmung , und machten müßte eine Stadt sehr geiſtverlassen sein, ihrem Namen „ſeeländische Wölfe “ alle Ehre. wenn sich nicht dort ein paar GeschichtsliebWölfe waren sie zu Wasser und zu Lande, haber fänden, die emsig wie Bienen alle histodenn ein rechter Mann erschien schon damals , rischen Merkwürdigkeiten von Stadt und Umwie zur Zeit der Geusen, gleich geübt und begegend untersuchen. Auch auf den seeländischen | währt zu Schiff wie zu Roß. Inseln fand ich eine fleißige Geschichtsforschung, Es gelten noch immer sehr übertriebene Vorbesonders bei den protestantischen Predigern, stellungen von Glanz und Wildheit des Ritterdie in der Regel auch mit deutscher Sprache wesens im Mittelalter. Auch gelehrte Forscher scheinen noch tief in romantischen Nebeln von und Wissenschaft wohl vertraut waren.
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Franz von Löher.
Faustrecht und edlem Knappenwerk, vom Rechte erster Nacht und endlosem Minnedienst zu stecken, gleichwie einst alle Welt gläubig die seltsamsten Dinge von den Behmgerichten erzählte. Nun gab es noch im 15. Jahrhundert auch im nüch ternen Seeland, wo keine trosige Felshöhe sich erhob, eine Menge Edelsize, bewohnt von ritterbürtigen Familien. Es waren das enge dunkle Häuser von dicken Backsteinmauern , bewehrt mit Graben und Zugbrücke. Einige unterhielten zu besseSchutze rem rings um den Graben Zaunund Pfahlwerk, die Vermög licheren bauten sich auch einen Turm. Jeder aber sahdarauf, daß er unter seinem Haus hohe und trocke ne Kellerräume hatte, die sicherſten Lagerpläge. Haus und Mauern bildeten den Binnenhof, um welchen sich das des Wasser Grabens 30g. Draußen vor
und so viel Knechte einer hinter sich hatte, um so angesehener und willkommener erschien er aller Orten. Auf der kleinen Insel Südbeveland zählte man nahe zwei Dußend solcher Ritterhäuser, der ritterbürtigen Familien waren noch viel mehr. Was folgt daraus ? Daß damals weder viel Glanz noch viel Vermögen dazu gehörte, um als ein ritterlicher Mann aufzureiten, daß vielmehr jedermann, dessen Eltern oder Großeltern als freie Leute gelebt, sich zu den Ritter-
mäßigen zählen fonnte, vorausgesezt, daß er auchvermöglich genug war, um nicht selbst die des Arbeit Bauern, Handoder werkers Krämers thun zu müssen. Und anders als auf Seeland ist es nach allem, was ich aus alten Urkunden, Chroniken und Rechtsbüchern erforschen und vergleichen fonnte, im übri gen deutschen Reich auch nicht
gewesen. Als Jakobäa der Zugbrücke breitete sich der unzähligen nach Jatobaa von Bayern. Schlachten, GeHof, äußere fechten und BeBuitenhof, der mit kleinen Wirtschafts- und Stallgebäuden belagerungen , nach wilden Abenteuern und sezt war. Das Leben und Treiben war so Unglück aller Art sich im Jahre 1428 genötigt einfach als die Wohnung. Die Herren be- sah, den Burgunder Herzog Philipp zu ihrem sorgten mit ihren Leuten Acker und Weide ; Mitregenden und Erben anzunehmen , wohnte Winters und Sommers lebten sie von grobem sie fortan mit Vorliebe auf ihrer Burg Ostende in der Stadt ter Goes. Es war Brot, Salzfleisch und gedörrten Fischen ; frisches Fleisch kam nur des Sonntags auf den Tisch; nicht bloß die Annehmlichkeit des Ortes, was viel Getränk aber mußte alle Zeit dabei sein. sie anzog, die grüne Einsamkeit und Stille, Gab es Krieg oder Fehde, so waffnete sich ein in welcher sie ringsum vom Burgföller hinein wertvoller war unter den Plänen, jeder mit seinem Spieß, Schild und Harnisch, blickte, mit Kurzmesser und Handbeil, oder was er die sie ruhelos weiter spann , die Sicherheit, sonst an Waffen ererbt oder erworben hatte, welche der Platz gewährte. Sie wohnte da
Meerabgewonnen Land und Leben.
mitten unter Bürgern und Landadel , auf deren Treue sie sich verlassen konnte ; die Festungswerke waren neu und ſtark ; die Burg selbst, obwohl nicht groß, doch nett und behaglich, ja prächtig eingerichtet und, was die Hauptsache, wohl befestigt. Palast und Binnenhof umzog eine dicke Mauer mit Türmen, welche in den tiefen Schloßgraben hinuntergingen. Vom Hauptturm, dem Belfried, ließen sich die Insel und die anstoßenden Gewässer und Landstücke weithin überschauen. Aus den weiträumigen Kellern aber , wo man reichlich Lebensmittel und Waffen , Gerät und Kriegsvolk lagern konnte , führten unterirdische gewölbte Gänge, der eine bis auf den städtischen Marktplay, der andere unter die Hauptkirche , der dritte sogar eine Stunde weit bis zur Ortschaft Heer Hendriks Kindern. Im Notfall mochte man von dort leicht heimliche Abfahrt von der Küste gewinnen. Gleich im genannten Jahr, als die junge Fürstin die Burg bezog, ging es hoch her. Sie hatte eine Leidenschaft für Jagd und Waffenübung und ließ im Außenhof ein Schüßenfest feiern, zu welchem von nah und fern die geschicktesten Bogenmänner heranzogen. Man schoß mit Pfeilen, die, um Richtung zu halten, eine ziemliche Länge hatten , nach dem Vogel, der auf hoher Stange befestigt war. Der Bogen war der sog. Kreuzbogen , eine Art großer Armbrust , die auch Fußbogen hieß. Diese Uebungen mit dem Bogen waren damals so beliebt , wie jezt bei uns mit der Büchse. Jakobäa selbst hatte auf dem Feste das Glück, den Bogel herunter zu schießen und wurde als Schüßenkönigin begrüßt unter dem Klange der Waffen und Trompeten. " Sie war," sagt der Chronist Reygersberg , „ bei dem großen Aufschießen mit dem Kreuzbogen mit mehreren anderen Herren. Da schoß Frau Jakoba den Papagei ab und wurde Königin, worüber große Freude und Triumpf binnen der Stadt von ter Goes geschah, ſo daß die jungen Mädchen vom Lande aus vielen Dörfern kamen, um die Königin zu beschenken. Sie haben ihr viele Präsentchens geschenkt, was Frau Jakoba sehr angenehm war." In ihrer Herzensfreude verlich die Fürstin hinwieder den fünf umliegenden Dörfern Freiheit vom Flachszehnten, und noch in der letzten Zeit erfreuten ihre Be wohner sich dieser Freiheit. Auch stiftete Ja=
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brüderſchaft , gab ihr zum Schußheiligen St. Georg , den großen Patron aller Ritterschaft, und zum Sinnspruch ein Wort , das sie, wie es scheint, nach so buntem Gedränge von Lust und Leiden sich selbst erkoren hatte , nämlich Van ongeneuchten vry " oder „ Sorgenfrei “ . Toch ohne Zweifel steckte sie schon wenige Monate darauf wieder tief in geheimen Plänen und Rüstungen, wie sie noch einmal das ganze Volk zum Aufstand bringe, zu stürzen die burgundisch-franzöſiſche Macht , die sich beengend wie ein Alp auf ihre Unterthanen lagerte. Allein es sollte ganz anders kommen. Das eigene Herz spielte Jakobäa einen Streich, der ihrer fürstlichen Aufgabe ein Ende machte. Ihr argwöhnischer Mitregent, der tiefschlaue Burgunder , hatte das Haupt der Borſſelen, den ritterlichen und staatsklugen Franz , seinen eifrigsten Anhänger , zum Statthalter bestellt und ihm auf die Seele gebunden, Jakobäa auf Schritt und Tritt zu bewachen . Nun geschah es wahrscheinlich auf Südbeveland, wo Borsselen seine besten Besizungen hatte , daß er die reizende junge Witwe öfter sah , wenn fern vom Zwange des Hoflebens , sie sich ihrer natürlichen Anmut und Lebhaftigkeit überlies. Da ging es Vorsfelen, wie so vielen anderen Rittern geschehen war , er faßte für sie eine Leidenschaft, welcher er nicht mehr Herr wurde. Einst gab er ihr auf seinem Schloß zu St. Martinsdyck ein Bankett. Im Saal lief an den Wänden statt der Teppiche ringsum ein Gelände von grünen Weidenzweigen , die im Altholländische willichen takken hießen , und von jedem Zweig, der sich niederneigte, hing der Buchstabe D. Als Jakobäa nach der Bedeutung fragte , erwiderte der Ritter, „ Dir will ich dienen" . Vielleicht denn Borſſelen war ja ein Holländer berechnete er dabei auch , daß er durch Jakobäa die verlorene Stammburg Ostende wieder gewinnen, ja wenn das Glück gut sei, seinem Hauſe endlich fürstliche Ehren verschaffen könne, nach denen es so lange getrachtet. Jakobäa hatte bisher aus der Männerwelt nur glänzende Nieten gezogen. Ihr erster Gemahl, der Kronprinz von Frankreich, wurde vergiftet, ehe er sechzehn Jahre alt war. Der zweite, der Herzog von Braband, war ein schwächlicher Thor ohne Sinn und Verstand, von dessen Hofe sie nach England
kobäa zum Andenken des Tages eine Schüßen- | flüchtete.
Der dritte, der geistvolle Humfried
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Franz von Löher.
Prinz und Regent von England, eine glänzende Blume der Ritterschaft, hatte sich als erbärmlichen Schwächling ausgewiesen. Wie schwer wog gegen ihren Wert das Metall in Borsselens Charakter, und sein Schwert und großer Anhanger war der Führer von Jakobäas Gegenpartei - war für sie auch nicht zu verachten. Wenn er das vielvermögende Haupt der Kabeljaus , und sie , die Fürstin der Hoeks, sich vereinigten , konnten dann nicht endlich dem vielduldenden Volke Freiheit und Frieden erblühen ? Genug , sie erwiderte seine Neigung, und weil sie ihrem Mitregenten hatte geloben müſſen, ſich ohne seine Einwilligung nicht wieder zu vermählen, ſo ließ sie sich heimlich in ihren Gemächern mit Borsselen trauen. Doch der Burgunder Herzog hatte seine Späher üllerall. Eines Tages erschien er im Haag mit glänzendem Gefolge, seine schöne Base zu besuchen, und tafelte mit ihr herrlich und in Freuden. Abends legte unbemerkt eine verdeckte Barke auf dem Kanal am Fuße des Schloſſes an , und als nach der Tafel Borsselen, wie es Sitte war, dem Herzog bis an seine Gemächer das Geleite gab, wurde er plöglich ergriffen und in die Barke gebracht, die eilig von dannen fuhr und ihn nach der flandrischen Festung Rupelmonde brachte. Jezt erklärte Philipp der flehenden Jakobäa : sie habe nur eine Wahl, entweder lege er ihrem Gemahl, dem Verräter , den Kopf vor die Füße, oder sie verzichte sofort auf alle ihre Länder und Kronen. Auf der Stelle wählte Jakobäa das lettere. Sie selbst eilte nach Rupelmonde, und als ihr Schiff dort landete, sprang ſie allen voraus ans Land und flog in den Kerker ihres Gemahls , um ihm die Rettung anzukündigen. Jezt feierte ſie öffentlich ihre Hochzeit ; Vetter Philipp mußte Borſſelen und deſſen etwaige Kinder als seine Erben anerkennen, falls er selbst kinderlos stürbe, und erhob ihn zum Grafen von Ostervant, welchen Titel gewöhnlich der Erbprinz von Holland führte. Außer einigen anderen Gebieten , außer der freien Jagd und Herrschaft in allen Forsten Hollands hatte sich Jakobäa auch die Insel Südbeveland vorbehalten. Hier lebte sie noch einige Jahre und zwar , wie es damals bei Fürsten Brauch war, mit einem Hofstaat, in welchem Reihen von Thürstehern , Proviantmeistern , Flaschenmeistern , Pastetenbäckern, Sänftenträgern, Saalwärtern und Saalfönig,
Vorläufern, Pfeifern, Boten, Garderobiers u .ſ. w. erschienen. Diese glänzenden Zeiten sind für Südbeveland längst vorbei. Die ritterlichen Geschlechter der „seeländischen Wölfe “ sind entweder, was sie eigentlich immer waren, wieder Bauernadel, oder was sich darüber erhob, ist dem großen Aussterben verfallen , welches so auffallend gegen Ende des Mittelalters unter der Ritterschaft aufräumte. Der Rest der berühmten Geschlechter in Holland fiel in den achtzigjährigen Kriegen mit Spanien oder verzog sich nach Geldern und Deutschland. Die Patrizier aber von ter Goes beschäftigen sich wieder, wie sie immer gethan , mit der Versendung von Korn, Schlachtvieh und Delfamen; nur den Waffendienst üben sie nicht mehr. Denn was will es viel sagen, wenn sie unter die holländische Miliz eingereiht sind ? Dieſe ist noch längst keine preußische Landwehr , ja schwerlich nur der schweizerischen Miliz oder den bayrischen Gebirgsschüßen zur Seite zu stellen. Noch viel weniger bedeutet es, wenn die jungen Patriziersöhne die Brüderschaft der Bogenschüßen, welche Jakobäa gestiftet , fortsezen. Die alte Schüßengilde ist im vorigen Jahrhundert untergegangen , ihr „ Confreriehaus “ zeigt sich nur noch in Trümmern. Die neue Bruderschaft wurde vor 32 Jahren errichtet , zur Ehre von Frau Jakobäa von Bayern “, welche sie zu ihrer „ Patronin“ erkoren hat und deren Namen sie führt. Doch schießt man jezt nicht mehr mit Fußbogen, sondern mit Handbogen. Es ist das ein einfacher großer Bogen von feinem und sehr elastischem Holz, die Sehne mißt ein paar Fuß und im Zurückschnellen übt sie eine solche Kraft , daß der lange Pfeil beinahe so weit fliegt , wie eine Kugel aus der Büchse. Dieses Bogenschießen ist eine ganz vortreffliche Uebung für Hand , Auge und Brust, und die Waffe in ganz Holland so allgemein beliebt, daß jedes Bürschlein, wenn es eben laufen kann, auch seinen Bogen haben will. Zum Glück traf es sich gerade an dem Sonntag, an welchem ich Goes besuchte, daß man ein kleines Schüßenfest hatte. Es war eine hohe Stange aufgerichtet, und hoch oben saßen auf Querstangen kleine hölzerne Vögel, die leicht befestigt waren. Unter den Klängen der Musik wurde danach
geschossen, und wer einen oder zwei mit seinen Pfeilen herunterholte, ließ die Zahl wohl auf-
Meerabgewonnen Land und Leben.
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schreiben. Am Vorabend von Jakobäas Gesächlich Graf Ludwig von Naſſau abgefaßt hatte. burtstag, den 25. Juni, wurde alles zusammen- Die Fürstin wurde etwas verlegen , als der Nassauer und Brederode so frei und kühn vorgerechnet, und wer im Jahr die meisten Vögel traten und redeten. Da flüsterte ihr Graf abgeschossen, wurde andern tags mit der großen Medaille geschmückt und geehrt als der Barlaymont , der Präsident des Finanzrates, auf Franzöſiſch zu : sie solle sich doch vor dieſer Schüßenkönig. Man sieht, die Holländer feßten Schar Bettler nicht fürchten, von Rechts wegen die Ehre nicht auf ein paar Schüſſe, bei denen müßten sie rascher die Palasttreppe hinunter der Zufall oft sonderbar mitspielt , sondern kommen, als sie herauf gestiegen. Als die Edelrechnen das Fazit des ganzen Jahres zusammen. Kaufmännisch ist das, aber verflüchtigt sich nicht leute am Abend ein fröhliches Gaſtmahl hielten und Barlaymonts Worte erzählt wurden, da der Reiz der Spiels , wenn die Glücksgöttin rief Brederode : „ Gut, gut denn : treu bis zum gar keinen Einlaß erhält ? Der Schild der Schüßengilde hängt natür- Bettelsack dem König und dem Lande," lies lich auf Jakobäas Schloß Ostende, dort ist ihr einen hölzernen Napf und ledernen Quersack, Stelldichein. Die ganze Burg ist noch erfüllt wie die Bettelmönche sie trugen, herein bringen, vom Andenken an die schöne fürstliche Schüßen- | den Napf voll Wein gießen und trank den fönigin. Allein wie hat die Zeit dieſes Schloß, | anderen zu mit dem Ausrufe ,,Vivent les das auf alten Bildern sich so malerisch darstellt, gueux !" Oranien , Egmont, Hoorn gingen verändert ! Die Kellergewölbe und unterirdizufällig vorüber, als der Napf unter fröhlichem schen Gänge sind noch da, auch ein Stück RingLärm umher ging, traten ein und auch ihnen wurde der Napf zugetrunken. Jest war das mauer mit Schießscharten steht noch, hin und Stichwort da : die Verbündeten ließen sich eine wieder erinnern Säulen und Kamine von Marmor und hochräumige Fensterbogen an die Medaille machen , welche auf der einen Seite das Brustbild König Philipps mit der Umentschwundene Pracht. Aber das ist auch alles : die Burg ist ein Gast- und Kaffeehaus ge- | schrift : en tout fidèle au roy , und auf der worden. Das scheint ja fast das einzige zu anderen Seite die Worte zeigte : jusqu'à porter sein , zu welchem man die alten Burgruinen la besace, in allem treu dem König, wenn sie neben der schönen Aussicht noch gebrauchen kann. auch arm wurden bis zum Bettelsacktragen. Als nun Albas Bluthunde wüteten und Im Speisesaal spielten jest die jungen Goosenaers ihr Billard, und an Jakobäas Geburtsalle Welt zitterte und verzweifelte und Keiner tag lassen sie sich im Ritterſaal zum Tanz auf- | Hilfe auf Erden mehr wußte, da gab es nur spielen, womit sie beiden jedenfalls aufs beste zwei Stellen, wo man sich zum Widerstand Ehre anthun. Dann verehren sie ihrer Schönen rüstete gegen die furchtbare Macht der Spanier, eine Blüte von „ Vrouw Jakobas Boom " . Dies -Dillenburg in Nassau und auf den seelänist ein sehr alter und merkwürdiger Baum der dischen Inseln. Graf Wilhelm von Naſſau, der von seinem Fürstentum Orange der Oranier in großer Berehrung steht. Er wächst hervor aus Mauerschutt, und obwohl er nahe an der hieß, verkaufte auf seinem heimatlichen Schloſſe Wurzel umgebrochen ist, so daß er fast auf der sein Silbergerät, 'rüstete mit dem erlösten Gelde Erde liegt und acht Stüßen seine Aeste halten, ein Heer aus, marschierte nach den Niederlanden trägt er noch jedes Jahr eine Fülle von Grün und der erste Sieg dieses deutschen Heeres bei und Früchten. Hat ihn doch, wenn die Sage Heiligenten am 24. Mai 1568 ließ wenigstens wahr ist, Jakobäa gepflanzt mit eigener Hand! eine Möglichkeit aufdämmern , daß man sich Protector et hostis Oceanus, Schüßer und vom spanischen Joche befreien könne. Auf SeeFeind der Ozean — beſagt eine alte seeländische land hielt Alba zwar alle Hauptplätze wohl Münze. Die Zeiten der Normannen und Jakobesetzt, konnte es aber nicht hindern, daß hier bäas, wo das erste Wort galt, kehrten wieder versprengte Reſte der Geusen, jezt wahre Bettler, zur Geusenzeit. Bekannt ist, wie am 5. April sich sammelten und Schuß und Verstecke fanden. Sie bemannten ein paar armselige Fahrzeuge des Jahres 1566 dreihundert Adlige in schönster und da das treue Landvolk Wache stand und Tracht in Brüssel einritten und der Statthalterin Margareta von Parma im glänzenden Aufzug | Kunde brachte, gelang es ihnen, den Spaniern gegen König Philipps Maßregeln eine Bitt Schaden und sich eine Güte am Raube zu thun. Der scharfblickende Oranier erkannte, Seeland und Beschwerdeschrift überreichten , welche haupt73
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F. Ch. B. Avé- Lallemant.
ſei ein guter Waffenplaß, und da er als deutscher Reichsfürst selbständig Krieg führen konnte, so ernannte er den Grafen von der Mark zu seinem Admiral auf Seeland, ertheilte ihm Kaperbriefe und schickte Geld und Leute. Jezt kauften die Geusen Schiffe und Kanonen in England, brachen zu gelegener Stunde zwischen den Inseln hervor und überfielen ſpaniſche Abteilungen. Unzähligemal erschienen sie wie plötzliches Ungewitter und waren ebenso rasch wieder von dannen. Vergebens ſuchten die schweren Kriegsschiffe des Königs zwischen die Inseln einzudringen : ehe sie sich's versahen, saßen sie auf Untiefen fest und wurden berannt und beschossen. Die Kunde, daß auf Seeland glücklich gekämpft werde, richtete die Gemüter wieder auf. Abenteurer und Flüchtige, welche das Blut ihrer Eltern und die Schande ihrer Töchter zu rächen hatten, strömten herbei und opferten den Rest ihrer Habe. Allmählich hatten die Geusen 24 Schiffe zusammengebracht und liefen jezt auf größere Unternehmungen aus. Am 1. April 1572 erschienen sie vor Briel, der Feind machte eilig Jagd darauf, die Verwegenen schienen zu fliehen, wandten sich aber plötzlich um , kamen den Spaniern zuvor und gewannen die gute Festung. Das war der Geburtstag der niederländischen Freiheit, und das Volk sang lustig : Den ersten Dag van April verlos duc d'Alba synen bril. General Bossu fam eilig heran marschiert mit allen spanischen Truppen, die in der Nachbarschaft sich aufraffen ließen, wurde aber blutig zurückgeworfen. Die nächste Stadt , welche Oraniens Banner aufpflanzte, war Vlissingen : eilends rückten auch hier die Spanier herbei, jedoch die Geusen waren eher da und verschlossen ihnen die Thore. Alba ließ gerade durch den Italiener Pachmo, der auch die Citadelle in Antwerpen gebauet hatte, in Vlissingen eine neue Zwingburg errichten : der Italiener wurde an den Galgen geschleppt. Jest entbrannte der heftigste Kampf um Middelburg, Goes, Zieridsee. Die Geusen thaten ihr Aeußerstes, sie zu erobern, die Spanier, sie zu behaupten. Als Goes hart bedrängt war, bedachten diese sich nicht lange und marschierten bis an die Schultern im Waſſer von Walchern herüber und schlugen die Geusen zurück. Diesen aber gelang die kühne Waffenthat vor Leyden, das dreiviertel Jahre lang in gräßlicher Not die spanischen Belagerer abwehrte. Achthundert Seeländer hatten geschworen , zu sterben oder
| die Stadt zu retten. Ihre Schiffe lagen vor dem Damme und litten schwer unter den ſpanischen Geſchüßen und wichen nicht, bis endlich sie und die Fluten über die Belagerer herausbrachen. Als im Februar 1574 Middelburg, welches die Geusen zwei Jahre lang bestürmt | hatten, im Juni 1576 Zierickſee, das gewonnen und verloren war , sich ihnen auf die Dauer | ergeben mußte , durfte die Sache der niederländischen Freiheit als gewonnen gelten. Denn Seeland, die große Meeresfestung, lag da ge= | fürchtet und unbezwinglich. Die Holländer aber hätten Grund genug, sich gegen die Deutschen weniger feindselig zu zeigen. Wer hat nie verzagend ihren Freiheitskrieg begonnen und zum Siege geführt , wer hat den Grund gelegt, daß sie zum mächtigen See- und Handelsstaat erwuchsen ? Der große Deutsche war es, der mit ſeinen tapfern Weſterwäldern ihre Schlachten schlug, deſſen Bruder Ludwig und Heinrich mit dem jungen Pfalzgrafen Christoph für sie auf der Wahlstätte verbluteten.
Der Goldmacher Giovanno Graf von Cajetani. Von F. Ch. B.
vé- Lallemant.
as hauptsächlichſte Trachten der Alchymiſten Dder vergangenen Jahrhunderte war neben der Darstellung des Magisterium magnum, Lebenselixirs, Verjüngungsbalſams, Univerſalarzneien u. dgl. noch ganz besonders auf das Goldmachen gerichtet. Die darüber zum Vorschein gekommene gedruckte, zum großen Teil aber auch noch ungedruckt in den Bibliotheken. umherliegende ungeheuerlich geschwollene Litteratur gibt ein grausiges Zeugnis sowohl von der Unwissenheit und dem Aberglauben des Volkes , als auch von der Verwegenheit des Betruges, mit welchem das verkommene Volk ausgebeutet wurde. Verschwindend gering dagegen sind die | aftenmäßig aufgezeichneten Fälle, in denen daz geschärfte Auge der Justiz oder eines strengen
Der Goldmacher Giovanno Graf von Cajetani.
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Vio von Gaëta, 1470–1534) her und wandte ſich zunächſt an den kurbayrischen Hof als Goldmacher. Hier fand er sogleich Eingang, Die Schwierigkeit der Entdeckung lag einmal im schlimmen Rückstand der chemischen erhielt zu seinen chemischen Arbeiten 30,000 Thaler, brachte dies Geld in sechs Monaten und physikalischen Wissenschaften überhaupt, durch, verließ heimlich Bayern und wandte sich ferner in dem Anklang, den das myſteriöſe Auftreten der Alchymisten mit der tendenziös nach Wien, wo damals die Alchymie hauptgewählten Sprache und den Sprüchen der sächlich blühte. Hier betrog er verschiedene Privatpersonen um sehr erhebliche Vorschüsse Bibel, besonders des Hohenliedes Salomonis und der Apokalypse, wo viel von edlem Metall auf die Erlernung der Goldmacherkunst, verund Gestein, Kronen, Feuer und Siegeln die ließ Wien ebenfalls inkognito, hielt sich am Rede ist, im frommgläubigen Volke fand, end- kurpfälzischen Hofe fünfviertel Jahre lang auf und ging dann am 5. März 1705 nach Berlin, lich aber auch in dem geheimen Gaunerkniff, wo er sich sofort Equipage anschaffte und dem daß die auf ihre Versprechungen mißtrauisch Könige eine Denkschrift überreichte, in welcher angesehenen und bei ihren Arbeiten überwachten Goldmacher beim Zusammenschmelzen der zur er um königlichen Schutz bat und die „Transmutation der Metalle" zu zeigen versprach. Hervorbringung des Goldes genommenen wertlosen Zuthaten sich zum Umrühren im Schmelz„Die Offerte -so heißt es in einem später tiegel eines mit Goldkörnern gefüllten hohlen (31. Januar 1708) veröffentlichten offiziellen Schreiben wurde acceptiert und machte der Holzstabes bedienten , bei dessen Verkohlung Cajetani drei kleine Proben in Gegenwart Er. auch das Gold in den Tiegel geriet und bei Königl. Majestät und einiger Großen, übergab der Abkühlung sich als Vodenjaß darstellte, auch zugleich einige Gran rot und weißer worauf dann ja nun der Betrüger sich mit Tinktur und die Methode, wie solche_multiplider großen Belohnung auf Nimmerwiedersehen leicht davon machen konnte. ziert werden möchte. Er ordinierte alles zur Der vielfach gelungene Betrug machte es Multiplikation an und versprach, daß nach sechs nun aber ganz besonders, daß die Akten und Tagen S. K. Majestät acht Lot rote und sieben Protokolle über die erreichte Täuſchung hoher | Lot weiße Tinktur erhalten sollten. Man begegund höchster Personen der Deffentlichkeit ent nete ihm hierauf mit Careffen, weil man Gold und Silber ihm nicht anmuten wollte ; große zogen und in den Geheimarchiven deponiert worden sind, wogegen aber auch der überführte | Ehrenämter ihm zu geben, war noch zu früh.“ Gauner mit rücksichtsloser Härte behandelt und Der schlau berechnende Gauner ging nun dabei mit seltsamem Pompe beseitigt wurde. nach Hildesheim, schrieb von da nach Berlin Der merkwürdigste Prozeß in dieser Hinan den König und erbot sich, sein Arkanum demjenigen zu lehren, den S. K. Majeſtät dasicht ist wohl der des sogenannten Giovanno zu ernennen würden. Hierauf wurde der kluge Graf von Cajetani ( 1709), in welchem der geriebene Gauner doch von der Klugheit und Kammerherr Marschal von Biberstein nach Hildesheim geschickt , der dem Cajetani des zähen Ausdauer des ersten Königs von Preußen im Schach gehalten, als frecher Betrüger ent- Königs Porträt in Brillanten (1200 Thaler larvt und dann sehr hart bestraft wurde. im Wert) überbrachte nebst dem Patent zum preußischen Generalmajor. Cajetani war aus Neapel gebürtig und der Sohn eines wohlhabenden Bürgers daNun wurde verabredet, die weitere Prozeselbst. Er genoß eine gute Erziehung, legte dur in Coswig vorzunehmen. Dort ſchwindelte der Goldmacher dem Kammerherrn vor, sich auf die Wissenschaften und machte besonders in der Chemie gute Fortschritte. Von „ daß er drei bis vier Pfund Quecksilber zu Silber tingierte" und forderte dafür 1000 DuNatur mit allen Eigenschaften eines Abenteurers , körperlicher Schönheit, anmutigem Be- katen von ihm . Marſchal ließ sich jedoch nicht nehmen, hellem Verstand und großer Ueberirre machen, verwies ihn auf den Schluß der redungskunst ausgerüstet , verließ er Neapel, Arbeit und sondierte den Goldmacher auf die schlaueſte Weiſe dadurch , daß er ihm bares nahm den Namen eines Grafen von Cajetani Geld vorenthielt, ihn aber dafür mit Viktuaan, leitete seine Abstammung von der Familie lien aller Art, auch Auſtern und Wein, freides päpstlichen Legaten Cajetani (Thomas de Fürsten den verschlagenen Verbrecher entlarvte und zur harten Verantwortung zeg.
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gibig versah. Als der Goldmacher nun auch so daß er mit Einſchluß der Auslöſungsſumme einen lezten Versuch machte, den schlauen für seine in Hamburg verſeßten Sachen dem Marschal damit matt zu sehen , daß er in Hofe 16,000 Thaler kostete. dessen Gegenwart einen Reichsgulden durch Der schlaue Gauner merkte gar wohl, wen er am meisten zu fürchten hatte. Auf seine Abrauchen einer gelben Materie zu Gold verBitte erhielt der Kammerherr Marſchal von wandelte, Marschal aber immer kaltblütig auf Biberstein Stadtarreſt, bis die Operation gedas Ende der ganzen Arbeit vertröſtete, verendigt sein würde. „ Anfangs Auguſtmonates ließ der Gauner in stiller Verzweiflung Cosöffnete Cajetani die Phiole und tingierte wig, wandte sich nach Stettin und schrieb von 32 Mark Quecksilber zu Silber und in der Mitte hieraus an den König des Inhaltes , daß des November 40 Lot Quecksilber zu Gold, Marschal ihm übel begegnet habe, nachdem er wozu er 15 Tropfen der Tinktur brauchte. das Arkanum gelernt ; Marschal wolle dieses für sich behalten und sei ein untreuer Diener. Das Gold mußte ihm abgekauft und bar bezahlt werden. " Schließlich bat er den König um 1000 Dukaten. Das Staunenswerteste bei der ganzen AnNun wurde der Geheimsekretär Heſſe an Cajetani abgeschickt , um diesen zu bewegen, gelegenheit ist aber, daß der königliche Komdaß er nach Berlin komme. Cajetani schlug missär, Geheimsekretär Hesse, aktenmäßig und dies jedoch ab und ging , obschon Hesse ihn öffentlich behauptete , der Graf Cajetani ſei mit 400 Thalern von seinen Stettiner Schulwirklich im Besitz einer Tinktur geweſen, mittels welcher man Quecksilber in Gold und den frei machte, nach Hamburg, wo er sich in so großer Geldnot befand, daß er den Schmuck Silber verwandeln könne ; ebenso behauptete er und die Kleider seiner Geliebten versehen mußte. aber, daß der Graf Cajetani nicht das Geheimnis Von Hamburg aus erneuerte er in einem der Anfertigung dieser Tinktur besessen habe. Schreiben an den König seine Beschuldigungen Bei der soeben angegebenen Operation hatte Cajetani festgestellt, daß die nur teilweiſe gegen den Kammerherrn Marschal von Biberbis jezt von ihm gebrauchte Tinktur am stein. Dies war der Anlaß, daß er als preußischer Generalmajor verhaftet und nach Berlin 23. November trocken sein und dann in Gegenwart des Königs ein Zentner Quecksilber zu gebracht wurde. Die Phiole in Coswig war inzwischen untersucht und leer befunden worGold gemacht werden sollte. Es sollte sich jedoch bald offenbaren, wesden. Die große Phiole, welche in Berlin im Hause des Kammerherrn Marschal gestanden | halb diese weite Frist gestellt war. Cajetani ergriff noch vor ihrem Ablauf die Flucht und hatte und sechs Millionen enthalten sollte, kam nach Frankfurt am Main , wurde aber wollte Cajetani nicht für die seine anerkennen. Auch sie war leer befunden worden. Cajetani dort auf Requiſition des preußischen Miniſters erbot sich nun von neuem, vor einem Kom- in Haft genommen. Während dieses Arrestes miſſär zu arbeiten, „ tingierte zwei Pfund Queck- schrieb er eine Rechtfertigungsschrift und ließ dieselbe drucken. silber zu feinem Silber und eine Woche darauf ein Pfund zu feinem Golde. “ — „ Das Kaum mag diese , schon damals feltene, Residuum der Phiole wollte Cajetani dem Schrift voll Invektiven gegen den König und den Kammerherrn Marschal von Biberstein noch Könige in forma liquida überliefern . Es wurde ihm aber befohlen, „ es ad siccitatem in irgend einem Exemplare vorhanden sein. zu bringen" (?) . Cajetani ließ hierauf die Cajetani wirft unter anderem dem Könige vor, Phiole von neuem einseßen und machte so daß er ihm , dem Könige, über 8000 Thaler geschenkt, daß der König ihm, dem Cajetani, starkes Feuer darunter, daß sie in wenig Der Beweis gegen den Stunden sprang. niemals Wort gehalten habe u. dgl. mehr. Kammerherrn Marschal fiel damit weg ; CajeMit dieser Schrift glaubte Cajetani seine Freiheit bei dem Frankfurter Rate zu erlangen. tani aber schob das Unglück auf seinen Arrest. Nun bekam er seine Freiheit wieder, erDoch war diese Hoffnung eitel. Er wurde bei Sachsenhausen einem preußischen Kommando hielt das Fürstenhaus zur Wohnung und wurde aus der königlichen Küche mittags mit zehn, übergeben und nach der Festung Küſtrin geabends mit acht Schüsseln gespeist, erhielt da- bracht, woselbst ihm eine neue Probe seiner Kunst zu Rheinwein, Champagner und Burgunder, aufgelegt, und, „ da dieſe nicht zustande kam, der
Der Goldmacher Giovanno Graf von Cajetani.
Prozeß als Betrüger gemacht ward," in dem er zum Tode durch den Strang verurteilt wurde.
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war „ mit güldenen Zindel beſchlagen“ und der mit Ketten überall wohl befestigten Leiche“ wurde nun ein auf Romanische Art gemachtes Kleid von gülden Zindel umDie am 23. August 1709 vollzogene Hingehangen, welches man sehr weit sehen kann. “ richtung ist, ganz dem Geiste jener Zeit mit dem Damit war aber der Justiz bei weitem maſſenhaften handwerksmäßigen Abthun der Verbrecher wie der dabei sich kundgebenden noch nicht volle Genüge geleistet. Es wurde ittlichen Entrüstung durchaus entsprechend, von sogar eine Münze auf Cajetani geprägt. Die so seltsamen Staffagen begleitet, daß sie nach eine Seite stellt einen dreiſtämmigen Galgen vor, der alten „Relation d. d. Küstrin, 23. Aug. in welchem Cajetani hängt. Vor dem Galgen 1709 “, wohl mindeſtens teilweiſe als typisches | stehen sieben Berge und auf jedem Berge ein Zeitbild erzählt zu werden verdient. Planet ; der mittelste Berg mit der Sonne (als „Heute Morgen um 10 Uhr ist der be„Goldplaneten") steht gerade vor dem Grafen. Die Umschrift lautet : Non Ens Chymicum kannte Goldmacher und sogenannte Graf Cajenovum. Zur linken Seite : Parturiunt ; zur tani ausserhalb der Vestung, für der kurzen Vorstadt, seinem Urtheil gemäß, gehänket wor rechten : Nascetur ridiculus mus. In der oberen Quersäule des Galgens steht: Acidulae den. Als ihm einige Tage vorher bekannt geCustrinenses ; an den drei Stämmen oder macht ward, daß er sich zum Tode präpariren Säulen (italienisch und lateinisch durcheinander) : solle, hat er sich solches anfänglich nicht einFatiche, Fumo, Fame. Foetore , Freddo et bilden wollen, sondern in dem Wahn gestanden, daß es ihm nur zum Schrecken geschehe : Fume. Fumum vendidi, fune perii. Aus Nachdem nun zween Patres vom Kloster Zelle dem Munde des Hingerichteten kommen die ihn zum Sterben zu bereiten anhero geholet Worte: Quantus artifex pereo . Unten befindet worden, haben dieselben groſſe Mühe gehabt, sich die Inschrift : CoMes De CaletanI fVne indem er sich zu nichts verstehen wollen, son- fInIt. Annos 23. Aug., wobei die großen dern horribel lamentiret und mit dem Kopfe Buchstaben die Jahreszahl 1709 ergeben. Um wider die Wand gestoßen und sich sonsten sehr | den Rand ſteht das Distichon : Sperne lucri desperat auffgeführet. Endlich aber hat er sich speciem, cum sit tibi cura salutis. Nam gegen die Patres submittiret und mit ihnen. fallax haec ars, et male perdit opes . zu beten angefangen, dabey aber allezeit gefaget, Ist diese Seite der Münze schon sehr selter müßte unschuldig sterben, Gott würde die rich- | ſam, ſo muß die Aversseite aber im höchsten Muntus ten, die an seinem Tode Uhrfache wären ; er hat | Grade auffällig erscheinen : Kys verer die Fuld Tezyby - Ayvvk De - Allgenoch gestern Vorschläge gethan, daß - bloena sund omnia sprochene Quantität Gold machen wollte, und misdarum zwar in Berlin oder Spandau, in Küſtrin aber Ohere Toezyphy a dur. Man weiß nicht, ob dies lateinische Kauderkönnte er es nicht praestiren , weil kein tüchtiger Keller oder Gewölbe vorhanden u . s. w. “ welsch aus Unwissenheit oder absichtlich auf Mit Uebergehung der breit erzählten Ausdie seltsame Denkmünze geraten ist. Aus der führung, des geistigen Ringens und des geist zweiten und dritten Reihe läßt sich mundus lichen Hin und Herzerrens des mürbe und vult decipi herausinterpretieren, so auch in haltlos mit dem einzigen Widerstand ohnder fünften Reihe alchemistarum erkennen ; mächtiger Seelenangst - gleich den vielen hun- | schon gewagt erscheint plena für bloena zu seßen. Das Tezyby für decipi findet in dem dert Henkersmarionetten seiner Zeit - ringen Toezyphy der achten Reihe eine schreckhaft neue den Verbrechers und des Hinrichtungsaktes selbst, Spielart. Vielleicht sollen die drei lezten Wörter heben wir nur die seltsame Staffage des Delinquenten und des Galgens hervor, die mit dem zu decipiatur zusammengezogen werden. Ernst und der Würde der Justiz in grellem Mit der Sonderbarkeit und Seltenheit dieser Denkmünze wetteifert ein Kupferstich, aufwelchem Gegensate stand. Der Delinquent war mit einem weißen Kamiſol bekleidet, legte Halstuch | Cajetani am Galgen hängend dargestellt ſein ſoll. und Perücke selbst von sich und wurde ohne VerLeider ist es dem Einsender nicht gelungen hüllung des Angesichtes aufgezogen. Das Querbeide zu erhalten, so daß er eine genauere Erholz, unter welchem er die Seele aushauchte, klärung als die vorliegende nicht geben kann.
Im Krater des Hesuvs.
Music TheTimes
เม
Line Zufluchtstätte bei diesjähriger Sommertemperatur.
August.
Der
Sammler.
Inhalt : Gedenktage im August. Unser Hausgarten . Juli. Von G. U. Fintelmann. Mit der Abbildung der Bambusa reticulata. Trachten der Zeit. Neues aus der Saison. Don Jda Barber. Küche und Baus. August: Jahreszeit des Eßbaren . - Winke und Vorschriften : Schwämme. Blumenkohl. Speisezettel für August. Zum Kopfzerbrechen. Rebus. - für Schachfreunde. - Zusammen. Silbenrätsel. — Homonym. leg Aufgabe. Zweisilbige Charade. Preisrätsel. Silbenrätsel. - Rätsel. Logo: — Röffelsprung. gryph. Auflösungen zu Heft 10. Die Salon Magie. Von Alexander. Der Magnetiseur. magnetisierten finger. Die anscheinende Geldvermehrung. Eine Karte nicht umblasen zu können. Durch Berechnung nachzuweisen, welche von drei Damen die schönste ist. Mit 3 Abbildungen. Berichtigung. Von M. Hilder. Mozart ein Zukunftsmusiker. Pharaoschlange. Bumoreske. Von E. Meggendorfer. Der geftirute Himmel im Monat Auguft.
Gedenktage im August.
1. 1806. Stiftung des Rheinbundes. 2. 1799. ft.3.E. Montgolfier, Miterfinder 3. 1770. geb. Fried. Wilh.III. [ d Luftball. 4. 1704. Engländer erobern Gibraltar. 5. 1737. geb.Graf Struensee,dän.Minist. 6. 1651 Franç. Fénelon, franz. Dichter. 7. 1815. Rapoleon in St. Helena. 8. 1788. ft. 1g. Richelieu, frz. Staatsm. 9. 1631. geb. John Dryden, engl. Dichter. 10. 1792. Bastille erstürmt. 11. 1778. geb. Turnvater Jahn. 12. 1759. Schlacht bei Gunnersdorf. 14. 1841. ft. 3. F. Herbert, Philosoph. 15. 1769. geb. Napoleon I.
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16. 1699. gb.hr. v. Canis, Diplt.u.Dicht. 17. 1786 ft. Friedrich der Große. 18. 1765. Jofeph II. w. Kais. v. Deutschl. 19. 1691 , Schlacht bei Salantemen. 20. 1153. Die Kreuzfahrer erob. Ascalon. 21. 1838. ft. Ad. v. Ghamiffo, dtsch. Dicht. 22. 1789. Menschenrechte in Frankr. protl. 23. 1769. geb. 6. Cuvier, Naturforscher. 24. -25. 1572. Variser Bluthochzeit. 26. 1813. ft. Theod. Körner, Dichter. 27. 1770. geb. W. F. Hegel, Philosoph. 28. 1749. Goethe geboren. 29. 1756. Beginn des 7jähr. Kriegs. 30. 1813. Schlacht bei Gulm.
F. Thiersch .
G. A. Fintelmann.
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Unser
Hausgarten. Von
S. H. Fintelmann.
Auguft. Unter lustigen Gewinden, In geschmückter Lauben Bucht, Alles ist zugleich zu finden, Knospe, Blätter, Blumen, Frucht. Goethe. Im Garten entfalten die Georginen ihre herrlichen Blumen ; Fuchſien , Verbenen , Pelargonien, Hortensien, Phlox und Rittersporn blühen in voller Farbenpracht, und schon bieten die frühesten Kernobstbäume erquickende Früchte dar, den Aufenthalt im Freien durch die Freude , die belohnte Mühe gewährt, verschönernd. In aller Muße können die Annehmlichkeiten des in seiner vollsten Entwicke lung stehenden Gartens genossen werden , gilt es doch hauptsächlich jezt , das Vorhandene gut zu unterhalten, damit durch keine Unordnung ein Gefühl des Unbehagens entstehe , das dem Blütenreichtum, dem üppigen Gedeihen wenig entsprechen würde. Doch mitten im Genuß darf man nicht vergessen, daß Arbeit die Quelle neuer Freuden ist. Durch die bereits notwendig werdenden Vorberei tungen für spätere Zeit macht sich in der Dekonomie des Gartens, in der Pflege der Pflanzen ein Unterschied zwischen diesem und dem vorhergehenden Monat geltend. Der Same der einjährigen und durchwinterten Sommerblumen reist jest und kann gesammelt werden. Der Pfleger des Gartens wird es sich nicht nehmen lassen , solche Sorten und Spielarten, die ganz beſonders gefallen haben, durch selbst gewonnenen Samen, durch eigene Anzucht zu erhalten. Für die Frühjahrsbepflanzung erforder= liche Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen werden zu Anfang des Monats ausgesäet. Die Pflanzen werden noch im Herbst an ihren Bestimmungsort verpflanzt und entwickeln sich bei mäßiger Düngung und richtigem Begießen zu kräftigen Pflanzen , die im nächsten Frühling blühen . Sind die für sie bestimmten Gruppen noch mit Blumenschmuck, vielleicht mit Astern, versehen, so müssen sie auf Vorratsbeete gepflanzt werden , von denen sie Ende März oder Anfang April an den Ort ihrer Anwendung im Garten gebracht werden. Die Erde für Blumensamen darf nicht fett sein und muß viel sandige Teile enthalten. Sie wird geebnet , gut angegossen und durch Rohr oder Holzſtäbchen in kleine Quartiere geteilt, in welche der Samen der verschiedenen Sorten gleichmäßig gestreut und seiner Größe entsprechend mit fein gesiebter Erde bedeckt und angedrückt wird. Gleichmäßige Feuchtigkeit der Saatbeete ist die Hauptbedingung für das Keimen der Körner . Die Silenen , deren dunkles Rosa so herrlich mit dem lichten Blau der Vergißmeinnichte harmoniert, werden erst gegen Ende des Monats ausgesäet , weil keine Pflanzen besser den
Härten des Winters widerstehen , als größere und saftreichere. Auch die Vermehrung durch Stecklinge ermöglicht jezt eine Anzucht weichholziger Florblumen für das folgende Jahr. Seitentriebe, Zweige oder kleine Aeste werden von der Mutterpflanze abgenommen, mit einem ſcharfen Meſſer unterhalb eines Blattwinkels glatt geschnitten und in ſandige Erde gebracht , nachdem man die am unterſten Knoten befindlichen Blätter bis auf einen kleinen Reſt des Blattsticles entfernt hat. Die Stecklinge werden soweit in die Erde gesenkt , daß der zweite Blattwinkel noch etwas über den Boden hervorragt und müssen so fest gedrückt werden , daß die Erde alle Punkte des im Boden befindlichen Teiles dicht berührt. Da man von krautartigen Pflanzen ſolche halbreifen Triebe wählt, welche kurz und gedrungen gewachsen sind , so kann oft als Basis des Stecklinges die etwas verhärtete Scheibe benüßt werden, die den Verbindungspunkt des Haupt- und Nebentriebes bildet. An dieſen geht die Kallusbildung am leichtesten und sichersten vor sich. Dieselbe besteht in der Ablagerung einer körnigen Substanz, eines neu gebildeten Zellengewebes, das der Fäulnis widersteht und dem Bilden wirklicher Wurzeln vorhergehen muß. Einige Pflanzenarten , beſonders Verbenen sind fähig , an der ganzen Rinde entlang Wurzeln hervorzubringen und läßt man daher bei diesen unterhalb des Knotens ein Stück Zweig stehen , das in die Erde gesteckt wird. Am leichtesten wachsen Pelargonien , von denen jeder Zweig , um diese Zeit ins freie Land gesteckt , in Kürze Wurzeln treibt. Wer ein kühles Zimmer, einen trockenen , hellen Kellerverschlag zum Ueberwintern seiner Pflanzen hat, ist auch in der Lage, junge Pelargonien zu erhalten, die im Auguſt vermehrt sind. Die Stecklinge werden zu fünf bis acht Stück in einen Topf gesteckt , möglichst nahe dem Rande des Gefäffes , angegossen , im Halbschatten aufgestellt und durch wiederholtes Ueber: sprisen mäßig feucht gehalten und zeigen bald durch Treiben neuer Blätter , daß sie angewurzelt sind. In diesen Stecklingstöpfen können sie bis zum Frühjahr bleiben , wo sie dann einzeln in kleine Gefäße gebracht werden. Sie kommen ebenſogut durch den Winter wie die noch im frühen Herbſt verpflanzten Exemplare und nehmen weniger Raum ein. Stecklinge von Rosen , die jezt auch leicht wachsen , wenn man sie eine Zeitlang geschlossen hält , d. h. mit Glasplatten bedeckt , die auf dem Rande der die Stecklinge enthaltenden Gefäße ruhen, bleiben am besten bis zum Frühjahr unverpflanzt. Von den herrlichen Varietäten La France, Souvenir de la Malmaison , Général Jacqueminot . Louise Odier, Jules Margottin u. a. können auf diese Weise leicht von jedem Gartenfreunde wurzelächte Pflanzen gezogen werden. Gegen Ende des Monats thut man gut , von den für den Sommer ins Freie gestellten Zimmerpflanzen die wärmeren Arten wieder zu den Dekorationen der Wohnräume zu verwenden. Sie ſind hinreichend gekräftigt, und würden draußen in Folge heftiger Regengüsse und geringer Wärme leicht gelblich werden. Sind Gehölze in Töpfen vorhanden, die zum Treiben bestimmt ſind, ſo muß ihnen
Unser Hausgarten.
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jest ein verfrühter Herbst verschafft werden, in dem man die Gefäße aus dem Boden nimmt , indem sie eingefüttert waren, sie frei hinstellt und mäßig gießt. Ebenso müssen auch die Topfobstbäume frei gestellt werden, damit das Holz gut ausreifen kann. Beide Arten sind gegen lang anhaltenden Regen durch Umlegen der Töpfe oder in anderer Weise zu schüßen. Für die Frühtreiberei lege man schon jezt frühe Hyazinthen , wie Romaine blanche, Homerus, Gellert, Maria Cornelia, frühe Tulpen 3. B. die einfachen Duc van Toll , Krokus , Tazetten und andere Blumenzwiebeln in Töpfe. Im Anschluß an das im vorigen Heft Erwähnte geben wir noch nachträglich in folgendem eine Abbildung der Bambusa reticulata (Fig. 22).
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um den Baum, doch nur dem Umkreis der Krone zu, mit einem stumpf zugespißten Pfahl entsprechend tiefe Löcher in den Boden zu treiben und diese wiederholentlich mit der düngenden Flüssigkeit an zufüllen. Mit dem Spaten dürfen die Löcher auf keinen Fall gemacht werden , weil auch mit der größten Vorsicht ein Beschädigen der Wurzeln nicht zu vermeiden wäre. Ein nicht unbedeutender Teil der zu erwarten : den Obsternte geht oft durch das zu frühe Fallen der Früchte verloren. Die Ursache des sogenannten Fallobstes ist in der Tätigkeit eines Falters , der Tortrix pomonana zu suchen, der im Juni fliegt und je ein Ei in eine Frucht legt. Die daraus entstehenden Raupen — Obstmaden - gehen nach dem Kernhause, gewöhnlich durch den Kelch, wachsen mit der Frucht , die vor der Ernte mit der Farbe der reifen Früchte herabfällt. Die Raupe läßt sich meist schon vorher an einem Faden herunter oder verläßt bald die herabgefallene Frucht. Sie sucht einen Baum zu erreichen und verbirgt sich in der rauhen Rinde, wo sie sich fest einspinnt und jeder Witterung troht. Sie verpuppt sich im Frühjahr und fliegt aus, wenn die Obstbäume blühen. Die Raupen werden gefangen , indem man ihnen ein verhängnisvolles Winterquartier bereitet. Etwa 30 Centimeter über dem Boden wird um den Stamm der Obstbäume ein Stück steifen Papieres trichterförmig gelegt, so daß der obere Rand durch Bindfaden fest an die Rinde gedrückt ist, während der untere Rand etwas absteht. Bei öfterem Nachſehen findet man dann stets eine Menge von Raupen , die sich zwischen Papier und Stamm verspinnen wollen und die auf diese Weise leicht vernichtet werden können.
Fig. 22. Bambusa reticulata. Im Obstgarten verursacht das Kappen der Fruchtreben des Weinstocks und das Zurückschneiden einige Arbeit, die erleichtert wird durch den Anblick der schwellenden Trauben , der mit Früchten beladenen Zweige. Jahr für Jahr entnehmen die Obstbäume Nahrung aus dem Boden und liefern uns Früchte. Es ist daher natürlich, daß nach einer gewissen Zeit ein Mangel an Nährstoffen entsteht, der sich trot guten Schnittes, trog sonniger Lage durch das Schlechterwerden der Früchte, durch das Verkümmern der Bäume offenbart, wenn wir nicht den Bäumen durch richtige Düngung die Bodenbestandteile ersehen, die sie zu unserem Nutzen verarbeitet haben. Die Düngung im Frühjahr bewirkt einen kräftigen Holztrieb ; wird im August den Bäumen Phosphorsäure und schwefelsaures Kali zugeführt , so begünstigen wir die Ausbildung der Fruchtaugen , vergrößern die Fruchtbarkeit. Der Dünger wird den Obstbäumen am besten in flüssiger Form gegeben, und bereitet man sich durch Auflösen von Kuhdünger und Holzasche in Wasser ein Nahrungsmittel, das die oben angegebenen mineralischen Bestandteile enthält . Das bloße Gießen damit würde nur eine geringe Wirkung haben , da der Boden in seinen oberen Schichten als Filter wirkt und nur das mehr oder weniger reine Wasser zu den Wurzeln gelangen läßt. Um dies zu vermeiden , ist es nötig , rund
Trachten der Beit. Neues
aus
der Saison.
Von Jda Barber.
Der Hochsommer zeigt uns , namentlich wenn wir in Kurorten und den belebteren Sommerfrischen Umschau halten, eine so große Anzahl neuer Moden, daß wir uns kaum klar werden, welche Tracht denn nun in erster Linie unseren Beifall verdiene. Die Modedamen aus aller Herren Länder scheinen sich in Orten wie Karlsbad , Marienbad , BadenBaden ein Rendezvous gegeben zu haben, sie alle wetteifern eine Toilettenpracht und Eleganz zu ent falten, die jeder Beschreibung spottet. Da kommen deutsche, englische, französische Kostüme zur Geltung, man sieht Kombinationen von allen dreien , gan; absonderliche Trachten , die wohl im Bade gelten mögen, en ville jedoch niemals Anerkennung finden würden. Die russische Fürstin M. erscheint z. B. des Morgens auf der Kurpromenade in einem myrtengrünen Atlaskleide , dazu Ueberwurf und 74
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Ida Barber .
Talma von bordeaufarbigem Velours mit dunkelgrünen Atlas- Aplikations ; die Gattin eines der ersten Wiener Bankherrn in purpurblauem Samtkleide , das ganz mit écrufarbigem Valanciennes gedeckt ist, eine Berliner Prima Donna in einer aus einem indiſchen Shawl gefertigten Robe, deren Devant und Mantelet aus bronzefarbigem Plüsch gefertigt waren. Noch bizarrer sind die Diner und Soireetoiletten der grandes Dames. Helle , im Genre Louis quatorze gearbeitete Faille- Roben wechseln mit großblumigen Pompadour-Kostümen, deren Hauptwert eine gediegene, zumeist écrufarbige Stickerei ist. Als Haute nouveautée gelten die farbig schattierten auf Mull , Tüll oder Nansock gefertigten Stickereien, die man zumeist zu glatten Stoffen verwendet, während die einfarbigen Stickereien zu geblümten Stoffen garniert werden. Zu den Reunions sieht man in diesem Jahre mehr eigentliche Ballroben als sonst ; es macht einen eigenen Eindruck , dieſe neben einfachen Straßenroben oder auch wohl ganz simplen Hauskleidern zur Geltung kommen zu sehen. Bietet das Badeleben im allgemeinen ein kaleitoskopartiges buntes Bild, ſo ſcheint die Reunion der Kulminationspunkt alles Sonderbaren, Ungereimten. Dort tanzt die elegante Pariserin im einfachen Hut und Straßenkostüm , neben der feurigen Polin oder Ungarin, die en grande toilette décolletée erscheinen , da wieder die hochgeknöpft blonde Miß, die es sogar für unſtatthaft hält , ihren Paletot abzulegen , da die Provinzlerin, die eigens für die Reunion eine elegante Balltoilette aus Paris oder Wien bestellt hat ; jene schon halb verwelkte Schöne, der man daheim ihre vollen vier Dezennien nachrechnet, hat sich hier kokett mit Blumen und Tülldraperieen geschmückt, vielleicht hofft sie, daß diese die jugendlichen Reize zurückzaubern , vielleicht will sie noch einmal, wenngleich nur für wenige Stunden, den süßen Wahn schön, reizend und bewundert zu ſein, Welt der Täuauf sich einwirken lassen. ſchungen ! Alles ist eitel ! Die Schönheit vergeht, der Puh muß von Saison zu Saison zehnfach erneuert werden , er ist für gewisse Damen das eigentliche Lebenselement geworden, sie wüßten nicht, gäbe es keine Mode, womit die Langeweile ver treiben und daß dem so ist , scheint mir in einer Zeit, welche die Frau zur Mitthätigkeit an den großen weltbewegenden Aufgaben auffordert, nicht statthaft. Einfachere, solidere Moden, die nicht zu oft wechseln , wären ein Fortschritt. All der bunte Krims-Krams , der da in den Bädern Bewunderung und Nachahmung heischt , kostet enorm viel Zeit und Geld, die einer besseren Sache würdig wären. Die Bäder sind schon seit Dezennien die Geburtsstätten aller erzentrischen, ja oft lächerlichen Moden ; was dort aufkam , wurde hernach erſt im Herbste und Winter in den Städten getragen. Wenn sich heuer dieselbe Wandlung vollziehen sollte, können wir demnächst auf große damenbrettartig karrierte Gewebe rechnen, auf Stoffe, die wie Goldlackleder, auf Paletots , die wie - Mönchskutten aussehen und zu denen , da der Jupon möglichst kurz ist, hohe Reiterstiefel getragen werden. Hoffentlich hält man , ehe man so extreme Trachten annimmt , noch ein wenig Einkehr beim
gesunden Geschmack, der sich ja jederzeit als treuer Freund und Berater erwiesen. Die demnächſt in München stattfindende Koſtümausstellung dürfte im Modefach manch Nennenswertes zeigen , da die größeren Wiener, Berliner, Frankfurter und Breslauer Firmen, die seither bei Modeausstellungen schon Preise erhalten haben, Modelle einſchicken werden. Die hygienische Ausstellung in Berlin__war, so sonderbar es klingen mag, auch von Modefirmen beschickt. Hygiene und Mode sind oft gar zwei ganz extreme Begriffe, doch nach dem alten Erfahrungssage: Les extrêmes se touchent schien man auch hier einen Ausgleich gefunden zu haben. Madame Weiß, eine der ersten Wiener Miederkünstlerinnen hatte sich die Aufgabe gestellt, verschiedene Mieder, wie sie der moderne Taillenschluß nötig macht, anzufertigen , die speziell für leidende Damen , für junge , in der Entwickelung begriffene Mädchen, für solche , die Neigung zum Schiefwerden haben, konstruiert sind. Zweifelsohne wären ihre Fabrikate, da sie schon von hiesigen Aerzten als ganz trefflich begutachtet sind, in Berlin anerkannt worden, die Ausstellung ist leider ein Raub der Flammen ge= worden. - Da die einzelnen Korsetts, zuvor hier im_Mieder-Etabliſſement der Madame Weiß aus: gestellt waren , bin ich in der Lage, den geehrten Leserinnen einige derjenigen , die namentlich von unsern Orthopäden als die vorzüglichsten gekennzeichnet wurden, näher zu skizzieren. Das ist z. B. der sogenannte Redreſſeur ein für ganz junge Mädchen vortrefflich_konstruiertes Korſett , das vorne , um den Druck zu vermeiden , ganz ohne Mechanik gearbeitet iſt ; unter dem Arm ſind breite, nach hinten einzuhakende Bänder angebracht, welche die Schulter zurückhalten , je nach Bedarf auch die eine Schulter schärfer als die andere anspannen. Die sogenannten Negligee-Mieder sind , obgleich sie der Figur jedweden Halt gewähren , so konstruiert , daß sie keinerlei Druck ausüben. Statt der Maschine ist vorn eine leichte Feder mit Haken und Desen eingelegt , je rechts und links von derselben daumenbreite Gummibänder : unten ceinture hypogastrique, eine namentlich für leidende Damen sehr zweckmäßige Vorrichtung. - In gleicher Weise praktisch dürfen sich die Corsets à soutien er: weisen , die derart arrangiert sind, daß die innen angebrachte Pelotte von einem breiten Blanchette gehalten und durch Gummizug befestigt ist. Die Corsets de mère haben jezt dadurch eine Vervollkommnung erfahren , daß die eingeſeßten Gummiteile aus kreuzweise geflochtenem schmalen Gummiband beſtehen , und daß statt der vorderen Stahlstangen seidene Gummibänder mit Patten angebracht sind. Die Mieder für Magen oder Herzleidende sind gleichfalls vorn ohne Spangen ; statt derselben zwei Schnüre mit Elastikband ; an der Seite eine gleiche Vorrichtung. Die Egaliſateurs bewirken dadurch, daß an schiefen Stellen Einlagen von weißem Roßhaar angebracht sind, daß ſelbſt schlecht gebaute Figuren vollständig normal erscheinen. Ein sogenanntes Reiſemieder beſteht fast ganz aus geflochtenem Gummiband , so daß man es bei Tag wie bei Nacht tragen kann , ohne den gelindeſten Druck zu empfinden. Die Gefahren der Schnürmieder sind so oft
Küche und Hans. und nachdrücklich hervorgehoben worden , daß das Urteil fachkundiger Aerzte, die derartig gearbeitete Mieder für durchaus unſchädlich halten , eine Art von Beruhigung gewährt. Interessant wäre es gewesen die in großer Anzahl zur hygienischen Ausstellung gesandten Schönheitsmittel vor dem Forum einer strengen Kritit ihrem Werte nach begutachtet zu sehen. Fast all jene Poudressalben , ohne die wohl heute keine Modedame glaubt existieren zu können , find der Haut eher schädlich als nüßlich ; eine der unschädlichsten (und deshalb auch wohl von Aerzten viel empfohlen) ist die vom Apotheker Twerdy in Wien erfundene , die , nach genauer Analyse sich als vollständig frei von allen schädlichen Beimischungen erwiesen und sowohl im Winter gegen Frost und Kälte, wie im Sommer gegen Sonnenbrand und Hize trefflich schüßt. Die jeßige Mode bedingt fast , daß jede auf Eleganz haltende Dame ihrem Teint, falls er nicht ganz jugendlich und frisch ist , ein wenig zu Hilfe fommt. Die mit Blumen und Federn reich garnierten Hüte erscheinen durchaus unschön, wenn der Grundton des Gesichts nicht in Uebereinstimmung mit der duftigen Ausstattung ist. Die weiße Feder namentlich bedingt , daß die Haut jenen weichen, ſamtartigen Ton habe , der ihr selbst eigen ist. Man trägt sie heuer nicht nur zu Hüten, sondern umrahmt auch wohl den Hals statt der Rüschen mit breiter, stark gekräuselter, weißer Straußfeder. - Der eben zur Zeit sehr beliebte Fatinizahut ist seitwärts hoch aufgeschlagen mit langer, nach hinten fallender Feder ; links unter deren Aufschlag drei kleinere, bis zur Halskrause (die auch aus Federn gebildet ist) herabfallende Federn. Einfacher, und namentlich für junge Mädchen vorzüglich geeignet ist der große Stephaniehut. Er ist oben durch eine hochstehende Blumencouronne geschmückt, innen mit breiten plissierten Valenciennes unterfüttert. Für ältere Damen empfiehlt sich die kleine aus à jour- Geflecht hergestellte Kapottform. Das Bavolet ist durch eine breite Blumenguirlande gedeckt, der sich ein fingerbreiter mit Blumen garnierter, glatt auf dem Kopf aufliegender Bügel anreiht. Vorgenannte Modelle sind aus dem Hauſe der Madame Neuschütz - Jantschke (Wien) , deren Spezialität die großen Gionellihüte sind , die sich gerade im Hochsommer als Schattenspender vorzüglich bewähren. Als echte, rechte Sommertracht verdienen auch die vorn offenen und doch hochhinaufgehenden Lamballekragen genannt zu wer den; sie sind namentlich für jugendliche Gesichte äußerst kleidsam und werden sowohl aus schwarzem Samt , weißem Nansok , wie auch aus Spigen gefertigt. Einfacher und mehr dem Alltagsbedarf entsprechend sind die aus Spizenvolants gefertigten Wolterkragen (s. unten), die an Stelle der Taillenfichus zu Straßentoiletten getragen werden. Neuerdings fängt man anstatt der schon im Laufe des Sommers bis zum Ueberdruß getragenen englischen und Madeirastickereien, Kreuzstichbordüren zu Kleidern, Schirmen 2c. zu verwenden ; es ist da mancher fleißigen Hand Gelegenheit gegeben, den
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sonst kostspieligen Auspuh selbst herzustellen. Die Kreuzstichstickerei ist gerade jezt seit der Erfindung des vom Meister Denk in Wien neu erfundenen und bereits patentierten Verfahrens in ein neues Stadium getreten. Spielend und ganz mechanisch, ohne abzuzählen, ohne zu vergleichen oder Eckfiguren zu berechnen, fann man vermittels des Denkschen Aufdrückneßes die schwierigsten Muster auf glatte Stoffe übertragen. Es ist sogar, will man in mehrere Farben schattieren, die Vorkehrung getroffen, daß das Muster in drei Nüancen aufgedrückt wird. Da man in letter Zeit dahin neigt, auch Bett , Tisch und Luruswäsche mit Kreuzstichbordüren zu schmücken, scheint diese Erfindung , die sich hierorts schon der größten Anerkennung erfreut, wohl wert in weiteren Kreisen zum Nußen und Frommen derjenigen Stickerinnen , die mit dem steten Abzählen und Vergleichen ihre Sehkraft nicht unwesentlich schädigen, weiter verbreitet zu werden.
Wolterkragen.
Küche
und
Haus.
Auguft. Jahreszeit des Eßbaren. Von Federwild gibt es Trappen, Schnepfen, auch schon Lerchen (Leipziger !), junge Kampfhähne und viele kleinere Vögel. Groß ist der Fischreichtum , da wir die Wahl haben unter Lachsen , Welsen , Zandern , Forellen , Schleien, Bärsen , Bleien , Schmerlen , Gründlingen, Hechten u. s. w., denn alle Fische haben jezt den vorzüg lichsten Geschmack, ebenso befinden wir uns in der besten Froschzeit und ist ein pikant zubereitetes Frikassee von diesen schwanzlosen Lurchen oder Amphibien nur zu empfehlen ; dagegen sind jezt die Krebse schon weniger gut. Gemüse und Wurzeln die Fülle , darunter Perlzwiebeln , Artischocken und die ihr verwandte Kardone oder Karde (spanische Artischocke), desgleichen Pilze aller Art , Tomaten (Liebes- oder Paradiesapfel), Gurken, Melonen .
Winke und Vorschriften. Schwämme pflegt man auf ihre Güte oft mit einem silbernen Löffel zu prüfen , den man in das Gericht steckt.
Küche und Haus.
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Wird derselbe schwarz , so thut man gut, auf den Genuß zu verzichten , weil dieses Zeichen auf die schon eingetretene Entwickelung von Schwefelwasserstoff hindeutet. Zu den im allgemeinen eßbaren Pilzen rechnet man die nach Rosen , Aprikosen, bittern Mandeln oder frischem Mehl riechenden Arten , während alle , welche sich durch lebhafte Farben und widerlichen Geruch bemerkbar machen, für giftig gelten. Blumenkohl läßt sich mit den Wurzeln in feuchten Sand eingeschlagen und die Rosen etwas entfernt voneinander bis in den Winter frisch erhalten, doch müſſen dieſe von faulenden Blättern_ſchnell befreit, auch dürfen die Kronen nicht mit Sand verunreinigt werden. Zum Einlegen bedarf er so viel Fleischbrühe , daß er darin steht. Dieſelbe wird beim Gebrauche mit verwendet. Speisezettel für Auguft. 1) Krebssuppe. Rindfleisch mit Tomatensauce, Kartoffeln und Gurkensalat. Teltower Rüben mit Spicgans. Gebratene Tauben mit Salat und Maulbeeren. 2) Weinkaltschale mit Reis . Wels mit Butter, Senf und Kartoffeln . Blumenkohl mit Zunge. Lammbraten mit Salat und Preißelbeeren . 3) Suppe mit gebackenen Nudeln . Gemiſchtes Gemüse (Chartreuse) mit gebratenen Nieren . Hirschziemer mit Kartoffeln und Gurkensalat. Kirschtörtchen. 4) Kerbelsuppe mit Eierkäſe. Gespickter Hecht mit brauner Kapernſauce und Kartoffeln. Kohlrabi mit Cervelatwurst. Kalbsnierenbraten mit Salat und Johannisbeeren. 5) Jägersuppe. Krebsragout in Muschelschalen. Junge Hühner , gebratene Kartoffeln und Gurkensalat. Flammeri mit Himbeersauce. 6) Suppe mit Kalbsmilch. Gebackene Forellen mit brauner Kräuterſauce und Kartoffeln. Auflauf von Makkaroni, Schinken und Käſe. Roastbeef mit Salat und Birnen. 7) Fischsuppe. Rinderschwänze mit Madeirasauce, Kartoffeln und Mixed Pickles. Rehkeule mit Bohnensalat und Pflaumen. Dampfnudeln. 8) Suppe mit Fadennudeln. Neue Heringe mit Kartoffeln und Butter. Morcheln mit Croquettes von Kalbshirn . Hammelkeule mit Salat und Melone. 9) Legierte Reissuppe. Kalbskopf mit Madeirasauce und Kartoffeln . Wirsingkohl mit Rauchfleisch. Gebratene Schnepfen mit Salat und Erdbeeren. 10) Aprikosenkaltſchale. Gefüllte Schleihen mit Champignonsauce und Kartoffeln. Filet à la jardinière mit Gurkensalat. Johannisbeertorte. 11 ) Suppe mit Portulak. Stettiner Pastetchen mit Hecht und Krebsen . Schwarzwurzeln mit Spicgans. Wildschweinsbraten mit Kartoffeln, Salat und Maulbeeren. 12) Französische Suppe. Escaloppes (gehackte Beefsteats) mit pikanter Sauce und Kartoffeln . Birnen, Klöße und Schinken. Gebratene Wachteln mit Salat und Himbeeren.
13) Suppe mit Sago . Gebackene Weißfische mit Tomatensauce und Kartoffeln. Kalbskeule mit Bohnenſalat und Kirschen. Kalter Reispudding mit Himbeersauce. 14) Suppe mit türkischem Weizen . Kalte Fischpastete. Blumenkohl mit Zunge. Beefsteaks mit gerösteten Kartoffeln, Salat und Quitten. 15) Pflaumenkaltschale. Gebackene Kalbsfüße mit Madeirasauce. Rosenkohl mit Cervelatwurſt. Wilde Tauben auf ſpaniſche Art (mit Tomaten und Schinken) . Salat und Prünellen. 16) Suppe mit gebackenen Schneebällen. Weiße Rüben mit Hecht. Rinderbraten mit Kartoffeln und Gurkensalat. Eierkuchen mit Preißelbeeren . 17) Reissuppe mit Krebsschwänzen . Kalbszungen mit Sauce à la tartare . Champignons mit Schinken. Rehziemer mit Salat und Pflaumen. 18) Julienne-Suppe. Zander mit Butter und Kartoffeln. Große Bohnen mit Hammelkoteletten. Frischling mit Salat und Himbeeren. 19) Suppe mit Leberklößchen . Rinderbruſt mit geschmorten Gurken . Wilde Ente mit Salat und gebratenen Kartoffeln. Charlotte von Birnen. 20) Suppe mit gefüllter Omelette. Mayonnaise von Hummer. Teltower Rüben mit Spickgans . Kalbsnierenbraten mit Salat , Kartoffeln und Kirschen. 21) Wildsuppe. Maräne mit weißer Kräuter: sauce und Kartoffeln. Tauben mit geſtovtem Kopfsalat. Blancmanger mit Johannisbeerſauce. 22) Weinkaltschale mit Reis. Saucischen in Butterteig. Grüne Bohnen mit Hering. Roastbeef mit Kartoffeln, Gurkensalat und Prünellen. 23) Krebssuppe. Klops mit Sardellensauce und Kartoffeln. Kruſtiertes Schweinskarree mit Polenta und Salat. Bavaroise von Pfirsichen. 24) Suppe mit geschnittenem Eierkuchen. Wels mit Butter und Kartoffeln . Morcheln mit gebrate nen Hammelzungen. Hirschbraten mit Salat und Preißelbeeren. 25) Suppe mit Kalbfleischpüree. Granate von Wild mit Blätterteigrand. Blumenkohl mit geräuchertem Lachs. Gebratene Hühner mit Salat und Aprikosen. 26) Fischsuppe. Rinderbrust mit Champignonsauce, Kartoffeln und Gurken. Birnen, Klöße und Schinken. Hammelſteaks mit Bohnenſalat. 27) Sagosuppe. Lachs mit Remouladensauce. Rumpsteaks mit Kartoffeln und Gurkensalat. Sächſiſche Mehlspeiſe mit Früchten und Himbeersauce. 28) Suppe mit Schwemmklößchen. Fischsalat. Kohlrabi mit geröstetem Rindfleisch. Schnepfen mit Salat und Melone. 29) Kaltschale von Pflaumen. Frikassee von Tauben. Rosenkohl mit Zunge. Rinderbraten mit Kartoffeln und Salat. 30) Suppe mit Façonnudeln. Gebackene Forellen. Schwarzwurzeln mit Schinken. Kalbsteaks, Kartoffeln, Salat und Johannisbeeren. 31 ) Suppe mit gestürztem Reis . Gullaſchfleiſch mit Kartoffeln und geschmorten Gurken. Gebratene Beignets von Ente mit Salat und Birnen. Pflaumen.
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Bum
Kopfzerbrechen.
Rebus.
MK
Preisrätsel. Wir brachten in voriger Nummer ein Schlüsselrätsel in neuer Form, das trotz den zahlreichen Versuchen zur Lösung, die man uns mitteilte, nicht gelöst worden ist. Wir geben deshalb die Lösung in diesem Hefte noch nicht und hoffen, daß es dem Scharfe sinn unserer bewährten Löser gelingen möge, die harte Nuß zu knacken. Um diese Mühe in etwas zu versüßen, setzen wir 6 Preise aus und geben als 1. den prächtig ausgestatteten Almanach „Kunst und Leben" (3 Bde. ), als 2. Scherrs Germania" (reich illustr. Volts-Ausgabe), als 3. - 6. je 5 Bände der Collection Spemann nach freier Wahl unter den bisher erschienenen Bänden. Die Ver= losung der Preise unter den Einsendern richtiger Lösungen findet am 15. August statt. Silbenräffel. Die Erste zu sein wünscht ein Jeder, Die Zweite hat nicht Jedermann ; Das Ganze, mit Wort und mit Feder, Kämpft gegen veralteten Wahn.
Rätsel. Einst ist ohne mich gewandelt Einer, der mich schnöd verhandelt; Uebel ist ihm das bekommen, Drum hat er reißaus genommen ; Nun in eines Dichters Buche Steckt der arme Schelm da suche!
Für Schachfreunde teilt uns ein freundlicher Abonnent eine hübsche Aufgabe mit. Dieselbe besteht darin, 8 Bauern des Schachspiels so auf 8 der 64 Felder zu stellen, daß sich niemals zwei in einer geraden oder schrägen Linie treffen, wenn ein Bauer auf la steht, keiner mehr auf al, 2, 3 c., auf la, b, c zc. und ferner nicht auf 2b, 3c, 4d, 5e, 6f, 7g, 8h stehen darf, wohl aber auf 3b und 2c. Es gibt 64 Lösungen für diese Aufgabe und doch ist es nicht leicht, auch nur eine schnell zu finden. Zusammenleg- Aufgabe. Aus den nachfolgenden 12 Linien soll die Form des eisernen Kreuzes gebildet werden.
Logogryph. In Kirchen siehst du's sich erheben Den Fuß ihm ab, von Anbeginn War Waffe es nun Kopf noch hin, So glättet es, was rauh, uneben. Auflösungen zu Heft 10. Re- Rätsel: Silbe. Anagramm: Anker, Ranke. Bus: Mit der Tracht schwinden die Sitten. Silbenrätsel: Bahlenrätsel: Rabe, Aber. Diebstahl. Charade. RußRechenaufgabe: land. Fl. 32 Flaschen 30 Fl . 28 Fl. 26 Fl. 24 FI. oder 22225 216 171 711 261 252 333 22 33 42 616 55 17 717 351 522 171 333 171 252 162 Siehe auch Weltpost. Rösselsprung. von
bol.
fterb.
Awed
mit.
dent'
auch
Li.
sein
bol.
Lei.
油
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Zweisilbige Charade. Das Erste ist ein türk'scher Titel, Das Zweite ein Erholungsmittel ; Das Ganze aber soll durchs Leben Der Pastor der Gemeinde geben.
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ist
ten.
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Homonym. Eines Dichters Mörder bin ich, Oder eine Dichterin ; Manches Sprichwort braucht mich sinnig, Doch verschieden ist mein Sinn.
cher
Lei
glod .
eilt
find
-
Silbenrätsel. Aus folgenden 19 Silben sind 7 Wörter zu bilden, deren Anfangsbuchstaben und Endbuchstaben, von oben nach unten ge= lesen, die Vornamen eines erlauchten Ehepaares ergeben: bers, blau, burg, di, e, eu, frau, him, jung, li, lü, me, mel, na, nant, ne, ra, te, wer. 1) Ein Fluß in Deutschland ; 2) ein hoher Berg in Europa ; 3) Stadt in Hannover ; 4) eine Naturfarbe ; 5) ein bekannter deutscher Schriftsteller; 6) ein vom weiblichen Geschlechte meist be= günstigter Stand; 7) eine arabische Stadt.
ich ift
Salon-Magie.
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nacheinander eintreten , so wird bei den vorher beteiligten Personen das Experiment eine nicht geringe Heiterkeit hervorrufen. Von Alexander. ¹) Die magnetisierten Finger. Biege deine Der Magnetiseur. Der nachfolgende GesellArme vor der Brust in solcher Weise gegeneinander, daß du bei halb geschlossener Hand die Zeigefinger schaftsscherz bringt eine außerordentlich überraschende Wirkung hervor , wenn derselbe mit dem dazu er in der Entfernung einiger 3olle gegenüber hältst. Lasse alsdann von einem Einverstandenen die Arme forderlichen Ernst und mit einer gewissen feierlichen Vorbereitung zur Ausführung gebracht wird. anscheinend, durch darüber hinweggehendes Streichen, Erkläre also irgend jemanden aus der Gesellmagnetisieren und bringe bei dieser Gelegenheit die immer schaft magnetisie: Finger ren zu wollen, es näher zusammen, sei jedoch erforder= bis sich dieselben AISlich, daß sich der berühren. Betreffende mit dir dann drücke sie fest allein in ein Nebengegeneinander. Niemand wird nun zimmer begebe. Alsdann lasse den, im standesein,wenn er auf beiden Seider sich dazu bereit ten das Handgelenk findet, in die Nähe vorn am Arme er: der Wand , auf einen freien Plaz faßt und eine allseßen und ersuche mähliche Kraftanihn , nachdem du strengung anwenin einiger Ent: det , die Finger voneinander zu fernung dich ihm gegenübergestellt , trennen, es sei die Arme mit ge= denn, daß er ruckweise verfährt, was öffneten Händen ihm entgegengenatürlich untersagt werden muß. Die streckt hast , dich unverwandt anzu in diesem Experisehen und sobald mente zur Wirkung du ihn darum er gelangende, dop= suchtest, die Augen pelte Hebelkraft ist eine außerordentzu schließen , um deine Finger sanft lich große. Auf demselben auf dieselben zu Prinzip beruht der Legen. Hast du dies Manöver zweimagnetisierte Arm, bis dreimal mit indem ein gerade einer gewissen von sich gestreďter Arm von einem Feierlichkeit vollandern kaum ein: führt und jedesgebogen werden mal gefragt , ob der Betreffende er kann , wenn der gn a Außerge nichts Betreffende ent Pl em = sprechenden Widerwöhnliches stand leistet. Ein pfinde, was dieser vorhergehendes anverneinen wird, so wiederhole alsdann gebliches Magneti Magnetiseur. Der sieren erhöht nadasselbe Verfahren mit dem Untertürlichdie Wirkung. schiede, daß du im Augenblicke, wo die Augen des zu Die anscheinende Geldvermehrung. Lege auf einen flachen Teller ein goldenes ZehnMagnetisierenden geschlossen sind , den Zeige- und markstück (in Ermangelung deffen ein beliebig Mittelfinger der rechten Hand vorsichtig auf dieselben anderes), fülle ein glattwandiges Trinkglas zum legst und mit den fünf Fingern der linken Hand auf den Rücken der Person tupfft, diese alsdann vierten Teil mit Wasser an, schütte dasselbe über schnell zurückziehst und wiederum in gleiche Lage das Goldstück auf den Teller , erhiße vermittelst mit dem andern Arm bringst. Bei Damen hat eines zusammengedrückten , brennenden Papiers auf dies Experiment, wenn dasselbe gut gemacht wird, kurze Zeit das Innere des Glases, indem du dasselbe umgekehrt über die Flamme hältst, stürze nun häufig einen Schreckensausruf zur Folge. Läßt rasch das Glas über das Gold auf den Teller und man die übrige Gesellschaft dann zu gleichem Zwecke es wird sofort das sämtliche Wasser in demselben emporſteigen. 1) Vgl. Heft 6, Seite 732-734. UNL
Salon- Magie.
Berichtigung.
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addiere diese neuen Zahlen zu den an den Diese lettere Erscheinung ist Folge der in dem Glase befindlichen verdünnten Luft und des äußern Spigen gegenüberstehenden, so wird sich ergeben, daß stets dasselbe Fazit herauskommt. Hier also Luftdruckes, der nach eingetretener gleicher Tem 19, woraus zu folgern ist, daß die drei Damen peratur dadurch einen Ausgleich bewerkstelligt, daß gleich schön sein müssen. Man kann jede beliebige er das zunächst befindliche Wasser in den luftverZahl zuerst anwenden, das Resultat bleibt dasselbe . dünnten Raum des Glases hinein drängt. Man wird nun am Boden des Glases ein Goldstück, in Berichtigung. der Größe eines In dem Artikel Zwanzigmarkstückes Zündhölzer„ Die liegend sehen , welches sichnicht bewegt, fabrik zu Jönköping “ der Nr. 8 dieser Zeitwährend auf der wird zum schrift Oberfläche des WasSchluß die Angabe sers das Zehnmarkgemacht, daß die zu stück und zwar be Jönköping ge= weglich sichtbar ist. gründete neue Die Ursache dieser ZündhölzerErscheinung beruht fabrik eine Etiauf einer eigentümlichen Brechung der kette gewählt habe, welche von dem der Lichtstrahlen , deren älteren Fabrik in nur wissenschaftliche Er wenig auffallender örterung hier nicht Weise verschieden sei zur Sache gehört. Eine Karte und daß darum die Direktion der älteren nicht umblasen Fabrik auf Abände zu können. Biege rung dieses Etikettes eine Visiten oder sonstige Karte in flagbar geworden sei, und die Entscheidung Gestalt eine Brücke, Die magnetifierten Finger. indem man den erlangt habe , daß obern und untern dieses Etikett abTheil derselben 1-2 cm breit umbiegt, wie hier zuändern sei, da durch dasselbe eine Täuschung angegeben . Seße die Karte alsdann mit der des Publikums erzeugt werden könne. Darauf offenen Seite von jemandem mit dem Ersuchen hat der General - Agent dieser neuen Fabrik, Herr Wilhelm H. Schwiecker zu Hamburg, der Redaktion auf den Tisch, dieselbe dadurch umzuwerfen, daß er unter dieselbe bläßt. Mag dieser nun die Karte dieser Zeitschrift eine Abschrift der gerichtlichen möglichst nahe , ja selbst Entscheidung überbis unmittelbar vor dem sandt, aus welcher herMunde haben , es wird vorgeht, daß diese lettere ihm nicht gelingen, dieAngabe unrichtig ist, indem die neue Fabrik selbe umzublasen. Nur wenn man in einiger als zur Führung des von ihr gewählten Etikettes Entfernung langsam und berechtigt erkannt wird, nicht zu kräftig nach der und darum die Direktion Karte bläst, wird dieselbe der alten Fabrik mit umfliegen. Durch Berechnung ihrer Klage zurückzunachzuweisen, welche weisen sei. von drei Damen die Der Verfasser jenes Artikels , welcher durch schönste ist. Zeichne ein ihm gewordene MitDreieck auf ein Papier. Seze an je einer Ede teilungen zu obigem Jrrden Namen einer der tum veranlaßt wurde, FilSingerSc. drei Damen und gib bedauert dies aufrichtig und erklärt sich um so jeder derselben eine beDie anscheinende Geldvermehrung. mehr zu dieser Berich liebige Zahl, z . B. Juno 7, Minerva 3 , Venus 9. tigung für verpflichtet, als ihm der Gedanke , durch seine Angaben die Addiere auf jeder Seite des Dreiecks die beiden geschäftlichen Interessen einer achtungswerten Fa= Zahlen zusammen und sehe das sich ergebende brik schädigen zu können , vollkommen fern geFazit auf die Mitte der Linie zwischen jene. Hier also : drei und 7 gibt 11. Sieben und 9 Legen hat. G. D. Hilder. gibt 16. Neun und 3 gibt 12. Alsdann
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Mozart ein Bukunftsmusiker. - Pharaoschlange. - Der gestirnte Himmel im Monat August.
Mozart ein Zukunftsmusiker. In dem Magazin für Musik", welches K. Fr. Cramer von 1783-1787 in Hamburg herausgab, findet sich ein Urteil über Mozart, das den heutigen Widersachern Richard Wagners zu denken geben mag. Es heißt dort wörtlich: Mozart hat eine Reise nach Prag angetreten. Wie schade, daß er sich in seinem künstlichen Sat, um ein neuer Schöpfer zu werden, zu hoch versteigt, wobei freilich Herz Empfindung und wenig gewinnen! Seine neuen Duar: tetten für zwei Violinen, Viole und Baß, die er Haydn dediziert hat, sind viel zu stark gewürzt und welcher Gaumen fann das lange ausF. halten?"
Pharaoschlange. Vor einiger Zeit kam im Handel ein chemisches Spielzeug vor, das den Namen Pharaoschlange führte und das jetzt, wegen seiner Ge sundheitsgefährlich: feit allgemein verboten ist. Eine kleine Figur von Metall war an ihrem hinteren Teil hohl , es wurde eine kleine Patrone, die in einer Schachtel mitgegeben wurde, in die Deffnung geschoben und angezündet , wonach ein wurmförmiger, 3 that bitt'n um ein Stüd voluminöser, sehr lein Brot. hellbrauner Körper in schlangenförmigen Windungen hervor Die dazu kroch. benußten Patronen kann man leicht auf folgende Weise nachahmen; man nimmt salpetersaures Quecksilberoryd , löst dieses in Wasser , teilt diese Lösung in zwei gleiche Teile und fügt zu der einen Hälfte so lange Rhodankaliumlösung zu , bis der gebildete Niederschlag sich eben löst , worauf man die andere Hälfte der Quecksilberlösung zusetzt. Der entstandene weiße Niederschlag von Rhodanquec silber wird zuerst durch Dekantieren mit kaltem Wasser ausgesüßt , hierauf filtriert und auf dem
Filter bei 100° C. nicht übersteigenden Temperatur getrocknet. Dann nimmt man ihn vom Filter ab, wickelt eine kleine Portion davon in Stanniol ein und zündet die kleine Patrone an einem Ende an, worauf eine Schlange mit den oben angegebenen Eigenschaften hervorkriecht. Das Experiment bietet an und für sich eine sehr komische Erscheinung , nur ist dabei zu erinnern', daß bei dem Verbrennen sich massenhaft Quecksilberund Cyandämpfe entwickeln , deren giftige Wirkungen wohl jedem bekannt sein dürften , man mache daher das Experiment stets unter einem gut ziehenden Schornstein oder an einem zugigen Ort.
Der geftirnte Himmel im Monat Auguft. Auch in diesem Monat erblickt man die Milchstraße in großer Pracht, ja sie ist jezt noch besser sichtbar als im Juli, weil die Dämme rung weniger stört. Nahe dem Scheitelpunkte steht nun das Sternbild des Schwans und bietet mit seiner Umgebung einen ungemein schönen Anblick dar. Südlich davon sieht man die Sterne des Gelt's Gott - wenn's der Delphin und oft= Wind nit nimmt. wärts steht der Adler. Der tiefere Himmel gegen den Horizont erscheint dagegen sehr sternarm. Im Südosten ist das Sternbild des Wassermanns gut sichtbar und ostwärts davon steht der Pegasus , dessen vier Hauptsterne ein Trapez bilden. Jm Nordoften ist Andromeda schon höher über den Horizont gekommen und gegen Norden steht ganz Der große tief das Sternbild des Perseus. Bär nähert sich im Nordnordwesten dem Horizont und westlich davon ist Bootes im Untergehen begriffen.
Verantwortl. Herausgeber : W. Spemann in Stuttgart. Redakteur : Joseph Kürschner ebenda. Uebersetungsrecht vorbehalten. Nachdruck, auch im Einzelnen, wird strafrechtlich verfolgt. Drud von Gebrüder Kröner in Stuttgart.
Die Jungfrau.
Die Gefahren der Gletscherwelt. Bon
Sugen Simmel.
ahlreich
und
oft
furchtbar sind die Bergsteiger zu überwinden hat, den es treibt, in die geheim nisvolle Gletscherwelt des Hochgebirges einzudringen, um dort das vielleicht erhabenste Schauspiel zu genießen, welches die Natur zu bieten vermag. Ich spreche nicht von den Gefahren, welche Unerfahrenheit und Mangel an den durchaus erforderlichen geistigen und körperlichen Eigenschaften über den Bergsteiger heraufbeschwören. Wer ohne die notwendige, langdauernde Vorübung an leichteren Aufgaben, ohne tüchtige und erprobte Führer schwierige Gletschertouren unternimmt, wer nicht über einen vollkräftigen, elastischen Körper und einen
schwindelfreien Kopf verfügt, wer nicht mit Besonnenheit gepaarten Mut und Ausdauer im Ertragen von Strapazen besigt, und dennoch vermessen genug ist, jene gewaltigen, eisgepanzerten Bergriefen erklimmen zu wollen, - für den potenzieren sich die Gefahren in erschreckendem Maße und erwachsen neue, die dem berufenen Bergsteiger unbekannt bleiben. Diesen nur für den Unkundigen und Unfähigen vorhandenen Gefahren ist der bei weitem größte Teil aller der sich jährlich in den Alpen ereignenden Unglücksfälle zuzuschreiben, die das Bergsteigen in den Ruf tollkühner unverantwortlicher Unternehmungen gebracht haben, während doch nur eitle Selbstüberschäzung und frevelhafter 75
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Eugen Simmel.
Leichtsinn die Schuld an jenen erschütternden. Unglücksfällen tragen, die in jedem Sommer eine stehende Rubrik in den Spalten der Zeitungen bilden. Von diesen Gefahren soll hier nicht die Rede sein, sondern von jenen, welche mit der Natur des Hochgebirges unlösbar verknüpft sind, denen sich auch der tüchtigste und vorsichtigste Gletschermann nur zum Teil zu entziehen vermag, weil ihr Eintritt oft jeder Berech nung spottet und ihre Kraft eine so gewaltige ist, daß auch der kraftvollste und entschlossenste Mann ihnen gegenüber in die Rolle eines hilflosen Kindes gerät. Es liegt nahe, hierbei in erster Linie an die Lawinen, oder richtiger Lauinen zu denken, an jene wenigstens dem Bilde nach allbekannten Ablösungen ungeheurer Schneemassen, welche von den schräg geneigten Firnfeldern herabgleiten und, an Umfang und Kraft rapid wachsend, alles, was sich auf ihrer Sturzbahn findet , Wälder, Häuser , Menschen mit sich reißen und unter sich begraben. Allein für den Bergsteiger sind die Lawinen doch weniger gefährlich als für die ständigen Bewohner der Alpen. In seiner furchtbarsten Gestalt, als
glückte am 28. Februar 1864 einer der ausgezeichnetsten Führer der Schweiz , namens Bennen, der mit Unterstüßung von drei Lokalführern zwei Herren auf den Haut de Cry begleitete. Die ganze Gesellschaft marschierte bis über die Hüften im tiefen Schnee; Bennen sprach wiederholt seine Besorgnis aus , daß eine Lawine entstehen könnte, wurde aber von den drei anderen Führern überstimmt. Plöglich spaltete sich das Schneefeld vor ihnen, der Boden, auf dem die Gesellschaft stand, setzte sich langsam, dann immer schneller werdend in Bewegung, und in wenigen Sekunden waren alle sechs Personen fortgerissen und im Schnee begraben. Bennen und der eine Touriſt waren sofort tot , die vier anderen Teilnehmer vermochten sich, mehr oder minder schwer verlegt, aus der sie bedeckenden Schneeſchicht zu befreien. Zu den selteneren Fällen, daß der Bergsteiger von einer von oben herabstürzenden Lawine getroffen wird, gehört der Unglücksfall des Schweizer Lehrers Merz mit einem Kollegen und dem sehr tüchtigen Führer Biſchoff. Sie unternahmen, durch das Gletscherſeil verbunden, den berüchtigten Aufstieg zur Jungfrau durch das Rotthal und befanden sich in einem
sogenannte Staublawine , tritt dieses Naturereignis nur im Winter ein, während die im Frühjahr und Sommer niederbrechenden Schlagoder Grundlawinen meist regelmäßige Passagen besigen, die schon aus der Entfernung erkennbar sind und Lawinenzüge genannt werden. Der erfahrene Bergführer, namentlich wenn er einen Berg schon wiederholt bestiegen hat, kennt diese Lawinenzüge genau und weiß sie zu vermeiden. Die verhältnismäßig seltenen Fälle jedoch, wo im Sommer eine Lawine an unerwarteter Stelle sich bildet, haben allerdings fast ohne Ausnahme den Tod oder schwere Verletzung der von ihr Betroffenen zur Folge, weil ihrer entseßlichen Macht und Schnelligkeit gegenüber eine Rettung, ein Entrinnen fast undenkbar ist. Die
sogenannten Couloir , als sich plöglich eine Lawine auf sie herabwälzte ; das Seil zerriß durch Reibung an den scharfen Felsen, Merz wurde auf einen seitlich herausstehenden Felsen geschleudert, seine beiden Gefährten aber in die Tiefe gerissen. Ihre Leichen fand man nach geraumer Zeit im Eiſe eingefroren ; Merz konnte sich, nachdem eine der ersten unmittelbar fol-
meiſten dieser Unglücksfälle entſtehen aber durch Lawinen, welche nicht von oben auf die Bergsteiger herabstürzen, sondern durch solche, welche von diesen selbst hervorgerufen werden. Liegen nämlich große Schneemassen nicht fest auf ihrer schräggeneigten , felsigen Unterlage, so genügt häufig ein einziger unvorsichtiger Tritt, um die ganze Masse in gleitende Bewegung zu setzen, die, rapid sich steigernd, in wenigen Sekunden alles mit sich fortreißt. In dieser Weise verun-
gende zweite Lawine an ihm vorübergesaust war, im Verlauf von fünf Tagen bis zur Stufensteinalp schleppen, wo er endlich mit erfrorenen Füßen und in bejammernswertem Zustande gefunden wurde. Gegen Ereignisse der lezteren Art, d. h . gegen eine von der Höhe herabstürzende Lawine, gibt es absolut keinen Schuß, während die Bildung der Lawinen durch den Bergsteiger theoretisch immer einen Fehler desselben darstellt, wenn solcher auch in der Praxis selbst mit der höchsten Vorsicht nicht immer zu vermeiden ist. In gewisser Beziehung noch gefährlicher sind die allerdings im Hochsommer nur selten eintretenden Schneestürme. Der Umstand, daß ein Schneesturm nur in bedeutenden Höhen auftritt, wo der Schnee noch nicht die Konsistenz besist, die ihn allmählich zum Gletschereis
Die Gefahren der Gletscherwelt.
werden läßt, sondern wo er noch ohne Zusammenhang , staub oder pulverförmig ist, dieser Umstand vergrößert seine Gefährlichkeit ganz bedeutend, denn in jenen Höhen ist der Bergsteiger so weit von jedem Zufluchtsort entfernt, daß ihm kaum eine Rettung winkt, die zudem auch dadurch erschwert wird , daß in den gewaltigen, durch den Sturm hoch in die Luft gewirbelten Schneemaſſen ſelbſt ſonſt tüchtige Führer die Richtung vollständig verlieren. Diesem letteren Umstande dürfte namentlich der furchtbare, in den Annalen der Bergbestei gungen ziemlich vereinzelt dastehende Unfall zuzuschreiben sein , der am 5. September 1870 einer Gesellschaft von nicht weniger als 11 Personen, 3 Amerikanern mit 8 Führern, bei einer Besteigung des Montblanc das Leben kostete. Die Gesellschaft hatte den Gipfel glücklich erreicht und war im Begriff, wieder abzusteigen, als ſie unerwartet von einem furchtbaren Schnee sturm überfallen wurde, aus dem es keine Rettung gab. Daß dies die Ursache ihres Todes war, hat man aus dem Tagebuch eines der Verunglückten ersehen , das man später bei seiner Leiche fand. Erst zwölf Tage nach dem Abgang der Gesellschaft aus Chamounix fand man die vollständig gefrorenen Leichen von fünf Teilnehmern, die sechs übrigen sind bis zum heutigen Tage noch nicht aufgefunden. Auch der Tod des russischen Naturforschers Professor Fedschenko am 15. September 1873 auf dem Col du Géant war die Folge eines Schneeſturmes ; seine beiden Führer retteten sich. Der Umstand , daß die beiden hier erwähnten Unglücksfälle im September eingetreten sind, weist wohl darauf hin, daß, wie auch leicht begreiflich, die Gefahr der Schneestürme mit dem Herannahen des Herbstes sich steigert. Den Lawinen und Schneestürmen müssen die sogenannten Steinschläge angereiht werden, die von den Bergsteigern vielleicht noch mehr gefürchtet werden als jene Elementarereignisse. Man versteht darunter das Los lösen von Gesteinsfragmenten von verschiedenster Größe, die auf den Touristen aus der Höhe des zu besteigenden Berges herabstürzen und dem Betroffenen fast sicheren Untergang bereiten. Unaufhörlich zehren Luft und Feuchtig keit an dem stolzen Bau der Alpen , die sich in langsamer , aber unaushaltsamer Verwitte rung befinden. Wenn nun auch der Einfluß der Atmosphäre auf die verschiedenen Gesteinsarten
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ein sehr ungleicher ist, so unterliegen sie doch sämtlich dieser Einwirkung und daher ist die Gefahr der Steinschläge bei jeder Felskletterei, wie sie fast bei jeder Besteigung vorkommen, vorhanden. Das Losbrechen von Steinen bei der Besteigung selbst hat der erfahrene Tourist zu vermeiden; in der sorgfältigsten Prüfung jedes Steines mit Händen und Füßen, sobald man sich auf augenscheinlich brüchigem Gestein befindet, in dem leichten und doch sicheren Auftreten, das Partieen dieſer Art erfordern, zeigt sich der erfahrene und tüchtige Berggänger. Ein einziger falscher Tritt, der einen Stein. loslöst, würde sowohl den Bergsteiger selbst in die größte Gefahr bringen, als auch seine hinter ihm gehenden Begleiter in höchstem Maße gefährden. Vollständig machtlos aber ist der Bergsteiger, wenn sich, durch atmosphärische Einflüſſe gelockert, aus bedeutender Höhe über ihm Steine lösen und auf ihn herabstürzen. Glücklicherweise fündigen sich Steinschläge gewöhnlich durch ein dumpfes Gepraſſel an; zuerst fliegen meist ganz kleine Steine herab, ist es nicht möglich, in dieſem Augenblick auszuweichen, bevor die größeren Steine hagelartig herabſauſen , dann wird ein Unglück unvermeidlich. Den bisher geschilderten Naturereignissen, den Lawinen, Schneestürmen und Steinschlägen, welche man die durch ihre eigene Bewegung den Bergsteiger gefährdenden nennen kann , stehen jene Gefahren gegenüber, die die ruhenden zu nennen sind, die der Bergsteiger vor sich sieht und die dennoch, selbst bei höchster Vorsicht und Erfahrung, nicht immer zu vermeiden sind. Zu den bedenklichsten dieser Gattung gehören die sogenannten Schneewehen oder SchneeDer Uebergang von einer tiefer wächten. liegenden Stufe des Berges zu seiner Spiße wird bei den meisten Hochgipfeln durch einen Grat vermittelt, d. h. durch einen aus dem Gletscher sich erhebenden meist sehr schmalen und auf beiden Seiten von tiefen Abgründen umgebenen Felsrücken , der zu dem Gipfel hinaufführt. Sobald es nun längere Zeit geschneit hat und der Grat bis zu einer gewissen Höhe mit Schnee bedeckt ist, wächst diese Schneeschicht nach den Seiten hin und erheblich über ihre felsige Unterlage hinaus, so daß also Teile der Schneeschicht nach beiden Seiten des Grates hin frei in der Luft über dem Abgrunde schweben. Es ist ohne weitere Beschreibung verständlich, daß, wenn man beim Ueberschreiten
Engen Simmel.
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zollbreites Hinübertreten auf die Schneewächte könnte den Sturz indieTiefeundermeidlich machen. Eine ziemlich bedenkliche Passage dieser Art hatte Schreiber dieses bei seiner am 25. Juli 1875 unternommenen des Besteigung Biz Bernina (4052 m) im Ober-Engadin zu überwinden. Der zu dem Gipfel dieses höchsten Berges der Ostschweiz hinaufführende Grat ge= hört selbst unter günstigsten Eisverhältnissen zu den unangenehmsten seiner Art; er wird aus einer Anzahl stufen-
Ninderhorn. eines solchen Grates diese in der Luft schwebende Schneeschicht, welche Wehen oder Wächten genannt werden, betreten würde, dieselbe losbrechen und mit dem Bergsteiger in den Abgrund stürzen würde. Steht man auf einem solchen Grat und überblickt denselben in seiner weiteren Ausdehnung, so hat man eine schein bar breite und gangbare Schneefläche vor sich, während der darunter liegende, wirklich begehbare Weg oft um die Hälfte oder den dritten Teil schmaler ist, und niemand nach dem Augenschein zu beurteilen vermag, wie weit der Fuß sicher zu treten wagen darf. Ein vielleicht
weise emporsteigender Felskämme gebildet, die teils mit Eis bedeckt sind und sich durch außergewöhnlich geringe Breite, die nur selten 1-11/2 Fuß überschreitet, auszeichnen. Zu beiden Seiten blickt man einige hundert Fuß hinab auf den Gletscher. Vor meiner Besteigung hatte es viel geregnet, also in der Höhe geschneit, und als wir endlich die an und für sich schon den schwierigsten Teil der Besteigung bildenden Grate betraten, fanden wir dieselben dicht mit neugefallenem Schnee bedeckt. Die Vermutung, daß sich bei der äußerst geringen Breite der Grate Schneewächte gebildet haben könnten, erwies sich sehr bald als gerechtfertigt und es erwuchs daraus meinem Hauptführer, dem trefflichen Christian Graß , eine mehrstündige, schwierige Arbeit, indem er, am Seil gehalten, jeden Schritt dadurch vorbereiten mußte, daß er mittelst seines Eisbeils den lockeren Schnee von dem Grat abstieß. Unaufhörlich rollten unter seinen kräftigen Schlägen die Schneemassen rechts und links neben uns in die Tiefe und zeigten
Die Gefahren der Gletscherwelt.
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uns den Weg , den jeder Bergsteiger unfrei | zu verteilen und dadurch zu verringern, allein es gewährt dies doch nur einen sehr problematischen willig genommen hätte, der sich diesen SchneeSchuß; selbst das Seil ist, wenn die Gletscherwächten anvertraut hätte! Einer solchen ist auch höchst wahrscheinlich spalte breit ist, nur von zweifelhaftem Wert, wie der am 6. September 1877 eingetretene schrecku. a. der Unglücksfall zeigt, der dem Engländer liche Unfall am Lyskamm, dem Nachbar des Marschall und seinem Führer Fischer am Monte Rosa, zuzuschreiben. An jenem Tage 30. Auguſt 1874 das Leben kostete. Diese unternahmen zwei englische Alpenklubbiſten mit beiden und noch ein zweiter Führer Almer drei Führern , den renommierten Gebrüder befanden sich bei einer Besteigung des MontKnubel, die Besteigung jenes Berges, am blanc auf dem Fresnay-Gletscher, auf dem sie bei folgenden Tage fand man die fünf Leichen zer hellem Mondschein langſam vorwärts ſchritten. schmettert 3-4000 Fuß unter dem zum Gipfel | Gerade um Mitternacht war es , als eine des Berges führenden Grat. Mit Sicherheit Schneebrücke unter ihren Füßen einbrach und ist die unmittelbare Todesursache nicht zu be- sie alle drei in den eisigen Abgrund riß. Marstimmen gewesen ; es hat jedoch die meiste schall fand durch eine Zerschmetterung der Wahrscheinlichkeit , daß die Gesellschaft, oder Hirnschale sofortigen Tod, auch Fischer dürfte auch vielleicht nur einer derselben , auf eine seinen schweren Verlegungen sehr bald erlegen Schneewächte getreten ist, deren Vorhandensein sein. Allmer , weniger schwer verleßt , lag man nicht ahnte, und im Sturz seine übrigen | ſtundenlang bewußtlos , bei Tagesanbruch geBegleiter mit sich gerissen hat. lang es ihm nach furchtbaren Anstrengungen Den heimtückischen Charakter dieſer Schnee- sich von dem Seil zu lösen, das die Gefährten verbunden hatte, und aus der Gletscherspalte wächten, gegen die sich oft jede Erfahrung und Vorsicht machtlos erweist, teilt noch eine andere zu entkommen. Glücklicher verlief ein Abenteuer , das Professor Tyndall bei einer Bedem Bergsteiger drohende Gefahr : die Schneesteigung der Jungfrau auf dem Aletschgletscher brücken. Es ist bekannt , daß die Gletscher begegnete. Er hatte zwei Träger vorausgenur selten die reine Eisoberfläche zu Tage fandt und folgte mit dem Führer Bennen treten laſſen, ſondern meist mit einer Schneenach. Nach einigen Stunden sahen sie plögschicht bedeckt sind , ebenso daß die Gletscher lich den einen Träger verzweifelt auf dem vielfach von Spalten und Schründen durch zogen sind , von den verschiedensten Breiten Gletscher stehen und erfuhren , als sie näher kamen, zu ihrem Entseßen , daß der andere und oft mehrere hundert Fuß tief. Liegen Träger mit einer Schneebrücke zusammengedie Gletscherspalten offen zu Tage, so sind sie zu überspringen oder zu umgehen, sind sie aber brochen war und in der Spalte liege. Unmit Schnee bedeckt, so bilden sie eine der größglücklicherweise hatte gerade dieser Träger das ten Gefahren. Man glaubt eine gangbare Seil bei sich ; man mußte also Röcke, Westen Schneeschicht vor sich zu haben, nichts verrät, und Hosenträger zuſammenknüpfen, an welchem daß unter einer dünnen Lage Schnee ein Abimproviſierten Seil dann zwei Personen hinabgrund gähnt , aus dem nur selten Rettung gelaſſen wurden. Der Verunglückte lag fast 40 Fuß möglich ist. Diese Schneelagen , welche eine tief, von maſſenhaften Eistrümmern bedeckt, Gletscherspalte trügerisch bedecken, heißen Schneeaber er lebte noch, und nach unerhörten Anbrücken und sie sind hauptsächlich die Veranstrengungen gelang es, ihn aus der Eismaſſe, lassung, daß sich die Teilnehmer einer Bestei in der er bereits vollständig eingefroren war, gung durch ein Seil verbinden , damit, falls | herauszuhauen und an die Oberfläche des einer derselben mit einer Schneebrücke zusammen Gletschers zu ziehen. Er hatte nur leichte Verlegungen erlitten. Tyndall , dieser unerbricht, die übrigen die Möglichkeit haben, den schrockene Gletschermann, war von diesem AbenVerunglückten mittelst des Seiles aus dem teuer so stark erschüttert, daß er sich gelobte, nie eisigen Grabe emporzuziehen. Hegt man den wieder einen Gletscher zu betreten, welches Verdacht, sich auf einer Schneebrücke zu befinden, so versucht man wohl, indem man sich Gelübde er allerdings im nächsten Sommer bereits wieder vergessen hatte. auf den Bauch legt und vorsichtig mit Händen Während die Gefahr eine trügerische Schneeund Füßen sich vorwärts bewegt, den durch den brücke zu betreten, fast auf jeder Gletschertour Körper ausgeübten Druck auf eine größere Fläche
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Hans Wachenhnsen. Von Rhein und Moſel.
vorhanden ist, tritt die Gefahr , durch einen Gletschersturz zu verunglücken , nur sehr selten ein. Wenn das felsige Bett, in welchem der Eisstrom des Gletschers dahinfließt, plößlich eine Senkung erfährt, so ist der Gletscher gezwungen, dieser Bewegung zu folgen, wobei seine unelastische Eismaſſe vollständig zerrissen Einen annähernd deutlichen Begriff wird. von dieser Erscheinung gibt ein über eine schräge breite Felswand niederſtürzender Waſſerfall, der im Augenblick des Herabstürzens gefroren gedacht wird. Nur daß die harte Eismasse bei dem Absturz in einer Weise zerriſſen wird , wie es ſich auch die lebhafteste Phantasie nicht vorzustellen vermag. Einen der großartigsten Gletscherstürze bildet der Morteratsch-Gletscher im Engadin ; über ihn führt der Weg auf die Spite des Piz Bernina. Es sind jezt sieben Jahre , daß Schreiber dieses die Passage machte, die ihm furchtbares unvergeßlich bleiben wird. Ein furchtbares Chaos. Hohe Verge und tiefe Thäler von blinkendem, blau und grün schimmernden Eise. Haushohe Wände , kolossale Blöcke von Eis, in den phantastischsten Gestalten. Ein Labyrinth, aus dem jeder Ausweg unmöglich scheint. Die Gefahr, die in ſolchem Gletscherſturz droht, liegt in der fortdauernden Veränderung und Bewegung dieser Eismassen , und nur einem. seltenen Glück hat es der hervorragende Gletschermann Dr. Güßfeldt zu danken, daß er bei einem Abenteuer, das er in dem eben geschilderten Gletschersturz am Bernina erlebte, dem unvermeidlich scheinenden Tode entrinnen fonnte.
Preis, mit dem Dr. Güßfeld diese wunderbare Rettung bezahlen mußte. Steinschläge Lawinen - Schneestürme – Schneewehen -— Schneebrücken - Gletscher= sturz — das sind die wirklichen Gefahren, die dem Bergsteiger drohen, sobald er die Einöde des Hochgebirges betritt. Von den bei weitem zahlreicheren Gefahren, denen der Mangel an den erforderlichen geistigen und körperlichen Eigenschaften den allzu kühnen Neuling auf diesem schwierigen Terrain aussetzt , wollten diese Zeilen nicht sprechen, die nur den Nachweis führen sollten , daß es in jenen Höhen Naturgewalten gibt , gegen welche auch die beste Kraft und die höchste Vorsicht des Menschen sich ohnmächtig erweisen. Und doch soll sich dadurch niemand abschrecken laſſen , ſich den erhabensten aller uns gebotenen Naturgenüsse zu verſchaffen, wenn man an allmählich an Schwierigkeit zunehmenden Versuchen den Beweis seiner Befähigung zu den höchsten Aufgaben geliefert hat. Jene geschilderten Gefahren, so furchtbar sie auch sind, gehören doch zu den relativ seltenen Erscheinungen , und
dem kühnen Bergsteiger lächelt das Glück.
Yon Rhein und
Mosel.
Zwei Augenblicksbilder. Von
Hans Bach e n hu se n. Er befand sich mit seinem Führer Hans Graß in diesem Eislabyrinth, zur Rechten stand eine Stückchen aus wei Geschwist hohe Eiswand, links öffnete sich ein tieferve mesischen sind's Mosel und der Herzgegend r sia er,der Schlund. Plöglich hörten sie ein donnerähndes Rheines, von denen ich erzähle zu einer Zeit, liches Krachen; mächtige Eisblöcke flogen über wo eben der Mauermensch sein Kontobuch, seinen sie und die rechts stehende Eiswand fort, diese selbst beginnt sich zu bewegen, der Boden Schreibtiſch ſchließt, den Hausſchlüſſel an den wankt unter ihren Füßen, und in einem Augen- Nagel hängt und hinausgeht in die schöne Welt, blick werden sie beide mit rapider Schnelligkeit in die nirgendwo schöner ist , als an den Stäteinen hundert Fuß tiefen Abgrund gerissen. ten , von denen ich so gerne spreche ; denn die Mosel ist's , mit deren Wasser ich geGraß lag zwischen den herabgestürzten Eistauft ward, und der Rhein ist mein Nachbar blöcken fest eingefeilt, Dr. Güßfeldt hatte den seit zwölf Jahren. Ich sehe ihn in guten und Gebrauch seiner Gliedmaßen behalten, und nach schlechten Tagen , wenn des Frühlings erste den furchtbarsten Anstrengungen und UeberSonne die Berge und die Burgen beleuchtet, windung einer tiefen Ohnmacht gelang es ihm, wenn die Dampfer mit ihrem von reiselustigen. den Führer zu befreien und sich dann mit Köpfen garnierten Verdeck durch die goldige seiner Hilfe aus dem eisigen Abgrund empor Flut schaufeln, wenn sich im grauen Nebel zur zu arbeiten. Eine zerbrochene Rippe war der
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H.GÜNTHER.se.
Gut Better.
Son Oskar Pletsch.
Aus dem Leben der Kleinen.
Jon Oskar Pletsch. Von
Wit Reimen von Viktor Blüthgen.
II. Gut
efter.
Guten Morgen, liebes Himmelsblau : Wie lang' warst du versteckt ! Ein Wolkenmantel schwer und grau Der hielt dich zugedeckt. Es hat geregnet sieben Tag', Sieben Tag ', ein Graus! Da saßen unsre Kinderchen Wie eine Schneck' im Haus.
Nun lacht das Grün, die Schwalbe fliegt, Es spielt der Mücklein Heer, Und wo ein blihend Tröpflein liegt, Da glänzt die Welt nur mehr. Das Lüftchen lockt so sommerlind : „Lieblich spielt sich's heut“ . Flieg aus, flieg aus, du Zappelkind, Und such' dir deine Freud'!
Sie wollten gern im Garten geh'n, Da war der Weg so naß, Da war kein Ding vergnügt zu ſeh'n, Als nur das Regenjaß. Die Spaten piepten faul im Wein, Hatten schlechten Mut, Nun kam der lichte Sonnenschein, Macht alles wieder gut.
Die Schwalbe schwingt sich ohne Rast Nach froher Vöglein Brauch ; Und ob du keine Flügel hast, Zwei Veinchen thun es auch. Zwei Beinchen rund, zwei Beinchen klein Strampeln durch den Kies, Und Himmelblau und Sonnenschein Bau'n rings ihr Paradies .
Zeit der Lese die Gestalten der unter ihren Lägeln keuchenden Wingertsleute wie Schatten und Gespenster zeichnen und wenn der gewaltige Strom das Joch des Eises bricht , die Schollen hoch auftürmt zwischen den ihn so eng einschließenden ſteinernen Banden und die riesigen Kristallmassen die felsigen Ufer erschüttern. Wer beim goldenen Mainz oder bei Biberich einen der großen Salondampfer besteigt . und am schönen Sommermorgen unter dem
Destrich , Winkel, sie alle kennt der Reisende schon aus der heimatlichen Weinkarte ; jezt schaut er ehrfurchtsvoll hinauf zum Johannisberg, dessen Schloß der Abt von Fulda an Stelle des Klosters erbaute, der wackere Mann, der, als er zu revidieren kam, in der Tasche jedes Mönchs kein Brevier, wohl aber einen Stöpselzug fand. Folgt Geisenheim, das weinbewährte , für jeden Kundigen erkennbar an den Doppeltürmen, die auf jeder Etikette ebenso Zeltdach hinausschaut auf das herrliche Strom- | wahrhaft abgemalt sind , wie der Inhalt der paradies , dem muß das Herz aufgehen oder Flasche gewöhnlich kein Geiſenheimer iſt ; dann, er hat keins in der Brust, und wärmer und wenn die Höhen des Niederwaldes näher und dankbarer muß das Herz schlagen, wenn das näher herantreten, um gleichsam die Rheinbucht Auge über die grünen Inselauen, über die zu schließen, braust der Dampfer an dem zu den Füßen seiner Berge liegenden, poetischen Perlenkette der im lauschigen Grün am Ufer
liegenden Villen und Schlösser zu den Höhen | Rüdesheim entlang, aus deſſen Laube die Zecher des Taunus hinaufblickt, wenn Dorf um Dorf | mit Tüchern dem durstigen Reiſenden entgegenmit den sich über ihnen erhebenden Weinbergen winken, ein Evoe rufend und den blinkenden verschwindet und der Dampfer den eigentlichen Römer schwenkend . Es ist, als dufteten die Sonnenstrahlen nach Rheingau bei Walluf erreicht. Ein Edenist's, dieses herrliche Naſſau, das Gott Rebensaft, dieſelben, die ja die saftige Traube so hoch begnadet, daß er die Quelle des perlen hier zeitigen, als winke uns aus jedem der Wirtzden Selters neben der des goldfunkelnden Reben- häuſer, an deren Gärten der Dampfer vorübersaftes fließen läßt, so daß keiner in schlechter Laune zieht, ein Arm entgegen, der uns winke : „ Bleib'! das Land zu verlassen braucht, wenn er sich einEs trinkt sich nirgends so gut wie hier! " Das mal mit Bacchus erzürnt. Schierstein, Walluf, Auge vermag nicht das ganze Panorama zu Eltville, Erbach, Hattenheim, der Steinberg, umfassen: hier zur Rechten Rüdesheim mit
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Hans Wachenhusen.
seinen unsichtbaren Weinkatakomben, über ihm die Steinterrassen der Weinberge, vor uns aufsteigend der berühmte „ Berg ", die waldigen Höhen des Niederwald , auf welchem weithin sichtbar die Germania demnächst emporragen wird. Und drüben links zu den Füßen der Höhen, auf seinem flachen Üfervorsprung, der Mäuseturm, gleichsam warnend vor den Stromschnellen des Binger Lochs, das Nahe- Bett mit der Brücke, das sich der Rhein einst zwischen die Berge gegraben, die Stadt Bingen, gekrönt vom Scharlachkopf, vom Rochusberg, darunter
die Burg Klopp und weiter hinauf zur Seite die Rochuskapelle, weit hinausschauend auf das rechte, von Reben übergrünte, stufenförmig ansteigende Ufer. Lang hingestreckt liegt Rüdesheim am Ufer ; der alte Turm, die Boosenburg mit dem Obeliskenturm, ehedem den Grafen von Boos gehörig, der Brömserhof, aus dem 15., die katholische Kirche aus dem 14. Jahrhundert und endlich die Brömserburg sind die aus der zur Höhe ansteigenden Stadt hervorragenden antifen Monumente ; namentlich die lettere, ein
Rüdesheim und Schloß Johannisberg von der Bingener Seite gesehen.
Steinkoloß , verwittert, geborsten , mit hohl äugigen Fenstern in dem riesigen Mauerwerk und eisernen Söllern. Kraut und Buschwerk wachsen auf seinem Schädel ; so wüst das Gemäuer aber erscheint, die gräflich Ingelheimsche Familie hat die Laune und das Verständnis gehabt, sich das Innere wohnlich, die Ruine zu einer gemütlichen, modernen Behausung zu machen. Zu was dieser Klumpen einst gedient, darüber ist man noch nicht klar geworden ; die einen sagen, es sei ein römisches Kastell gewesen, das die Alemannen verwüstet, aber von Karl dem Großen wieder hergestellt worden. Vielleicht war's ein Hofhaltsgebäude, vielleicht
Rüdesheimer Klosterhof. - Adlerturm in Rüdesheim.
auch eine Landsknechts kaserne ; keine Urkunde sagt uns Genaues. Die Burg kam später in Besit der Familie von Rüdesheim und ging von dieser in den der Brömser über. Beide Geschlechter sind ausgestorben ; die Brömserburg, auch Niedernburg genannt, aber ist in Rüdesheim das interessanteste antike Stück Möbel, wenn ich mich so ausdrücken darf, und der Tourist steht mit Erstaunen vor ihr. Fesselnd ist vor allem die Uferlage Rüdesheims, von dem aus der Weg durch die Weinberge, deren erste Anpflanzung man Karl dem Großen zuschreibt, hinauf zum Niederwald und jenseits hinab nach Asmannshausen führt. Noch ist man droben beschäftigt mit der Errichtung
Von Rhein und Mosel.
der "7 Germania", des Denkmals zur Erinnerung an die Siege von 1870, und ist der Niederwald schon längst ein Lieblingsziel des Rheinreisenden, in kurzem wird dieser schon von der Rheinbucht aus weithin die Kolossalstatue leuchten sehen und diese Stätte hier ein Mekka patriotischer Herzen werden. Auch die rechts am Abhange des Berges aus dem Laube herüber schauende Burg Ehrenfels zieht denTouristen an; interessanter ist indes ihr gegen
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sich erhebende Burg, von der, als dem Vogtsberg, schon die Chronit aus dem Jahre 1279 erzählt. Der rheinische Städtebund zerstörte sie als Raubnest; sie ward wieder hergestellt und als die Ritter es darnach noch toller trieben, erschien Rudolf von Habsburg und erließ 1282 von hier aus den Befehl zur Hinrichtung derselben. „Räuber sind fie , nicht Ritter," erklärte er. "1Wahre Ritterschaft hält Treue und Glauben; wer aber die
über auf dem anderen Ufer der zierliche Rheinstein , die auf dem scharfen Felsenvorsprung über dem Fluß
Ehre bricht, soll ehrlosen Todes und sterben" ließ sie bei der Wenzelskapelle aufhängen. Von Rüdes
Ehrenfels.
Bingen.
Mäuseturm.
heim fährt das bei der Rheinhalle " liegende | rhein kennt, der weiß auch vom Binger BleiTrajektschiff hinüber nach Bingen, der herr- stift", den jeder rechtschaffene Binger in der lichsten Gegend vom ganzen Rhein, " wie Tasche trägt, denselben, den die Johannisberger Kobell sang. Unterhalb des Scharlachkopfes, Mönche dem Brevier vorzogen. Die Stadt hat wenig Interesse, desto mehr am Fuße des Rochusberges erbaut, liegt es, ein Völkchen bergend, so lustig wie die Mainzer, die Drususbrüde über die Nahe, das alte denen es bekanntlich zu eng in ihrer Festung, Kastell, namentlich aber die Burg Klopp, in die deshalb wie die Amphibien auf dem Lande welcher Heinrich IV. durch seinen Sohn als und auf dem Wasser leben. Wer den Mittel- Gefangener gehalten wurde, und die Rochus76
sende wallfahrten, um das Rochusfest zu feiern, von dem uns schon Goethe erzählt. Hinter dem Mäuseturm rauschen die Stromschnellen des Binger Lochs, das Felsenthor umfängt uns mit seinem hoch anstrebenden Gestein , auf dessen Stufen die Rebe wächst , auf dessen Vorsprüngen die alten, von den Schweden und den Melacs Mordbrennern mehr oder minder zerstörten Burgen wie Schwalbennester hängen, durch deren Tunnel zu beiden Seiten am Ufer die Bahnzüge dahin sausen. Lorch, Bacherach, Caub, Oberwesel, St. Goar und St. Go arshausen, Boppart und Braubach, von Ruinen überragt, ziehen an uns vorbei, erst bei Oberlahnstein weitet sich am rechten Ufer das Land. Schloß Lahnec und
Schloß Rheinstein - Hohned.
Clemenskapelle und Falkenburg. Stolzenfels winken von
kapelle auf ihrer Höhe, zu welcher aus Frömmigkeit oder weltlicher Lust (die letztere ist immer überwiegend ) im Monat August Tau-
ihrenHöhen und vor uns weitet sich auch der Rheinstrom wieder zu einem neuen Becken , abgeschlossen durch die Brücken zwischen Koblenz
Don Rhein und Mosel.
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elender Industrie sich nährend, die Stiefmütterlichkeit des Klimas und des Bodens schon verlernen ließ, die Waldungen wieder anzupflanzen, die sie vor den " Wösten ", den rauhen Winden zu schüßen vermöchten. In der Eifel also ein steriles, noch vom Feuer durchglühtes Felsenreich, im Westerwald steinige Hochebenen und zwischen ihnen im Stromthale Segen über Segen! Bon der weiten Thalebene Engers, Neuwieds 2c. geht's durch ein neues Felsenthor, das von Andernach, vorüber an Niederbreisig, Hönningen, dem neu wiederhergestellten Schloß Arenfels , an dem Wartturm der Ruine von Dattenberg, dem Basaltkegel der Landskrone, nach Sinzig, dem über der " goldenen Meile" gelegenen Städtchen, wo der Rhein wiederum eine Genoffin aufnimmt, die Ahr, die nach wilder Gebirgsreise sich in seinen Fluten abkühlt. Wie so viele Rheinorte, will auch Sinzig als Sentiacum römischen Ursprungs sein und beruft sich auf mancherlei Ausgrabungen. Der Ort hat einst schwere Zeiten durchgemacht ; er mußte namentlich die Zeche immer bezahlen, wennPhilipp der Hohenstaufe in das Gebiet seines Feindes, des Erzbischofs von Köln, einbrach. Im Jahre 762 stand hier bereits ein fränkischer Königshof. Die Sage erzählt, daß in demselben eine weiße Aeußeres der Kirche in Sinzig. Frau mit dem Schlüsselbund rasselnd umgebespülte Maifeld mitseinen gangen. Ein gotisches Schlößchen steht jetzt fruchtbaren Triften, seinen lebensfrohen Kindern, den als Privatbesitztum auf den Fundamenten der drallen Mägden mit den goldenen und silbernen alten Königsburg. Nach Pfeilen und Spangen im einer anderen Sage soll Haar , und über diese Sinzig die Stätte ſein, Fluren hinaus ragt düster an welcher Konstantin das Strahlenkreuz am aufgetürmt des Feuers Inneres der Kirche in Sinzig. Himmel erblickte, als er schlackengebärendes Werk, 311 von Köln gegen die Eifel. Und als sollten zu beiden Seiten des Stromes der Marentius zog, dasselbe Kreuz, das er mit der Devise: in hoc vinces in seine Fahne aufnahm. Segen und der Mangel gleichmäßig verteilt Von Einzigs früherer historischer Bedeutung sein: den fruchtbaren, blühenden Engersgau und dem sich hoch aufragenden , trotzigen Ehrenbreitstein. Ein dreifach Gesicht, schrieb ich in meiner " Rheinfahrt", zeigt uns hier die Mutter Erde: jenseits der Stadt das von der Mosel
und über ihm, sein Elend hinter einer Tapete von Weingelände verbergend , der trostlose Westerwald, dessen verdrossene Kinder, von
zeugen die Urkunden Pipins, Heinrichs III . u . a . , die von hier aus datiert wurden. Ein Kloster trägt den Namen der frommen Kaiserin Helena,
Hans Wachenhnsen.
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Ende der Stadt erhebenden, mittelalterlichen Türmen; die Geschichte redet schon im Jahre 874 von ihr, die ganze krumme und winkelichte Bauart , ihre Kirchen, Türme und Mauern kennzeichnen den deutschen Charakter ihrer Entstehung. Schon im Jahre 930 eine königliche Villa, ward Linz später das Städterecht verliehen ; zum Rheinbund gehörig , ward
die Kapelle der Kirche beherbergt eine eigentümliche Rarität , den heiligen Voigt", die Mumie eines Mönches nämlich oder eines früheren Burggrafen von Landskrone, die vor 200 Jahren ausgegraben wurde. Die Franzosen schleppten sie 1797 nach Paris, 1816 ward sie zurückgebracht , und so ruht sie denn wieder unter ihrem Glasdeckel. Auf der anderen Seite des Flusses , unterhalb der Ruine Datam tenburg Fuße des Kai-
sersbergs und Waldſeiner
B.M
amf
ele
kapelle liegt die alte Stadt Linz mit ihren beiden sich am oberen unteren und
SHEVER Aus Erpel.
Ueberfahrt von Erpel nach Remagen.
Ling: Oberes Stadtthor
Rheinthor.
Erpeler Lei.
der Ort in den Kämpfen der Gegenkaiser Philipp und Otto zerstört. Anno 1250 ging Linz aus dem Besit der Gräfin Mechtild von Sayn an das Erzbistum Köln über. Erzbischof Engelbert III., der seinen Aerger an der Empörung der Linzer gegen das Domkapitel hatte, segte ihnen 1365 auf der Rheinseite eine Burg auf den Nacken. Kaiser Friedrich III. verwüstete sie, nur der achteckige Turm blieb erhalten mit den Resten des alten Fallgitters im Thorbogen. Das interessanteste Monument von Linz ist die aus dem 13. Jahrhundert stammende Martinskirche im spätgotischen Stil, mit wertvollem Glasgemälde und der höchst originellen, aus 1463 datierenden Darstellung der sieben Freuden Mariä auf Goldgrund . Durch die Leidensstationen führt aufwärts der Weg zum Kaisersberg und seiner Kapelle, von der sich dem Blick die herrlichste Aussicht
Von Rhein und Mosel.
Runder Turm und Dom in Andernach.
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Andernach.
auf die Basaltbrüche, auf das Rheinbecken, das Ahrthal mit seinen Felsen und Burgruinen und namentlich auf das am jenseitigen User liegende Remagen mit dem Viktoriaberg, der Apollinariskirche und die Erpeler Lei mit ihren düsteren, gegen den Rhein gekehrten Basaltfelsen und Brüchen bietet. Remagen ist seit lange ein gesuchter Stationsort für die Ahrreisenden geworden, die sich von hier zwischen die grandiosen, zum Teil Schrecken erregenden Felsenmassen der Ahr begeben , oder von ihnen zurückkehrend sich in Remagen am Ahrbleichert, dem Walporzheimer oder dem kühlenden Quell des Apollinarisbrunnen erholen. Remagen, das alte Rigomagus, beruft sich hinsichts seines Ursprungs auf einen unanfechtbaren Zeugen, den Meilenstein aus dem Jahre 162 n. Chr., laut welchem Kaiser Mark Aurelius und L. Verus die Heerstraße von Remagen nach Köln ge-
Inneres des Andernacher Doms.
baut, und wahrscheinlich ist auch die bereits 1003 in den Urkunden erwähnte Pfarrkirche auf den Substruktionen eines Römerbaues errichtet. Für die frühzeitige Einführung des Christentums zeugt auch die auf dem Felsen weithin die Gegend beherrschende Apollinariskirche, denn hier auf der Höhe stand schon ums Jahr 1110 ein dem heiligen Martin geweihtes Gotteshaus , im Jahre 1164 dem Bischof Apollinaris gewidmet, weil das die Reliquien dieses Heiligen und der heiligen drei Könige nach Köln tragende Schiff an dieser Stelle troy allen Anstrengungen der Ruderer seinen Schnabel zum Ufer wendete, absolut nicht weiter. wollte und man die Gebeine also in der Mar-
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Hans Wachenhusen.
tinskirche beiseßen mußte. Grund genug, um die Kirche zu einem der gesuchtesten Wallfahrtsorte zu machen , denn als die kostbare Fracht in Remagen ausgeladen worden, bewegte sich das Schiff leicht und bereit gen Köln, und seit dem Wunder strömen alljährlich im Juli Tausende zur Feier herbei. GrafFürstenberg-Stammheim war es, der, als endlich die Kirche baufällig ward, sie niederreißen und in gemischtem römisch-gotischem Stil mit zierlichen Türmen und der Statue des Apollinaris im Vordergiebel wieder aufbauen. und die Gebeine des Heiligen in der auf zwölf Säulen ruhenden Krypta niederlegen ließ. Von wunderbar bewältigender Gewalt wird jeder ergriffen , wenn er die Kirche verläßt, auf das Plateau tritt und hinausschaut auf das vom Siebengebirge be=
land bilden ganze Kolonieen an den Gestaden des mächtigen Stromes : wir Deutsche aber, uns zu Hause dünkend, dampfen gern flüchtig mit der Eisenbahn zu beiden Seiten des Rheines dahin; wir gehen nach Tirol und Steiermark, nach der Schweiz , Italien und Skandinavien , und es ist doch nirgendwo schöner als bei uns ! Noch ein flüchtiger Blick sei mir deshalb gestattet auf die Mosel , an deren großartigem Mündungs-Tableau wir bei Koblenz vorübergezogen. Auch sie verdiente von ihren Landsleuten viel mehr besucht zu werden, sie, sowie die Eifel mit ihren grandiosen Naturschönheiten, welche die Eisenbahn den Touristen jest doch erschlossen.
grenzte , herrliche Rheinbecken. Ebenso weilt das trunken Auge des Touristen auch in dem offenen. Burg Andernach. - Stadtthor in Andernach. Tempel auf dem (nach der Kronprinzessin ge= Gehen wir auch hier stromabwärts von nannten) Viktoriaberge, wenn es stromaufTrier aus auf der deutschen Mosel, obgleich und stromab schaut bis Königswinter und Andernach, auf Drachenfels und Rolandseck das Jahr 1870 uns auch von ihr ein ganzes Stückchen westlich wieder zurückerobert. Kelmit dem lieblichen Nonnenwerth, auf die über die Ebene, über die Ufer hingestreuten Dörfer tische Gallier waren jedenfalls die ersten Beund Billen ; am gewaltigsten aber ist der Einwohner der Moselländer. Die Augusta Trevidruck, den die dunklen Kuppen der Ahr auf rorum, umschlossen von dem reizendenMoselthal, nannte der Dichter Ausonius bereits das zweite uns machen, altersgraue Geschichten erzählend Rom. Trier selbst aber behauptet, um tausend aus dem düsteren Gau und der ebenso düsteren Jahre älter zu sein als die ewige Stadt. Fünf Zeit, in der noch die Grafen darin hausten. Zerstörungen durch Hunnen und Vandalen geDie reisenden Gelehrten sind noch nicht nügten allerdings , all den Glanz der Villen und einig, welches der beiden Rheinbecken, von denen hier die Rede, am schönsten sei : das am Fuße Gärten der Großen und Reichen zu zerstören, des Niederwalds oder das hier vor uns zu die einst dies schöne Thal geziert; nur die Füßen des Siebengebirges ; beide aber gehören Porta nigra und einige andere Römerreste zu den herrlichsten Offenbarungen der Natur. sprechen heute noch von der Bedeutung und Die Nationen aller Weltteile suchen den dem Umfange der städtischen Monumente aus Rhein , wir hören an seinen Ufern alle der Epoche der römischen und der christlichen Cäsaren . Wie klein die Zeit jener Größe Sprachen der Welt ; Amerika , England, Hol-
Von Rhein und Mosel.
gegenüber geworden , das beweisen uns heute die sogenannten „ Miseräbelchen“, die kleinen Fläschchen, hinter denen der Reisende den moder nen Trevirer in den Weinhäusern sißen sieht. Aus dem anmutigen Moselthal führt uns der Dampfer zwischen die bei Schweich zu-= sammenrückenden Felsen und von hier ab zieht sich die Mosel in grotesken Schlangenwindungen nordöstlich dem Rheine zu, das Auge blendend , verwirrend durch den sich immer
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wiederholenden oft jähen Wechsel bei jeder Krümmung, unter vorragendem Felsgezac, unter überhangendem Strauch- und Rankenwerk, dann wieder überraschend durch die lachendsten grünen Matten im Flußthal-Kessel, durch die steil aufsteigenden in den Felsbuchten eingenisteten Wohnungen , durch die hängenden und schwebenden Gärten und Weingärten, so steil und scheinbar unerreichbar , daß es des Gemsfußes zu bedürfen scheint , um auf den
Beilstein mit der Ruine Beilstein.
Stufen und Zacken zu haften, auf deren steinigem Boden dennoch der unermüdliche Winzer seine Reben baut. Und beschäftigt mit dem ewigen alles verschiebenden Wechsel der Ufer - Szenerie ahnt der Reisende kaum von der schauerlichen Romantik über ihm auf der Höhe der Eifel, des Hochund Idarwaldes, des Hunsrücks , über deren Plateaus der eisige Hauch der Stürme weht, während tief unten in den Eingeweiden dieser Felsmassen noch heute Vulkans Herenkessel brodelt und der Wanderer mühsam den Weg über die Schlacken sucht, die er hinausgeworfen.
Nur ein flüchtiger Blick , wie gesagt, ist mir auf die launenhafte, aber immer liebliche Mosellandschaft gestattet, so flüchtig eben nur, wie ihn der Dampfer mit seinen fortwährenden Schwankungen vorüber an den fesselndsten Punkten dem Reisenden gewährt , wie gern dieser auch bald rechts , bald links verweilen möchte. Da liegt zunächst Riol vor uns , das römische Rigodulum mit den kaum erkennbaren Resten seiner Ringelsburg, Clüßerath, sprichwörtlich geworden durch die fadenartige Länge, in der es sich unter den Weinbergen dahinzieht ; folgt Trittenheim, die Geburtstätte des gelehrten Abts von Sponheim , Neumagen, das sich mit Sinzig um die Ehre streitet, ob Konstantin hier oder dort jenes Kreuz am Himmel gewahrt, das ihm den Sieg prophezeite und
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Hans Wachenhusen.
ihn zum Christentum bekehrte. Vielleicht ist Neumagen aber im Recht, denn auch Ansonius erzählt, dieses Ortes erwäh
Reben bepflanzt, jede Felsstufe, jede nur erklimmbare Bergsenkung trägt mindestens ein paar Dußend Wein-
stöcke. Man muß die unsägliche Mühe kennen, die der Wingertsmann für die Pflege der Reben verwendet, alle die Hoffnungen, die das Frühjahr in ihm weckt , die der Sommer nährt, die aber ein paar vorzeitigeFrostnächte zerstören, um in diesem Schaffen die Unermüdlichkeit zu würdigen, mit der sie, der
nend, von der Burg des göttlichen KonArchitek stantius. tonisch wertvoll ist hier die Märtyrerfirche. Krummer und
launenhafter werden jezt die Windungen des Flusses. Piesport liegt an dem gewaltigen Bogen, zu dem die Mosel ausSein auf geholt. steil ansteigenderFelswand gediehenerWein wird gern getrunken ; wer ihn nicht mag, der wird wohl einen
Ameise gleich, den Bau immer wieder mit neuem Mut be-
ginnen. Siebenzig MillioRochem an der Mosel. nen Weinstöcke wachsen zwischen Trier zenz der Moselrebe und hier ist denn jedes und Koblenz an der Mosel , so liest wohl Fleckchen an und auf den Schieferfelsen mit der Reisende. Wo sind sie? Schaut hinauf, genossen gefälschten haben, denn hier beginnt die edlere Kres-
Alte Straße in Karden an der Mosel.
Von Rhein und Mosel.
hier und dort, mathematischer kann kein Boden berechnet werden als es hier geschehen , denn jedes Eckchen, jedes Fleckchen ist gut, wenn es nur die Sonne bescheint. Folgen Oligsberg und Neuberg, nur ihres herrlichen Weines wegen erwähnenswert, denn
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die Traube, sie hat föstlichen Duft ; gegenüber Dusemont liegt Brauneberg , populärer , weil unzählige Säuerlinge unter seiner Flagge fahren, Mühlheim im Veldenzthal, Lieser an der Mündung des gleichnamigen Flüßchens, dann Kues, die Wiege des Kardinal Cusanus, eines einst
DARGU
ABREV Burgen.
gewaltigen Eiferers gegen die gesunkene Kir- | Trarbach, zwei sehr populäre Firmen. Ueber chenzucht ; nur sein Herz ward hier begraben, der letteren Stadt liegt die Ruine der Gräfinseine Gebeine liegen in Rom. burg , einst eine starke Feste , die im dreißigjährigen Kriege viel zu leiden hatte. Litig Bei dem malerisch gelegenen Bernkastel gegenüber liegen die Trümmer der Starkensteht die erste feste Brücke über die Mosel. burg ; von Reil und Pünderich erreicht man Hier wächst der gelehrte Wein, der sich „ Dot tor" nennen läßt ; nach dem Ursprung seines die interessante Ruine Marienburg auf ihrem Diploms fragt niemand. Bekannter als er Berggrat ; sie war einst ein starkes Schloß, auch Nonnenkloster, das aber Leo X. aufhob. ist der von Josephshof, eine edle Traube, auch Folgt Zell , das schon im 12. Jahrhundert der gegenüber in Zeltingen und der von 77
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Hans Wachenhusen.
genannt ward , mit seinem Wartturm , den Mauern der zerstörten Burg und den in Ruinen liegenden Festungswällen. Eine Feuersbrunst zerstörte 1857 einen Teil des Ortes. Einige Inseln , dann an der Mündung des Baches der Flecken Alf in reizender Lage, mit ebenso schönem Blick ins Flußthal. Ueber ihm thronte König Alf; in dem Einschnitt des Thals liegt Bertrich, das seiner warmen alkalischen Quelle wegen schon den Römern bekannte Bad. Hier unten ist alles vulkanischer Boden. Bei Bremm steht die Ruine des ehemaligen NonnenStuben ; klosters Ediger blickt uns recht mittelalterlich an; Senheims Burgruine folgt, umgeben von düsteren SchieAuch ferwänden. Beilstein mit seinen. Gebäuden, alten
Türmen, seiner Burg macht einen feudalen Eindruck. Und jetzt kommt Kochem mit ſeinen originellen Giebelhäusern , den schönen Ruinen des Schlosses , des Klosters und dem Kreuz auf hohem Fels. In dem Kapuzinerkloster der einst hauste Küche in der Pater Martin von Kochem, der in seis nen Predigten dieser sündigen Welt alle Qualen Das Städtchen trägt der Hölle verhieß. das Kreuz des Schildbürgertums , das ihm von den übrigen Bewohnern der Mosel auf gebürdet worden . An der Ruine von Klotten und der Kirche von Treis weiter kommen wir nach Karden, dem ehemaligen Römerlager, einem alten Ort mit phantastischen mittelalterlichen Häusern, deren Stil auch das Posthaus hat. Erwähnenswert sind die über der Zelle des Einsiedlers , des heiligen Kastor erbaute Stiftskirche und die Kardener Klause mit gotischem Turm. Bei Moselkern mündet die aus der Eifel kommende Els ; hier liegt das Elzthal,
eng aber romantisch , mit dem am Fuß des Felsen erbauten, trotz allen Stürmen noch gut erhaltenen Schloß Elz , dem Stammsiz der gleichnamigen Familie. Es macht einen echt feudalen Eindruck mit seinen Türmen und Erkern ; sprach auch schon das zehnte Jahrhundert von ihm , so zeugen doch die vier Teile des Schlosses von späterem Ursprung aus dem 13.- 17. Jahrhundert : das Hauptgebäude gehört in das fünfzehnte. Schloß Elz ist teilweise noch bewohnt ; es bietet einen herrlichen Blick in das Elzthal; ihm gegenüber sind auch noch die Ruinen von Truzelt erkennbar, das Balduin von Trier in seiner Fehde mit dem Grafen von El errichten ließ. Von hier führt der Weg nach der Don Schloßruine Pyrmont an dem hochgelegenen StädtchenMünstermaifeld ; hinter den Inseln erscheint Burgen mit seiner alten, aus dem 10. Jahrhundert stammenden Kirche, ihm gegenüber Rhon, mit ersterem durch eine Brücke verbun= SAVERY den, dann der Turm Moselgegend. der Ruine Bischof-
stein, einst im Besize Heinrichs von Bolanden ; dann Haßenport mit sehr aufragendem Uferturm , rechts Brodenbach mit der schönsten Moselruine, der Ehrenburg, ferner Alken mit den Resten des durch Pfalzgraf Heinrich 1197 erbauten Schlosses Thurant, die Alkener Lei , ein schroffer Fels , Nieder - Fell , das alte Gondorf mit seiner Burg und dem Stammschloß der einst so mächtigen Familie von der Leyen, Kobern mit seinen alten Mauern und Türmen und der Niederburg , deren letter Besizer 1536 wegen Landfriedensbruch in Koblenz hingerichtet ward, und der Ober- oder Altenburg , deren Mathiaskapelle ehedem ein beliebter Wallfahrtsort war. Endlich folgen
Schloß Elt. Dieblich, in dessen Nähe die Ruinen des Klosters Marienrot, und Winningen mit seinem Die Ufer verflachen renovierten Burghaus. sich und verlieren hier das Interesse ; das Auge des Schauenden ist müde und wohlthuend wirkt die sanfte Ruhe der Ufer. Güls und Moselweis gehören auch schon zu dem Rayon der ländlichen Ausflüge des vor uns liegenden Koblenz, über dem sich bei dem Zusammenfluß der Mosel mit dem Rhein der mächtige Felsen Ehrenbreitstein erhebt. Halten wir noch einmal Umschau von dem Gipfel dieser aus Stein und Erz geschaffenen "Wacht am Rhein". Welch herrliches Pano-
rama liegt vor uns. Links grüßt Stolzenfels, der Sommersi unserer Kaiserin , herüber; gerade vor uns vermählen sich die Wogen der Mosel mit denen des Rhein ; in der Ferne leuchten im Sonnenglanz die vulkanischen Berge der Eifel und des Hunsrück, während auf der entgegengesetzten Seite die Höhen des Westerwald und des Taunus den Horizont begrenzen . Man macht die Moseltour so schnell nicht, wie ich sie hier zurückgelegt ; aber was ich gab, sollten ja nur Augenblicksbilder sein, die dem Kundigen eine Erinnerung , den andern vielleicht die Lust zum Echauen wecken , und damit wäre ihr Zweck erreicht.
Adolf Stern.
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Zum
Tode
ver e inf.
Novelle von Adolf Stern.
eber den kleinen moosbewach senen Abhang, der sich gegen einen unteren Waldgürtel des Berges hinabsenkte, streckte ein Paar mächtiger Buchen , die als Zeugen alter Waldherrlichkeit hier oben, mitten zwischen dem dürftigen jungen Fichtenwuchs standen , ihre weit schattenden Aeste. Die starken Wurzeln liefen durch den üppichen Moosteppich des Abhangs, sie hatten es dem jungen städtischen Wanderer, welcher sich vor einer Viertelstunde hier zur Nast niedergelassen, nicht eben leicht gemacht, sich lang in das weichste Moos zu ſtrecken und doch das Laubdach der schönen Bäume voll über sich zu behalten. Jezt aber ruhte er nach Wunſch; die Sonne eines Hochsommertages, die er vorhin, aus dem unteren Buchenwald kommend, auf den Wiesen der anstei genden Berglehne zu heiß gefunden hatte, neckte ihn nur noch mit einem einzelnen Strahl, der durchs Laub fiel, und vergoldete das weite Landschaftsbild unmittelbar zu seinen Füßen und drunten in der Thalferne. Es war die Nordwand jenes hohen Rhönberges , der das Dammersfeld heißt , an der sich der Fußwanderer niedergelassen, hinter ihm erhob sich noch der langgestreckte Gebirgsrücken , den er zu ersteigen dachte. Unter ihm aber lagen der Laubwald , die Bergwiesen , aus denen blauschwarze Basaltkegel und Kuppen phantaſtiſch aufragten und am weiten Bogen blauer Höhenzüge, die er sich gegenüber erblickte, mochte der behaglich Ruhende ermessen , wie hoch er schon gestiegen sei. Er schien keine Eile zu haben, atmete die harzduftige Waldluft in vollen Zügen und sah hinaus ganz wie einer, der jeden Reiz solchen Sommertages in Waldesstille fennt und empfindet und dem es doch selten gegönnt ist, sich dieser Reize zu erfreuen. Er hatte den breitkrempigen Filzhut neben sich gelegt und der männlich schöne Kopf mit hellen braunen Augen und braunem Vollbart
entsprach einer wohlgewachser en elastischen Geſtalt. Aber das Gesicht des Ruhenden war etwas bleich und trug die Spuren von Nachtwachen und geistigen Anstrengungen, er hatte als junger Arzt sich eben erst den Straßen und den Krankenzimmern von Frankfurt entrissen und zwei Wandertage hatten nicht ausgereicht, ihm die frische Farbe der Jugend er konnte etwa achtundzwanzig Jahre zählen wiederzugeben. Die Art, wie er die Stunde hier genoß, sich bald am Blick in die blaue Ferne und bald an den purpurnen Blüten weidete, welche die Moosdecke schmückten, verriet , wie lange es her sei , daß er solche Stunden durchlebt. Indem er sich besann, wann er zuleht Waldbäume und Bergwiesen gesehen , mußte er die Tage eines halben Sommers und eines langen bangen Winters, und dazwischen viel leidenvolle Züge und erregte angstvolle Gesichter , die gespannt an seinen Lippen hingen , aus seiner Erinnerung bannen. Und doch mochte er nicht alle Bilder dieser langen Zeit von sich scheuchen. Er sah unter ihnen auch ein liebliches Mädchengesicht, blauschimmernde Augen , die voll Dankes auf den jungen Helfer und Retter blickten , der ein blühendes , eben erst beginnendes Leben erhalten hatte. Die Hoffnung zog ihn, nachdem er kaum frei war , bereits leise und unmerklich nach der Stadt zurück. Wie lange der junge Arzt seinen Träumen. nachgehangen haben würde, wenn ihm dieselben. nicht plötzlich gestört worden wären , hätte er selbst kaum zu ermessen vermocht. Mit dent ersten Leben, was in das stille Waldbild trat ward er auf einmal wachgerufen. Auf dem Pfade, der etwa hundert Schritte von ihm aus der Fichtenschonung und über die Wiesen nach dem Walde herablief, nahm der junge Arzt eine weibliche Gestalt wahr, die in sichtlicher Erregung dem Pfade hinunterstrebte und dabei doch, wie es schien, vor Erschöpfung von Zeit zu Zeit ihre fliegende Eile hemmen
Bum Tode vereint. mußte. Mit scharfem, geübten Blick erkannte der junge Arzt auf der Stelle in den Zügen des hastig eilenden und alsbald wieder stillstehenden jungen Weibes den Ausdruck angstvoller Sorge und starker Uebermüdung. Und es bedurfte nur dieser Wahrnehmung, um ihn von seinem Mooslager emporspringen und aus dem Schatten der Buchen hervortreten zu lassen. Die Eilende jedoch , welche nun abermals dem Waldrande zustrebte , hatte den Fremden weder in seiner Rast, noch jezt wahrgenommen. Doktor Wille rief so laut über die Wiesenfläche hinweg, die ihn von der unerwarteten Erscheinung trennte, daß die Angerufene stillstand, nicht erschrocken, nicht neugierig , gleichsam unbewußt dem Rufe gehordjend. Kaum , daß sie die Hand an die Augen hob, um ungeblendet den rasch Heranschreitenden-wahrzunehmen. Und ehe er noch völlig bis zu ihr kam, ward ihre ganze Gestalt von einer ungeduldigen Bewegung durchzittert und sie rief dem fremden Manne entgegen: " Was wollen Sie , Herr ? Mir thut Eile not!" „Das sehe ich, aber Ihr kommt - Sie kommen feine halbe Stunde weiter, ohne daß Sie ohnmächtig hinsinken, " verseßte der Arzt. Mit einer Art wohlthuender Verwunderung hatte er inzwischen das Gesicht und die Gestalt des jungen Weibes näher ins Auge gefaßt. Sie war gleich den meisten Bewohnern dieses Gebirges von kräftigem Gliederbau und hohem Wuchs , ihr längliches Gesicht von bräunlicher Färbung, mit großen blauen Augen und schlichtem dunkelblondem Haar. Sie trug auch das bunte Kopftuch, und die landübliche halbleinene, halbwollene Kleidung, welche der Wanderer seit gestern in vielen Dörfern und einsam liegenden Gehöften bei den Frauen gesehen hatte. Doch war in ihrer Haltung, in der auffallenden Schönheit ihres Haares , in dem ungewöhnlich jugendlichen Aussehen der Frau , welche beinahe ſo alt sein mochte , wie er selbst ein Hauch von Anmut , von Sauberkeit und sorgfältiger Pflege , der ihm nach Allem , was er sonst gesehen , stark auffallen mußte. Und auch ihre Züge, die doch einen starren, hilflosen Ausdruck zeigten , verleugneten selbst jetzt eine gewisse Feinheit und das Gepräge natürlichen Stolzes nicht. "Was wollen Sie, Herr? " wiederholte das junge Weib, und aus den blauen Augen fuhr
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ein Strahl des Mißtrauens . Ich kann Sie nicht zu den Linden hinaufführen, ich muß zum Doktor vier Stunden weit hinunter!" „Dachte ich's doch, daß ich mir doppelte Praxis aufladen würde ! " sagte Konrad Wille vor sich hin. „ Einen Arzt wollen Sie !" fuhr er wieder zur Frau gewendet fort. „ Wenn es gleichviel ist, welcher, so steht einer vor Euch, junge Frau, und Sie selbst scheinen ihn so nötig zu haben, als Ihre Kranke oder Ihr Kranker!" Wenn der junge Mann in diesem Augenblick gedacht hatte, das zitternde Weib vor dem Umsinken bewahren zu müſſen, ſo ward er alsbald seines Irrtums inne. Sie sprang fest auf ihre beiden Füße, eine dunkle Röte schlug jäh in ihrem Gesicht auf, ihre Züge belebten ſich unwillkürlich , sie sprach ihr „ Gelobt sei Jesus Christus ! " mit einem Ton tiefster Jnnigkeit und fuhr dann flehend und drängend zu dem Fremden fort: " Ist's Ihr Ernst , Herr Doktor - uns zu helfen, so kommen Sie gleich mit mir. Es ist nur eine Stunde weit und drei Tage schon liegt mein Mann schwer frank ! Ich hätte ihn nicht verlassen, aber er wollte diesen Morgen selbst, daß ich gehen sollte, und nun ich Ihnen begegne, glaube ich, daß er recht gehabt. " Freilich hatte er recht - aber Sie hätten längst gehen oder vielmehr Sie hätten nicht. gehen und viel früher jemand schicken sollen. Hatten Sie niemand, der den Weg nach Gersfeld machen konnte? " „Niemand, Herr — wir sind ganz allein !" entgegnete das junge Weib, und so einfach die Antwort war , so befremdete Doktor Wille der Ton, in dem sie gegeben ward. Er sah jedoch zugleich auf dem Gesicht der Frau eine dringende Bitte, die ihre Lippen nicht zu wiederholen wagten. Und so schloß er kurz : „Ich werde mit Ihnen kommen. Sie aber haben viele Stunden gewonnen, und während ich dort meine Tasche umnehme , müssen Sie ein paar Minuten ruhen und einen Schluck von dem Wein in meiner Korbsflasche trinken. Ich bin alsbald fertig. Sie müssen gehorchen! “ Die junge Frau folgte dem Arzt nach der Baumgruppe, sie lehnte sich einen Augenblick an den Stamm der großen Buche , unter der er gerastet und sagte : „ Sie sind gut, Herr ich würde gern thun , was Sie mir heißen! aber ich könnte nicht sitzen, ich würde keinen
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Augenblick Ruhe finden. Wollen Sie mir einen Trunk geben, so werde ich Sie um so rascher führen können und Gott wird Sie für alles segnen, was Sie uns erweisen. “ „Wir müssen sehen, ob ich Ihnen nüßen und helfen kann, liebe Frau," verschte Doktor Wille. „Wie heißen Sie, wer sind Sie und wohin wollen Sie mich eigentlich von hier führen ? Mein Weg ging eigentlich zum Gipfel des Dammersfeldes hinauf und von dort zum Eierhaus und nach Weissenbrunn hinunter." " Aber Sie kommen doch mit mir zu meinem armen Franz, Herr ? " fragte die junge Frau, in deren Zügen plößlich wieder die ängstliche Hast von vorhin sich zeigte. „Wir wohnen freilich nach der anderen Richtung, mein Mann. war Waldhüter des Grafen Frohberg und unser Häuschen steht mitten im Wald , gerade über Dalherda. Wollen wir gehen , Herr ? mir brennt es unter den Füßen . Wenn wir Franz nicht mehr lebendig fänden !" Der junge Arzt hatte eben seine leichte Tasche umgehängt und sich zum Gehen fertig gemacht. Er sah bei den letzten angstvollen Worten der Frau des Waldhüters in deren Gesicht und erschrak fast vor dem starren, trozig entschlossenen Ausdruck, den die Züge jezt trugen. Ihre blauen Augen senkten sich zur Erde, als wollten sie sich in den Moosboden , auf dem sie stand, einbohren. Doktor Wille rief so mild, als er vermochte, aber doch mit der vollen Entschiedenheit , die dem Arzt in solchen Fällen zu Gebote steht : " Jett fordere ich aber ernstliche Ruhe und Fassung von Ihnen. Hier, nehmen Sie einen Trunk zur Stärkung und dann denken Sie für den Augenblick an nichts , als daß Sie mich glücklich gefunden haben und daß acht Stunden für Ihren Kranken mindestens gewonnen sind. Denn wenn Sie wirklich nach Gersfeld hinabgekommen wären, hätte Ihre Kraft nicht ausgereicht, sofort den Rückweg anzutreten, und wer weiß auch, ob mein Kollege da unten zur Stelle mit Ihnen hätte aufbrechen. können. Um so viel früher, als wir zu Ihrem Manne kommen , um so viel mehr haben wir Hoffnung ! " Das junge Weib sah den fremden, sie ernst ermahnenden Mann an, wie aus einem schweren Schlaf erwacht. Sie konnte seine Worte nur halb gehört haben, — doch that sie eilig, was er von ihr verlangt hatte. Sie nahm einen
Trunk und schichte sich zugleich an, dem jungen Arzte voranzugehen , der mit einer gewiſſen Verwunderung diese plötzlichen Wandlungen beobachtete. Sie führte ihn über die Waldwiese zurück, auf der er sie vorhin zuerst erblickt hatte mit schweigendem Gehorsam richtete. sie ihren Schritt nach dem Konrad Willes , der rasch aber ohne Hast ging. Der Pfad , den sie wieder einschlugen, führte wenige Minuten aufwärts , dann lief er am Bergrücken durch das kümmerliche junge Fichtengestrüpp, jenseits desselben senkte er sich wieder tiefer, und bald tauchte der wilde , manchmal kaum erkennbare Weg in die Buchenwaldungen hinunter, welche sich auch am Weſtabhang des Dammersfeldes hinziehen. Bis hierher hatten Dr. Konrad Wille und seine Führerin kein Wort weiter miteinander gesprochen. Jezt aber , wie die Schritte auf dem festen, durchästeten Boden und zwischen. den dichtgedrängten Buchenſtämmen laut widerhallten, fand der Arzt, welcher die vor ihm . Herschreitende für beinahe so krank hielt, als den Kranken, dem sie zu Hilfe eilten, daß der Geängstigten die lautlose Wanderung nicht wohlthun werde. Es fiel ihm bei , daß sie vorhin auf seine Fragen nach ihrem Namen. nur halbe Antwort gegeben habe und er nichts wisse, als daß sie das junge Weib eines Waldhüters sei. Er hub daher, indem er jetzt neben ihr ging, wieder an: " Sie können immer noch ein wenig langsamer ausschreiten nur wenig ! - denn Sie werden sicher daheim gleich zu thun finden. Sie haben mir noch nicht gejagt, wie Sie heißen, und von Ihrem Manne hörte ich nur daß Sie ihn Franz nannten ! Wer sind Sie also ? und dann wie ist's mit der Krankheit Ihres Mannes gekommen ?" Er hatte vorhin absichtlich die so natürliche und nächstliegende Frage nicht thun wollen. Sein klarer Blick wollte selbst sehen, und er fürchtete die geheime Macht , welche ein unklarer Bericht und ein vorgefaßtes Bild über den Arzt üben können. Aber jetzt kam es ihm vor, als sei seine Führerin fähig, besser und sachlicher zu berichten, als er in solchen Fällen gewohnt war. Die junge Frau hatte sofort, als er sprach, ihr Gesicht ihm zugewandt. Einen Augenblick aber flog wieder ein Schatten von Mißtrauen über die Züge der Rhönerin, dann schien sie sich zu besinnen und gab rasche
Bum Tode vereint.
und anfänglich klare Antwort : „ Ich heiße Gertrud und mein Mann Franz Buchner. Er ist, wie ich Ihnen sagte, Waldhüter des reichen Grafen in Gersfeld , er hat auch die Aufsicht über all die Holzſchläge bis Maria - Ehrenberg und bis zum Silberhof hinüber," sette das junge Weib mit einem gewissen Stolze hinzu: " Mein Franz war immer kräftig und kerngesund ; in den drei Jahren , seit wir beisammen sind , hat ihm kein Finger weh gethan. Und nun liegt er wie von Sinnen und ist bald wild wie damals, da er aus der Fremde heimkam, und bald so schwach, wie ich nie geglaubt hätte, daß ein starker Mann werden könnte. Dazu glüht er über und über und hat brennenden Durst , so daß ihm das kalte Wasser aus dem Sinnbrunn nicht kalt genug ist ! Wir waren an Mariä Heimsuchung in Oberbach, dem Herrn Pfarrer zu beichten, und von dort herauf ist Franz schon krank heimgekommen. Jest liegt er hilflos und meint selbst zu sterben, und er wolle durchaus, daß ich ihm einen Doktor schaffen sollte — er trieb mich an, als ob ich mich vor dem Sterben fürchtete darum konnte er ruhig sein. " Konrad Wille wußte genug von den scheinbar jähen Gefühlswechseln und der schwerflüssigen Ausdrucksweise der Volksklasse , der die junge Waldhüterfrau angehören mochte, um durch den harten , dumpfen Ton , in welchem die letzten Worte Gertruds gesprochen wurden, nicht allzusehr zurückgeschreckt zu wer den. Und dennoch , wenn er nicht gleichzeitig in das Gesicht seiner Führerin gesehen hätte, wäre wohl ein scheltendes Wort über seine Lippen gekommen. Aber das wundersame Zucken, das er deutlich in den Mienen des jungen Weibes wahrnahm, die Mischung von Grauen und herausforderndem Mut , und dabei doch wieder der lebendige , fast kindliche Schmerz und die hellen schweren Thränen in den Augen Gertruds ergriffen ihn. Der Eindruck, daß er hier einer eigen gearteten Natur gegenüber stehe, kehrte ihm verstärkt wieder. Um das Gespräch nicht abzubrechen und vielleicht , um einen jähen, heftigen Thränenausbruch zu hindern, den er für möglich hielt, fragte er so ruhig er jezt vermochte : „ Ihr wart in Oberbach zur Beichte? Hättet Ihr nicht näher nach Dalherda hinüber? " „Wir gehen nie dort zur Kirche ! " gab Gertrud kurz zur Antwort, und obschon er
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ihre Miene nicht sah - sie ging auf dem schmäler werdenden Weg , und zwischen dem dichter ſtehenden Unterholz jezt wieder vor ihm - so hatte er doch scharf genug aufgemerkt, und den harten, trohigen Ton, in welchem sie die paar Worte sagte, deutlich vernommen. Er schüttelte leise den Kopf, sein Abenteuer fing an ihn innerlich zu beschäftigen. Und er ließ geschehen , daß sie jetzt, obwohl der Weg wieder bergan stieg, rascher und rascher ging, und folgte ihr schweigend. Rings um die beiden Vorwärtseilenden lag noch immer erquicklicher Waldschatten. Nur zuweilen gaben die Buchen , zwischen denen. hier Eichen und prächtige Ahorn standen, so viel Raum , daß volles Sonnenlicht auf den Weg fiel. Aber an den zitternden flirrenden Strahlen, die überall von oben hereinblitten, ließ sich wahrnehmen , daß es Mittag. Und jetzt wurden Lichtungen häufiger , zur Seite zeigten sich weitgedehnte Wiesenabhänge --- und dann traten sie hinaus auf eine kleine Hochwiese, an deren Rand ein niedriges Haus sichtbar wurde. Auch ohne ein Wort hatte Doktor Konrad an der plötzlichen, beinahe wilden Erregung seiner Führerin erraten, daß dort das Ziel sei. Es war eine sonnige, friedliche Stille, tiese Einsamkeit ringsum , in einem kleinen Gehege zwischen dem Wald und dem Zaun. um das Haus weideten ein paar Ziegen. Das Häuschen selbst , von wohlgehaltenem , ja für eine Wohnung im Rhöngebirge schmuckem und stattlichem Aussehen, verriet mit seinem sonnenüberglänzten Dach und seinen weißſchimmernden Mauern nicht, welche Not des Lebens es jest umsing. Scheinbar noch ganz kräftig, wollte Gertrud , auf die Thür ihres Heims weisend, voranstürzen, da mit einem Male brach dieKraft der jungen Frau, ihre Augen schlossen sich, sie schwankte und faßte konvulsivisch zitternd die beiden Hände des fremden Arztes , die ihr entgegen gestreckt wurden. Dabei stammelte sie mit sichtlich bleicher werdenden Lippen : „ Bitte gehen Sie zuerst ! ich könnte es nicht anſehen, wenn ich ihn starr und tot fände!" Aber fast im nämlichen Augenblick raffte sie sich empor, ihre blauen Augen leuchteten hell und todesmutig, wie es dem jungen Arzt erschien, auf, sie riß sich los , flog über den Rasen hin und öffnete ohne noch einmal zu zögern, die unverschlossene Thür des Häuschens . Doktor Wille folgte, so gut er vermochte, er fand
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die Thür weit offen stehen , und von drinnen. vernahm er einen halb jauchzenden halb schmerzlichen Aufschrei und dann verhaltenes Schluchzen und dazwischen abgerissene, aber ganz deuts liche Worte: „ Ich bin wieder hier, bin bei dir Franz! Ich habe im Walde einen Doktor ― gefunden bei den Bischofsbuchen! - mitten - Gott will es gewiß, im Walde, Franz ! daß wir noch weiter leben sollen ! “ Der junge Arzt lauschte nur einen Augenblick, dann trat er mit leichtem Schritt herein. Ein kleiner, ziegelsteingepflasterter Vorhof, in welchem zwei Jagdgewehre hingen, führte unmittelbar zu der einzigen größeren Stube des Hauses, in welcher der Kranke lag. Im Eintreten nahm er wahr , daß Gertrud vor dem im Hintergrund des Gemachs stehenden Bett kniete und ihren Kopf zärtlich an das Haupt ihres kranken Mannes lehnte, welches sichtlich kraftlos auf den Kissen lag und beim Erscheinen des fremden jungen Mannes nur wenig erhoben wurde. Aus den braunen, jetzt fiebrisch geröteten Augen des Kranken flog dem Arzt jener halb hoffende , halb bangende Blick entgegen, den Konrad Wille nun zu gut kannte. Und dann glitt die matte Hand , die sich auf das dichte blonde Haar der jungen Frau gelegt hatte, herab und mit dem Ausdruck düsterer, angstvoller Sorge wendete sich das Gesicht des Mannes auf Gertrud, die ihrerseits nun erwartungsvoll zu dem Arzte auffah. Doktor Konrad ward es fast unheimlich zu Mute, er bekämpfte indes seine Wallung und begrüßte den Waldhüter mit jener klangvollen Stimme, die allein schon Hoffnung in den Herzen der Kranken weckt. Er prüfte ruhig den Pulsschlag des jungen Mannes, deſſen Geſicht und deſſen kräftige Geſtalt mit der hilflosen Lage, in der er ihn fand , entschieden kontrastierten. Franz Buchner , der etwa zehn oder zwölf Jahre mehr zählen mochte als seine junge Frau , mußte in gesunden Tagen einer der stattlichsten Männer sein, welche Doktor Wille je unter dem Gebirgsvolk der Rhön gesehen. Scharfgeschnittene kühne Züge , eine prächtig gewölbte Stirne, an die sich krauses, braunes Haar dicht ansette, braune Augen, denen jest freilich der volle Glanz fehlte, und zwei Reihen der schönsten weißen Zähne nahm Doktor Konrad wahr, indes er sich vom Zustand des Kranken schweigend unterrichtete. Er fand diesen Zustand bei weitem nicht so bedrohlich , als er
nach der Erregung Gertruds angenommen hatte, und vermochte selbst das Bangen, das er auf dem Gesicht des Waldhüters wieder und wieder wahrnahm , mit der ganzen Erscheinung des Mannes nicht in Einklang zu bringen. " Guten Muts, Franz Buchner! " sagte er lächelnd, nachdem er seine Untersuchung beendet. „Solch ein Fieber, wie Sie haben, wirft einen starken Mann , wie Sie sind , nicht leicht zu Boden. " „Die stärksten Bäume brechen am jähesten, Herr Doktor !" versezte der Waldhüter. „ Nicht daß ich mich vor dem Zerbrechen fürchtete, ich war Soldat, Herr, und habe bei Spichern. und Mars-la-Tour das Feuer ganz gut aus- um mein gehalten. 'S ist mir nur um ſie · junges Weib - wäre sie nicht , sollten Sie mich tapferer sehen, als ich heut bin ! " Wunderlich ! Ihre Frau sagt just das, selbe von sich! " entgegnete der Arzt. „Sie müssen eben vertrauen, daß Ihnen geholfen, und rasch geholfen werden kann. Und nun, liebe Fran," fuhr er zu Gertrud fort , „ nun gehen Sie mir ein wenig zur Hand. Haben Sie Essig im Hause? und ein paar reine - Das Wasser im Sinnleinene Tücher? brunnen draußen quillt frisch und klar , das sagten Sie mir schon unterwegs, schaffen Sie mir eine Schüssel voll herzu ! Und dann schließen Sie die Thür nach dem Vorflur und wir öffnen hier das Fenster , die Luft von heute ist auch für einen Fieberkranken erquicklich. Lehnen Sie draußen den Laden vors Fenster, damit es hier dunkler wird. Sie haben beim Sonnenlicht hier nicht gut gelegen , Sie hätten eben viel früher meinen Kollegen aus Gersfeld herzurufen sollen. " Als Doktor Wille diesen Tadel leicht hinwarf, war Gertrud längst hinausgeeilt, um seine Weisungen zu erfüllen . Und wie es in der oberen Hälfte des Gemachs schattiger und dunkler ward, sah der junge Arzt unwillkürlich prüfend um sich, was geändert und vorbereitet. werden müsse. Waren ihm vorhin die Bewohner des Hauses aufgefallen , so kam ihm jetzt zum Bewußtsein, daß das Haus selbst in eigentümlicher und gewinnender Weise von den landüblichen Wohnungen absteche. Zwar schien der Hausrat nicht reichlicher oder kostbarer als die Ausstattung in andern Behausungen. Vielleicht waren die hölzernen Tische und Stühle, die bunten Kleiderkästen, die als Size dienten,
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ein wenig zierlicher , als er sie sonst gesehen, vielleicht war es auch nur die peinliche Sauberkeit und Sorgfalt , mit der alles gehalten schien, die ihn mit günstigem Vorurteil erfüllte. Die stille Traulichkeit und anspruchslose Behaglichkeit dieser Wohnung fiel ihm unter den obwaltenden Umständen doppelt ins Augeer sah teilnahmsvoll auf das junge Weib, welche dieselbe geschaffen und selbst jezt erhalten hatte. Geschickt und willig , mit gespannter Aufmerksamkeit bald an seinen Blicken, bald an denen ihres Franz hängend , leistete sie den Anordnungen Doktor Konrads Folge. Bald war ein Zuſtand des Zimmers und des Lagers hergestellt, zu dem der junge Arzt befriedigt nichte. Er saß jetzt am Bett des Kranken, ihn weiter zu beobachten, und Gertrud war wieder hinausgegangen, um frisches Wasser zu holen , das er unablässig begehrte. Und indem er gespannt und aufmerksam die Mienen Franz Buchners beobachtete , sah er ganz deutlich, daß dieselben , so oft Gertrud kam und ging, mit gramvoller Sorge am Gesicht und der Gestalt der Frau hingen , die ihrerseits den Mann mit Blicken ermutigte, in denen unendliche Zärtlichkeit und ein Etwas lag, das Doktor Konrad nicht zu deuten wußte. Er wäre um ein Gutes ruhiger gewesen, hätte er diesen nicht in so sichtlicher innerer Unruhe erblickt. Nach seiner Ansicht von der Krankheit des Waldhüters sollte dieser jetzt matter und stiller und schlafbedürftiger liegen. Er zog aus seiner Tasche ein Pulver, das er mit sich führte, um es für den franken Mann zuzubereiten. Dabei kam ihm das Taschenbuch mit seinen trüben Reflexionen wieder zwischen die Finger; in dem er vor ein paar Stunden unter den Bischofsbuchen gelesen hatte , während der Rast, aus der ihn die Erscheinung Frau Gertruds brachte. Wie fest, wie eisern sich diese Menschen hier ans Leben klammerten ! Und doch lebte er so voll in seiner Pflicht, daß er zu gleicher Zeit beruhigend sagte: Sie können sich aller Sorgen entschlagen! Ich sage Ihnen im voraus , daß Sie in wenig Tagen geſund sein können, sein werden, wenn Sie sich nicht mit thörichter Unruhe quälen. Wie soll Ihre Frau gefaßt bleiben, wenn Sie dieselbe anblicken , als ob es ans letzte Abschiednehmen ginge ? Und wie paßt's zu Ihrem eisernen Kreuz, das ich dort unter dem Kruzifix hängen sehe, daß Sie Ihrer
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Gertrud nicht ein mutigeres Gesicht zeigen wollen. Selbst wenn Sie in Gefahr wären - Sie dürften es ihr nicht merken laſſen ! “ „ So ist's möglich , daß ich durchkomme, Herr Doktor? " fragte plößlich der Kranke, gegen die Anordnung Konrad Willes das Haupt hoch erhebend , um fest in die Augen des Arztes sehen zu können , " ' s ist mir nicht um mich ! beim ewigen Gott nicht um mich! Gertrud weiß es, daß ich daran nicht denke. Aber sie würde - sie würde - mich nicht überleben ! Und es wäre noch so früh so gar früh! " Die Worte des Kranken gingen in unverständliches Gemurmel über , der Arzt ward trotz aller Teilnahme von einer gewiſſen Ungeduld erfaßt. Er legte dem Waldhüter ein neues kalt angefeuchtetes Leintuch über die brennende Stirn , erquickte ihn mit einem Trunke und sagte dann : „ Es ist brav und recht von Ihnen , wenn Sie Ihre Frau so lieb haben , daß Sie sich um deren Schicksal mehr kümmern, als um ihr eigenes ! Ich glaub's Ihnen auch gern , daß Gertrud gar herzlich an Ihnen hängt, und freue mich doppelt, daß ich Ihnen mit gutem Gewissen sagen darf, Sie werden gesund, und zwar wenn Sie meinem Rate folgen , recht bald . Für alle Fälle aber , lieber Freund, schlagen Sie sich nicht mit müßigen Sorgen herum. Glauben Sie mir, kein Mensch stirbt dem andern so rasch nach. Und wenn Sie seiner Zeit eine französische Kugel auf den Spicherer Höhen getroffen hätte, Frau Gertrud würde. doch wohl noch am Leben sein!" „Damals war sie noch nicht mein Weib!" entgegnete der Waldhüter, in dessen Mienen. der Ausdruck innerer Unruhe wuchs. „ Sie wissen nicht wie ich's meine, können nicht wissen , warum mich das Bangen um sie in den lezten Nächten mehr durchschüttelt hat, 44 als das schlimme Fieber. Aber Die Stimme des Kranken, die eben laut und deutlich gewesen war, verstummte plötzlich in einem tiefen Seufzer, seine Augen richteten sich nach der Thür und die des jungen Arztes folgten unwillkürlich. Dort stand Gertrud und hatte nur einen Moment währte es, - den aber Doktor Konrad sah es deutlich —
Finger fest auf die Lippen gepreßt und einen Blick, halb flehend , halb zürnend , auf ihren Mann geworfen , der auch den Arzt seltsam durchschauerte. - Eine Minute später stand 78
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Gertrud neben dem Lager ihres Mannes, ohne weiter innere Erregung zu verraten und ging dem jungen Arzte hilfreich zur Hand. Da ihr Doktor Konrad sagte, daß jezt nichts zu thun sei , als den Kranken ruhen zu lassen , zeigte sich plötzlich ein Schimmer wiedererwachender Hoffnung auf dem Gesichte der jungen Frau. Und dabei sah sie den hilfreichen Fremden so weich, so innig dankbar an, daß dieser in seinem ebengehabten Eindrucke fast beirrt ward. Doch wuchs in seiner Seele die Ueberzeugung, daß dies abgelegene Haus und das einsame Leben des jungen Paares etwas Ungewöhnliches, vielleicht ein dunkles Geheimnis bergen müßten. Er begann still bei sich zu erwägen, ob es zu seiner ärztlichen Pflicht gehöre, auch dieſem auf den Grund zu kommen . Er hatte vorhin , im Vorübergehen , am Hause eine Art Laube, einen Ausbau des hölzernen Wetterdaches wahrgenommen , die jest in der Mittagsglut einen schattigen Siz darbieten mußte. So sagte er denn der jungen Frau, daß er dort hinausgehen und den Schlaf und das Wiedererwachen seines Kranken abwarten wolle. Gertrud nickte, sie beſann sich, daß der Fremde ihr Gast sei . Sie sah nochmals auf ihren Franz , der jetzt einzudann flog sie geschäftig schlummern schien ― wieder hinaus. Konrad Wille folgte ihr langsam, dem wunderlichen Zufall nachsinnend, der ihn von seinem Weg und seinen Träumen abgezogen hatte. Draußen lag der volle Mittagssonnenschein über Wald und Hochwiese: von den Baumwipfeln bis herab zu den Gräsern war alles in goldenes Licht getaucht, über den Tausenden der Waldblumen schwärmten surrende Bienen , deren Stöcke in der Einfriedigung standen, welche das Haus umgab . Die Laube mit hölzernem Dach war an den Seiten grün bewachsen, Kürbisstauden rankten an ihr empor und der junge Mann ließ sich, nicht ohne Wohlgefallen an dem wohlgehaltenen Platz und der ganzen Umgebung, in derselben nieder.
Frau Gertrud ging ein paarmal ab und zu, sie besetzte den Tisch mit einfachen Erfrischungen, die aber in diesen Bergen eine gewisse Wohlhabenheit verrieten und unter denen selbst eine Flasche des weißen Saalecers Weines nicht fehlte. Unverkennbar empfand die junge Waldhütersfrau eine Art Stolz, daß sie dem geehrten Gaste Besseres zu bieten habe , als er hier erwarten konnte. Doktor Konrad
brach sich ein Stück Brot und schenkte sich von dem Wein ein. Sein Sinn war jedoch nicht bei dem einfachen Mahle und seine Augen . hingen unablässig und heimlich prüfend an den Mienen Gertruds , die jest um so viel ruhiger und leichter waren , als vor einigen Stunden, und die dafür um so viel lieblicher erschienen. Sie hatte sich einige Schritte von. ihm gerade an der Thür des Hauſes niedergesezt, wo der bretterner Dachvorsprung gleichfalls Schatten gab. Hier hatte sie die Schwelle zu ihrem Gemach im Auge und konnte fast jeden Atemzug von drinnen hören . Und anderseits hörte sie das leiseste Wort des Arztes und auf ihrem Gesicht stand es deutlich geschrieben, daß sie auf ein gutes , tröstliches Wort hoffte. --- Konrad Wille unterließ denn auch nicht , ihr zu sagen, daß die Krankheit ihres Mannes bei weitem nicht so schwer sei , als er nach ihrem anfänglichen. Bericht geglaubt habe, und daß der Kranke vor allen Dingen Ruhe , freilich auch innerer Ruhe bedürfe. Er sorge zu viel um sie, denke wahrscheinlich zu viel an die traurige Lage, in der er sie im schlimmen Falle zurücklassen müßte. Steht es wirklich so schlimm, Frau Gertrud? Haben Sie im Fall Ihren Franz ein Unglück träfe, was wir ja diesmal mit Gottes Hilfe abwenden werden - feine Pension von dem Grafen, in dessen Diensten . er steht, zu erwarten ? Sind Sie nicht in dieser Gegend daheim - hätten Sie feine Verwandten hier, die sich Ihrer annehmen. könnten? " Der wackere junge Frager erschrak jedoch vor der Wirkung seiner Worte , die er nach seiner Meinung ganz leicht und nebenher und doch teilnehmend hingeworfen hatte. Vom Gesicht Gertruds verschwand der lichtere Schein, in ihre Mienen kehrte der eigentümliche düstere Troß zurück, den er schon ein paarmal wahrgenommen hatte. Sie blickte plöglich und scharfprüfend nach ihm hinüber, als wolle sie die geheimsten Gedanken auf seinem Gesicht lesen, dann senkten sich ihre Augen, ihre Hände falteten sich unwillkürlich und sie schien sich minutenlang zu besinnen, ehe sie in dem kurzen, abwehrenden Tone, den er gleichfalls schon auf dem Wege hierher gehört hatte, zur Antwort gab: „ Der Graf hat einen kleinen Gnadengehalt für die Witwen und Kinder seiner Beamten ausgesezt. Das brauchte Franz nicht
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zu bekümmern und es bekümmert ihn auch nicht ! Ich habe nichts , gar nichts auf der Welt nötig, als ihn ! " Konrad Wille fühlte, daß er auf diesem Wege nicht weiter fam, er wollte das junge Weib nicht beängstigen und war in Wahrheit vollkommen überzeugt, ihren Gatten nicht nur retten , sondern rasch und leicht herstellen zu können. Und doch drängte ihn die Teilnahme , die er für die Einsamen hier oben gefaßt, und ein innerer Trieb, von dem er sich kaum klare Rechenschaft geben fonnte, zu weiteren Fragen. Wie er Frau Gertrud dort ſizen sah , starr vor sich hinbrütend , aber doch mit einem Zug von Entſchloſſenheit um die aneinander gepreßten Lippen, völlig anders, als er so viele Frauen in ihrer Lage gesehen , wuchs sein Entschluß , diesen Leuten ganz zu helfen , wenn es in seiner Macht stehe. Er nahm die Miene an, die plögliche Veränderung im Gesicht und Wesen der jungen Frau gar nicht zu beachten, und wiederholte ihr, daß er keine ernste Sorge um ihren Mann. hege. Wohl aber, " fügte er hinzu , „ kann es nötig werden , daß ich diesen Nachmittag, ehe ich von hier aufbreche , eine Arznei verschreibe, die noch heute geholt werden muß. Haben Sie niemand, der für ein gutes Wort und ein Stück Geld den Weg nach Gersfeld unternimmt? Ich würde dann auch ein paar Zeilen an den Doktor dort unten schreiben. Wie weit wohnen die nächsten Nachbarn von Ihrem Häuschen? " „Wir haben keine Nachbarn! " versetzte Gertrud erglühend. „Das nächste Jägerhaus ist bei Maria-Ehrenberg , und drüben am Dalherdaer Weg wohnen ein paar Holzfäller. Sie würden aber nicht für uns gehen - was für Franz notwendig ist, kann ich immer selbst thun. Ich habe jeßt andre Kräfte als vorhin, da Sie mir so gute Hoffnung gegeben haben ! " „So wird es am besten sein , Sie gehen alsbald den Weg zur Apotheke , damit Sie vor Abend zurück sind . Und bis Sie zurück sind, will ich bei Ihrem Mann bleiben," entgegnete Konrad Wille ruhig. Die leyte Antwort der jungen Frau hatte seinen Entschluß entschieden, er wollte jeßt erfahren, welch wundersames Geschick diese beiden Menschen in so hilflose Einsamkeit getrieben hatte und sie hartnäckig darin verharren ließ. Ich werde Ihnen das Rezept und ein Wort an den Arzt in
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Gersfeld sofort schreiben, und Sie können sich immer zum Gehen anschicken. Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihren Kranken wohl behüten will- und Ihr schmuckes Häuschen dazu . " Gertrud hatte die Arbeit , die sie vorhin still vorgenommen, fallen lassen und sich von ihrem Size erhoben. Jezt war sie blizſchnell bei dem jungen Arzt in der Laube, sie ergriff, ehe er es hindern konnte , seine beiden Hände und bedeckte sie , während ihre Thränen hervorstürzten, mit Küssen : " Ihnen glaube ich, Herr Doktor! Sie sind gut, wie nur ein Mensch zum andern sein kann !" Er strebte die leidenschaftlich Bewegte zu beruhigen und sagte dann mit ernster Betonung: Sie haben sich viel zu rasch das Schlimmste vorgestellt ! Das wird aber immer geschehen, Frau Gertrud , wenn Sie hier so einsam und ohne Verkehr mit irgend einem Menschen leben, und bei jedem Vorfall geradezu hilflos sind. Wäre Ihr Mann , statt jezt, mitten im Winter erkrankt, so hätte Ihre Furcht Grund haben und der Kranke ohne Rettung verloren sein können. " Gertruds Lippen öffneten sich wie zu einer Antwort, aber kein Laut kam daraus hervor und sichtlich befangen kehrte sie sich stumm von dem ernsten Mahner hinweg. Doktor Konrad zeg sein Taschenbuch hervor und schrieb gleichfalls schweigend auf ein loses Blatt desselben das Rezept, welches die junge Frau bereiten laſſen sollte. Er gab ihr außerdem seine Karte mit einigen erläuternden Worten an den ihm bekannten Arzt in dem Rhönstädtchen. Als er ausblickte, um die Frau des Waldhüters nach dem Namen des Kollegen zu fragen , sah er, daß Gertrud ins Haus verschwunden war. Er ging ihr nach und blieb auf der Schwelle vom Vorplatz zu dem Gemach stehen, in welchem der Kranke schlummerte. Er hatte ganz richtig erraten, daß Gertrud noch einmal nach ihrem Manne sehen wollte. Franz Buchner schlief, nicht völlig ruhig , aber der leise Tritt seines Weibes hatte ihn dennoch nicht erweckt. Die junge Frau stand vor dem Bett mit gefalteten Händen sie schien ein kurzes Gebet gesprochen zu haben. In ihren Mienen aber erkannte der Arzt , troß der künstlichen Dämmerung , die in der Stube herrschte, einen inneren Kampf. Sie pries Gott und ihre Heiligen für den Schlummer ihres kranken Mannes, und doch malte sich in ihrem Gesicht.
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der Wunsch, ihn zu wecken und ihm etwas zuzuflüstern. Doktor Konrad dachte an den Augenblick von vorhin, in dem sie da gestanden, wo er jetzt stand, den Finger auf den Lippen, Schweigen heischend . Er machte durch ein leises Geräusch seine Anwesenheit kund und winkte ihr, den Schlummernden ja nicht zu stören . Sie erglühte wieder über das ganze Gesicht, aber sie kam auf den Zehen schreitend zu ihm heraus, knüpfte das bunte Tuch um ihr Haar fester und sagte: „ So will ich mit Gott gehen, Herr. Lassen Sie mich meinen Franz wiederfinden, wie ich hoffe. “ Sie hatte ihm die Hand gereicht, und ehe er ihr ein Wort zu erwidern vermochte, eilte sie aus der Umfriedigung des Waldhüterhauses hinaus - der junge Mann sah sie über die Hochwiese nach dem Walde auf demselben Wege gehen, den er vorhin mit ihr gekommen war. Nur vom Waldrand aus warf sie einen Blick nach ihm und ihrem Haus zurück. Der Arzt machte ihr eine ermutigende Gebärde. Sie fonnte dieselbe kaum wahrgenommen haben, als sie zwischen den Bäumen und Büschen des abwärts führenden Waldweges verschwand. Ein wenig befangen blickte Doktor Konrad um sich, als er jetzt in dieser Stille mit dem kranken Mann allein war und bedachte, wie weit er aus seinem Weg gelenkt worden sei und wie schwierig es sein werde, heute noch von hieraus an sein nächstes Reiseziel zu gelangen. Der Anblick seiner Reisetasche , die er vorhin im Flur abgelegt, verjeßte ihn in eine Stimmung, in der er gern seiner selbst spottete. "So - jest wäre ich denn Arzt und Krankenpfleger in einer Person, und dabei fann ich ja kaum den Augenblick erwarten, wo ich auch Beichtvater sein werde, “ ſagte er leiſe vor sich hin. " Und es ist noch sehr die Frage, ob die Geschichte, die ich hören werde, auch nur für meine Wintervormittagsbesuche bei den alten Frankfurter Bankiersdamen zu verwenden ist. " Damit kehrte er zu seinem Siß in der Laube zurück und öffnete den nächsten geschlosjenen Laden des Hauses ein wenig , um von hier aus den Kranken beobachten zu können . In der einsamen Stille hörte er die schweren Atemzüge des Waldhüters so deutlich , wie das Surren der Bienen und das leiſeſteRascheln, das drüben zwischen den Zweigen des Unterholzes erklang. Das eintönige Rauschen des
Brunnens hatte ihn beinahe ſelbſt in den Schlaf ― er suchte seinen Träumen zu entgewiegt rinnen, indem er in seinem Taschenbuch Notizen über seine Wanderung von gestern und vorgestern eintrug. Während er sich mühsam dabei festhielt, hörte er nach etwa einer halben. Stunde ganz deutlich den Namen Gertrud rufen. Franz Buchner war drinnen erwacht. Mit wenigen raschen Schritten war Konrad Wille bei seinem Kranken. Der Waldhüter hatte sich leicht emporgerichtet, sein Haupt stüßte sich auf den Arm, er blickte um ſich und rief noch einmal nach Gertrud , als der Arzt in der Thür, vor seinem Lager erschien. Er befann sich augenblicklich und lächelte den Fremden dankbar an, aber er fragte : „Wo ist mein Weib, Herr ? " und als Doktor Konrad entgegnete: " Auf dem Wege nach Gersfeld, um einen Trank für Euch in der Apotheke herrichten zu lassen," sagte er mit einem Anklang von Mißmut in seinem Ton : „ War das nötig. Herr Doktor? Mir ist, als hätten. Sie michschon gesund gemacht, ich fühle michweit besser und stärker, als vorhin, da Sie kamen. " „Aber das Fieber kann am Abend wieder stärker werden ," versette Doktor Wille und nahm die Hand des Kranken. „ Ich mußte Ihre Frau bitten, die nötige Arznei herbeizuschaffen , ich drang umsonst in ſie , sich nach einem andern Boten umzusehen. Sie blieb dabei , daß niemand den Weg für sie machen könne. " „Können schon, " sagte Franz Buchner zwiaber sie würden schen den Zähnen hervor , nicht für uns gehen, und sie brauchen und sollen es auch nicht !" Im Gesicht des Mannes sah der junge Arzt den trogig -stolzen und düstern Zug wieder, den er schon ein paarmal auf dem der Frau wahrgenommen hatte. Er zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort und erwiderte dann nur kurz :
"1 So hat eben Frau Gertrud gehen müssen. Haben Sie aber Ihre Frau so lieb , wie Sie sagen, so sollten Sie doch daran denken , daß ihr in schlimmen Fällen eine Hilfe nicht fehlt. Sie sind draußen tagelang und das arme Weib ist hier immer allein!" „Gertrud ist gern allein geblieben und hat mich mit Freuden erwartet," gab Franz zur Antwort, und in der Stimme des Kranken war ein so zuversichtlicher , stolzer und dabei. treuherziger und froher Klang , daß Doktor
Bum Tode vereint.
Konrad fast ein wenig beschämt hinwegblickte. Er faßte sich inzwischen bald und sagte, sich ruhig auf dem hölzernen Schemel neben dem Bett niederlassend: ,,Sie verstehen mich falsch , lieber Mann ! daß Sie sich allein mit Ihrer jungen Frau ganz glücklich fühlen und sie mit Ihnen, glaube ich Ihnen gern und lobe es. Aber Sie haben es erfahren, daß es nicht immer geht, wie wir wünschen, und müssen in Zeiten dafür sorgen, in solchen Fällen eine Hilfe wenigstens bereit zu wissen. Statt Ihnen könnte Ihre Frau schwer krank sein und das wäre beinahe schlimmer. Sie können Kinder erhalten - " „Wir hatten ein Kind, das uns nach wenigen Tagen starb ," verseßte der Waldhüter gepreßt. „ Wir trugen es ſtatt zur Taufe zum Begräbnis nach Oberbach hinab, - Gertrud war dann den ganzen Winter lang viel traurig und in sich gekehrt ! " In den Worten und noch mehr im Ausdruck des Mannes zitterte eine schwere Erinnerung nach. Der junge Arzt aber ward durch dieselben beinahe leidenschaftlich erregt, das ganze Bild des Jammers , den die Einsamen durchlebt haben mußten, trat ihm vor die Augen und er zürnte, indem er dabei doch dem Kranken sorgfältig das Kissen zurecht legte und den fühlenden Umschlag erneuerte : " Und die Frau hat das Kind zur Welt gebracht und hat es verloren und ist dabei immer und immer mit Euch allein gewesen und nur mit Euch! Und das soll so fortgehen! - " „ Ich habe den Doktor aus Gersfeld geholt und der Herr Pfarrer von Oberbach hat uns zweimal besucht ! " entgegnete der Waldhüter. Ist's denn so gar unrecht, wenn zwei Menschen nur füreinander und miteinander leben wollen?" Wieder war es Konrad Wille , als müsse er vor der siegenden Gewalt so einfacher ſtarker Empfindung verstummen. Und doch ward er beim Blick auf den Kranken inne, daß derselbe von der alten Unruhe erfaßt sei . Er fühlte, daß er entweder das Gespräch abbrechen oder flar sehen müsse ; wie es jetzt stand, ward der leidende Mann von seinen Gedanken und Doktor Wille's drängenden Worten nur gequält. Er überlegte noch, was ihm unter solchen Umständen geboten sei, und in dem halbdunkeln Gemach herrschte einige Minuten eine dumpfe schwüle Stille. Da mit einem Male
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richtete sich der Waldhüter auf seinem Lager empor und fragte mit einer seltsam bebenden Stimme: „Können Sie mir gewiß versprechen, Herr, daß ich diesmal wieder aufstehen werde. Und glauben Sie, daß das harte Fieber sobald nicht wiederkommt? " "Ich sagte Ihnen schon, daß Sie nicht so krank sind, als Sie glauben,“ antwortete Doktor Wille. „ Und wenn Sie sich ein paar Tage ruhig pflegen und Ruhe im Gemüt haben, werden Sie gesund von hier aufstehen. Sie sehen nicht aus wie ein Mann, der kränkelt und wissen das wohl auch, so daß ich's Ihnen nicht erst zum Trost sagen muß. " der Wieder folgte eine ſchwüle Pauſe Arzt sah deutlich, daß Franz Buchner unablässig nachsann. Von Zeit zu Zeit öffnete er die Lippen und schloß sie wieder, und dann holte er schwer Atem. Und mit einem Male jagte er leije: Kann denn das sein, Herr Doktor, daß dem Menschen, wenn er frant ist, eben das unrecht dünkt , was ihm sonst für recht gegolten hat ? " " Freilich kann es sein, " entgegnete Doktor in der KrankKonrad. " Und mein Freund heit trifft es der Mensch oft besser, als wenn er sich stark und kräftig fühlt. " ?? Und Sie meinen, daß das nicht sein darf, daß zwei Menschen, die sonst nichts und niemand auf der Welt haben , und denen keiner den Tag gönnt , nur beieinander leben und auch miteinander sterben, wenn es zum Sterben kommt !" Der Kranke mochte meinen , daß er noch immer nur eine verlorene Frage gethan habe - der junge Arzt aber stand lautlos, tief erschüttert. Wie ein Licht, das am Ausgang eines dunklen Raumes entzündet , mit einem Mal rückstrahlend die Wände erhellt, zwischen denen er suchend und tastend hindurchgetappt, erriet jest Konrad Witte alles, verstand alles, was ihm seit diesem Morgen rätselhaft erschienen war. Er fühlte sich im Augenblick unfähig, ein Wort zu erwidern, er wußte selbst nicht , was ihm mit einem Mal die Lippen. schloß. Aber er faßte sich rasch und antwortete ernst, doch im mildesten Tone : „ Also darum habt Ihr um Eure Gertrud gebangt ? und darum sagt sie, daß sie nur mit Euch leben will ? Warum haben Sie das niemals Ihren Pfarrer gefragt, Franz Buchner , und
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warum gehen Sie zur Beichte, wenn Sie doch das verschweigen?" " Es sollte auch jezt nicht gesagt sein, " murmelte der Kranke. „ Aber vielleicht ist's besser und wenn es doch mit mir zum Schlimmsten käme , so könnten Eie Gertrud fönnten ihr zureden — " behüten Die Augen des bewegten Mannes füllten sich mit Thränen , seine Stimme versagte ihm. Doktor Konrad beobachtete ihn gespannt , er zürnte im Augenblick sich selbst, daß er etwas so völlig anderes hinter den dunkeln Worten und den troßigen Mienen der Leute im Walde vermutet. Er trug Sorge um den erschütterten Kranken, und bänglich schlug ihm das eigene Herz. Aber die Not des Augenblicks gab ihm bald die volle Klarheit zurüc er faßte wiederum die Hand des Waldhüters und sagte eindringlich: „Sie sollen und müſſen Ruhe haben , und bekommen nicht Ruhe, bis Sie sich alles vom Herzen gesprochen haben. Ich will Ihnen Ihre Kissen noch einmal zurecht legen , dann nehmen Sie wiederum das Pulver, was Ihnen vorhin gut gethan, erquicken sich mit einem frischen Trunk, und dann sagen Sie mir in Gottes Namen, was Sie doch gesagt haben. Nicht ich kann Ihnen Gertrud behüten, aber ich hoffe , ich kann Sie gesund machen , und dann ist's an Ihnen , sie vor solcher Thorheit zu wahren ! Und nun frisch, Mann ! Sie müssen schlafen, und mit guter Hoffnung schlafen, da Sie mir einmal soviel gesagt haben , sagen Sie alles ! "
„Was habe ich Ihnen denn gesagt? " fragte der Kranke zurück. " Gertrud hat mich noch vorhin ermahnt, daß ich schweigen ſollte ! “ „ Ich habe es gesehen, “ unterbrach ihn der junge Arzt. Sie haben mir gesagt, daß Sie und Ihre Frau gemeinsam sterben wollen. Sie haben gefürchtet , daß wenn Sie heute diese Krankheit hinweggerafft hätte, auch Ihre Gertrud freiwillig aus der Welt gegangen wäre und es graut Ihnen jegt bei diesem freveln Gedanken!" „Ja für Gertrud!" verseßte der Waldhüter mit merkwürdig fester Stimme. „ Sie soll nicht um meinetwillen sterben , wenn ihre Zeit noch nicht gekommen ist. Mit wir wär's etwas ganz anderes ; ich ich habe nichts auf der Welt, als sie, und möchte nicht einen
Tag ohne sie leben ! Aber sie möchte ich nicht in mein Grab hinabziehen !" " Eure Frau wird dasselbe sagen !" unterbrach Doktor Konrad den Sprechenden , der finster vor sich hinblickte und offenbar schon bereute , sein Geheimnis verraten zu haben. „Wenn Sie ruhig und gesund werden wollen , Franz Buchner , so müssen Sie alles sagen und mich wissen lassen, wie Sie zu diesem Entschluß und diesem Wahn gekommen sind. Denn ein Wahn ist's mein Freund , wenn's " Ihnen auch anders scheinen mag ! --Immer hörbarer pochte jezt das Herz des jungen Arztes, immer mehr war ihm zu Mute, als richte er seine Worte soviel an sich selbst, als dort an den kranken Mann. Der Waldhüter konnte nichts von der inneren Erregung seines Helfers und Pflegers ahnen, er brütete noch einige Minuten still vor sich hin , dann erhob er das Haupt ein wenig und hob wieder an: " Wenn Sie mir helfen wollen , Gertrud auf andere Gedanken zu bringen, will ich Ihnen alles erzählen, Herr ! ' s ist eine ganze Geschichte - von Dalherda bis Oberbach kann Ihnen jeder ein Stück davon erzählen und das Beste und Schlimmste wissen sie doch nicht. Ich bin aus einer der ärmsten Hütten in unserem armen Gebirge geboren , wenn die Nachbarn umber halb hungerten , hungerten wir immer auch hatte ich das Unglück, früh Bater ganz und Mutter und meine Geschwister zu verlieren. Ich muß es dem alten braven Pfarrherrn in Dalherda im Grabe danken, daß ich gesund aufwuchs und die Schule genoß und zulezt in einen guten Dienst gegen Fulda hinfam , wo ich nur die Augen aufthun durfte, um jeden Tag mancherlei zu lernen. Am liebsten wäre ich Jäger und Förster geworden , das ging nun für mich nicht an, darein mußte ich mich fügen. „Aber der Wald hatte mir's doch angethan, und aus meinem ersten Dienst kam ich wieder zu einem Herrn, der ein prächtiges Stück Forst besaß und mir mancherlei darinnen zu thun gab. Und dann diente ich meine Zeit und ich habe mich als Soldat ordentlich gehalten und den Krieg in Frankreich mit durchgemacht und erhielt, weil ich Glück hatte und mein Hauptmann besonders auf mich achtete , das eiserne Kreuz. Es waren mehr Burschen bei unsrer Kompanie, die sich so brav, ja braver gehalten hatten, wie ich, aber keiner von ihnen hat mir
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schreckten mit dem wilden Franz die kleinen mein Glück geneidet oder ist mein Feind darum geworden. Und bald nach dem Krieg erhielt Kinder. Sah ich aber durch die Finger , bei solchen, wo ich arge Not im Hause wußte, ich meinen Abschied und weil ich drunten in wandte ich die Augen weg, wenn mancher und Dalherda nahe bei meiner Heimat war und manche unter dem dürren Holz gute Aeste und eine Waldwärterſtelle dort frei ward , dachte Wurzelstöcke heimschleppten , dann konnte ich ich, daß ich doch einmal ein Rhöner sei und sicher sein, daß es dem Förster, der über mich hier bleiben müsse: ich hielt beim Grafen Frohgesezt war und dem Grafen selbst zu Ohren berg um die Stelle an, gefiel dem Herrn und Es war ein ehrliches erhielt den Posten. kam und ich einen scharfen Verweis erhielt. Stück Brot und ich hatte es zu verdienen, wie Das klingt alles gar klein und nichtig , Herr Doktor, und im Anfang kam mir's nicht größer ein andrer auch, aber das ist wahr, daß manvor! Aber das wächſt und wächst, das breitet chem von meinen alten Schulgenossen und vielen sich aus und wuchert wie das Heidekraut, wenn von meinen neuen Nachbarn das Leben saurer der Wind den Samen umherträgt. Zuerst und schwerer ward, als nun mir ! Und ich war jung und übermütig , Herr , sang und pfiff lachte ich des thörichten Haſſes, den die Nachbarn wider mich trugen, ich nahm's als hätte und fühlte es so recht als ein Glück , daß ich ich einen Spahn auf der Schulter, den ich zu nun Arbeit im Walde hatte — und erst war meinem Berdrusse allfort sehen mußte. Aber ich kindisch dumm und merkte nicht , daß mir der Spahn wog bald wie ein Knittel, und mein Glück im Dorfe keine Freunde machte, und dann wie ein Klot , und zur Zeit, wo ich die dann ward ich trohig und lachte den Neidiſchen Gertrud kennen lernte und ich ihr gut ward, ins Gesicht, wenn sie sich drob verwunderten, trug ich schon recht schwer daran. Und nun daß ein Bursch wie ich ein Herrenleben führe. hatte ich's mit der Gertrud ! Sie kam erst Insgeheim aber fraß mir's doch am Herzen, nach Dalherda , als ich schon ein Jahr lang daß mir alles mißgönnt ward und daß die daselbst war, und wie schmuck ſie aussah, können Dorfleute, wo sie nicht an mich konnten, meiSie noch heute sehen, Herr -- oder denk ich's nem Vater und meiner Mutter allerlei schlimme nur ! — Und damals war sie fünf Jahre jünger Dinge ins Grab nachredeten und einander zuund nicht mein Weib und hatte sich noch um raunten, es gehe nicht mit rechten Dingen zu, niemands willen gehärmt, wie seitdem um mich ! daß ich so warm und trocken site ! Ich war Der alte Herdner, der dreißig Kühe auf die sehen Sie unsre von leinauf wild gewesen Hochweide schichte, was bei uns zu Lande reich Hütten, Herr, wie sie an den rauhen Bergen heißt, war ihr Better, und nahm sie nach dem. hängen ― das gibt rauhe und trozige Buben! Tode ihrer Mutter auf seinen Hof und wollte -und beim Regiment hatte mich mein Hauptsie mit seinem zweiten Sohn verheiraten, das mann mehr als einmal vornehmen und auch mit die paar Thaler, die das Mädchen hatte, strafen müssen , weil ich gar so jach gegen die bei der Familie blieben. Und wenn ich nicht Kameraden herausfuhr. Doch war's immer gewesen wäre, hätte der Alte seinen Willen mit mir und allen andern gegangen und nun wohl durchsetzen mögen , obschon Gertrud den wollte es mit einem Male nimmer gehen. Allerwege gab es Händel und ich wollte an mich Adam Herckner niemals gern gehabt hat. So - nun Sie wissen wohl, Herr , wie es geht, halten und hielt nicht immer an mich ; drüber wenn sich ein Paar alle Tage tiefer in die ward ich in der ganzen Gegend verrufen und Augen sehen und es ihnen immer wunderlicher verschwor es zuletzt noch, den Fuß in ein Wirtshaus zu sehen. Das hielt ich! Aber besser vorkommt, daß es eine Zeit gab, in der sie ward mir nicht darum, denn Herr, die Wien- sich nicht gekannt haben, und immer unmög schen ertragen alles , nur das nicht, daß einer, licher, daß eine Zeit kommen könne, in der sie an den sie wollen , ſtill beiseite tritt. Und sich nicht kennen sollten. Blißschnell waren wir eins geworden; ich fühlte es wohl vorauf, daß so kam's bald schlimmer. Aus dem ganzen ſie mir das Mädchen im guten niemals gönDorf schickten sie die Frauen und die Kinder nen würden. Und bald kam's aus, daß Gerauch in den Wald, den ich zu hüten hatte. trud meine Liebſte ſei und daß ſie um meinetTrieben sie's zu bunt , stahlen sie Holz statt willen dem Herckner Adam einen festen Korb Reisig zu lesen und that ich meine Pflicht, so flocht, und dann lärmten und zischten und waren alle Mäuler wider mich, und die Weiber
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zeterten sie, als ob ich Stirchenraub begangen hätte. Ich schwör's Ihnen , diesmal war ich gar nicht übermütig und wild, sondern um des Mädchens willen ganz still und innerlich demütig , daß mir solch ein Schatz zu teil geworden. Hochhalten wollt' ich sie für immer - aber festhalten freilich auch! ?? Und leicht, Herr Doktor, machten sie mir's wahrlich nicht, und unsre Liebeszeit ward für die arme Gertrud bald eine Thränen- und Trauerzeit, denn zuerst hatte ich nur die kleinen und dürftigen Leute wider mich gehabt, zu denen ich selbst gehörte, die sich immer besannen, daß meines Vaters Hütte noch ärmer gewesen sei, als die ihre und die mir nicht vergeben konnten, daß es mir nun besser erging, als ihnen. Die Bauern, die sich hierzulande für groß und stattlich halten , hatten sich gar nicht um mich gefümmert oder mich wohl auch einmal gelobt , wenn ich ihnen so beiher ihre paar Bäume und Büsche mit schirmte. Nun aber, da ich mich erkühnte, ein Mädchen aus ihrem Blut und auf das einer von ihnen ſelbſt ein Auge geworfen hatte, für mich zu gewinnen, hieß ich auch bei ihnen der wilde Franz und galt für einen gefährlichen Kerl, den man, je bälder, um so lieber, los werden müsse. Dem wilden Franz that das wenig , ausgenommen, daß ich Gertrud nur selten einmal begegnen durfte , und oft Monate vergingen, ehe ich einen herzlichen Kuß erhielt. Aber das Mädchen ist ja immer schlimmer daran , als der Mann, wenn sich die Welt gegen ihr Glück setzt. Was die Bosheit , der Neid und die Freude an fremdem Unglück einem Menschen Leides thun können , das ist damals Gertrud angethan worden. Und sie hatte mich ja wahr. lich von ganzem Herzen lieb , vertraute mir, wie nur ein Mädchen ihrem Liebsten vertrauen kann. Aber da jeder, der tagsüber um sie war, sich zum Unglückskänzchen machte und ihr von meiner Wildheit und allen schlimmen Eigenschaften vorkrächzte, die ich nie gehabt, verlor die arme Kreatur wohl auch einmal den Mut und die Zuversicht und sah mich gelegent= lich mit so einem halb verlöschenden, halb vorwurfsvollen Blicke an , bei dem ich mir dann allemal wünschen konnte, daß das ganze Dammersfeld und die Ollersteine dazu schon über mir lägen! Ich weiß selbst nicht mehr, Herr Doktor, wie lang das so gewährt hat und Gott mag wissen, wie lang es noch hätte dauern
können. Es war schon so schlimm, daß mir's oft durch den Kopf fuhr, ob ich der Gertrud nicht schuldig sei , auf und davon zu gehen, damit sie Ruhe bekäme ! Aber dann fiel mir's doch bei, daß sie im Hofe des Herckner ja nur darauf warteten, und daß der Adam nicht abließ in Gertrud zu dringen , seine Frau zu werden. So mußte ich bleiben, und Tag um Tag herhalten, denn sie glauben nicht, was die Leute erfindsam sind , wenn es gilt, einen Menschen, dem sie Böses wollen, niederzuheßen und wie klug der Dümmste wird, wenn's gilt, einen armen Teufel zu kränken. Ich aber blieb noch immer fest und trozig, dachte, wenn ich meine Pflicht thue und treu zu Gertrud halte, müßten sie doch endlich müde werden , und hoffte auf beſſere Zeiten. Aber wohl war mir nicht dabei, und ich trug immer den Kloß mit mir herum und er ward wirklich immer schwerer. Jeden Morgen, an dem ich aufstand, auch wenn heller Sonnenschein war, dachte ich: heute kommt das Wetter, heute schlägt's ein und wenn's nicht kam, war mir am Abend auch nicht besser ! ??‚ Darüber ― ' s sind jezt vier Jahr — kam die Heuernte wieder einmal heran. Sie müſſen wissen, daß das für unsre Dörfer ein großes Fest ist, dann zieht alles auf die Hochwiesen. und wohnt tagelang in Zelten und Zweighütten, bis das Heu eingebracht ist, und da geht's hoch her, und lustig, Herr ! und zuweilen so, daß man wohl mit seinem Mädchen dabei sein mag, aber es nicht eben gern sieht , wenn die Liebste mit andern dabei ist. Im Jahre vorher hatte mir Gertrud freiwillig versprochen, daß sie nicht mit hinauf wolle und hatte auch Wort gehalten , und in dem Jahre dachte ich von selbst, daß sie im Hause zurückbleiben würde, denn der Adam suchte sich gerade damals wieder an sie zu drängen und ich konnte fie beinahe gar nicht mehr sehen, so hatten er und seine Brüder die Augen überall. Am Ende, zwei Tage bevor sie von Dalherda hinaufzogen , begegnete mir Gertrud eines Mittags, wie sie vom Dorfbrunnen kommt. Und obschon zehn , zwölf Leute auf der Gaſſe und um uns herum waren, tritt sie mit einmal an mich heran, blaß wie ich sie nie geſehen , und reicht mir die Hand vor allen Leuten und sagt ganz laut, daß alle es hören: „ Ich kann dich nicht allein sehen , Franz , aber ich muß dir sagen, sie werden mich diesmal zwingen , mit zum Heuen auf die Wiesen hinaufzuziehen.
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Es war Vollmondszeit, hinaufzuschleppen. Der Vetter und Adam und seine Brüder würHerr auf den Waldlichtungen hell wie am den Gewalt gebrauchen, wenn ich nicht gehorchte, Tage, und die schwarzen Bäume standen an und würden den Leuten erzählen , ich ſei im den Waldrändern wie in Silber getaucht Hause geblieben, um mit dir zusammensein zu es hätte eigentlich gut zu Herzen gehen müſſen, können. Ich gehe also , und du weißt, daß aber so oft ich auch nach dem Mond hinaufdu dich auf mich verlassen darfst! Behüt dich Gott, Franz - dort kommen der Adam und sah, schnitt mir der Mann drinnen ein Gesicht wie meine Nachbarn, wenn sie recht höhnischer Gottfried schon heran , sie haben's aus dem Hofthor gesehen , daß ich zu dir redete!" Art und Laune waren. Wenigſtens kam es mir immer so vor ! Und wenn ich dann heranEhe ich mich noch recht besinnen konnte , war schlich gegen die Heuzelte, welche die Hercners Gertrud mit ihren Wassereimern schon dem aufgeschlagen hatten und nun durch die SchwarzHerdnerhof zugegangen, ich aber stand da und dornbüsche und das Gestrüpp nach den Feuern knirschte mit den Zähnen, mußte es mit anlugte , die vor den Zelten hell brannten , und sehen, daß sie dort vor dem Hofthor von den das Gewühl sah , das Gejauchz und Gejohl beiden Brüdern mit Schmähworten empfangen hörte und durfte doch nicht so nahe heran, ward. Da starrte ich ingrimmig um mich, und wie ich auch unter denen, die Gertruds Worte um Gertrud auch nur zu erkennen, dann kam ich mir mit meinen sechs Schuh und meinem gehört, nur höhnische oder verdußte Gesichter großen Bart halb wie ein Kind und halb traf, rann mir's heiß über den Nacken und wie ein unglücklicher Tropf vor. Und dabei das Gesicht, als wär ich mit Blut übergossen, zwang mich's doch, stehen zu bleiben , als könnte und das kann ich nicht läugnen, Herr, daß ich es meinem armen Schatz was helfen, daß ich an jenem Mittag einen wilden schlimmen Schwur da hinter den Büschen die Zähne übereinander wider den Adam Herckner gethan habe! biß, und ich stand und stand, bis es endlich über " Und das ist auch wahr und ich wüßte mir bei denHeustadeln still ward und die lustigen nicht , wie es hätte anders sein können , daß Leute zur Ruhe gingen. Dann scholl nur noch ich in den nächsten Tagen um die Hochwiesen irgend ein Aufschrei, das Gelächter einer Dirne über den Ollersteinen beständig umher strich, aus den Zelten herüber, die Feuer waren so wie der Fuchs um die Trauben. Seit ich Gertrud da oben wußte und mir ausmalen konnte, herabgebrannt, daß ich sie verkohlen sehen konnte, und endlich schlich ich halb traurig, halb zornig wie schlimm sie ihr in der Lustigkeit zusehen würden und wie dem armen Mädchen dabei heim. So trieb ich's drei , vier Tage, und zu Mute sein müsse, war ich freilich fast von am fünften, dem lesten der Heuernte, war ich Sinnen, und wer mir da auf dem Gang hinauf wieder ein paarmal tagsüber auf den alten oder herunter begegnet war , der konnte mit Wegen, und da dünkte mich das Treiben oben gutem Gewissen beschwören, daß der Buchner schlimmer und wilder als je, denn zu thun Franz ein paar Tage lang wie völlig verstört bei dem Hen hatten sie wenig mehr, und so dreingeschaut habe. Es war ein prachtvoller tollten sie umber, und heute nahm ich's ganz deutlich wahr, daß die Gertrud mitten unter Heumond , Herr, sonnige , warme Tage, so schön , wie sie in unserm kalten Gebirge gar ihnen war und der Herckner Adam und noch selten aufgehen, und es kam mir doppelt hart ein paar andre Bursche seines Gelichters um vor, daß ich an solch schönen Tagen und Nächsie her, und daß sie ihr zuseßten mit Necken und Haschen und Scherzen, die ich mir denken ten, mit einer so schweren Laſt auf dem Herzen, halb wie von Sinnen und so ganz armkonnte , wenn ich sie auch nicht hörte. Denn selig umherstreichen mußte. Seine Liebste in der alte Herdner, der mit seiner Heuernte tausend Nöten wissen und ihr nicht helfen. wohl zufrieden sein konnte , ließ große Korbkönnen und dürfen , damit man's nicht noch | flaschen mit Kornbranntwein umhergehen und das ist gewiß eins von den ärger mache seine Buben tranken sich frischen Mut daraus ! "Ich wollte das Ding nicht länger mit Lieblingsstücklein , die sich der Teufel in der es war ansehen und kehrte mich abwärts Welt gönnt! Ich konnte es nicht lassen, wenn ich an den Abenden todmüde heimkam und der so gegen Abend und unter den großen Buchen, Mond über dem Wald aufstieg, mich bei Nacht durch die mich mein Weg führte, dämmerte noch einmal nach den Wiesen, wo sie heueten, es schon stark. Ich ging in schlimmen Ge79
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danken , sah und hörte gar nichts , sette bleischwer einen Fuß vor den andern, und immer verspürte ich ein Gelüst , doch wieder hinaufzugehen, damit nicht ein größeres Unheil geschehe, als das, was ich einmal nicht abwenden konnte. Ich bedenke es noch und sage ein paarmal halb vor mich hin : „ Es nüßt doch nichts ! “ Und da höre ich hinter mir Geräuſch, eilige Schritte, wie wenn jemand den Berg mehr herabstürzt als herabläuft, und von oben durch den Wald gröhlende, halloende und auch zankende Stimmen. Und wie ich mich mitten. im Wege umkehre , sehe ich blitzschnell eine herabfliegende Geſtalt , und da stürzt sie auch schon gegen mich, und da ich mich mit Mühe selbst aufrecht halte, halte ich auch meine Gertrud! Aber , Herr Doktor , sie war an meine Brust gestürzt, ganz bewußtlos, ohne mich zu kennen, just wie sie auch hätte gegen einen Baum im Wege schlagen können ! Und wie fie meiner dann inne wird und zugleich die Stimmen von oben näher kommen hört, packt sie mich bei der Hand , zieht mich rasch ins dichteste Gestrüppaus ihren blauen Augen fuhren wahre Blize ! und dann schluchzt und stöhnt sie erst , daß ich kein Wort vernehme, und dann erzählt sie mir , wie es droben immer toller und toller geworden und der Adam immer frecher , und wie ihr der alte Herckner geradezu angesonnen , sie solle sich nicht unnüt zieren und die Nacht mit dem Adam das Zelt teilen ihr Sperren helfe zu nichts und er werde doch ihr Mann. Als sie den Alten und den Jungen zurückgestoßen, daß sie mit den Köpfen wider einanderfuhren, seien ihr ein paar andere Bursche zu Hilfe gekommen , allen voran der Bonifaz Dom Klösterleinbauern in Maria Ehrenberg. Der schlich auch um die Gertrud und war ihr womöglich noch mehr zuwider als ihr Better Adam. Und wie die Männer anein= andergeraten, ſei ſie davon- und herabgestürzt, die andern ihr nach wie die wilde Jagd, und nun ! - Nun erstickte neues Schluchzen jedes Wort, bis ich hörte : so geht es nimmer weiter ! Entweder suche ich eine Zuflucht im Kloster oder wir lassen dem Herdner , was ich habe und wenden uns an meinen Paten, den Pfarrer in Oberbach, und er gibt mir einstweilen Zuflucht und gibt uns dann zusammen , und du darfst mich beschützen !" „Und darüber war's mit einem Mal droben
ſtill - und umher auch beinahe finster geworden. Ich sprach ihr allen Trost zu , den besten hatte sie selbst in mein Herz gegossen, daß sie sich endlich entschieden losmachen. wollte von ihrer hochmütigen Sippe und mir ganz vertrauen . Ich geleitete sie hinab nach denn sie wollte durchaus die Dalherda Nacht im Hercknerhof bei ihrer Base zubringen und der alles sagen. In der nächsten Frühe wollte sie mich am Aufgang zum Dammersfeldforſt treffen , und dann sollte ich sie auf dem Waldpfad zum Oberbacher Pfarrer führen. Sie können denken, Herr Doktor, wie mir zu Mute war, da sich mit einem Male alles zum Guten wandte , denn so weit war ich schon, daß mich die ganze andere Welt kaum fümmerte , wenn Gertrud nur fest zu mir hielt. Und Sie werden mir glauben , daß ich zeitig wach war und mich früh zu dem Gange rüstete. Ich kam aber trotzdem nur bis zu meiner Thürschwelle , denn dort fand ich zwei Landjäger, Herr, und unsern alten Bürgermeister ! — Der Adam Herckner war, wie der Alte ſagte, droben in der Nähe der Ollersteine erschlagen gefunden worden, und sie eilten , sich meiner rasch zu versichern ! Sie brauchen nicht zu erschrecken, ich bin damals nicht etwa Herr Doktor unschuldig verurteilt worden und habe nicht jahrelang , kaum wochenlang im Gefängnis gesessen. Die Gerichte hier sind gut -— und obenein war's nicht schwer, bald hinter die Wahrheit zu kommen. Schon beim ersten Verhör, das er mit mir anstellte, ward der Kreisrichter stubig, und ich sah es deutlich, daß er und ein paar Tage in sich hineinlächelte später wußten sie im Kreisgericht die ganze Geschichte, während ich noch unter Schloß und Riegel saß und mir das Hirn darüber zerbrach, wem auf der Welt, außer mir, es eingefallen sein sollte , den Adam zu erschlagen. Wie mir aber zu Mute war , wenn ich an Gertrud und ihren Jammer dachte und mir vorstellte, was geschehen mußte, falls ich lange im Gefängnis behalten würde, das laffen Sie mich lieber nicht erzählen — ' s ist auch nach so viel Jahren noch schwer , daran zurückzudenken! Beim zweiten Verhör kamen eine ganze Reihe von Zeugen aus Dalherda , die alle aussagten , daß ich am Mittag vor der . Heuernte, zwischen dem Dorfbrunnen und dem Herdnerschen Hofthor , dem Adam den Tod geschworen, und beim dritten wieder eine Reihe,
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die mich gesehen hatten, wie ich ein paar Tage lang beständig um die Hochwiesen des alten Herckner geschlichen war. Am Ende fanden sich auch noch ein paar Zeugen, die erzählten, daß sie mich gesehen hätten, wie ich die Leiche des Adam durch die Waldschleife nach der Stelle schleifte, wo er tot gefunden worden sei. Aber wie sie das breit erzählt und auf manche Frage des Kreisrichters immer wieder beteuert hatten, fuhr der plöglich heraus und sagte ruhig: "Ihr müßt Euch , trotz der scharfen Augen, deren Ihr Euch rühmt, doch gewaltig geirrt haben. Denn der Waldhüter Franz Buchner kann den Adam Herckner schon um deswillen nicht ermordet haben, weil sich Bonifaz Bach, der Sohn des Klösterleinbauern, bei uns freiwillig gestellt und ausgesagt hat, daß er mit dem Adam in der Trunkenheit in Streit gekommen sei , daß dieser mit der Heugabel einen wuchtigen Streich nach ihm geführt und ihm eine schwere Stirnwunde beigebracht habe, und daß er in der Selbstverteidigung und berauscht, wie er war , den Adam mit einem Zeltpfahl unglücklich und zu Tode getroffen habe. Hinterdrein sind dann der alte Herckner und seine Söhne auf den Einfall gekommen , den toten Adam nach der Lichtung hinunterzutragen und den Waldhüter als mutmaßlichen Thäter beim Bürgermeister und Landratsamt anzuzeigen, Ihr müßt also bedeutend quer gesehen haben, daß Ihr die fünf, welche die Leiche des Adam hinuntertrugen , damit es aussehen solle , als sei er auf dem Heimweg erschlagen worden, für den einen wilden Franz gehalten habt! " Und dann ließ der brave Herr Kreisrichter die trefflichen Zeugen mit offenen Mäulern stehen und wandte sich zu mir und sagte mir: „ Sie haben gehört , wie die Sache zugegangen ist - Sie werden morgen mit allen Ehren frei kommen , und wären schon früher frei geworden , wenn Sie nicht so wilde, thö richte Drohungen gegen den Toten ausgestoßen hätten. Und Sie können immer von Glück sagen , daß der Bonifaz in seiner Art ein braver Bursche ist, der es nicht leiden will, daß für seine Heldenthaten ein anderer, Unschuldiger büßen muß! " "1 So kam ich frei und wanderte Dalherda wieder zu und begegnete unterwegs dem alten Herdner und seinen Söhnen , die wegen der falschen Anzeigen, welche sie wider mich gemacht und beinahe beschworen hatten, gefänglich
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eingezogen wurden. Ich will gar nicht leugnen, daß mir dabei eine recht rachsüchtige Freude - und wenn das so gar durchs Herz fuhr – großes Unrecht war , so büßte ich's alsbald schwer. Gerade die nächsten Wochen und Monate, Herr , waren die elendeſten , von denen ich weiß, und während ich an meinem einsamen Tisch vollauf hatte, konnte ich mich recht herzlich nach einem Hungerwinter aus meinen Bubentagen zurücksehnen. Denn ich hörte und merkte es wohl , daß das ganze Dorf sich an meinem Unglück erfreut und nur darauf gewartet hatte , daß ich für immer im Zuchthause verschwinden würde. Das Schelmstück, das der alte Herckner und sein Sohn an mir gethan, ward fast gelobt, er habe es wohl gemeint, und da ihn einmal das Unglück getroffen, wenigstens den wilden Buchner-Franz loszuwerden getrachtet. Daß jezt der Alte und die Buben statt des emporgekommenen Hungerleiders drei lange Monate hinter Mauern sigen müßten, sei aber eine Sünde und Schande. Das schwirrte hundertfältig in mein Ohr und vergiftete mein Herz , welches mir ohnehin wund und weh war. Und Gertrud konnte ich nicht begegnen, es war, als ob die Menschen. sie von mir abgeschnitten hätten, und sie mied mich, wie wenn ich dem Adam in Wahrheit aufgelauert hätte, da sie doch von vornherein. wußte, daß ich unschuldig sei. Ich sah sie ein- und zweimal von fern , sie sah zum Erbarmen aus, Herr, ja zum Sterben ! - Aber sie sprach nicht zu mir , blickte mich nur an, immer halb erschrocken , halb flehentlich, daß ich ihr nicht zürnen sollte. Und ich zermarterte mir alle Sinne , was nun zu thun ſei, und warum sie nicht den Mut habe, zu mir zu kommen. Darüber ward es Herbst , und die Herckners wurden aus dem Kreisgefängnis entlassen - und ich ich wartete noch immer, daß sie sich bald fassen und das geschehen müſſe, was wir zuletzt miteinander besprochen! Ich hoffte und harrte, und hörte nichts ! Da ich den Nachbarn und die Nachbarn mir aus dem Wege gingen, konnte ich nur gelegentlich beim Förster und bei einer alten Frau im Dorfe, die meiner Mutter Gespielin gewesen war, etwas aus dem Hercknerhof erfahren . Natürlich niemals etwas Gutes , Herr Doktor, - ich vernahm , daß es Gertrud bei ihren Verwandten schlimmer als je zuvor erging. Denn sie hatten ihr eingeredet , daß sie , weil
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sie mir gut geweſen und an jenem Abend von der Heuernte entflohen war , schuld am Tode ihres Vetters Adam sei , sie häuften, so oft sie von mir sprachen, alles Schlechte auf mich, was nur von einem Menschen gesagt werden kann , und so nahmen sie ihr doch den Mut und machten sie irre in ihrem Gemüt. Einmal versuchte ich ihr einen Brief zu schreiben, aber wir Leute vom Dorfe haben dazu kein sonderliches Geschick und ich war fast wieder froh, daß ich erfuhr, mein ungeschicktes Blatt sei dem alten Herdner in die Hände gefallen und von Gertrud gar nicht gelesen worden . Und doch hatte es an dem Tage wieder ein groß Wüten über mich gegeben, und die ganze Sippschaft hatte ihr gedroht , wenn sie noch daran denke, mein Weib zu werden , so wollten sie schon Mittel finden, die Schande an ihr und vor allem an mir zu rächen. So, Herr, war's Oktober geworden, ein recht rauher Oftober, in dem der erste Schnee schon zwischen das bunte Laub fiel, und ich sah einem ganz düsteren , harten Winter entgegen und verwünschte jede Stunde, die ich in meiner einsamen Stube saß und nicht draußen im Walde bei meiner Pflicht zubringen konnte. Ich hätte am liebsten jeden neuen Morgen mit dem Kopfe wider die Wand rennen mögen , und wenn schon unſereinem so zu Mute war, wie sollte es der armen , gequälten Kreatur, der Gertrud, sein ! Bei mir ſtand's fest , daß ich sie sehen und sprechen müſſe , ſo bald sie nur den Hercknerhof verließ. Meinen halben Lohn hätte ich drauf verwandt , um zu erfahren , wann sie endlich einmal hervorkäme. Aber da ich niemand im ganzen Dorfe hatte, der zu mir hielt, als die lahme Alte, die jetzt ihren Lohn im Himmel dafür erhält , so fam's, daß Gertrud mehr als einmal versucht hatte, mir auf meinem Wege zu begegnen, und ich trotz all meinem Spähen und Trachten nichts davon erfuhr. " Aber wie ich sagte, es war gegen Ende Oktober und ein ganz trüber Nachmittag, an dem schwere Schneewolken über dem Wald und an allen Bergen hingen. Das Dammersfeld oben und der Simmelsberg mit der Schwedenschanze hatten schon weiße Kuppen und ich war nach Mittag von einem sauren Reviergang heimgekehrt und dachte wie immer an nichts, als an Gertrud. Da, während ich an meinem Herd hocke und mir eine Suppe
koche, kommt meine alte Kathrin und sagt, daß sie schon einmal bei mir gewesen sei und daß der alte Herdner mit zwei Söhnen diesen Morgen nach Fulda gefahren sei und von den Männern niemand zurückgeblieben sei, als der Gottfried. Und bald nachher sei Gertrud aus dem Hof gekommen, hinter der Schule über den Steg gegangen und habe den Weg nach dem Haderwald eingeschlagen, gewiß um mich zu treffen. Das machte mich gleich stußen, denn der Haderwald gehörte nicht zu meinem Revier und wie konnte Gertrud mich da suchen ? Allein ich sprang so hastig auf, daß ich meinen Suppentopf ins Feuer warf und hatte mein Haus verschlossen und war auf und davon , ehe ein paar Minuten vergingen. Und ich lief auf gut Glück durch den Haderwald und schlug mich durch die Büsche, und die raschelnden braunen Laubhaufen , die jeden Pfad bedeckten. Aber ich hörte mein Herz hämmern und wie ich auch mit den Blicken nach allen Seiten umherlygte, um eine einsame Gestalt wahrzunehmen , trieb mich's immer vorwärts , als wüßte ich, wo ich sie finden würde! Der Haderwald hat eine Meile von unserem Dorfe ein paar dunkle Teiche, Herr Doktor, zu denen ich sonst nie hinkam , und auf die ging ich los — und ich bin , glaube ich, in einer Stunde an Ort und Stelle gewesen, und ich wußte nicht, was mich dorthin gelocktes wäre denn , daß ich seit vielen Monaten immer gewohnt war, das Schlimmste zu fürchten. Und richtig - dort zwischen den beiden Teichen , an denen ein paar alte abgestorbene Buchen stehen, nahm ich die Gertrud wahr, und kannte sie von fern , obschon sie ihr Kopftuch fast ganz ins Gesicht hereingezogen hatte und ganz starr und still stand, was sonst ihre Art nicht war. Und obschon sie weit genug von der Flut war, dachte ich doch, sie könnte jeden Augenblick hineinspringen, und die Knie wollten unter mir zusammenbrechen. Aber ich kam heran, keuchend, schwer Atem holend, sie hörte und merkte mich nicht, bis ich dicht an sie heran war, und trog des Tuches sehen konnte, wie fahl ihr Gesicht war und die Lippen ganz bleich. Ich war beinahe keines Wortes mächtig und stand mit einem Male neben ihr , und wie sie aufzuckte und einen Schritt that, faßte und hielt ich sie bei beiden Händen und sagte nur : „Nimm mich mit, Gertrud , nimm mich mit!" Und
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fie wachte auf- erhob die Arme, als wollte sie mir um den Hals fallen und ließ sie dann wieder sinken und sagte mit gefalteten Händen : „Es geht nicht mehr, Franz - es geht wahrlich nicht. Sie treiben mich in den Tod. Werde ich deine Frau , so bring ich dir Unglück und sie gönnen uns keine frohe Stunde und bringen dich und mich auf eine oder die andere Weise in Elend und Schande. Und bei ihnen bleiben kann ich auch nicht, der ewige Gott kann's nicht wollen , daß sich ein armes Mädchen langsam von den andern zu Tode martern läßt ! Ich fände am besten Ruhe da unten ! " Und Gertrud zeigte auf den großen Teich, ich aber hielt sie fest umfaßt und sagte ihr so , daß sie wohl hören mußte , daß mir's ernst war : „Nicht ohne mich, Gertrud! Nicht ohne mich!" Da begann sie zu schluchzen und ich hatte gewonnen Spiel und durfte sie fragen : „ Warum nicht lieber zu mir , als aus der Welt ? " Und sie sagte immer und immer wieder : „ Es geht nicht, Franz , es kann nicht gehen, wenn alle widerr einen oder ein paar arme Menschen Gott verzeih mir's, sind!" Und ich lachte ich weiß heute noch nicht , wie ich lachen fonnte - und rief: „Was schert uns die ganze Welt, wenn wir beiſammen sind . Wir fragen nichts nach allen ― wir bleiben allein. und thun keinen Blick nach den andern , so lang wir das Leben haben. “ „ Und wenn eins von uns stirbt , Franz - und das andere bleibt allein zurück?" Und wie sie das sagte und mich aus ihren Thränen heraus hilflos anschaute, da war mir's doch, als wälzte sich der dicke schwere Nebel drüben über den Eichen tiefer in den Wald hinein und als sähe ich eine Sonne zwischen den Bäumen, und ich zog Gertrud fest an mich und sagte ihr ins Ohr : „Wir leben nur mitsammen , und wenn eins stirbt, so folgt ihm das andere freiwillig nach - das schwören wir uns ! " Sie aber jauchzte auf, als ſei uns mit einem Male die Erlöſung gekommen, und mir war's ebenso und wir schwuren es uns , nur eins mit dem andern zu leben und dachten wahrlich , wir hätten unsre Sache in Gottes Hand gestellt ! Bom Walde hinweg ging die Gertrud mit mir den. langen steilen Weg nach Oberbach hinüber, und wir waren so glücklich, so froh miteinander, daß mir nicht einmal ein Arg fam , und wir träumten , es wäre die Welt hinter uns ver-
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sunken und sprachen auch gar nicht mehr von dem vergangenen Leid, nur von dem künftigen Glück. Auch kam nach der dunklen Stunde am Haderwaldteich alles so , wie wir's uns dachten und träumten . Der gute , edle Pfarrherr von Oberbach gab meiner Liebsten Unterkunft in seinem Hause für den Winter und ich ging zum Notar nach Gersfeld , der stritt Gertruds Habseligkeiten und kleine Aussteuer und ihr Erbe von dem alten Herckner heraus und ich bat den Grafen, mich auf diese Stelle und in dies Haus zu versetzen, das keiner recht mochte, weil es so einsam ist, und das uns dünkte , als wäre es für uns erdacht und gebaut ! Und im Mai darauf machten wir ganz allein Hochzeit in Oberbach, und wie uns der Pfarrer zusammengegeben hatte, gingen wir zu zweien ganz allein über die Berge hier herauf und bezogen glückselig dies Haus. Als wir getraut wurden und der Pfarrer sprach, daß wir beieinander halten sollten, bis der Tod uns scheide , setzten Gertrud und ich in unserem Herzen hinzu : bis wir zusammen sterben. Und als wir hier in der Stube unser Hochzeitsmahl hielten, dankten wir Gott für jeden Tag, den er uns schenken würde und baten um freudigen Mut , wenn der lezte käme. Und von da an ward uns, als wären wir wirklich allein auf der Welt, und unser Entschluß und Schwur reute keinen von uns, und nur das war schlimm, daß wir oft an das Ende denken mußten, wo wir nicht wollten. Aber lange, lange, Herr Doktor, habe ich den Schwur für ganz recht gehalten , und Gertrud hält ihn auch noch heute für recht ! Und darum - " Die Worte des Kranken waren matter
geworden, seine fieberische Erregung verflogen. Konrad Wille hatte den letzten Teil seiner Erzählung nur noch verstanden, indem er sich zu ihm hinbeugte , und sein Ohr, bis zu den Lippen des Kranken brachte. Er fühlte, daß der Waldhüter sich jezt die dunkle Last von der Seele gewälzt habe und ruhen müsse. Und indem er ihn sorgfältig wieder erquickte und das Kissen wieder zurechtschüttelte, warf der junge Arzt nur noch die Frage hin : „ Und seit wann, Franz Buchner , habt Ihr Euern Schwur nicht mehr für recht gehalten, seit wann seid Ihr in Eurem Gewissen nicht mehr ruhig ?" Seit dem vorigen Jahre Herr ! Seit Ger-
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trud das Kind erwartete und ich sie oft traf in dumpfem Brüten und Sinnen und wohl wußte, sie dächte jezt daran , was aus dem armen Kinde werden sollte ! Seit ich sie über den schnellen Tod des Kleinen weinen und doch ihre Heiligen loben hörte , daß sie es ihr genommen. Und seit mir's durch die Seele fuhr, vielleicht sei unser Vorsaß und Schwur eine Sünde und wir hätten darum den Buben nicht behalten! Ich hätte Ihnen nichts sagen sollen , Herr Doktor, aber ich mußte es , und ich that es wahrlich nur um Gertruds willen!" Eine lautlose Stille folgte den letzten Worten Franz Buchners ; der Waldhüter war, noch während er sprach, mit dem Haupt in die Kissen und gleich darauf in Schlummer gesunken. Doktor Konrad stand bewegt und in tieferer Erschütterung , als die einfache Erzählung des Mannes jedem andern Arzt erweckt hätte, vor dem Bett seines Kranken. Er mußte freier atmen - es kam ihm vor, als sei die Luft in dem Gemach schwüler und schwüler geworden. So stieß er die Läden vor den Fenstern zurück, die Sonne war nach West hinüberge gangen und keiner ihrer flirrenden Strahlen konnte den Schlummernden mehr treffen. Der junge Mann wandte seine Gedanken der Frau des Waldhüters zu, die jezt auf dem Rückweg nach hierher sein mußte , und auf jedem Schritte ihres Pfades zwischen Leben und Tod ging. Er fühlte, daß er ihr ein Wort zurufen möchte und müßte , das ihren kranken Wahn zerstreue , wie der Morgenhauch den Nebel. Der tiefe Frieden umber erfüllte, während er über ein solches Wort nachſann, seine eigene Seele und es kümmerte ihn nicht, daß über den Baumwipfeln jene bunten Wölkchen zogen und zerflatterten , die einem schönen Sommerabend vorausgehen. Leise , damit der Waldhüter durch das Rascheln des Papiers nicht aus seinem sichtlich ruhigen Schlummer erweckt werde, riß er jene Seiten voll Säßen schmerzlicher Weltanschauung aus seinem Tagebuche und ohne noch einen Blick darauf zu werfen, zerstückte er sie und streute die Flocken in das Gras zu seinen Füßen. Er wendete sich vom Fenster zurück und beobachtete einige Minuten hindurch mit gespannter Aufmerksamkeit den Schlummernden - dann nichte er und ein flüchtiges Lächeln stahl sich über sein ernstes Gesicht. Er hatte recht gesehen und geurteilt:
Franz Buchner mußte schon von morgen an ein Genesender sein. Und löblich überkam ihn eine stille Zuversicht , auch die andere Kranke unter dieſem Dach zu heilen. Freilich sah er, tros dieser Zuversicht mit Unruhe der Heimkehr der jungen Frau entgegen und als die Schatten draußen auf der kleinen Hochwieſe wuchsen und die warme Luft merklich fühler ward , trat er mehr als einmal auf die Schwelle des Waldhüterhauses , ja er ging wiederholt über die Wiese hinweg, bis an den Waldrand , um die Erwartete zwischen den Bäumen herankommen zu sehen. Wohl eine weitere Stunde mochte in dieser Erwartung hingeschlichen sein , er hatte eben wieder den Pfad hinabgespäht , bis wo er unter dem Buchenschatten verlief, und ging langsam gegen das Haus zurück — da vernahm er durch die Waldstille Tritte aber nicht Tritte nur, sondern auch Stimmen. Das konnte unmöglich Frau Gertrud ſein, die sicher allein war ! Wer mochte sonst diesen Pfad betreten und auf dies Haus mit seinen Umgebungen, welches Doktor Konrad noch vorhin, als ihm etwas freier zu Mut ward, mit Robinſons Insel verglichen ? Das Wunderliche seiner Lage, hier in dieser Einsamkeit, mit dem franken Manne allein , machte dem Arzte, der an alle Situationen gewöhnt ist, wenig Bedenken. Aber da er jetzt die Stimmen wieder hörte und mit einem Male ganz deuts lich diejenige Gertruds unterſchied , deren eigentümlicher Klang ihm im Ohr geblieben war, schritt er den Heraufkommenden rasch entgegen. Es konnte kein Zweifel sein, daß es eine zweite Frauenstimme war, die der Frau des Wald- was mußte geschehen sein, hüters antwortete daß sie nicht allein kam ? Er trat aus der grünen Hecke, die das Haus umgab und die Kommenden tauchten im gleichen Augenblick aus dem Walde. Frau Gertruds vom weiten und raschen Gang gerötetes Gesicht wandte sich von der Begleiterin hinweg , nach dem Hause, und als sie Doktor Willes ansichtig ward , flog sie mit wenigen Schritten ihm entgegen, sie sagte kein Wort , und doch thaten. ihre Augen und bebenden Lippen eine Frage, welche der heitere Blick des jungen Arztes beantwortet hatte , ehe sie ausgesprochen war. Wie sie aus diesem Blick die Gewißheit gewann , daß alles wohl stehe , leuchteten ihre Augen auf, ihr Haupt senkte sich demütig, sie
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faltete die Hände. Ergriffen, aber im ernſteſten Ton, dessen er fähig war , sagte Doktor Konrad halblaut zu ihr : " Gewiß haben Sie Ursache, den Himmel zu preisen, Frau Gertrud ! Sie danken ihm am besten , wenn Sie Leben und Tod ganz in seine Hände geben — und den dunkeln Vorjah, den Sie einst in schlimmer Stunde faßten , mit der Wurzel aus Ihrem Herzen reißen ! " Er hatte es halblaut gesagt, weil die Begleiterin Gertruds herangekommen war. Das Antlig der Waldhütersfrau erglühte, die blauen Augen blißten beinahe feindselig auf ihn hin - aber sein ernſter und doch so gütiger Blick hielt dem zürnenden Gertruds stand und wendete sich dann nach dem jungen Mädchen in halb städtischer, halb ländlicher Tracht, welches verlegen und doch mit einer anmutigen Munterkeit vor dem fremden jungen Mann stand. Es war eine kleine Blondine von vielleicht 18 Jahren, mit einem kindlich lieblichen und doch flugen Ausdruck im Gesicht. Ihrem stummen Gruß ließ sie rasch scheltende Worte folgen, durch welche die herzlichste gutmütigste Teilnahme hindurchklang. „ Also Sie sind der Herr Doktor , welcher der armen Frau Buchner in ihrem Leid so bereitwillig beigestanden hat ! Lohn' es Ihnen Gott ; aber was die Frau trosig und spröd ist und getreuen Nachbarn für Not macht, das ist nicht auszusagen ! Ich bin nämlich die Förſterstochter vom Schweizerhof unter dem Damund habe seit dem halben Jahre, mersfeld daß mein Vater hierher versezt ward , einen Versuch nach dem andern gemacht , die Leute hier oben kennen zu lernen und der Frau Gertrud freundlich und hilfreich zu sein. Ich ward immer stumm abgewiesen, so oft ich mehr und ein paarals einen Gruß versuchte mal bin ich natürlich auch zornig gewesen und habe mir vorgenommen , die Einsiedler hier oben ihre eigene Straße gehen zu lassen. Heute aber , wie sich Frau Gertrud auf dem Wege nach Gersfeld mit der Sorge und dem Kummer auf ihrem guten Gesicht sah, konnte ich's nicht überwinden ! Da sie auf meinen recht thörichter Weise, Anruf nicht hörte denn wir hätten einen unsrer Knechte zur Apotheke hinunterſchicken können, so vertrat ich ihr den Weg, als sie zurückkam. Sie ließ sich aber ich erfuhr freilich jedes Wort abkaufen doch, daß ihr Mann schwer krank sei, und daß
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Sie, Herr Doktor, im Augenblick der höchsten Not helfend zu ihr gekommen wären. Und wie ich das wußte , ließ ich mich nicht abschütteln , obschon sich Frau Buchner überflüssige Mühe darum gab, und kam mit herauf und will ihr beistehen , so gut ich kann - denn was wäre das für eine Nachbarschaft, bei der man in solchen Fällen sich nicht sehen. laſſen und beispringen wollte ? " Doktor Konrad nahm wahr, wie Gertrud bei den einfach herzlichen Worten der Försterstochter ein paarmal wie unter schmerzlicher Berührung zusammenzuckte. Sie vermied es jetzt , seinem Blick oder dem des jungen Mädchens zu begegnen, und eilte durch die offenstehende Thür an das Lager ihres Mannes. Wie am Mittag sah sie der junge Arzt dort niederknieen und ihr dem Schlummer des Mannes lauſchen ganzes Gesicht erglänzte, als sie die sichtliche Veränderung wahrnahm , die inzwischen mit ihrem Franz vorgegangen war. Doktor Wille winkte ihr, still zu bleiben und den Müden nicht zu erwecken, schweigend legte sie die Arznei, welche sie von Gersfeld mitgebracht , in seine Hände. Und dann ging sie wieder hinaus, ihre aufrechte Haltung war ein wenig, beinahe unmerklich, gebeugt , als sie vor dem jungen Mädchen stand und in ganz verändertem Tone sagte: „" Es wäre nimmer nötig gewesen, Fräulein Hedwig , daß Sie mit hier heraufkamen , ich glaube, es ist mit Franz auf dem besten Wege aber ich danke Ihnen , danke Ihnen von ganzem Herzen ! " " So schnell gehe ich nicht wieder", lachte das Mädchen aus dem untern Forsthaus . „ Wenn ich Euch sonst nichts nüße, kann ich wenigstens dem Herrn Doktor, ehe er weiter wandert, eine Suppe und ein paar Eier bereiten ; Ihr habt mir ja selbst gesagt , daß er in seinem Eifer, Euch zu helfen, rein alles vergessen hat, seine Reise, seinen schönen freien Sommertag und gewiß auch Essen und Trinken. Ihr seht jezt, daß ich gar nicht so überflüssig bin , wie Ihr meintet www also laßt mich zusehen, was Ihr im Hause habt! " Widerstandslos ließ Frau Gertrud das Mädchen an ihren Herd treten, sowie sie auf den Zügen des Arztes den Ausdruck der Zustimmung erblickte. Es war deutlich zu sehen, daß sie in dieser Stunde umsonst danach rang, ihre trozige Abgeschlossenheit gegen die Welt zu erhalten. Sie flüchtete gleichsam in das
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Gemach zurück, in dem ihr Mann schlummerte. Eie trug sich lautlos einen hölzernen Schemel neben das Bett , den bessern Stuhl für den Arzt frei lassend. Und sie saß in tiefen Gedanken lange vor dem Schlafenden - Konrad Wille, obschon er nicht völlig sicher war, was ihre Seele bewege, hütete sich, den stillen Kampf des jungen Weibes mit einem Wort zu stören. Mit einem Mal erwachte der Waldhüter, sein
unter Ihrem Dach finden soll , müssen Sie mir zuvor dreierlei heilig versprechen ! " „ Und was soll ich versprechen ?" fragte sie zagend zurück. „ Daß Sie am nächsten Festtag , wo Ihr Franz kräftig genug dazu ist, zu Ihrem guten Pfarrer von Oberbach gehen und ihm alles beichten, was damals im Haderwald und was nachher geschehen ist ! Daß Sie in Zukunft, erster Blick machte ihn gewiß , daß sein Arzt | so oft sich Ihnen eine Hand teilnehmend entgegenstreckt, wie die der jungen Försterstochter und Helfer noch hier sei - sein zweiter richtete sich nach Gertrud , welche ihre Wangen an die draußen, diese Hand nicht zurückstoßen. Und zuleht, daß Sie meinen Namen und meinen seinen anschmiegte und unter hervorströmenden Thränen nur fragte : Wohnort, den ich Ihnen aufschreibe, wohl be„Ist dir besser, Franz ?!" halten und sich, wenn es irgend sein muß, an mich wenden. Ich bin weder reich noch mächtig „Biel besser, gewaltig besser!" versetzte er, aber wo er ernstlich will, kann ein Mensch sich kräftiger emporhebend. „ Und ganz wohl wird mir werden, Getrud, wenn du den Herrn dem andern immer noch etwas ſein ! " Gertrud antwortete nichts . Aber ihre Augen Doktor hörst, wenn du zu Herzen nimmst, was hefteten sich ehrlich und innig dankbar auf das er dir sagen wird. Wollen Sie nicht ein Wort Gesicht des jungen Mannes, ihre Hand legte zu ihr sprechen, Herr , das uns beiden helfen fann ? " sich kräftig in die seine und der Waldhüter kehrte sich ab, um die Thränen zu verbergen, „Und was soll ich noch sagen? " fragte die ihm in den braunen . stattlichen Bart Konrad Wille, die junge Frau fest anblickend. strömten. „Wie viele Wunder soll Gott thun, um Ihnen In der Frühe des andern Tages fand sich zu zeigen, daß Sie mit Ihrem Manne nicht. Doktor Konrad Wille wieder auf seinem unterallein sind in der Welt? Er hat Ihnen heute an einem Tage und in dieser Einsamkeit zwei brochenen Wege. Frau Gertrud trug , soviel er auch abwehrte, seine Wandertasche und gehilfreiche Menschen gesendet ; Sie müſſen es leitete ihn bis zum Waldausgang. Sie sprach fühlen, daß Sie wundersam behütet worden nur wenige Worte mit ihm, ihr ganzes Weſen find. Wenn ich jetzt gehe , gehe ich mit der aber drückte stummen Dank aus. Der Wald Gewißheit , daß Ihr Franz bald , vielleicht schon morgen, von diesem Lager aufstehen wird. ringsum war taunaß, auf den Hochwiesen begannen die Morgennebel zu sinken . Die BuchenAber gesund, ganz gesund, Frau Gertrud, wird stämme glänzten im Frühlicht rot , und der er nur bleiben , wenn Sie selbst wieder ganz Himmel, so weit er sichtbar war , versprach gesund und innerlich froh werden !" Gertruds Thränen rannen heftiger, uneinen goldigen Tag. Sowie sie zwischen den Bäumen hervortraten , hing der junge Mann Doktor Konrad nahm deutlich aufhaltsam seine Tasche über die Schulter und sagte in wahr, daß in ihnen der starre Troß und das dem ruhig bestimmten Tone, den Frau Gertrud bittere Gefühl der Vereinsamung dahinschmolzen. kannte: „ Und nun keinen Schritt weiter, liebe Ueber die zuckenden Lippen der jungen Frau Frau. Sie müssen zu Ihrem Manne ! Grüßen aber kam nur die Frage : „ Sie wollen heute Sie ihn und Fräulein Hedwig aus dem Forstnoch hier weg, Herr Doktor ? In den Abend haus, wenn sie , wie sie versprochen, heute zu hinein ? Ich hoffte , Sie ließen es sich diese Ihnen herauskommt. Mein Kollege aus GersNacht hier in unsrem Häuschen gefallen und feld, der gegen Abend nach Euch sehen will, am Morgen brächte ich Sie selbst auf dem wird wenig mehr zu thun finden, Ihr Mann besten Weg nach Oberbach hinüber. " Der ist gesund ! Halten Sie, was Sie versprochen, Arzt mußte innerlich über die Mischung von und leben Sie wohl ! " ehrlicher Teilnahme und noch fortwirkender Er war von ihr hinweg und stieg rüstig Sorge um den kranken Mann lächeln. Aber die Grasflächen zum Bergrücken empor. Bei er blieb ernst und entgegnete : „ Auch das kann geschehen. Doch wenn ich bleiben und Ruhe | jedem Umsehen merkte er , daß sie ihm lange,
Paul Nerrlich. Ans Jean Pauls Kindheit.
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Segen zu spenden. Schon nach zwei Jahren Segen wurde der Vater als Pfarrer nach Jodiß bei Hof berufen ; wie er selbst hier seine glücklichsten Tage verlebte, so gehörten auch für Jean Paul die Erinnerungen an das geliebte Jodiz zu seinen kostbarsten Gütern. Aus der Wunsiedler Zeit war ihm späterhin nur das eine im Gedächtnis geblieben, wie ein armer Schüler ihn immer auf den Armen getragen und lieb gehabt; aus Jodit dagegen weiß er uns eine Reihe der lieblichsten Idyllen zu berichten. Nur in einem Dörflein wie Jodit konnte der größte aller Idyllendichter auferzogen werden, nur hier, aber nicht in einer Stadt, konnte der heranwachsen, welcher dem Leben im Wald und im Feld, auf dem Berge und im Thale die süßesten. Hus Jean Pauls Kindheit. Geheimnisse abgelauscht hat ; nur hier endlich, Von wo einer den andern kannte , wo er an dem Haul Nerrlich) . Leide und an der Freude nicht bloß des Nachbars , sondern des ganzen Dorfes den lebhaftesten Anteil nahm, konnte in sein Herz jene er erste Frühlingstag des Jahres 1763, der innige Menschenliebe einziehen, die uns aus D 21. März , wurde im Wunsiedler Pfarr- all seinen Dichtungen so lauter und rein enthause mit hellem Frohlocken und heißen Freuden gegenweht und um derentwillen ihn die Zeitthränen begrüßt. Drei Jahre vorher war Jo- genossen, besonders die Frauen , bis zu den hann Christian Christoph Richter, ein Sternen erhoben. Kaum konnte der Knabe die Zeit erwarten, Sohn des Rektors Johann Richter zu Neustadt am Culm, als Organist und Tertius in welcher er die der Pfarrwohnung gegenüberin das Haus eingezogen ; kurz darauf hatte er liegende Schule besuchen durfte. Freudestrahlenden Antlizes hielt er, in einer grünen Haube, ſich mit Sophie Rosine Kuhn , der Tochter eines wohlhabenden Tuchmachers und Schleier- aber bereits in Höschen, seinen Einzug in die händlers in Hof vermählt ; jener Frühlingstag | Schule, sagte eifrigst mit dem Griffel im Händchen aus seinem Abc-Buche auf, was er bereits aber spendete dem jungen Paare eine Gabe, für die ſie willig alle Herrlichkeiten der Welt hinge- | wußte und gewann sofort nicht nur die übrigen geben hätten: es wurde ihnen am Morgen um Kleinen lieb, sondern auch den lungensüchtigen und mageren, aber aufgeweckten Schulmeister. 112 Uhr ein Knabe, ihr erster Knabe geboren. Am folgenden Tage schon wurde derselbe durch Die Freude fand jedoch schnell ihr Ende. Der den Senior Apel getauft ; seine beiden ersten Bater untersagte plöglich, voll Zorn darüber, Namen Johann Paul wurden ihm nach daß ein langer Bauernjunge seinen lieben Fritz gemißhandelt, seinen Kindern, vier Knaben, die dem Vater seiner Mutter , welcher zugleich Schule und unterrichtete sie fortan selbst. Taufpate war, gegeben, den dritten Namen Friedrich, welcher mit der Abkürzung Friz Vier Stunden des Vormittags und drei des Rufname wurde, erhielt er nach seinem zweiten Nachmittags mußten sie in der Regel über Paten, dem Buchbindermeister Thieme. ihren Büchern siten und auswendig lernen und immer wieder lernen : Sprüche aus dem KateAls der Knabe fünf Jahre alt war, wurde chismus und lateinische Vokabeln aus Langes die Freude der Eltern durch die Kunde von der Grammatik. Diese Kost behagte natürlich dem schweren Erkrankung des Großvaters in NeuFriß gar wenig, fast ebenſo kleinen, muntern stadt getrübt ; sie eilten mit dem Kinde an sein wenig als seinem Bruder Adam, der am liebLager, es war jedoch bereits zum Sterbelager sten im Felde umherschweifte, den Vogelnestern geworden und ihr einziger Trost war, daß der nachging und auf lustige Streiche sann. Der Scheidende noch die Kraft besaß, seine Hände über dem Kinde auszubreiten und ihm den Knabe sehnte sich nach saftigen, grünen Triften 80 lange nachsah, und als endlich ihre Gestalt zwischen den Bäumen verschwand , schritt er noch rascher dahin, als zuvor. Er ließ das Waldhaus mit dem Gefühl hinter sich, daß ihm der verlorene Ferientag zum Gewinn für all sein Leben gereichen werde, aber er sagte lächelnd vor sich hin : „ Nun soll auch keine Stunde meiner fargen , freien Zeit mehr an der Praxis aus dem Stegreif verloren werden. Etwas besseres als das , was ich gestern erlebt, werde ich Alice in Frankfurt doch nicht zu erzählen haben. "
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Paul Nerrlich.
und fand nur kahle , öde Steppen. Da fiel | fegte, wurde der lange Familientisch an den Ofen gerückt, und die Kinder durften, oftmals ihm der Orbis pictus, sowie die Gespräche im Reiche der Toten in die Hände. Der Vater im Hemd, sich auf den Ofenbänken tummeln oder sich an den im Schlafrock auf- und abbekam ferner alle Monat, manchmal auch alle gehenden Vater hängen, oder sie horchten voll Bierteljahr erst , von seiner Patronatsherrin, der Freifrau von Plotho in Zedtwiß , die Spannung den Erzählungen der bei Kienspanlicht am Spinnrocken ſizenden Magd , oder umBaireuther Zeitung geschenkt. Fritz verstand nun zwar wenig von alledem, aber es war ringten voll Neugier die schneebedeckte Botendoch immerhin für ihn etwas ganz andres frau, welche die Neuigkeiten und Waren der Stadt auskramte. Un neun wurden die Kinals Sprüche und Vokabeln; er vertiefte sich der ins obere Stockwerk zu Bett geschickt ; Friß also mit Feuer und Inbrunst in die Lektüre dieser Herrlichkeiten und wrßte in der That hatte, von den Brüdern getrennt, das ſeine in über einiges gewandt zu berichten. Ganz be- derselben Stube wie der Vater. Hier aber ſonders aber fesselte ihn die Muſik. Mit Ent- folgten der Seligkeit des Abends die fürchterzücken lauschte er dem Orgelspiele des Schullichsten Qualen. Der Vater kam nämlich in meisters , er versuchte wohl auch selbst oft der Regel erst einige Stunden später hinstundenlang, freilich ohne eine Note zu kennen, auf und diese Zeit dünkte dem furchtsamen auf dem alten verstimmten Klaviere des Vaters Kleinen als Ewigkeit, denn er fürchtete sich entzu phantaſieren; zur Zeit der Kirchweihe vollends, sezlich vor Geistern und Gespenstern und steckte wenn am Morgen die geputzten Bauernburschen schweißgebadet den Kopf unter die schüßende vor dem Pfarrhofe unter den Klängen der Decke. Dieser Geisterglaube wurde vom Vater Pfeifen und Geigen vorbeizogen, kletterte er auf absichtlich genährt ; ſein poetiſcher Sinn bewahrte die Hofmauer, blickte sehnsüchtig dem Zuge nach ihn vor jenem flachen Rationalismus, dem nichts und die einfachen Töne verseßten ihn in eine natürlich und trivial genug sein kann. So suchte er auch seinen Kindern den Glauben an neue selige Welt. Eine jede der Jahreszeiten war für das das Christkind so lange als möglich zu wahren; Kind eine unerschöpfliche Quelle der Freude voll Andacht und Ehrfurcht hörten sie es, wenn und des Glückes . In den kalten Wintertagen er ihnen in der Dämmerung erzählte, er habe zog der Vater aus seiner im obern Stockwerk soeben durch die trüben Abendwolken das Chriſtgelegenen Studierstube in das Wohnzimmer kindchen mit roten goldenen Streifen ziehen herab und memorierte des Morgens seine Pre- sehen. Wie im Winter das Haus , so wurde mit dem digt; die Kinder wetteiferten dabei , ihm die Kaffeetasse zu bringen und zu holen, denn sie Nahen des Frühlings Garten und Feld, Wieſe durften sich , sobald dieselbe geleert war , den und Wald die Heimat der Kinder in ihren etwa noch übrig gebliebenen Zucker als Beloh- | Freiſtunden. Sie begleiteten den Vater hinaus, nung nehmen. Still und öde war es draußen wenn unter seiner Aufsicht das Feld bestellt im Freien; um so regeres Leben aber herrschte wurde und erfreuten sich am Ackern und Säen drinnen. Unter dem Öfen wurden Tauben aufund Pflügen. Jeßt trugen sie ihm am tauigen bewahrt, am Fenster flatterten und zwitscherten Morgen den Kaffee nach dem bereits außerhalb allerlei Vögel in ihren Bauern , auch einige des Dorfes gelegenen Pfarrgarten, wo er in Hunde fehlten nicht. Neben der Wohnstube einem Lusthäuschen seine Predigt ausarbeitete. plauderten die Mägde, von dem Stalle her er- Auch die Abendmahlzeiten wurden im Freien tönte das Blöcken der Rinder, aus den Scheu- genossen ; nachher zündete sich der Vater die nen vernahm man den gleichmäßigen Takt der Pfeife an, die Kinder aber tanzten in ihren Drescher. Trotzdem arbeiteten und lernten die Hemdchen einen fröhlichen Reigen. War der Kinder mit dem Vater ; war aber ein wichtiges Vater einntal verreist , so genossen sie nach Geschäft im Dorfe zu besorgen, so wurde Fritz, Kräften, der weniger strengen und, sezen wir welcher der redefertigste unter den Brüdern hinzu,weniger bedeutenden Mutter entschlüpfend, war, zu seiner Freude von der Arbeit weg die goldene Freiheit. Sie jagten nach Schmethinaus in den Schnee und die Kälte entsendet. terlingen , suchten Weidenrinde zu Pfeifen, Wenn des Abends die Läden dicht geschlossen halfen beim Mittagläuten, um sich dann beim waren und der Sturm heulend den Schnee Austönen der Glocke in die Höhe zichen zu
Aus Jean Pauls Kindheit.
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von den Großeltern entsendeten Kutsche, ſeine lassen, sprangen auf dem Heuboden von den Balken herab aufs Heu, um zu erproben, wie Mutter zum Höfer Jahrmarkt begleiten durfte. Dieser Jahrmarkt war für ihn ein kleines Unisüß wohl das Fliegen sein müßte. Der Vater aber konnte dem kleinen Friß kaum eine größere versum ; er konnte sich an den vielerlei Sachen Freude bereiten, als wenn er ihn mit über und dem bunten Treiben und geschäftigen Land nahm. Da ging es zunächst nach dem | Drängen gar nicht ſatt sehen. Hier hörte er Pfarrhause in Ködig, wo ihm ein lieber Freund auch zum erstenmale eine volle Janitscharenweilte und wo er oft zeigen konnte, wie vor- musik. Sein nach Tönen lechzendes Herz wurde mit Wonne erfüllt; gar oft noch hat er sich trefflich er über die Predigten des Vaters zu berichten verstand. Da ging es auch nach vor dem Einschlafen die melodischen Gänge der Zedtwig, wo die Frau von Pkotho wohnte, Querpfeifen zu wiederholen geſucht, und jedesderen Gemahl beim Ausbruche des siebenjährigen mal später , wenn er wieder dergleichen verKrieges der Gesandte Friedrichs des Großen nahm, ſtand die Kindheit mit all ihrem Zauber in voller Frische vor ihm. Bei keinem Jahrbeim Reichstage in Regensburg gewesen. Der erste Besuch war für den Knaben ein hoch- markte versäumte die Großmutter, ihm seinen wichtiges Ereignis ; denn der Vater hatte jedes Groschen Marktgeld zu schenken. Dafür ſtand mal, wenn er dort gewesen, den Seinigen so ihm vielerlei feil ; er aber kaufte Mandeln und beredt das vornehme Wesen und den hohen Rosinen, um sie mit nach Hause zu nehmen Rang der dort gastlich Versammelten geschildert, und sie seiner geliebten Augustine zu schenken. daß sie nie anders, denn mit tiefstem Respekt | Denn er hatte wirklich eine Geliebte. Sie an die Patronatsherrschaft dachten. Seine ge- hütete zwar nur die Kühe und war auch durch selligen Vorzüge hatten ihm auch in der Regel einige Blatternarben entſtellt, und es kam auch die Ehre verschafft, zur Tafel geladen zu wer- niemals zu einem Kuß oder einer Liebeserden; er vergaß aber hierbei keinen Augenblick klärung. Aber dafür war sie schlank und blauſeine eigne Würde und war weit entfernt von äugig, hatte herzgewinnende Züge, und der kleine knechtischer Demut. Für den Knaben war die Frig konnte sie in der Kirche nicht lange genug Audienz damit beendet , daß er nach langem ansehen; trieb sie aber ihre Kühe nach Hause, Warten im Ahnensaale der gnädigen Frau das so kletterte er auf die Hofmauer, winkte sie Kleid küßte ; dann wurde er sofort in den heran und drückte ihr irgend welche Süßigkeit Garten entlassen und dieser war für ihn, der in die Hand. Noch in seinem dreizehnten Jahre, als er bereits mit den Eltern nach Schwarzenbis dahin nichts Aehnliches gesehen, mit ſeinen Laubgängen und Springbrunnen nicht minder bach übergesiedelt war, blickte er zu ihr als seiner bedeutsam wie das Schloß und ſeine Bewohner. Göttin auf; mit einem heimkehrenden Schneider Am häufigsten jedoch wanderte Frig, einen Quer- übersandte er ihr als Zeichen seiner Liebe eine jack auf dem Rücken, nach dem etwa zwei Stun- Anzahl von Reitern und Fürsten, die er durchden entfernten Hof zu den Großeltern. Die gezeichnet und dann kostbar illuminiert hatte. Mutter gab ihm einige Geldstücke und einen Auch eine junge Frau, der er einstmals in Zettel mit, worauf allerlei, was gerade in der Ködig bei Tafel gegenübersaß, fesselte ihn mit Wirtſchaft fehlte, verzeichnet war. Die Groß- mächtigem Zauber und entrückte ihn der Erde. mutter füllte nun sein Ränzchen mit dem Der Zauber schwand aber mit dem Ende des Erbetenen; sie nahm auch, um vor dem Groß- Gastmahls und als Jean Paul sie gar zwanzig vater und dem Schwiegersohne, welch letterer Jahre später in Hof wiedersah, fand er sie gezum Bitten zu stolz war, den Schein zu wahren, bückt und unscheinbar. Doch es hielt nicht nur für einige der Spenden Geld ; das meiste je- die Liebe in dem Herzen dessen, der späterhin doch schenkte sie der Tochter insgeheim. Zur für so manche geistvolle und edle Frau entganz besonderen Kräftigung des Knaben diente brannte, frühzeitig ihren Einzug , wir finden es, daß diese Wanderungen auch im strengsten auch schon in dem Kinde jenes tiefe und weiche Winter nicht ausgesetzt wurden, wie er ja auch Gemüt sowohl, welches nur zu leicht von im Winter den Vater begleitete, wenn dieser Rührung übermannt wird, als auch jenen philodie Amtsbrüder der Nachbarschaft besuchte. sophischen, in die tiefsten Schachte der WahrSeine rege Phantaſie fand die reichlichste Nah- | heit hinabsteigenden Geist, der sich nachher in rung, wenn er, für dieſen Fall immer in einer Jean Paul zu so herrlicher Blüte entfalten ſollte.
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Italicns.
Er hatte erfahren, daß eine sehr alte Frau schwer frank darniederlag . Da begab er sich eines Nachmittags mit dem Gesangbuche zu ihr, las ihr allerlei Erbauliches und Tröstliches daraus vor, wurde aber selbst, während die Kranke ihm nicht die gewünschte Teilnahme schenkte, von Rührung so sehr übermannt, daß er vor Thränen und Schluchzen nicht weiter sprechen konnte. Nicht minder charakteriſtiſch ferner erscheint es für den Knaben, daß ihn einſtmals auf seiner Wanderung nach Hof ein noch unerlebtes, gegenstandloses Sehnen überfiel, das „ aus mehr Pein und wenig Lust gemischt und ein Wünschen ohne Erinnern war". Es war, wie Jean Paul später selbst sagt, der ganze Mensch, der sich nach den himmlischen Gütern des Lebens sehnte, die noch unbezeichnet und farblos im tiefen, weiten Dunkel des Herzens lagen." Ja, er weiß sich sogar noch auf den Ort und die Zeit der Geburt seines Selbstbewußtseins ", worüber er in der Levana so goldne Worte gesprochen, zu besinnen. Noch in sehr frühem Alter stand ich," so erzählt er, „ an einem Vormittage unter der Hausthüre, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Jch, wie ein Blizstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb. Da hatte mein Ich zum erstenmale sich selber gesehen und auf ewig. " Inzwischen kam nicht nur die Zeit heran, in welcher die Kinder , dem Unterrichte des Vaters entwachsend, einer größeren Schule anvertraut werden sollten, sondern der Vater selbst sehnte sich nach einem größeren Wirkungskreise. Da wurde die Frau von Plotho der rettende Engel. Sie hatte zugleich das Patronat über das Städtchen Schwarzenbach an der Saale, unweit Hof; es gereichte ihr zur besonderen Genugthuung, den ihr so werten Freund in die durch den Tod des Schwarzenbacher Pfarrers frei gewordene Stelle zu berufen. So sehr auch damit sein sehnlichster Wunsch erfüllt wurde, so hatte er doch nie diesen Wunsch vor seiner Gemeinde laut werden laſſen, weil er glaubte , daß dies ein Eingreifen in die Wirkung des heiligen Geistes sei , der allein zum heiligen Amte berufen dürfe. Ebenso war auch seine Freude nur eine gemäßigte. Wie er mitten im hellſten Weihnachtsjubel der Kinder immer ernst, ja traurig gestimmt war, weil ihn eben diese Kinder an sein eignes Aelterwerden erinnerten, so gedachte er auch jezt nicht |
sowohl an das Gute, das ihn erwartete, sondern er empfand voll und aufrichtig den Schmerz des Scheidens von so vielem, was ihm teuer und wert geworden. Der 9. Januar 1776 war der Tag des Scheidens. Jean Paul hat späterhin wiederholt seine Jodizer Zeit die glücklichste seines Lebens genannt ; damals jedoch verließ der noch nicht dreizehnjährige Knabe leichten Herzens die Stätte seiner ersten Erinnerungen; in echt kindlicher Weise war ihm die Vergangenheit nichts, die Zukunft aber alles .
Capri. Die Perle des Golfs von Neapel. Von
Italicus.
Sonderbar, wo ich Capri mein altes , schönes, ſchildern soll,gelieb muß ich mit einem Seufzer anheben : Ach ! und mit diesem Ach klage ich die Herren Maler und die Herren Poeten des schwersten Verbrechens an, dessen man jemand zeihen kann : des Paradiesraubes . Ja, Paradiesräuber ſind ſie und Paradieszerstörer, diese Fremdenverführer und Fremdenführer, die Poeten und die Maler. Sie warens, die einst Italien entdeckten, und wie sie laut ihre freudige Stimmen erhoben, da strömte es ihnen nach über die Alpen und erfüllte das Land, und Kornelius und Karsten mußten Rom entdecken, um den Malern etwas Besonders vorzubehalten, und als man ihnen auch hier nachdrang, wanderten sie dem Laufe des Anio nach, um sich bei der tiburtinischen Sibylle Rats wegen eines neuen Asyls zu erholen, und Koch und Reinhart entdeckten ein neues Malerparadies in den Sabinerbergen, das berühmte levano, ein Capri, von einem Campagnameer umgeben. Nun blieb durch lange, lange Jahre diese Landschaft, wie sie erscheint von Caſa Baldi aus , von dem Adlerhorst Civitella, S. Vito , Rocca Capranica aus, auf der wohlbekannten Serpentara , der Acqua calda, am Monte Serrone und Menterilla in der Nähe, wie in der Ferne über die hügelwelligen Ausläufer der Volsker- und Sabinerberge, über
Capri.
die lichtschimmernde Ebene hinweg bis zum fagenrauschenden Meere, das als Silbergürtel das Land schüßt, nun blieb also diese ganze wildschöne Landschaft das Strebeziel aller Kunst jäger, ihnen folgten die Dichter. In Farben und Liedern klang es jetzt in die Welt hinaus: seht doch, wie schön ist diese Landschaft! Wanderlustige Zugvögel sahen die Bilder in den Ausstellungen , südwärtssehnende Damen lasen davon in dem weihnachtlichen Goldschnittband und beide notierten sichfür das nächste Frühjahr eine Reise in die Sabinerberge. So geschah's , die Maler blieben nicht mehr allein, es fehlte bald an Platz im Paradiese. Wenn sie unter ihrem groBen Riesenmalerschirme saßen, so immer standen sechs , acht kleine graziöse Schirmchen um diesen herum, und aus der Höhe gesehen, erschien das Ding wie ein alter rei-
fer Champignon, flankiert von jun gem zarten NachDas wuchs.
Auf dem Wege
fonnte nicht länger so gehen. Capri mußte entdeckt werden. Ein deutscher Kolumbus machte sich eines Tages auf, ein MalerDichter, Kopisch. Südwärts steuernd, sah er es liegen, wie eine silberglänzende Perle in den Becher der Luft geworfen, das Felseneiland Capri im Golfe Neapels, weithin leuchtend, weithin lachend und lockend . Er meinte, dort müßte gut wohnen sein und warf seinen Anker am flippigen Geftade. Natürlich konnte er sein Glück nicht verschweigen, er ging und plauderte es den andern aus , und mit den
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Jüngern der Farbe kamen die Dichter und bauten sich gemeinsame Nester auf der Insel. Maler und Dichter, zusammen kommen sie, zusammen gehen sie, wie die farbenprächtige Rose mit der liederkundigen Nachtigall. Man kann heute fragen : welcher Maler hätte Capri nicht gemalt , welcher Dichter es nicht besungen? besungen? Und die Frage Platens : „Hast du Capri gesehen und des felsenumgürteten Eilands Schroffes Gestade als Pilger be: sucht ... ?" diese Frage werden heute tausend und abertausende mit Ja beantworten, nicht etwa bloß Maler und Poeten, nein die andern da, welche, durch die bunten klingenden Darstellungen jener neugierig ge= macht, kamen um zu sehen, ob denn
das Ding wirklich so schön und preiswürdig, das soll hier heißen ,,des Ruhmes würdig"sei. Was hat man nicht alles über die blaue Grotte gelesen, das muß nach der Stadt. ja ein wahres Wunder sein. Und kommt man nach Neapel , so gibt es eine Menge Boote und Barken, Schiffchen und Dampfer, die für wenig Geld über Sorrento , die Halbinsel entlang, nach der Insel schwimmen , um den fremden Herrn mit dem Opernglase an der Seite und die nordländische Dame mit dem Skizzenbuche unterm Arme für ein paar Tage an die Hotels der Insel abzuliefern. Wenn man den steilen dürren Fels aus der salzigen Flut ragen sieht und meint, den Hunger und die Müdigkeit daselbst mit Robin-
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Italicus.
son-Crusoeischer Müßigkeit und Entsagung bekämpfen zu müssen , oder von den männermordenden Sirenen, die ja dereinst daselbst gehauft haben , aufgefressen zu werden , der irrt sich. Die zwölf Göttervillen Tibers, die sich dieser Tyrann seinerzeit zu wilder Lust dort gebaut, liegen in Trümmern , aber an zwölf verschiedenen Punkten der Insel stehen heute zwölfmächtige, gute und sehr gute Wirtshäuser, und wo den landenden Griechen in
grauer Zeit die Sirenen mit bestrickenden Blicken und sinnbethörenden Liedern empfingen, erwartet heute den schwachen, durch die See gar hart gekränkten Mann der befrackten Kellner lockende Schar , Preiskurante in den Händen, honigglatte, verheißende Worte auf den Lippen, und durch die offene Thür schlagen die Düfte gebratenen Fleisches , gebackener Fische, sieht er die Tische in langen Reihen schön gedeckt. Wer da will, mag seines Wehes gar bald ledig werden,
Kleine Marina.
neu gestärkt den beschwerlichen Aufstieg zu der Höhe des Inselstädtchens antreten zu fönnen. Wer aber einmal dagewesen, kommt gar gern, wenn er kann, im nächsten und alle
folgenden Jahre wieder und zu diesen regelmäßigen Strichvögeln gehören eben die Maler. Die werden nie satt im Anschauen und Malen der meerhangenden Klippen und aufstrebenden Felsenschroffen, des tausendfältigen Farbenspiels der südlichen Sonne, in den Falten der Hänge und Höhen, in den stillen Feigengärten, die aufs Meer schauen, wie auf den wonnigen Fluten selbst, die im reichen Wechsel von der dämmernden Frühe bis zum goldnen Abend
um die Gestade, um die sapphirnen Grotten und Brautkammern der Meeressirenen" spielen und wogend zurückgleiten in den purpurn-schimmernden Horizont hinein. Alles ist hier eigenartig und fremd südländisch, von der großen Marina an, den Weg zwischen Mauern hinauf über die Stadt weg bis zur kleinen Marina, auf der Südseite der Insel. Der Künstler, dessen Mappe wir die sechs kleinen Ansichten entnehmen, hat es verstanden , uns in wenig Strichen die Hauptpunkte des Waltens der Menschenhand , sich Küste und Fels zugänglich zu machen, zu veranschaulichen. Da ist zunächst die sogenannte große Marina , der einzige Hafen des Ei-
Capri.
landes, wo sich die Fischer und Schiffer angesiedelt haben, wo der Fremde, vom Dampf schiff herkommend , landet, wo ihn zu jeder Stunde eine Schar schlanker Mädchen und Buben und bronzefarbener Männer empfängt. Die Häuser , die hier stehen , sind eigenartig, klein und weiß ; ihr Dach ist platt und erhebt sich in der Mitte zu einer Art Kuppel, welche die Bewohner dereinst wohl den Mauren abgelernt haben. Hier weilen wir nicht, die Nähe
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des Meeres können wir bei der Rückfahrt genießen, jest wollen wir Land, sei es auch steil und beschwerlich, und statt der Algen der Salzflut wollen wir grüne freudige Vegetation in würziger Luft und Sonnenschein; und diese finden wir die Hülle und Fülle zur Rechten und Linken neben, auf und über den Mauern, welche den Aufstieg zur Stadt säumen und in ihr fühlt man bereits das Walten der sizilischen Natur. Wie ein Bräutchen im Hoch-
Große Marina.
zeitsschmuck glänzt das liebliche Eiland. Das Brautgewand bilden die Reben, die sich wie ein großes Net in Weinpflanzungen vom Strand zur Höhe hinaufziehen, und an diesen Ranken wachsen die köstlichen Capritrauben, deren goldner Saft so manches Menschenherz schon erfreut. Durch die Reben sodann drängt sich mit tausend weißen Sternblüten, im Herbst und Winter mit leuchtenden Früchten bedeckt, der Orangen und Zitronenbaum, zu allen Zeiten vom berauschenden Duft umflossen ; drängt sich der schlanke dunkellaubige Baum Apolls , des Künstlers hochstehender Lorbeer. Mit dem Rot der jahr aus jahrein blühenden Rosen wetteifern die Blumen des Oleanders, des zierlichen Granat
baumes , die zu Tausenden wie rote Flammen der Leidenschaft leuchten. Aber auch hier die alles ausgleichende verbindende Liebe : kein Baum, kein Strauch steht vereinzelt allein, keiner sondert seine Formen hart und schroff von den andern ab, denn die schmiegsame heitere Sippe der Schlingpflanzen vermittelt, verbindet, einigt und kettet in lustige Gewebe den einen an den andern. Wo aber feines Menschen Hand mehr hinreicht, in dem Trümmergestein, an alterndem Gemäuer auf jenen starren Klippenfelsen, die des Sommers Sonne durchglüht, auf den Steinen der Tiberiusvillen, neben den Hütten wächst es wild und wirr in drängender Kraft aus dem Boden
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Italicus.
und ergeht sich in bizarren Formen. Da steht Das sind Sirenenkünste, echte unverfälschte Sirenenkünſte, welche diese Mädchen da üben, in dichtgedrängten Scharen der silbergraue Kaktus, indische Feige genannt , deren stachel- die Erbschaft der männerveclockenden Sirenen bejezte handgroße Blattzweige sich im Hoch- | haben sie angetreten; und auch ihr Tanz, wosommer mit des capreſiſchen Volkes Lieblings- mit sie die Augen der fernherkommenden Männer bethören , ist Teufels werk , reines Teufelswerk, frucht füllen; da thront wie ein stattlicher und die Sage hat recht, wenn sie erzählt, daß Waffen- und Bannerträger die fühne unnahdie Sirenen , als sie Odysseus vergebens mit bare Agave, da flüstert in dem beständig vom ihrem Gesang gelockt hatten , an ihrer Macht Meer herwehenden Winde das hohe biegsame verzweifelnd , die Grazien um ein neues GeSchilf, und unter dem Schirm aller dieser grünt die stille Myrte, von Bienen durch schenk baten. Diese versuchten, jenen einen ziersummt, blüht die Bergheide. lichen Tanz zu lehren. Aber zum Tanze Wandern wir durch das grüne Reich , so eigneten sich die nach unten in plumpe Fischumweht uns ohne Unterlaß eine Wolke ge- schwänze verlaufende Leiber der Sirenen nicht. würzigen Duftes, der von Blättern und Blüten In der Verzweiflung darüber gaben sie sich den Tod. Die Töchter der Inselbewohner, aufsteigt und zu gewissen Zeiten, besonders im der Fischer und Winzer hatten das Spiel erBeginn des Maimonds mag es kommen, daß einem vor lauter Duft der Atem stockt und lauscht und übten es bald täglich in ihren das ist bei dem Geröllwege , den wir einge stillen Gärten und es fehlte nur wenig , so tanzten sie wie die Grazien in Person. Dieser schlagen, eine unangenehme Sache. Ünbelästigt durch Atemnot wandeln ihn Tanz aber ist die Tarantella und, ausdrücklich aber die vor uns herschreitenden Gazellen der sei es gesagt, nur die Mädchen von Capri verstehen sie zu tanzen. Was ist die plumpe Insel, Elefantenlaſten auf den zierlichen Köpfen schmußige Tarantella der Umgebung Neapels, tragend : große Waſſerkrüge, Weinfäſſer, Frucht in Caja zum Beispiel, was die opernhaft bündel, Quadersteine, Bretter , Balken , und aufgeputzte und ausgeführte Sorrentiner Hotels anderes Baumaterial. Wie leicht ist ihr Gang gegen die Naturtarantella Capris ? Hier sehen und wir bleiben , uns den Schweiß von der wir ein getanztes Märchen, Liebeslied, Drama; Stirn trocknend, stehen und wundern uns , daß hier sehen wir alle Leidenschaften des in Liebe dieſe zerbrechlichenHüften, dieſe graziöſen weiden biegsamen Gestalten solcher Kraftleistungen übergefesselten Herzens in holde Tanzschwingungen aufgelöſt. haupt fähig sind. Nur mühsam klettern wir Die alten bacchischen Zeiten scheinen zurückihnen nach und sie steigen die rauhen plumpen gekehrt : das ist ein friſches ſchönes Bild voll Steinstufen hinauf ſo leicht , ſo elastisch , sie Farbentlang, Duft und Stimmung . Da die plaudern, scherzend und lachend, singen sogar, als ob sie Amors Rosenkörbchen zu tragen alte dunkelbraune Großmutter mit knöchernen. hätten. Seinen Pfeil aber tragen sie quer | Händen das fauſende Tamburin schlagend, ihr durch den griechisch geschlungenen senoten ihrer zur Seite das schlanke Mädchen , den Kopf dunkeln Haare gesteckt, seine Rosen blühen | hoch in den Himmel hineingerecht, die Hände in die Hüfte gestemmt , ein Tarantellaliedchen in heller Glut auf den braunen Wangen und mit heller Stimme schmetternd , darüber das lustige Amoretten blizen aus den großen Rebdach , darunter die Tanzenden, im Kreiſe schwarzen Augen und den Grübchen der Wangen Es fed in die Welt hinein. Aber sie sind gar ge- das zuschauende alte und junge Volk. schwirrt die Guitarre, die Kaſtagnetten klappern, fährliche Wesen dieſe Capresinnen oder Caprio tinnen und gefährlich auch sind die Pfeile, die die vom Feld heimkehrenden Esel hören's, sie sie auf die Herzen der meerdurchirrenden Männer hören's, ſie können sich nicht enthalten, sie denken abschießen, womit sie tiefe unheilbare Wunden der Zeiten Silens und erheben lautes Getön, erzeugen, die nur das Klima der Insel zu vom felsigen Pfade schallt es, das Echo weckend, heilen vermag und ihre Hand allein, und um tief zu den Klippen hinab; der alte Fischer diese hält der also Verwundete dann an, sagt hört es und zieht seine Stricke ein, traßt sich der Heimat ab , als habe er vom Lotos ge= unter seiner phrygischen Wollmüße und denkt gessen , und bleibt und baut sich ein Haus der Zeiten, wo er noch ein tanzfreudiger Bursche war. auf der Insel und wird ein Caprese.
Capri.
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Aber die Nordlandsbarbaren wurden von Und wir ? Uns wird das ganze griechische Altertum wieder lebendig und die idyllische den Gesängen angelockt und sezten sich in den Dies Freude verschwundener Völkerschaften sprüht lezten Jahren auf dem Eiland fest. wieder für eine kurze schöne Stunde helle thaten sie zwar schon einmal unter Hudson Lowe , aber damals geschah es mit Gewalt Funken durch unsern Geist. und mit Gewalt wurden sie wieder vertrieben ; Nun ja, und da wäre nichts , was zu dem am Thore von Capri, oben am Eingang, auf heute geschieht es durch die Liebe und dieſe gestellten Seufzer , was zu dem Ausdrucke sezt sich in den Häusern und Herzen der „ Paradiesesräuber" berechtigte. Ich will so- | Capresiunen fest , und wo diese deren nicht gar bekennen, daß ich im Fremdenbuch in der besaßen, ich meine Häuser, da baute sie ihnen fleinen Schenke, unter neuestem Datum von solche , und der alte originelle Baustil , der einem großen traulichen Vogelnest im Grünen zierlichster Damenhand geschrieben, die entglich, verschwindet immer mehr, und wird verzückten Verse fand: schwinden, wie die letzte Spur des Griechentums " Gibt's irgend noch ein Paradies wie weiland , So ist es Capris zauberschönes Eiland u. s. w. “ im Gesichtsschnitt, in Haartracht und SprachUnd als solches mag es denn manchem resten. Die Zeit wird kommen, wo die Insel von der großen Marina an bis hinauf zum Gipfel erscheinen, der für kurze Tage und Stunden kommt , der es sodann früher nicht gekannt, des Monte Solaro engliſiert sein wird. In wo es die moderne Kultur noch nicht beleckt hundert Jahren werden unsere Enkelkinder auf der Insel landen , und wenn sie dann nicht hatte. Daß die Hotels wie Pilze aus der Erde wachsen , das mag noch hingehen , auch gut englisch sprechen , wird sie niemand auf Capri mehr verstehen. daß man den alten vom Maler und mir anO schöne Zeit , wo der Traum eines gedeuteten Kletterweg in Ruhestand versett, die alte schöne sechshundertstufige Felsentreppe jungen verliebten Mädchenherzens auf Capri hinweggesprengt, den Weg fahrbar gemacht, noch ein Fischer- oder Schifferbursche war, ihn in kleinen Wägelchen befährt , daß man dessen höchster Schmuck in einem roten Wollaber ... ja ich muß etwas weiter ausholen. Auf Erden gibt es nirgends mehr einen Platz für Paradiese; wenn je einmal ein. solches vom Himmel fiel , hatte es keinen langen Bestand , selbst nach den Inseln der Seligen trugen die schlimmen stymphalischen Vögel den Samen des verderblichen Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen und die böse Apfelgeschichte spielte sich gar bald wieder ab. Die Rolle der stymphalischen
Vögel haben heute die flotten Dampfschiffe übernommen . Sie landen an den Inseln, bringen eine gute Portion Versuchungen und Versucher mit und nehmen als Rückfracht das Landesprodukt, die alte füße Unschuld ein. So ist auch das alte Paradies Capri kein Paradies mehr und das Fräulein mit ihrem Verse im Fremdenbuch hat unrecht. Die Maler hatten es zu schön gemalt , die Dichter zu entzückend besungen ; man lese doch, was Waiblinger, Gregorovius, Platen, Heyse, Scheffel, Lingg und wie die Guten alle heißen, die daselbst ein paradiesisches Leben führten, uns von jenen glücklichen Tagen ländlicher Unverdorbenheit, Einfachheit erzählen, und daß es keine Märchen sind, kann ich bestätigen.
hemd, einer weißen weiten Leinwandhoſe, einem flatternden schwarzseidenen Halstuche und einem Jezt stellt sich großen Strohhute bestand. breit und quer in diesen Traum ein Engländer oder sonstiger Forestiere ; einer Menge ging dieser Traum bereits in Erfüllung , und die andern hoffen darauf. So ist die alte schöne zwiebelverspeisende Bedürfnislosigkeit dahin ! Man sah, wie die Fremden sich gütlich thaten, wie sich gütlich thun können, die einen fremden Mann geheiratet und eifert ihnen nach. Dadurch hat auch das Gesicht des alten Städtchens droben, das aus einem Marktplate, so groß wie eine Nürnberger Spielzeugschachtel, und ein paar kleinen in krummen Gaffen zusammengedrängten Häuschen bestand, ein anderes Gesicht bekommen, es sieht aus wie ein Fräulein aus der Provinz, das versucht hat, ſich großstädtiſch zu schmücken ; nicht mehr wie eine frische Dorfdirne, sondern wie... eine Dorfkokette. Vorbei ist die schöne Zeit , wo man in . dem einzigen Schaufenster bei Don Michele nichts ſah , als ein paar Schachteln Streichhölzchen, eine Stange krummgezogenen Siegellacs und als Lurusartikel ein paar schwarz81
Italicus .
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die Frage, ob sie schon einmal im Leben Braten gegessen , laut auflachte : dies Ge= schlecht zufriedener Kinder der Be-
gewordene blecherne Gabeln.
Arco naturale.
Das thut's heute nicht mehr. In modernen Läden hinter glän zenden Spiegel scheiben türmen
sich jetzt englische , französische und deutsche Waren nebst überflüssigen Bijouterieen aller Art ; dort trinkt man jetzt englisches Bier, englischen Rum , kostet man englische Käse und englische Fleischkonserven. Der alten Insel weberei (wie reizend waren die Mädchen hinter ihren Webstühlen !) fällt es jetzt gar nicht mehr ein, sich abzuplagen und sich und den Ihren mit Not und Mühe den Stoff zum unverwüstlichen Hemd, zum Rock, die Bänder für das Kirchenfest selbst zu weben : die Manchesterware ist ja viel billiger. Gregorovius (wer hätte nicht seine " Insel Capri, 1853" gelesen ?), deine schönen Steinträgerinnen von vor dreißig Jahren, welche um die Mittagszeit im Schatten eines Jo hannisbrotbaumes saßen und ihr Mahl hielten, aus halbreifen Pflaumen und trockenem Brote bestehend deine Constanziella, die niemals Fleisch aß, sondern nur trockenes Brot und Kartoffeln mit Salz und Del , welche über
dürfnislosigkeit ist längst dahin! Das jezige ißt Roastbeef, kennt Porter, Ale, Wiener Bier, ja selbst Champagner ist ihm nicht fremd ; mit solchem feuchten ihm die rothaarigen Barbaren die durch den bezahlten Tarantellatanz trocken gewordene Kehle in generöser Weise an. Und auch Ana-Capri, das bis vor wenig Jahren noch so weltferne, zu dem man , wie auf einer endlosen Himmelsleiter fast sechshundert in den schroffen Fels gebrochene und gelegte Stufen erklimmen mußte, eine Arbeit, die auch der feuereifrigsten Kultur verging, auch Ana-Capri wird allmählich angesteckt ; denn heute führt von dem Stadtthore des unteren Städtchens aus eine Strada carrozzabile, eine bequeme Fahrstraße zu ihm hinauf, und auch der fettgewordenste bayrische Kulturmensch kann hinaufgelangen , ohne ein einzigmal heftiger zu atmen, um zu sehen, ob das Bier, das bei der sogenannten „ schönen Margarita “ geschenkt wird , auch echtes Hofist.. bräu_iſt. ich liebe die Kultur, ich liebe den Fortschritt. Es lebe der Fortschritt ! Aber mit einem gewissen Weh habe ich ihn und sie mein altes geliebtes Capriparadies vernichten sehen. Troßdem weiß ich noch einige Stellen, wohin der üppigwuchernde Same noch nicht gefallen und will sie auch nennen , denn an ihnen ist nichts einzureißen , aber das Häuschen, das ich als altes Friedensasyl kenne, das nenne ich nicht , das liegt nur irgendwo unter den Reben versteckt und die nehmen es jedes Jahr und um so inniger unter ihren Schuß und Schirm. Dort vergesse ich das modernisierte Capri. Dort werde ich nicht wie ein Aussaugungsobjekt aus dem Norden, sondern wie ein lieber heimgekehrter Sohn und Bruder empfangen. Dort führt mich der Vater, dem die Gutmütigkeit das braune wetter-
Capri.
feste Gesicht in nie wechselnde Falten gelegt, in seinen kleinen Garten, in den schon die braunen Felsen hineinwachsen und zeigt uns, wie der Delbaum in Früchten steht , wie der Weinstock von Trauben schwer und der Johannisbrotbaum voll gebräunter Schoten hängt.
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Die Mutter führt mich zu ihrer Kammer, an deren Wänden, in Körben , auf Tischen und Bänken der grausilberne Seidenwurm sein Wesen treibt , dessen schwellende Größe auch meine Freude erwecken soll. Die strahlende Tochter aber geleitet den fremden Mann zu
Vor dem Stadtthore.
ihrem kleinen Rosmaringärtlein , duftende Zweige und einige Rosen und Levkoyen, wie Feuernellen , des Volkes Lieblingsblume , zu zierlichem Sträußlein zusammenbindend. Oder sie sezt sich und webt und ich sage der noch unverheirateten Penelope, deren Bräutigam weit draußen im fremden Meere mit einem
Schiffe schwimmt, scherzende Worte über ihr Herz und ihre Kunst. Unter des Hauses Vorhalle , welche der Weinstock mit seinem Neze umspinnt , stellt der kleine Sohn den schlichten Strohstuhl, und auf grünem Blätterteller bringt mir das knospende Schwesterchen die goldene Feige, die bräunliche Capritraube.
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Italicus.
Und ich genieße so gern und bin ganz wie daheim. Und wenn ich wiederkomme, bin ich wie erwartet und gern gesehen. Die übrigen weltfernen Orte bedürfen eini ger Steigkraft und guter Stiefel , sie liegen in den Klippen drinnen, am jenseitigen Strande. Am jenseitigen Strande liegt zum Beispiel die kleine Marina zu Füßen des Hügels Castello. Dort hat das Meer im Sciroccofturm gar wild gearbeitet, Blöcke losgerissen , sie in
die Flut geschleudert und einen kleinen Strand, kaum zur Landung für Fischerböte geeignet, geebnet. Dort liegen wie Einsiedeleien in das schwarze Gestein hineingebaut , ein paar einsame Fischerhäuser und die Männer, die hier wohnen, haben es bisher fast ausschließlich nur mit Malern zu thun gehabt. Als ich das leztemal dahin kam, hatten sich zwei von ihnen bei jenen in primitive Kost und Logis gegeben, wo es ihnen freilich an Fischen und
Straße nach Ana-Capri.
anderm Meergetier nicht fehlte. Hier ist man ganz von der Welt verloren, und schaut man auf der andern Seite nach der lockenden Sirenensiadt Neapel, schaut man nach Sorrento und den Vesuv hinüber, so verliert sich der Blick hier in die Unendlichkeiten des sich nach Sizilien hinüberdehnenden Meeres . Aber in der Nähe staunt er die Riesenarbeit der Natur im Aufbauen von Felsenmassen , im Brechen von Klüften und polyphemischen Höhlen an. Rechts springt kect und gewaltig das Cap Marcollino in die Fluten hinein , links die mächtige steile Punta Tragara und vor dieser die unzugänglichen turmhohen Klippen der Faraglioni , um die das Meer seit Jahrtausenden machtlos brandet und braust. Dort
haben die Freunde des Sturmes , die segelflügeligen Möwen ihre Schlösser gebaut und wenn der Scirocco wütet und die Wellen in wilder hast die braunen Felswände hinaufflettern, dann erheben sie ihre Stimmen und erzählen alte schauerliche Geschichten , die sie von ihren Großeltern lernten, von Schiffbruch und an den Klippen zerschellten MenschenDann ſizen die Fischer vor den leichen. Hütten, die Barken haben sie hoch ins Land hineingezogen und rauchen aus ihren kurzen Schilspfeifen , denn solche Tage sind ihre Ruhetage. Und hoch oben auf Punta Tragara stehen die fremden Herren und Damen , die Plaids und blauen Schleier wehen und es dünkt ihnen, sie würden mit der gesamten
Capri.
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Insel vom Sturme hinaus aufs weite Meer | Einnen ; das Gemüt sättigt sich mit Eingetrieben. samkeit. " „Man kann hier wohl stundenlang , wie Gregorovius, der Meister, ist es, der solches vom Meeresduft betäubt , auf den Klippen schreibt und wer das Beste lesen will , was liegen und das grüngoldene Wasser ansehen ; über diese Perle des Mittelmeeres geschrieben das wogt und wallt unten, flimmert und atworden, der lese eben seine „ Insel Capri“ . Und von der blauen Grotte, der berühmten met, saust von Fittigen in stiller Luft , und unausgesezt tönt das sommerliche Eingen der Grotta azzura, habe ich gar nichts erzählt ? Cicade, deren Lieder die Luft zu durchschillern Wer wagte es, noch über diese zu schreiben ? Nun denn , trösten wir uns , die blaue scheinen, wie fliegende Sonnenstäubchen und Grotte ist das Schönste nicht, was dieses Eiwie das Flimmern der Hiße um die Felsen. land birgt. Licht, Luft und Duft durchdringen
Andante.
Folkslied von der Insel Capri '. Wufgeschrieben von Italicus.
Singst. 1. Sa gen acht möcht' in dir gern ein heimlich Wort, 2. Wirst du mich lieben, so jag' es doch ein mal, 3. Sagst du mir ja , wacht das Herze wieder auf;
Piano.
doch 189, an
das er ze, boch Das Herz jagt fort und fort, deine Schön-heit hält mich ab und fo fteig' ich in das Grab, gib dein Du Liebe, löj' des Zweifels bange Qual; sa ge ja mir o der mein, eh' ich soll be gra ben sein gib dein der Liebe Hand steig ich zur Sonn' hin auf, sagst du nein, so birgt vor Schmerz fich im Grabe die -ies Herz, gib dein
Tilar. Bild mir mit hinein, denn ich lieb nur dich allein Bild mir mit hin ab, denn ich lieb dich noch im Grab , Bild mir mit hin - ab, denn ich lieb dich noch im Grab ,
risoluto
mich
faßt ein Sch .nen,
bist
du mir fern,
ril.
mich faßt ein Sch
nen, ach! bist du mir fern,
mich
faßt ein Schnen, ach, bist du mir fern!
1 Dieses Lied hörte ich im Herbst 1881 an verschiedenen Bunkten der Insel von Frauenstimmen zur Guitarre gefungen ; es verfehlte nicht eine tiefe Wirkung auf mich (und später noch auf viele Ander:) hervorzubringen; es war mir durchaus neu und so schrieb ich es auf, ohne das Geringste hinzuzusetzen, ohne etwas davon zu nehmen. Der Text ist freilich im Italienischen noch weniger wert, als im Deutschen, seinen Gedankengeng hab' ich bewahrt. Vortrag: immig und nicht etwa schleppend.
Otto Lehmann.
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Die kleinsten Gymnastiker. Von
Otto Lehma n n.
Zahllose Völkerschaften gibt es von friechenden, fliegenden, schwimmenden, schwärmen den, springenden und hüpfenden Proteuskindern ; bizarr unheimlich und zierlich anmutsvoll, düster und hellschimmernd , in demütig bescheidenem Graurock oder in goldschimmernder Hoftracht. Bei diesen Völkern existieren seit Ürzeiten alle Regierungsformen, welche Gesez geber, Reformatoren, Volksbeglücker und Verfassungskünstler in ihren politischen Herenküchen . mit unsäglicher Mühsal zubereitet und dem gequälten Menschengeschlechte vorgesezt haben. Da gibt's neben absoluten Monarchieen ohne salisches Gesetz, mit einem Sklaven- und Helotentroß und einer Amazonenwirtschaft, demokratische Republiken mit Tribunen und Volksversammlungen , oligarchische Militärstaaten mit erblichen Würden und finsterer Gewaltherrschaft u. s . w. Gleich den Menschen bewohnen auch die Insekten - von ihnen ja sprechen wir Höhlen und Erdgeschosse, oder sie leben, z . B. die Termiten, unter gewölbten Domen, oder wie die Wespen in altersgrauen Schlössern, wo mitunter Prinzen sich mit Königinnen vermählen, ohne Könige zu werden, wie der traurige Gemahl der Termitenkönigin , oder ein Männer- Serail, wie im Bienenreiche, der Befehle der Herrscherin harrt , nicht anders, als am Hofe irgend einer bronzefarbenen Majestät eines polynesischen Inselreiches . Doch wir wollen diese Gleichnisse nicht weiterführen. Unſere Absicht ist, von den unter den Insekten stark verbreiteten gymnaſtiſchen Unterhaltungen zu erzählen , d. h. auf die Insekten Bewegungen unsere Aufmerksamkeit richten, welche Wohlbehagen zu verraten scheinen. So verschiedenartig die Insekten sind, so verschieden sind auch ihre Bewegungen . Wir finden unter ihnen gewandte Ringer, geschickte Schwimmer, leichte Tänzer und Tänzerinnen 2c. Zu erstgenannten zählen wir vor allen einige Ameisenarten , welche in den Zwischenzeiten, wo sie von ihrem geschäftigen Fleiße ausruhen,
sich mit einer Art von Kampfspielen und Wett= rennen zu unterhalten pflegen. Bonnet erzählt, es sei ihm einst eine kleine Ameiſenart zu Gesicht gekommen, wo ein Individuum das andere auf dem Rücken getragen und der Reiter sich mit seinen Mandibeln am Halse des Trägers festgehalten und diesen zugleich mit den Beinen fest umklammert habe. Allein wenn auch die Beobachtung Bonnets hinsichtlich der Reiterei schwerlich hierher zu rechnen ist, so haben wir doch, was ihre Kampfspiele anlangt , keinen Zweifel zulassende Zeugniſſe. „Ich näherte mich eines Tages, " so erzählt z . B. Huber, dieser glaubwürdige Beobachter, „ einer Behausung von Waldameiſen , welche dem Einfluß der Sonne ausgesetzt und gegen den Nordwind geschüßt war. In großer Anzahl belebten die Ameisen die Oberfläche ihres Baues und schienen sich der milden Temperatur zu erfreuen. Keine einzige ging der Arbeit nach ; als ich aber das Thun und Treiben derselben untersuchte, sah ich eine der andern sich nähern, wobei sie ihre Fühlhörner mit erstaunenswürdiger Geschwindigkeit bewegten, während sie mit einer leichten Bewegung die Backen anderer Ameisen schlugen. Nach diesen vorläufigen Geſtikulationen, welche Liebköſungen glichen, sah man sie paarweise sich auf den Hinterbeinen erheben und eine die andere an einer Freßzange, an einem Beine oder einem Fühlhorn packen, gleich darauf wieder fahren | laſſen und dann die Attacke von neuem beginnen. Sie packten einander bei den Schultern oder am Leibe, umschlangen sich gegenseitig und stürzten einander um, die Gefallenen erhoben sich wieder und rächten sich, und dies alles ohne irgend eine ernste Verletzung. Sie hielten ihre Gegner nicht mit der Hartnäckigkeit gepackt, wie sie dies in ihren wirklichen Kämpfen zu thun pflegen. Sie ließen die, | welche sie zuerst ergriffen, sogleich wieder los und suchten andere zu fangen. Ich habe einige gesehen, die in diesen Uebungen so eifrig waren, daß sie mehrere Arbeiter nacheinander verfolgten und einige Augenblicke mit ihnen rangen; der Kampf hatte bloß dann ein Ende, wenn es den weniger lebhaften und mutigen gelang, nach Umstürzung ihres Gegners zu entkommen und sich in einer der Galerieen zu verbergen. Auf einer Stelle schienen zwei Ameisen um einen Grashalm herum ihre Sprünge und Purzelbäume zu machen , sie wendeten sich
Die kleinsten Gymnaſtiker.
wechselweise, um einander zu vermeiden oder zu packen.“ Häufig sieht man auch eine von diesen Ameisen mit einer Arbeitsgefährtin von derselben Art und Kolonie in ihrem Gebig hin und her laufen, und nachdem lettere noch eine Zeitlang getragen worden, von der Trägerin auf freundschaftliche Weise und unverlegt wieder abgesetzt wird. Aehnliche Belustigungen finden wir auch noch bei verschiedenen andern Insekten. Zu großer Virtuoſität haben es namentlich die Springfäfer im Springen gebracht. Weit mannigfaltiger sind die Tänzer und Tänzerinnen vertreten und wir müssen gestehen, daß von der fliegenden fröhlichen Schar in der Tanzkunst ganz gediegenes geleistet wird . Ein ganz gewöhnliches Beispiel dieser Art liefern die Lufttänze der Mücken und anderer Insekten. Diese Tänze finden nicht bloß im Sommer statt, sondern bereits in den ersten Frühlingsmonaten und häufig sogar im Winter an geschütten Orten. Man sieht sie alsdann scharenweise in einem sonnigen Winkel umherkreisen, obgleich der Erdboden mit Schnee bedeckt ist. Bei mildem, warmem Wetter indes ziehen die Mücken das Ende des Tages vor, und wir haben die Tierchen oft ihren Tanz ununterbrochen fortseßen sehen , bis wir sie
zwischen dem Auge und dem am westlichen Horizonte schwindenden Lichte nicht mehr zu unterscheiden vermochten, wie lange sie aber dann noch getanzt, können wir nicht angeben. Bei diesen Belustigungen dürfte die Vorzüglichkeit des Gesichts der Mücken und die Behendigkeit sowohl, als die Geschicklichkeit ihrer Bewegungen nicht wenig Erstaunen erregen, wenn man erwägt, daß sie während des Tanzes stets einander in geschicktester Weise ausweichen , trotz der Schnelligkeit , mit der sie freisen. Was außer jenem Gefühl von Wohlbehagen und froher Lebenslust , welches Lämmer zu ihren Scherzen , Sprüngen und Spielen zusammentreibt, die Mücken bestimmen mag, auf besagte Art in der Luft umherzutanzen, ist vielleicht unerklärbar. Aber nicht nur in der Luft führen die verschiedenen Insekten ihre Tänze aus , auch auf leicht schwebender Zehe" rufen sie unsere Bewunderung hervor. Hierher gehören namentlich die Wasser-
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fäfer, und von ihnen hat es wieder der Drehkäfer (Gyrinus) zu einer Fertigkeit im Tanze gebracht, die jeden Beobachter zur Bewunde rung hinreißen muß. - Waſſer , ruhiges, stilles Wasser , ist der Plaß, wo sich dieses fleine ergögliche Tierchen in seiner Thätigkeit zeigt. Dieser Käfer zieht sich im Herbste zurück, ruht den ganzen Winter über im Schlamme auf dem Boden des Teiches, erwacht im Früh jahr, fehrt zur Oberfläche zurück und beginnt seine Sommerbelustigungen . Die Tierchen gesellen sich zu zehn bis zwölf nahe am Ufer zusammen , wo das Wasser vorzüglich ruhig ist, und hier drehen sie sich, friedlich, jedes in seiner Sphäre, und ohne wahrnehmbaren Zweck, vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht mit großer Lebhaftigkeit und Munterfeit um einander herum, und so leicht sind ihre Bewegungen auf dem Wasser, daß sie nur schwache und schnell schwindende Kreise in seiner Oberfläche bewirken. Wunderbar ist die Geschwindigkeit, womit dieselben umherwirbeln, gleichsam als verfolgte einer den andern in unaufhörlichen Touren , sich bisweilen in schräger und überhaupt in jeder Richtung bewegend ; bisweilen ruhen die niedlichen Tierchen auf der Oberfläche des Wassers , gleichsam vom Tanze ermüdet , und vom Verlangen nach dem vollen Genuß der wohlthätigen Wirkung der Sonnenstrahlen getrieben, naht man sich ihnen, so sind sie augenblicklich wieder in Bewegung. Da dieselben die Geselligkeit sehr lieben, so sieht man sie selten allein, und trennt sie je ein Zufall, so vereinigen sie sich bald wieder mit ihren geschäftigen Gefährten. Ein Teich gewährt in der Regel mehreren Abteilungen oder Gesellschaften hinreichenden Spielraum ; allein diese vereinigen sich nicht miteinander und geraten auch nicht in Streit, sondern sie führen ihre Touren in getrennten Familien- Partieen aus. Versucht man sie mit einem Netze zu fangen, so fahren sie mit Blizesschnelle unter das Wasser und zerstreuen sich. Ist die Gefahr vorüber, so erscheinen sie wieder und kehren zu ihrem Ringeltanz zurück. Den Kreistouren der Drehtäfer , welche sie aus keiner andern Absicht zu unternehmen scheinen, als sich im Sonnenschein zu erfreuen, kommt an Schnelligkeit bloß ihr Untertauchen gleich, wenn sie die Annäherung des Menschen. von ihren Spielen verscheucht. Ihr scharfes Gesicht ist in der That er-
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Otto Lehmann. Die kleinsten Gymnaſtiker.
staunenswürdig und kann als eines der glän- | zendsten uns bekannten Beispiele von der gött lichen Fürsorge gelten. Landtiere sehen unter Waſſer nicht beson ders , Wassertiere dagegen sehen in der Luft unvollkommen ; und ein Tier, dessen Auge geschickt ist, sowohl im Waſſer als in der Luft zu sehen, kann wegen der großen Verschieden- | heit der Medien in beiden nur ein unvollkommenes Gesicht besigen. Der kleine Drehfäfer aber ist, um dieser Schwierigkeit zu begegnen, mit einem doppelten Augenpaar begabt; das eine Paar sizt an dem oberen Teil der Stirn und dient dem Tier zum Sehen in der Luft ; das andere Paar , am unteren Stirnteil, genau unter dem ersten und nur durch eine dünne Membrane davon getrennt, ist für das Waſſer bestimmt. Da der Käfer nur zur Hälfte im Wasser schwimmt, so muß ihm das leßtere Paar äußerst nüßlich sein, insofern es ihn vor nahender Gefahr, z . B. vor Fischen oder räuberischen Larven warnt, die unter ihm in der Tiefe lauern ; dagegen macht ihn das erstere mit der Annäherung von Feinden über dem Wasser bekannt. Nicht weniger bewunderungswürdig sind die Hinter füße zum Schwimmen eingerichtet, indem sie die gehörige Breite und Elastizität besißen ; während die Vordersüße vermöge ihrer Konstruktion dem Tierchen als Hände zur Ergreifung seiner Beute dienen. Zu gleicher Zeit ist dasselbe mit zwei Flügeln versehen, welche es , sollte das Wasser seines Geburtsteiches zufälligerweise im Sommer völlig verdunsten und seinen Aufenthalt daselbst unmöglich machen, leicht nach einem andern Tümpel tragen. Das Umherjagen der Schmetterlinge in Pärchen, Trios, oder zahlreicheren Abteilungen, ist als eine Art von Scharmützel zu betrach ten. Vorzüglich streitsüchtige Tiere sind die
Wenn er im Genusse seiner vollen Lebenskraft ist, läßt er keinen seiner Sippschaft ungestraft seine Pfade kreuzen oder der Blume nahen, worauf er sitt. Es gibt indes einen anderen fleinen Schmetterling, das Feuervögelchen, der eben so schön und noch streitsüchtiger als jener ist, und dieselben Blumen besucht. Man sieht diese kleinen Geschöpfe, so oft sie einander zu nahe kommen, sogleich aufeinander losschießen und sich mit den Flügeln schlagen , bis einer den Kampfplay verläßt , worauf der Sieger triumphierend zu der Stelle zurückkehrt , die Sollte der Feind wieder aner verlassen. rücken, so erneuert sich das Treffen ; wenn aber eine Wolke die Sonne verdunkelt , oder ein falter Wind weht, so läßt ihr Eifer nach und der Streit hört auf. Der Kupferfalter läßt sich sogar gern mit seiner eigenen Sippſchaft in Kampf ein. Man kann selten zwei derselben , welche sich auf den nämlichen Aſterbüscheln sonnen, aufjagen , ohne daß sie miteinander kämpfen. Die Kampflust des Ar-
gus beraubt diesen niedlichen Schmetterling bald eines großen Teils seiner Schönheit. Einige Tage nach dem Ausschlüpfen bereits finden wir die Ränder seiner Flügel zerrissen und gezackt und den schönen blauen Puder von lezteren abgerieben, und den ganzen Schmetterling grau und schäbig. Doch nicht immer werden besagte Schmetterlings - Scharmüßel nur durch Kampfluft oder Zanksucht veranlaßt , sondern vielmehr durch frohen Lebensmut und Luft zum Scherzen. Man sieht sie alsdann bald emporſteigen, bald herabſinken, bald im Zickzack einander umkreiſen, ungefähr wie junge Kaßen oder Hunde bei ihren munteren Balgereien und Purzelbäumen. auf dem Erdboden. Hätten die fraglichen Bewegungen ihren Grund in Eiferſucht und Neid, so würden wir die Schmetterlinge stets paarweise kämpfen ſehen ; nun ist es aber gar nichts gemeinen weißen Schmetterlinge ; sie treiben Ungewöhnliches , daß man drei und mehr jeden fremden Besuch aus ihrem Bezirk. Wir | Schmetterlinge in jenen vermeintlichen Kämsehen einen hinter dem anderen in die Luft pfen begriffen und einen jeden ohne Unteremporſteigen , in eifrigem Kampfe begriffen, schied auf den anderen losſtürzen und daran vorbeihuschen sieht, ohne daß es zu wirklichen und so werden sie von einem wachsamen Vogel Schlägen kommt. bemerkt, gefangen und gefressen. Ebenso eifer süchtig und kampslustig ist der kleine blaue Aehnliche Kampfspiele 2c. können wir noch an vielen anderen Insekten beobachten. Argus , den alle Welt kennt und bewundert.
Brennender H Auton . on Braith .Stall
Robert Byr. Andor.
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Andor.
Roman von Robert Byr. (Schluß.)
nd er , dem die Rache so | Ihnen keine Sünde daraus und eine genahe lag , hatte diese stolz wisse Aufrichtigkeit trägt zur Verständigung bei. Späterhin können wir das alles wieder verschmäht , ja selbst seine Rechtfertigung , weil dieselbe vergessen und uns gegenseitig für ſo ehrenin ihren schlagendsten Bewerte Leute halten als wir vor der Welt weisen vernichtend sein mußte. Er hatte ſie großherzig geschont , auch noch als sie thöricht , grausam , niedrigdenkend in seiner Verwundung Schuß und Genugthuung für ihre Eitelkeit ſuchte . Auch dann noch hatte er geschwiegen. Wie zu einem Halbgott mußte sie aufblicken zu dem, von dem sie selbst sich unwiderruflich geschieden auf immer! auf immer! „Natürlich," fuhr Jenö, während ihr dies blißgleich erhellend und vernichtend durch die Seele zuckte , fort. „ Er wußte es so gut wie jeder, der Augen hatte, wie ich, wie Sie selbst."
"„ Wie ich ?“ Erstaunt richtete sie sich auf und ihren Blick auf ihn. Sie verstand ihn kaum ; noch war ihr Geist zu sehr unter dem Eindrucke der so plößlich aufgeschossenen Gedanken . „ Ah, Pardon ! Sie wollen es nicht gewußt haben. Ganz richtig ! Sie hätten es niemals." ja sonst niemals zugegeben „ Niemals !" wollte sie mit Ungestüm beteuern, aber die Lippen schlossen sich bebend ohne das darauf erstorbene Wort ausgesprochen zu haben. Wie ein Stich durchs Herz traf sie ein Laut aus weiter, weiter Ferne. Und es war ihre eigene Stimme, die aus der Vergangenheit herauftönte : ,,Vater, vernichte ihn !" O nicht so, nicht so war es gemeint ! Alles Leben schien aus ihr zu weichen. Jenö aber betrachtete die Zusammenbrechende mit befriedigtem Nicken. „ Nun sehen Sie !" sagte er. „ Wozu denn auch leugnen unter uns . Ich mache
sein wollen, denn der müſſen wir nun doch einmal die Stirne bieten . Ich begreife Ihre Scheu , durch den offenen Kauf von Löke Aufsehen zu erregen und den um ihr Vermögen Betrogenen dadurch neuen Anreiz zu Prozessen und Verdächtigungen zu geben , aber in Zukunft wird das anders sein. Ich führe meine Klinge nicht umſonſt und sie wird den allzulauten Angriffen auf die beiden Ehrenmänner ebenso Schweigen gebieten , als Ihren oder vielmehr unseren Besiß gegen die frechen Ansprüche derjenigen verteidigen , die da behaupten, dies Geld sei das ihrige. Wir werden ihr Unrecht beweisen wenn sie auch Recht haben."
Ein neuer Gedankengang war in Susannen angeregt worden. Unwillkürlich hatte sie auf diese weiteren Ausdeutungen und Anklagen gehorcht, die ihr einen Teil ihrer Spannkraft wenigstens zurückgaben . Eben noch hatte sie nichts als ihr tiefes Elend und eine Beſchämung, um unter die Erde zu ſinken, gefühlt, jezt kehrte ein Funke der Entrüstung wieder. „Ich verlange keine Verkehrung des Rechts . Es ist auf meiner Seite." „Das gefeßliche , ganz richtig . Wir ftellen uns auf diesen Standpunkt. Was kümmert uns das moralische ? Wer muckst, wird still gemacht." ,,Nein , nein. Klebte ein Unrecht an meinem Vermögen , ich würde es keinen feinen Augenblick ! Augenblick behalten Ich aber weiß, daß es von meiner Mutter kommt. “ "„" Sie wissen es ?" 82
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Robert Byr.
„ Ja . Die Summe war wohl klein, aber sie hat sich vermehrt. " ,,Ganz wunderbar und die Gläubiger Ihres Vaters haben deshalb keinen An= spruch daran. So sagt man Ihnen. Und so wollen wir in aller Zukunft sagen und wehe , der da flüstert , es sei fremdes Gut, das der in seinen Spekulationen zulet nicht mehr glücklich gewesene Mann, als er sein Ende fühlen nahte, der Tochter retten wollte." So sagen einzelne Mißgünstige," warf Susanne verächtlich, doch sichtlich beunruhigt und erregt ein . So sagt jedermann ; das weiß alle Welt," und auf den unartikulierten Laut, den sie ausstieß, fuhr Jenö lebhafter fort : Sowie alle Welt die Schenkungen und Üebertragungen, die Buchungen auf gewiſſe Posten und für vorgeschobene Klienten, kurz alle die geschickten Manipulationen und Praktiken kennt, durch welche es möglich wird , das Geld der Vertrauensseligen in eine andere Tasche gleiten zu lassen . Die Eskamotage von Löke ist nicht die einzige ihrer Art. Aber die Welt findet sich darein, daß der Schlaue sie dupiert und die Erben wären Thoren , wenn sie sich überflüssige Skrupel machen würden. Lassen wir die Gläuber um die Konkursmasse zanken und genießen wir in Ruhe und Behagen , was jene ganz insgeheim den Raub nennen, aber ganz insgeheim , denn wenn sie es öffentlich thun , straft sie das Gesez selbst, welches nicht zugeben kann, daß es eine verbrecherische Handlung jemals ungeahndet Laſſe. Wohin wollen Sie ?" „ Fort !" rief Susanne, die ſich mühsam erhoben hatte. Stimmte dies nicht zu all dem, was ihr vor Jahren Görbedán über den falschen Bankrott ihres Vaters erzählt ? Und auch sie nur durch eine gleiche Praktik so wurde es ja aller Welt ge= nannt - im Besiße ihres Vermögens, über dessen Herkunft niemand im unklaren war, als sie selbst. ,, fort! fort !" Er „Nicht doch ! " entgegnete Jenö . war gleichfalls aufgesprungen und hielt sie an der Hand zurück. Blick und Wort wurden lebendiger und steigerten sich zu stürmischer Verwegenheit. " Nicht doch , mein Schäßchen. Erst lassen Sie uns die Kon-
kluſion aus all dem Verhandelten ziehen, und geben Sie mir den Brautkuß, denn zu einem solchen Abschluß muß es doch kom men. Seit Jahren werbe ich um Sie mit Geduld wie Jakob um seine Rahel , mit dem Warten geht es aber nun nicht länger. Ich gefalle Ihnen nicht, ich bin Ihnen vielleicht zu klein und Sie lieben die Großen, bin brünett und Sie lieben die Blonden . Daran gewöhnt man sich. Ich liebe Sie und liebe Sie bis zur Raserei , ― Sie allein haben mich Beständigkeit gelehrt, ich werde Ihnen dafür meine Liebe einhauchen. Wen wollen Sie denn sonst zum Manne nehmen ? Denn in ein Kloster gehen Sie nicht. Stoßen Sie sich an meinen Charakter , an meinem Vorleben ? Ja, ich bin herabgekommen, aber ein Ehrenmann kann Sie nicht zu seiner Frau machen. Auch Sie haben die Sie sind kompromittiert. Erbschaft Ihres Vaters angetreten . Wie auf mich, fällt der Schatten auf Sie. Wir tragen beide an der Schuld unserer Väter. Wir haben gegen die ganze Welt Front zu machen und brauchen vor einander nicht Gleiches Schicksal fittet uns zu erröten. aneinander. Wir gehören zusammen ; wir sind für einander bestimmt. Ich halte dich fest und lasse dich nicht mehr !" Der dritte Freier an diesem Tage der schrecklichste . Seltjam, aber troß der stürmischen Aufregung, troy all dem über sie Hereinstürzenden, das schwer genug war, um all ihr Denken in Anspruch zu nehmen, kreuzte doch auch dieser Gedanke ihren Kopf, er vermochte aber nicht mehr, das Blut in zornige Wallung zu bringen ; nur eine Bewegung des Abscheu's war es , mit der sie Jenö ihre Hand entzog. ,,Sie wollten nach Amerika ? “ ſagte sie matt, als ob alles , was nach Mitteilung dieses Planes gesprochen worden, ungehört an ihr vorübergegangen wäre. " Sie haben recht. Gehen Sie, gehen Sie ! Die Mittel zum Fortkommen will ich Ihnen gerne geben." Ich will aber nicht ohne Sie . Es war ein verzweifelter Entschluß, mein guter Stern selbst hat mich davor bewahrt , denn weit schöner ist es , mit Ihnen hier zu bleiben, als allein über den Ozean zu segeln. Der
Andor.
Segen der Väter baut den Kindern Häuſer. Wir wollen es uns bequem darin machen und eine Musterehe führen. Wann ſoll Hochzeit sein?" ,,Nie !" entgegnete Susanne mit Bestimmtheit, indem sie sich abwandte. „Cho !" spottete Jenö, aber sein Lächeln hatte dabei etwas Drohendes und sein Ton flang gleichfalls wie eine verhaltene Feindseligkeit. Sie hätten es wohl gerne, wenn ein unbequemer Zeuge sich aus dem Wege räumen ließe. Bedaure recht sehr , wenn ich in neueren Plänen etwa störe ; konnte Ihnen die Auseinanderſeßung aber nicht ersparen. Und mich beiſeite zu schieben wird Ihnen nicht so leicht fallen. Ich bin auf einem Punkte angelangt, wo mir alles gleich ist. Verschmähen Sie mich und ich töte mich zu Ihren Füßen. Beim Himmel, es ist keine Brahlerei! Ueberlegen Sie doch Ihre eigene Lage, ehe Sie mich zurückstoßen und zur Verzweiflung treiben . Ueberlegen Sie's, Aber ehe Sie eine Entscheidung treffen. nein , nein, - ich lasse Ihnen keine Zeit zum Besinnen , von Ihren eigenen Lippen will ich mir zur Stelle das Jawort holen. Komm, süßes Bräutchen !" Er that einen Schritt vor und streckte den Arm nach ihr aus , sie gewaltsam an sich zu reißen, aber mit einer gebieterischen Gebärde wich Suſanne zurück. „ Berühren Sie mich nicht ! " herrschte sie ihm zu und in ihrer Haltung, wie in ihrem Blicke gab sich ein so hoher Ernst kund, daß selbst die sich über alles hinwegjezende Dreiſtigkeit davon eingeschüchtert wurde. Diesen Moment benüßte Susanne ; mit einer blizſchnellen Bewegung ihres elastischen Körpers war sie an der Tapetenthür , die zu dem Schlaf- und Ankleidezimmer ihrer Freundin führte. Noch einmal wandte sie sich und gebot Jenö hier zu warten . Ehe derselbe sich noch aufgerafft hatte, die Flüchtige zurückzuhalten , fiel die Thüre zu und
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du auch vornimmst ! " drohte er knirschend und sein Auge glühte dabei . Er hob die Fauſt, als ob er die Thüre zertrümmern wolle , griff dann nach der Brusttasche, zog sie wieder leer zurück und fuhr sich jäh durch die Haare. „Dazu iſt's ja immer noch Zeit, " murmelte er. „Warten hat sie mich geheißen. Das ist doch noch keine Abweiſung. Nein, nein ! Nicht gehen , warten soll ich, - sie wird also wiederkehren . Sie will Zeit haben zum Ueberlegen. Dies Weibervolk ist ja noch zimperlich, auch wenn ihm schon das Meſſer an der Kehle sizt. Ah, Thor, der ich war ! Alles nimmt noch ein gutes Ende . Hätte ich sie denn just jezt hier auf meinem Wege gefunden, wenn es anders sein sollte ? Dann brauchte ich ihr auch nicht zu begegnen. Das Glück bietet seine Chancen ; wer nicht zugreift , ist selber schuld. Bah, es ist noch nicht die leßte Karte abgezogen ! Fassen wir uns in Geduld ; warten wir ! " Und mit dem alten egoistischen Leichtsinn begann er durch das Gemach zu wandeln, nahm vom Kaminsims eine Zigarette, warf sich in einen Fauteuil und griff nach einem Album mit Photographieen, in dem er zerstreut blätterte . Nach einer Weile , als er leise Tritte hörte, sprang er auf. Aber nicht die Erwartete war es , sondern ein Diener , der sich durch den Salon nahte. Jenö erinnerte sich, denselben schon geſehen zu haben, aber er zeigte jezt nicht mehr die achtungsvolle Miene wie vor einer halben Stunde, als er nachläſſig an die Equipage gelehnt, vor dem ins Haus tretenden Besucher rasch eine ehrerbietige Stellung angenommen. Es lag vielmehr in seinem ganzen Auftreten jene maßloſe Inſolenz , mit welcher Domestiken eines großen Hauses auf den bescheidenen Bittsteller herabzublicken pflegen . Mademoiselle läßt sich entschuldigen .
ein unverkennbares Geräusch verkündete ihm, daß sich der Schlüssel gedreht hatte. Dennoch versuchte er nachzudringen ; das Schloß gab jedoch nicht nach und wild mit
Sie ist aber im Begriffe auszufahren und hat notwendige Geschäfte bei Ihrem Bankier ,“ ſagte er geringschäßig , indem er zugleich einen Brief mit der Gebärde eines widerwilligen Almoſenſpenders überreichte. Auf dem Kouverte stand anstatt der
dem Fuße aufſtampfend, tobte er über den „ Streich, den ihm die Schlange gespielt“. Du sollst mir nicht entkommen, was
Adreſſe in deutscher Sprache, so daß es der Diener nicht leſen konnte, geschrieben : „ Leben Sie wohl ! Glückliche Reise !"
Robert Byr. 648 es sogar unbewußt aus , als müſſe er sich mit dem Gedanken vertraut machen , der alle andern in sich aufſog, während er wie eine Spule umlief in dem darüber sausenden Kopfe. So war Andor wie ein Nachtwandler die gewohnten Wege gegangen. Ohne daß er eigentlich ein Bewußtsein davon hatte, betrat er das Hotel d'Evert und stieg die Treppe hinauf, und ebensowenig hatte er ein Gefühl dafür , wie lange er schon in dem abgesonderten Zimmer , wo er gewöhnlich zu arbeiten pflegte, mit dem Rücken am Fenster stand und auf den Schreibtisch starrte, auf welchem zwischen Tabellen und Nachschlagebüchern große Landkarten ausgebreitet lagen. Da war die ganze Welt, das Meer und alle Länder und Reiche, öde und ausgeworfen? Seine Hand, die wieder nach der Brust gestorben, ein erstarrter Erdball . Nichts, Nichts regte sich, kein Hauch. Ein Todestasche gezuckt, sank geballt herab. engel war dahingezogen über die Gefilde „ Bestellen Sie dem Fräulein, “ stieß er unter seinem brennenden Blicke dann scharf heraus , „ ich ſei gegangen, wir | und würden uns aber wiedersehen vor meiner alles Lebende hingesunken und jeder Grashalm verdorrt, sogar das Wasser perflüchAbreise auf alle Fälle !" und ohne eine weitere Antwort zu er- tigt. Nichts blieb als harter, nackter Fels . Und auf dem saß jezt der bleiche Dämon warten, wollte er fortstürzen, als er sich am Arm zurückgehalten fühlte. mit gefalteten Schwingen und freute sich " Sie vergessen, mein Herr— " Ein des Werks der Vernichtung ; - scheußlicher Wink nach den auf dem Teppich liegenden als die Pest, die grauenhafteſte unter ihren Papieren ergänzte die wohlmeinende Mah gespenstigen Schwestern : die Rache . nung . Sich selbst nach ihnen zu bücken, so Er schrak auf, als sich die Thür öffnete. War er denn nicht eben noch tödlich ins weit ging die Herablassung des Burschen nicht, der wußte, was er sich und seiner Herr Herz getroffen, an einem furchtbar zerriſſenen schaft schuldig war. Abgrund gestanden, hatte er in dieſem nicht Grimmig wollte sich Jenö losreißen, das Meduſenhaupt in seiner entſeßlichen doch besann er sich. Ein plöglicher Einfall | versteinernden Schönheit geſchaut ? Und wie kam jeßt Duchard dazu ? Er ließ ihn begierig nach der fortgeworfenen Anweisung greifen. Es stand ja der Name mußte sich erst besinnen. A merveille ! Allein, unbeschäftigt, ich des Bankhauses darauf, nach welchem Susanne wollte. fonnte es nicht besser treffen," sagte der kleine Mann, indem er ohne weiters Besiß Der Lakai nickte lächelnd hinter dem Davoneilenden drein . Er hatte es ja ge= von dem unbenüßten Schreibtische ergriff wußt. Mit der Entrüstung war es nicht und einen Pack Schriften , den er samt einem schmalen Strazzenbuche unter dem ernst. Derlei Papierchen verschmäht auch der unverschämteste Bettler nicht. Arme trug, mit seiner gewöhnlichen eilfertigen Beweglichkeit darauf auslegte. " Sie müssen mir einen Gefallen thun und mit mir für eine Viertelstunde tauſchen. Ich VII. bin eben sehr beschäftigt und kann unmög= Es ist aus ! Immer kehrte das Wort lich den Galanten spielen. Gehen Sie hinwieder auf Andor's Lippen und sie sprachen über - es muß jemand im Vorzimmer
Jenö starrte darauf hin , dann riß er den Verschluß auf. Innen lag nichts als ein Check. Wütend ballte er ihn zusammen. Einen Moment lang war ihm , als müsse er sich auf die Tapetenthüre werfen, sie sprengen und mit Gewalt eindringen, aber wohin ? wo mochte sie zu finden ſein ? Sollte er das ganze Haus durchsuchen? sich mit diesem Lakaien balgen, der offenbar zur Hilfe der Frauen vom Wagen heraufgerufen worden war und ganz darnach ausſah, als sei er bereit, mit jedem Friedensstörer kurzen Prozeß zu machen ? Ein tolles Lachen brach zwischen den auf einandergepreßten Zähnen hervor . Wie ein Bettler abgefertigt , fortge schickt ! - warum nicht auch noch hinaus-
Andor.
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sein und leisten Sie Mad- leisten Sie der abſpazierende Diener vorauseilte und ihm dienstfertig die Thür öffnete, war es Andor, Dame Gesellschaft . Sie will Monsieur d'Evert sprechen, der abwesend ist." als ob er lebhafte Stimmen vernehme . Aber der Wortwechsel wenn es ein solcher „ Ich bin eben jezt ein schlechter Gesellschafter." Andor hatte das eigentümwar — verſtummte in dem Augenblicke, wo die Thür aufging , und es blieb dem liche Stocken Duchard's ebensowenig bemerkt, als das verstohlene Lächeln, das um Eintretenden auch nicht weiter Zeit, daran zu denken. seines Freundes Lippen zuckte. Er hatte den Fuß kaum über die Schwelle " Thut nichts," versezte dieser drängend, „ Sie wissen, daß unser Chef es nicht liebt, gesezt, als sein Schritt stockte und er selbst wenn man seine Besucher allein läßt. wie zu Stein geworden unbeweglich stehen blieb, als starre ihm abermals das MedusenMachen Sie die Honneurs . Im Essen kommt der Appetit, ich wette. Aber sind Sie denn haupt entgegen . — Und war es denn nicht gar nicht ein bißchen neugierig ? - Jung, wirklich eine Fortseßung jener Vision ? schön, geistreich na na, ich verrate nicht Da stand Susanne vor ihm, das ungeordnete Haar überall hervordrängend unter mehr. Sie sind gespannt ?" „Ganz und gar nicht. " dem schwarzen Hütchen mit dem zurück„ Sie haben das Aussehen eines Trauer- | geschobenen , nur über die Stirne herabhängenden Schleier, in den dunklen Hüllen, manns der pompes funèbres . Nun denn, mir zuliebe ! bringen Sie das Opfer ! Sie die sie , ohne sich Zeit zur Vollendung der sonst immer so sorgsam geordneten Toilette können ja dergleichen thun, als hätten Sie zu gönnen , nur hastig übergeworfen , als wichtige Arbeit an meinem Pulte, wenn es durchaus mit der Unterhaltung nicht geht. sie , zerschmettert von dem Wetterschlage, der mit grellblendender Helle auf ſie niederSie müssen , lieber Freund , denn ich habe dergefahren, plößlich klar den Weg vor sich hier thatsächlich zu thun. Sie dürfen sich nicht länger weigern - vielleicht sind Sie sah, den sie zu gehen hatte. Aus der Erkenntnis war auch im Momir sogar dankbar. " Auch diesmal entging Andor die listige mente der Entschluß vollreif geboren . Ihre Miene und das vergnügte Zwinkern, das feurige und thatkräftige Natur zauderte nicht eine Minute mit der Ausführung . ihm noch folgte, als er sich schon gefällig und gleichgültig aufmachte, der AuffordeJahrehindurch hatte sie in Gewohnheit und rung zu entsprechen. lässiger Gleichgültigkeit das leise Pochen des Gewissens und mit selbstbewußtem Troß Er schritt über den Korridor , an der Treppe vorüber wo das eigentümliche Gedie nur selten von außen ihr zugewehten räusch der zahlreich in den Büreaus der Mahnungen überhören, die unbequemen Gedanken über Recht und Unrecht zurückWechselstube Verkehrenden aus dem Erdschieben und mit Sophismen hinwegdispu geschosse herauftönte und stand nach einigen. Augenblicken an der Thüre des Salons, in tieren können ; jest, einmal aufgerüttelt aus dem Klienten, welche mit dem Chef des Hauses diesem Selbstgenügen und entsegt vor der persönlich zu verkehren wünschten , warten Frivolität einer solchen Lebensanschauung, mußten und manchmal länger sogar , als als sie ihr aus dem Munde eines andern wenn es sich um die Audienz bei einem in all ihrer Frechheit und Häßlichkeit entFürsten gehandelt hätte, wofür denn auch gegentrat, — jezt konnte sie sich nicht mehr zur Abkürzung der Zeit Bücher und Jourzurückwiegen in die alte vornehm verächtnale in dem eleganten, aber doch im Ganzen. liche Abgeschlossenheit ihrer dem stolzesten einfach ausgestatteten Raume aufgelegt Bewußtsein entsprungenen Ueberzeugungen. waren, wenn sich der Wartende in seiner Diese waren gebrochen und niedergeworfen. Ungeduld nicht lieber entschloß , sein VerEinst hatte sie mit heißem Verlangen den trauen in Stellvertretung dem hierzu eigens Wunsch ausgesprochen, reich zu sein; gestern auf diesen Posten gestellten Beamten des noch den Reichtum gepriesen ; jezt erschrak Hauses zuzuwenden. sie davor. Ein solcher Reichtum ist fürchter= Während der im Korridor auf- und lich ! rief es in ihr und keinen Augenblick
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konnte sie im Zweifel ſein , was geschehen | unlautere Vorgänge gewesen sein , die Sie mußte. um den Besit Ihres Gutes Löke gebracht Heraus , heraus aus dem Sumpfe , in haben." dem sie versunken war, ohne es zu ahnen ! „Was soll das ?" fragte Andor mit Heraus und mit einem Sprunge in die dumpfem Erstaunen. Daß ich ein Unrecht mit meinem Wissen reinigende Flut , die alles abstreifen sollte, was von dem ekelhaften Schlamme an ihr nicht weiter bestehen lassen will . Ich lese hing! in Ihren Augen die Bestätigung der AnSo war sie hierher geeilt , so stand sie klage. Es ist so . Nun wohl, ich bekenne Andor gegenüber , beschämt , gedemütigt, mich zu dieser Schuld und bin bereit, den elend im Herzen und doch stark in ihrem Ersatz zu leisten ." Dejen bedarf es nicht ; ich habe keinen Entschlusse wie im Gefühle ihres redlichen. Wollens . zu fordern," erklärte Andor mit barschem Aufbäumen seines Mannesstolzes . Es mußte ihr die Befangenheit überwinden helfen. Ging der Gelddünkel dieses Mädchens Ich wünschte Monsieur d'Evert eine so weit, daß es im Uebermute meinte, ihm alles Unrecht in dem einen erseßen zu für mich überaus wichtige Angelegenheit zu können ? womit ? mit einer Handvoll Gold! vertrauen , ihn in derselben zu Rate zu Diese Beleidigung war ja fast noch ziehen und einige Anordnungen zu treffen,“ sagte sie, Andor einige Schritte entgegen eine schwerere, als die ihm früher bereits thuend. angethan worden. Pfui, der Dämon zeigte Kalt bis ins Herz hinein empfing er sich noch häßlicher als er zuerst geschienen.
ihre Erklärung. „ Er wird wohl bald zurückkehren," vertröstete er sie mit der üblichen Formel. Er verbeugte sich in der Absicht, wieder zu gehen. Sie ließ es aber nicht dazu kommen. „Doch auch an Sie," fiel sie hastig ein, habe ich mich zu wenden , und es geschieht wohl am einfachsten sogleich und direkt. " Was sollte kommen ? Andor regte sich
Susanne hatte die Hände schmerzlich bewegt ineinander geschlungen . Sie empfand das Verächtliche der Zurückweisung . ,,, so muß ich Sie denn bitten , mir die Last von den Schultern zu nehmen ?“ sagte sie eindringlich. "„Wenn ein Ver=
schulden gut gemacht werden soll , dürfen Sie Ihre Hand nicht zurückziehen, Sie können sich nicht weigern ." „ Doch, mein Fräulein, ich weigere mich ! nicht. Selbst nicht die kleinste Handbewe | Gleichviel wie ich um meinen Besitz gekommen. Was ich verloren, nehme ich als gung forderte sie zum Sprechen auf. Geschenk aus dieser Hand nicht zurück. " Es war ein kurzes zaudern gewesen, Stöhnend ließ Suſanne die Hände sinken, das sie mit einer mutigen Anstrengung überwand. als wäre ihnen ein Mal aufgedrückt. Tief " Es handelt sich um eine Ausgleichung, gedemütigt war der Wille, der ihm stolz "1 alles erseßen zu können gemeint. eine Rückerstattung. es wäre alles ausge„Ich dächte Ein Lachen ertönte jest, bös und schadenfroh. glichen. " „Recht so !" ließ sich die Stimme des Sie überhörte absichtlich die Andeutung, die sie doch wie ein Schwertstoß ins Höhnenden vernehmen. ,,Recht so ! Ein Ehrenmann verhandelt sich für solchen KaufHerz traf. preis nicht. Ich habe ihr's vorhergesagt. ,,Nicht doch," entgegnete sie mit bebender Stimme. ,,Mir ist eine Aufklärung geDer Gegenbeweis ist mißglückt . " Jezt erst wandte sich Andor zu dem Ereignisse in der Verüber worden 11 dritten Anwesenden herum, der bei seinem sie stockte. Beinahe hätte gangenheit Erscheinen etwas zurückgetreten war , und sie gesagt, daß sie keine Ahnung davon geNein , nein , keine Lüge mehr gedessen Gegenwart er, versunken in Susanhabt. -ſagt - jest nicht ! Sich mit Gewalt zu- nens Anblick, übersehen oder doch vergessen sammenraffend fuhr sie fort : "„ Es sollen hatte. Schon von der Stimme betroffen,
Andor.
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erkannte er jest mit jäher Ueberraschung „ Sieh doch ! " sagte er, " es steht dir gut Jenö, der, obwohl ihm bereits der Chef das an, den Beschüßer der Tugend und UnZiel ihrer Ausfahrt verraten, Susannen doch schuld gegen mich zu spielen . Reizt es dich noch zur größeren Sicherheit in einem Wagen etwa, daß ich es wage, mich immer zwiſchen nachgefolgt war. Erst nach Duchard's Ent- | dich und dein Liebchen zu stellen ? Hätteſt fernung eingetreten , hatte er sofort mit wohl Lust, dich selbst noch zu erbarmen, wenn nur der Preis erst gesteigert ist . zornigen Vorwürfen einen Zank begonnen, Und darum sucht der Börsengaloppin, der von dem noch die finstre wilde Energie in Commis voyageur wieder einmal den Kaseinen Zügen , wie die in Stücke gerissene Anweisung auf dem Parkette, mit der sich valier aus der verſchliſſenen Garderobe herSteck ein dein Schwert und greif vor ? der verzweifelte Geselle abfinden zu lassen nicht willens war, Zeugnis gaben und den nach dem Kurszettel. Ich verkaufe mein erst Andors Erscheinen unterbrochen hatte. Leben nur sehr teuer , so wertlos es mir iit. Was wär's , es selber wegzuwerfen? Ahnungslos was vorgefallen , starrte dieser auf den einstigen Genoſſen. glaubst du , der Gedanke sei mir noch nie Das Beiſammenſein der beiden erweckte eigen gekommen ? Aber dir gönnen mag ich den tümliche Gedanken in ihm. Spaß nicht ; Krämer, der du bist. Ich Sie räumten noch immer Herr von Potyondi." bin aber sofort einer andern Ueberzeugung das Feld, als er den Ausdruck in Jenö's Anein Feigling, „ Ein Prahler , gesicht wahrnahm , mit dem derselbe seine ein Mörder ! " wallte Andor auf , dem die Anrede fortsette : so frech heraufbeschworene Erinnerung an Ich danke dir für den FreundschaftsJlka , mehr als der Schimpf die Adern dienst, daß du es der Begriffstüßigen klar schwellte. Er hatte die vernichtenden Worte kaum gemacht. Rabe paart sich nur mit Rabe . Adler und Potyondi , das gibt zusammen allenfalls noch einen harmonischen Klang, wie Rad und Galgen etwa. Hahaha!" Andor hob, Schweigen gebietend , die Das Blut war ihm schon zuvor Hand.
ausgesprochen, als sich Jenö in entfeſſelter Leidenschaft auf ihn warf. Aber Andor hielt ihn an der Brust fest und schüttelte
ihn mit Riesenkraft. Mann gegen Mann, wenn ,,Bube ! am Schluß seines Zwiegesprächs mit Su- du eines ehrlichen Kampfes wert bist!" rief er und schleuderte die leichte Gestalt von fannen zu Kopf geschossen, das freche Wort, die hämische Unterstellung steigerte seine sich, daß sie zurücktaumelte. Aufregung noch mehr und die Ritterlichkeit Mit einem dumpfen Laut, wie ein Raubtier unter den Streichen des Bändigers seiner Gesinnung , die keine Beleidigung einer Frau duldete, ließ ihn für den Mogewann Jenö ſein Gleichgewicht , während Die seine Hand an die Brust taſtete. ment darüber hinweggehen, wer die Gefränkte war. fürchterlichste Leidenschaft verzerrte seine „Hier also treffen wir uns . Ganz gut," | Züge ; seine Blicke waren Flammen , die von Andor zu Susannen hinüberloderten, sagte er, sich vollends Jenö zuwendend. " Immer noch derselbe, roh und unverschämt | welche entseßt der Szene zugesehen. gegen den Wehrlosen. Es hätte dieses BeRot oder Schwarz ! Wem gilt es eigent lich ? der Lebenden oder der Toten ?" zischte weises nicht bedurft, um mich an eine alte er grinsend. " Es war ja nicht Ernst mit Pflicht zu mahnen. Lange Jahre sind es dem Korbe. Seßt euch ein und fahrt nieder her , aber ich habe darum nicht vergessen, drin , wie ich dereinst mit einer andern. daß es zwischen uns beiden etwas auszuDu brauchst nur höher zu bieten, schlankes tragen gibt. Ich heiße die Gelegenheit willkommen." Liebchen. Greif tiefer in des Vaters SchaßJenö, in deſſen ruhelosen Augen un- truhe !" „Elender !" sagte Suſanne sich mit Abheimliche Lichter zuckten , lehnte mit verschränkten Armen an dem großen Tische scheu und tödlicher Verachtung abwendend . Hoho? Du willst noch stolz thun, in der Mitte des Gemaches . Höhnisch wiegte Judendirne?" freischte er wie ein Tobsüch= er den Kopf.
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tiger auf und fügte eine gemeine Verwün schung bei, wie er sie aus dem Munde des rohesten Burschen in seiner Heimat hatte. Zier dich nur , du gehörst doch zu mir. Wir gehen miteinander und ſei's zur Hölle !" Und in demselben Augenblicke krachte cin Schuß. Aber Andor , der die Bewegung bemerkt, wie Jenö die Pistole hervorzog, war gleichzeitig, als dieser sie in Anschlag warf, vorgesprungen und hatte nach der Waffe gegriffen. Susanne war unverlegt geblieben. Ehe Andor, der zurückwankte, ſich neuerdings auf den Rasenden zu werfen vermochte, fiel ein zweiter Schuß. das Klirren der FenEin Schrei , ster , - das Dröhnen eines schwer auffallenden Körpers, - Rauch, den der Luftzug durch die aufgerissene Thüre in Be wegung brachte, das Geschrei von hereinstürzenden Menschen, schreckensblasse Gesichter, neugierige Augen, die nach Aufklärung verlangten und sich scheu der auf den Boden hingestreckten Geſtalt zuwandten, deren Hand die tödliche Waffe noch fest umflammert hielt. Ein Selbstmord! " Der Unglückliche , er muß wahnsinnig gewesen sein," erklärte Andor nach einer
über sein langes Ausbleiben ungeduldig geworden und darum allein fortgefahren ſei, hierher gefolgt war. " Mein Gott , was ist hier geschehen ?“ Wollte er sich erst erkundigen. „ Das ganze Haus in Aufruhr ! Und Sie Doch ließ ihn Andor nicht weiter sprechen. „ Nehmen Sie ihren Arm , Marquis . Sie sehen, daß sie der Stüße bedarf. Führen Sie Mademoiselle zu ihrem Wagen. Der Vorgang hat sie erschreckt , angegriffen. Bringen Sie sie an die Luft." Ein flehentlicher Blick traf ihn . Bebend wie ein furchtsames Kind , das sich anflammert, bat sie leise: ,,, verlassen Sie mich nicht !" Er aber trat kalt zurück. „ Mein Play ist hier, mein Fräulein,“ entgegnete er und sich umwendend, kehrte er wieder zu der den Selbstmörder um= ringenden Gruppe zurück. „Mein Gott , was ist Ihnen, Andor ? Sie schwanken , Blut an Ihrem Aermel . Sie sind verwundet !" rief Duchard, seine Hand faſſend . Andor richtete sich gewaltsam auf. „ nichts, eine Kleinigkeit ,“ erwiderte er und vorsäglich mit erhobener Stimme, damit er von den Umstehenden gehört
Sefunde furchtbaren Schrecks und jäher Betäubung. Seine erste Sorge aber galt Suſannen, die wie der Tod so bleich auf einen Stuhl zuſammengesunken war und zitternd vor sich hinſtarrte. „Kommen Sie, erheben Sie sich,“ sagte er rasch und mit alles überblickender Geistesgegenwart mitten in dem Wirrwarr . „Ich kann nicht . "
werde. Es muß geschehen sein, als ich den unglücklichen Menschen ſeine Absicht ent= deckend beim ersten Schusse zu hindern deckend suchte. Ich konnte ihm leider die Waffe nicht entringen. - Doch einen Arzt , vor allem einen Arzt ! Vielleicht ist noch Rettung
und ohne ihr zum Widerspruche Zeit zu lassen, führte er sie hinter dem Gedränge nach der Thüre. Hier stießen sie unter
zweifeltes Individuum, das man abgewiesen hatte. Am selben Abende noch war die Kunde durch die Journale überallhin verbreitet. Von jedem wurde das Ereignis anders
möglich !" " Er atmet noch !" Die Verkündigung entfesselte die vom Schreck gebannten Stimmen. Zwanzig Aus" Es muß sein ! " flüsterte er der Stöhrufe kreuzten sich , ebensoviele Ratschläge nenden befehlend zu , indem er ihr behilf schwirrten durcheinander und es kam neue lich war, sich in den zitternden Knieen auf Bewegung in die Gruppe, die sich noch zurichten. "1 Sie wollen doch nicht genannt, jeden Augenblick verſtärkte. mit in die Angelegenheit verwickelt werden Es war ein unerhörtes Ereignis . Ein und Zeugenschaft ablegen ? Das hier ist Selbstmord in dem Vorzimmer des weltOffenbar ein verbekannten Bankiers . fein Anblick für Sie. Fort, fort !"
den noch immer Herbeieilenden auf Savagna, der seiner Braut befürchtend , daß sie
Andor.
erzählt , von jedem anders aufgefaßt; in feinem aber stand der Name Sujannens .
VIII . Tiefe Ruhe herrschte in der kleinen Wohnung , welche Andor in der rue du Faubourg St. Honoré inne hatte . Seit drei Tagen war sie durch nichts gestört worden. Nur sachte Schritte glitten, vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, über die Teppiche hin und so oft die Klingel an der Außenthür auch ging, keiner von den neugierigen und teilnehmenden Nachfragern wurde eingelassen, aber der Bescheid hatte jeden Tag befriedigender gelautet ; das Fieber hatte nachgelassen , die Wunde am Arm versprach bald zu heilen, nur bedurfte der Kranke noch der Schonung. Es mußte alles vermieden werden , was ihn in Aufregung versetzen konnte, denn er hatte stark phantasiert, war angegriffen und tiefer erschöpft, als der Blutverlust eigentlich rechtfertigte. Papa Duchard hatte selbst die genaue Befolgung der ärztlichen Vorschriften überwacht und für die Stunden, wo er durch seinen Beruf abgehalten wurde, seine Frau Und auch sie hatte sich hier installiert. streng an die Weisungen ihres Eheherrn gehalten. Sie würde es nicht gewagt haben, eine derselben zu verlegen , aber in die Kirche zu gehen war ihr nicht verboten worden. Es war ja Sonntag, ein Sprung hinüber in die Madelaine, eine Meſſe dort, was konnte unterdessen geschehen ? und die innigen Gebete, die sie für das Wohl des Kranken sich gelobt hatte, mußten demselben nur zu statten kommen . Er schlummerte und hatte, wenn sie zurückkehrte , ihre Abwesenheit wohl gar nicht bemerkt. Es blieb ja zudem die Wärterin zurück und dieser wurden alle Verhaltungsbefehle noch einmal eingeschärft . Was vermochten aber die strengsten Warnungen und Strafandrohungen der guten Madame Duchard gegen die Verlockungen eines Goldstückes aus der Hand eines eleganten vornehmen Herrn, der so freundlich zu bitten, zu scherzen , unters Kinn zu greifen und so hübsche Schmeicheleien zu sagen wußte?
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So stand Savagna, ehe sie es sich selbst versah, im Wohngemach und hatte im näch ſten Momente auch schon die Portiere zur Seite geschoben, um einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen . ,,Ah, es ist ja gar nicht wahr, Sie sind noch nicht gestorben und begraben , und Sie schlummern auch nicht , wie Jhr Cerberus schwört. Sie sehen nur verteufelt düster in die Welt . Bah , darf man ein wenig hineinkommen und Sie zerstreuen ?" Es war gut, daß sich der Marquis des Deutschen bediente, die ein wenig ehrenrührige Bezeichnung aus demſelben Munde, der französisch von so angenehmen Dingen. übersprudelte , entging dadurch dem Verständnis des Mädchens, dessen eingeschläferte Pflichttreue sich vielleicht sonst wieder ermuntert hätte. Uebrigens war es ja des Kranken eigener Wille , auf den man sich nun berufen konnte, der dem Besucher Eintritt gewährte . A la bonne heure ! Sie reden ver-
nünftig und delirieren nicht , wie ich nun meiner Auftraggeberin eidlich versichern kann. Denn nicht nur im eigenen Namen. erscheine ich, sondern vor allem als Abgesandter einer schönen Frau. Sie Glücklicher ! Es ist nichts interessanter als so eine kleine Wunde und noch dazu unter solchen erschwerenden Umständen empfangen. Alle Welt spricht von Ihrer Heldenthat, Ihrer Selbstverleugnung. Alle Welt bebedauert Sie zugleich, wundert und denn man begreift , wie sehr Ihr Gemüt bei diesem tragischen Schauspiele leiden mußte. Es ist erschütternd , den einstigen Jugendfreund , so tief verkommen, als Spieler, als Bettler, als Selbstmörder vor sich zu sehen. man weiß alles ! Man weiß, daß er Almosen angenommen ; die Polizei hat ausgeforscht , in welcher Spielhölle er seine lezte Nacht zugebracht, und es spricht doch wenigstens noch für das Ehrgefühl des so tief Gesunkenen, daß er bei Ihrem Anblicke von Scham und Wahnsinn übermannt, Hand an sich selber legte, um dies elende Leben nicht länger tragen zu müssen . Jch gestehe, ich hätte diesem Herrn von Potyondi nicht einmal so viel Energie und Charakter zugetraut. Ein heiterer Gefelle, der das Leben leicht nimmt für mehr 83
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hielt ich ihn nicht. Nun hat er's auch mit dem Sterben nicht schwer genommen . Ma foi, in jedem Ungarn steckt doch ein Huſar ! “ So plaudernd hatte sich Savagna behaglich in einen Fauteuil am Fußende des Andor , der ihn nicht Bettes eingenistet. störte und gedankenvoll vor sich hinsah, fragte jest ernst den Blick erhebend. Wird er gerettet werden?" " Die Aerzte behaupten es. Die Wunde ist nicht tödlich. “
drittenmal blies ich Sturm ; hier bin ich und kann nun aus eigenem Augenschein berichten. Es ist höchste Zeit, sonst stehe ich für nichts. Die Ungeduld einer launenhaften Dame ist unberechenbar und führt sie sogar ſelbſt an das Krankenlager eines jungen Mannes - auf jede Gefahr hin. Vielleicht wäre Ihnen das gar nicht ſo unlieb und ich habe Ihnen einen schlimmen Ah, ah, Sie falten die Streich gespielt. Stirne, Sie blicken wie ein Eremit . Warum
Andor ließ befriedigt das Haupt wieder | lachen Sie nicht ? Sie sind doch heute recht schwer zu erheitern. " in die Kissen zurückſinken. Er war von Duchard doch nicht mit einer Unwahrheit Mit zunehmender Erregung folgte AnWar das nicht dor den Andeutungen. beruhigt worden , wie er befürchtete , als einer seiner immer wiederkehrenden Fieberdieser ihm von der Uebertragung Jenö's träume, der von dem Plaudernden da hernach dem Hôtel Dieu, von dem tröstlichen aufbeschworen wurde ? Konnte die Gestalt, Ausspruch der Aerzte und der großmütigen die er in seinen Phantasieen an seinem Spende Monsieur d'Everts erzählte , die dem Unglücklichen nach seiner Wiedergene Bette geſehen, wirklich herantreten ? Seine ſung die Ueberfahrt nach Amerika ermögLippen hatten sich bisher ſelbſt im Delirium lichen und ihm dort ein neues Dasein gründen geweigert, den Namen auszusprechen und nun bangte ihm, daß ein anderer so leichtſollte , wenn er selbst sich noch zu einem solchen emporzuraffen vermochte. Aus der fertig mit demſelben spielen sollte, während Umarmung des Todes ist mancher Verdoch sein Herz im Verlangen ihn zu hören lorengegebene schon zu einer tiefgehenden pochte und zitterte. Und nun kam doch nicht der erwartete. Wandlung erwacht . Milder im Urteil geworden, nicht nur durch die Erschütterung " Madame de Drésillon liebt so kleine in Folge der Katastrophe , sondern auch Ertravaganzen. Sie sind wirklich nicht ſicher durch eigene Krankheit , hatte Andor alles vor ihr. " Andor hätte beruhigt sein sollen vergeben und freute sich nur der Hoffnung . und doch malte sich unverkennbare Ent""‚ Glücklicherweise hat er die Idee ge- täuschung in seiner Miene, der Marquis habt, den Lauf gegen die Brust und nicht deutete sie allerdings irrig, indem er fortfuhr. gegen den Kopf zu richten. Schwache La„ Ach , Sie werden mir doch den dung kleines Kaliber und dann der Zu- | harmlosen Scherz nicht übel nehmen. Befall , der göttliche Zufall! Die Griechen neidenswerter , ich an Ihrer Stelle wäre hatten Recht ; was waren das doch für ge- froh , wenn sich eine Frau für mich komscheite Leute ! Berechnung , Logik, Kausal- | promittieren wollte, zumal Madame de Drénerus ? Bah, der Gott Zufall, Freund ! sillon . In ihr ist Verve und Chic und Es thut Ihnen doch nichts , wenn ich welch glückliche Ehe ließze sich mit ihr führen! rauche ?" Und während er sich eine Ziga- Ich würde in der That darüber ernstlich rette wickelte, fuhr Savagna in seiner leb- nachdenken, wenn ich nicht zu spät käme. haften Weise fort : „ Aber Sie fragen mich Darf man bald gratulieren ?“ da nach dem Häßlichen statt nach dem Ich wüßte nicht zu welcher besonderen. Schönen. Haben Sie denn gar keine Neugierde, wer mich geschickt ? Einen Tag um den andern war ich an Ihrer Thüre, mußte
Gelegenheit , wenn nicht , daß die Kugel nicht weiter links ging." ,,Ah, Sie sind diskret. Alle edlen Eigen-
jedoch immer das Schicksal der übrigen teilen. Seien Sie froh, daß man Ihnen die Reporter erspart hat , aber die Sendlinge schöner Frauen haben doch noch etwas voraus vor denen der Journale. Zum Zum
schaften vereinigt. Aber man hat doch so Das ist sogar seine gewissen Ahnungen. eine Verpflichtung für die Diplomatie. Zn der That, mein Teurer, man müßte blind sein, um nicht zu merken, wie sehr sich die
Andor.
schöne Frau für Sie interessiert. Ist sie doch schon beinahe eine Woche in Paris zu dieser Saison. Sie gestand ganz offen , sie müsse in der Nähe bleiben, um Nachrichten von Ihnen zu haben und weigerte sich darum , ihre Freundin zu begleiten, sie schalt ſie ſogar herzlos , daß sie im gegenwärtigen Moment Paris verlassen könne. " Fräulein So ist Fräulein
von Turulai abgereist ?" fragte Andor stockend und unwillkürlich sein Befremden verratend. Savagna zuckte, das aufgegangene Papierblatt seiner Zigarrette sachte niederstreichend, gleichmütig die Achseln. „ Ja, nach Boulogne oder vielleicht auch weiter , was weiß ich. Was sehen Sie mich so seltsam an , lieber Freund ? Ach, nun ja Sie sind zu rücksichtsvoll , um es anzudeuten gewiſſe Gerüchte sind wohl zu Ihren Ohren gedrungen und dann jene Szene neulich , kurz vor dem Skandal sie ließ nicht leicht eine andere
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der Klügere, mon ami. Es steckt ein Menschenkenner in Ihnen. Was denken Sie, womit mich meine Braut in der ersten Stunde überraschte ? Mit der Erklärung, daß sie arm sei , keinen Sous im Vermögen habe. Unmöglich ! sagte ich, ich hatte ja längst meine Erfundigungen eingezogen. Ich weiß bestimmt , daß Sie scherzen, aber wenn es auch Ernst wäre, so würde ich mich doch für den Glücklichsten der Sterblichen schäßen“ — und was man so in ähnlicher Gelegenheit als vom Uebereinkommen geheiligten Bombast vorzubringen pflegt . Was wäre die Welt ohne Phrase ? Ein häßlicher Ameisenhaufen. Enfin , es handelte sich ja nur um eine Prüfung. Die Mädchen haben so sentimentale Schrullen - man muß ihnen den Gefallen thun. So meinte ich ; wer hätte denn auch denken sollen, daß die Verschrobenheit wirklich so weit gehen könnte ! Heutzutage sein Vermögen abtreten, um die Schulden der Väter zu bezahlen ! Begreifen Sie das ? - Sie erklärte mir rund heraus , alles,
Deutung zu . Wohlan , mein Liebster , ich was ſie beſize, ſei Eigentum der Gläubiger will kein Geheimnis vor Ihnen daraus ihres Vaters . Sie werde jede Forderung machen. Die schöne Susanne war wirklich bis auf den leßten Heller einlösen. In eben Minuten sozumeine Braut für fünf Minuten sozu | dieser Angelegenheit ſei ſie bei d'Evert ge= ſagen." Das bittere Lächeln Andor's mit wesen als jener Zwiſchenfall eintrat . einem Blick unter den gesenkten Augen- Jch lachte , das Schicksal selbst habe sie lidern hervor erhaschend, fuhr er fort. "Eh durch das abschreckende Beispiel vor einem bien, Sie haben recht, mich zu verspotten. solchen unerhörten Selbstmord bewahren Sie haben die Sache immer von der rich wollen ; ich suchte ihr mit Scherz und Ernst tigen Seite angeſehen und das Mädchen diese lächerliche Sentimentalität auszureden, schon erkannt, ehe Sie noch mit demselben ich ermahnte sie, doch Umſchau zu halten persönlich zusammengetroffen waren . Ich in der modernen Welt, wo denn dergleichen erinnere mich noch einer kurz abgefertigten Opfer üblich wären und sich der antiken Einladung, die ich Ihnen einmal in Wien Welt zu erinnern, wo man schon ebenso überbrachte. Etwas Aehnliches scheint sich wie in der Gegenwart dem Grundſage des ja auch hier abgespielt und mir das Vöglein ,non olet gehuldigt hatte. Alles fruchtlos ! in die Arme getrieben zu haben. Nun, ich Meine besten unwiderleglichsten Gründe umwill nicht neugierig sein. Man macht eben geblasen wie Kartenhäuser . Ihre Hand nur seine Schlußfolgerungen und mit einiger habe sie vergeben , aber noch ſei ſie Herrin Erfahrung fallen sie gemeinhin ziemlich über ihr Vermögen und mein Widerspruch richtig aus. Ha ! ich war Ihnen insgeheim habe ihr nur die Notwendigkeit gezeigt, ſich dankbar. Schön- oder oder sagen sagen wir doch doch desselben zu entäußern, che sie mir durch wenigstens : hübsch, apart, elegant, gescheit, die Erfüllung ihrer Zuſage auch ein Recht reich , und ich hatte immer eine gewisse zur Einrede und Verfügung einräume. Schwäche für die kleine Eidechse ; was wollen Und um mich zu überzeugen, daß sie von Sie, man kann nichts für seine Sympathieen ihrem Vorsaße nicht abzubringen sei , ſtiliund Antipathieen, ich machte die Hand fierte sie das Telegramm an ihren Vorzu und hielt fest. Sie waren aber doch mund vor meinen Augen. Was sagen
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Robert Byr.
Sie dazu ? Ist das nicht schon stark ent„Feinfühligkeit ?" wiederholte Savagna wickelte Anlage zu eine hochgradige mit satirischem Lächeln Lächeln.. „Was thut man damit und in welchem Coder sind die Punkte Nervenüberreizung ? Ich sollte wohl als Gatte der reisenden Virtuosin durch die verzeichnet, nach denen sie sich halten muß? halbe Welt zigeunern, wie dieser und jener Ich bitte Sie, Freund, da müßten gar viele ihr Erbe verteilen ! Sie finden sich mit den Kassier machen und mich am Ende gar im Klavierspiel perfektionieren , um so Wohlthätigkeit, mit Stiftungen und dgl . ab ein paar Prozente, aber beileibe nicht in jeder Beziehung zum Begleiter verwendbar zu sein. Oder davon leben, was madas Ganze -- oder sie verpraſſen es , so kommt es doch wieder unter die Leute zurück. dame la marquise als Musiklehrerin verUn= diente? Ha, welche Ueppigkeit, welche Schlem- | Das iſt die ſozialiſtiſche Richtung. recht Gut ? Aber wer weiß, ob es nicht ſchon merei ! Danke für Obst , wie die Berliner bei jenem unrecht Gut' war, der es versagen. Da will ich doch lieber noch länger diplomatischer Karrenschieber bleiben und lor ? Bis wohin müßte man dem Ursprunge nachgehen ? Caramba ! Wohin käme da die mich damit beschäftigen , die europäischen Welt ? Der Spieler müßte sich genieren, Staatskarossen bestmöglichst in den Morast " das gewonnene Geld zu behalten, der zu fahren, bis sich mir günstigere Aus„ Oh, oh, oh! " wurde er hier in seinen. sichten eröffnen . Das nächste Mal aber bin ich vorsichtiger und untersuche zuerst Ausführungen unterbrochen . " Mais ça le die philoſophiſchen Grundsäge. Man sollte meinen, das wäre die leßte der Untersuchungen, wenn man heiratet. Nicht doch , mon cher, - die Ueberspanntheit kann alle Be- | rechnung zu schanden machen. Ich lobe mir eine solide zuverläſſige Weltanschauung, wie sie Madame Drésillon hat. Die wird sich nie solchen grotesken Irrtümern des Verstandes hingeben."
tuera, le pauvre malade ! “ Es war Papa Duchard, der, außer sich vor Schreck und Unwillen, die Klausur gesprengt fand, seine Frau der Pflichtvergeſſenheit angeklagt und der ungehorſamen Wärterin bereits das Schreckliche ihres Leichtfinnes dadurch vollkommen zur Erkenntnis zu bringen gesucht hatte, daß er ihr vorhielt, wie man selbst seine Exzellenz den Herrn Botschafter , ja sogar Monſieur imaginez vous donc, monsieur d'Evert d'Evert, lui même ! - abgewiesen habe,
" So haben Sie sich zurückgezogen ?" fragte Andor, ohne den letzten Hinweis auch nur zu beachten. " Aber natürlich ! Mit gewohntem diploals sie , in Person Erkundigungen einzumatischem Takt. Der Rest erklärt sich ja ziehen, an der streng verschlossenen Pforte von selbst, da ich, um sie zur Vernunft zu erschienen seien . ,,Machen Sie sich keine Sorgen . Ich zwingen, ihr ein Entweder Oder vorhielt fühle mich ganz wohl, “ beruhigte ihn Anund sie auf ihrem Troßkopfe beſtand. Viel leicht erwartete ſie , ich würde mein Ulti- ❘ dor, und der Marquis wendete sich wieder an diesen, um nicht mit jemanden, der ihm matum schließlich zurückziehen ; übrigens ſchien sie über die selbstgetroffene Entscheinicht vorgestellt war und deſſen Berechtigung, ihn zur Verantwortung zu ziehen, er nicht dung nicht einmal sehr entseßt. Man veranerkennen konnte, verkehren zu müſſen. stehe diese eraltierten Frauen! Siesind immer „Ich freue mich, das zu hören und es zu einem tollen Streich geneigt . Es muß konstatieren zu können . Ich glaube sogar, einen eigenen Reiz für sie haben , vom daß ich nicht unwesentlich zu diesem ErAeußersten zum Aeußersten überzuspringen. " gebnis beigetragen habe, mon cher ami. Wohl sagten dieſe Aeußerungen Andor Ich habe Sie aus Ihrer Moroſität geweckt, nichts neues über Savagna's DenkungsSie sind lebhafter geworden, Ihre Wangen weise ; dennoch konnte er sich nicht enthalten, haben sich gefärbt, Ihr Blick ist hell . Glauben diesmal seine Ueberzeugung auszusprechen, so unnüß es auch sein mochte. Sie mir, es taugt nichts , sich so luftdicht abgeschlossen zu halten. Man brütet "Ich meinesteils sehe hier nur eine da allerlei Paradoren und Monstruositäten Feinfühligkeit, die ich begreife und lobenswert finde." aus in der Einsamkeit ; im Kontakt mit der
Andor.
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Welt verirrt sich unser Geist nie über die , botes, zu dessen Annahme sie ihn doch noch natürlichen Grenzen . Nur keine Senti- zu bewegen hoffte ? Das stand ja wohl mit mentalität ! Ich gehe jezt meinen Rapport | ihrem ganzen Vorhaben in Verbindung, welabſtatten ; morgen finde ich Sie hoffentlich ches Savagna so unbegreiflich eraltirt fand . schon außerhalb des Bettes ! Nur feine Und doch ! Verriet nicht schon dies allein Sentimentalitäten , das schwächt mehr als Blutverlust. Auf morgen!" Duchard war sehr ungehalten ; er verschwor sich, nun nicht mehr vom Posten zu weichen und den Schlüssel nicht mehr aus der Hand zu geben ; ſelbſt ſeine Frau hatte sein Vertrauen verscherzt, und als ihn nun gar mitten in seinen Erklamationen Andor mit der Frage unterbrach, warum man ihm von der Abreise Susannens nichts mitge teilt habe, fuhr er sich wie ein Verzweifelter durch das Haar.
eine mächtige Wandlung ? Andor wollte nicht aufgeregt sein ; er wiederholte sich, daß kein Anlaß dazu vorlag, und doch zitterten ſeine Finger, als sie endlich den Verschluß lösten und rasch pochte die Schlagader an seinem Halse, als ſein Blick über die ersten Zeilen hinglitt . Sie lauteten ſo ſeltſam ; ohne Anrede , ohne Einleitung begann der Brief: „Sie erwarten wohl Dank von mir, ich mag Ihnen denselben im gewöhnlichen Sinne auch schuldig sein, aber - ich fühle ihn nicht . Es wäre vielleicht besser gewesen, „ Da haben wir's ! " rief er. „ Dacht' Sie hätten die Kugel von ihrem Ziele nicht ich es nicht, daß alles wieder zur Sprache abgewendet. ,,Sehen Sie in diesen Worten keine kommen werde ? Und der Arzt, der uns so sehr eingeschärft hat, alles, was Sie beun- neue Beleidigung ; ich beweine diejenige heiß, ruhigen oder aufregen könnte, zu vermeiden ! | welche ich Ihnen angethan, - sehen Sie Und wir, die wir uns Mühe gaben, nichts auch keinen Beweis von Stolz oder Selbstzu berühren, was auf den Vorfall Bezug überhebung darin. Es ist nichts davon hat ! Nun plat dieſer teure Marquis herein | mehr in mir ; mein Stolz ist tief gedemütigt und erzählt Ihnen natürlich von Madame und bis auf den lezten Funken niedergetreten. de Drésillon, deren Freundin und Gott weiß, In dem Augenblicke, als mir jener Unwem noch allen. Da hätten wir nicht so glückliche die Augen öffnete, da blickte ich in heimlich zu thun gebraucht und Ihnen den Brief auch sofort geben können. ' einen Abgrund und erkannte die ganze Hohlvon heit meiner Eristenz. Es war vielleicht ein Einen Brief? Von wem ? Von Fräulein von Turulai ?" heilsamer Schreck, und so wäre gerade derjenige es, dem ich danken müßte, dessen EntJezt ist alle Vorsicht unnüß gewesen. hüllungen mich so schwer trafen. Warum Da ſuche man jede Aufregung zu vermeiden !" famen Sie nicht von Ihnen? „ Aber lieber Freund , ich bin ja gar „Ich darf Sie nicht als meinen Freund nicht aufgeregt. Ihr Zögern allein wird mich ungeduldig machen, und darum geben anreden, denn Sie waren es auch in jenem Sie mir den Brief, halten Sie mich nicht | Momente nicht , als ich Sie durch mein wahnwißiges Verhalten noch nicht zu meinem länger hin." Gegner gemacht. O nicht, daß ich all den Es währte noch eine Weile ; endlich aber blieb Duchard nichts anderes übrig, wie Edelmut nicht fühlte, die Seelengröße, die Sie mir bewiesen und die ich durch nichts, dem Drängen des Kranken nachzugeben. Als derselbe nun den Brief in der Hand hielt, da zauderte er selbst, ihn zu öffnen . Ein Gefühl bitteren Mißmuts fam wie ein Krampf über ihn. Was konnte sie ihm schreiben ? Ein paar Zeilen des Dankes, daß er jede Unannehmlichkeit von ihr abgelenkt hatte, eine Bitte um sein ferneres Schweigen, wenn sich nicht am Ende auch dagegen ihr Stolz aufgelehnt hatte, oder gar eine Erneuerung jenes mündlichen Ange-
durch gar nichts verdient und auf das Schmählichste durch das Gegenteil erwidert habe ; aber diese hochsinnige Schonung, die Sie gegen mich walten ließen, verstieß wider die gebotene Aufrichtigkeit der Freundſchaft. Nicht blind hätten Sie mich erhalten sollen, nicht blind mich in meine eigene häßliche Thorheit verrennen lassen ! Sie mußten mir sagen, wer ich war, was Ihnen die Zunge fesselte in dem Augenblicke , als Sie es
658 selbst erfuhren . vorhalten und weisen, das ich machen habe.
Robert Byr.
Sie mußten mir den Spiegel | tropfen, den Sie vergoſſen, ſollte mich daran erinnern, daß Sie selbst Ihr Leben für das mich auf all das Unrecht so viel als möglich gut zu meine eingeseßt . Aber dies ist mir nichts Dann , wenn Sie mich so wert. Sie haben mich in einer Welt zurückzur Erkenntnis meiner Pflicht führten, dann gehalten, die für mich ausgestorben ist . Ja , ja , mir ist im Tausch das kleinere hätte ich aus vollem Herzen danken Los gefallen. müſſen und jedes freundliche , aufrichtige „ Trostwort, jeder ermunternde Rat wäre mir " Es sind das auch nicht die rechten Worte, mich zu entschuldigen ; ich fühle es wie eine Spende vom Himmel gewesen. wohl, aber ich finde sie nicht ich finde In den Augen, die mich warnten, hätte ich sie nicht. meine Selbstachtung wieder gefunden , ehe ich wußte, daß ich Sie verloren, und die Sie haben edel gehandelt, waren beHand, die mich leitete, gesegnet. reit, sich für mich zu opfern ; ich erkenne " War mein Schweigen ein Unrecht, das an, ich bewundere Sie ; aber ich ſoll Ihnen auch danken und ich kann es nicht. o, so war es auch das Ihre! „Aber ich bin von Sinnen, daß ich es ,,Und noch eins wollte ich Ihnen sagen, wage , Ihnen Vorwürfe zu machen. das ist es vor allem, was mich zu dieſem komme ich dazu , für die jeder Blick aus Briefe trieb , da ich Sie wohl nie wieder fremden Augen, jeder eigene Gedanke ein sehen werde. Die Gegenſäße, die uns trennen, berechtigter Vorwurf ist ? Die von außen sind ja unversöhnlich. kommenden hoffe ich entkräften zu können, ,,Eins noch ! Verzeihen Sie mir ! Seien unter den stillen, die ich mir selbst mache, Sie gut und denken Sie nicht in Haß an mich! breche ich zusammen! „ Das Zeichen hier sollte mir einst die „Aber auch nicht um zu klagen, schreibe ich; nur entschuldigen wollte ich mich, daß | Erfüllung einer Bitte verpfänden, möge es ich nicht danken kann, wie ich sollte, und dieselbe jezt unterstützen ! Vergeben Sie mir, das konnte ich nicht, ohne Ihnen auch den was ich gefrevelt, auch was ich in dieſem Grund zu sagen ; ich habe genug durch Briefe gesagt, denn ich fühle wohl, es hätte Ja , ich habe anders lauten sollen. Vergeben Sie der Unaufrichtigkeit gesündigt . Einer Unwürdigen, der Unglücklichen ! abscheulich gehandelt ; ich war schlecht und Bettlerin verweigert man ja ein Almosen doppelt schlecht , weil ich unwahr gewesen nicht . Senden Sie mir im Geiſte ihre Verbin. Ich brüstete mich mit einer Genugthuung, die ich nicht empfand, die ich log . | zeihung nach!, nach ! lassen Sie mich daran Ich will es wenigstens in dieser Stunde glauben, Andor ! Sie sind zu hochsinnig, nicht, so übel die Wahrheit klingen mag . groß und edel , um mir diese eine Bitte Sie haben recht, wenn Sie mich verachten, nicht zu gewähren . ein Geschöpf, das nicht einmal die ſelbſt Gott segne Sie dafür, ein langes, ein dem Tiere innewohnende natürliche Regung glückliches Leben hindurch ! Gott segne Sie ! in seinem undankbaren Gemüte empfindet, Susanne." Andor ließ die Blätter fallen. verdient es nicht besser. Und doch ist ein Wo war sie ? wo blieb sie? Warum Drang zur Wiedervergeltung, nicht nur im Bösen, auch im Guten, bei mir vorhanden . | kam Sie nicht ? -Vielleicht lassen Sie den Loskauf gelten Jedes Wort hatte ihm wie aus ihrem und nehmen diese eine Schuld wenigstens | Munde geklungen. In jeder Wendung, jeder als getilgt an. Der innere Gehalt des ge- | verzweiflungsvollen Selbſtanklage, ja in jeretteten Gutes ist ja alles, und darum ist dem Widerspruche und bitteren Vorwurfe der Tausch für Sie ja immer noch ein Ge- sogar hatte ihm ihr volles Herz entgegenwinn. geschlagen. ,,Sie sind verwundet, es thut mir In mächtiger Bewegung richtete er weh und ich freue mich, daß, wie man mir sich auf. versichert, keine Gefahr vorhanden. Das ist Im Begriffe, die Decke zurückzuwerfen, stieß seine Hand an einen harten Gegenallerdings nicht genug und jeder Bluts-
Andor.
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,,Daß wir Sie getötet hätten ! Ich sehe stand, sein Auge fiel darauf und ein Beben : durchfuhr seinen Körper. ja die Wirkung jezt noch . Ein Brief von " Woher kam dies Anhängsel, von dessen einer Dame, die Ihnen ſo nahe ſteht goldner Scheibe ihm die Smaragden und RuWie wissen Sie das ?" fiel Andor, mit binen entgegenblinkten ? Das Wappen der | ſeinen Vorbereitungen innehaltend, ihm ins Beledényi's ! Er hatte es nie mehr getragen. Wort. Tief in einer Schatulle verschlossen ruhte „ Mein Gott, wenn Sie die ganze Fieberder Knopf eine begrabene Erinnerung . nacht hindurch sich für sie schlagen mit MörWoher kam dieser? dern und Ungeheuern - " Das Zeichen! Das, das war also das „Ich habe ihren Namen nicht genannt. " „Nein, es ist wahr. Aber solche Rufe Zeichen, das für sie bitten sollte ? wie: Er schießt auf sie Was verfolgst Jezt erst erinnerte er sich , daß der wie : „Er ſie ! Brief sich schwer angefühlt und der Knopf du ſie, Elender, bis hierher ? — Fort, fort, wenn er aufwacht , zielt er wieder nach wohl in demselben eingeschlossen gewesen. Ihnen !, besser mein Arm ; ich brauche Er mußte bei dem hastigen Deffnen mit ! herausgeglitten sein. Ja, jeßt erklärte sich ihn ja nicht zum Geigenspiel wie Sie. Er will dein Herz treffen und das gehört auch jene dunkle Stelle, deren Sinn er nicht mir ! Nimm das meine, Schurke, es ist tot!' zu enträtseln vermocht. Ein Leben für ein Leben! - Suſanne sie also war und dgl . sind ebensogut . Man hat doch es in jener Nacht ! Wie sie in die Ver- auch seine Divinationsgabe ." " Und Sie haben geschwiegen ?" kleidung kam ? warum sie geschwiegen ? Wie das Grab. “ Die Fragen schossen durch das GedankenAndor streckte ihm seine Hand hin. gedränge, ohne Antwort zu fordern. Ueber alle „ Dank, Dank, Duchard !" sagte er geherrschte, mächtig hindurchbrechend, das zum Bewußtsein erwachte Gefühl. rührt und sein Blick sprach es noch inniger „Aber nun verdienen Sie sich noch Einmal schon hatte er zu lieben geglaubt.
Diesmal war es anders . Keine Entsagung, weiteren . Helfen Sie mir in die Kleider !" Kleider? Haben Sie wieder Fieber?" keine Ergebung in das Schicksal. Diesmal schrie sein Herz nach der Geliebten und sein „Nein, im Gegenteil , ich bin geſund. Wille war entſchloſſen, ſie allem, selbst dem Hören Sie , gesund wie seit Jahren nicht. Ich will aufstehen nach zur Bahn Tode abzuringen. Thor, der er gewesen, Boulogne !“ die Hand fahren zu lassen , weil sie sich „Und er ist nicht aufgeregt ! Nicht aufsträubte , und zu glauben , daß er kalt und gleichgültig sie dahin ziehen lassen geregt!" könne! Das Feuer hatte fortgebrannt in " Wollen Sie , daß ich wirklich fieberseinen Adern, ein Sturmſtoß, und in verzehren- | krank werde ? Zwingen Sie mich, hier zu bleiben, und ich sterbe. Aber Sie können den Flammen schlug es lodernd empor. auch nicht ; ich lasse mich nicht halten, " Was thun Sie ? Mein Gott, Sie allein führe ich's durch." wollen doch nicht aufstehen ? Und das Mehr als die Hast in jeder Bewegung nennen Sie keine Aufregung ? Ich habe Andors sprach der Ausdruck jeiner Miene es ja vorausgesehen !" „ Lassen Sie mich, ich bin geſund, “ unter für den unbeugſamen Willen . Was sollte der arme Duchard machen ? Um keinen brach Andor die Entsebensrufe seines treuen Freundes, der bei der ersten Bewegung bestürzt herbeigeeilt war. „ Sagen Sie mir nur, ſeit wann der Brief hier ist !“ „Seit vorgestern. Das Fräulein hat ihn ſelbſt im Vorüberfahren nach dem Bahnhofe abgegeben. Aber Sie werden doch nicht „Warum behielten Sie mir ihn vor so lange, so lange ? Duchard !“
Preis durfte der Verwundete, Unbehilfliche allein gelassen werden. Hielt man ihn mit Gewalt fest , war er am Ende wirklich im stande, zu sterben. Man hatte Beiſpiele. die Leidenschaft ! So blieb ſchließlich nichts anderes übrig, als mitzugehen. Und einmal dabei, betrieb er selbst aufs eifrigste alle Anstalten. Er kleidete Andor an, wie eine Mutter ihr Kind, packte ihn
Robert Byr.
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in den Wagen und geleitete ihn in das reservierte Koupee. Am selben Abende noch waren sie in Boulogne. Aber alle Eile war erfolglos geweſen. Die Leute in der Villa wußten nur, daß Mademoiselle schon Tags zuvor, früh am Morgen, als noch alles schlief, das Haus verlaſſen . Niemand hatte eine Ahnung, wohin sie gegangen war und alle Erkundigungen, alle Mittel , Susanne zu suchen und auszuforschen, hatten denselben unbefriedigenden Erfolg. Sie war und blieb verschwunden .
IX . Auf der weiten Pußta herrscht Schweigen. Der schwere Wolkenhimmel hängt tief auf sie herab , graue Nebelwände schieben sich immer näher zusammen zu beängstigender Enge, kein Windhauch öffnet einen Blick hindurch, ins Leere, Unbestimmte führen die hier und dort und überall laufenden Ge= leise durch das rostbraune, kurze Gras . Der Spätherbst hat es mit seinem Reifhauch versengt. Die Tiere finden keine Weide mehr, es tummelt sich keine Roßherde über die Ebene, selbst kein Laut aus den Lüften unterbricht die Stille . Krähe und Sperling halten sich in der Nähe der Menschen, ihnen ist es zu einsam auf der Heide und die Wandervögel sind fortgezogen. Durch Wochen und Wochen schwebten die dunkeln Phalanre mit ihren südwärts gerichteten Spißen durch das Luftmeer dahin, wie große Segel, die raſchen Schwalben, die leichten Sänger, Wildtauben und schweres Wasservolk, alles war der Reihe nach entflohen und klappernd hatten die Störche Abschied genommen . Oder gab es noch Nachzügler , zurückgelassene flügellahme Genossen ? Steht dort nicht einer nachdenklich auf einem Beine, hoch gestreckten Halses einsam in der Heide ? Zwischen den ziehenden feuchten Dunststreifen verſchwindet und erscheint er wieder ; immer höher wächst er — riesig lang gegen den Himmel empor und jetzt neigt er sich tief und hebt sich höher und höher, dem Schluck Wasser, den er sich geholt, Zeit zu lassen, und senkt
abermals ächzend den langen Schnabel und läßt sich nicht aufscheuchen von dem dumpfen Hufschlag des flüchtig herantrabenden Geipannes . Mit dem leßten Endchen des immer dünner gewordenen Nebelschleiers ist auch die Täuschung zerflattert. Knarrend hebt das lange Gestänge des Storchhalses sich himmelwärts und mit einem Peitschenknall lenkt Lißló die drei dampfenden Renner am Sagenbrunnen vorbei. Er hat Eile, denn er weiß, wie sehnsüchtig er in Bukraház zurückerwartet wird , wo der brave Bursche einen Dienst gefunden, seit die neue Wirtschaft, von der er nichts hören will, sich drüben in Löke breit macht . Und es ist , als ob es auch die Pferde wüßten, denn nur ungerne gehorchen Sie dem unwilligen Zügelruck des Kutſchers und werfen ungeduldig mit den ſchäumenden Gebissen , daß die Sallangs um die Köpfe schwirren. Was will das alte Weib ? Was macht es für Zeichen, als ob es die Pferde und die Menschen verheren wolle ? Was wünschest du, Hanna ? Mich freut es, dich gesund zu sehen. Lebt auch dein Mann noch?" Da aber war es die Frau selbst , die aus der Tanya getreten war und so lange gewinkt hatte, bis der Wagen anhielt, welche vor Schreck ein Kreuz schlug . „Jaj, jaj !" rief sie, die Arme zum Himmel erhebend bei dem Klange dieser Stimme und dem Anblick des sie vom Rückſize her so freundlich Grüßenden. Grüßenden . "I Gott lasse Sie leben ! Der gnädige junge Herr von Löke ! Wo hab' ich doch meine Augen ? Ich habe geglaubt, der Arzt sei es . Gott, wird das eine Freude sein in Bufraház ! Seit so vielen Jahren waren der Herr fort !" " Und jezt bin ich wieder da und du kennst mich noch !" rief Andor lachend und streckte seine Hand aus , welche die Frau mit ihren harten braunen Fingern kaum zu berühren wagte. Es war ihm ja , als sollte er jeden Menschen umarmen , seit er wieder auf diesem Boden stand . Wie kam das doch? Einen Fremdling hatte er sich genannt, hinaus in die Welt war er geflohen wie ein Verfolgter, ein Vaterlandsloſer, und jest schwoll ihm das Herz so wundersam freudig
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Fräulein ist bald der andere Wagen angeund schmerzlich zugleich bewegt. Das war kommen von Löcke - “ die Heimat, die geliebte Heimat, die keiner Aber Andor hörte diese Erklärungen aus der Seele reißt, er mag noch so weit nicht mehr. Er war schon durch die niedere hinwegziehen von ihr . So mag dem Wandervogel zu Mute sein, wenn er im Frühling | Thüre der Hütte getreten und stand in der sehnsuchtbeschwingt zurückkehrt aus der winter- schwarzverräucherten Küche ; seine geblendeten Augen vermochten in dem dunkeln Raume lichen Verbannung. Alles in ihm war Liebe und Gesang. nicht einmal sogleich die Kammerfrau zu erUnd nun erst, seit er in bekannte Ge- kennen, die Viktorine auch in Boulogne mit sichter schaute, seit Lißló den geliebten Herrn sich gehabt und die ihn hier vor der Thüre des einzigen Zimmers schon mit Kniren mit Thränen im Auge begrüßte, seit jedes Dorf, jede Waldecke, jeder Ziehbrunnen ihm empfing. „ So ist es also doch wahr ! " rief sie, ein trauliches Willkommen zuwinkte, hätte er selber fliegen mögen. Ob wohl Savagna auch die Hände vor Verwunderung zuſammendiese Rührung als thörichte Sentimentalität | schlagend . „ Die Baronesse hat wieder recht gehabt. Sie hat schon gewußt, daß Sie da belächelt hätte ? Mochte er doch den Reichtum . bespötteln, der Arme ! Nicht zürnen durfte sind, wie sie vorausgesagt, das Sie kommen man ihm ; zu bedauern ist der heimatloſe, | würden. “ blasierte Kosmopolit, der sein lebenlang das ,,So ist sie sehr krank, daß sie sogar ihre Fahrt unterbrechen mußte ?" fragte schönste und reinste Gefühl miſſen muß. Andor in lebhafter Besorgnis . ,,Du erwartest den Arzt," fragte Andor nein, nicht eigentlich krank. ,,Nein, Hast du ein Krankes im teilnehmend. deine Kinder ?" Hauſe ? Dein Mann Es geht viel beſſer , ſeit wir zurück ſind . ,,Nein, Gott sei Dank, alles iſt geſund . " | Nur als wir hier vorüberkamen, da wurde Nickend deutete die Frau auf den festen sie so unruhig, ſo ſeltſam , daß ich Angst Buben und das halberwachsene Mädchen, | bekam. Sie wollte durchaus nicht weiter fahren, sondern hier warten, und als wir die am Brunnen damit beschäftigt waren, den vor einen leichten Deckwagen gespannten ihr zuredeten , kamen die Krämpfe . Da Pferden Wasser zu reichen, während der in haben wir denn nachgegeben und János ist umgekehrt, einen Arzt zu holen . Doktor Raich einer Art von ländlicher Livree steckende hätte selbst mitreiſen ſollen, aber er hat ſich Kutscher mit vornehmer Trägheit ſeine Pfeife den Fuß verstaucht und mußte in Beledvár rauchend daneben stand, ohne auch nur einen bleiben. Es war ja nur auf einen Tag Finger zu rühren . Nur des gnädigen Fräuaber ich halte den Herrn Baron auf. Be leins wegen ist der Diener nach Pápa zurücklieben nur einzutreten." gefahren. Aber sie können so schnell ja gar noch nicht da sein und der gnädige Herr Sie hatte die Thüre geöffnet. kommen wohl auch von Vaszar ; da sind „ Andor ! " rief eine sanfte Stimme vom Bette her und deutete dem freudig Herzusie Ihnen nicht einmal begegnet. Aber Euer eilenden die Richtung in dem niedrigen, von Gnaden dürfen nicht erschrecken. Die Kranke ist schon besser, ſeit das andere Fräulein dem winzigen Fenster nur schwach erhellten bei ihr weilt. Ist es nicht gefällig, abzuZimmerchen an, wo er die Schwester suchen mußte. steigen und hereinzukommen ?" Nur etwas über einen Monat war seit " Von wem sprichst du? Wer ist bei dir ?" „ Das gnädige Fräulein von Beledvár, die Baroneſſe." " Meine Schwester ? hier ?" Mit einem Saß war Andor, die Pelzumhüllung von sich werfend, auf der Erde. „Wissen Sie das nicht ? Sie ist ja auch auf der Reise nach Bukraház . Ich hätte meinen Bandi schon vorausgeschickt, wenn er zu Hause wäre. Nach dem gnädigen
der Trennung in Paris verfloſſen, ſo bald hatten die beiden sich nicht wieder zu sehen gehofft. Nun saß er an der reinlichen Schlafstätte, auf der man ihr ein Lager bereitet hatte, hielt ihre Hände in den seinen und forschte mit zärtlichen Blicken ängstlich nach dem Fortschritte der Krankheit in den lieblichen Zügen . Mit weicher Stimme. flüsterte er ihr herzliche Worte zu. 84
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Robert Byr.
"1Wie ist es ?" fragte er dann nach einer | Andeutung machen ? Doch nein, wie sollte Hat man mich denn recht berichtet ? fie! Die prophetische Gabe reichte doch nicht Weile. Du kommst nach Bukraház zu Onkel Gábor ? so weit. Es hatte sich auf das eben noch Ist es denn wirklich so ?" Gesprochene bezogen ; sie knüpfte ja auch fortfahrend da wieder an. , der Winter ist so kalt - ſo kalt in Beledvár!" sagte sie schaudernd, „und Ich wollte dir es früher sagen, darum blieb ich hier. Sie wollten mit mir weiter ich habe mich gefürchtet. Da hat Rápolt eingewilligt, daß ich bis zum Frühjahre hier | fahren, aber ich ließ es nicht zu . War es recht so, Andor ? Ich sah dich kommen. bleibe. Er ist doch gut. Ich freue mich und sie - sie von der anderen Seite." so sehr, ach, so sehr ! In Bukraház werde "} Du sahst mich ?" ich wieder gesund werden, ganz gesund „Ja, dich und sie." werden ; weißt du , wie es die Engel im Wen, Viktorine ?" Himmel sind." Andor ließ traurig sein Haupt sinken. „ Siehst du sie denn nicht? Der Tag ist so schön ! Ach, die Sonne, wie sie so hell Es wollte das Wort, das gegen die Vorahnung ankämpfte, kaum über die Lippen. leuchtet um ihr Haupt ! Ein rosiger Schein . Aber „ wie schön!" sagte er dann, um sie , wie er euch schön umspielt ! ,,Wir drücke sie nicht so fest an dich, bleib von den Gedanken abzubringen . ſonſt kann ja nicht, ſie ſtöre sie ſizen werden nun dort wieder zuſammenſein. und ſtill Eine Woche wenigstens, wenn ich auch nicht den Bogen nicht führen.“ Mit einem Ruck beugte sich Andor vor. länger verweilen darf, denn du weißt, daß Welcher Traum zog da an den geschlossenen ich meinen Posten ſo rasch als möglich anLidern vorüber ? Nur ein Traum! Wo treten soll . Es fällt mir schwer genug, war denn auch in der düstern Stube, an Europa zu verlassen, ohne -" dem trüben Wolkenhimmel die Sonne, die Er sprach nicht aus und seine Hand fuhr langsam über die Stirne . sie geschaut ? " Aber warum höre ich sie nicht ?" sagte „Ja, ich weiß, ·· du hast es mir gefie ungeduldig. " Warum spielt sie nicht? schrieben," beantworte sie seine Bemerkung, ohne den Schluß zu beachten. „ Aber RáSo beginne doch !" ,,Sie phantasiert wieder," flüsterte An= polt hat es mir schon früher gesagt. " „ dor betrübt der Kammerfrau zu , die am " Er wußte also , daß wir uns in Bukraház wieder sehen würden ?" Fußende des Bettes stand. „Nein , nein!“ erwiderte dieſe mehr " Gewiß und er hat mir eigens aufgedurch das Kopfschütteln als mit den Lippen. getragen, dich zu grüßen." "" Wo bist du denn hingegangen ?" schmollte „Mich ?“
So komm' doch ! Du die Kranke wieder. darfst nicht fort . Nimm die Geige und spiele!" Andor nickte, der Kammerfrau abermals einen Blick zuwerfend . Sie meint Fräulein von Turulai,“ erklärte diese. Ein Stich ging durch Andors Herz. Mußte auch der Name noch genannt wer-
" Den Konsul. Du wirst unser künftiger Handelsminister, sagte er." „Er läßt mich grüßen!" murmelte Andor vor sich hin. Ein warmer Gefühlsstrom zog tauend durch seine Brust. Schon das Zugeständnis, die Schwester nach Bukraház zu lassen, bezeichnete eine Wandlung der Gesinnung ; doch das konnte auch Mitleid mit der Verſchmachtenden sein. Nun aber der Gruß ! — So löst denn die Heimat jeden bösen Zauberbann ? - Du süße Heimat! Nur einen nicht ach, einen nicht ! „Es löst sich alles ," tröstete sie, seine Hand streichelnd.
den, ihn an das zu erinnern, was er einen kurzen Augenblick vergessen ! ,,, daß ich sie dir hätte zuführen dürfen, Such' liebe Schwester ! " seufzte er leise. sie im Geiste und hilf mir sie auffinden!" Es war ein abergläubischer Wunsch, er wußte es wohl ; doch hatte er ihn unwill-
Was sagte sie da ? Hatte sie in seinen Gedanken gelesen ? Wollte sie damit eine
kürlich ausgesprochen . er keine.
Antwort erwartete
Andor.
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Da hatte er sie schon umschlungen . „Ich habe dich, ich halte dich ! ich laſſe dich nicht mehr ! Mein Lieb, meine Seele !" Und an seiner Brust, unter seinen Küſſen brach sie in heißes Schluchzen aus. Sie war wie ein wehrlojes Kind . Dann aber hoben " Hier?" Ein mächtig aufschießender Blutstrom verlegte ihm beinahe die Stimme. ſich doch auch die Arme der Weinenden, und langsam und zitternd legten ſie ſich um seinen ,,Sie ist schon fast vor einer Stunde gekommen ; sie wollte nach der Bahn . Aber Hals, dort aber schlossen sie sich fester und die Baronesse hatte mich hinausgeschickt, so- | fester, als ſollten ſie zu unauflöslichen Banden werden, mit denen sie sich selbst für die bald man den Wagen hörte ; sie hatte mit voller Bestimmtheit behauptet, es sei das Ewigkeit an den geliebten Mann schloß. Du mußt, Susanne ! siehst du , du Fräulein . Gerade so wie beimHerrn Baron. mußt!" jubelte er. Und du entflohst mir, Das war ja so wunderbar ! Ich mußte du wolltest dich verbergen , dich selbst hinaus und das Fräulein hereinrufen. Der mir rauben ! - Wir wären beide daran Wagen wartet ja noch immer draußen am Brunnen." gestorben." - wo ?" Nye, sárga! " eiferte Lißló sein Sattel"„Aber wo Knapp ehe sie kamen , ist sie hinaus pferd an , und die Peitsche schwirrte mit einem lauten Knall über das Dreigespann, geschlüpft. Sie wird sich nicht haben sehen lassen laſſen wollen so verweint — und in“ so daß die Hufe kaum den Boden berührten. Seinem Herrn ging es noch nicht rasch einfacher Toilette das Fräulein Aber Andor folgte längst nicht mehr genug , der hätte sich Flügelrosse vor den den klugen Erwägungen der Kammerfrauenächzenden und manchmal hochaufhüpfenden logik. Er hatte die Thüre schon hinter sich Korbwagen gewünscht . Langsamer - so war es verabredet und stand in der Küche. Durch die Thüre worden sollten in Susannens Kutsche worden konnte er nach dem Brunnen sehen . Nein, Da neigte sich die Kammerfrau näher an sein Ohr und sagte mit gedämpfter Stimme, um die Entschlummernde nicht zu stören: „Sie ist ja hier."
die Mädchen folgen . Mit eigenen Armen der Wagen stand noch immer dort. Lißló und der livrierte Kutscher kehrten sich demon- | hatte Andor die aus kurzem Schlummer erstrativ den Rücken zu . Sie war noch wachte Schwester hineingehoben, ehe er sich in sein Gefährt schwang und von da noch nicht fort, sie mußte noch hier sein. Susanne! " rief Andor und sein an die Dunkelheit nun schon gewöhnter Blick suchte ringsum . Da regte sich etwas hinter dem breiten Herde . Eine schwarze Geſtalt erhob sich langsam und trat zögernd ein paar Schritte vor, dann aber stand sie stille. Sie war es , sie war es , die so vergeblich Gesuchte ; die Verlorene war wieder gefunden. Blaß stand sie da in dem Lichtstreif, der durch die Thüre hereinfiel, A mit gesenktem Haupte, mit niederhängenden Armen, die Finger ineinander geschlungen, und Thränen rollten über die eingefallenen Wangen. „ Suſanne!" rief er abermals, die Arme weit nach ihr breitend. Sie aber regte sich nicht. Herausgequält und erstickt kamen einzelne Laute über ihre Lippen . nicht würdig " Ich bin
Grüße zurückwinkend nach Bukraház vorauseilte. Und sausend ging es dahin , in den Abend hinein. Da der Bach, der große Bug, darauf den Berg hinan, an den Weingärten hin nnd jest um die Mauer und durch das weit offene Thor. „ Éljen ! " Von dem Säulengange herab schwenkte Onkel Gábor die Lammfellmüße zum Grußc. Er konnte die Treppe nicht herab . Die ver-
dammte Gicht ſtak ja wieder in dem Beine, das mit seiner weißen Baumwollumhüllung so jämmerlich abſtach von dem ſtattlich blinkenden linken Stiefel , " daß ich aussehe, als hätte ich einen stolzen Rappen von gutem ungarischem Blute mit einem fetten, schwerfälligen Mastochſen zuſammengespannt, " wie der alte Herr selber verächtlich über seine Equipage brummte. ,,Glaubst du, ich wäre sonst zu Hause
Unsere
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Walzer von S.
Tempo rubato.
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dolce molto espress.
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Led.
Red.
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ausmusik. 5. Jadassohn.
S. Jadassohn . 1.
2.
poco cresc
Led.
Led.
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* Red.
Led.
Stretto
stringendo
PPP
dolce espress.
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Ped.
* 1 2 pdimin b
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1 2 pp
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Led.
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Robert Byr.
geblieben und dir nicht selbst entgegengefahren!" erklärte er. „ Aber thut nichts . Jezt schmerzt nichts mehr ! Gott hat dich gebracht, mein teurer Sohn ! - Margit, Margit, wirst du doch gleich kommen und den Herrn Konſul begrüßen daheim ! Iſt das ein Mangel an Ehrenbezeigung !" Aber mit dem Schelten war es ihm nicht ernst, vielleicht geschah es nur, um das verdächtige Zucken des Schnurrbartes über dem rechten Mundwinkel nicht noch stärker werden zu lassen und beim Umwenden konnte ja die Hand auch so ganz unversehens mit dem Rücken über die Augen fahren. Es bemerkte auch niemand etwas davon, während die alte Frau dem Wiederheim gekehrten um den Hals fiel und Andor die herzudrängenden Burſchen zu begrüßen hatte. ,,Gott zum Gruß, Erdös , bedeck dein eisgraues Haar ! Ei ja, Peti, was hast du für einen dicken Buben bekommen !"
,,Wie wirst du aber verwöhnt sein!" fuhr die ſorgſame Hausmutter in der Aufzählung der ihr auf dem Herzen liegenden Bedenken fort. „ Was werde ich denn nur kochen lassen, um dich zufrieden zu stellen? Du bist jezt an franzöſiſche Speisen ge= wöhnt und ich habe schon studiert
schluchzte sie. "" Aber ich werde recht oft kommen, liebe Mutter, jedes zweite Jahr wenigstens." Jesus, es ist so weit bis nach Asien!
„Jesus Maria ! und du ſagſt "1 nichts ! Jezt will ich aber doch gleich "1 Und du fragst gar nicht, ob sie auch willkommen sein werden!" sagte Andor, sie
Was da alles geschehen kann !“ Ein bißchen hatte sie sich aber doch schon getröstet und der noch feuchte Blick glänzte wohlgefällig, als sie sagte : „Also Konsul bist du geworden. Ist das so viel wie General?" Die wichtige Rangesfrage war aber vergessen und in einem zärtlichen Lächeln klärte sich alles Leid über das mütterliche Wohlgefallen. ,,Und was du für einen schönen großen Bart hast!"
noch immer festhaltend . „ Du bringſt ſie ja mit. Was braucht es mehr ?" ,, Mutter, herzliebe Mutter! " Erdrückte
Zigeunerbraten und Tarhonya* ) ," lachte Andor, der Guten noch einen Kuß auf die Stirne drückend . Ach geh', du spottest." „Ich freue mich schon wie ein Kind
darauf und eſſen will ich, du ſollſt ſtaunen !“ "!Bravo ! bin auch dabei ! Und trinken wollen wir , Söhnchen ! Nichts von Bor= deaur, bah! - Bukraházer Auslese ! Da, da, stoß an !“ Der alte Herr humpelte, so gut er konnte, an seinem Beilstocke zum Tische, denn sie waren mittlerweile in das von bläulichen
Rauchstreifen leise durchzogene Wohnzimmer War das nicht Lenka, die dort mit freudig getreten, und griff nach den Gläsern, die bereit standen. blizenden Augen auf der Schwelle stand ? Und Doch als Andor mit einem vom Herzen aus jeder Thürspalte guckte noch ein neugieriges Gesicht, das doch auch einen Wink | kommenden Spruch auf das Haus Beſcheid der Hand, ein freundliches Nicken, ein fröh gethan , wobei auch die Tante mitnippen liches Wort der Erinnerung haben wollte. mußte, wendete er sich an dieſe und ſagte, ihre beiden Hände faſſend : , Weine nicht, Alte ! Schäme dich ! Freuen ,,Aber jezt , liebe Mutter , denke nicht solltest du dich, jezt ist er ja wieder da, grollte Rainald seiner Frau, die es mit der ans Kochen, sondern richte zuerst Zimmer weißen Schürze beſſer hatte als er, der doch und Betten , denn ich komme nicht allein. Ich bringe noch Gäste mit, unmöglich sein Schnupftuch zu Hilfe holen Gäste, die konnte. über den ganzen Winter bleiben sollen und die gleich da sein werden." „ Ach, er geht ja so bald wieder,"
" Na ja, nun gilt der meine gar nichts mehr," scherzte ihr Gatte, die langen, recht grau gewordenen Haarbüschel unter der Nase vergnügt ausstreichend.
die runzeligen Hände innig an seine Lippen, als wären sie zart und glatt wie Elfenbein gewesen , und wandte sich dann an den Onkel : „ Ihr würdet es doch nimmer erraten. Rápolt hat Viktorinen gestattet, Euch zu besuchen und längere Zeit da zu bleiben." ,,Deine Schwester ?!" Die Ueberraschung war sehr groß, und *) Ungarische Nationalſpeiſen.
Andor.
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„Wer sagst du ? - Adler ? Die Tochter des jüdischen Schuftes ?" stieß er heftig hervor. " Das ist ein schlechter Spaß . Wie du mich erschreckt hast !" rasch über die Auswahl des besten Zimmers „ Nein, ich habe in vollſtem, in heiligund die zweckmäßigſten Anordnungen berat stem Ernste gesprochen. Ich liebe Suſanne und würde sie jofort zu meiner Frcu machen, schlagten. Andor mußte erzählen , wie er die Schwester in der Tanya am Sagen- wenn mir mein Dienst für den Augenblick brunnen gefunden und dabei ward dann noch Zeit ließe . Es ist auch besser so ; wie fast unmerkbar auch der Begleiterin Ergerne will ich ein wenig von meinem Glück wenn ich damit an Viktorine abgeben wähnung gethan, der Freundin, deren Einfluß sich so wohlthätig auf die arme Kranke nur ihre Tage verlängern könnte, wollte ich erwiesen, die schon in Boulogne ſich ſo herz- | noch gerne weiter warten . Ihr aber ſollt lich an dieselbe angeſchloſſen und während meine Braut lieben lernen und sie aufder Dauer des Aufenthalts auch einen Teil nehmen neben mir in euer Herz als eure der Pflege gerne ihren Gastfreunden ab- Tochter." nehmen werde. "! Du bist toll !" fiel Rainald seiner gerührten Frau in das begütigende Wort. Und als so erst in etwas diplomatischer Weise die Einleitung gemacht war, da ging Meine Tochter ? Eine Zigeunerin will ich Andor auch frisch und zuversichtlich weiter lieber als meine Tochter aufnehmen , bei mit der Sprache heraus . Gott ! Es ist nicht möglich, sag' doch, „ Es ist eine Gastfreundschaft, um die es ist nicht möglich ! Du, die Tochter des ich euch selbst bitte und die ihr mir selbst Wucherers, der dich um Löke gebracht hat ? erweist . Ihr sollt Vater- und Mutterstelle dreht es dir denn nicht das Herz um, wenn auch an ihr vertreten, die ich euch zuführe, du daran denkst ? Oder bist du so sehr ſie verdient eure Liebe. Ihr sollt mir das Weltkind, Kaufmann, Spekulant geworden, tenerſte Gut aufbewahren , das ich besize ; so durch und durch ein verwaschenes Zivilidenn ich weiß es nirgends so gut aufge= sationsprodukt , daß du dich nicht schämſt, hoben, wie in euren Händen und unter dein Eigentum, um das man dich betrogen, eurem Dach, wo ihr der Alleinstehenden, der aus der Hand der Diebe , ja mit deren Obdachlosen eine Heimat gewähren mögt, | Hand wieder anzunehmen ? Du besudelst bis ich mit den Schwalben im Frühjahre die deine, indem du sie ergreifst. Das sage wiederkomme, euch meine Braut abzuverich dir. Ist denn das Geld alles ? Bleib' lieber dein lebenlang ein armer Teufel, als Langen." "„ Deine Braut ?! Und du haſt nichts ge- wieder auf diese Art Gutsherr zu werden sagt ? nichts geschrieben ?" auf dem gestohlenen Löke, das ich tausend Verzeiht ! " begegnete Andor froh lächelnd Meilen wegwünsche von Bukraház ! “ ,,Dein Wunsch ist schwer zu erfüllen," den von beiden Seiten auf ihn eindringenden Vorwürfen. „ Ich habe sie ja erst heute geversezte Andor nicht ohne Humor. „ Was www.com jedoch deinen Rat betrifft, so bin ich daran, funden vor einer Stunde kaum hier, auf dem Wege, die Heimat erst hat sie sie ihn zu befolgen . Mit der Nachbarschaft in mir geschenkt. Ihr kennt sie,“ entſprach er Löke wird es nichts werden, auch wenn ich Susanne heirate.“ dann den neugierigen Fragen. „ Schon einmal war sie in diesem Hause - vor Jahren " Sie ist doch die Besizerin von Löke, wenn die Freude durch die Beschreibung des leidenden Zustandes auch gemindert wurde, so gab sie sich doch deutlich genug in der Art zu erkennen , wie die beiden Gatten
aber heute , Vater , nicht wahr , heute wirst du ihr die Aufnahme gewähren, die du ihr damals versagtest ." ,,Wie du doch redest!" rief Frau Margit. Ihr Gatte aber war stußig geworden, und als nun gar der Name genannt wurde, da war er nahe daran, von ſeinem Sophesize aufzufahren.
das wird mir niemand leugnen . Alle dieſe Scheinkäufe, vorgeſchobenen Namen und Geheimnisse sind Spiegelfechtereien, hinter die man kommt. Ihr gehört das Gut und von Pfarrer Bertalan weiß ich auch, daß sie seit zehn Tagen da ist, ich selbst kümmere mich nicht um diese Welt da drüben. Für mich hört sie an der Raab auf. Am an-
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Robert Byr.
deren Ufer ist Palästina ; - meinetwegen kann man die Brücke abbrechen. " „ Das war schon einmal der Fall und die Folge davon daß ich mein Leben bei nahe verlor," entgegnete Andor lächelnd . " Soll ich dir sagen , wer es mir rettete ? - Sujanne." "/ Das ist nicht wahr!" Ich habe die Beweise." „Lügen sind es, mit denen die Spinne dich umgarnen will, die ja eigens auf dich hier gelauert hat. Jest begreife ich alles. " Gábor!" bat Frau Margit den heftigen Mann, der sich in diesem Augenblicke nicht darum kümmerte, wie tief er Andor verlegte . Es kostete diesen keine leichte Ueberwindung, ruhig und freundlich zu bleiben. „ Erlaube, daß auch ich mich auf Pfarrer Bertalan berufe," sagte er ernst. ,, Du hast ihm vor mehreren Tagen meine bevorstehende Ankunft angezeigt ; sie war auf morgen festgesezt, und so hat es Susanne von ihm erfahren, nichts aber von dem Telegramme, das ich dir in meiner Ungeduld gestern sandte. Nicht erwartet hat sie mich, sondern geflohen, eilfertig und scheu, und das am lezten Tage erst, weil sie nicht früher konnte und sie den Zweck ihrer Anwesenheit nicht aufgeben wollte, nachdem man ihr es schwer genug gemacht, ihn zu erreichen. Bis zum lezten Augenblicke hat sich ihr Vormund dem Anſinnen widerſezt, Löke, sowie allen anderen Besiz Susannens in die Konkursmasse zu werfen. Endlich hat er eingewilligt . Der Akt ist vollzogen. Du brauchst wirklich nicht zu fürchten, daß wir dir die Nachbarschaft unbehaglich machen werden." „Alles hat sie weggegeben , alles den Gläubigern ? Auch Löke ?" fragte Rainald verwundert und noch immer ungläubig. Er hörte aufmerksam zu , als Andor nun in allgemeinen Zügen mitteilte , wie ihn selbst der Vorwurf treffe, Suſanne in Unwissenheit über die Verhältnisse gelaſſen zu haben, mit welchem Mut sie, sobald sie zu deren Erkenntnis gekommen , ihre Entschlüsse gefaßt und durchgeführt , wie sie in dem Bestreben , den Geschädigten möglichst ihre Verluste zu erseyen , allem entsagt, ihm selbst Löke angeboten und nur, weil er es von sich gewiesen, dem gleichen Zwecke wie ihr ganzes Vermögen gewidmet
habe, wie sie jezt thatsächlich arm und hilflos und einzig auf ihr Talent, ihre Arbeit angewiesen, in die Verborgenheit untergetaucht, um sich in einem Leben voll Mühe, Entbehrungen und raſtloſem Fleiße aus eigener Kraft empor zu arbeiten und wie nur ein Eingriff des Schicksals diesem Lebensplan noch eine andere Wendung gegeben, da sie, um in der Verborgenheit zu bleiben, selbst der Absicht zu konzertieren entsagt und bereits eine Stelle als Musiklehrerin in einer fernen Provinzstadt ange= nommen hatte, nach der sie sich eben zu be geben im Begriffe gestanden. Aber wie feurig die Rede des sich selbst an dieſer Aufzählung neuerdings Begei sternden auch klang, wie überzeugend die Liebe ihre Sache auch zu führen wußte , hartnäckig verschloß sich des alten Mannes Herz der Schlußfolgerung und während seine treue Lebensgefährtin längst in Thränen zerfloß, saß er troßig mit aufgeſtüßten Ellbogen vor den nicht wieder gefüllten Gläsern, drückte die Wangen zwischen die Fäuste und schob von Zeit zu Zeit zornig seine Tabakspfeife von sich , als ſei ſie es , die sich ihm mit Gewalt aufdrängen wolle. „ " Es ist alles recht gut und recht schön," rief er zulezt unwirſch über den, der ihm zusprach, über sich selbst , daß er dagegen keine anderen Gegengründe fand, über Gott und die Welt aus : „ Deswegen bleibt ſie doch eine Jüdin und ich habe geschworen, es soll nie einer von dem verfluchten Volk unter mein Dach.“ So werde auch ich gehen, denn ich bin ausgewiesen, wo meine Braut es ist," sagte Andor mit schmerzlichem Ernst. „ Gábor, Gábor ! " jammerte Frau Margit erschrocken und seßte dann ängstlich nach einem Ausweg suchend bei : „ Das alte Dach ist ja abgebrannt und für das neue hast du nicht geschworen. " ,,Ach was, laß mich mit deinen Schlau-
heiten! Dach bleibt Dach und Raſſe bleibt Rase!" „ So ist dir der Mensch gar nichts und die Rasse alles ?" hielt ihm Andor , der schon im Gehen , nochmals umkehrte und sich bezwang, mit mildem eindringlichem Ernste vor. „ Naturforscher, Ethnographen mögen diesen Grundsay haben und gene-
Andor.
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ralisierend den Gattungsmerkmalen die | trübt, aber mit ruhiger Freundlichkeit . „ Wir größte Bedeutung zusprechen; Staatsmänhelfen Viktorine unterbringen, unterdes kann ja Susannen's Wagen auf uns beide nern mögen die Individuen in der Gesamtwarten. “ heit aufgehen, oft mit grausamer Verschmel"! Gábor,“ rief sie händeringend , „ du zung ihrer Interessen ; es mag der Einzelne zulezt dem Statiſtiker nur wie die Einheit läßt Andor so aus dem Hauſe ?" Nem bánom ! murrte Rainald und in der Zahl erscheinen , für uns aber, die wir uns selbst als Ganzes fühlen, kann er wandte sich grollend zur Seite. nicht bloß das Bruchteil eines Ganzen sein. „O er iſt unverföhnlich ! “ ſtöhnte die gute Für uns , die wir selbst die Berechtigung tiefbekümmerte Frau. „ Unversöhnliche Gegenfäße," sagte Anzum Festhalten unserer Eigenart wahren, wiegt der Mensch nicht nach den unaufdor , durch das Wort an jene Stelle in weisbaren Eigenschaften des Blutes , sonSuſannens Brief erinnert, leise vor sich hin. Damit kam aber auch ein frohes, erleichdern nach den lebendig in die Erscheinung tretenden, die seine Gesinnung, seinen Charakter bilden und seine Handlungen bestimmen . Wo liegt das Recht zur Ueberhebung gegen diejenige , die mehr Seelengröße zeigt, als ich sie vielleicht ganz unter -ähnlichen Umständen besäße? Nein, Vater, wem ein klarer Geist und ein warmes Herz, in dem Treue, Edelmut und Ehrenhaftigkeit wohnen , nicht die Kenn zeichen der Verbrüderung sind , die über alle Rassen- und Standesunterschiede hin wegreicht und alle Menschen in sich schließt, welche das Gute wollen und die Wahrheit anstreben, der steht einsam auf Erden unter Nachbarn, die wohl das gleiche Kleid tragen und die gleiche Sprache sprechen, ihn aber doch nicht verstehen , der gibt die Seele hin für ein Märchen über die Alleinherrschaft der Materie und schließt sich selbst vom besten Teil der Menschheit aus." „ Nem bánom ! " troßte Rainald, dessen Faust schwer auf den Tisch fiel. „Besser als solche Gesellschaft. Mit ihr zieht, doch nur der Unfrieden ein in dieses Haus. Oder bringt sie nicht schon Streit zwischen uns, ehe sie noch eingetreten ist ?" Welche Erwiderung auch auf Andors Zunge liegen mochte , sie blieb unausgesprochen, denn Lenka hatte die Thür geöffnet und rief eilfertig durch die Spalte herein, daß nun auch der andere Wagen anfahre. „Hörst du , sie kommen !" wandte sich Frau Margit bittend an ihren ergrimmten Eheherrn. „Willst du deine Gäste nicht begrüßen, du als Hausherr ?" "! Was geht das mich an!" ,,Laß, liebe Mutter," sagte Andor be
terndes Gefühl über ihn . Er erfaßte der Mutter Hand, um den Ankommenden entgegen zu gehen und dabei flüsterte er ihr tröstend zu : „ Diejenigen, die nur im Sinne des Menschen liegen, die gleicht ein guter Wille aus und wo der nicht ausreicht gegen die Verstocktheit, da berührt wohl eine höhere Macht die Herzen und öffnet sie. Auch wir, Mutter, wollen ihr vertrauen ! — “ Rainald rührte sich nicht. Ja, er war unversöhnlich! Er wollte nichts hören,
nichts sehen. Finster blickte er zum Fenster hinaus, goß sich ein Glas um das andere ein und qualmte so dichte Wolken, daß er in denselben verschwand wie der zürnende Zeus und ihn niemand gefunden hätte, der ihn suchte. Aber es suchte ihn niemand, niemand trat ein , niemand störte ihn. So war es recht ! juſt ſo ! Die Zeit verging; nichts regte sich ; draußen wurde es immer grauer, in der Stube auch, - in dem Gemüte des eineinſam ! — einsamen Rauchers auch ; sam ! ein alter verlaſſener Mann ! Ach was ! Nem bánom! Aber ist denn das Haus ganz ausgestorben ? ist denn kein Laut darin zu hören ? - da , eine Geige ! Sieh, Da sieh ! hat Andor in der Fremde muſizieren gelernt ? Oder haben sie irgendwo einen Zigeuner aufgelesen ? Warum spielt der aber da drüben und nicht hier ? Herein mit ihm! ihm ! Nein , er mag nicht rufen. Wenn sie nicht zu ihm kommen, mögen sie bleiben. Sie sollen nicht glauben, daß er sie braucht. Er nicht! --- die Pfeife ist ihm genug in seiner Verbissenheit. Aber die Geige wurde gut gespielt 85
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Robert Byr. Andor.
sehr gut ! Das ist kein gewöhnlicher Zigeuner. Wer ist wohl der Künstler?
Sárgacsikó, das sehnsüchtige melancholische Lied , hatte sie gespielt , Télen,
Eine Viertelstunde schon hat er so geLauscht. Es geht doch nichts über Wein und Musik; wie sie das Herz erfreuen ! Zulest will ihn doch die Neugierde nicht mehr ruhen lassen . Auf seinen Stock gestüßt schlich er zur Thüre des Speisezimmers und weiter durch dasselbe bis zur entgegengesezten Thüre. Ah, da war es ! Mitfinster gefalteter Stirnefuhrer zurück. Was für ein ärgerliches Bild ! - Aber er beugte sich nach einer Weile doch wieder vor, es zu betrachten. Es war doch auch schön. Auf dem Sofa, müde ausgestreckt, lag Viktorine, die Hand der neben ihr sißen den Tante festhaltend. Das Auge der stillen friedlichen Dulderin war träumerisch
nyáron darauf, die Klänge, denen Rainald nicht mehr hatte widerstehen können. Jezt kam der Uebergang ; rasche kurze Vorakkorde, dann die langgezogenen Jubellaute , die selbst ein altes Herz noch zum Schwellen bringen können. Wie nickte Rainald mit dem Kopfe ! Immer mehr schob er sich vor : Hej ! haj ! magyarember. - Jest marfierte er den Takt mit dem Stocke , nun schlug er ihn schon mit der Pfeife , leise summte er mit ; erst wiegte sich noch der Oberleib, dann hob sich die Hand ans Ohr und der große weiße Wollballen machte Bewegungen, als sollte er auf den Haken und wieder auf die Spize gestellt werden, und jetzt warfen sich plöglich beide Arme weit
auf die Gruppe am Fenster gerichtet, so hatte sie dieselbe schon in einer Vision geschaut. An Andor gelehnt , der neben ihr saß und sie umschlungen hielt, stand Susanne aufrecht, den tiefen Blick hinausgerichtet auf die untergehende Sonne, die noch einmal vor dem Sinken durch die Nebel brach und einen leuchtend rosigen Schein über die beiden Köpfe ergoß, die schon der doppelte Strahlenglanz des Glücks und der Liebe umfloß. Die Geige unter das Kinn geschmiegt, schien die wunderbar Verklärte hinauszu lauschen in die Zukunft, süßer Rührung und freudiger Zuversicht voll.
auseinander, daß Stock und Pfeife polternd zu Boden fielen und in das Schluchzen und Jauchzen der Saiten hinein jauchzte und schluchzte eine halberstickte Menschenstimme. Ej , haj, viradtig ! - So komm denn, Zsuzsikám, Zigeunermädel! Ich brauche ja eine Tochter zu meinem Sohn !" ,,Vater ! lieber teurer Vater!" Andor selbst legte ihm seine Braut in die Arme. Der alte Herr hielt seine Hand fest. ,,Dein ist ja Bukraház. Gib Herberg hier wem du willst . Du sollst nicht sagen, daß deine Braut unter deinem Dache keine Heimat hat."
For
Line
Sisenbahn in den Anden.
Bon
Herm. Yogf.
ie Feste sind verDie rauscht, welche in der Schweiz wie in Italien zur Feier der Eröffnung der St. Gotthardbahn die Vertreter dieser beiden Länder mit den deutschen Sendboten vereinigt hatten und die Befriedigung über die glückliche Vollendung des Unternehmens, großartigen welche in den verschiedenen Tischreden ihren Ausdruckfand, flingt lebhaft wieder in den HerMit zen der drei Nationen. gerechtem Stolze blicken sie zurück auf die Ausdauer und Geschicklichkeit, welche das mächtige Werk trot mancherlei Hindernissen zu glücklichem Ende führen ließ und wie Europa in diesem gewaltigen Schritte zur Weiterentwickelung der internationalen Verkehrswege einen neuen Antrieb erblicken mag , mit allen Kräften zum Heile und glück-
C&R
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Herm. Vogt.
lichen Gedeihen der Nationen einen dauernden auf einen knappen Vierteil , auf kaum drei Millionen zusammengeschmolzen ist und manche Frieden anzustreben, so liegt darin für die drei unmittelbar betroffenen Völker die Aufforde- unbebaute Strecke an die Stelle reichen Fruchtrung zu immer innigerem Zusammenschließen segens getreten ist , welchen die arbeitsamen wie in kommerzieller , so auch in politischer Bewohner dem Boden auch an solchen Orten Beziehung. zu entlocken wußten, wo anscheinend nur dürres Gras hinreichende Nahrung zum GeNeben solchen, gewissermaßen höheren Erwägungen gibt uns aber auch die Wich- | deihen fand. Troß dieser steten Kämpfe und der mit tigkeit des Baues selbst, die Zahl wie der denselben gleichen Schritt haltenden EntleeUmfang der technischen und anderen Echwierig feiten, welche zu überwinden waren , rung der Staatskassen konnte man an beſtimmender Stelle doch den Plan zu einer riesenRecht, auf die St. Gotthardbahn den Blick stolzer Befriedigung zu werfen. Dieser Dieser GeGe haften Verkehrserschließung fassen, einer Eisendanke wohl hat eine große Zahl deutscher | bahn von Lima , oder richtiger gesagt , von Callao, dem Hafen Limas, aus über die Höhe Zeitschriften jeder politischen Richtung und der parallel der Küste sich in zwei mauergleichen für die verschiedensten Leserkreise bestimmt Abschnitten dem Innern vorlegenden Gebirgsbewogen, in ausführlicher Beschreibung und bildketten der Kordilleren und der in die Wolken licher Darstellung dem Publikum auch in weitesten Kreisen einen faßlichen Begriff dieſes | reichenden Gipfel der Anden nach Oroya ; Da modernen Riesenwerkes zu verschaffen. einer Eisenbahn , welche noch dazu nur als erscheint denn der Zeitpunkt so recht geeignet, die erste Etappe gedacht wurde zur Eröffdem freundlichen Leser zu eigenem Vergleich nung einer Verbindung zwischen dem Großen Ozean ein Beispiel vor Augen zu führen, davon, wie Ozean und und ,, mittelst des weiten Stromgebietes des Amazonenstromes, dem Atlantiauch in solchen Gegenden , welche der europäischen Kultur und Zivilisation noch keinesschen Meer. In der Person des nordamerikanischen wegs völlig erschlossen sind , der Geist und Bürgers Mr. Meiggs fand sich die Persöndie Thatkraft des Menschen bereits Werke von ähnlicher Tragweite unternommen hat. lichkeit, welche dem ursprünglich vom General Pedro Diaz Conseco und dem früheren PräWir bitten uns zu diesem Zwecke über das weite Meer in das ſagenreiche Land der sidenten der Republik Don Manuel Pardo Inkas, nach Peru zu folgen, mit seinen wechentworfenen Plane Leben und Gestalt um so eher zu geben im stande war , als er bereits selnden landschaftlichen Schönheiten , seinen reichen, noch vielfach unerschlossenen Boden- als Unternehmer im Jahre 1868 den Bau schäßen, der romantischen Geschichte und einer der ersten peruanischen Eisenbahn von Mollenda Kultur , die fast eben so alt sein mag , als nach Arequiya geleitet hatte, somit Land und die der Aegypter. Seit der Entdeckung durch Leute zur Genüge kannte und vor den großen die Spanier ist das Land der Schauplatz Schwierigkeiten nicht zurückscheute. Diesem fast fortwährender blutiger Zusammenstöße ge- fühnen Mann übertrug dann die Regierung wesen, die sich bis zu der 1826 nach sechzehn- von Peru vor etwas mehr als einem Jahrjährigen Kämpfen erfolgter Losreißung der zehnt den Bau der Bahn mittelst eines VerKolonie vom spanischen Mutterlande als Auf- trages, nach welchem sich Mr. Meiggs gegen stände der eingeborenen Indianer äußerten, eine Averſionalſumme von 27,600,000 Sol während Kriege mit den Nachbarstaaten und oder ungefähr 115,520,000 M verpflichtete, innere Erhebungen das Land später keine innerhalb sechs Jahren nicht allein die notRuhe finden ließen , bis dasselbe jezt unter wendigen Bauten auszuführen , sondern auch der chilenischen Invaſion und dem Verlust das rollende Material zu beschaffen , sowie der gesamten Flotte anscheinend hilflos dar- eine Anzahl Docks und Lagerhäuser am Ausniederliegt. gangspunkte Callao herzustellen, kurz die Bahn Unter solchen Verhältnissen ist es wahr- im betriebsmäßigen Zustande zu übergeben, lich nicht zu verwundern, wenn die nach älteren wenn die Regierung ihrerseits den stipulierten Ueberlieferungen ursprünglich mehr als zwölf Bedingungen hinsichtlich der Geldzahlungen Millionen Seelen umfassende Bevölkerung prompt nachkommen würde. Die ganze Länge
Eine Eisenbahn in den Anden.
der Bahn von Lima nach Oroya beträgt 129 englische Meilen oder etwa 208 km. Erscheint nun die dem Unternehmer bewilligte Gesamtsumme im Vergleich zu den mit dem Baue nordamerikanischer Bahnen verbundenen Kosten, welche durchschnittlich 240,000 M für die englische Meile nicht übersteigen sollen, ziemlich hoch, da für die Meile hier etwa 800,000 M entfallen , so schrumpft diese Ziffer doch wieder erheblich zusammen , wenn man daran erinnert , wie der Bau englischer Bahnen im Durchschnitt etwa 680,000 M für die Meile erfordert, und die ganz besonderen äußeren Schwierigkeiten, wie sie das wenig bevölkerte Land in hohen ungangbaren Gebirgsmassen darbietet, ferner die Verpflichtung zur Beschaffung auch des gesamten Betriebsmaterials und endlich die Notwendigkeit für den Unternehmer in Betracht zieht, für die Möglichkeit unregelmäßiger Zahlung einen Ersatz in der Höhe des Gewinnes zu finden. Mr. Meiggs erwies sich dem Unternehmen vollkommen gewachsen. Mit großer Energie machte er sich ans Werk und wenn der Bau bislang unvollendet geblieben ist, so findet dieser Mißerfolg trotz des Baumeisters Umsicht, Thatkraft, Ausdauer und Geschicklichkeit feine Erklärung in den zerrütteten Finanzen und den anarchischen Zuständen des Staats . Von Callao aus führt die bereits fertig gestellte Bahn am linken Ufer des dem Stillen
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von so steilen Felswänden umschlossen ist, um nur den vertikal brennenden Sonnenstrahlen Zutritt zu gewähren und doch Lima mit einem Ueberfluß all der prächtigen tropischen Früchte versorgt, und kommen an jener Stelle vorbei, wo losbrechendes Gestein siebzehn italieniſche, beim Bau beschäftigte Arbeiter im jähen Sturze in der Tiefe begrub. Die Steigung beträgt 4 auf 100 und in mannigfachen Kurven und Windungen, den Fluß, der hier in ein enges Bett zusammengedrängt, in raschem Fall der Ebene zuströmt, hin und zurück überbrückend, erklimmt der Zug , von ferne einer riesigen Schlange vergleichbar, in stetiger, wenn auch langsamer Fahrt, die immer höher sich türmenden Berge. Kaum neununddreißig englische Meilen von Lima entfernt, befinden wir uns bei dem kleinen Städtchen St. Bartolomé, bereits 4910 Fuß über dem Meeresspiegel. Wir haben eine Anzahl dunkler Tunnels durchfreuzt und von schlanken Eisenbrücken in die gähnende Tiefe manches Abgrundes geschaut. Unter diesen letzteren ist der Viadukt von Verrugas , welcher bald nach dem Verlassen von St. Bartciomé, auf unserem Wege liegt, nicht allein das bedeutendste derartige Bauwerk auf dieser Linie, sondern auch die höchste Brücke der Welt. Drei Eisensäulen oder Echäfte von bez. 145, 252 und 189 Fuß Höhe. tragen die 575 Fuß erreichende Spannung in schwindelnder Höhe. Beim ersten Anblick Ozean zuströmenden Rimac über Lima in fürchtet der Beschauer sich oder gar das Gewicht eines Eisenbahnzuges dem zerbrechlichen geschickter Anschmiegung an die Formen des Gebilde anzuvertrauen, so zierlich und schwank Terrains fast fortwährend stromaufwärts dem Laufe dieses Flusses folgend bis zu dessen schwebt es in den Lüften , und doch ist die Quellen hinauf, dabei denselben selbstverständ- Brücke so solide konstruiert , um auch die ich häufig durch Brücken überseßend . Bis schwersten Lasten in schneller Fahrt ohne merkChosica bietet sich dem Reiſenden der freundliche Schwingung tragen zu können. Auf liche Anblick eines weiten , durch ein System dem Grunde des Thales , welches durch dieſe kunstvoller Bewässerung in üppiger Vegetation Brücke überwölbt wird , finden sich ausgeblühenden und grünenden Thals und die dehnte Höhlen , welche verſchiedentlich, jedoch Trace der Bahn durchschneidet diesen Landimmer vergeblich, nach Schäßen durchwühlt worden sind, wie sie die Jukas vor der Beutestrich in gerader Linie oder in sanft ge= schwungener Kurve mit der mäßigen Steigung gier der Konquistadoren dort verborgen haben von 22 auf 100. Bei dieser letteren Stadt sollten. Bei dem kleinen kaum tausend Einwohner indes, der interessanten Fundgrube für archäologische Forscher, tritt die Bahn in das Gezählenden Gebirgsstädtchen Matucana, nur 35 birge ein. Die reiche Pflanzenwelt verschwindet Meilen von Lima entfernt, befinden wir uns mehr und mehr, um dem stachligen Kaktus bereits 7788 Fuß über dem Meeresspiegel Plaz zu machen, welcher auch an den steinigen. und noch ragen die Kordilleren ebenso hoch Felevorsprüngen Wurzel zu fassen weiß. Wir über unserem Haupte hervor. Hier ist der passieren das enge Thal von Eulalia, welches Vereinigungspunkt für die eingeborenen Berg-
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Herm. Vogt.
bewohner der Umgegend , die, wahre Kinder des Nebels und der Wolken, kurz und untersezt von Gestalt, mit trübem, melancholischem Gesichtsausdrucke, den ganzen Stolz der wahren Abkömmlinge von den Inkas den Fremden gegenüber zur Schau tragen, und dabei ein elendes Leben in ihren primitiven dachlosen Behausungen führen. Hinter Matucana, welches noch 27 Meilen
in der Luftlinie von dem Punkte entfernt ist, wo die Bahn den Kamm der Anden überschreitet , beginnt das eigentliche Hochgebirge in seiner ganzen großartigen Schönheit und majestätischen Wildheit. Alle Vegetation hört auf. Schnee bedeckt die Höhen und die zerrissenen und zerklüfteten Formen der gigantischen Felsmassen , die tiefen Abgründe , auf deren Sohle schäumende Wasser dahinbrausen,
St. Bartolomé.
sind ganz geeignet, das Gemüt des ängstlichen Reisenden mit bangem Schrecken zu erfüllen. Hier haben sich auch der Arbeit für die Bahn immer steigende Schwierigkeiten in den Weg gestellt ; die Ingenieure waren häufig nur im stande, mit ihren Instrumenten vom gegenüberliegenden Abhange aus an dem steilen Felsen die Trace zu bestimmen , oft mußten die Arbeiter an Seilen von der Höhe herabgelassen werden , um sich so in der Luft schwebend selbst erst eine Stufe in den Felsen zu hauen, auf der sie Fuß fassen konnten zu
weiterer Arbeit , und in einem Falle wurden höhere Beamte wie Arbeiter an Drahtseilen über einen mehrere hundert Fuß tiefen Abgrund befördert , welche auf den gegenüberliegenden Klippenspißen befestigt waren. An Unglücksfällen fonnte es unter solchen Berhältnissen fehlen. Man bezeichnet dem nicht fehlen. hältnissen nicht Reisenden die Stelle , an der bald nach dem Verlassen von Matucana im Jahre 1875 ein ausgedehnter Bergrutsch stattgefunden hat. Viele Millionen Zentner Erde und Fels stürzten damals in die Tiefe und versperrten
Eine Eisenbahn in den Anden.
dem brausenden Rimac folge davon zu einem Tiefe anschwoll. Zwar wieder einen künstlichen
den Weg, welcher inSee von bedeutender gelang es, den Flusse Abfluß zu verschaffen
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und so die drohende Gefahr abzuwenden , in welcher das vorliegende Land bis zu Lima herab schwebte , aber der See ist geblieben , wenn seine Tiefe sich auch vermindert hat. Auch der
MEE C DER HU J BB e
Der Verruger Viadukt. Verlust von Menschenleben war bei dieser Katastrophe zu beklagen und eine große Zahl von Lamas und Maultieren fanden ihren Tod unter den niederstürzenden Felsmassen . Diese Vierfüßler bildeten einen wesentlichen Faktor in der Spekulation des Unternehmers , denn zu langen Kolonnen vereinigt, führten sie auf
dem Rücken verpackt nicht allein das gesamte Baumaterial , sondern auch die notwendigsten Lebensbedürfnisse für das Heer der Beamten und Arbeiter auf den ungangbaren halsbrecherischen Pfaden des felsigen Hochgebirges herzu, wo andere Tiere keinen Fuß zu fassen vermöchten, und die Schar der hoch in der Luft
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dem Marsche solcher Karavanen folgenden | Schwäche verbundenem Zustande zu leiden, Kondors , wartete mit Gier des Augenblicks, troßdem die Höhe der Anden noch lange nicht wo ein oder das andere der treuen Tiere erreicht ist. Im weiteren Aufstieg stromaufwärts im in Ueberanstrengung zusammenbrechen würde. Thale des Rio Eine scharfe ACU Y N JUAN Kurve löst die U Blanco und spä= A S MAY ter wieder des andere ab und ein Tunnel folgt Rimac ist die UC dem andern. ZwiBahn genötigt, CU TA schen St. Mateo solche Kurven zu c o ma und Anchi durch= schlagen, daß man Ri Ri an den Bergab eilt der Zug drei derselben in furhängen zu glei= Kurven der Bahn beim Ueber schreiten des Rio Rimac. cher Zeit fünf zen Zwischenräumen , von denen beinahe parallele SACRAPE die beiden lezten Tracen beobachnur durch die über ten kann, deren
siedelung der Bahnarbeiter, 74 Meilen von Lima entfernt 11,300 und Fuß über dem Meere, liegt am Ausflusse des Rio Blanco in den Rimac und
Puento
Infernillos "de ."los
einem Abgrund von 1000-1500 Fuß schwe- | vertikale Entfernung von einander kaum 500 bende eiserne Brücke getrennt sind. Hoch in Fuß betragen mag. In ähnlicher Weise seht die Luft ragen die roten Porphyrwände, welche sich der Weg dann gegen den Lauf des Chindas schwanke Chan, gleichGerüst zu erfalls eines Zuflusses des Ridrücken scheinen und selbst den mac, in deſſen Thale fort, hier nervenstarken in den wiederMann durchein holten Windunzudt Schauer beim gen einen besonBlick in die ders prächtigen Ueberblick der Tiefe, welcher der Volksmund großartigen denNamen " los Hochgebirgsinfernillos", szenerie gewährend. die kleine Hölle, Endlich sind beigelegt hat. die Quellen des Anchi , weRimac erreicht, sentlich eine An-
Tunnel $2 Tunnel 31 Tunnel 30
Tunnel zwischen St. Mateo und Anchi.
welcher der vorwärts strebenden Dampfkraft bis hierher ein treuer Begleiter war , und 79 dom Meilen Ausgangspunkte derBahn entfernt, 15,645 Fuß über dem
so recht eigent lich im Herzen des Hochgebirges. In dieser | Meeresspiegel , in einer Höhe , welche kaum 100 Fuß hinter der Erhebung des Montblanc Höhe beginnt der Reisende bereits unter einem zurückbleibt, hat menschlicher Scharfsinn und Blutandrange nach den Lungen und einem der Seekrankheit ähnlichen , mit allgemeiner menschliche Werkthätigkeit die Höhe der Anden
Eine Eisenbahn in den Anden. in einem Tunnel von 3847 Fuß oder 1173 Meter Länge durchbrochen , welcher von den Europäern la Galera genannt wird, in der Landessprache aber die Bezeichnung F tunnel de la Cima" gefunden hat.
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In kurzer Entfernung von diesem Tunnel liegt südlich desselben der nach dem Meister benannte Mount Meiggs. Auf seinem einsamen Gipfel flattern in der Höhe von 17,500 Fuß die amerikanische wie die peruanische Flagge
Chin Chan. und geben Zeugnis von der Thatkraft des Menschen, mit der er sich zum Besieger auch noch so großer Schwierigkeiten aufzuschwingen weiß. Ein kleines Observatorium, dessen Barometer einen Luftdruck von 17 Zoll aufweist und dessen Thermometer auf dem Gefrier-
punkte steht, gestattet dem Besteiger einen Umblick auf die Schneeriesen fterilen in her Nähe, fane, derent eisige Spißen sich scharf von dem tiefen Blau des Himmels abheben. Vom östlichen Ausgangspunkte der „ Galera " senkt sich der Weg wieder bis zu dem am 86
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H. Vogt. Eine Eisenbahn in den Anden.
Zusammenfluß von Yauli und Jauja in einer Höhe von 12,178 Fuß über dem Meeresspiegel gelegenen Oroya. Wie schon oben angedeutet, haben die weit reichenden Pläne des Mr. Meiggs durch die finanziellen Schwierigkeiten der peruanischen Regierung eine unliebſame Unterbrechung erlitten und es fehlen vorderhand alle zuverlässigen Nachrichten darüber, wie weit und in welchem Umfange die Bahn augenblicklich fertig gestellt
und im Betriebe ist. Während des Jahres 1877 wurde sie bis Anchi regelmäßig befahren, war aber in ihrer ganzen Ausdehnung der Vollendung nahe gebracht. Die Gesamtlänge der 61 Tunnels , durch welche sie führt und von denen manche eine Kurve mit verhältnismäßig kleinem Radius einschließen, beträgt etwa 20,000 Fuß, und die Zahl der mehr oder weniger großartigen Brückenbauten ist geradezu Legion. Ein einziger Damm in der Nähe der
Partie aus den Anden.
Verrugasbrücke hat mehr als 60,000 Kubitmeter Erde in seinem Aufbau verschlungen, und über 5 Millionen Pfund Pulver mit einem Kostenaufwande von 32 Mill. Mark sind zu den Sprengungen des Gesteins verwendet. Zur Heranschaffung aller dieser und so mancher anderer notwendiger Gegenstände benutte Mr. Meiggs zu einer Zeit 850 Maulesel und 150 Pferde und die Transportkosten betrugen damals täglich gegen 13,000 Mark. Dabei waren die Eingeborenen in ihrer Gesamtheit dem Bau feineswegs günstig gesinnt und der Terrainankauf mußte in vielen Fällen zu übermäßig hohem Preise geschehen. Troß vorsorglicher An-
ordnungen für Leben und Gesundheit der Arbeiter sollen doch bereits 1877 gegen 1000 Menschen, welche beim Eisenbahnbau beschäftigt waren, elend zu Grunde gegangen sein. Die Mehrzahl der Arbeiter bestand aus Chilenen und Chinesen, und wie zu Anfang der Bauzeit ein bösartiges intermittierendes Fieber unter den ersteren ausbrach, von welchem kaum einer von hundert sich wieder erhob, so haben sie sämtlich unter einer dem Thale des Rimac eigentümlichen, mit blutigenHautausschwizungen verbundenen Krankheitserscheinung schwer zu leiden gehabt , deren Entstehung dem schlechten Trinkwasser zugeschrieben wird.
3. A. Schilling. Das größte Wunder unter dem Bwerchfell.
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Mr. Meiggs hatte im Jahre 1877 auch den regelmäßigen Betrieb der fertig gestellten Strecke bis Anchi auf eigene Rechnung übernommen und zahlte dafür einen monatlichen Pacht von Seine 6000 Sol oder etwa 25,000 M Pläne sind übrigens weiter reichender Natur. Von Oroya aus werden zwei Anschlußlinien geplant, von denen die eine sich nach Jauja wenden soll, während die andere, über welche Mr. Meiggs bereits in Unterhandlungen mit der Regierung stand, die reichen Silberminen von Cerro de Pasco dem Verkehre näher bringen und demnächst ihre Fortseßung in das Thal des Ucanal finden kann. Optimistische Köpfe berechnen bereits, wie der Reisende, welcher in Callao ans Land steigt, sich nach 20- bis 30stündiger Fahrt auf einem Amazonendampfer befinden und dann binnen acht Tagen thalabwärts auf den Fluten dieses Stromes die Küste des Atlantischen Ozeans erreichen wird. Wenn aber auch die endliche Erfüllung solcher Hoffnungen, wie sie für den Welthandel von unberechenbaren Folgen sein würden, noch in weiter Ferne liegen mag, so ist dazu doch bereits ein vielversprechender Anfang gemacht und die von Mr. Meiggs geplante und bereits fertiggestellte Bahn kann zu den großartigsten Unternehmungen der modernen Zeit zählen. Wenn das schnaubende Dampfroß mühselig
um sich nun erst von Herzen dieses wagehalsigen Abenteuers zu freuen und klopfenden Herzens die Erinnerung an dasselbe zu bewahren.
dem im heißen Kampfesringen auf blutigem Schlachtfeld oder während des tosenden Sturmes auf hoher See das Gespenst des Todes schon wiederholt nahe getreten ist , ohne ihn zu erschüttern, mag im leisen Erbeben oftmals die Augen schließen, und frei aufatmen, wenn auf dem zivilisierten Bahnhofe von Lima die haarsträubende Fahrt ihr glückliches Ende findet,
nachgedacht. Gar lange Zeit war das Ge= schlecht des homo sapiens L. nichts weniger als weise. So neben vielen anderen Dingen auch in der Naturwissenschaft. Wenn schon über der Pforte des delphischen Orakels die ewig denkwürdigen Worte standen: „ Erkenne dich so wurde dennoch die körperliche selbst!" Selbsterkenntnis sehr lange vernachläfsigtig
Das
größte Wunder unter dem Zwerchfell. Von die bedeutende Höhe bis Anchi erklimmt hatte, so wurde häufig ein einfacherer Modus der 3. R. Schilling. Rückkehr gewählt. Sechs Reisende bestiegen, eng zusammengepreßt, eine einfache offene Lowry , um in rasender Fahrt bergab , deren Schnelligkeit oft 60 Meilen oder fast 100 Kilonterhalb unseres, die Bruſthöhle vom UnterLeibe trennenden Zwerchfelles geht täg meter in der Stunde erreichte, auf den zierlichen Brücken über die gähnenden Abgründe lich wiederholt ein Wunder vor sich, ein Naturdahinzufliegen, oder die gleich der Oeffnung wunder von den wenigsten gekannt und weldes Grabes dem Näherkommenden in schwarzer ches Jahrhunderte hindurch die ganze mediFurchtbarkeit entgegenstarrenden Tunnels zu zinische Welt, die Anatomen und Physiologen durcheilen. Fest klammern sich die Männer beschäftigte. an die Bretter des gebrechlichen Fahrzeuges Man hat auch lange Reihen von Jahren. gar nicht einmal gründlich über dies Wunder und auch der Kühnste und Unerschrockenste,
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3. A. Schilling.
Zuerst studierte der weise Mensch alles, Die Antwort darauf weiß jedes Kind. Es würde ja das Schmelzgefäß früher schmelzen möglichst weit von ihm Entfernte, er zählte alles, er nume= als der darin zu schmelzende gleiche Stoff. was da „kreucht und fleugt" Sterne, untersuchte rierte die die Pflanzen, Ebensowenig wird der Chemiker, wenn er ohne zu wissen, wie viele Knochen und Mus3. B. Zink in Salzsäure auflösen will , dies feln er besiße und ob etwa Luft oder Blut in einem Zinkkessel thun, weil ja auch leßterer oder sonst etwas in seinen Adern kreise? zerfressen würde. Deshalb nimmt er zu solchen Ist's ja manchmal heute noch gerade so. Zwecken Glasgefäße. Niemand wird aus gleiManche Institutsdämchen können alle erhabenen chen Gründen Glas in Glasſchalen oder Kupfer oder dummen Streiche römischer Cäsaren an in Kupferretorten schmelzen oder lösen wollen. Aber in unserem Magen , der doch nur den Fingern herzählen , kennen den Lauf des aus Fleisch besteht, lösen wir dennoch täglich, Tajo und Duero, wissen aber nicht , wie viel Landesuniverſitäten oder Biſchofsſize ihre Hei- | ja ſtündlich Fleiſch auf und dieſe Löſung geht mat besiße oder woher der reißende Lech — der sogar rasch von statten und der fleischige Magen leidet dabei keinen Schaden. Licus oder Wolf der Kelten seinen Namen Wir schmelzen also bei der Verdauung und Ursprung habe ? Fleisch im fleischernen Gefäße - so zu So hört man täglich z . B. das Herz als den Siß der Gefühle schildern und besingen und sagen ohne dies Gefäß, Magen genannt, daran ist doch kein wahres Wort. - Hunderte hierdurch zu beschädigen. leiern den Sat: „Keine Rose ohne Dornen " Gegenwärtig und seit einigen Dezennien ist in den buntesten Varianten wiederkauend herab man im stande , diesen merkwürdigen Vorund doch hat noch nie ein Rosenstrauch Dor- gang zu erklären , einen Vorgang , den der nen, sondern stets nur Stacheln getragen schlaueſte Chemiker kaum auszuklügeln im ſtande u. s. w. u. s. w. gewesen wäre, wenn solcher nicht schon seit den besonders alte Naturforscher verAndere Urtagen der Schöpfung bestünde. Das Geheimnis ist nämlich folgendes. legten den Zauberſtuhl für ihren gleichsam anUnser Magen hat in seiner Innenwand gezauberten Mißmut , für ihre Hypochondrie hinunter unter die Rippen oder unter die hochwichtige sogenannte Drüsen, die Labdrüsen, Leber, wieder andere ſezten den Grund ihres deren Ausführungsgänge sich im Magen als Trübsinns — die Melancholie in die schwarze zahlreiche Magengrübchen , mit winzig fleinen Galle. Deffnungen in ihrer Mitte darstellen und auf Dies alles bewies sich im Laufe der Zeiten der Magenschleimhaut - womit der Magen als Irrtum . innen austapeziert ist, ausmünden. Diese DrüBetrachten wir nun den vielleicht wunder- ſen ſondern einen ſauren Magenſaft und Zellen barsten Zustand unseres Magens , einen Zu- ab. Dieser Magensaft besitzt eine fäulnisstand, der, wäre er nicht so wundervoll organi- | widrige Kraft und Wirkung und ist auch der siert , alles Leben von Fleischeſſern unmöglich eigentliche verdauende Stoff. Kleine Fleischmachte. stückchen, die mit dem Magensafte eines MenMit dem Aufhören dieſes höchſt fein be- | schen (auch Tieres) in Berührung gebracht sind, können darinnen selbst in heißer Jahreszeit rechneten oder angelegten Zustandes würde das tagelang aufbewahrt werden, ohne übelriechend ganze Geschlecht der Menschheit innerhalb wenizu werden oder sich faulig zu zersehen. ger Tage ausgestorben sein durch Selbstzer störung, durch Selbſtverzehrung. In der Magenschleimhaut befinden sich faſt unzählige , kleine cylindrische Drüsenschläuche. Worin besteht nun dieses Wunderwerk? Während der Verdauung nun d. h. nach Ich habe schon gesagt, daß solches dicht unter dem häutigen, quer durch unsern Leib laufendem Genusse von Speisen, findet eine doppelte den Muskel (Zwerchfelle) vor sich geht. Absonderung im Magen statt. Erstens überDer Deutlichkeit halber muß ich mit einem ziehen sich die Wände des Magens mit einer Beispiele beginnen. Schicht klebrigen Schleimes , der von den Warum nimmt der Zinngießer , der Blei Schleimhautzellen herrührt. Weiters aber wird oder Zinn schmelzen will, hierzu nicht ein Zinn- | auch der verdauende Magensaft bei der durch geschirr? die Anfüllung mit Speisen eintretenden Magen-
Das größte Wander unter dem Bwerchfell.
erweiterung, wobei ſich naturgemäß dieMagengrübchen ausdehnen, vergrößern, — abgesondert. Diese beiden Flüssigkeiten haben verschiedenen Zweck und Nugen. Der Magensaft verdaut und die durch Schleim geglättete Innenhaut des Magens schüßt lezteren selber gegen die Selbstverdauung, d . h . das Verdautwerden seines eigenen Fleisches. Was heißt nun aber „ verdauen“ ? Die Antwort lautet : Die Umwandlung der festen, nährenden Bestandteile, die wir als Nahrung durch Speisen in uns aufgenommen haben, aus ihrer festen in die flüssige Form ist Verdauung . Nur flüssig gewordenes kann verdaut und aufgefogen werden. Während dieser Form veränderung der Speisen im Magen geht ein höchst wichtiger Akt vor. Die einzelnen Verdauungssäfte lösen nämlich verschiedene Stoffe auf. Der Mundspeichel z . B. hat schon das Stärkmehl teilweise gelöst und in Zucker verwandelt. Deshalb ist auch der innerhalb 24 Stunden in Quantitäten von 1/2-2 Pfund abgesonderte Speichel von höchstem Werte. Der faure Magensaft aber löst die Flei schestost. Jede andere Schleimhaut , nur nicht die des Magens, wird durch den sauren Magenſaft verwundet, angegriffen, geäßt. Wenn z . B. beim Erbrechen frisch abgesonderter ſaurer Magensaft gleichzeitig mit entleert wird, dann entſteht im Munde nicht nur ein stark saurer Geschmack , sondern auch ein scharf-kraßendes Gefühl, ja sogar ein Schmerz, als hätte man scharfe Säuren im Munde. Auch beim sogenannten Sodbrennen , dem Aufstoßen von etwas Luft mit Magensaft entsteht Brennen. Im Magen fühlen wir aber troß des reich : lich abgesonderten Magenſaftes, dessen wichtig ster, chemischer Bestandteil das Pepsin oder Chymosin ist , dennoch keinerlei Brennen oder Kraßen.
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Epäter suchte man nach chemischen Ursachen der Verdauung und gab sich den Vermutungen hin, als ob sich die Speisen im Magen etwa durch Gährung oder mittels einer Fäulnis verkleinerten. Wir wissen nun, daß im gesunden Magen weder Gährung noch Fäulnis vorhanden sind. Unter besonderen , jedoch krankhaften Umſtänden können allerdings die Speiſen im Magen eine Gährung eingehen. Dies ist jedoch nicht naturgemäße Norm — sondern naturwidrige Krankheit. Der verdauende Magensaft übt nur dann seine lösende Einwirkung aus, wenn er aus saurer Flüssigkeit und Labzellen · die in den Labdrüsen mitabgesondert werden besteht. Wenn man die Labzellen eines frischgetöteten Tieres nach Entfernung der Schleimschicht aus den Labdrüsen herausgepreßt und dazu mit Salzsäure angesäuertes Waſſer hinzuseßt, kann man mit diesem, sozusagen künstlichen Magensafte auf dem Tische , vor aller Augen sichtbar in einem Glasgefäße die Verdauungsthätigkeit des Magens, d. h. z. B. die Veränderungen der Fleischfasern oder die allmähliche Lösung von geronnenem (gekochtem) Eiweiß, Käse , welche Stoffe man damit in deutlich nachweisen und Berührung bringt, studieren. Dieser genannte künstliche Magensaft muß aber in dem Glase bis zur Höhe der Bluttemperatur erwärmt werden, ſouſt gelingt das Experiment nicht. (Reklam). Die Verdauung ist aber für den Magen selber ein gut Stück Arbeit. Bei jeder Mahlzeit verliert der Magen fast seinen ganzen
Uebergang von Schleimhautzellen, der größtenteils mit verdaut wird, ferner verlieren auch die Labdrüsen ihren Inhalt an Zellen , dazu kommen noch die schraubenartigen Bewegungen des Magens, mittels derer alle Teilchen des Mageninhaltes ( Speisen) mit der Innenwand Dergleichzeitig dortſelbſt abgesonderte Schleim | des Magens in Berührung gebracht werden. schüßt, obgleich vom sauren Magensafte durchDarum ist die Verdauung für unsern Magen nicht nur eine mechanische Arbeit durch feuchtet, den Magen vor dem Angegriffenwerden (Schraubenund vor der Selbstverdauung , indem er die die Muskelzusammenziehung bewegung) ausgedrückt, sondern auch eine cheSäure teilweise neutraliſiert, d . h. abstumpft und in ihrer chemischen Weiterwirkung hemmt. mische Thätigkeit. Früher hatte man die Meinung , als ob Schon deshalb ist es notwendig, daß unsere Mahlzeiten in größeren Zwiſchenräumen, nicht die Speisen im Magen mechanisch, wie in einem in übler Gewohnheit von Stunde zu Stunde Mörser mittelst der sogenannten wurm- oder eingenommen werden , weil sonst durch das schraubenförmigen , d. i . der peristaltischen Bewegung zerkleinert und zerrieben würden. — Uebermaß der dem Magen zugemuteten Arbeit,
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Hermann Almers.
dieſer ſelber ermüdet, matt und elend gemacht | die Augen waren halb geſchloſſen , Blut floß aus dem Munde - kein Glied regte sich an wird. --- er schien tot. ihm Daher rühren auch gar viele Klagen vom schlechten Magen". Weil aber der VerHarro war weit weniger verlegt und bei dauungssaft eine gewisse Schärfe besigen muß, voller Besinnung. Die Wucht seines Falles um seine chemische Aufgabe vollkommen durch mußten biegsam nachgebende Aeste und Zweige führen zu können , deshalb darf er nicht allbedeutend gemindert haben. In kurzer Zeit zusehr verdünnt und verwässert werden. Durch schon war er im ſtande , ſich mit Hilfe der das Vieltrinken bei und nach den Mahlzeiten Fischer halb empor zu richten. Auch die werden gleichfalls gar viele und schlechte Mägen Sprache kehrte ihm bald zurück. gleichsam herangezogen . „Laßt mich , laßt mich jezt. Erst helft Die Verdünnerei ist in der Regel zunur meinem armen Jungen, " waren seine ersten matten Worte. mal in allzuhohem Grade angewendet , auch . Sanft lehnten sie ihn an einen mit weichem bei andern Flüssigkeiten vom Uebel, von welMoose überwachsenen Felsblock. Dann trugen chem uns wie z . B. bei Bier, Wein , Milch der liebe Himmel und eine gute Polizei be- sie den blutigen Knaben mit aller Behutsamwahren mögen. keit in den Kahn und bereiteten ihm , so gut es ging, aus ihren Joppen ein Lager. Auch Harro holten sie dann, der, gestärkt durch ein paar Tropfen Enzianbranntwein , sogar schon Harro Harrefen. bald im stande war , gestüßt auf die beiden ein paar Schritte zu thun. Line Warschen- und Alpengeſchichte in 7 Bildern Bon Rasch ward vom Ufer gestoßen und mit mächtigen Ruderschlägen trieb Andres den Hermann Allmers. Einbaum über den See, während der Alte (Schluß.) mit eingetauchten Tüchern eifrig die Wunden und Schrunden der Gestürzten wusch und fühlte. V. Bald war das Nordufer und die KahnNoch derSeekanzel alte Fischerhütte Andres eilte was er fonnte Andres hatten ſein Stunde und keine unter der ge- sofort erreicht. nach Hohenzell , um weitere Hilfe zu fischt , als sie beide vom gellenden Angstschrei holen , indes der Alte im Kahn mit emsiger Pflege zurückblieb. Aber auf all ſeine Fragen, hoch über ihnen aufgeschreckt wurden. Zwar sahen sie nichts, aber gleich darauf hörten ſie's in den wie das Unglück gekommen sei , hatte Harro kein anderes Wort : „Ein andermal , ein Tannen am Ufer krachen und brechen. Nur ein paar Augenblicke währte dies , dann war andermal, guter Alter , jetzt helft nur dem armen Jungen da ! " und kein Auge wandte alles still , doch bald wieder war es ihnen , er ab von ihm , ob noch eine Spur von Leben als ob ein schwacher Hilferuf und ein dumpfes zu entdecken sei. Schmerzensgestöhn aus dem Tannendickicht hervordrang. Ein paar raschgeführte RuderFast anderthalb Stunden vergingen so, da nahte die ersehnte Hilfe. Der Auerwirt schläge brachten sie schnell ans Ufer nach jener Stelle, woher die Laute kamen. Eilends selber kam mit seinem Gespann , desgleichen Andres nebst andern Männern , die eine legten sie hier den Kahn an und drangen ohne Verzug in die Tannen . Tragbahre mit sich führten , auf welche man Es dauerte nicht lang und sie hatten ge- nun den noch immer regungslosen Knaben legte. Noch vermochte Harro , obwohl die funden, was sie suchten. Glieder ihm bereits zu schwellen anfingen, Da lagen sie beide , Harro samt dem Knaben , nur ein paar Schritte voneinander, niedergeschmettert zwischen den Stämmen, gräßlich zugerichtet , geschunden , blutend und alle Kleider zerrissen. Der Knabe hing rücklings über einen umgestürzten alten Baumstamm ,
mühsam das niedre Wägelchen zu besteigen. Der Arzt von Hohenzell war leider nicht zur Stelle, da Andres eintraf. So langte man langsam fahrend abermals nach einer guten Stunde im Auerwirtshaus an , dessen gute
Harro Harresen.
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Betten nunmehr die Verunglückten aufnahmen. | Einmal rief er laut auf , daß es Harro tief Mittlerweile war denn auch der Arzt wieder ins Herz schnitt : "„ O du meine arme Mutter, bist' da, bist' da ? " in Hohenzell eingetroffen und herbeigeeilt, Sant das Wundfieber, lag er, die Augen die Gestürzten zu untersuchen. Harro fand er so gut wie unverlegt, nur mehr oder minentweder geschlossen oder sie mit demſelben düster troßigen Ausdruck offenhaltend da, wie der starke Kontusionen und Quetschungen hatte zuvor von Harro abgewandt. er erlitten. Es war sicher Hoffnung, daß er „Mein Sohn, mein Sohn , vergib , verschon nach einigen Tagen das Bett wieder gib mir," sprach dieser zuweilen mit sanftem verlassen konnte, wenn nur gut mit den Küh liebevollem Tone und faßte leise seine Hände. lungen fortgefahren wurde. Traurig aber stand es um den armen Es half nicht und selbst die Hände zog der Knaben. Beide Schenkelknochen schienen zer- Knabe zurück und barg sie unter die Decke. schmettert , aus ungezählten Wunden blutete Und wiederum vergingen so einige Tage und Nächte, dann aber trat eine neue Vernoch der ganze Körper, auch innere bedeutende änderung des Zustandes ein. Zwar das BeVerlegungen und Zerreißungen mußten statt wußtsein ward hinfort nicht mehr getrübt, das gefunden haben. Nur das todbleiche Angesicht war unversehrt. Das Leben aber war wiederFieber ließ offenbar nach, aber in eigentümgekehrt, denn sichtlich, und war's noch so leise, lich krampfhaften Zuckungen zogen sich alle Muskeln des Körpers zusammen. Die Augen atmete die Brust , wenn auch die Augen noch bekamen einen seltsamen starren Glanz , kein still geschlossen waren . Der Arzt legte die ersten Verbände an, Caut kam mehr über die festgeschlossenen Lippen, aber das jetzt von Schweißströmen bedeckte bestellte Wärter und verordnete weitere KühAntlig zeigte den Ausdruck der höchsten Belungen. Nichts ward unterlassen und gespart, ängstigung und Qual und der ganze Körper was Linderung und Heilung bringen konnte. Harro hatte sein Bett trotz aller Vorwar starr und regungslos , nur den Fingern stellungen des Arztes in eine Kammer mit schien die Bewegung geblieben. „Tetanus," sagten die Aerzte leise zu eindem des Knaben stellen lassen. Er wollte keinen Blick von ihm abwenden. ander und Harro las nur zu deutlich auf ihren tiefernsten Gesichtern wie schlimm es So vergingen drei Tage und Nächte. Am vierten aber schon konnte er sich erheben und stand . Er forderte jetzt von ihnen Gewißheit keine Hoffnung. und erhielt sie am Bette seines Sohnes weilen. Ein stilles nach dem Hofe zu liegendes Und von neuem verging dem UnglückAber Harro Gemach wurde dann zur Krankenstube einge- lichen eine Schmerzenswoche. richtet und das Bett des Knaben hineinge- ließ nicht ab mit Wachen und Pflegen und mit Worten voll Weh und voll Liebe , von stellt , auch ein zweiter Arzt noch zu Rate gezogen. Beide erklärten den Knaben für früh bis spät Aug in Auge mit seinem armen Kinde. höchst bedenklich, wenn nicht hoffnungslos. Ein Assessor der betreffenden GerichtsbeEndlich, schon ging die zweite Woche zu hörde erschien, entfernte sich aber bald wieder Ende, war es, als ob der furchtbare Krampf, nach kurzer Aufnahme des Sachverhalts. die Schmerzen, die allgemeine Starrheit nachließen. Der angstvolle Ausdruck verschwand, Um das Aufsehen , welches das Ereignis machte, kümmerte sich Harro nicht, alle Fragen der seltsame Glanz der Augen ward minder und eine leise selige Ahnung, daß es sich noch des neugierigen Auerwirts wies er zurück und zum guten wenden könnte , begann Harros litt nicht, daß irgend ein andrer als der Arzt Seele zu durchziehen. und der Wärter das Gemach betrat. Von wenn's noch sein könnte, wenn's noch früh bis spät saß er da in seiner stummen möglich wäre!" sprach er leise bei sich und Qual und blickte unverwandt seinem Sohne faßte und streichelte von neuem mit dem in das todbleiche Antlitz. Ausdruck innigster Liebe die Hand des Knaben. Ein heftiges Wundfieber trat ein, begleitet von Phantasieen , in denen seine Ziegen , die Er entzog sie ihm nicht mehr, er wendete er oft mit Namen rief, die Muhme Barbara nicht mehr das Angesicht von ihm weg und und Murmeltiere die Hauptrollen spielten. weder Angst noch Troß lag in seinem Blicke.
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So jammerte in wilden Ausbrüchen der verzweifelte Harro, warf sich schluchzend über den Leichnam , ihn heftig an seine Brust drückend und mit heißen Küssen bedeckend. Erst vom erfalteten Körper gelang es nach vieler Mühe ihn fortzubringen . Vor allem stand ihm jest wieder das grausige und verhängnisvolle Ringen auf der Seekanzel vor der Seele. Ach , wie anders wär's gekommen, wenn er damals den Sturm seiner Gefühle beherrscht hätte , der ihn zu so wahnsinnigem verhängnisvollem Gebaren hinriß. Endlich verstummte der wilde Schmerz und schlug um in düsteres Schweigen und Hinstarren. In diesem Zustande blieb er den ganzen folgenden Tag, ohne bestimmtes Ziel gehabt hat. " umhergehend, ohne Gegenstand stumm vor sich Mit einem unbeschreiblichen Blick voll hinblickend und verstört und verwirrt_aufseliger Spannung betrachtete der Knabe lange „Ich schauend , wenn er angeredet wurde. das Bild, dann legte er sanft den Kopf zu hab's verdient, ich hab's verdient ," war rück und schloß die Augen wieder. das einzige , was er dann und wann dumpf Harro bebte das Herz in Hoffen und Bangen. vor sich hinmurmelte. Und dazwischen wieder saß er vor der nun weißgekleideten Leiche und „ wenn es sich wendete , wenn er zu hielt die kalten Hände in den seinen und mir spräche , wenn er mir vergäbe ! " wieder streichelte die bleichen Wangen. holte er fort und fort in leiſem Flüſtern. Der Auerwirt und die Seinen ehrten Wieder verging eine lange Viertelstunde und sein Hoffen ward erfüllt, es wendete sich seinen Schmerz, ohne ihn zu verstehen. Sie mit dem Knaben. ließen ihn bei dem Toten , so lang es ging. Plöglich erschien er wieder unter ihnen Er schlug noch einmal die großen Augen auf , erwiderte sanft den Händedruck des und war wie umgewandelt , zwar noch ernst und still genug, aber gefaßt, besonnenen klaren bebenden Harros , blickte ihn freundlich an und - die ersten Worte kamen wieder über Sinnes und fester Haltung. - Selbst betrieb seine Lippen, die Worte: er jetzt die Anstalten zum Begräbnis. Er „Vater, lieber Vater." ging fort und besprach manches mit dem GeAber auch seine letzten waren es. meindevorsteher, mit dem Pfarrer und Totengräber von Hohenzell , ja selbst den Tischler Noch einen freundlichen Blick, noch einen leisen des Orts suchte er auf und sah nach , daß Händedruck und abermals ſank das Haupt zurück, abermals schloß sich das Auge, um sich der bestellte doppelte Sarg so stark , so dicht und fest werde, wie er's wünschte. dem Lichte nicht wieder zu öffnen. Wo die arme Afra begraben lag , wußte Als nach etwa einer Stunde der Arzt der alte Totengräber noch sehr wohl , eben kam, hatte das Antlig schon die eigentümweil ihr Grab damals nicht mit einem Kreuze lichen Züge angenommen, die das Nahen des Todes verkünden. Und aber nach einer Stunde bezeichnet war ; gerade das lezte, was auch in war das Ende da, ein Herz ſtand ſtill, dem nur der Armenreihe gewesen und zwischen ihm und der Mauer blieb noch etwas Raum für in ſeinen ersten und in ſeinen leßten Schlägen das ihres Knaben. der Segen der Liebe zu teil geworden war. „O mein Sohn, mein Sohn ! Geh' mir Am Abende des dritten Tags nach seinem nicht schon wieder aus der Welt , ich hab' | Hinſcheiden, als es bereits anfing zu dunkeln, dich ja eben erst gewonnen, - mein einziger verließ der kleine Leichenzug das AuerwirtsLebenstrost. Das darfst du nicht , das mußt haus und bewegte sich ohne Sang und Klang du mir nicht anthun." dem Kirchhofe zu , denn keiner folgte dem Da fiel Harro plößlich ein , daß er ja Ottos Zeichnung, das Bild Afras im Reisekoffer habe. Er fand es bald und brachte es dem Sohne. " Sieh, das ist deine Mutter, deine arme Mutter, so schön war sie , so lieb , so jung, da ich sie fand und betrog und verließ. Aber glaub's mir zu, daß mein Herz darob blutet, daß ich hundert Meilen weit hergereist bin, um sie zu suchen und glücklich zu machen, wenn's noch möglich war. Und auch dich möcht ich glücklich machen, glücklich, wie nur ein Menschenkind auf Erden ist und dich lieb haben , wie ich noch keinen jemals lieb hatte und wie auch dich noch niemand lieb
Harro Harresen.
Sarge als Harro , der Arzt , der Auerwirt und der alte Fischer. Neugierige Zuschauer freilich gab's genug , denn nicht gering war das Aufsehen, welches das Ereignis unter der Bevölkerung gemacht hatte. Man war am Grabe angekommen , der Sarg hinabgesenkt. Ein stilles Gebet noch, dann füllte man schnell die Gruft mit Erde. Harro war stumm und fest. Die übrigen verließen den Kirchhof. Noch etwa eine Viertelstunde weilte er einſam zwischen den stillen dunklen Gräbern. Dann kehrte er rasch in
traum abgerechnet
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der traurigsten Art ; vor ihm die troſtloſeſte Leere. Schuld und nagende Reue im Herzen, die Ehre verloren , in den Hoffnungen getäuscht, in seiner Liebe betrogen , von den Freunden und Heimatsgenossen gemieden, verpfuscht und verfehlt in allem und allem -- nichts in weiter
Runde erspähend was Trost, Befriedigung und Hoffnung gewähren konnte. "‚O wüßt ich eine Sühne, so groß, so schwer sie sei — wie wollt ich aufjauchzen vor Freude!" den Gasthof zurück und verbrachte die halbe sprach er zu sich. - Aber Tage und Wochen Nacht mit Rüsten zur Abreise. und Monden kamen und vergingen , er fand keine Sühne und keinen Frieden. Am andern Morgen schon war er fort, Und auch das allerlette Band , was den reich beschenkt alle und jede zurücklassend, die ihm irgend geholfen und beigestanden hatten Unglückseligen noch mit beſſeren und glücklicheren Tagen verknüpfte, sollte zerreißen. Die alternde in diesen wehvollen Tagen. treue Freundin seiner teuren Mutter, die liebevolle Mitleiterin seiner Jugend , die sorgsame Hüterin seines Hauses, Tante Elka, schon seit VI. längerer Zeit hinfällig und kränkelnd , neigte Wiederum weilt Harro am Nordſeeſtrande nach kurzem Unwohlsein, als der Frühling vor der Heimat. Mit eintönigem Grau umfängt der Thüre war, ihr Haupt zur letzten Ruhe. O, daß jest dies Haus des Unglücks in der Himmel Land und Meer. Die erſten kalten Oktoberwinde durchrauschen die Eschenwipfel des Flammen aufginge und mich begrübe unter den glühenden Trümmern! dachte Harro , als Wehlhofes, dazwischen hört man von fern das Brausen der Bogen. er wieder von ihrem Begräbnis heimgekehrt war in seine stillen, nun erst doppelt öden Erst vor einigen Tagen ist er zurückgekehrt. Räume. Schon am ersten Abende nach seiner Heimkunft hat er der Tante Elfa sein tiefstes Herz ausgeschüttet, Und dennoch sollte gerade heute ſein erſter sie weiß alles und jedes und sigt mit ihrem Schritt geschehen zur Wendung , zur Sühne, zum Frieden. Strickzeug bekümmert in schweren Gedanken in ihrer stillen Stube, indes Harro bald die öden Seine alte Familiengruft auf dem Kirchhofe zu Bernum war längst gefüllt. So mußte Gemächer seines Schloſſes , bald die Gänge des Parks durchirrt , bald vom Deiche stumm zu seinem Leidwesen Tante Elfas Sarg einstins wogende Grau des Meeres hinausstarrt. weilen in einem anderen Grabgewölbe UnterAber scheu kehrt er sofort ins Gebüsch des kunft finden. Der Erweiterung des ſeinigen Gartens zurück, sobald er von rechts oder war nun seine erste Sorge gewidmet. links irgend einen Menschen nahen sieht, denn Er kaufte die anliegende Grabstelle eines längst ausgestorbenen Friesengeschlechtes , schloß keinem einzigen möchte er ins Gesicht sehen. einen Baukontrakt mit dem besten MaurerUnd dennoch, was gäb er drum, wär er wieder, wie einst in längst vergangenen Tagen in❘ meiſter der Gegend und in wenig Wochen war die Erweiterung des steinernen Gruftgewölbes regem Verkehr mit den Heimatsgenossen. — vollendet und Tante Elka ruhte fortan bei Ihm war zu Mute , als ob er eben aus einem schweren fürchterlichen Traume erwacht ihrer Jugendfreundin. sei. Und doch wußte er ja nur zu gut, daß Nun blieb noch Raum für drei andere Särge. - „All meine toten Lieben soll sie umalles traurige Wirklichkeit gewesen war. Und faſſen dieſe Gruft , ehe ich selbst die Reihe da stand nun der Einsame und schaute düster und ratlos ins Leben, das kahl und öde vor schließe“, sagte er still vor sich hin, dich, mein Sohn will ich hier haben. „ Vater , lieber ihm lag. Hinter ihm den kurzen goldenen JugendVater !" hast du noch sterbend mich genannt, 87
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das klingt mir in den Ohren so lang ich leb' - und Afra die Arme. Jest sehe ich sie an als meine Gattin. Auch die Reſte deiner irdischen einst so lieblichen Hülle will ich ſammeln lassen und herführen. Nicht sollt ihr ruhen , wo ihr verachtet und vergessen waret. Dem Auerwirt von Hohenzell , mit dem er bereits vor seiner Abreise die Angelegenheit besprochen hatte, sandte er jetzt eine nicht unbedeutende Geldsumme. Bald meldete ein Brief desselben , daß alles und jedes nach Wunsch und Vorschrift beschafft sei und der neue Sarg mit den Ueberresten der armen Sennerin, wie der doppelte mit der Knabenleiche unter dem Geleit eines umsichtigen Mannes nach der Eisenbahnstation S. in einem schwarzbehangenen Wagen abgegangen wäre. Und aber nach einer Woche stand Harro auf dem Kirchhofe zu Bernum und sah wie die eiserne Thür sich schloß vor dem dunklen Raume der nun umfing , was ihn einst lieb gehabt hatte und ihm treu gewesen war. Auch ihn, der erst mit dem letzten Laute: „ Vater, lieber Bater" zu ihm gesagt hatte. Mit einem Gefühl ernster Befriedigungen seine lieben Toten nun bei einander zu haben, kehrte er in seine stille Behausung zurück. Hatten ihn in den lezten Jahren vorzugsweise die Bilder und Eindrücke seiner Wanderzeit erfüllt , so war ihm von nun an am wohlsten, wenn er sich in stiller Stunde mit
und beschäftigten. Es war der Plan zu einer vorzugsweise für seinen Heimatsmarsch bestimm ten Fortbildungsschule für junge Bauern, verbunden mit einer landwirtschaftlichen Musterwirtschaft, einer großen Volksbibliothek und mit der Verpflichtung der angestellten Lehrer im Winter durch öffentliche gemeinnüßige Vorträge, der Heimat einen wahren Herd gesunder und geistiger Bildung zu schaffen. Mit mächtig aufglühender Begeisterung hatte er in jenen Jahren diesen Plan erfaßt, ausgebildet , dafür gewirkt und gepredigt unablässig. Aber seine Zeit sollte noch nicht gekommen sein. War seine Jugend daran schuld, lag's an der Schwerfälligkeit seiner Landsleute oder an anderen Umständen ; genug, nur auf Lauheit und Bedenklichkeit stieß er damit. Dazu war Harro noch nicht einmal ſelbſtändig. Und woher das Geld zur Gründung einer solchen Anstalt nehmen. Die Behörden und vollends die dänische Regierung, an die er eine Eingabe richtete, hatte nichts dafür übrig und einzig und allein bei seinem wackern Freunde Ricklef fand er Verständnis und freudiges Mitwirken. Aber was konnte auch der am Ende. So war die Sache allmählich eingeschlafen und der Kampf des Jahres 1848 brachte sie vollends in den Hintergrund und in Vergessenheit. Aufs mächtigste ward er jest wieder dalas wieder, von angezogen. Er las ,
den Reliquien seiner glückseligen Jugendjahre las abermals und eine wunderbare Frische und beschäftigen konnte. Aber wie wenig von diesen Freudigkeit überkam ihn. Sein Entschluß reifte Heiligtümern war ihm geblieben. Der leidige in wenigen Stunden. Wieder an die Tage Schloßbau hatte ja fast alles vernichtet und der Jugend wollte er nun seinen Lebensberu knüpfen; was einst der Jüngling gedacht und umgewandelt. Was gäbe er jetzt darum, wenn er das uralte braune Bauernhaus, das Haus geplant, ſollte jeßt der Mann zur That machen. seiner Vorfahren, die Stätte ſeines JugendWer hinderte ihn hinfort daran , ſein schönes glücks noch bewohnen könnte. Was sollte ihm | Werk zu vollführen ? Er war reich geworden, hinfort der " große Kasten" , wie er seinen. war vollkommen unabhängig, war noch voller Frische und Thatkraft und das Bedürfnis einer neuen Wohnsitz stets voll Unmut nannte. Nur in die Vergangenheit blickte er in Wonne und landwirtſchaftlichen Bildungsanstalt in seinem Heimatsmarsch machte sich mit jedem Jahre Weh, die Zukunft lag düster und öde vor ihm. Da eines Abends , als er unter seinen geltender und fühlbarer. Und nun erſt ſein Papieren eben nach einigen Briefen suchte, die schloßartiges Wohngebäude, mit seinen mannigfachen Räumlichkeiten , war es nicht wie ge= ſeine unvergeßliche Mutter ihm einst in seinen Schuljahren geschrieben, fiel ihm das Manuskript schaffen für seine Zwecke ? eines Vortrages in die Hände, den er einmal Wie lange hatte er sich abgewandt von dem vor seinen Heimatsgenossen im landwirtschaft- Interesse seiner Heimat , wie fremd war er lichen Verein gehalten hatte. Es waren drin darin geworden. Ja, war nicht oft genug in Gedanken und Ideen ausgesprochen , die ihn seiner Seele ein brennendes Schamgefühl darüber aufgestiegen ? Und nun mit einem Male konnte einst aufs tiefste und nachhaltigste erfüllten
Harro harresen.
er der alten Heimat , der lang entfremdeten und vernachläßigten, ein Geschenk darbringen, einen Segen spenden, wie keiner je gethan, so lange sie den Fluten entrungen war. Wenn fortan alles darin aufginge , sein Leben und Streben, sein Hab und ſein Gut — welch ein Gefühl der tiesinnersten Befriedigung mußte ihm das gewähren, auch die Herzen seiner LandsLeute, seiner alten Kameraden und - sicher lich auch das seines Jugendfreundes würden sich ihm wieder zuwenden und das bisher so fahle und schaale Leben hatte hinfort wieder einen Inhalt. Im Mittelalter würde er sicher unter gleichen Verhältnissen Hab und Gut der Kirche geweiht , des Lebens Eitelkeit hinter Klostermauern gefühnt und ſein Hoffen auf den Himmel gesezt haben. Glücklich pries er sich, einer andern Zeit anzugehören , von anderem Geiste erfüllt zu sein, andere Ideale zu haben. - das Wohl seiner Mitmenschen, den Segen seiner Heimat. Alle diese Gedanken und Gefühle durchwogten und erfüllten seine mächtig erregte Seele bei Tag und Nacht. Sein erster Ausgang galt Ricklefsen, dessen Hof etwa eine halbe Stunde vom Wehlhof entfernt lag. Mit hochklopfendem übervollem Herzen eilte er zu ihm, mit dem festen Entschluß, ihm sein ganzes Innere zu offenbaren, alles, was er erlebt und gelitten hatte, ihn herzlich zu bitten, daß er ihm verzeihen und sich wieder zu ihm wenden möge, vor allem aber von nun an ihm beistehen und mithelfen in seinem schönen Vorhaben. --Der einstige Herzensfreund empfing ihn mit kalter Verwunderung. Sie zogen sich auf Harros Wunsch in ein entlegenes Zimmer zurück und blieben allda wohl eine Stunde. Harro floß über von Versicherungen seiner stets im Herzen genährten Liebe zum Freunde, seiner tiefen Reue über das vorgenommene Leben und seiner inneren Wandlung, ja er warf sich mit heißen Thränen an seine Brust und beschwor den Freund ihm wieder zu sein, was er einst in hoffnungsfreudiger Jugendzeit gewesen war. Aber seinen Worten, wie seinen Thränen, nichts hatte Rickleffen zu entgegnen, als ernstes Schweigen und durchdringende Blicke. Nur als endlich Harro schwieg, nahm er das Wort. „Harro," sprach er in festem ruhigem Tone, ,,denk nicht, daß ich dir noch ob der Eitelkeit
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und Unbeständigkeit deines Herzens so sehr grolle. Weiß ich doch nun wie du dafür gelitten und gebügt hast. Auch an deine aufrichtige Neue und an deinen guten Willen glaub ich gern - nur nicht an deine Beständigkeit, an die vollkommene und nachhaltige Wandlung deiner innern Natur glaub ich. Doch beweise erst, daß du in der Schule des Lebens ein andrer geworden , so will ich's beweisen, daß ich dir der Alte geblieben. Eins aber ist zwischen uns, darüber ich nie hinweg kommen werde : dein Fernbleiben vom Kampfe gegen die Dänen. Keiner sprach einſt begeisterter vom unterjochten Heimatlande , feiner mahnte uns in flammender Rede mächtiger für die heilige Sache alles und alles einzusehen, keiner stand freier, unabhängiger im Leben da als du und als nun der langersehnte Kampf losbrach, als wir alle dann hoffnungsfreudig und todesmutig die Waffen ergriffen, als ich's aus tiefinnerster Liebe zu dir nicht lassen konnt, noch einmal mahnende, bittende und beschwörende Worte an dich zu richten, da o es war bitter, das am liebsten Menschen, den man einst hatte, da war keiner, hatte , erfahren zu müssen der sich elender , erbärmlicher ehrloser benahm , als du. Es war ein hartes leztes Wort, was ich dir damals aus tiefempörtem Herzen zurief, aber Harro, es ist so, ich muß es noch einmal sagen : deine Ehre ist hin. Ich kann nicht anders . “ Die Unterredung war zu Ende. Traurig und verlegt im Tiesinnersten verließ Harro seinen Jugendgenossen. Fester aber und klarer stand der Plan der Fortbildungsschule von Tage zu Tage vor seiner Seele. — Der Frühling kam. Er benutte ihn zu verschiedenen Reisen, die den Zweck hatten, Anstalten ähnlicher Art in Nord- und Süddeutschland kennen zu lernen , sowie Verbindungen und Bekanntschaften mit Männern anzuknüpfen, die ihm geeignet schienen , Leiter und Lehrer der Anstalt werden zu können und einige wurden sogar schon fest dazu angenommen. Im Sommer erschien der Direktor eines landwirtschaftlichen Instituts auf dem Wehlhof, um alles und jedes daraufhin anzusehen. Manches war ungeeignet, manches auch fehlte gänzlich. Innere Umbauten und äußere Anund Nebenbauten wurden angeordnet und sofort in Angriff genommen und unterdeſſen die
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nötigen Schritte zur Erlangung der Genehmi- fördern, ja er sprach schon offen davon, seine gung bei den Behörden gethan. Dann gegen alten Freunde und projektierten Verwandten im dänischen Adel wieder aufzusuchen und sie um den Herbst langten von Hamburg die ersten Bücherballen für die Volksbibliothek an, und ihre Mitwirkung bei der Regierung zu bitten. ein junger Mensch ward angenommen, um die dafür ausgewählten Werke zu binden und Gerade da er sich eben zur Reise nach der später unentgeltlich zu verleihen , denn schon mit dem Beginn des Winters sollte die Bibliodänischen Hauptstadt rüstete, langten die Zeithek eröffnet werden. tungen von dort mit schwarzem Trauerrande. Vorzugsweise waren es Bücher geschichtan. Der König war gestorben. Ehe es Friedlichen, geographischen und landwirtschaftlichen | rich dem Siebenten gelungen war , das leßte rechtmäßige Band zu zerschneiden, das die bei: Inhalts, dazu gute Unterhaltungsschriften und die volkstümlichsten der deutschen Dichter. Viel den Herzogstümer Schleswig und Holstein Jahrhunderte verfassungsmäßig vereinte , zergab es daneben zu korrespondieren, zu besorgen, zu unterhandeln. schnitt das Schicksal ihm selber den LebensMit einem Gefühl wohlthuender Befriedifaden. gung betrieb Harro alles und jedes. Auch Mit ihm erlosch der Mannesstamm jener seinen Standesgenossen, den übrigen Hofbesitzern Linie des Oldenburger Hauses , die seit drei der Gegend, trat er wieder näher und war schier Jahrhunderten Dänemark und Schleswig-Holglückselig über jedes freundliche anerkennende stein zugleich beherrscht hatte und mit der Wort, das er über sein Vorhaben aus ihrem Thronbesteigung seines Nachfolgers war die Zeit erfüllet, daß die lange Schmach ein Ende Munde vernahm und erst vollends, wenn einer zu ihm kam und, sei's von Neugier oder Teil- nehmen und der leßte Kampf gekämpft werden nahme getrieben, die Vorbereitungen zur Anstalt sollte. Ja keiner im Lande zweifelte mehr daran, zu sehen wünschte. Und die Zahl der Besuchendaß die Tage der Vergeltung gekommen seien. den und Teilnehmenden mehrte sich wirklich von Schien doch sogar die ganze Luft vom nahen Woche zu Woche. Nur der, den er am liebsten Verhängnis erfüllt zu sein. darunter gesehen, auf den er dabei am festesten So rauh und sturmvoll war lange kein gebaut, der ihm besser mit Rat und That hätte Herbst gewesen. zur Seite stehen können, als irgend ein anderer, war und blieb zu seinem tiefsten Schmerze Früh schon hatten die wenigen Bäume im fern sein Ricklef. Und jedesmal, wenn er Nordfriesland ihr leztes Laub abgeschüttelt und schwangen wie drohend ihre nackten Ruten gegen seiner gedachte, durchfuhr's ihn von neuem wie die Feinde; "hinaus mit euch, hinaus, hinaus!" ein schneidend Messer : deine Ehr' ist hin, deine flang's heulend im Novembersturm und des Ehr' ist hin. ―― Das war jetzt die einzigste Trübung seiner deutschen Meeres wutschäumende Wogen rollten Seelenstimmung , das und allenfalls noch ein höher und zorniger denn je ſeit Jahren, aber Umstand, der ihm bis dahin kaum in den Sinn wie Frühlingsahnung durchzog es die treuen gekommen war, doch nunmehr ansing, ihn ernst Herzen und aus ihnen ertönte bald mit jelich zu beunruhigen. Nämlich das auffallende dem Tage hoffnungsfreudiger und zuversichtund von einem Monat zum andern sich hin- licher zu Sturmgeheul und Wogengebraus und ziehende Zögern des dänischen Ministeriums, bald auch zum dröhnenden Schritt deutscher seinem Vorhaben die Genehmigung zu erteilen. | Heerscharen das „ Schleswig-Holstein meerumEs litt bald keinen Zweifel mehr , daß man schlungen". Und Harro den man bereits in Kopenin Kopenhagen eine so bedeutsame und sicherlich folgenreiche Erscheinung der freien Volkshagen erwartete war abgereist. kraft in jener Frieſenmarsch nur mit scheelen Blicken betrachtete. Und als wiederum ein *
halbes Jahr vergangen war , ohne daß seine wiederholten Anfragen einen Erfolg hatten, faßte er endlich den Entschluß , selbst nach Kopenhagen zu reisen und persönlich die Sache zu
VII. --
Einige Monden sind seitdem vergangen. Desterreich und Preußen, die eingerückten
Harro Harresen.
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Bundestruppen einfach beiseite schiebend, hat- | fehlen. Sollt' ich fallen, so liegt die Schrift, ten nunmehr allein die Arbeit übernommen, welche meinen lezten Willen enthält , beim Amte in Tondern. das Land vom lezten Dänen zu reinigen. Dich mein Ricklef habe ich dazu ernannt, In den Gefechten bei Misjunde bei Gottorf, ihn auszuführen, ich wußte keinen Würdigern Oberfelt und Deverſee hatte die Erde schon auf Erden. Nicht wahr, Du wirst es thun? manchen Tropfen deutschen Blutes getrunken. Das alte Dannewirk war bereits vom verAll mein Hab und Gut soll unserer lieben zagenden Dänenheer ohne Schwertstreich ge= Heimat geweiht sein, um unseren einst in räumt. Die Hauptmacht der Dänen hatte frohen Jugendtagen so oft besprochenen Plan sich in die festen Schanzen von Düppel und die Gründung einer Bildungsanstalt zur That Alsen zurückgezogen und mit mächtigem Drängen zu machen und Du sollst alles einrichten und rückten die Deutschen unwiderstehlich nach leiten , als ihr erster Vorgesetter. Für jezt Norden vor. habe ich Dir nichts mehr zu sagen. Von Harro noch immer feine Kunde. Morgen geht es fort , zu befreien unser Niemand zweifelte jezt daran , daß er in teueres Schleswig-Holstein , neu zu erkämpfen meine Ehre Deine Achtung und wenn's Kopenhagen und bei seinen dänischen Freunden sein kann - Deine Liebe. war und ein „ Pfui“ der Verachtung kam über manche Lippe. Vor allem entrüstet war RickMag alles vollbracht sein, wenn wir uns lefsen. Da überraschte ihn folgender Brief : wiedersehen. Leb' wohl ! „Mein herzlieber Ricklef! Dein treuer Harro. Berlin, d. 12. April 1864. So nenne ich Dich, trozalledem und alleN.-S. dem noch heute und werde Dich im Herzen fort und fort so nennen , weil Du nie auf„Ich fand meinen lieben Reisefreund , den Maler Otto Werneck, hier dessen Bruder mein gehört hast, mir der liebste Mensch zu sein, Oberst ist. Er hat mir erzählt, wie er Dich den ich auf Erden habe. getroffen und kennen gelernt auf dem Deiche Glaubst Du mir das nicht , so verkennst bei Bantum , dazu alles , was er von Dir Du mich, wie Du mich lange Zeit verkannt über mich vernommen. Jetzt ist er im Aufhast. Tausend und tausendmal schon zog's mich zu Dir hin, aber Du weißt es ja selber trag des Prinzen Friedrich Karl beim Heere nur zu gut, was uns trennte, was mich zu- vor Düppel, um Studien zu künftigen Schlachtenrüchielt, zu Dir zu kommen und vor Dich bildern zu machen. Er wird sich vorzugshinzutreten : - Dein leytes Wort, Dein Wort weise beim Generalstabe aufhalten und soll Brennend fort und fort Kunde von mir haben. Noch von der verlorenen Ehre. lag's Tag für Tag auf meiner Seele und einmal, leb wohl, mein Ricklef. " das war's auch allein , was mich zu dem Ricklef stand gerade im Begriſſe, andern Schritte trieb , den ich Dir jetzt zu melden Tags sich mit einer reichen Wagenladung von habe. Wein, Zigarren und anderen Erquickungen, Mit dem ersten Tage, da der neue Kampf die man gesammelt hatte, nach dem Schaugegen den Unterdrücker unseres lieben Heimat plage des Kampfes zu begeben , als Harros landes begann, stand auch mein Entschluß fest, Brief ankam. ihn mit zu kämpfen. Noch lange blickte er nach dem Lesen die Zeilen an , dann kam ein festes „ Gott sei Nicht ohne Mühe habe ich endlich erreicht, Dank" aus seiner tiefbewegten Bruſt. „ Nun daß es mir gestattet wird . Meine Zeit der Waffenübung ging in diesen Tagen mit der kann noch alles gut werden," fügte er freudig sechsten Woche zu Ende. hinzu. Und so war alles Vergangene denn vergeben und vergessen und kein Wunsch füllte Ich wurde dem .... Regimente eingereiht, mächtiger seine Seele, als der des Wiederwelches bereits vor dem Feinde steht und gehe morgen mit andern Neuausgebildeten sehens mit dem Wiedergewonnenen. Seit drei Wochen schon hatten die preußidahin ab. Wenn nicht alles trügt, bereitet sich Bedeutsames und vielleicht Entscheidendes vor. schen Truppen den Angriff auf die furchtbaren Der Sturm auf die Düppler Werke kann nicht Werke vor Düppel eröffnet. Unter steten Gefechten hatten sie sich ihnen durch Laufgräben mehr ferne sein. Ich hoffe dabei nicht zu
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Er schaute unaufhaltſam genähert und den eroberten Boden | plößlich seinen Namen rufen. sofort durch Parallelen befestigt und geſchüßt. | umher und erkannte schnell den Maler , der Erst vor wenigen Tagen war auch die letzte eiligst auf ihn zuſchritt. „ Gottlob, da ſind und Hauptparallele vollendet , bestimmt die Sie ja!" rief ihm dieser entgegen, " wie wir's Sturmkolonnen aufzunehmen, denn man stand nicht anders erwartet haben. Schnell kommen nunmehr dicht vor den sechs stärksten und noch Sie mit mir zu Harro. Seit einer Stunde dazu durch Gräben, Paliſſaden , Sturmpfähle, liegt er schwer verwundet in der Wohnung Fußangeln und Eisendrähte furchtbar geschüßten des Schloßgärtners. Noch eben war ich bei Schanzen. Somit war kein Zweifel mehr, ihm. Nach Ihnen frägt er am häufigsten.“ In wenigen Minuten standen sie vor seinem daß der allgemeine Sturm auf dieſelben nahe bevorstand. Lager, das man ihm durch Wernecks Fürsorge in einer kleinen stillen Kammer voll grüner Schon auf der Hälfte seines Weges und Blattpflanzen bereitet hatte. begleitet vom heftigen Geschüßdonner erhielt Leise traten sie ein und an sein Bett. Ricklefsen die Nachricht, daß der letzte blutige Aft begonnen habe. Er eilte mit seinen Das edle Antlig von Todesblässe umfangen Liebesgaben jeßt dem preußischen Hauptdeund geschlossenen Auges lag er da, doch sah pot auf Schloß Gravenstein zu. Gerade als man weder Blut noch Wunden , denn der das Kanonenfeuer schwieg und auf den entSchuß war ihm quer durch den Unterleib geBeim ersten Geräusch blidte er ſeßlich zerschossenen Erdwällen die erste schwarz- | drungen. empor und erkannte den Freund aus der weiße Fahne sich entfaltete, langte er vor dem Heimat. Schlosse an. „Mein Harro ! " rief dieſer mit schmerzlich Ein furchtbarer Tag war's gewesen, dieſer sanftem Tone, sich über ihn beugend. 18. April, aber ein Tag des Ruhmes, wie er „Bist du da , Ricklef?" sprach Harro Preußens Waffen seit den Tagen der Befreiungskriege nicht wieder geworden war. Doch leise. „ Ich hab's auch erwartet, ja ich hab's auch Dänemarks Krieger schieden reich an gewußt , daß du kommen würdeſt und ich dich Ehre aus ihren heldenmütig verteidigten Stelnoch einmal wiedersehe. Gib mir die Hand. lungen. Wer wollte nicht auch diesen ger- Nicht wahr, nun ist alles wieder gut , wir sind die Alten wieder. " manischen Stammgenossen mit bereitwilligem Herzen Achtung und Bewunderung zollen. „Harro , als ich deinen Brief gelesen, Allein auf deutscher Seite tränkten weit über hab' ich's fest und feierlich im Herzen getausend Tapfere tot oder verwundet die Erde lobt. Hinfort bleib' ich dir tren zur Seite, was auch kommen mag, " sagte Ricklefsen mit mit ihrem Blute, siebenzig Offiziere darunter, nicht minder groß war der Verlust der Feinde. festem Tone. „"! Der Tod wird kommen und schneller, als Aber ganz Deutschland vernahm in hoher du denkst. Ich hab' genug. Aber deine und heiliger Freude die Botschaft solcher Thaten. Vor dem Schlosse Gravenstein, dem Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl, herrschte ein friegerisches Gewühl und Gewirr von Truppen, Wagenzügen und Ambulanzen, denn auch ein Teil der Verwundeten sollte im Schlosse untergebracht werden. Ricklef hatte seine willkommenen Gaben abgeliefert und stellte den Wagen einigen Verwundeten zur Verfügung. Wo Werneck zu finden war , wußte ihm feiner zu sagen . In betreff Harros erfuhr er nur, daß die Abteilung, der er angehörte, noch bei den Schanzen sei und schwer gelitten haben sollte. So trieb er sich planlos und ziellos im Getümmel umher , das schon die Abenddämmerung umfing. Da hörte er
Liebe, deine Treue habe ich dennoch nötig für meine Stiftung, für das lehte Werk meines Lebens. Für unser Werk , denn von dir stammen doch die ersten , wie die besten Gedanken." „ Und nun seze dich vor mein Bett,“ fuhr er dann fort , als Werneck einstweilen „Nur einige Worte hinausgegangen war. sind es, die ich dir noch zu sagen habe. Ich schrieb dir ja , daß mein Testament in Tondern liegt. Meine Ländereien jenseits Bantum, die an die deinen grenzen, sind dir vermacht, dazu dir und Werneck und anderen Freunden manches von meinen Bildern und Büchern . Im übrigen ist der ganze Wehlhof mit allem und jedem für die Anstalt bestimmt. Und du,
Harro Harresen.
mein Rickles, sollst sie einrichten und ihr fort und fort als Hauptleiter und Rater zur Seite stehn, damit unsere liebe Heimat etwas recht Gutes und Segensreiches daran hat. Der ganze Plan für dieselbe liegt beim Testamente. „Für die beiden langjährigen treuen Hüter meines Hauses, den guten Clas und die alte Margarete ist zwar gut gesorgt, aber nimm auch du dich ihrer an in allem und jedem, Und endlich noch eins. was not thut. meinen Stellt Sarg zwischen den der armen Afra und den meines Sohnes . Waren doch seine letzten Worte : Vater, lieber Vater." „Sieh , das ist alles , was ich dir noch zu sagen hatte. Versprich mir, Ricklef, daß du die Wünsche deines einstigen Jugendfreundes und deines sterbenden NeugewonWarm und innig nenen erfüllen willst. " drückte er ihm die Hand. „Das will ich , mein Harro , das gelob' " Lieber -- Treuer ich dir, du Edler dann unterbrach ein heftiger Thränenstrom seine Worte. Und so leb' wohl denn, mein Ricklef. Grüße mir unsere Lieben in der Heimat. Alle und alle. Ich hab' gefehlt , das wisset ihr ja, aber ich hab' gefühnt, ich hab' gebüßt für alles , alles ; habe gelitten mehr als Ihr Leb' wohl, ahut. Vergesset mich nicht. Ricklef!" Begleitet vom Arzte trat jest Werneck
wieder ein. Noch einmal ward die Wunde aufs sorgfältigſte untersucht. „Nicht wahr, es geht bald zu Ende, Herr Doktor?" fragte Harro leise und ruhig. — Ein stummes Kopfnicken war dessen Antwort. "Ich mußt es wohl, es ist gut so,“ war Harros legtes Wort. Schon nach einer Stunde trat Bewußt losigkeit und Veränderung seines Gesichtes ein. Ricklef und Werneck saßen lautlos am Lager. Noch ehe die Schloßuhr die Mitternacht verkündete , atmete Harro zum letzten male.
Drei Jahre sind seit Harros Hinscheiden. vergangen. Alles und alles hat sich erfüllet. Es ist geworden, wie er's gewollt. Der lezte fußbreit schleswig-holsteinischen Bodens ist frei von dänischer Herrschaft. In
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vollen Zügen genießt das wieder aufathmende Volk die Segnungen des gesicherten Friedens . Auch das deutsche Vaterland ruhte aus von gewaltigen Erschütterungen , verhängnisvollen Wandlungen und herrlichen Thaten, um sich vorzubereiten auf noch schönere, auf seine Vollendung. Und auch Harros Werk steht nun da, so herrlich, so segenspendend, wie's nur je im Traume vor der Seele des Edlen schwebte. Die Schule des Wehlhofs ist seit einem Jahre eröffnet. Die lang verödeten Räume find erfüllt von jugendfrischem freudigen Leben. Auch die Musterwirtschaft gewinnt als Vorbild für Marschkultur fort und fort an Bedeutung. Die Zahl der Schüler mehrt sich mit jedem Halbjahre. Die Bände der Volksbibliothek haben an Zahl das erste Tausend bereits überstiegen und gehen durch ganz Nordfriesland. Der große Saal des Schloſſes, einst für Tanz und Gelag der dänischen Freunde bestimmt , bildet nun die Aula der Anstalt und von der Hauptwand blickt gemalt mit inniger Liebe von Otto Wernecks Künstlerhand Harros lebensgroßes Bild auf seine Schöpfung und jeden Sonntagabend vom Herbst bis zum Frühling füllt sich der Saal mit Männern und Jünglingen des Landes, um den öffentlichen Vorträgen zu lauschen, welche von den Lehrern nicht bloß über landwirtschaftliche Gegenstände gehalten werden, sondern auch den Naturwissenschaften , der deutschen Geſchichte und der Landeskunde gelten. So steht der Wehlhof da, wie Harro ihn im Geiste schaute, des Landes segenspendender Herd für die schöne Flamme gesunder Geistesbildung. Und der treueste Hüter dieses Herdes ist fort und fort sein wackrer Ricklef. Viele aus Nah und Fern besuchen die Schöpfung jest, vor allem in schönen Sommertagen. Die musterhafte Kultur , Felder und Weiden und den herrlichen Viehstand zu bewundern , den prächtig heranwachsenden Park zu beschauen , den schloßartigen altertümlichen Bau und darin den großen Saal mit dem Bilde des Edlen , dessen Name gesegnet und gepriesen wird im ganzen Lande. Wenige aber reisen fort, ohne nicht auch nach dem nahen Bantum und zu jener Gruft an der Nordseite des kleinen Granitkirchleins zu wallfahrten, die das uralte Friesengeschlecht umfängt , deſſen Lester Harro war, der nun im
F. Kickling.
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neuen Anbau bei seinen Eltern, bei der guten Tante Elfa, bei seiner armen Afra und seinem lieben Sohne ruht. Zwar ist das ganze Gruftgewölbe mit Erde und grünem Rasen bedeckt, aber seine Stelle bezeichnet eine Steinplatte mit der Inschrift , die sein Ricklef verfaßt hatte. Sie lautete : Hier ruht bei seinen Vorfahren und seinen Lieben als Letter seines alten Geschlechtes Harro Harresen , der Gründer der landwirtschaftlichen Anstalt Wehlhof, geboren daselbst am 6. März 1825, gefallen vor Düppel am 18. April 1864 für seine Ehre und des Vaterlands Befreiung. Vergessen seinen Fehlern. Ehre seinem Namen. Segen seinem Werk.
New York und seine Polizei. Bon F. Kiekling.
ohl kein Ort der Welt selbst London Wo nicht ausgenommen - bietet dem Auge des aufmerksamen Beobachters so grelle Kontraste dar, als New York , die Hauptstadt der vereinigten Staaten von Nordamerika, das Zentrum aber auch der vornehmsten Geldaristokratie, der Verbrecherwelt, die fast von allen Ländern der Erde dort zusammenströmt . Da jagen vielfache Millionäre in reichſten Karossen ihren prachtvollen Marmorpalästen der fünften Avenue zu, vorüber an den kleinen, schmutzigen Gäßchen , in welchen das Elend wohnt und der lichtscheue Verbrecher sich der rächenden Hand der Nemesis verbirgt. Da schleicht die schmußige, zerlumpte Bettlerin neben. der eleganten „ Lady " dahin , vergebens ein Almosen erbittend , während ihr der reichgekleidete Gauner verächtlich, ob ihres „ elenden Gewerbes", nachblickt. Ueberall, wohin das Auge blickt, gewahrt es neben dem größten Lurus das herzerschütterndste Elend, neben dem stolzen „ Gentleman" die geriebensten Gauner und lichtscheuesten Verbrecher.
Und einen solchen Kontrast will ich dir heute zeigen , lieber Leser, indem ich dich von dem verrufensten Orte dem „ Five Points “ New Yorks - nach einem der Spielhäuser in der fünften Avenue und einem Ballſaal dez Broadway führe. Ich hatte schon auf dem Schiffe von dem Five Points" gehört und vernommen, daß dies der unheimlichſte, düſterſte Ort der Riesenstadt sei , daß nur Verbrecher, Diebeshehler und Bettler dort wohnten, daß die Weiber dort nur Furien und Megären seien und daß in den dortigen Gasthäusern die Messer und Gabeln, der Vorsicht wegen, an Ketten lägen. Kurz nach meiner Ankunft führte mich ein Zufall in diesen berüchtigten Stadtteil. Ich wollte in die City , als mir einfiel, einen Landsmann zu besuchen, der unweit der „ Five Points" wohnte ; allein troß meines Stadtplanes hatte ich mich so gründlich verirrt, daß ich bald, ohne es zu wiſſen und zu wollen, in jenem verrufenen Teile der Stadt stand. Kaum befand ich mich wenige Schritte in einem engen Gäßchen, als es mir schon etwas unheimlich zu werden begann. Männer und Frauen saßen oder lagen in Gruppen vor den Thüren , mit Gesichtern , Händen und Füßen, die wohl seit langer Zeit in keine Berührung mit Wasser , geschweige denn mit Seife und Bürste gekommen waren. Kinder jeden Alters, halb nackend, warfen sich mit dem dortliegenden Kote und trugen kein Bedenken , auch Erwachsene mit diesem Zeitvertreibe bekannt zu machen. Bald wurde ich von drei zerlumpten, schmutzigen und stupiden Frauen umringt, die mich bettelnd überfielen. Um sie loszuwerden, gab ich ihnen einige Cent , und fluchend forderten sie eine größere Gabe. Ihr Geschrei lockte Zuschauer herbei , deren Aussehen mir schnell den Charakter der Gaffe außer Zweifel sette. Ich warf den Megären einen Vierteldollar hin, und während diese sich über das Geldstück warfen , kehrte ich der Gaſſe den Rücken. Dieser Ausflug war für mich von zu hohem Interesse, als daß ich nicht beschlossen hätte, dem Orte jedoch mit sicherer Begleitung — einen neuen Besuch abzustatten. Es bedurfte vieler Worte , bis ich einen
Geheimpolizisten vermochte, mich in das gefürchtete Revier zu begleiten . Endlich versprach
New York und seine Polizei. er mir sein Geleit und bestimmte Tag und Stunde, wo ich denn nicht verfehlte, mich einzufinden. Der wackere Beamte hatte die schlechtesten Zivilkleider angelegt, und da er mir das Gleiche zur Pflicht gemacht hatte, erschien ich ebenfalls in solchen. Unterwegs legte er mir noch auf, nur immer englisch zu sprechen, indem wir uns sonst unfehlbar Unannehmlichkeiten aussehen würden , oder gar geplündert werden könnten.
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dirnen gehörten. Nur ein Mädchen von kaum achtzehn Jahren machte eine Ausnahme. Ihr hübsches aber ungemein blaſſes Gesicht fest auf den Boden gerichtet, saß sie in einer Ecke und wies die rohen Spässe der angetrunkenen Männer ernst von sich. Während ich noch Betrachtungen anstellte, wie wohl das arme Mädchen in die Spelunke gekommen sein möge, trat ein irischer Arbeiter, der etwas hinkte und deſſen Aeußeres einen ſeltsamenEindruck auf michmachte, herein. Er mochte gegen vierzig Jahre zählen; sein braunes GeNach längerer Wanderung traten wir in eine schmutzige, halb zerfallene Gastwirtschaft sicht hatte den Ausdruck kecken Hohnes , und des verrufenen Ortes ein. Himmel ! Welch in seinen großen schwarzen Augen brannte ein ein Anblick! Körbe, Pakete, Stecken und Krücken, stechendes Feuer, es war mir , als müßte der alte Kleider und Lumpen lagen in der schwarzen, Mensch nicht der sein, für den er sich ausgab ; aber seine nicht gerade saubere Kleidung, Gang geräumigen Stube umher. Bettler, liederliche Dirnen, Gaunerphysiognomieen aller Art ſaßen und Haltung, sowie die derben Späße, die er mit den Anwesenden machte, kennzeichneten ihn um die Tische, sich am Biere und gemeinem Fusel labend. Am Schenktische saß ein doch genau als einen irischen Arbeiter. Nachschmutziges, rauhstimmiges , altes Weib ; ihr dem er alle flüchtig gemustert, trat er an die Tische der wilden Gäſte, sprach mit ihnen wie zur Seite stand ein Aufwärter , mit einem mit alten Bekannten und nahm dann seinen wahren Galgengesichte, welcher mit einem unsauberen Taschentuche, das er vermutlich vor Platz neben dem jungen blassen Mädchen ein, kurzem gestohlen, den Schenktisch abwischte, mit der er sich längere Zeit unterhielt, und und mit einem Blicke auf unsere Taschen der bald darauf verließ er mit ihr das Zimmer. „Was hat der hinkende, schmußige Geselle Befehle harrte. mit dem Mädchen vor ?" fragte ich meinen Ich ließ mir nicht erst sagen , daß hier alles gleich bezahlt werden müsse, und gab dem Begleiter, und dieser antwortete mit einem verGalgenvogel für das mir gereichte Glas Brannt- schmitten Lächeln: „Lassen Sie das Mädchen nur mit ihm wein fünf Cent Trinkgeld mein Begleiter gehen, sie wird dem Manne Dank wissen und that dasselbe, eine Vorsichtsmaßregel, die ich jedem Besucher solcher Orte anrate und ist bei ihm beffer aufgehoben als hier." Bald darauf brachen wir auf, und nachmit einem Blicke gab er uns zu verstehen, daß dem wir noch einige andere Spelunken besucht wir nun hier ganz sicher seien. hatten, traten wir den Rückweg an . Man sah, daß dieses Quartier für Gesindel aller Art so recht eigentlich bestimmt war, und Nachdem wir Toilette gemacht und uns restauriert hatten , seßten wir uns in einen alles, worauf das Auge weilte, entsprach dieser Bestimmung ; ich hatte nie etwas Abstoßenderes | Pferdebahnwagen, um zur fünften Avenue zu gesehen. gelangen, woselbst mir mein Begleiter den BeDa saß an einem Tische eine Gruppe such eines der elegantesten , aber auch gleichMänner, deren Gewerbe ihnen an der Stirn zeitig der gefährlichsten Spielfäle in Aussicht geſtellt hatte. geschrieben stand. Sic spielten Karten , und Welch herrlichen Anblick gewährt die reichste zwar sehr hoch, wie die auf dem Tische liegenStraße New Yorks ! Palast reiht sich an Palast, den Geldſorten und Banknoten schließen ließen. Andere belustigten sich mit Würfeln um und auf den herrlichen , breiten Trottoirs tummelt sich die reichgeputzte, vornehme Welt. Whisky (Branntwein), und gossen denselben in Eine Menge prachtvoller Wagen, geführt von solchen Massen hinab, daß sie endlich betrunken Gold- und silberbetreßten Kutschern und Dienern, unter die Tische sanken. Auch Frauen und Mädchen befanden sich jagt dahin, während Tausende von Lustwandeln= den dem in unmittelbarer Nähe liegenden in dieser Gesellschaft , und allen sah man an, daß sie zu der niedrigsten Sorte der Straßen- Zentralparke zupilgern . 88
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F. Riehling.
Welch eine anziehende Gesellschaft ! Junge Thoren und alte Gecken, geschniegelte und überladen herausgepußte Abenteurer , gewichtige Standespersonen , alle heften das Auge auf den verhängnisvollen Fall des Würfels oder der Kugel, und lauschen der schnarrenden Stimme des Bankhalters, der ihr Glück oder Unglück verkündigt.
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Bald traten wir in eines der glänzendsten Spielhäuser ein. In aller Form eingeführt und empfohlen , findet auch der Nichtspieler freundliche Aufnahme. Wir stiegen die breite und kostbare Marmortreppe hinauf und traten in die reich möblierten, mit fürstlichem Luxus ausgestatteten Spielzimmer.
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reut mi nig als mei Bür Und mei Pulverhorndl Und mei kohlschwarzer Hund Und mei sauberes Dirndl.
Das Spiel ist meist so geregelt, daß der niedrigste Einsatz zehn Dollar, der höchste da gegen fünfhundert Dollar beträgt. So glänzend nun auch alles hier ist, so sehr man ein vornehmes Wesen affektiert, so überzeugt man sich doch leicht, daß man nicht in der besten Gesellschaft ist , obgleich man Leute von der ersten Gesellschaft hier zu finden gewiß sein kann. Doch wen sehe ich da ? Täuscht mich mein.
Auge nicht ? Wenn der Bursche mit dem hinkenden Fuße, der dort in reichster Toilette steht, nicht derselbe ist, den ich vor wenigen Stunden als irischen Arbeiter gesehen habe, so muß es Mephisto selber sein! Mit welch' feinem, beißendem Wite spricht er zu den Croupiers, wie zu dem Eigentümer des Hauses ! Mit wie höhnischer Ironie tröstet er die Unglücklichen, welche verlieren ! Ja, er setzt sich selbst mit an den Spieltisch, wo er
New York und seine Polizei.
mit Glück und wachsender Kühnheit spielt. Doch bald steht er tros seines hohen Gewinnes auf und liest, als wäre nichts geschehen, ruhig den Herald." Mein Begleiter , den ich auf diese Erscheinung aufmerksam machte, lächelte wie früher, indem er entgegnete : Sie irren sich nicht ; es ist der irische
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Arbeiter, und es sollte mich gar nicht wundern. wenn Sie ihn noch heute Abend in dem Ballsale sähen , zu dessen Besichtigung wir jetzt aufbrechen wollen. " Der Weg von der fünften Avenue bis zum Broadway ist nicht weit, und bald waren wir am Ziele. Eine köstliche Musik schallte uns entgegen , tausend Wohlgerüche mischten sich
tt e li in ch glen e K S in 81 We
uf dö stoanigen Acker Wachsen d' Erdäpfel gern, Mei Vater sagt immer 3 funt nir G'scheidt's wer'n" !
mit den bezaubernden Tönen; die Wände waren mit hohen Spiegeln bekleidet, die den Glanz der reichen Beleuchtung vertausendfachten. Wir durchschritten den Saal und gingen an den Reihen der schönen, jugendlichen Gestalten vorüber, die den Schmuck, den ihnen die Natur so verschwenderisch verliehen, durch geschmackvolle Toilette und einen Reichtum von Diamanten und Perlen erhöht hatten , von
dem man sich in unsern bescheidenen Sphären feinen Begriff macht. Der Tanz begann und rötete die Wangen der Schönen höher , belebte den Glanz der Augen und gab den herrlichen Gestalten neues Leben und neue Reize. Nach beendigtem Tanze schritt ich dem Büffett zu, und wie falter Schweiß rann es mir über den Rücken, als ich den Hinkenden den ?? Ueberall und Nirgends New Yorks "
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F. Riesling .
war, wo junge Schönheiten selbst dem Einfältigen zuhören , mußte seine Unterhaltung doch anziehend sein. Ich begab mich in seine Nähe und überzeugte mich bald , daß er einen ungemeinen Beobachtungsgeist besaß und mit einigem Gefühle sprach, wie das Bruchstück eines Gespräches beweisen mag,
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- im Kreise einiger der ersten Schönheiten des Ballsaales erblickte. Er war jest mit einer Eleganz und einem feinen Geschmacke gekleidet, welcher die anwesenden Herren fast alle überstrahlte. Er sprach mit Eifer und mit Geist, wie es schien, denn die Schönen hörten ihm gern zu, und da er nicht mehr in den Jahren
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och der kriegt mi nimmer, Er is ma viel 3' dumm Der Kerl kann nöt tanzen Und thuat als wie stumm. - eh bien, in vier Wochen ist sie die welches er mit einer der ersten Schönheiten | Kind führte: Frau eines filzigen Wucherers , an welchen „Es ist in der That betrübend, Lady Alice," ihre eigene Mutter sie verschachert hat. Sehen sagte er , daß bei allem Glanze , den wir Cie da , die blasse , schöne Lady , wahrhaft interessant, durch sich wie durch ihr Schicksal ! hier sehen, so wenig Glück, bei all der Lustig Sie ist seit vier Monaten heimlich verheiratet ! feit, die hier so rege umhergaukelt, so wenig Welche Szenen wird es geben, wenn der stolze wahre Seelenfreude zu finden ist. Sehen Sie die reizende Lady Diana, schön und frisch wie Bater erfährt, daß sein Schwiegersohn ein deutscher, hier vor kurzem engagierter Schaueine halb erblühte Rose, unbefangen wie ein
New York und seine Polizei.
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spieler ist ! Ach, wie vieles könnte ich Ihnen | haften Manne fort, der hier nicht , wie in noch von den Kindern der Vornehmen und der Gaunertaverne, den irischen Dialekt, sonReichen erzählen, deren Brust von Diamanten dern die eleganteste Sprache der gebildeten Welt sprach. bedeckt und von Kummer erfüllt ist und die Mitternacht war bereits vorüber , als täglich mehr Thränen weinen, als sie Perlen am Halse tragen." wir uns zum Heimwege rüsteten. Ich bat Das Gedränge riß mich von dem rätsel- meinen Begleiter , noch einmal mit mir den
Köchina bringa Do Gäns' so gern um, Denn do gar groß' Verwandtschaft Die war iahna z'dumm.
Saal zu durchschreiten, um den Hinkenden zu sehen. ,,, geben Sie sich keine Mühe, der ist und längst fört," entgegnete der Beamte , Gott weiß, in welcher Maske er jetzt auf tritt !" Und wiederum lächelte er pfiffig, so daß ich annehmen zu müssen glaubte, mein Be-
gleiter wisse noch mehr von ihm, als er mir bisher gesagt. An meinem Hotel angelangt, bat ich meinen Führer wiederholt, mir über den rätselhaften Mann Aufschluß zu geben, wenn er es vermöge, und er entgegnete : „Nun, damit Sie ruhig schlafen können , mögen Sie es wissen : der Hinkende ist der Chef unserer Geheimpolizei. "
Sin schwüler Sommertag. Motiv aus Kroatien von Nicola Masic.
O September.
Der
Sammler.
Inhalt : Gedenktage im September. Unser Hausgarten. September. Von G. U. Fintelmann. Trachten der Zeit. Herbstmoden. Von Jda Barber. Mit 11 Abbildungen. Küche und Baus. September: Jahreszeit des Efbaren. Speisezettel für September. 3wei physikalische Spielereien. Mit 2 Abbildungen. Zusammen. Jum Kopfzerbrechen. Preisaufgabe. — Rätsel. leg Aufgabe. Silbenrätsel. - Rebus. Logogryph. Auflösungen zu Heft 11. Rösselsprung. Neue Bücher. (Schweden von Egon Zöller. Der Berliner Kongreß von Anton von Werner.) Ein moderner Tiermaler. Ein erster Sieger. Der Goldmacher Giovanno Graf von Cajetani. Aus Kairo. Mit einer Jllustration von W. Gent. Der gestirnte Bimmel im Monat September.
Gedenktage im September.
1. 1776 geb. 2. H. Ch. Hölty. 2. 1870 Schlacht bei Sedan. 3. 1757 gb. Carl Aug., Großhrz. v. S.-W. 4. 1803 geb. Emil Tevrient. 5. 1733 geb. 6h. M. Wieland. 6. 1813 Schlacht bei Dennewitz. 7. 1707 geb. G. 2. Buffon . Naturhist. 8. 1474 geb. 2. Ariost. 9. 1576 geft. Titian. Leisewis. 10. 1806 geft. Joh. Ant. 11. 1709 Schlacht bei Malplaquet. 12. 1819 geft. Fürst Blücher. 13. 1819 geb. Glara Schumann. 14. 1321 geft. Dante.
3 ་ ་་་ ་་་ ་་་དན
15. 1789 geb. 3. F. Cooper. 16. 1787 geb. Peter v. Gornelius. 17. 1820 geb. G. V. E. Augier. 18. 1809 Dofer proklamiert die Erhebz. 20. 1863 geft. Jakob Grimm. 21. 1832 geft. Walter Scott. 22. 1826 geft. J. Pet. Hebel. 23. 1791 geb. Th. Körner. 24. 1782 Unabhäng. Grflär, v. Rordamer. 25. 1797 geb. G. Donizetti. 26. 1831 Allg. deut.Burschentag in Frtfrt. 28. 1803 geb. A. 2. Richter, Maler. 29. 1681 Straßburg v. d. Franzos, besetzt. 30. 1823 geb. Rub. v. Gottschall.
F. Thiersch . 81.
6. A. Fintelmann. Unser Hausgarten.
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Unser
Hausgarten. Von
H. A. Fintelmann.
September. Bei einem Wirte wundermild Da war ich jüngst zu Gaste ; Ein goldner Apfel war sein Schild An einem langen Aste. Uhland. Schöne und heitre Tage bringt der September. Er bringt den Herbst, die Freuden, aber auch die Leiden desselben. Während die remontierenden und Bourbon-Rosen wieder mit zahlreichen duftenden Blumen geſchmückt, Gladiolen und Georginen in höchster Vollkommenheit stehen und fast ohne Pflege ihre Pracht entfalten, während die Obsternte in größerem Maßstabe beginnt, Aepfel und Birnen, Walnüſſe, Kastanien , die frühen Weintrauben, Pfirsich und Aprikosen reifen und genießbar werden, zeigen sich doch auch schon trockene Blütenstengel und hier und da an Linden und Roßkastanien gelbe Blätter, die von Rasen und Wegen täglich abgekehrt werden müſſen. Die kühlen Nächte ermahnen, des Froſtes zu gedenken, der faſt alljährlich im leßten Drittel dieses Monats allen Blütenreichtum , alle Blattfülle der subtropischen, jezt zur größten Ueppigkeit ent wickelten Pflanzen zerstört. Man habe dann schon indische Azaleen, Kamelien, Myrten und den Rest der Zimmerpflanzen in die ihnen für den Winter beſtimmten Räume gebracht. Vor plößlich drohendem Frostschaden können manche Lieblinge der Pflanzenwelt durch darüber gebreitete Decken geschützt werden. Viele Vögel verlaſſen uns jet, um wärmere Länder aufzusuchen , aber der naſchhafte Sperling bleibt unermüdlich beim Zerstören der Früchte, greift Pfirsich und Aprikosen und die besten Weintrauben an, in vernichtender Weise von Wespen, Horniſſen und anderen Insekten unterſtüßt. Wir suchen uns vor ihnen zu schüßen, indem wir Neße über die Spaliere breiten, die einzelnen Trauben in Beutel aus Gaze stecken und diese oben zusammenschnüren, oder aber durch Aufhängen von Fallen. Wenn man Zuckerwasser, oder eine Mischung aus Sirup und dünnem Braunbier in offene Medizingläser gießt und dieſe an verschiedenen Stellen zwischen den Aeſten und Reben aufhängt, so hat man den Wespen ein Lockmittel gereicht, dem sie nicht widerstehen und in dem sie in überraschenden Mengen ihren Tod finden, während das Obst gegen ihre Angriffe ziemlich gesichert ist. Derartige Gläser werden am besten zu diesem besonderen Zweck angeschafft und haben dann die geeignetste Form : aus breiter Basis kegelförmig zusammenlaufend, mit einer nicht zu großen Deffnung und einem sich wieder erweiterndem Rande. Für den Geschmack des Obstes ist die richtige Zeit der Ernte und die sorgfältige Behandlung beim Pflücken und auf dem Lager von der größten Be-
deutung. Wirtschaftsobst, das gleich nach dem Einsammeln gebacken oder sonst verarbeitet wird, kann wohl durch Schütteln und Auffangen in Tücher und Säcke eingebracht werden : Tafelobst aber und alle Sorten, die erst auf dem Lager reif werden, müſſen von Leitern aus in einen Korb hinein ge= pflückt und vor allem zur rechten Zeit geerntet werden. Die köstlichste Birne wird mehlig, wenn sie zu lange am Baume bleibt oder ist hart und ohne Aroma, sobald sie zu früh genossen wird. Es handelt sich hierbei oft nur um wenige Tage, innerhalb welcher der richtige Zeitpunkt liegt ; und in nicht wenigen Fällen hat das Interesse an der so köstliche Früchte liefernden Spalierobstzucht nachgelaſſen, weil die gewonnenen Früchte infolge von Unachtsamkeit und Unkenntnis der Mühe und den berechtigten Erwartungen nicht entſprochen. Die frühen Sorten, deren Ernte schon im vorigen Monat begonnen hatte, müſſen einige Tage vor der Baumreife, die sie durch Gelbwerden anzeigen, geflückt und an einem kühlen Orte für die Nachreife aufbewahrt werden. Das Sammeln des Herbstobſtes, das nur wenige Wochen liegen darf, beginnt Mitte September und dauert bis in den folgenden Monat hinein, während die Winterfrüchte selten vor Mitte Oktober gepflückt werden dürfen. Man erkennt die richtige Zeit hierfür daran, daß die Kerne braun werden und Veränderungen in der Beschaffenheit des Stieles vor sich gehen. Zu früh gepflücktes Obst wird welk und unansehnlich ; c3 bekommt nie einen vollkommen guten Geschmack. Wenn es irgend möglich ist , wählt man für die Arbeit der Obsternte gutes trockenes Wetter, damit die Früchte nicht zu naß in den Keller kommen. Während bei Pflaumen und Kirschen kaum Zweifel über die richtige Zeit der Ernte entstehen können , und besonders die Bauerpflaume durch längeres Hängen am Baume an Zuckergehalt ungemein gewinnt, müſſen Aprikosen einige Tage vor der völligen Reise gepflückt werden und Pfirsich bis zum Verbrauch am Baume bleiben. Den Fuß der Pfirsich- Spaliere und Bäume bedeckt man aus diesem Grunde gern mit langem Stroh oder ähnlichem Material , damit die etwa herabfallenden Früchte nicht Druckflecke bekommen. Mitten im Genuß darf man nicht vergessen, daß Arbeit die Quelle neuer Freuden ist. Vorbereitungen für Obstbaumpflanzungen sollten jezt getroffen werden, damit recht früh im Herbst, unmittelbar nach dem Laubfall, gepflanzt werden könne. Zum Rigolen ist der Monat September der beste, weil die Witterung in den meiſten Fällen mehr trocken als feucht ist und dieser Arbeit den Erfolg sichert. Die Auswahl der Sorten für die Beſtellung ist auch dem Nichtfachmann leicht , wenn er die Arbeiten des deutschen Pomologenvereins benügt. Man wähle zur Anpflanzung von Hochstämmen kräftige, eben fertig gebildete Exemplare, für Zwergobstbäumchen aber, die in regelmäßigen Formen gezogen werden sollen, einjährige Vered: lungen , aus denen mit größerer Sicherheit Vollkommenes in bezug auf Form und Tragfähigkeit erzielt werden kann , als aus älteren , schon in Baumschulen zu mehr oder weniger guten Formen gebildeten Exemplaren.
Ida Barber. Trachten der Zeit. Erdbeerpflanzungen werden mit dem besten Erfolg im September ausgeführt. Da sie nie älter als 4 Jahre werden dürfen, so kommt diese Arbeit auch in kleineren Gärten fast alle Jahre vor, oder sollte doch vorgenommen werden, damit man nicht in verhältnismäßig kurzen Zwischenräumen auf eine ganze Fruchternte verzichten muß. Erdbeeren verlangen frisches , 50 cm tief rigoltes, gut gedüngtes Land und auf Rabatten wenigstens ziem lich viel Raum. Ein Beet von 1,25 m Breite sollte drei Reihen enthalten, in denen die Pflanzen 50 cm voneinan der entfernt stehen. Dienen sie als Einfassungen, so genügt ein Zwischenraum von 35 cm. Beim Pflanzen achte man darauf, daß die Wurzeln ausgebreitet und nicht mit einem Pflanzholze in einen engen Raum zusam mengezwängt werden. Jm BlumenFig. 2. garten müssen die Beete zu den Zwiebelgewächsen gedüngt werden. Der zweite Satz der zum Treiben bestimmten Blumenzwiebeln wird in Töpfe mit halb Laub , halb Gartenerde ge= pflanzt , leicht angegossen und auf Rabatten mit Torfgrus oder Erde 15 cm hoch bedeckt, bis sie angewurzelt sind und in frostfreie Räume gebracht werden, aus denen sie jederzeit zum Treiben herausgenommen werden können. Einfassungen von Staudengewächsen, wie Omphalodes verna, Frühlingsphlore, Crucianella werden um und neu angelegt. Unter Stauden oder perennierenden Gewächsen versteht man solche Pflanzen, die den Winter hindurch im Freien ausdauern und im Frühjahr zu neuer Vegetation erwachen. Sie sind viel zu selten in Gärten kultiviert, weil sie so sehr bescheiden in ihren Ansprüchen sind und absolut keine Pflege erhalten, so daß sie unordentlich aussehen und im Kampfe mit stärkeren Pflanzen unterliegen. In geeigneten Arten ausgewählt, geschickt im Garten verteilt , sei es als Vorpflanzungen der Gehölzgruppen in loderen, unregelmäßigen Büschen, sei
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es in Zusammenstellungen mehr alpinen Charakters, zwischen Tuffsteinen und Felsstücken oder zu Füßen derartiger Gebilde, oder endlich auf Rabatten nach Höhe und Blütezeit geordnet, sind sie eine unerschöpfliche Quelle der Freude für den Blumenliebhaber, herrliches Material zu Blumensträußen gewährend. Sie gedeihen , wenn ihnen nur etwas Pflege und Aufmerksam feit zu teil wird. Alle drei bis vier Jahre sollten sie durch Um pflanzen, durch Zuführung von Dünger und guterErde neu Nahrung crhalten und verjüngt wer den. Die beste Zeit hiefür ist Ende Septem ber. Nach dem Verpflanzen werden fie durch Bedecken irgend mit welchem Abfall gegen Frostge: schaden schützt und durch sichtbare Zeichen, Stäbe oder große Namenhölzer vor unachtsamem Zerstö ren beim Reinigen des Gar Fig. 1. tens im Früh jahr bewahrt. Gelegentliches Gießen und Zusammenbinden der üppig sprossenden Stengel ist während des Sommers erforderlich. Der Schnee ist kaum entflohen, so drängen sich schon die ersten Blüten hervor ; im Sommer prangen Stauden der mannigfachsten Art in voller Pracht und im Herbst noch windet die Natur der scheidenden warmen Zeit den Ab= schiedskranz.
Trachten
der
Beit.
Herbftmoden. Von
da Barber.
Noch ist der Sommer in vollster Blüte und schon denkt man daran, Herbsttoiletten vorzubereiten ; in den größeren Modegeschäften wird eifrig gear: beitet, die Pariser Modelle sind längst eingetroffen, 89
Ida Barber.
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es gilt nun das für unsern Geschmack Passende herzustellen, und zwar möglichst kleidsam, einfach und praktisch. Das sind drei Worte inhalts schwer, die mancher Modistin was zu denken geben, indes wir wissen ja, die Guten sind nie um neue Einfälle verlegen, sie verstehen das, was sie als Neuheit ausgeben wollen , so warm zu empfehlen, wollen uns glauben machen, selbst wenn wir von etlichen unserer Erscheinung fehlenden Reizen mehr als überzeugt sind, daß wir in ihren Modellen reizend, verführerisch, bezaubernd ausschauen, und da wir denn doch einmal gewohnt sind, alles, was modern ist, für kleidsam zu halten, lassen wir uns doch die neuen Trachten gefallen, wenn schon nein, keine Entgegnung, kein Wenn und kein Aber, all unsere Einwendungen helfen uns ja nichts , es iſt eine alte Erfahrungssache, daß selbst die sonder
bordeaur-rotem Samt gefertigtes Hütchen, das seitwärts mit rosa Reiherfedern garniert ist. Fig. 2 stellt eine elegante Prinzeßrobe dar, die sehr kleidjam vorn mit 3 Spißenlagen gepust ist und sich in
Fig. 4.
Fig. 3. barsten, ja oft wahrhaft lächerlichen Moden Anerkennung und Nachahmung finden. Sehen wir heute von derartigen Moden ab, halten wir vielmehr ein wenig Rundschau , wie man sich, ohne auffallend Einer zu erscheinen, heute mit Geschmack kleidet. besonderen Beliebtheit erfreuen sich namentlich für Besuchs- und Gesellschaftstoiletten die aus Krepp oder Voile, auch leichtem Kaschmir gefertigten hellfarbigen Toiletten, die mit dunkleren Samt-Appli= tationen garniert werden. Fig. 1 zeigt uns eine derartige aus Rosa-Kaschmir gefertigte Robe , die mit bordeaux roten Samtblumen durchstickt ist. Den Rock garniert ein Plissee mit breiter, in Rosenfalten gelegter Rüsche, darüber breites, gesticktes, mit Spigen abgegrenztes Volant, oben mit Samtkopf; der Ueberwurf ist seitwärts gerafft, oben dicht gefaltet, rings herum mit kostbarer Stickerei ; dazu Schnebbentaille mit einem von Samtschleifen durchbrochenen Spizen-Jabot ; kurze Aermel, mit dunkler Samtrüsche abschließend. Den überaus geschmackvollen Anzug vervollständigt ein aus rosa Atlas und
dieser Form namentlich für korpulente Damen eignet. Zwischen den Spißen ist der Stoff in 5 oder 6 Längsfalten gelegt ; die Taille ist herzförmig offen, mit einem schwarzen Samtkragen abgegrenzt. Die Aermel bestehen aus 4 oder 5 übereinander gesetzten Spizenvolants, der Hut (Form Viktoria) gleichfalls aus Spigen und einer großen vom Stoff der Robe gefertigten Masche. Einfacher und mehr für kältere Tage geeignet ist die in Fig. 3 zur Abbildung gelangte Plaidder Mitte Robe , die durch namentlich ihres ori Stahl: schnallen ginellen Taillen geschlosse nen än : schlusses dern ge= wegen Bedeckt ist. achtung erLeichte farheischt. rierte Wir sehen da weder Plaid: stoffe, be: Knöpfe sonders in noch Haken , nur Schwarz einen ge= weiß, Graufalteten Lak , der Fig. 6. braun, von 3 in Blauschwarz und Schottisch werden als neu empfohlen ; ob sie sich wieder wie ehedem das Feld erobern werden ? Es herrscht eine so ausgesprochene Vorliebe für glatte Gewebe, daß selbst die viel kleid= sameren blumendurchwirkten Stoffe , die uns die Frühjahrs - Saison brachte, nicht zur Anerkennung
Trachten der Beit.
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fommen konnten. - Bemerkenswert ist, daß heuer und statt des sonst runden Randes eine eckige Form weniger als im Vorjahre die sog. Taillenkleider zu zeigt. Ungleich kleidsamer ist die direkt auf dem Besuchs- und Straßen-Toiletten getragen werden . Nur Haar aufliegende Form Eugenie (Fig. 9) , deren ganz jungen Mädchen mag es gestattet sein, ohne hochstehender Rand mit drei stark gekrausten StraußUmhang zu erscheinen, ältere Damen tragen zumeist federn diademartig geschmückt ist. leichte, mit Stickereien beseßte Mantelets oder aus Ganz abweichend von der seitherigen Mode ist Poult de Soie oder damasciertem Stoff gefertigte eine hinten mit hohem eckigem Kopf und gewölbtem Mantillen (Fig. 4), die Rand gearbeitete Façon fast durchweg mit Sticke Fatiniza (Fig. 10) ; fie reien gedeckt sind. Bei hat vorn einenseitwärts glattem Stoff verwendet schmalen, nach oben zu man Samt-Applikatio= handbreiten Samtbügel, der mit Blumen und nen, bei geblümten umrandet man die KonFedertouffs garniert wird. turen mit Perlen, Chenille oder Goldschnur. Ganz junge Damen tragen schmalköpfige, Die ganz aus Perlen hergestellten Taillenkramit breitem Aufschlag gen sind eine für junge umgebene Hüte (Fig. 11) ; zumeist verwendet Mädchen sehr kleidsame Tracht. Sie werden auf man gezogenen Taffet oder Atlas, um die aufSeiden-Filet gearbeitet, unten mit breiter Pergeschlagene Krempe zu Lenfranse, oben mit hochgarnieren ; eine breite abschattierte Strauß stehender Spißenrüsche und Schleife abgegrenzt. feder fällt seitwärts - Spizen-Fichus (Fig. fransenartig bis zur 5, 6, 7,) sieht man in Ohrmuschel herab. Bänder sieht man aufauffallend großen Forwenig zum fallend men. Fig. 5 zeigt einen breiten Leinwandfragen Schluß der Hüte vermit einer handbreiten wendet : selbst ältere angesetten Spize ; der Damen tragen mehr als Fig. 11. Fig 9. Fig 10. Fig. 8. Lah spist sich nach unehedem freistehende Forten zu und deckt fast men; auchdie nach Ausdie ganze Vordertaille. Fig. 6 ist eine an schmalem sage der Augenärzte entschieden nachteiligen schwarz Spiteneinsatz angereihte Spite, welche die Taille punktierten Schleier, deren man jahrelang kaum entraten zu können glaubte , glänzen durch ihre herzförmig offen läßt und rechts und links bis zur Achselnaht reicht ; venetianische und Guipure- Spiken Abwesenheit ; es wäre nur zu wünschen, daß diese werden vorzugsweise Sitte, unverschleiert zur Herstellung dieser zu gehen, auch für Garnituren verwenden Herbst beibehal det, während die vorn ten würde ; unsere Damenwelt wäre sich kreuzenden Fi chus Marie Antoiweit weniger von Schnupfen und den nette (Fig. 7) aus zwei auf einem drei- in seinem Gefolge eckigen Mulltuch auferscheinenden roten genähten MadeiraNasenspitzen , die Stickereien bestehen, manche Schönen in deren Löcher zumeist gelinde Verzweiflung mit farbigen Spin- bringen, geplagt. Der Schleier schadet ent= nen durchzogen sind. DieManschetten wer- schieden eher als er den zu allen derarnügt und ein zur tigen Garnituren Hälfte mit einem auf, nicht unter dem schwarzen TüllstreiFig. 7. getragen ; Aermel Fig. 5. fen umwundenes Geman schließt sie seit sicht schön zu finden, ist wirklich mehr, als man vom guten Geschmack wärts mit echten Knöpfen, auch wohl mit schmalen, verlangen darf. Eher noch gesteht man der Mode zum Kleide passenden Bandrosetten. wenn sie uns denn doch einmal mit TüllfabriAls neuester Herbsthut gilt ein ganz sonderbar kationen beglücken will das Recht zu, uns statt geformter, reich mit Bandschleifen und - Vogelleichen garnierter Kapottehut (Fig. 8), der vorn wohl der im Sommer allerdings oft recht lästigen Lederhandbreit von den unvermeidlichen Stirnlocken absteht handschuhe solche aus Tüll zu geben.
Küche und Haus.
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Wir erwähnen noch einen jezt viel getragenen modernen Handschuh aus Guipure-Tüll , der bis zum Ellbogengelenk reicht, oben mit breiter Spite abgegrenzt ist und nach dem Handgelenk zu in ent sprechenden Zwiſchenräumen je 3 oder 4 Spißeneinjähe zeigt. Für die neuesten und in gediegenster Weise ausgeführten Spißen-Konfektions ist uns jederzeit das sich eines Weltrufs erfreuende Brüsseler Haus Hanze-Dossaer , das jezt auch in Wien eine Filiale hat , maßgebend. Eine daselbst unlängst ausgestellte, für eine römische Patrizierin bestimmte Garnitur venetianischer Spizen (bekanntlich jezt die teuersten , aber auch die modernsten) erregte allgemeines Aufsehen ; für den Rockbesaß waren zwei verschieden breite Bordüren gefertigt , zum Taillenschmuck ein vorn ſpih zulaufendes Fichu und Aermelaufschläge. Diejenigen, die nicht in der Lage sind, Anschaffungen in echten Spißen zu machen, finden in der Imitationsware sehr hübsche und geschmackvolle Muster. Bevorzugt werden in diesem Genre Cluny und Guipure für Seidenstoffe, Valenciennes und Points de Saxe für waschbare Gewebe. — Eine neue, ſehr kleidſame Spiße nennt sich Points de nymphe ; sie ist aus schattierter Seide hergestellt und dürfte an Stelle der seither beliebten spanischen Blonde Verwendung finden.
Küche
und
Hau
September.
Jahreszeit des Eßbaren. Kalb und Hammelfleisch ist jetzt sehr fett. Die Jagd ist in ihrem ganzen Umfang eröffnet, und Schmaltiere, Hirschkälber, Hasen, von Wildge= flügel Auer , Birk , Fasanen-Hähne und Hennen stehen uns wieder zu Gebot ; desgleichen Rebhühner, Haselhühner , Wachteln , Lerchen und die Kramtsoder Zwiebelvögel , unter welchem Sammelnamen man die ganze Sippe der Drosseln und ſelbſt verschiedene Finkenarten begreift. Die sogenannten Kramtsvögel sind unſchmackhaft , solange ſie ſich von Insekten nähren , erst , wenn sie Beeren zu fressen beginnen , werden sie eine Delikatesse , was mit dem Eintritte des Herbstes der Fall ist. Fische wie im August ; auch Frösche und Schildkröten, Krebse nach neuester Erfahrung desgleichen; Eier sind von vorzüglicher Güte. Zu den Gemüſearten des vorigen Monats kommt noch junges (bayrisches) Kraut, welches mit einem jungen Hasen eine vortreffliche Saiſonſchüſſel abgibt. Das Obst bietet jest zahlreiche Spielarten von Aepfeln, Birnen und Pflaumen, auch späte Kirschen- und Apri kosensorten , ferner Pfirsiche , Weintrauben und Berberizen, Hagebutten u. ſ. w. Von neuen Dauerſpeiſen führen wir an : Waſſer-, Eſſig- und Senfgurken , grüne Maiskolben , die in Amerika allgemein als frisches Gemüſe verspeist werden und neue Heringe
Speisezettel für September. 1 ) Grünefernſuppe. Karpfen mit polnischer Sauce und Kartoffeln. Champignons mit gebackener Kalbsmilch. Haſenbraten mit Salat und Pflaumen. 2) Suppe mit Wurzelpüree. Gefüllte Rinder: zunge mit Kräuterſauce und Kartoffeln . Gedämpfte Hammelkeule auf engliſche Art mit verſchiedenen Gemüsen und Gurken. Zwetschenkuchen. 3) Blumenkohlsuppe. Barsch mit holländischer Sauce und Kartoffeln . Weißkohl mit Rauchfleisch. Wilde Tauben mit Salat und Quitten. 4) Suppe mit Kartoffelklößchen. Geschwungene Kalbsnieren mit gebratenen Kartoffeln und Gurken. Rinderkotelettes mit Teltower Rüben. Tutti frutti. 5) Legierte Graupensuppe. Aal in Aspic. Rosenkohl mit Saucischen. Hirſchfrikandeau mit Kartoffeln, Salat und Birnen. 6) Russische Suppe. Schüsselhecht. Kalbsrücken mit Kartoffelnudeln und Gurken. Wiener Rahmstrudel. 7) Suppe à la reine. Rinderbrust mit Tomatensauce und Kartoffeln . Schneidebohnen mit Hammelkotelettes . Rebhühner mit Salat und Jo= hannisbeeren. 8) Hamburger Aalſuppe. Rührei mit Schinken. Rinderfilet mit Gemüſen und Gurken. Pflaumentorte. 9) Suppe mit Markklößchen. Polnisches Szraszy mit Kartoffeln. Rotkohl mit Wurst. Gebratene Wachteln mit Salat und Birnen. 10) Suppe mit Eiergerste. Zander mit Champignonsauce. Schinken in Burgunder mit Makkaroni und Mired-Pickles . Schaum - Omelette. 11) Kräuterjuppe mit Parmeſan-Kroutons . Wild-Ragout. Blumenkohl mit Zunge. Birkhahn mit gebratenen Kartoffeln, Salat und Melone. 12) Suppe mit Lungenkrapfen. Forellen mit Kräutersauce und Kartoffeln. Kalbskeule mit gebackenem Reis und Krautsalat. Preißelbeerschnitten. 13) Mockturtle- Suppe. Schwarzwurzeln mit grilliertem Rindfleisch. Wildpastete. Beefsteaks mit Kartoffeln, Salat und sauern Kirschen. 14) Suppe mit Pilzen. Karpfen mit Rotweinsauce und Kartoffeln. Birnen, Klöße und Schinken. Hirschbraten mit Salat und Prünellen. 15) Pommersche Suppe. Rinderbrust mit Kapernsauce, Kartoffeln und Gurken . Lerchen mit gestovtem Kopfsalat. Pfirsicheis. 16) Suppe mit Püree von grünen Erbsen . Schleihen mit Petersiliensauce und Kartoffeln. Gefüllter Weißkohl mit Schinken. Haſenbraten mit Salat und Pflaumen. 17) Jägerſuppe. Gespickte Kalbskotelettes mit Trüffel-Ragout. Sauerbraten mit Kartoffeln und Gurkensalat. Ananas - Gelee. 18) Suppe mit Nudeln. Zander mit Bechamelsauce und Kartoffeln. Rosenkohl mit Zunge. Hammelfeule mit Salat und Maulbeeren . 19) Fischsuppe. Bratwurst in Rotwein und Kartoffeln. Krammetsvögel mit Salat und Johannisbeeren. Mehlspeise à la Figaro . 20) Hühnersuppe mit Klößchen . Mayonnaise von Lachs. Teltower Rüben mit Spickgans. Kalbsrücken mit Kartoffeln, Salat und Birnen.
Bwei physikalische Spielereien. 21 ) Französische Suppe. Frikassee von Kalbszungen. Rinderfilet à la jardinière mit Gurfen. Schlagsahne mit Pumpernickel. 22) Suppe mit Markklößchen. Gebackener Hecht mit Gurkensalat. Rotkohl mit Brisolets. Fasan mit Salat und Pfirsichen. 23) Herbstjuppe. Pillaw. Rehbraten mit Kartoffeln und Salat. Pflaumenspeise. 24) Suppe mit Einlauf. Fischpastetchen. Champignons mit Zunge. Schweinskeule mit Kartoffeln, Salat und Melone. 25) Suppe mit Graupen. Rinderschwänze mit pikanter Sauce und Kartoffeln. Gefüllter Kohlrabi mit gebackenem Kalbshirn. Rebhühner mit Salat und Quitten.
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26) Grünkernjuppe. Forellen mit Butter und Kartoffeln . Boeuf à la mode mit Makkaroni und Krautsalat. Dampfnudeln mit Vanillesauce. 27) Legierte Reissuppe. Bofesen von geräuchertem Lachs. Gebackener Blumenkohl mit Zunge. Gänsebraten mit Salat und Prünellen. 28) Flaumsuppe. Rinderbrust mit Champignonsauce und Kartoffeln. Artischocken mit geräuchertem Lachs. Kalbsfrikandeau mit Salat und Birnen. 29) Panadensuppe. Bleie in Biersauce mit Kartoffeln. Hammelkarree mit grünen Bohnen. Griespudding mit Himbeersauce. 30) Suppe mit Einlauf. Pastetchen von Ge flügel. Rosenkohl mit Saucischen. Hasenbraten mit Kartoffeln, Salat und Quitten.
Zwei physikalische Spielereien . war liegen die langen Winterabende noch in weiter Ferne, die 3so mancher Vater gern mit seinen heranwachsenden Söhnen nach all dem vielen Konjugieren und Deflinieren durch allerhand Kurzweil zu beleben sucht, dafür ist aber für die Jugend die goldene Zeit der Vakanz angebrochen , wo , abgesehen vom Botanisieren und Käfersammeln, noch genugsam Muße zu häus lichen Spielereien vorhanden. Untenstehende Juustrationen veranschaulichen zwei ebenso
bindet man nun unbemerkt von dem Zuschauer die an jenem befestigten Drähte miteinander, so wird der Motor durch den elektrischen Strom in Bewegung gesetzt, welchem die Fische folgen und daher wie lebend im Wasser umherschwimmen. Durch abwechselndes Leffnen und Schließen der Kette lassen sich recht amüsante Variationen der Bewegung erzielen.' Noch einfacher ist die Herstellung des primitiven, aber doch brauchbaren Mitrojtops. Es genügt, eine hohle Glaskugel mit
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DICTB interessante wie leicht auszuführende Erperimente, deren Erklärung bereits halb in den Abbildungen liegt. In der mit Wasser gefüllten Schale befinden sich zwei aus Eisenblech gefertigte Fischchen, in deren Innerem sich weiche Eisenstückchen befinden. Unter dem Glas ist ein elettro-magnetischer Motor angebracht. Ver-
Wasser zu füllen und das Beobachtungsobjekt auf die illustrativ angedeutete Weise so vor die Linse zu plazieren, daß letztere zwischen dem Auge und dem betreffenden Gegenstand zu stehen tommt. Dieser erscheint dann bedeutend vergrößert auf der ent gegengesetzten Seite der Kugel.
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Bum
Kopfzerbrechen.
Preisaufgabe. In dem Bestreben, den Freunden geistreicher und scharffinnweckender Unterhaltungen das Gelungenfte auf diesem Felde zu bieten, sehen wir uns veranlaßt, durch ein Preisausschreiben die wißigsten und besten Produkte ans Tageslicht zu ziehen, und ersuchen wir hiermit unsere geehrten Leser, sich durch Einsendung von Rätseln, Rebusen, Rösselsprüngen, Charaden u. f. w. an diesem Geißtesturnier zu beteiligen. Als Preise für die Sieger auf den einzelnen Gebieten sind ausgeseht : 1.Preis : Scherr, Germania, Fracht-A.; 2. - 3. Preis : je ein Exemplar ,,Kunst und Leben" , Band 1-3 ; 4. Preis : ,,5 Culturhistorische Stammbücher" ; 5. Freis : ,,Hellas und Rom" ; 6. Preis : Klein u. Thomé,,,Die Erde und ihr organisches Leben“ (2 Tle.) . Eine kompetente Jury wird die Prüfung und Buerkennung der Främien übernchmen. Die Redaktion behält sich vor, die besten der nicht prämiierten Aufgaben durch entsprechende Sonorierung für die Zeitschrift zu erwerben. AufRücksendung können wir uns unter keinen Umständen einlassen.
Rätsel. Die ersten und die letzten der Silben Zwei Elemente sind heterogen, Sind Freunde wie Feinde zugleich dem Menschen, Der sich bei beiden muß weislich vorsch'n. Auch die Vereinigung dieser Mächte Das Ganze gehört in die Kategorie Bon freundlicher Feindschaft und feindlicher Freundschaft Beherrsche es weise und beuge dich nie! Zusammenleg-Aufgabe. Untenstehende Figur soll durch andere Zusammenstellung der einzelnen Teile eine Form ergeben, die der eines Regenschirmes aus der Vogelperspektive betrachtet gleicht.
Rebus. π E
CON
VON
Logegryph. Schmucke Dinge, merk's, es sind, | Aus der Mitt', find's Reste noch, Etreichst ein Zeichen du geschwind Aber oft bewundert doch. Auflösungen zu Heft 11. Rebus: Bei jedemKauf heißt's : Augen auf ! Silbenrätfel: 1 ) Wer Lösung ra; 2) Jungfrau ; 3) Lüneburg ; 4) Himmel der blau ; 5) Ebers ; 6) Lieutenant; 7) Mer dina. Die Anfangs buchstaben ergeben : Zusammenleg-Aufgabe. Wilhelm, die Endbuchstaben : Augusta. Homonym: Sand. Charade: Beiſpiel. Silbenrätsel: Freigeist. Rätsel: Schatten. Logogryph: Pfeiler, Pfeile, Feile. ひ Röffelsprung : Denk im Leiden : das Leiden ist Mittel, sein Zwed ist Vollendung. Dent in Freuden : von besseren Freuden sind die nur Schatten. Dent' des Morgens und Abends : Es eilt mein Ziel zur Vollendung. Und beim Glockenschlag : ich Sterblicher bin auch unsterblich.
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Silbenrätsel. Aus folgenden 33 Silben sind 13 Worte zu bilden, welche von oben nach unten gelesen in den Anfangsbuchstaben einen bekannten Komponisten, in den Endbuchstaben sein neuestes Werk ergeben : abt, ad, am, ber, byl, ber, co, di, eck, gel, gau, ha, hel, jan, king, las, ler, li, le, mer, ne, nan, ni, ni, o, recht, ri, si, sor, son, ti, tag, u. 1) Eine Bezeichnung für den Pöbel ; 2) eine bekannte Stadt in Bayern ; 3) eine allgemeine Benennung des von Griechen bewohnten Gebietes ; 4) ein geistlicher Würdenträger ; 5) ein berühmter italienischer Sänger : 6 ) eine Hauptstadt in China ; 7) eine Vorrichtung zum Dämpfen der musikalischen Töne; 8) ein Fluß in Italien ; 9) eine geometrische Figur ; 10) cin Raubvogel; 11 ) cin Kanton in der Schweiz ; 12) eine weisjagende Frau ; 13) ein Tag der Woche.
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win.
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füllt
tor
Leid
wenn
dir.
schen,
Nene Bücher.
Ein moderner Tiermaler.
Neue Bücher. Schweden. Land und Volk. Schilderungen aus seiner Natur, seinem geistigen und wirtschaftlichen Leben von Egon Zöller. -- Lindau und Leipzig . Verlag von Wilhelm Ludwigs Buchhandlung. 1882. Der Inhalt des vorliegenden Buches iſt uns schon teilweise durch Publikation in der „ Allgemeinen Zeitung“ und der wiſſenſchaftlichen Beilage der „Karlsruher Zeitung“ bekannt geworden. Durch wesentliche Erweiterung ist das gesamte Material in zwölf Kapiteln zu einem handlichen Bande an= gewachsen und vereinigt worden , und bietet für jeden Interessenten, der sich über das soziale und geistige Leben des mit uns verwandten Volksstammes im Norden eingehend unterrichten will , ein wertvolles Studienwerk. Der Verfasser hat sich der Niederschrift seiner dankenswerten Beobachtungen und Erfahrungen von aller Schönfärberei frei gehalten. Er läßt Thatsachen und Zahlen in seinen Schilderungen für ſich reden , ohne dabei der feſſelnden Darstellung Abbruch zu thun. In richtiger Würdigung des Gegenstandes ist dem Volksschulwesen Schwedens und seinem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben ein größerer Raum gegönnt worden , als den übrigen Kapiteln , welche alle das ehrenvolle Bemühen verraten, nachzuweisen, daß das schwedische Volk, trop seiner selbständigen individuellen Entwicklung und der großen Verschieden heit in Sitten und Gebräuchen, welche teilweise durch klimatische Verhältnisse bedingt werden , in seinen nationalen Charaktereigentümlichkeiten die deutsche W. Abstammung nicht zu verleugnen vermag. Der Berliner Kongreß 1878. Sechsundzwanzig Studienköpfe nach dem Leben gezeichnet von Anton v. Werner , Direktor der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin. Verlag von Paul Bette, Berlin. Der Berliner Kongreß, dieser weltgeſchichtlichbedeutsame Moment , welcher im Jahre 1878 die Vertreter aller europäischen Mächte zur endgültigen Entscheidung brennender politischer Fragen zusammenführte, hat dem berühmten Künſtler Anton v . Werner Gelegenheit gegeben , sein eminentes Talent für geniale Auffassung und ſcharfe plaſtiſche Wiedergabe in sechsundzwanzig charakteriſtiſchen Portraitskizzen der erschienenen Diplomaten von Neuem zu be= kunden. Das Werk des Meisters hat bereits auch in weiteren Kreisen eine so beifällige Aufnahme gefunden, daß wir auf eine besondere Empfehlung verzichten können.
Sin moderner Tiermaler. Das Talent, wofern es mit der nötigen Thatkraft gepaart ist, kennt keine Schranken. Ein glänzendes Beispiel dieſes Erfahrungsſayes ist die Laufbahn des berühmten Tiermalers A. Braith. Alz Sohn eines armen schwäbischen Taglöhners hat ſich Braith mit unermüdlichem Eifer durch Ueberwindung der widrigsten äußeren Verhältnisse unerschrocken den Weg gebahnt , der ihn zu seiner jezigen Berühmtheit führen sollte. Jede Schöpfung
Ein erster Sieger 2c. 707
Braiths gibt Zeugnis von einer vollendeten Technik, feinen Beobachtungsgabe und frappierenden Realiſtik, und es gereicht uns zu ganz besonderer Freude, in wohlgelungenem Schnitt ein Gemälde dieses Meisters : " Brennender Stall " diesem Hefte einverleiben zu können.
Sin erster Sieger. Bei der Konkurrenz um das neu zu erbauende Reichstagsgebäude in Berlin ist Friedr. Thiersch, wie den Lesern aus den Tageblättern bekannt ge worden sein dürfte, erster Sieger geblieben. Es ist gewiß an dieser Stelle nicht uninteressant, darauf hinzuweisen, daß der geniale Architekt derselbe ist, welcher die Ornamente zu unserem Haupt- wie zum Sammlertitel gezeichnet hat , die ein Beweis seines feinen Formensinnes und seiner ungemein glücklichen Kompoſitionsgabe ſind . Schon im nächsten Heft werden wir in der angenehmen Lage sein, eine neue ornamentale Zeichnung Thierschs vorzuführen. Der Goldmacher Giovanno Graf von Cajetani. Die in dem Aufſaße Avé - Lallemants „ Der Goldmacher Giovanno Graf von Cajetani (Bd. II , Heft 5 ) nur halb gegebene Erklärung der Münzunterschrift: Kys Muntus - Fuld Tezyby - Ayvvk De - Allgemisdarum - bloena sund ---omnia Ohere Toezyphy a dur hat mehrere unserer geehrten Leser veranlaßt, der Sache nachzugehen, und geben wir nachstehend die Resultate ihrer Forschung. Hiernach wäre dies lateinische Kauderwelsch nicht aus Unwiſſenheit, welche Frage Avé-Lallemant offen läßt, gebraucht, sondern mit ganz bestimmter Absicht. In jener Zeit ängstlicher Diplomatie durfte Friedrich I. seinen zahlreichen Brüdern auf dem Throne schwerlich so unter die Nase reiben, daß sie geprellte Narren seien, wie dies in dem mundus vult decipi ergo decipiatur mit unverhohlener Schadenfreude geschieht. Ein solcher Unsinn, wie ihn die Medaille aufweist, war deutlich genug, um verstanden zu werden, und toll genug, um ihn jederzeit zu verleugnen . Auch wollte ohne Frage der Verfaſſer der Inſchrift die im Gewande formaler Wiſſenſchaft einherſtolzierende Unwiſſenheit und das geheimniskrämerische Gebahren der Goldmacher und Quacksalber perſiflieren. Die betreffende Münze ist eine Spottmünze und die Schrift auf der Aversseite enthält den bekannten Sah von der Welt, die betrogen sein will und da her betrogen werden muß. Wenn man die drei Wörter kys, ayvvk und ohcre umkehrt, wird die Sache klar: Syk mundus fuld tezyby kvvya de allgemisdarum bloena sund omnia ercho toezyphy a dur oder orthographisch richtig : Sic mundus vult decipi - et quia alchemistarum --- plena sunt omnia ergo decipiatur.
Ans Bairo. - Der gestirnte Himmel im Monat September.
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Kus Kairo.
E
Die erschütternden Ereig nisse in Egypten haben allgemein die Blicke auf das Land der Pharaonen ge= lenkt. Wenn bis jetzt vorzugsweise Alexandria im Mittelpunkte des Interesses stand, so dürfte mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch Kairo bald zum Schauplaz großer Aktionen werden. Mit Rücksicht darauf geben wir nebenstehend eine von dem bekannten Maler W. Gent entworfene Markt: szene aus Kairo, die sowohl stofflich als wegen ihres künstlerischen Wertes will: kommen sein wird.
Der geftirnte Simmel im Monat September.
WE Cour
Dieser Monat zeichnet sich besonders durch viele flare Nächte aus und eignet sich deshalb in hohem Grade dazu , die Sternbilder aufzusuchen und kennen zu lernen. Der Schwan steht jest schon westlich vom Scheitelpunkte und die Leier neigt sich tiefer , während das Sternbild der Krone im Nordwesten dem Untergange nahe ist. Tief am Horizont steht im Norden der große Bär und ebenso am Nordosthorizont der Fuhrmann mit der strahlenden Kapella. Die Kassio peia steht nun hoch am Himmel und auch Perseus ist gut sichtbar , darunter erblickt man die Gruppe der Plejaden. Im Often kommt das Sternbild des Walfisches über den Horizont. Im Süden steht der Wassermann, dessen Sterne sich doch wenig durch Helligkeit Am Westauszeichnen. himmel ist das Sternbild des Adler schon ziemlich tief und gegen Nordwesten neigen sich Herkules und Krone zum Untergange.
Verantwortl. Herausgeber : W. Spemann in Stuttgart. Redakteur : Joseph Kürschner ebenda. Nachdrud, auch im Einzelnen, wird strafrechtlich verfolgt. — Uebersehungsrecht vorbehalten. Drud von Gebrüder Kröner in Stuttgart.