Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus [um einen Nachtrag erweiterte Auflage] 9783486709261, 9783486592405

Reformpolitik deutscher Territorien zwischen 1740/48 und 1814/2

171 40 56MB

German Pages 200 [202] Year 2010

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Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus [um einen Nachtrag erweiterte Auflage]
 9783486709261, 9783486592405

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ENZYKLOPÄDIE DEUTSCHER GESCHICHTE BAND 23

ENZYKLOPÄDIE DEUTSCHER GESCHICHTE BAND 23 HERAUSGEGEBEN VON LOTHAR GALL IN VERBINDUNG MIT PETER BLICKLE ELISABETH FEHRENBACH JOHANNES FRIED KLAUS HILDEBRAND KARL HEINRICH KAUFHOLD HORST MÖLLER OTTO GERHARD OEXLE KLAUS TENFELDE

VOM AUFGEKLÄRTEN REFORMSTAAT ZUM BÜROKRATISCHEN STAATSABSOLUTISMUS VON WALTER DEMEL 2., um einen Nachtrag erweiterte Auflage

R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2010 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagentwurf: Dieter Vollendorf Umschlagabbildung: Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, Frontispiz, Berlin DHM Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Satz: Schmucker-digital, Feldkirchen b. München Druck und Bindung: buchbücher.de gmbh, Birkach ISBN 978-3-486-59240-5

Vorwort Die "Enzyklopadie deutscher Geschichte" soli fUr die Benutzer Fachhistoriker, Studenten, Geschichtslehrer, Vertreter benachbarter Disziplinen und interessierte Laien - ein Arbeitsinstrument sein, mit dessen Hilfe sie sich rasch und zuverJassig iiber den gegenwartigen Stand unserer Kenntnisse und der Forschung in den verschiedenen Bereichen der deutschen Geschichte informieren konnen. Geschichte wird dabei in einem umfassenden Sinne verstanden : Der Geschichte der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Staates in seinen inneren und a.uJ3eren Verhaltnissen wird ebenso ein groJ3es Gewicht beigemessen wie der Geschichte der Religion und der Kirche, der Kultur, der Lebenswelten und der Mentalitaten. Dieses umfassende Verstandnis von Geschichte muJ3 immer wieder Prozesse und Tendenzen einbeziehen, die sakularer Natur sind, nationale und einzelstaatliche Grenzen iibergreifen. Ihm entspricht eine eher pragmatische Bestimmung des Begriffs "deutsche Geschichte". Sie orientiert sich sehr bewuJ3t an der jeweiligen zeitgenossischen Auffassung und Definition des Begriffs und sucht ihn von daher zugleich von programmatischen Riickprojektionen zu entlasten, die seine Verwendung in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer wieder begleiteten. Was damit an Unscharfen und Problemen, vor allem hinsichtlich des diachronen Vergleichs, verbunden ist, steht in keinem Verhaltnis zu den Schwierigkeiten, die sich bei dem Versuch einer zeitiibergreifenden Festlegung ergaben, die stets nur mehr oder weniger willkiirlicher Art sein konnte. Das heiJ3t freilich nicht, daJ3 der Begriff "deutsche Geschichte" unreflektiert gebraucht werden kann. Eine der Aufgaben der einzelnen Bande ist es vielmehr, den Bereich der Darstellung auch geographisch jeweils genau zu bestimmen. Das Gesamtwerk wird am Ende rund hundert Bande umfassen. Sie folgen alle einem gleichen Gliederungsschema und sind mit Blick auf die Konzeption der Reihe und die Bediirfnisse des Benutzers in ihrem Umfang jeweils streng begrenzt. Das zwingt vor all em im darstellenden Teil, der den heutigen Stand unserer Kenntnisse auf knappstem Raum zusammenfaJ3t - ihm schlieJ3en sich die Darlegung und Erorterung der Forschungssituation und eine entspre-

VI

Vorwort

chend gegliederte Auswahlbibliographie an -, zu starker Konzentration und zur Beschriinkung auf die zentralen Vorgiinge und Entwicklungen. Besonderes Gewicht ist daneben, unter Betonung des systematischen Zusammenhangs, auf die Abstimmung der einzelnen Biinde untereinander, in sachlicher Hinsicht, aber auch im Hinblick auf die iibergreifenden Fragestellungen, gelegt worden. Aus dem Gesamtwerk lassen sich so auch immer einzelne, den jeweiligen Benutzer besonders interessierende Serien zusammenstellen. Ungeachtet dessen aber bildet jeder Band eine in sich abgeschlossene Einheit - unter der personlichen Verantwortung des Autors und in volliger Eigenstiindigkeit gegeniiber den benachbarten und verwandten Biinden, auch was den Zeitpunkt des Erscheinens angeht. Lothar Gall

Inhalt Vorwort des Verfassers

I.

IX

Enzyklopiidischer Uberblick . 1. Reformen des absolutistischen Staates im Zeitalter der Aufklarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 AlIgemeine Bedingungen und Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die einzelnen Reformma13nahmen . . . . . . 1.3 Die Grenzen des Aufgeklarten Absolutismus 2. Die sog. Deutsche Reformzeit (1797 / 1803-1814/ 21). 2.1 Reformziele vor dem Hintergrund machtpolitischer und territorialer Veranderungen 2.2 Die einzelnen Reformbereiche . . . . .

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung 1. Kontinuitaten und Diskontinuitaten des Reformprozesses zwischen 1740/ 48 und 1814121

I 8 29 31

31 41 57 57

2. Der Aufgeklarte Absolutismus . . . . . . 2.1 Historische Einheit im Widerspruch ? 2.2 Der "Modellfall Preu13en " . . . . . . 2.3 "Theresianisch-josephinische Reformen" bzw. "Josephinismus" . . . . . . . . .. . . . . . . .

61 61 73

3. Die Deutsche Reformzeit . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zwischen nationaler Sichtweise und Modernisierungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Wege und Zie1e der Rheinbundreformen . . . . 3.3 Die Stein-Hardenbergschen Reformen . . . . . 3.4 Der Vergleich der Reformen - Forschungsbilanz zur Deutschen Reformzeit . . . . . . . . . . . ..

93

4. Die deutsche Entwicklung vom aufgeklarten Reformstaat zum biirokratischen Staatsabsolutismus im europaischen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . .

83

93 105 112 124

128

VIII

Inhalt

5. Die Erforschung von Aufgeklärtem Absolutismus/Reformabsolutismus und Deutscher Reformzeit 1993–2008. Nachtrag zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.1 Diskussionen und Forschungen zum ausgehenden Ancien Régime im Reich. . . . . . . . . . . . . . 129 5.2 Revolutionärer Umbruch und Reformen im Lichte der neuesten Forschung . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

2. Epochenübergreifende Darstellungen . . . . . . . . . . .

143

3. Aufgeklärter Absolutismus. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Theoretische Diskussion; Aufgeklärter Absolutismus in mittleren und kleineren Territorien . . . . 3.2 Das friderizianische Preußen. . . . . . . . . . . . 3.3 Reformen unter Maria Theresia und Joseph II.. .

148 148 150 152

4. Deutsche Reformzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Französische Einflüsse, Säkularisation, Deutsche Reformzeit, Befreiungskriege; Allgemeines (1793–1821) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Linksrheinische Gebiete und Einflüsse der Französischen Revolution auf Deutschland. . . . 4.3 (Spätere) Rheinbundstaaten. . . . . . . . . . . . 4.4 Preußische Reformen . . . . . . . . . . . . . . .

156 157 160

5. Nachtrag 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Epochenübergreifende Darstellungen . . . . . . . 5.3 Aufgeklärter Absolutismus/Reformabsolutismus 5.4 Deutsche Reformzeit . . . . . . . . . . . . . . .

163 163 163 166 170

Register . . 1. Personen . 2. Orte . . . . 3. Sachen . .

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Themen und Autoren

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Vorwort des Verfassers Dieses Buch handelt von der Innen-, speziell der Reformpolitik deutscher Territorien zwischen 1740 / 48 und 1814121. Es beinhaltet also keine Epochendarstellung, sondern konzentriert sich auf die Tatigkeit reformerischer Fiirsten und Biirokraten. Nicht, daB der Vf. davon ausgehen wiirde, daB das staatliche Handeln mehr oder minder ausschlieBlich alle Lebensbereiche prage. Doch ist er immerhin der Auffassung, daB dies speziell zu Beginn des 19. lahrhunderts in einem sehr hohen MaB der Fall war. Im ubrigen war es lediglich seine Aufgabe, den Sektor "Politik, Staat, Verfassung" darzustellen - eine vergleichsweise traditionelle Aufgabe, gewiB, indes auch eine ebenso reizvolle wie schwierige, da die Politik eben in die unterschiedlichsten Bereiche (z. B. Wirtschaft, Religion, Gesellschaft) hineinwirkte und umgekehrt auf sie reagierte: Man denke nur an die Wirtschaftspolitik, ludenpolitik etc.! Diese Interdependenz konnte ebensowenig vertieft behandelt werden wie die kontrovers diskutierten politischen Ideen bedeutender Einzelpersonl ichkeiten oder der auBenpo1itische Kontext, auch wenn sie Reformma13nahmen motivierten. Wed er konnten in die Literaturliste alle Titel aufgenommen werden , deren Ergebnisse in den Darstellungsteil einget10ssen sind, noch konnten im Forschungsteil altere Werke bzw. Forschungskontroversen ausreichend beriicksichtigt werden. Diese und andere Defizite, infolge des vorgegebenen Manuskriptumfangs unvermeidbar, sind dem Vf. selbst schmerzlich bewuBt. Wenigstens in einem Punkt aber sollte ein Akzent gesetzt werden. Diirfen die Einseitigkeiten einer deutsch- (bzw. franzosisch-) nationalen Perspektive heute als ein uberwundenes Problem der alteren Historiographie zur Reformzeit gelten (s. S. 93), so scheinen fUr die gesamte hier beha ndelte Epoche kleindeutsche Traditionen einerseits und ein gewisser Austriazismus andererseits manchmal merkwurdig in die gleiche Richtung zu wirken : Da wird selbst in neuester Darstellung "deutscher" Geschichte Osterreich beinahe vergessen, oder ab er man unterscheidet etwa zwischen "deutschen" und " osterreichischen" lansenisten, lakobinern, Schulreformern

x

Vorwort des Verfassers

usw. Der " Deutsche Dualismus" kann einen Autor ab er auch dazu verfilhren, das "Dritte Deutschland", soweit es ilberhaupt Erwiihnung findet, lediglich unter der Uberschrift " fritzisch oder theresianisch" abzuhandeln. Schon filr die Zeit des sog. Aufgekliirten Absolutismus, erst recht aber filr die "Deutsche Reformzeit" erscheint es dem Vf. unangemessen , die Reformanstrengungen der kleineren und mittleren Territorien als bloBe Randerscheinungen aus dem Bereich eines entwed er einheitlich gedachten oder teils nach Berlin, teils nach Wien orientierten "Dritten Deutschland" zu verstehen . So findet im vorliegenden Band die historiographische Tradition zwar im Aufba u des Forschungsteils ih.ren Niederschlag, der Darstellungsteil jedoch gliedert sich nicht nach Territorien, sondern nach Sachgebieten der Reformtiitigkeit. DaB dabei im Einzelfall das eine oder andere Territorium in den Vordergrund tritt, ist ebenso naheliegend, wie daB dies nicht immer PreuBen sein muB . So sind die folgenden Ausfilhrungen als ein Versuch zu verstehen, trotz sehr ungleicher Vorgaben der Forschung ein Kapitel "deutscher" Geschichte zu schreiben, das die Vielfalt der Verhiiltnisse und Entwicklungen ebenso aufzeigt wie gewisse gemeinsame Strukturen und Tendenzen . Dabei hat der Autor filr vielfiiltige Hilfe zu danken. Sein Dank gilt seinen ehemaligen akademischen Lehrern Prof. Dr. Eberhard Weis und Prof. Dr. Ludwig Hammermayer, die Teile des Manuskripts gelesen haben, sowie seinen langjiihrigen Freunden und Mitarbeitern Bettina Rettner, Dr. Uwe Puschner und Axel Schreiber M. A. filr ihre konstruktive Kritik und ihre auBerordentliche Einsatzfreude bei der Suche und Zusammenstellung der Literatur. Zu danken hat er auch Frau Prof. Dr. Elisabeth Fehrenbach und Herrn Dr. Adolf Dieckmann filr ihre sachdienliche Beratung und ihre hilfreichen Formulierungs- und Kilrzungsvorschliige. Schliel3lich und vor all em aber mochte er sich bedanken bei seiner lieben Jutta und seinen Kindern Cornelia und Michael filr ein glilckliches Familienleben, das den Arbeitsrhythmus zwar immer wieder unterbrochen, aber gleichzeitig stets motivierend begleitet hat. Milnchen, den 15. 2. 1992

Waiter Demel

Vorwort zur 2. Auflage Als die Literatursuche für die 1. Auflage abgeschlossen wurde, lag die deutsche Einigung noch keine anderthalb Jahre zurück. Landesgeschichte, jedenfalls nichtpreußische Landesgeschichte, war nie eine bevorzugtes Untersuchungsfeld der DDR-Historiographie gewesen. Wenn ich im früheren Vorwort das Vorhandensein „sehr ungleicher Vorgaben der Forschung“ beklagte, so vor allem deshalb, weil damals zur innenpolitischen Entwicklung selbst größerer Territorien wie Mecklenburg-Schwerin oder Kursachsen praktisch kein moderner Forschungsstand existierte. Das war besonders misslich, da die Jahre 1740/48−1814/21 einen Zeitraum markieren, in dem aus Reichsterritorien souveräne Staaten wurden. Innenpolitisch ging damals jeder im Alten Reich mehr oder minder seinen eigenen Weg (Reichsreformbestrebungen werden hier ohnehin nicht thematisiert), und auch der Rheinbund als 1806 neugeschaffene Dachorganisation für letztlich fast alle Gebiete des „Dritten Deutschland“ verhinderte nicht, dass die Reformintensität in den verschiedenen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ausgeprägt blieb. Nunmehr ermöglicht es indes eine breitere landesgeschichtliche Forschung, wie sie inzwischen auch in den östlichen Bundesländern eingesetzt hat, auf einer einigermaßen sinnvollen Basis neue Vergleiche anzustellen. Darüber hinaus regten die Gedenk- bzw. Jubiläumsfeiern in den Jahren 2003 bzw. 2006 (Säkularisation, Mediatisierung, Reichsende) zu Forschungen an, die sich u. a. in zahlreichen Sammelbänden niederschlugen. München, den 16.10.2009

Walter Demel

I. Enzyklopadischer Dberblick 1. Reformen des absolutistischen Staates im Zeitalter der AufkHirung I. J A llgemeine Bedingungen und Entwicklungstendenzen Gleichgiiltig, welche Bezeichnung man zur Charakterisierung der Zeit zwischen 1740 und 1790/ 1800 verwendet - etwa: Zeitalter der Aufkliirung, des Aufgekliirten Absolutismus oder des Reformabsolutismus -, immer wird man sich sowohl iiber die Problematik der zeitlichen Abgrenzung als auch iiber die Relativitiit bzw. Unschiirfe dieser Begriffe im klaren sein miissen. Es kann sich nur darum handeln, durch eine entsprechende Benennung dominante Strukturen bzw. Entwicklungstendenzen zu kennzeichnen . Aber "die" Aufkliirung verbreitete sich in verschiedenen Regionen und bei verschiedenen Schichten in unterschiedlicher Stiirke. Keineswegs alle Territorien des Reiches waren auch nur in eingeschriinktem Sinne "absolutistisch", und nicht alle fUhrten in der hier betrachteten Epoche nennenswerte "Reformen" durch, wenn man hiermit die damals aufkommende Bedeutung von zukunftsorientierten Mal3nahmen verbinden will. Im Reich war die absolutistische Staatsform eine notwendige, wenngleich natiirlich nicht hinreichende Bedingung fUr derartige Neuerungen. Versteht man unter "Absolutismus" verfassungsrechtlich die auf Kosten stiindischer Mitsprache zumindest weitgehend erfolgte Durchsetzung landesherrlicher Gewalt wenigstens auf der zentralstaatlichen Ebene, so zeigt sich niimlich, dal3 innerhalb des weiten Spektrums, das am Ende des 18.1ahrhunderts von stiindisch dominierten Territorien wie Mecklenburg bis zu absolutistisch regierten Territorialstaaten ohne stiindische Organisation wie Baden oder Kurpfalz reichte, die ersteren sich als strukturell unfiihig zu einschneidenden Veriinderungen erwiesen. Auch die geistlichen Territorien waren infolge der zumeist stark en Stellung ihrer von altadeligen Fam ilien beherrschten Domkapitel nur fur bestimmte Reformen, namentlich in den Bereichen Bildungswesen und Armenpflege, priidestiniert. Dasselbe gilt fUr die Masse der weltlichen

D as Verhiiltnis vo n Absoluti smus und Reform

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Die Reformen ein Produkt der Aufkiarung?

a) inten sivierung rationalisti scher Tendenzen

I. Enzyklopadischer Uberblick

DuodezfUrstentiimer, in denen oftmals noch patriarchalische Herrschaftsstrukturen vorherrschten, sowie fUr zahlreiche Reichsstiidte, in denen eine Ratsoligarchie - selbst bei mitunter prosperierender Wirtschaft (Augsburg) - angesichts maroder Stadtfinanzen und wachsender sozialer Spannungen Veriinderungen grundsiitzlich ablehnte. Nur in einem Sonderfall wie Hamburg vermochte hier ein eigenstiindiges, politisch mitverantwortliches und 6konomisch potentes Biirgertum, vor all em in Form privater Initiativen, die Entwicklung der Aufkliirung in Richtung auf eine umfassende Reformbewegung voranzutreiben. Hierbei ist zu beriicksichtigen, daB die Handelsstadt an der Elbe vom Siebenjiihrigen Krieg profitierte, der andere Gebiete schwer schiidigte. Eine ruinierte Wirtschaft oder ein unmittelbar drohender Staatsbankrott wie in Kursachsen gab andererseits oft den AnstoB zu ReformmaBnahmen von staatlicher Seite. "Schleichende" Krisenerscheinungen wie die Verarmung breiter Schichten infolge eines rapiden Bev61kerungswachstums ohne entsprechende Produktionsfortschritte oder ein wachsender volkswirtschaftlicher Riickstand gegeniiber N achbarterritorien bzw. fremden Staaten (England) konnten ebenfalls in diese Richtung wirken. Die Reformen wurden jedoch in der Regel auch von - in umfassendem Sinne - "aufkliirerischem" Gedankengut beeinfluBt, vom Streben nach Vernunft, Bildung und Humanitiit, allgemeiner: vom Bemiihen urn die diesseitige " Gliickseligkeit" der Untertanen, welche mit dem Wohl des Staates identifiziert wurde. Solange sich niimlich "Aufkliirung" im politischen Bereich als eine besondere, intensive Auspriigung des langfristigen "neuzeitlichen" Rationalisierungsprozesses, mithin als Beitrag zur "Staatsbildung" darstellte - wie dies iiberwiegend bis in die I 770er lahre hinein geschah - , geriet sie mit der "Staatsriison" nicht in Konflikt. Verniinftige Ordnung, Ubersichtlichkeit, Effizienz und Berechenbarkeit soli ten demnach Staatsverwaltung und J ustiz kennzeichnen ; Zentralisierung und Hierarchisierung, Simplizifizierung und Kodifizierung dienten diesem Ziel. Ein modernes, rationales Verstiindnis von der Rolle des Staatsoberhauptes verlieh diesem eine neue Legitimation. Im hOfischen Absolutismus hatte sich der Monarch "von Gottes Gnaden" vor der Offentlichkeit des Hofes und gelegentlich auch vor seinen iibrigen Untertanen geradezu zelebriert, die "Repraesentatio Maiestatis" mit aufwendigen Jagden und glanzvollen Festen hatte seine Zeit mindestens ebensosehr in Anspruch genommen wie die Erledigung

I. Reformen im Zeita lter der Aufklarung

3

der Regierungsgeschafte. Derartige Fiirsten gab es auch noch in der zweiten Halfte des 18.1ahrhunderts, wie den Wittelsbacher Clemens August (1700-1761), der zwischen 1719 und 1732 Bischofbzw. Erzbischof von Paderborn, Munster, Koln, Hildesheim und Osnabriick sowie Hochmeister geworden war. Der neue Herrschertypus des aufgeklart-absolutistischen Fiirsten zeichnete sich jedoch durch einen relativ einfachen Lebensstil , Sparsamkeit, Flei13 und ein hohes Ma13 an Pflichtgefiihl gegenuber seinem Staat aus, dessen Interessen - auch vermogensrechtlicher Art - er von denjenigen seiner D ynastie zu unterscheiden wu13te. Sein Bestreben, selbst zu herrschen, verfiihrte ihn allerdings oft zu Mi13trauen gegenuber seinen Bea mten sowie zu einer standigen Bevormundung seiner Untertanen durch eine Uberfiille an Verordnungen und Verfiigungen . Hierdurch kam aber nur zum Ausdruck, da13 sich dieser Furst idealiter als " erster Diener" (Friedrich 11.) bzw. " erster Beamter" (Joseph IT .) des Staates empfand. In dies er Form stellte er sich mitunter sogar dem literarischen Publikum dar, das die traditionelle Herrschaftsbegrundung immer weniger akzeptierte. Wie sich in der Realitat jedoch altere, christlich gepragte Herrschaftsauffassungen oft mit den neueren, naturrechtlichen Lehren vom Gesellschaftsvertrag vermengten , so verbanden sich auch religiose mit aufklarerischen, nicht zuletzt rationalistischen Reformmotiven. Rationalisiert wurden Verwaltung und Heer in Preu13en schon von dem pietistisch beeinflu13ten Friedrich Wilhelm I. Pietistische und aufklarerische Elemente durchdrangen sich in den Reformvorschlagen des wiirttembergischen Landschaftskonsulenten 10hann lacob Moser ebenso wie in den Projekten der sachsischen Reformer, reformkatholische und staatsutilitaristische Zielsetzungen flossen im Werk des religios, aber nicht kirchenfromm gesinnten 10seph II. zusammen. Wenn die Aufbebung der Leibeigenschaft in Baden (1783) von den Intentionen des Herrschers her gesehen weniger ein Produkt aufgeklarten Denkens als das Ergebnis des christlich-patriarchalischen Amtsverstandnisses von Markgraf Karl Friedrich war, so beweist dies nur, da13 nicht alle Ma13nahmen, die schon von den Zeitgenossen als " aufgeklarte Reformen " geruhmt wurden, in erster Linie auf eine freiheitliche bzw. rechtsstaatliche Neuordnung der Verhaltnisse oder gar auf den sozialen Aufstieg bisher minderprivilegierter Schichten zielten - auch wenn sie sich in der Praxis in dieser Richtung auswirken sollten. Schlie13lich umschlie13t der Begriff "Aufklarung" auch einen Emanzipationsproze13, der geistig von den traditionellen , insbeson-

b) Von der F6rd e· run g zur Ablehnun g emanzipatorischer Tendenzen

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c) partielle Verwirklichung humanitarer Ideale

I. Enzyklopiidischer Oberblick

dere kirchlichen Doktrinen, gesellschaftlich von standischen Strukturen wegflihrte. Wo die Einschrankung kirchlicher und standischer Machtpositionen auf gesamtstaatlicher bzw. provinzialer Ebene und deren Kontrolle im lokalen Bereich noch ein Anliegen des Landesherrn sein mul3te - wie etwa bei Joseph II. -, erfreute sich in diesem Sinne "aufklarerisches" Schrifttum der Sympathie staatlicher Behorden. Die staatliche Forderung der Jugenderziehung, laut der Praambel der osterreichischen Schulordnung von 1774 "die wichtigste Grundlage der wahren Gliickseligkeit der Nationen" , mul3te langfristig ebenfalls das Selbstbewu13tsein breiter Schichten stark en. Da sich jedoch seit den I 770er Jahren abzuzeichnen begann, durch die Franzosische Revolution und die durch sie ausgeloste Politisierung breiterer Schichten ab er endgiiltig deutlich wurde, dal3 diese Emanzipation nicht nur " feudale " Privilegien oder einzelne politische Mil3stiinde, sondern sogar die absolutistische Staatsstruktur selbst in Frage stellen konnte, vollzogen zwischen 1785 und 1793 selbst bislang sehr reformfreudige Fiirsten eine politische Kehrtwendung. Vor allem die Aufdeckung des konspirativen, im Kern radikal-emanzipatorischen IIIuminatenbundes (1784/ 86) trug nicht nur in Bayern, sondern etwa auch in der Habsburgermonarchie zu dieser Entwicklung bei. Wurde nichtsdestoweniger die Emanzipation speziell bildungsbiirgerlicher Kreise durch den Aufgeklarten Absolutismus in begrenztem Mal3e gefordert, so wurden auch die humanitaren Anliegen der Aufklarung partiell verwirklicht, so weit namlich , wie dies mit dem Ziel staatlicher Machtentfaltung vereinbar schien. Insofern gelangten sie in einem Kleinstaat wie im Sachsen- Weimar Carl Augusts zumeist eher zum Tragen als etwa im Preul3en Friedrichs II. , der seinem Staat eine Grol3machtrolle zu erringen gedachte. Da der Konig beispielsweise glaubte, sein Heer nur dann schlagkraftig erhalten zu konnen, wenn die Soldaten ihre Offiziere mehr fiirchteten als den Feind, konnte bei ihm von einer Humanisierung des Militiirstrafrechts nicht die Rede sein. Joseph H. , ebensooft charakterisiert als traditionsfeindlicher, biirokratischer Despot wie als sozial engagierter und toleranter Menschenfreund, war tatsachlich wohl beides zugleich. Im Konfliktfall jedoch erwies sich das Machtstaatsinteresse eines Fiirsten gegeniiber seiner aufgeklart-humanitaren Gesinnung regelma13ig als vorra ngig. Insofern wird man den "Aufgeklarten Absolutismus" als einen Absolutismus mit zum Teil aufklarerisch motivierten Reformimpulsen bezeichnen konnen, genauer gesagt als jene Form, in der aufkla-

I. Reformen im Zeita lter der Aufkliirung

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rerische Ideen in das Verstandnis der Herrschergewalt und in die reformerische Regierungspraxis einflossen, ohne jedoch den Rahmen der politischen und sozialen Ordnung sprengen zu konnen - und in der Regel auch, ohne dies, den Intentionen der aufgeklarten Fiirsten zufolge, tun zu sollen. Dabei spielten in den meisten Territorialstaaten vier Faktoren bei der Durchsetzung von Neuerungen im Bereich von Politik, Staat und Verfassung eine Rolle : der Landesherr, seine Beamtenschaft, die Stande sowie die Masse der Nichtprivilegierten. Veranderungen gegen den Willen des Landesherrn durchzusetzen , war generell unmoglich. Eine andere Frage war, ob der Fiirst - zusammen mit einigen seiner engsten Mitarbeiter - eine treibende Kraft im Reformproze13 darstellte. Dies gait, zumindest bei einem Gro13teil der dann tatsachlich durchgefUhrten Reformen , z. B. fUr Friedrich 11. von Preu13en ebenso wie seinen Namensvetter aus Hessen-Kassel, fUr Joseph 11. wie auch fUr den Wiirzburger und Bamberger Fiirstbischof Franz Ludwig von Erthal. Dagegen engagierten sich andere nur fUr bestimmte Vorha ben - etwa Karl Friedrich von Baden fUr einzelne Rechtsverbesserungen sowie fUr seine (Ietztlich gescheiterten) physiokratischen Projekte - od er lie13en ihre reformfreudigen Spitzenbeamten einfach gewahren, wie dies KurfUrst Max Friedrich in Koln und Miinster gegeniiber den Ministern Belderbusch bzw. Fiirstenberg tat. Als treibende Kraft wirkte hingegen eine schmale, sich jedoch mittel s Logen , LesegeseIlschaften etc. und Publikationen verschiedener Art zunehmend organisierende aufgeklarte "Offentlichkeit". Die staatliche Biirokratie - insbesondere in ihrer Spitze oft in erheblichem Umfang aus aufgeklarten adeligen und biirgerlichen Beamten zu sammengesetzt und durch "ClearingsteIlen " wie die Berliner Mittwochsgesellschaft mit dem Publikum verbunden - sorgte teilweise fUr die unmittelbare Umsetzung ihrer Wiinsche, war aber in jedem Falle mehr als ein blo13es Instrument in der Hand des Fiirsten. Al s Element der Kontinuitat bei einem Herrscherwechsel und angesichts zunehmend komplexer werdender - und dam it eine hohere Qualifikation erfordernder - Staatsaufgaben fUhlte sie sich namlich in wachsendem MaJ3e weniger als ein Teil der Dienerschaft eines bestimmten Landesherrn oder einer Dynastie als vielmehr als eigenstandige Sachwalterin des "Gemeinwohls". Ohne Manner wie Gerard van Swieten und Sonnenfels in Osterreich, Fritsch und Gutschmid in Kursachsen oder Reinhard und Schlettwein in Baden waren die dortigen Reformen nicht denkbar gewesen. Manche Fiirsten

Die Fa ktoren der Modernisierungspolitik:

a) der Landesherr

b) " Offentlichkeit" und Biirokratie

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cl die Stiinde

I. En zyklopadischer Dberblick

befanden sich regelma13ig au13er Landes, widmeten sich gro13enteils ihren personlichen Launen oder lebten ihrem Mazenatentum (z. B. Friedrich August von Oldenburg, Kurfiirst Karl Theodor), wodurch sie z. T. die Entstehung neuer kultureller Zentren wie Mannheim od er Weimar ermoglichten. Dann war es ihre Biirokratie, die kleinere Verbesserungen ermoglichte, zumindest aber die Kontinuitat der Verwaltungsarbeit garantierte - manchmal eher schlecht als recht, wie in der Kurpfalz, wo die Kauflichkeit und Quasi-Erblichkeit der Amter nicht beseitigt wurden, mitunter aber auch auf hohem Niveau wie in Pfalz-Zweibriicken. Umgekehrt jedoch konnten Teile der Beamtenschaft - gerade auch der lokalen Amtstrager von oben angeordnete Ma13nahmen mit Erfolg boykottieren, wie insbesondere das Schicksal zahlreicher agrarpolitischer Verordnungen beweist. Eine stark standische bzw. quasistandische Pragung der Beamtenschaft, wie in Wiirttemberg oder Hannover, desgleichen eine starke Stellung der Landstande erwies sich dabei generell als nicht fOrderlich fiir Reformen. Ein wiirttembergischer Standevertreter soil seinem Herzog wiederholt gesagt haben : "Ihro Durchl[auchtJ! nuh nex nuis" - nur nichts Neues! Traditionalismus und Sicherheitsdenken, vor allem aber die S~rge urn den Erhalt der eigenen Privilegien setzten den Veranderungsmoglichkeiten also einen engen Rahmen . Ihn zu sprengen, die Landesverfassung im (voll-)absolutistischen Sinne zu andern , war den Fiirsten in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr moglich , wenn sie sich zu einem solchen Schritt iiberhaupt legitimiert fiihlten: Die Reichsgerichtsbarkeit schiitzte die Landesverfassungen, und wo Landstande den Proze13weg beschritten oder mit diesem Schritt drohten , mu13ten die Landesherren letztlich die standische Rechtsposition akzeptieren, so in Mecklenburg 1755, in Wiirttemberg 1770 und in Bayern 1781 / 85. Doch ware es nicht gerechtfertigt, unbesehen die Selbstlegitimation landesfiirstlich-biirokratischer Machtexpansion zu iibernehmen und die Regierungen generell als Vertreter des " Gemeinwohls ", die Stande aber als Reprasentanten von " Partikularinteressen" zu qualifizieren . Abgesehen von der Kontinuitat wenigstens der Reprasentationsidee, die das Standewesen des 18. mit dem Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts verbindet, ist zu beriicksichtigen, da13 die Stande gegeniiber fiirstlichen Neigungen zu verschwenderischer Hofhaltung und au13enpolitischen Abenteuern oft genug tatsachlich - wenngleich nicht ganz uneigenniitzig - auch die Belange der Nichtprivilegierten vertraten. Teilweise waren sie sogar zur Mitwirkung an Reformma13-

I. Reformen im Zeitalter der Aufklarung

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nahmen bereit. So ging beispielsweise die Griindung der Universitat Munster (1773 / 80) auf einen Antrag des Domkapitels und der Ritterschaft zuruck, obwohl dam it die Aufhebung eines adeligen Benediktinerinnenstifts zur Fundierung der neuen katholischen Landeshochschule impliziert war. lm benachbarten Osnabriick bemiihte sich Justus Moser nicht ohne Erfolg, standische Tradition und aufklarerische Reform in einer modernisierten Selbstverwaltung zu verbinden. Die bayerischen Stande wurden verstarkt in das staatliche Leben eingebunden. In Hessen -Kassel beruhte das unter Landgraf Friedrich 11. (1760-1785) verwirklichte Reformwerk sogar auf der eintrachtigen Zusammenarbeit von Furst, Standen und Beamtenschaft. Ein derartiges Einvernehmen muf3 jedoch als die Ausnahme gelten. Normalerweise bildeten die Fiirsten und noch mehr Teile der Burokratie die treibenden Krafte bei der Einfiihrung von Neuerungen aller Art, die Stande eher ein retardierendes Moment. Insbesondere die Gefahr, in welche die Reichsfiirsten durch die Ideen und die Heere der Franzosischen Revolution gerieten, nutzten die Landstande verschiedener Territorien allerdings, urn sich als Vertreter der Landesinteressen darzustellen und politische Mitsprache zu fordern (Wurttemberg, Bayern). Da sie unter si ch aber uneins waren, ob bzw. wieweit der Kreis der politisch Berechtigten ausgedehnt und auf Privilegien verzichtet werden sollte, konnten sie nicht die Unterstutzung breiterer Schichten gewinnen . Die Masse der Nichtprivilegierten zeigte gegeniiber dem Absolutismus und seinen Reformen, auf deren Ausgestaltung sie keinerlei Einfluf3 besaf3, jedoch ebenfalls eine ambivalente Haltung. Manche Maf3nahmen, speziell solche wohlfahrtspolitischer N atur, wurden iiberwiegend mit Genugtuung aufgenommen, andere erregten Unwillen , provozierten sogar Tumulte, wie die Abschaffung des " Blauen Montags" in Munchen, die Liturgiereform in Mainz oder die geplante Errichtung eines protestantischen Bethauses in Koln . Da die Machtexpansion der staatlichen Gewalt ublicherweise mit einer spurbaren Mehrbelastung der Untertanen einherging, zeigten gerade die Bauern haufig auch dort Mif3trauen , wo die Maf3nahmen der Regierung eigentlich auf ihre materielle Besserstellung abzielten , wie z. B. ihre Reaktion auf das bayerische Maierschaftsfristenmandat von 1779 od er das josephinische Urbarialpatent von 1789 (s. u.) beweist. N och heftigeren Widerstand setzte der "gemeine Mann " jenen obrigkeitlichen Anordnungen entgegen , die in seinen gewohnten Lebensablauf eingriffen (Feiertagsreduktionen) oder die, wie die Aushohlung von Zunftbindungen und -normen, einen

d) die Ni chtpri vil e· gierlen

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I. Enzyklopadischer Oberblick

"gesicherten Nahrungsstand " bedrohten. Andererseits scheinen die Nichtprivilegierten ofters eh er gegen die Form als gegen die Grundrichtung bestimmter Neuerungen opponiert zu haben. Mitunter protestierten sie, insbesondere nach 1789, sogar dagegen , dal3 ihre spezifischen Bediirfnisse durch die eingeleiteten Reformen zu wenig beriicksichtigt worden waren, so in weiten Teilen des Rheinlandes, Sachsens und der Habsburgerrnonarchie. Die physiokratisch bzw. antistiindisch rnotivierte Forderung biiuerlicher Belange mag das Selbstbewul3tsein der Landbevolkerung ebenso gesteigert haben , wie dies in bildungsbiirgerlichen Kreisen die Bekenntnisse zahlreicher Fiirsten zu bestimmten aufkliirerischen Idealen und die zunehrnende Anwendung von Leistungskriterien irn Staatsdienst taten .

J.2 Die einzelnen ReformmajJnahmen

Das erste Ziel: St eigerung staatlicher Effi zienz

Verm ehrung und Qualifi zierung d er Bea mten sch a ft

Ob ein Herrscher, wie Friedrich I I. von Preul3en, "aus dem Kabinett" heraus regierte oder ob er sich regelmiil3ig den Mehrheitsentscheidungen eines Staats- oder Ministerrats anschlol3, wie es Maria Theresia in den InOer lahren tat - in jedem Falle bedurfte er einer ausreichenden Zahl zuveriiissiger und qualifizierter Beamter. Das gait urn so mehr, je grol3ere Veriinderungen er pI ante und je komplexer die Verwaltungsaufgaben infolge des verstiirkten staatlichen Engagements vor all em in bisher weitgehend der Kirche oder den Stiinden iiberlassenen Bereichen (Schulwesen, Armenpflege, Zensur) wurden . Deshalb erhohte sich die Zahl der Arntspersonen wiihrend des 18.1ahrhunderts deutlich - in relativ bescheidenem Umfang noch in Preul3en, bis hin zu angeblich rd . 5% der Bevolkerung in der Grafschaft Ottingen. Anscheinend vor allern in den grol3eren Territorien wurden gleichzeitig die Anforderungen erhoht, Conduitelisten eingefUhrt, Amterkumulation und Expektanzen zuriickgedriingt, juristische oder kameralistische Studien zur Voraussetzung fUr den Eintritt in den "Staatsdienst" - so der neue Begriff - erkliirt. Obwohl den hoheren Beamten oftmals auch ohne Nobilitierung bestimmte Vorrechte verliehen wurden (z. B. ein besonderer Gerichtsstand), gelangte ma n iiber beachtliche Ansiitze zur Privilegierung im Sinne der Schaffung eines einheitlichen " Beamtenstatus" (Absetzung nur nach Strafverfahren; soziale Absicherung), wie sie in Wiirttemberg und im josephinischen Osterreich verwirklicht wurden , noch nicht hinaus. Dafiir gab 10seph H . in seinem sog. "Hirtenbrief" (1783) bekannt, wie er sich den idealen Biirokraten vorstellte - niimlich sei-

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nen Aufgaben hingebungsvoll verbunden , tleif3ig, unparteiisch und nicht zuletzt geniigsam. Die Effizienz der Verwaltung litt ab er nicht nur darunter, dal3 vie1e Beamte diesen Kriterien nicht entsprachen, dal3 sie schlecht oder erst nach langem Vorbereitungsdienst iiberhaupt besoldet wurden . Ebenso bedeutsam war, dal3 die Struktur der Yerwaltung selbst erhebliche Mangel aufwies. Das 18.1ahrhundert war daher eine Epoche der Umorganisationen in der Administration. Fiir neue Aufgaben oder solche, die bislang nur ungeniigend erfiillt worden waren , wurden besondere Deputationen bzw. Kommissionen gebildet. Fiir das Kommerzwesen etwa richteten zahlreiche Regierungen besondere Gremien ein in Preul3en, wo spater weitere Sachdepartements folgten, schon 1740. Da aber andererseits Friedrich 11. das Territorialprinzip nicht grundsatzlich aufgab - Schlesien z. B. dem Generaldirektorium iiberhaupt nicht unterstellt wurde - , waren Kompetenziiberschneidungen die unvermeidliche Folge. Immerhin wirkte die relativ straffe Zentralisierung der preul3ischen Staatsverwaltung noch so vorbildlich, dal3 sie auch bei der Griindung des 6sterreichischen " Directorium in publicis et cameralibus" (1749) durch Graf Haugwitz Pate stand. Hier wurden allgemeine Yerwaltung und Finanzwesen vereinigt, lustizangelegenheiten hingegen abgetrennt und einer eigenen Obersten lustizstelle zugewiesen. Dieser Staatsreform lagen jedoch nicht primar rechtsstaatliche Motive zugrunde : Vielmehr ging es urn eine Zuriickdrangung des standischen Eintlusses sowohl auf der Ebene der Zentrale als auch - durch Errichtung staatlicher Exekutivorgane - in den Uindern . Im gleichen Zuge wurden das Steuerbewilligungsrecht der Stande faktisch weitgehend aul3er Kraft gesetzt und Steuerfreiheiten durch Steuervorrechte ersetzt. Daran anderte sich auch nach 1761 nur wenig, als Kaunitz die Einrichtung eines zentralen Beratergremiums, des Staatsrats, mit einer - spater von 10seph 11. wieder riickgangig gemachten - neuerlichen Trennung der Finanzagenden von der Administration verband. Immer noch aber standen in den 6sterreichischen Erblanden 1494 landschaftlichen und 11669 herrschaftlichen bzw. stadtischen nur 7421 landesfiirstliche Beamte gegeniiber, von denen iiberdies 5123 in Niederosterreich tatig waren (1762). Endete der " Absolutismus" also gerade in den grol3eren Staaten in vielerlei Hinsicht an den Grenzen der Grund- und noch mehr der Gutsherrschaften , so gab es im 18.1ahrhundert immerhin Bestrebungen , den lokalen Bereich einer gewissen staatlichen Kon -

Umorga ni sati o nen im Verwa ltungsbereich

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Leistungsfiihige , territorial eigensta ndige Ju stiz

Ko difik ati o nen w r Staa tsintegrati o n und Rechtssicherheit

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trolle zu unterwerfen. Dazu dienten etwa die weitgehende Beseitigung der kommunalen Selbstverwaltung, der Aufbau von Kreisamtern mit zunehmenden Kompetenzen , die Einrichtung eines Untertansadvokaten, die Beschrankung der Patrimonialgerichtsbarkeit und die Errichtung eines dreiteiligen Instanzenzuges in der Habsburgermonarchie, vornehmlich unter Joseph 11. Desgleichen trieb Preul3en , besonders unter den Grol3kanzlern Cocceji (1747-1754) und Carmer (1779-1795) die Vereinheitlichung und Verstaatlichung des Justizwesens voran: 1755 wurden fUr die Justizbeamten, 1770 auch fUr Verwaltungsbeamte staatliche Examina vorgeschrieben. Nicht nur die beiden Grol3machte losten sich dabei, indem sie eine ebenso prompte wie unparteiische Rechtspflege forderten , mehr und mehr von der Reichsgerichtsbarkeit. Selbst der Kaiserbruder Max Franz von Koln untersagte fast alle Rekurse an rechtsprechende Institutionen aul3erhalb seines Kurfiirstentums. Nicht weniger folgenreich fUr die "innere Staatsbildung" erscheint, dal3 (z. T. private) Gesetzessammlungen entstanden , dal3 manche Regierungen aber auch regelrechte Publikationsorgane fUr Einzelgesetze und -verordnungen und in einigen grol3eren Territorien sogar Rechtskodifikationen schufen, oh ne dal3 die Landstande in grol3erem Umfang modifizierend eingegriffen hatten. Selbst im Hinblick auf das nur subsidiar gel ten de "AlIgemeine Landrecht fUr die preul3ischen Staaten" (1794) - man beachte den Plural! - ist festzustellen, dal3 diese neuen Gesetzbiicher der Rechtseinheit der betreffenden Territorien und damit deren staatlicher Integration dienten , gleichzeitig freilich in gewisser Weise auch deren Losung vom "Reichsrecht" (romischem Recht, Carolina) forderten . Dariiber hinaus trugen sie zur Modernisierung der Rechtsmaterie bei , etwa wenn das Ehepatent Josephs II. die Ehe fUr einen biirgerlichen Vertrag erklarte. Selbst in jenen Fallen, wo Kodifikationen wie der bayerische Kriminalkodex Kreittmayrs von 1751 - hochstens behutsam Neuerungen einfiihrten , diirfte die Bindung des Richters an ein als moglichst umfassend konzipiertes Gesetzbuch der Rechtssicherheit des Einzelnen zugute gekommen sein. Aul3erdem fUhlten sich die Fiirsten ebenfalls in zunehmendem Mal3e an diese von ihnen erlassenen Gesetze gebunden und nur noch in besonderen Fallen " Iegibus solutus" . Das wiederholte Bekenntnis Friedrichs des Grol3en zur Unabhangigkeit der Justiz bezog sich allerdings nur auf den Zivilrechtsbereich. Als er trotzdem in dem beriihmten Prozel3 zwischen dem Miiller Arnold und einem Adeligen - anscheinend unberechtigt - glaubte, dem " kleinen Mann " gegen

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einen von sozialen Riicksichten diktierten Richterspruch zu seinem Recht verhelfen zu miissen, farderte dieses Eingreifen zwar seine Popularitat beim Yolk , provozierte ab er gleichzeitig eine Fronde preuf3ischer Justizbeamter gegen seinen " Machtspruch". Dabei scheint Friedrich deutlich geworden zu sein, daf3 auch ein aufgeklart-absolutistischer Herrscher nur noch in engen Grenzen als " oberster Richter" fungieren konnte und daf3 seine vorrangige Aufgabe in der Reform der Gesetze bestand. Bahnbrechend hatte er hierbei - trotz mancher I nkonsequenzen und prozef3rechtlicher Folgeprobleme - schon mit der Aufhebung der Folter (1740, endgiiltig 1754) gewirkt. Die anderen deutschen Territorien folgten seinem Beispiel erst mit mehr oder minder grof3em zeitlichem Abstand (z. B. Kursachsen 1770 / 82, Gotha erst 1828). In mehreren Uindern wurde diese Neuerung anfanglich nicht offiziell bekanntgegeben. Uberhaupt erfolgte die Humanisierung des Strafrechts generell oft eh er durch die richterliche Praxis als durch die legislatorische Norm, wie das Ausklingen der Hexenprozesse beweist. Denn auch als Joseph II. die Todesstrafe im Regelfall durch die Strafe des Schiffeziehens ersetzte (1781), soUte diese Umwandlung nicht etwa der menschenwiirdigeren Behandlung des Taters, sondern lediglich der Nutzung von dessen Arbeitskraft und der wirksameren Abschreckung potentieller Verbrecher dienen . Andererseits gait nun in der Habsburgermonarchie fUr alle Straftater unabhangig von der sozialen Herkunft prinzipieU das gleiche Recht und weitgehend auch der gleiche Gerichtsstand. War Joseph 11. deshalb ein Revolutionar, ein Feind der Standegesellschaft? Oder wirkten gar alle "aufgeklarten Herrscher" in diese Richtung, indem sie die kirchliche und standische Macht zuriickdrangten und den Aufstieg des Biirgertums fOrderten? Doch die als "aufgeklart" geltenden Fiirsten verfolgten keine einheitliche geseUschaftspolitische Linie. Wahrend Joseph II. oder Ka rl Theodor grof3ziigig bzw. geradezu verschwenderisch mit Nobilitierungen umgingen, zeigte sich Friedrich II. von Preuf3en in dieser Hinsicht auf3erst zuriickhaltend. Das preuf3ische Biirgertum blieb weiterhin der Hauptsteuerzahler des Staates. Entgegen dem allgemeinen Trend , Biirgerliche in Verwaltung und Heer leichter in hahere Position en einriicken zu lassen , entlief3 Friedrich nach dem Siebenjahrigen Krieg den Grof3teil seiner nichtadeligen Offiziere, und er mif3traute den biirgerlichen Juristen, die im iibrigen auch der badische Markgraf aus seinem Geheimen Rat zu verdrangen suchte. Stand dahinter reiner Traditionalismus oder die durchaus rationale

Strafrechtsrefo rm en

Gesell sch aft spo litik: Nur parti ell e F6rderung des Burgertum s

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Agrarpolitik aul.lerha lb d er Domanen

Beginn der Aufhebung d er Erbuntertiinigkeit bzw. Leibeigen schaft

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Erkenntnis, dal3 der absolutistischen Erbmonarchie von einem ahnenstolzen, aber "domestizierten" Adel weit weniger Gefahr drohte als von einem "aufsteigenden" , meritokratisch gesinnten Biirgerturn? Jedenfalls bemiihte sich Friedrich - freilich ohne durchschlagenden Erfolg - , durch Veraul3erungsverbote, die Stiftung von Fideikommissen und die Einrichtung adeliger Kreditinstitute (Landschaften) dem grundbesitzenden Teil seines Adels den ungeschmalerten Besitz seiner Rittergiiter zu erhalten. Ein Drang zur Selbstherrschaft, ein schlichtes, unkonventionelles Auftreten sowie ein Hang zum Populismus veranlaBten dagegen Joseph II. nicht nur zur 19norierung standischer Privilegien und zur Aufhebung der Fideikommisse, sondern auch zu dem Versuch , gutsherrliche Rechte und Einkiinfte zu beschneiden. Wahrend namlich Friedrich, urn dem preul3ischen Staat Steuerzahler zu erhalten , lediglich das Bauernlegen in Grenzen hielt - das im benachbarten Mecklenburg ungehemmt weiterging -, zielte Josephs Steuer- und Urbarialreform weit iiber die schon von seinen Vorgangern verordneten Mal3nahmen zum Bauernschutz und zur Robotfixierung hinaus. Waren im Gefolge der Haugwitzschen Reformen die Eigentiimer von privilegiertem sog. Dominikal- oder Herrenland (Dominikalisten) erstmals zur Halfte der Steuerleistung von Eigentiimern von sog. Bauernland (Rustikalisten) herangezogen worden, so so lite nun jeder Rustikalbesitzer 12%% seiner erzielbaren Bruttoeinkiinfte an den Staat, jeder Grundholde aber maximal 17%% an seinen Grundherrn zahlen und dafiir von alien anderen Verpflichtungen (Roboten/ Fronen, Zehnten etc.) befreit sein. Entgegen der urspriinglichen Absicht Josephs II. aber schlol3 schon das Patent vom 10.2. 1789 die Dominikalgriinde von der Reform aus. Schwierigkeiten bei der Ertragsermittlung und der massive Widerstand der auf ihre Eigentumsrechte pochenden Adeligen, der bis in die Spitzen der Biirokratie hineinreichte, aber auch ein allgemeineres Mil3trauen gegen den zu erwartenden Steuerdruck liel3en das ganze Projekt iiberdies schnell scheitern. Leopold H. konnte danach nur wieder auf die einvernehmliche Ablosung der Roboten drangen. Erhalten blieb von Josephs Agrarreformen aul3erhalb der Domanen daher vornehmlich nur die zuletzt noch von seiner Mutter geplante und von ihm 1781 verkiindete Aufhebung der Leibeigenschaft (= Erbuntertanigkeit, d. h. Schollenbindung, regelmal3ig verbunden mit Gesindezwangsdiensten, fehlender Freiheit der Berufswahl, Heiratskonsens und mehr oder minder hohen, vielfach " unbegrenzten" Fronverpflichtungen), welche im Osten nicht unbedingt

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nach der Zahl der ihr unterworfenen biiuerlichen Untertanen , aber hinsichtlich ihrer soziookonomischen Bedeutung dominierte. Diese wurde wenig spiiter auch auf den Domiinen der diinisch regierten Herzogtiimer Schleswig und Holstein abgeschafft. Abgesehen von der westfiilischen Eigenbehorigkeit, die eine Zwischenstellung einnahm , beschriinkte sich die maximal 10% der Bevolkerung erfassende Leibeigenschaft in den grundherrlichen Gebieten (grob gesprochen: westlich der Elbe) dagegen vornehmlich auf die Zahlung in der Regel nicht sehr hoher und iiberdies teilweise ablosbarer Abgaben. Deshalb hatte die Aufhebung der Leibeigenschaft hier auch eine mehr sozialpsychologische als okonomische Bedeutung. Doch beinahe nur Karl Friedrich, dem die Leibherrschaft iiber die weitaus meisten badischen Leibeigenen zustand, entschlo13 sich noch vor Anfang des 19. Jahrhunderts zu diesem aufsehenerregenden Schritt. Dagegen kiimmerten sich, teilweise in Verbindung mit privaten oder halboffiziellen " Okonomischen Gesellschaften" (z. B. Leipzig, Karlsruhe, Celle), nicht wenige Fiirsten, vor allem aber zahlreiche Beamte und Pfarrer (P. E. Liiders, J. F. Mayer) urn die Einfiihrung neuer Nahrungsmittel (z. B. Kartoffeln), die Besommerung der Brache durch den Anbau von Futterpflanzen (Klee), die Veredelung von Haustierrassen usw. Staatliche Ansiedlungsbemiihungen, verbunden mit Privilegien und Versprechungen , fiihrten Tausende von Siedlern vor allem aus dem relativ iiberbevolkerten Siidwesten nach dem Osten bzw. Siidosten (Banat, Galizien ; Trockenlegung und Besiedlung von Netze- , Oder- , Warthebruch). Aber auch die Binnenkolonisation wurde - z. B. im Donaumoos, in den Moorgebieten der Herzogtiimer Bremen und Verden - vorangetrieben, und der Herzog von Arenberg bot N eusiedlern sogar eines seiner Schlosser als U nterkunft an. Entstanden im Zuge dieser gelenkten Kolonisation vielfach relativ moderne Agrarstrukturen , so driingten auch in manchen Gebieten des Altsiedellandes die Behorden gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Flurbereinigung und die Aufteilung der AIImende. Der Erfolg scheint dort am gro13ten gewesen zu sein, wo die Behorden zusammen mit den iiberall in der Minderheit befindlichen Bauern und Grundbesitzern im Prinzip an einem Strang zogen (Schleswig-Holstein). Die bayerische Regierung, die angesichts weiter wenig oder nicht genutzter Fliichen eher bereit war, zugunsten der unterbiiuerlichen Dorfbewohner herkommliche Nutzungsanspriiche als Eigentumsrechte bei der Aufteilung der Gemeindegriinde anzuerkennen, tat sich dabei schwerer - aber auch ihr ging

Peupli erung, Einfiihrun g neuer Agra rtechniken und Flurbereinigung

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Agrarrefo rmen auf den Domiinen

Die Entwi cklun g der Staatsau sgaben

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es letztlich nur urn eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivitiit und eine Erhohung der Staatseinnahmen. Am weitesten konnten derartige staatliche Reformbemiihungen natiirlich dort gedeihen, wo es die geringsten Widerstiinde zu iiberwinden gait, also auf den Domiinen. Deren Anteil am bebauten Boden schwankte freilich erheblich. In Brandenburg-Preul3en, wo er im Schnitt bei fast 1J gelegen haben dlirfte, erfolgte die Einschriinkung biiuerlicher Dienste iihnlich wie in Schleswig-Holstein parallel zur Verpachtung, in deren Genul3 allerdings hier fast durchweg biirgerliche Piichter kamen, die si ch als besonders innovativ erwiesen . Die Dienstverpflichtungen der Domiinenbauern in Hessen-Kassel mogen schon vor der Reduktion durch den Landesherrn nicht besonders schwerwiegend gewesen sein. Aber diese Mal3nahme erreichte hier relativ gesehen mehr Personen, denn der Landgraf besal3 fast zwei Drittel des gesamten Obereigentums. In Osterreich erfolgten eine mit dem Namen des Hofrats Raab verbundene Robotabolition (Fronablosung) auf den "Offentlichen " Glitern und deren Parzellierung, wogegen in Bayern, wo der Domiinenanteil im alten Herzogtum allerdings kaum 15% betrug, die Regierung ihren Bauern ab 1779 auf Wunsch das Erbrecht verlieh . GJeichzeitig konnten diese ihre Laudemien fixieren lassen und in zwanzig sog. Maierschaftsfristen abbezahlen . Eine Ausweitung derartiger Reformmal3nahmen in Richtung auf eine vollstiindige Allodifikation sowie eine Obertragung auf die Gliter der privaten Grund- bzw. Gutsherren, die dem staatlichen Beispiel meist nur zogernd folgten, wurde gemeinhin allerdings erst im friihen 19. lahrhundert in Angriff genommen, teilweise sogar erst 1848. Bereits vor 1800 wurde jedoch deutlich , dal3 eine Entlastung der Bauern von irgendwelchen FeudaJabgaben nicht mit einer Verringerung ihrer Zahlungen an die staatlich en Kassen verbunden sein sollte, ja daB im Gegenteil der Fiskus an einem wachsenden Wohlstand " freierer" Untertanen zu partizipieren hoffte. Denn besonders nach dem Siebenjiihrigen Krieg waren fast alle Territorien mehr oder minder hoch verschuldet. Preul3en, das den Krieg nicht zuletzt mit Miinzmanipulationen , englischen Subsidien und der Ausbeutung Sachsens finanziert hatte, bildete eine Ausnahme. Aber auch hier befand sich die Wirtschaft nach 1763 in einer Krise, und da der Unterhalt von Friedrichs riesigem Heer auch in Friedenszeiten liber 70% seiner Staatseinnahmen verschlang und der Konig sogar noch einen unter seinem Nachfolger schnell aufgebrauchten Staatsschatz anlegte, war das Geld zur Erflillung

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anderer staatlicher Aufgaben immer knapp. DafUr fielen bei ihm wenigstens die Hofausgaben kaum ins Gewicht, die etwa bei Karl Theodor ca. 20% des Etats ausmachten. In der Habsburgermonarchie, wo sie unter Maria Theresia bei 6-8% lagen, standen urn 1763 Nettoeinkiinften von ca. 35 Mio. fl Ausgaben von iiber 40 Mio. fl. gegeniiber, davon allein 17 ,65 Mio. fl. fUr das weiterhin stattliche Militiirwesen, 14,32 Mio. fI. aber als Zinsendienst fiir die rd. 285 Mio . fI. Schulden der Krone. Eine Sanierung der Finanzen gehorte also zu den vordringlichsten Staatsaufgaben. Deshalb konnte auch von einer Minderung des Steuerdrucks keine Rede sein. Vielmehr reichte das Spektrum der staatlichen Reaktionsmoglichkeiten von Reformen der Finanzverwaltung ilber gewagte Finanzoperationen - wie die Ausgabe des ersten Papiergelds durch die Wiener Stadtbank - bis hin zu unpopuliiren, aber die innere Staatsbildung in gewissem Sinne fordernden Maf3nahmen wie zur Ubertragung der Steuereintreibung an eine "Regie" genannte eigene Behorde mit grof3enteils landfremden Beamten durch Friedrich If. Freilich konnte der Weg auch in die andere Richtung fUhren. Herzog Karl Eugen von Wiirttemberg, machtpolitisch ebenso wie kulturell ambitioniert, hatte bereits Domiinen an ausliindische Geldgeber verpfiindet - darin bestanden seine Beziehungen zu Voltaire - , als er nach 1763 .e ine relativ gleichmiif3ige, von landesherrlichen Beamten erhobene Vermogenssteuer in seinem Land einfilhren wollte. Aber der Herzog, der einmal eine Biirgerdelegation angeherrscht hatte : " Ich bin das Vaterland!" , mul3te es sich gefallen lassen , daf3 ihm 1770 die Stiinde mit Riickendekkung aus Wien die Fixierung eines Militiirbudgets abrangen, das ihm maximal die Aufstellung von 3000 Mann erlaubte. Nicht viel besser erging es dem kursiichsischen Administrator Prinz Xaver (1763-1768) , nur waren es hier ReformbeanHe und Stiinde gemeinsam, die sich seinem ruinosen Heeresausbau entgegenstellten. Infolge von Krieg und Mif3wirtschaft hoch verschuldet, schwor die Dresdner Regierung - iihnlich wie zuvor Max Ill. 10seph von Bayern - schliel3lich alien Grof3machtambitionen ab und konzentrierte sich auf die Schuldentilgung und den Wiederaufbau des Landes. Sie gab es auf, Akzise und Gerichtsiimter zu verpachten, und begann eine nicht von kurzatmigen fiskalischen 1nteressen bestimmte Politik der Gewerbeforderung, besonders mittels der Vergabe von Priimien. Dadurch gelang es ihr, die Staatsfinanzen zu sanieren und bis zum Ende des lahrhunderts einen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zu erreichen.

Sla alseinnahm en

16 Das sachsisch e Retabli ssement

Streben der GroGstaa ten nach Autarkie und aktiver Ha ndelsbilanz

I. Enzyklopiidischer Uberblick

Kursachsen erwies sich dabei als relativ erfolgreicher als die beiden deutschen Grol3machte. Denn im Unterschied zu der stark dirigistischen Politik Friedrichs 11. setzten die aus dem selbstbewul3ten und kapitalkraftigen Leipziger Grol3btirgertum bzw. aus "liberalen" Teilen des AdeJs stammenden sachsischen Reformer bei ihrem "Retablissement" mehr auf die F6rderung privater Eigeninitiative, woftir freilich die Ausgangsbedingungen Sachsens (Verkehrslage, Bodenschatze, Bev6lkerungsdichte, Messeplatz Leipzig) auch besonders giinstig waren. Abgesehen von dem sptirbaren direkten Einf1ul3 grof3btirgerlicher Interessen auf die staatliche Wirtschaftspolitik unterschieden sich die sachsischen Maf3nahmen allerdings sonst nur in ihrer Dichte und Konsequenz von dem, was in anderen Territorien praktiziert wurde. Dazu geh6ren der Aufbau bzw. die Neuorganisation staatlicher Wirtschaftsbeh6rden (Kommerzdeputationen etc.), eine aktive Infrastrukturpolitik (Kanal- und Straf3enbau), statistische Erhebungen, Landesvermessung, Grtindung kameralistischer Lehrstiihle etc. In Kurmainz war es der leitende Minister Graf Stadion (1760-1768) - nebenbei : ein Bewunderer Voltaires! -, der in Konkurrenz zu Frankfurt eine internationale Messe aufzuziehen suchte und eine Organisation des Mainzer Handelsstandes schuf. Daf3 die Einnahmen des Staates letztlich vor allem durch eine aktive Handels- und Gewerbef6rderung vermehrt werden k6nnten, glaubte etwa auch Friedrich der Grof3e: "Das wahre Plus k6mmt durch die I ndustrie . . . " Doch spielte in Preuf3en wie in Osterreich die Grol3machtpolitik stets eine vorrangige Rolle. Ersten Einf1iissen des Wirtschaftsliberalismus und einem teilweise unter physiokratischen Vorzeichen neuerwachten staatlichen Interesse an der Landwirtschaft stand hier noch eine besonders lebendige altere merkantilistische bzw. kameralistische Tradition gegentiber, die sich auf die F6rderung von (Export-)Handel und Gewerbe konzentrierte und durch eine einheitliche staatliche WirtschaftsIenkung die innere Staatsbildung voranzutreiben suchte. Diese unterschiedIichen wirtschaftspolitischen Tendenzen konnten kollidieren: Innerhalb der preuf3ischen Monarchie wurden die Westprovinzen handelspolitisch benachteiligt, um die Gewerbeentwicklung in Schlesien und den Marken nicht zu beeintrachtigen. Sie mochten indes teilweise auch parallel laufen, etwa, wenn in den 6sterreichischen Erblanden der HandeI mit Agrarprodukten Iiberalisiert und 1775 die Binnenz611e (m it Ausschlul3 der Vorlande und Tirols) beseitigt, daftir aber ab 1784 die Importz611e gegeniiber dem nichthabsburgischen Ausland

I. Reformen im Zeitalter der Aufkliirung

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drastisch erhoht bzw. neue Einfuhrverbote erlassen wurden. Friedrich I L, vor allem nach 1763 extrem protektionistisch, fiihrte sogar regelrechte Zollkriege gegen seine Nachbarn, versuchte, fremde Zwischenhiindler auszuschalten und sogar (iiber Emden) UberseeProjekte zu forcieren, hatte damit allerdings offenbar nicht einma1 jenen langfristigen Erfolg, den die bsterreicher auf dem Weg iiber Triest bzw. den Balkan erzielten. Hierbei spielte auch die Gegenwirkung der in ihrer okonomischen Leistungskraft vielbewunderten Seemachte eine Rolle. Immerhin erreichte Preu13en schliel3lich die vom Konig erstrebte aktive Handelsbilanz. Dazu trug - neben der Annexion des gewerbereichen Schlesien - auch Friedrichs insgesamt erfolgreiche Manufakturpolitik in den mittleren Provinzen seines Konigreichs bei. Doch regte si ch am Ende seiner Regierungszeit Kritik am Dirigismus der Monopolverleihungen und staatlichen Subventionen. In den westlichen Provinzen Preu13ens, z. B. in Krefeld , und generell in den Rheinlanden, weitgehend aber auch in Ansbach-Bayreuth hatte das Manufakturwesen offenbar iiberhaupt oh ne eine derart ausgedehnte staatlichdirigistische Forderung einen raschen Aufschwung genommen. So wurde der Zugriff der preu13ischen Regierung auf die Wirtschaft nach dem Tode des Konigs gelockert, iihnlich wie die von Maria Theresia in Niederosterreich und Bohmen mit gro13em Erfolg betriebene Verleihung von Manufakturprivilegien (in der RegeI ohne Monopolzusagen) von ihrem Sohn forciert auf eine Verstarkung der Gewerbekonkurrenz ausgerichtet wurde. Weil Staatsbetriebe, auch wenn sie nicht nur (wie Seiden- oder Porzellanmanufakturen) fiir den Luxusbedarf tatig waren, oft ertragsarm bzw. sogar defizitar arbeiteten, bemiihten sich die Regierungen einerseits urn eine Reorganisation etwa des Berg- und Hiittenwesens - F. A. v. Heinitz leistete hier Vorbildliches in Braunschweig, Sachsen und Oberschlesien. Andererseits beschrankten sich auch die Gro13miichte zunehmend auf eine mehr indirekte WirtschaftsfOrderung mitteIs Privilegien und Subventionen. Bei aller - wenngleich oft nur kurzfristigen - Dynamik, die das Manufaktur- und das Verlagswesen entfalten konnten, wurde der gro13te TeiI der Gewerbeprodukte doch durch das traditionelle Handwerk erzeugt. Hier bemiihten sich die Obrigkeiten gro13erer Territorien (anders als jene der Stadte oder Stadtstaaten) haufig, den Einflu13 der Ziinfte zuriickzudriingen. Die sog. Reichshandwerksordnung von 1731 bot ihnen hierzu eine gewisse rechtliche Handhabe, die sie freilich unterschiedlich nutzten. Rasch und kon-

F6rderung von Manufakturen

Handwerkspolitik

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Begrenzte Tol eran z gegeniiber den Juden

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sequent wurde in Preul3en , mit iiber dreil3igjahriger Verzogerung in Bayern, vielfach iiberhaupt nicht in den Reichsstadten gegen " Zunftmil3brauche" vorgegangen, teilweise auf dem Weg iiber eine obrigkeitliche, auf landesweite Einheitlichkeit ausgerichtete Revision der Zunftordnungen. Dabei wurden die Rechte der Gesellen u. a. zwecks Verhinderung von Streiks beschnitten, zugleich aber die (Straf-)Befugnisse der Zunftmeister eingeschrankt. Wahrend die Regierungen einzelner Territorien zur Sicherung der "standesgemal3en Nahrung" der Zunftmitglieder deren Privilegien erneuerten (Wiirzburg ab 1781 , Paderborn ab 1790), forderten die meisten anderen, entgegen einer mitunter noch zunehmenden Tendenz zur Abschliel3ung der Ziinfte, die innergewerbliche Konkurrenz. Zudem siedelten manche Niedergerichtsherren gerne sog. Freimeister an und trugen damit zu einer "Territorialisierung" des Gewerbes bei, die einzelne Landesherren - wie Friedrich Il. von Preul3en - nicht unbedingt gerne sa hen. Andererseits pal3te diese Entwicklung sehr gut in das populationistische Konzept, das fiihrende Spiitkameralisten (Justi, Sonnenfels) in die offizielle preul3ische und osterreichische Politik hineintrugen. Freilich hatte Friedrich Il. , dessen Vorfahren Hugenotten und Salzburger Lutheraner in ihrem Lande aufgenommen hatten, schon 1740 erklart: " . . . wen Tiirken und Heiden kahmen und wolten das Land popliren , so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen". Vielleicht aus dem gleichen Gedanken heraus schrieb er wenige Tage spater : "hier mus jeder nach seiner Fason selich werden". Tiirken kamen damals zwar kaum nach Preul3en , ab er Juden gab es in der Hohenzollern- ebenso wie in der Habsburgermonarchie und anderswo (z. B. in Fiirth, Frankfurt/M., Hamburg-Altona) durchaus - freilich ganz ungleichmiil3ig verteilt, mit stark unterschiedlichem Rechtsstatus (bei generelier Diskriminierung) und vollig verschiedenen Lebensformen . Neben einer zahlenmal3ig winzigen Gruppe reicher Hoffaktoren und einer Reihe wohlhabender Unternehmer, die kulturell in die Gesellschaft der Aufkliirer integriert sein konnten - an ihrer Spitze Moses Mendelssohn in Berlin -, stand die Masse der Juden, deren berufliche Tiitigkeit von kleinbiirgerlichen Beschiiftigungen bis zum Hausierhandel hinabreichte. Die Emanzipationsbestrebungen der jiidischen Oberschicht und die Wiinsche mancher Regierungen trafen sich dabei wenigstens zum Teil. Denn aufgeklarte Beamte pladierten, wie der preul3ische Staatsarchivar C. W. Dohm in seiner beriihmten Schrift (1781 / 83), fiir die "biirgerliche Yerbesserung der Juden" - was konkret deren

I. Reformen im Zeitalter der Aufkliirung

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bessere rechtliche und soziale I ntegration in die Gesamtgesellschaft nicht weniger aus staatsutilitaristischen als aus humanitaren Griinden bedeutete. Zudem fUrchtete man speziell in der Habsburgermonarchie nach dem Erwerb Galiziens (1772), wo mindestens rd . 200000 Juden lebten, eine Wanderungsbewegung nach Westen . Wahrend Maria Theresia und Friedrich n. eindeutig judenfeindlich gesinnt waren - das preuf3ische Patent von 1750/ 56 beschrankte die Moglichkeit zur "Ansetzung" jiidischer Kinder -, lehnte zwar auch Joseph H . eine Ausbreitung der Juden in seiner Monarchie ab, erlief3 aber von 1781 an Patente fUr die verschiedenen Provinzen, die eine begrenzte Toleranz vorsahen . In der Praxis bedeutete dies : Diskriminierende Ausnahmebestimmungen wie die PfIicht zur Zahlung einer Leibmaut oder zum Tragen bestimmter Kleidungsstiicke wurden abgeschafft. Judisch-deutsche Schulen wurden errichtet, der Volksschulbesuch streng vorgeschrieben und sogar der Weg zur Universitat geoffnet. Zum Erwerb des Meisterrechts und zum Kauf von Grund und Boden - und nicht nur zur Pacht - waren Juden allerdings nur in wenigen Provinzen berechtigt. Gleichzeitig jedoch wurde die Autonomie der judischen Gemeinden (z. B. die Rabbinergerichtsbarkeit) begrenzt und der Gebrauch des Hebraischen eingeschrankt. Mit Zuckerbot und Peitsche also sollte die kulturelle Assimilation der Juden herbeigefUhrt werden, was aufgeklarte jiidische Kreise warm begriif3ten , starker traditionsverbundene ab er urn der jiidischen Identitat willen mit sehr gemischten GefUhlen aufnahmen. Als Kompromif3 zwischen den weiterreichenden Planen des Kaisers und traditionelleren Ansichten innerhalb seiner Beamtenschaft wirkte die josephinische Judengesetzgebung vorbildlich bzw. beschleunigend auf Oberlegungen in anderen Territorien (Kurmainz, Hessen-Darmstadt). Gerade dort aber, wo sich umgekehrt eher die Beamten als der Landesherr gegeniiber den Juden aufgeschlossen zeigten, verbesserte sich deren praktische Behandlung fruher als deren Rechtsstellung. Gleiches gilt fUr die Situation konfessioneller Minderheiten speziell in den geistlichen Territorien. So regierte der Mainzer Erzbischof Erthal zeitweise mit Hilfe protestantischer Auslander, die nach der Wahlkapitulation sein KurfUrstentum nicht einmal hatten betreten durfen. Wegen untiberwindlicher religionspolitischer Beden ken erlief3 indes von den grof3eren katholischen Territorien lediglich Kurtrier ein formelles Toleranzpatent nach josephinischem Vorbild. Die Verkiindung einer weitreichenden Toleranz gegentiber Protestanten bedeutete freilich auch ftir die Habsburgermonarchie,

Toleranz gegenliber Mitgliedern a nderer Konfessionen

a) in kalholischen Territ orien

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b) in protestantischen Gebi eten

1. Enzyklopiidischer Oberblick

trotz gewisser alterer Regelungen zugunsten der orthodoxen Serben und der protestantischen Minderheit in Schlesien, einen echten· Kurswechsel in der Konfessionspolitik. Maria Theresia, die Toleranz als "hochst gefahrliche und verderbliche Gleichgultigkeit" ansah, fUrchtete namlich die Infizierung der katholischen Bevolkerungsmehrheit durch den Kryptoprotestantismus. Obwohl sie die Ansiedlung nichtkatholischer Facharbeiter an einzelnen Orten gestattete, so soli ten nach ihrem Willen doch noch 1777 Protestanten aus Mahren nach Ungarn ausgewiesen werden. Dagegen protestierte ihr Sohn und erzwang mit Hilfe von Kaunitz wenigstens eine Art " stillschweigender Toleranz". Zwar lag auch ihm die Verbreitung des katholischen Glaubens am Herzen , doch glaubte er nicht, daB in dieser Hinsicht durch Zwang etwas zu erreichen sei. AuBerdem war er grundsatzlich gewillt, eine individueJle Glaubensentscheidung, sofern er sie nicht fUr staatsgefiihrdend erachtete, zu respektieren. Die von ihm seit 1781 nach einem einheitlichen Schema erlassenen Toleranzpatente fUr die einzelnen habsburgischen Lander brachten den " Akatholischen" eine weitgehende Gleichstellung mit den Katholiken. Die erblandischen Protestanten - 1782 bekannten sich bei einer Zahlung 72 722, 1789 schon 156865 Personen als solche - nahmen diese Entwicklung zunachst ganz uberwiegend mit Freude auf. In der Regel wurde ihnen allerdings die Offentliche Religionsausubung verweigert, und fUr den Eintritt in den Staatsdienst bedurfte man als Nichtkatholik eines Individualdispenses. AIs Christen und Burger - wenngleich in mancher Hinsicht noch zweiter Klasse - behandelte Friedrich der GroBe seinerseits seine uberwiegend in Schlesien lebenden katholischen Untertanen. Seine Toleranzpolitik, vergleichbar mit jener anderer protestantischer Fursten (An sbach-Bayreuth, Nassau-Saarbrucken) und gespeist von aufklarerisch-naturrechtlichen Ideen, religiosem Indifferentismus und traditioneller preuBischer Staatsrason, fand namlich gleichfalls gewisse Grenzen im Bereich der Beamtenernennungen . Denn Friedrich fUrchtete auBer der "Unvernunftigkeit" der katholischen Lehre die tradition ell en Bindungen der katholischen Schlesier an das Haus Habsburg. Doch gelang es ihm, die Bevolkerung in bemerkenswertem MaBe fur den preuBischen Staat zu gewinnen. So machte er zwar durch aus seine landeskirchlichen Hoheitsrechte geltend und unterstellte dem geistlichen Department neben den beiden calvinistischen Oberbehorden und dem erst 1750 gegriindeten lutherischen Oberkonsi storium auch den katholischen Klerus. Aber seine

I. Reformen im Zeitalter der Aufkliirung

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Eingriffe in das Innenleben der Religionsgemeinschaften erfolgten zuruckhaltender als in der Habsburgermonarchie; primar aus schulpolitischen Grunden lieG er 1773 sogar den Jesuitenorden in Schlesi en bestehen. Dagegen veranlaGten eine partiell antimonastische Haltung sowie das Problem des Kryptoprotestantismus Maria Theresia schon seit Beginn der 1750er Jahre, unter Rucksprache mit Rom eine Aufhebung von Klostern zwecks Dotierung neuer Pfarrstellen zu erwagen. Die in der Folgezeit eingeleiteten theresianisch-josephinischen Kirchenreformen gingen indes auf vielfiiltige, zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark wirksame Urspriinge zuruck . Neben alten Traditionen des landesherrlichen Kirchenregiments samt ius reformandi, welches Kaunitz auch gegenuber Rom durchsetzen und in Richtung auf ein staatskirchliches Verwaltungssystem nach dem Vorbild protestantischer Territorien weiterentwickeln wo lite, standen naturrechtliche, wirtschaftliche und fiskalische Oberlegungen (letztere vor allem wahrend der zweiten Phase der Klosteraufhebungen) , aber auch " philo- " und spatjansenistische Einflusse am Hof, in Biirokratie (Hofrat Heinke) und Episkopat (Migazzi) sowie andere reformkatholische Tendenzen , die sich im Einzelfall oft vermengten (Muratori, Febronianismus, Episkopalismus, katholische Aufklarung). " Geistliches" und "Weltliches" glichen ja ursprunglich zwei si ch in einem breiten Bereich der " vermischten Gegenstande" uberschneidenden Kreisen , oh ne daB die Grenzlinien jemals endgultig festgelegt worden waren . Im Zuge der Verdichtung sowohl des Staats- als auch des Kirchenbegriffs begann nun jedoch die (in ihrer konkreten Ausgestaltung bis heute umstrittene) Trennung: Die Staatsgewalt, zunehmend gestutzt auf eine rationale Legitimation ihrer Herrschaft, suchte die Grenzen nach ihren Vorstellungen zu ziehen und dabei vor allem - entgegen der romischen Lehre von der Kirche als "societas perfecta" - die Existenz eines " Staates im Staate" auszuschlieBen . Da weltliche wie geistliche Kirchenreformer eine " Verinnerlichung" und "Vergeistigung" der Kirche gegen den "aul3erlichen Pomp", die " Andachteleien " und den " Aberglauben " des Barockkatholizismus forderten, unterstiitzten sie meist eine auf schlichtere, modern ere Formen von Gottesverehrung und Seelsorge ausgerichtete Kirchenpolitik - bis zu dem Zeitpunkt, an dem auch ein GroGteil von ihnen nach und nach die sich ausweitende Staatsmacht beschuldigte, Obergriffe gegen die Kirche zu veruben. Die schon 1763 / 67 vollzogene kirchenpolitische " Wende" des Wiener Erzbischofs Migazzi von einer anti-

Die theresiani schjosephinische Kirchenpolitik (sog. " Josephini smus")

a) Hintergrund e

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b) Klosterpolitik, Pfarr- und Diiizesanregulierung

c) Jose phini scher " Pastor bonus" und Volksreligiosil3t

I. Enzyklopiidischer Uberblick

jesuitisch und episkopalistisch gefarbten Einstellung zu Orthodoxie und Romtreue mag als ein friihes Symptom dieser Entwicklung gelten. Denn vermehrt erst seit 1767/ 68 (als die mit Habsburg verwandten Herzoge von Parma wegen ihrer Kirchenreformen exkommuniziert wurden) verkiindete Maria Theresia neue kirchenpolitische Gesetze, manche zunachst noch mit papstlicher Zustimmung wie die Abschaffung zahlreicher Feiertage (1754171) od er die Aufhebung von Klostern in der Lombardei, andere aber schon oh ne Riicksicht auf Rom, wie die Anhebung des Profef3-Alters auf 24 Jahre. Wirtschaftspolitische Motive lagen dem Erlaf3 bzw. der Erneuerung von Amortisationsnormen, dem Verbot von Geldiiberweisungen an auswartige Ordensobere und der Aufhebung geistlicher Steuerprivilegien zugrunde. In rascher Folge traf dann der allein regierende Joseph II. systematisch weitergehende Maf3nahmen. Vorbereitet durch die zentrale Geistliche Hofkommission erfolgte 1782 bis 1789 die Aufhebung von 700-800 Klostern (etwa eines Drittels des Bestandes der gesamten Monarchie), und zwar nicht nur, wie anfanglich geplant, jener der "unniitzen" beschaulichen Orden. Die aus der Versteigerung des Klosterguts erzielten Einnahmen von rd. 89 Mio. tl. sowie das Vermogen der gleichfalls aufgelosten frommen Bruderschaften wurden jedoch verschiedenen Fonds zugeleitet, welche - ahnlich wie zuvor der Exjesuitenfonds - zur Pensionierung der Exreligiosen und zur Besoldung der Pfarrer, aber auch zur Dotierung des Schulwesens, der Pfarrarmeninstitute sowie der rd. 3200 neuen Pfarren und Kaplaneien dienten. Auch neue Bistiimer (z. B. Linz) wurden errichtet. Doch stief3 die reichsrechtswidrige Diozesanregulierung natiirlich auf den Widerspruch jener ReichsbischOfe (besonders von Salzburg und Passau), deren Rechte davon betroffen waren. Gegen den Rat von Kaunitz vergiftete Joseph dam it nachhaltig das Verhaltnis zwischen dem Kaisertum und den geistlich en Reichsfiirsten als dessen traditioneller Klientel, ohne sein Ziel, Diozesan- und Landesgrenzen zur Deckung zu bringen, iiberall zu erreichen. Die Geistlichen im eigenen Lande ab er sollten als aufgeklarte Seelsorger wirken und gleichzeitig als ebenso umfassend gebildete wie praktisch tatige " Volkslehrer" fUr Fleif3, Gehorsam und Moral sorgen. Deshalb wurde die Priesterausbildung ausschlief3lich in die neugegriindeten staatlichen Generalseminare verlegt. Der bald spiirbar werdende Priestermangel entsprach vermutlich einer allgemeineren Entwicklung. Er konnte jedoch ebenso durch eine zuneh-

I. Reformen im Zeitalter der Aufklarung

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mende "Verweltlichung" wie durch den Widerstand breiter Bevolkerungskreise (z. B. in Tirol) gegen eine staatliche Reglementierung des kirchlichen Lebens zu erkHiren sein (Einschrankung von Prozessionen, Verwendung nach unten aufklappbarer " Sparsarge", Festlegung der Zahl der Kerzen am Altar etc.). Trotzdem wirkte eine " josephinische" Gesinnung noch lange nach dem Tod des Kaisers in weiten Teilen der osterreichischen Beamtenschaft und Geistlichkeit, partiell anscheinend selbst im einfachen Volk weiter. Auch der Abbau der staatskirchlichen Gesetze kam - la13t man die Abschaffung der Generalseminarien durch Leopold 11. beiseite - noch wahrend des Vormarz nur langsam voran. Dies weist darauf hin, da13 bei aller Radikalitat des Vorgehens die osterreichische Kirchenpolitik doch auch im Trend der Ma13nahmen anderer katholischer Territorien in- und au13erhalb des Reichs lag. Gewisse Parallelen lassen sich sogar in protestantischen Gebieten nachweisen - etwa wenn in Sachsen-Weimar 1786 die Kirchenbu13e (und damit die kirchliche Strafgewalt) vom Landesherrn stark eingeschrankt und 1804 sogar die Gerichtsbarkeit ilber Ehefragen sowie den Klerus vom Konsistorium auf ein weltliches Gericht ilbertragen wurde. Doch bildeten die Ma13nahmen zur Kirchenreform in den katholischen Landern zweifellos einen , wenn nicht den wichtigsten Schwerpunkt des "aufgeklarten" Absolutismus - besa13 die Kirche do ch beispielsweise in Bayern das Obereigentum ilber rd . 56% des bebauten Bodens. Gerade die Milnchner Regierung beschrankte sich jedoch nicht auf eine Imitation josephinischer Reformen, sondern ging kirchenpolitisch mit bestimmten Ma13nahmen voran bzw. betrat eigene Wege. Unter Filhrung Osterwalds, der ilbrigens ebenso wie wichtige osterreichische Politiker (Bartenstein, Haugwitz) zur katholischen Kirche konvertiert war, "verstaatlichte" sie zwar nicht, wie spater Joseph II., das Eherecht, aber immerhin zeitweise das Verlobungsrecht. Territorialistische Prinzipien lagen ebenso ihren Klostermandaten (seit 1768) wie der Einfilhrung des landesherrlichen Plazets fUr alle geistlichen Kundmachungen (1770) zugrunde. Da Milnchen sich gegenilber Rom aber flexibler als Wien zeigte, wurden hi er viele der wichtigsten Neuerungen im Interessenausgleich zwischen Landesherr und Kurie eingefUhrt - etwa eine zehnprozentige Besteuerung des Kirchenvermogens oder die Errichtung einer eigenen Milnchner Nuntiatur, letztere sehr zum Unwillen des Salzburger Erzbischofs Colloredo, der seinerseits sein Territorium zu einem Musterland der katholischen Aufklarung machen wolIte.

Parallelen in anderen Territorien

24 Bildungsreformen l Wi ssensch aft spfl ege :

a) Uni versitiitsreform en, Ak ademien

I. En zyklopiidischer Uberblick

Dazu gehorte eine 1773 eingeleitete Universitatsreform, mit der sich das katholische Salzburg dem rationalistischen Natur-, Staatsund Volkerrecht ebenso Offnete wie der quellenkritischen Reichsund Staatengeschichte, spater sogar der Kantischen Philosophie. Salzburg vollzog dam it allerdings nur eine Entwicklung nach, die anderswo, namentlich in Wiirzburg oder Wien , schon lange eingesetzt hatte. Bei diesen Reformen stand die Betonung der Realien gegen spatscholastische Bildungsinhalte, der freie Lehrvortrag gegen die Diktiermethode. Der Kampf gegen den machtigen Einflul3 der Jesuiten auf das Bild'ungswesen bzw. die Notwendigkeit von dessen N euordnung nach der Aufbebung des Ordens 1773 bildeten in den katholischen Territorien den Hintergrund der meisten Bildungsreformen , die als "verordnete Aufklarung" [N. HAMMERSTEINj bei breiten Schichten vielfach wenig popular waren. Ahnlich wie zuvor schon Aufklarer im Fiirstbistum Augsburg, allerdings mit mehr Erfolg bemiihten sich im Wien der 1750er Jahre der kaiserliche Leibarzt Gerard van Swieten und die ErzbischOfe Trautson bzw. Migazzi, den Einflul3 der Gesellschaft Jesu auf Universitats- und Priesterausbildung zuriickzudrangen. Nach dem hauptstadti schen Beispiel wurden schliel3lich in der gesamten Monarchie die Universitaten zu Staatsanstalten mit neuen Lehrinhalten und -methoden umgestaltet, was Joseph II. so weit trieb, dal3 die Hochschulen (Lyzeen und verbleibende Universitaten) fast nur noch dem unmittelbaren Zweck der Berufs-, speziell der Beamtenausbildung dienten und , ahnlich wie in einigen anderen Landern, der Zugang fiir Kandidaten aus einfacheren Schichten trotz Stipendienvergabe praktisch erschwert wurde. Die Vorbilder, denen manche katholische Universitat wie Mainz oder Wiirzburg nicht ohne Erfolg nacheiferte, waren freilich die protestantischen Wissenschaftszentren Halle (Thomasius, Wolff), wo 1727 erstmals ein Lehrstuh1 fi.ir Kameralistik eingerichtet worden war, und vor allem die 1736/ 37 gegriindete Georgia Augusta in Gottingen . Hier stand die Theologie nicht mehr im Mittelpunkt. Ein differenziertes Lehrangebot, neue Ideen (A. Smith) und die grundsatzliche Freiheit der Lehre lockten bald zahlreiche Adelsund Biirgersohne - oft zukiinftige Beamte und Politiker - aus alien deutschen Landen in die Stadt, die 1751/52 zudem noch um eine Akademie der Wissenschaften bereichert wurde. Auch anderswo widmeten sich die in dieser Zeit teilweise neugegriindeten (Miinchen 1759, Mannheim 1762/ 63) oder reorganisierten Akademien (Berlin) der wissenschaftlichen Forschung in vorbildlicher Weise,

I. Reformen im Zeitalter der Aufklarung

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z. B. auf historischem oder naturwissenschaftlichem Gebiet. Das Besondere und Zukunftsweisende der maBgeblich von dem fUhrenden Hannoverschen Politiker der Zeit, G. A. Frhr. von Munchhausen, gepragten Gottinger Bildungslandschaft bestand aber in der engen Verflechtung von Lehre und Forschung. Universitiits- und Gymnasialwesen waren noch nicht streng geschieden. In diese Richtung ging erst das preuBische Abiturreglement von 1788, das zusammen mit der im lahr zuvor erfolgten Grundung des Oberschulkollegiums sowie der im AlIgemeinen Landrecht (ALR) verkundeten Definition all er Bildungseinrichtungen als "Veranstaltungen des Staates" die Zielrichtung staatlicher Bildungspolitik vorgab. In enger Verbindung zu PreuBen stehend, versuchte der Braunschweiger Herzog Karl Wilhelm Ferdinand mit Hilfe des Aufkliirungspiidagogen 1. H. Campe das gesamte Bildungswesen seines Territoriums im philantropischen Sinne neu zu ordnen. Auch anderswo (z. B. in Lippe) unterlagen gerade die protestantischen Gelehrtenschulen dem EinfluB, der von Basedow 1774 in Dessau gegriindeten Philanthropin ausging. Daneben entstanden an verschiedenen Orten unmittelbar berufsbezogene Realschulen bzw. Fachakademien, etwa die Bergakademien in Clausthal und Freiburg oder die Hohe Kameralschule in Kaiserslautern. SchlieBlich lag die Ausweitung des Unterrichts in den Realien und den modernen Sprachen ebenso auf der Linie der praxisorientiert-eudiimonistischen Aufkliirungspiidagogik wie im landesherrlichen Interesse, was fUr die Erziehung zum selbstiindigen "Rasonieren" nicht unbedingt gel ten muBte. In den katholischen Territorien, wo Maria Theresia dieses hier ebenfalls schon liingerfristige Interesse am Bildungssektor 1770 in die Worte kleidete, die Schule sei "allezeit ein politicum" (und eben kein "ecclesiasticum" i), wurden zwar nach 1773 Jesuiten oftmals als Gymnasiallehrer weiterbeschiiftigt. Aber auch hier fanden die Ideen der Aufkliirungspadagogik, insbesondere durch das Wirken von Benediktinern und Piaristen, partiell Eingang in das hohere Schulwesen. Allerdings darf man bei einer Betrachtung des Gymnasial- und noch mehr des Elementarschulbereichs nicht die Vielgestaltigkeit der Strukturen und die Vielfalt der Triiger (Gutsherren, Magistrate, Kloster etc.) ubersehen, welche staatliche Schulvorschriften nur in begrenztem Umfang wirksam werden lieBen - von der Weiterexistenz des Hauslehrerwesens bzw. der sog. Winkelschulen ganz zu schweigen. Obwohl in manchen Territorien die Schulpflicht schon im 17. Jahrhundert verkundet worden war, differierten Schuldichte

b) Fachakademien, Realschulen, Gymnasien

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c) Elementar· schulen

Armen· und Wohlfahrtspolitik

L Enzyklopiidischer Oberblick

und effektive Schulbesuchsquote sogar in ein und demselben Staat (etwa in der preuBischen Monarchie zwischen Magdeburg/ Halberstadt und OstpreuBen) mitunter gewaltig. Allgemein lal3t sich jedoch feststellen, daB gegen Ende des 18.1ahrhunderts bei berufsstandischer Ausrichtung des Schulwesens und fortdauernder Beteiligung von Geistlichen an der Schulaufsicht zentrale staatliche Schulbeh6rden entstanden, Lehrplane vereinheitlicht und Ansatze zur Hebung von Ausbildungsstand, Besoldung und Sozialprestige des Lehrerstandes verwirklicht wurden. Man baute Schulhauser, verscharfte die Schulpflicht und widmete auch der Madchenerziehung vermehrte Aufmerksamkeit, allerdings ganz orientiert am Ideal der Hausfrau und Mutter. Aufgrund des Wirkens von staatlicher und "privater" Seite (FE. v. Rochow) verbesserte sich das Trivialschulwesen quantitativ wie qualitativ. In manchen slawischen Gebieten PreuBens und der Habsburgermonarchie wurde ein solches geradezu erstmalig geschaffen - mit weitreichenden Folgen fUr die kulturelle und nationale Entwicklung der dortigen Bev6lkerung. Im direkten Vergleich der beiden Machte scheint allerdings der 6sterreichische Zugriff auf das Elementarschulwesen im Sinne einer "Nationalerziehung" etwa in Form der von dem padagogischen Eklektiker 1. L Felbiger entworfenen "Allgemeinen Schulordnung" (1774) - bei weitem wirkungsvoller gewesen zu sein : Durch konsequenten Einsatz der unteren staatlichen Verwaltungsbehorden wie auch erheblicher, aus den Sakularisationen stammender Finanzmittel konnte etwa in Niederosterreich die Schulbesuchsquote von rd. 40% (1781) in nur drei lahrzehnten auf rd. 90% gesteigert werden . Desgleichen brachte in den geistlichen Landen die christliche caritas besondere Leistungen hervor, ohne freilich die zumindest in absoluten Zahlen zunehmende Armut wirksam eindammen zu k6nnen. Doch ging man unter Mitwirkung Dalbergs bei den weitgehend parallelen Reformen im Armenwesen von Mainz, Erfurt und Wiirzburg bereits von der Idee aus, daB private und kirchliche Fiirsorge durch staatliche Planung und vorbeugende Mal3nahmen ersetzt werden miiBten. Daher blieb es z. B. im Wiirzburgischen nicht bei der EinfUhrung einer Armenstatistik, der Differenzierung des Armutsbegriffs, bei Almosenverboten und Bettlerschiiben. Vielmehr suchte Fiirstbischof Franz Ludwig durch Hygienevorschriften und das Verbot schwerer korperlicher Arbeit kiinftigen Gesundheitsschaden bei lugendlichen vorzubeugen. Er liel3 ein Gebarhaus errichten, reorganisierte die bereits bestehende Hebammenschule, fUhrte eine Art

I. Reformen im Zeitalter der Aufklarung

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Krankenversicherung fUr Handwerkslehrlinge und -gesellen (in Bamberg auch fur Oienstboten) ein, verordnete - entgegen der bis dahin herrschenden " Kurierfreiheit" - Prufungen fUr Wundarzte und begann durch die erstmalige Aufnahme zahlender Patienten das ehrwurdige luliusspital in ein Krankenhaus modernen Zuschnitts zu verwandeln. Oerartige MaI3nahmen einer aktiven Wohlfahrtspolitik zahlen zu den Merkmalen des Aufgeklarten Absolutismus: 10seph 11. war der erste, der die Fabrikarbeit von Kindern beschrankte. Beruhmt wurde das von ihm gegrundete Allgemeine Krankenhaus in Wien . Friedrich der GroI3e sorgte sich besonders urn Invalide sowie urn die Witwen und Waisen von Offizieren und konnte durch die Offnung der ursprunglich fur militarische Zwecke angelegten Getreidemagazine und die Ausnutzung polnischer Lieferungen die Lebensmittelpreise in seinem Land wahrend der Hungerkrise zu Anfang der 1770er lahre vergleichsweise niedrig halten. Oer besondere Erfolg der Wurzburger MaI3nahmen , der sich in ihrer teilweisen Ubernahme durch den frankischen Reichskreis zeigte, scheint darin bestanden zu haben, daI3 es gelang, neben Beamten und Geistlichen auch die Offentlichkeit fUr das Armenwerk zu gewinnen. Oenn die bekannteste norddeutsch-protestantische Armenanstalt in Hamburg verdankte ihre Existenz ebenfalls wesentlich dem privaten Engagement von Hunderten von Burgern. Im ubrigen verzichteten diese kleineren Territorien nicht darauf, die fortschrittlichen Leistungen ihrer Wohlfahrtspolitik - so humanitar sie motiviert sein mochten - bekanntzumachen. Wenn Hamburg, Salzburg oder Erfurt daruber hinaus noch in den 1790er lahren kritischen Publizisten Asyl boten und eine weit groI3zugigere Pressepolitik verfolgten als manch grol3eres Territorium, so mag dabei der Wunsch der oftmals kritisierten und zunehmend von der Mediatisierung bedrohten kleineren Reichsstande nach einer "guten Presse" eine Rolle gespielt haben . In dieser Beziehung gaIt das friderizianische Preul3en ebenfalls lange Zeit als verhaltnism a I3ig " Iiberal". Ooch wurde kurzlich fUr den gesamten Zeitraum zwischen 1740 und 1819 von einer "Oominanz von Unterdruckung und Kontrolle in der preul3ischen Pressepolitik" gesprochen , wodurch sich der Hohenzollernstaat allerdings kaum von anderen deutschen Territorien unterschieden habe [87 : U. SCHOMIG]. Indes war selbst die Haltung der Aufklarer gegenuber der Zensur so unterschiedlich wie deren Schwerpunkte. Ging es etwa in den geistlichen Territorien, ab er auch im PreuI3en Friedrich Wilhelms n. (Wollnersches Religionsedikt und Zensuredikt 1788) pri-

Presse· und Sich erheitspolitik

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Ausbau der preuBischen Militarmacht

r.

Enzyklopadischer Uberblick

mar urn den Schutz eines bestimmten Verstandnisses von Sittlichkeit und Religion, so lieB dessen Vorganger auf dem Thron die Gebildeten frei "rasonieren", solange nicht am absolutistischen Herrschaftssystem Kritik geiibt oder etwas fUr die preuBische AuBenpolitik Abtragliches publiziert wurde. Dariiber hinaus suchte Friedrich mit Erfolg die Presse - auch jene anderer Territorien - zu beeinflussen und in seine m Sinne zu lenken. In der Habsburgermonarchie dagegen lag das Zensurwesen bis 1751 faktisch in den Handen der J esuiten, bevor unter Gerard van Swieten eine zentrale staatliche Zensur institutionalisiert wurde, die schlie!3lich auch die voriibergehend "episkopalisierte" Revision theologischer Werke tibernahm. Die dezidiert aufklarungsfreundliche, "Iiberale" Zensurpolitik des Niederlanders fand nach dessen Tod (1772) aber erst mit dem Zensurpatent Josephs H. (1781) ihre Vollendung: Im Rahmen einer weitgehenden Pressefreiheit (jedenfalls fUr "gelehrtes" Schrifttum) war nun sogar sachliche Kritik am Landesherrn ausdriicklich erlaubt. Das "Tau wetter" in Wien, das eine Publikationsflut ausloste und sich auch auf den Biicherexport giinstig auswirkte, endete jedoch rasch. Denn die Hoffnungen Josephs, die Offentlichkeit fUr seine Politik zu gewinnen, erfUllten si ch nur teilweise. Eine weitergehende Emanzipation war ihm jedoch unerwtinscht. So wurde schon seit 1784/ 86 - parallel zur Beschrankung und Beaufsichtigung der Freimaurerlogen - die Zensurpraxis wieder verscharft. Leopolds IT. Doppelspiel der geheimen Forderung radikal-aufklarerischer Publizisten bei gleichzeitiger Ubertragung der Zen sur an die konservative Hofkanzlei fand unter seinem Sohn Franz 11. keine Fortsetzung: 1795 war die Zeit relativer Pressefreiheit auch formell endgiiItig zu Ende. Von 1801 bis 1848 soUte dann die Wiener Polizei- und Zensurhofstelle die Presseaufsicht in auBerst restriktiver Weise handhaben. Schon 1782/ 86 war namlich in der Habsburgermonarchie eine "geheime Polizei" aus der schon unter Maria Theresia geschaffenen (haupt-)stadtischen Sicherheitspolizei ausgegliedert worden. Ihre Spitzeltatigkeit wurde unter Leopold H. nur voriibergehend eingeschrankt. Osterreich trug damit wesentlich dazu bei, daB der Begriff "Polizeistaat" einen negativen Beigeschmack erhieIt, spielte ab er andererseits eine Vorreiterrolle beim Aufbau eines effizienten staatlichen Polizeiapparats zur Wahrung der "inneren Sicherheit". Im tibrigen erfolgte der ProzeB der Staatsbildung jedoch im Habsburgerreich eher iiber Kirche und Schule, in Preu/3en dagegen iiber Verwaltung und Militar, zumal letzteres auch einen bedeuten-

I. Reformen im Zeitalter der Aufkliirung

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den Wirtschaftsfaktor darstellte. Das preul3ische Heer war mit einem Anteil von bis zu knapp 4% der Bevolkerung relativ das stiirkste in Europa. Das Fundament der Heeresorganisation, das Kantonsystem, hatte schon der "Soldatenkonig" gelegt (1733). Friedrichs Beitrag zum Ausbau der preul3ischen Militiirmacht bestand in seinen Fiihrungsqualitiiten und gliinzenden Siegen, der (u. a. dank verstiirkter "Auslands" -Werbung) zahlenmiiBigen Ausweitung, jedoch konsequent einheitlichen Schulung seines Heeres sowie in der Zuriickdriingung der Kompaniewirtschaft (nach 1763), wen iger in seinen begrenzten organisatorischen, strategischen und taktischen Neuerungen. Weiterwirkende Anregungen in Richtung auf eine stiirkere Gewichtung der Artillerie, die Ab10sung der Lineartaktik, die Einfiihrung einer allgemeinen Wehrpflicht und eine auf Allgemeinbildung und humane Menschenfiihrung abzielende Offiziersausbildung vermittelte dagegen Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe. Den meisten kleineren und mittleren Fiirsten dienten ihre Truppen all erdings vornehmlich zu Repriisentationszwecken oder zur schnellen Erlangung von Subsidien. Dazu richtete sich die Armee von Hessen-Kassel beziiglich Uniform, Bewaffnung, Exerzierreglement und Rekrutierungswesen (beschriinkt allerdings auf Landeskinder) ganz nach dem preul3ischen Vorbild. Nachdem Daun und Lacy die habsburgische Militiirverwaltung vereinfacht, den Offiziersstand aufgewertet und besser ausgebildet sowie die" Verstaatlichung" des Heeres vorangetrieben hatten, fiihrte Joseph 11. das Kantonsystem in modifizierter Form ebenfalls ein. Verschiedene Umstiinde, darunter die mange In den Feldherrnqualitiiten des Kaisers, trugen jedoch dazu bei, daB der Tiirkenkrieg am Ende seiner Regierungszeit militiirisch zu einem Fehlschlag, politisch und finanziell ab er zu einer Katastrophe geriet.

Imitation und Neuansiitze in anderen Territorien

1.3 Die Grenzen des Aufgekliirten Absolutismus So drohte im Todesjahr dieses Herrschers, der wahrscheinlich von alien absolutistischen Fiirsten seiner Zeit die radikalsten Reformen durchgefiihrt hatte, die Auflosung seines Reiches. Seine Hast, seine Verachtung und Riicksichtslosigkeit gegeniiber alien Anhiingern historisch gewachsener Strukturen, aber auch gegeniiber potentiellen Mitstreitern, seine Unfiihigkeit zu einer Politik der Balance, die seine Mutter so gekonnt beherrscht hatte, mogen erkliiren, daB es notwendig wurde, viele von seinen MaBnahmen zuriickzunehmen:

Das " Scheitern " Josephs 11. als Symptom

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Das ABGB als Spatfrllcht des AlIfgekl ii rten Abso lutismus

Der Aufgeklarte Abso lllti smus Vorstufe der " Revolution von oben"

l. Enzyklopiidischer Dberblick

Joseph 11. schuf sich wahrend seiner kurzen Alleinregierung innenpolitisch - vor allem in Ungarn und Belgien - zu wenig Freunde und zu vie\e Feinde, als daB er sich auch noch auBenpolitisch auf Abenteuer hatte einlassen durfen_ Der Kaiser stieB, wie alle anderen aufgeklart-absolutistischen Fiirsten, an die Grenzen der traditionellen Ordnung von Staat und Gesellschaft. Dienten "nahezu alle verbliebenen Reformen Josephs I I. __ _ langfristig der Stabilisierung der Monarchie" [V. PRESS], so erfolgte diese doch unmittelbar durch das Einlenken Leopolds und die nachfolgende Erneuerung des traditionellen Bundnisses zwischen der Krone und den konservativen Teilen des Ade\s. Damit war Wien immerhin stark genug, urn - im Gegensatz zu Berlin - trotz zeitweilig erheblicher Gebietsverluste die GroBmachtstellung Osterreichs stets zu wahren und zum standigen Widerpart von Revolution und Empire zu werden. Dadurch fehlte aber sowohl der eigene Wille als auch der auBere Antrieb zu Reformen, die weitergegangen waren als die in Auseinandersetzung mit Napoleon notwendigen ModernisierungsmaBnahmen im Heerwesen und der AbschluB der schon unter Maria Theresia begonnenen Arbeiten an einem neuen Zivilrecht. Zeillers AlIgemeines Burgerliches Gesetzbuch (ABGB) von 1811 verband jedoch feudal- und rechtsstaatliche Elemente und darf von daher als eine Spatfrucht des Aufgeklarten Absolutismus angesehen werden, vergleichbar dem ALR, nur methodisch anders, subtiler standisch als das kasuistisch angelegte preuBische Gesetzbuch. Einerseits wurde namlich die Kantsche Kritik am vernunftrechtlich begriindeten staatlichen Eudamonismus aufgegriffen , die Rechtsordnung mit positiv-rechtlichen Normen identifiziert und zwischen einem prinzipiell gleichheitlichen biirgerlichen (Vert rags-) Recht und einem auf dem staatlichen Gewaltmonopol beruhenden Offentlichen Recht unterschieden. Andererseits ab er leitete sich aus letzterem das grundherrliche verhaltnis ab, das im Zivilrecht ebenso erhalten blieb wie Fideikommisse und spezielle " Standesvorziige". Unter diesen vorzeichen stagnierte die osterreichische Innenpolitik bis 1848. In fast alien anderen deutschen Territorien haben dagegen speziell die antikorporativen Implikationen der staatlichen Reformen im Zeitalter der Aufklarung - die der "klassische" Absolutismus noch nicht gekannt hatte - einen ProzeB zwar nicht in Gang gesetzt, aber doch wesentlich gefOrdert, der unter neuen auBenpolitischen vorzeichen die herkommliche Ordnung von Staat und Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade sprengen sollte. Weniger durch das,

2. Die sog. Deutsche Reformzeit

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was tatsachlich schon erreicht wurde, als durch die atmospharische Vorbereitung kiinftiger grundlegenderer Vera.nderungen im rationalen und etatistischen Sinn leitet die Epoche des Aufgeklarten Absolutismus somit iiber zur "Revolution von oben".

2. Die sog. Deutsche Reformzeit

(1797/1803-1814/21) 2.1 ReJormziele vor dem Hintergrund machtpolitischer und territorialer Veranderungen Mit dem Begriff: "Revolution von oben" kann - urn diversen Einwanden aus dem Weg zu gehen - freilich nur auf die Intensitat und die zeitliche Gedrangtheit des von der Staatsspitze vorangetriebenen Reformprozesses angespielt werden. Die erste revolutionare Umgestaltung der Verhaltnisse innerhalb des Reichs , namlich jene in den linksrheinischen Gebieten, erfolgte allerdings tatsachlich "von oben", oder besser noch "von auBen ". Denn seit 1792 griff die Franzosische Revolution, gleich bedeutend als Ereignis und Erfahrung, mit ihren Revolutionsheeren iiber die franzosischen Ostgrenzen hinaus. Zwar blieb die Okkupation von 1792/ 93 samt der Mainzer Republik eine nur mittelbar bedeutungsvolle Episode; doch wurde die Besatzungsherrschaft seit 1794 zunehmend als belastend empfunden und veranderte durch ein organisatorisches Hin und Her die gewohnten Verwaltungsstrukturen. Seit 1797/ 98 wurden dann die franzosischen Gesetze schrittweise eingefUhrt und die linksrheinischen Gebiete in vier Departements eingeteilt. Ihre Integration in das Napoleonische Frankreich wurde 1801 / 02 rechtlich abgeschlossen - ein Zustand, der bis 1814 dauern so lite. Dem iibrigen Deutschland sollte die Franzosische Revolution eine Dimension der Veranderungsmoglichkeiten zumindest aufzeigen, die der Aufgeklarte Absolutismus noch nicht gekannt hatte. Schon seit 1796 wurde noch eine andere traditionelle "Reichs"landschaft von einem "revolutionaren" ProzeB erfaBt: Franken. Machtpolitisch erfolgreich , suchte namlich der fUr die 1791 an PreuBen gefallenen Fiirstentiimer Ansbach und Bayreuth zustandige Minister Hardenberg mit historisch hochst fragwiirdigen Rechtsdeduktionen ("Revindikationen") die Hoheitsverhaltnisse unter massivem Druck auf die benachbarten Reichsstande und vor allem auf die zahlreichen Reichsritter zu " purifizieren". Bis zum Ende des Alten Reiches wurde dieses Vorgehen , obwohl schlief31ich von anderen

Besetzun g und Eingliederung der lin ksrheini schen Gebiete

Die "A ra Ha rden· berg" in Fra nken

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De r Fried e Yon Basel und die Koa litionskri ege bis J 805

1802/ 03 : Sii kula risierung und Medi ati sierung

I. Enzyklopiidischer Uberblick

Staaten nachgeahmt, jedoch auch in der Publizistik iiberwiegend als illegal abgelehnt. Indes konnten die neuen Machtverhaltnisse auf Dauer nicht ohne rechtliche und sozialpsychologische Wirkung bleiben. Schon die mit der EinfUhrung des ALR und einer Kreiseinteilung nach franzosischem Vorbild [!] verbundene hohenzollernsche Staatsbildung in Franken erfolgte im Windschatten der Franzosischen Revolution . Denn als preul3ischer Verhandlungsfiihrer hatte Hardenberg 1795 in Basel einen Vertrag mit Frankreich abgeschlossen, welcher bis 1806 mit Ausnahme der vom englisch-franzosischen Konflikt betroffenen Gebiete (1. franzosische Okkupation Hannovers \803 / 05) der nordlichen Reichshalfte bis iiber den Main hinaus den Frieden sicherte. Wahrend z. B. in Weimar die kulturelle Bliite andauerte, erlebte der Siiden insgesamt drei Koalitionskriege (1792-1797, 1799 bis 1802, 1805). Das wachsende franzosische Ubergewicht und die Machtlosigkeit bzw_ d as Hausmachtinteresse des Reichsoberhaupts ermoglichten aber auch den grol3eren siiddeutschen Staaten 1802/ 03 Ubergriffe gegen schwachere Reichsglieder, stand doch schon seit dem abgebrochenen Rastatter Kongrel3 (1797/ 99) im Prinzip fest, dal3 die rechtsrheinischen Dynasten fUr Verluste auf dem linken Rheinufer entschadigt werden soil ten. Schliel3lich erklarte der Reichsdeputationshauptschlul3 vom 25.2. 1803 als das von Frankreich und Rul3land vermittelte Ergebnis von Beratungen der wichtigsten Reichsstande den weltlichen Besitz der Reichskirche zur Entschadigungsmasse. Ausgenommen blieben die dem Mainzer KurfUrsten und Reichserzkanzler Dalberg zugesprochenen Territorien (Regensburg, Wetzlar, Aschaffenburg, spater das neugebildete Grol3herzogtum Frankfurt) sowie die Besitzungen der indes bis 1809 ebenfalls sakularisierten geistlichen Ritterorden. Infolgedessen erhieIten 3, 16 Mio. bislang geistliche Untertanen neue, weltliche Landesherren. Gleichzeitig wurden die schon eingeleiteten und alle zukiinftigen Aufhebungen von Klostern - es waren dies Hunderte - und gewaltige Mengen an Kirchengut (in Wiirttemberg und der Pfalz auch evangelisches) verstaatlicht. Die daraus resultierenden Einnahmen kamen den Staatskassen zugute, jedoch hatten diese auch zahlreiche Verpflichtungen, z. B. fUr Pensionen, Schulen und Wohlfahrtseinrichtungen, zu iibernehmen. Eindeutig negativ fiel die fiskalische Bilanz bei der Ubernahme der grol3enteils hochverschuldeten Reichsstadte aus, die ebenfalls fast alle der territorialen Flurbereinigung zum Opfer fielen . Aber machtmal3ig waren die sakularisierenden und mediatisierenden Regierungen

2. Die sog. Deutsche Reformzeit

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eindeutig die Gewinner. Die Verdrangung des finanzstarken Klerus aus der bayerischen Standevertretung schwiichte die Machtbasis der Stande ebenso wie die von alien Bewilligungen unabhiingige Quelle neuer Einkiinfte, die Herzog Friedrich durch seine neuwiirttembergischen Erwerbungen erschlo13. Nicht zuletzt die Hoffnung auf weiteren Gewinn fiihrte viele Fiirsten 1805 endgiiltig in das Lager Napoleons - und sie wurden nicht enttauscht, jedenfalls, soweit sie sich nicht gar zu viel erwartet hatten. So wurden Bayern, Wiirttemberg und Sachsen zu Konigreichen, Baden und Hessen-Darmstadt zu Gro13herzogtiimern erhoben. Nach dem auf die Dreikaiserschlacht bei Austerlitz folgenden Frieden von Pre!3burg (26.12.1805) sowie erneut nach dem Abschlu13 des Rheinbundvertrages (12 .1 17.7. 1806) konnten die meisten von ihnen einen weiteren Gebietszuwachs verzeichnen, nunmehr hauptsiichlich auf Kosten der kleineren weltlichen Reichsstiinde und der Reichsritterschaft. Vor allem aber erkliirte Napoleon seine Verbiindeten fUr souveran und ziindete damit den Sprengsatz, der das Reich endgiiltig zerstoren so lite. Dessen Struktur war schon 1803 - u. a. durch die Schaffung neuer Kurwiirden - grundlegend veriindert worden . N unmehr legte Franz H. , der bereits 1804 den Titel eines Kaisers von bsterreich angenommen hatte, auf franzosischen Druck hin am 6.8. 1806 die Reichskrone nieder und loste das Reich auf. Die jahrhundertealte politische Ordnung Mitteleuropas, die bis zuletzt ihre Aufgaben der Rechts- und Friedenswahrung zum Teil noch hatte erfUllen konnen, bestand nicht mehr. Der Rheinbund ab er bot dafUr einen gewissen Ersatz, organisierte er doch bald, wenngleich unter dem Vorzeichen franzosischer Hegemonie, das gesamte rechtsrheinische Deutschland mit Ausnahme der osterreichisch, preu13isch, diinisch oder schwedisch regierten Gebiete. Bestrebungen, ihn zu einem Bundesstaat auszubauen, gab es bis 1808 verschiedentlich. Insbesondere Dalberg, der " Fiirstprimas" des Bundes, und andere kleinere Territorialherren hatten schon urn ihrer Sicherheit willen ein Interesse daran, in dieser Richtung zu wirken. Gelehrte oder Journalisten wie P. A. Winkopp griffen die Idee auf. Auch im Pariser Au13enministerium wurden derartige Oberiegungen angestellt. Der "Protektor" selbst, Napoleon, hielt sich verschiedene Optionen offen. Aber die Funktion des Bundes als militiirisches Glacis, Aufmarschgebiet, Truppenreservoir und als Geldquelle besa13 fiir ihn immer Vorrang. Deshalb unternahm er angesichts wachsender Schwierigkeiten seit 1808

Die Grundun g des Rh einbundes und das Ende des AlIen Reiches

Der Rheinbund im Napoleonischen Herrschaftssystem

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Der Zu sa mmen· bruch Preuf3ens

Der 6sterreichi sch· franz6sisch e Kri eg vo n 1809 und sein e Fo lgen

1. Enzyklopadischer Uberblick

(Aufstiinde in Spanien und im seit 1806 bayerischen Tirol, Krieg gegen Osterreich 1809) keinen Versuch mehr, die Rheinbundmitglieder zu einer einheitlichen Innenpolitik zu zwingen , obwohl er in Deutschland zuniichst niemand mehr zu fUrchten brauchte. Denn 1806 hatte er Preul3en bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen - jenes Preul3en, das sich durch den franzosischerseits geforderten Erwerb Hannovers von der antifranzosischen Allianz isoliert hatte, sich aber andererseits dem Imperator nicht unterordnen wo lite. Im Frieden von Tilsit (9 . 7. 1807) verlor es deshalb rund die Hiilfte seines Territoriums und blieb nur auf Intervention des Zaren hin iiberhaupt als Staat erhalten. Abtreten aber mul3te es an das neue Grol3herzogtum Warschau einen Teil der zuvor erworben en polnischen Gebiete, urn deren politische Integration - iihnlich wie Frankreich im linksrheinischen Deutschland - es sich durchaus bemiiht hatte. Seine westelbischen Lande kamen dagegen an das 1806 von Napoleon fUr seinen Schwager Murat geschaffene Grol3herzogtum Berg (u . a. aus dem preul3ischen Kleve und dem wittelsbachischen Berg) sowie an das 1807 fUr seinen jiingsten Bruder Jerome eingerichtete Konigreich Westfalen, einen nicht zuletzt aus militiirischen Erwiigungen kreierten Kunststaat mit der Hauptstadt Kassel, dessen ostlichster Vorposten - Magdeburg - weiterhin eine franzosische Garnison beherbergte. Nachdem sich auch die durch den Krieg von 1809 geniihrten Hoffnungen der deutschen " Patrioten" zerschlagen hatten, nahm Napoleon weitere territoriale Veranderungen vor. Beispielsweise erhielt Bayern 1810 die Fiirstentiimer Salzburg und Bayreuth, Westfalen den Hauptteil Kurhannovers. Wie Berg verlor Westfalen aber seinerseits bald Gebietsteile an das Empire, welches sich zudem das gesamte nordwestdeutsche Kiistengebiet bis hiniiber nach Liibeck angliederte. Dal3 diese standige Umgestaltung der Territorienwelt, die einzelne Kleinstaaten (wie Hohenzollern-Sigmaringen) oft nur dank irgendwelcher personlicher Beziehungen zur Dynastie Bonaparte iiberlebten, die Bevolkerung verunsicherte und nicht gerade zur Starkung des monarchischen Gedankens beitrug, liegt auf der Hand. Politisch motiviert wurde die zuletzt genannte Mal3nahme jedoch durch den Wunsch Napoleons, den Warenverkehr zwischen England und Deutschland wirkungsvoll zu unterbinden. Ende 1806 hatte der Kaiser den Wirtschaftskrieg gegen das Inselreich verscharft: Niemand durfte mehr mit englischen Waren Handel treiben. Der Blockadekrieg zwischen dem Napoleonischen Herrschafts-

2. Die sog. Deutsche Reform zeit

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bereich und England traf die HafensHidte schwer. Auch die gewerbliche Produktion hatte zu leiden, wenn sie von wichtigen Rohstoffoder Absatzmarkten abgeschnitten wurde. Das war aber nicht nur eine mogliche Folge dieser sog. Kontinentalsperre, sondern haufig eine Konsequenz des - zugespitzt formuliert - franzosischen Wirtschaftsimperialismus, des sog. Kontinentalsystems. Im Interesse der heimischen Industrie lieB Napoleon an der Rheingrenze hohe Zolle erheben , was Z. B. die exportorientierte bergische Baumwollindustrie in Schwierigkeiten stiirzte. Er brachte einen bayerisch-italienischen Handelsvertrag zu Fall und zwang seine Verbiindeten, durch Prohibitivzolle den Import von Kolonialwaren einzuschranken. Abgesehen davon, daB der Handel in frankreichfernen Gebieten (Sachsen) nicht selten von dieser Politik profitierte, konnte der ausgedehnte Schmuggel (z. B. via Helgoland an die deutsche Kiiste od er mittels nachtlicher Rheinfahren) deren negative wirtschaftliche Folgen freilich vielfach in Grenzen halten. Beliebter machten sich der Kaiser und seine Agenten (z. B. die sog. Kaffeeschniiffler) damit ab er weder bei den Regierungen seiner Alliierten noch bei deren Untertanen. Unter diesen Vorzeichen wuchs mancherorts der Widerstand gegen die franzosische Herrschaft, wurden national-deutsche Paralen vermehrt aufgegriffen. Einzelaktionen von "Freiheitskiimpfern" (Dornberg, Schill, Friedrich Wilhelm von Braunschweig-bls) erregten allerdings zwar Aufsehen, das Napoleonische System vermochten sie ab er kaum zu erschiittern. Schwerer wog die Tiroler Erhebung, die nur miihsam niedergeschlagen werden konnte. Aber erst die Katastrophe Napoleons in Rul3land (1812) wirkte vor dem Hintergrund vermehrter Agitation (Arndt, Fichte) und wachsender wirtschaftlicher Schwierigkeiten in breiteren Kreisen wie ein Fanal. Von einer allgemeineren Volkserhebung wird man trotzdem selbst in Norddeutschland schwerlich sprechen diirfen. Nach der Volkerschlacht bei Leipzig (16,/ 19.10.1813) wurden die anschlieBend von den Allierten besetzten deutschen Territorien teils umgehend der Regierung der wiedereingesetzten Fiirsten, teils zunachst einem von Stein geleiteten Zentralverwaltungsrat unterstellt und dann bis 1816 a ufgeteilt. PreuBen bekam dabei den weitaus grol3ten Part, namlich neben Schwedisch-Pommern und Posen die bald so genannten Provinzen Rheinland und Westfalen , und zwar teilweise auf Kosten Hessen-Darmstadts, das dafiir mit einem Gebiet von Mainz bis Worms abgefunden wurde (Rheinhessen). Bayern, das gegen entsprechende Zusagen (wie nach ihm die ande-

Ko ntin entalsperre und Kontinent alsystem

D er Zu sammenbruch der Napol eonischen Herrschaft

Teilrestauration , Wiene r Kongre13 und Deutscher Bund

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Differenzierung nach Undergruppen:

1. Preu/3en

2. Staaten ohn e weiterfijhrende Reformen

I. Enzyklopiidischer Uberblick

ren sliddeutschen Rheinbundstaaten) rechtzeitig die Seiten gewechselt hatte, erhielt Wlirzburg und die zunachst gemeinsam mit Osterreich verwaltete Rheinpfalz, mu13te dem Kaiserstaat daflir ab er Tirol und Salzburg abtreten. In Norddeutschland war die Wiederherstellung und sogar Ausdehnung frlihererTerritorialgewalten (Hannover, Oldenburg) - von denen ehemalige kleine Rheinbundstaaten wie Salm zumeist ausgeschlossen blieben - ebenfalls mit zahlreichen Kompensations- bzw. Tauschgeschaften verbunden. Schlimm erging es Sachsen, das Napoleon treu geblieben war: Auf dem Wiener Kongre13 verlor es liber die Halfte seines Gebietes an Preu(3en. Aber es waren nicht nur die Eigeninteressen der Gro(3machte, die einer Totalrestauration im Wege standen. Natlirlich gab es einzelne zurlickgekehrte Flirsten, die das Rad der Zeit zurlickdrehen wollten : In Hessen-Kassel flihrte der Kurflirst - so nannte er sich immer noch, obwohl es keinen Kaiser mehr zu kliren gait - sogar den Zopf wieder ein! Doch so lassen sich historische Erfahrungen in den Kopfen nicht einfach ausloschen. Auch waren die fortexistierenden ehemaligen Rheinbundstaaten nicht gewillt, ihre Souveranitat zu opfern - wed er der Restitution der Mediatisierten noch einer starken deutschen Zentralgewalt. So wurde mit Hilfe der Deutschen Bundesakte (1815) und der Wiener Schlu13akte (1820) schliel3lich nur ein verhaltnisma13ig lockerer Staatenbund organisiert, der ledigIich dann auf widerstrebende Mitglieder einen entscheidenden Druck auszuliben vermochte, wenn Preu13en und Osterreich am gleichen Strang zogen . Dies war allerdings der Fall bei der Durchsetzung der Karlsbader Beschllisse (1819). Doch ist das Ende der sog. Deutschen Reformzeit nur teilweise darauf zurlickzuflihren. In mancher Hinsicht hatten die Reformer namlich ihre Ziele schon verwirklicht, als die Reaktion voll einsetzte. Freilich waren ohnehin nicht in alien deutschen Territorien Reformen durchgeflihrt worden. So lassen sich in dieser Hinsicht, abgesehen von den Sonderfallen Habsburgerreich und Schleswig-Holstein, im Prinzip folgende Landergruppen bilden: Nach einer Phase der sog. "Vorreformen", die eher von Diskussionen lib er mogliche bzw. wlinschenswerte Neuerungen als durch deren legislative Inangriffnahme gekennzeichnet war, erfolgte in Preu13en 1807 / 08 unter Stein ein erster Reformanlauf, der nach einer gewissen P.ause unter dem Ministerium Altenstein / Dohna in modifizierter Form seit 1810 von Hardenberg fortgesetzt wurde. Die meisten Staaten Nord- und Mitteldeutschlands gehorten dagegen zu jenen, in denen keine weitergehenden Reformen ver-

2. Die sog. Deutsche Reforrnzeit

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wirklicht wurden, so auch die beiden Mecklenburg und Sachsen, die dem Rheinbund angehorten. Einzelne Reformbemiihungen von herzoglich-mecklenburgischer Seite scheiterten ebenso am Widerstand der Ritterschaft wie die von biirgerlicher Seite gefUhrte Verfassungsreformbewegung in Sachsen, die im Zusammenhang mit dem Landtag von 1811 immerhin eine breite Diskussionsbasis besaB. Die Masse der noch verbleibenden kleinen Fiirsten, etwa in den siichsisch-thiiringischen Duodezstaaten, sah - mit Ausnahmen wie dem Herzog von Anhalt-Kothen, der durch die moglichst vollstiindige Ubernahme der franzosischen Gesetzgebung sein winziges Fiirstentum in erhebliche Schwierigkeiten stiirzte - weder eine Notwendigkeit noch teilweise auch nur die Moglichkeit, an den Verhiiltnissen in ihren Liindern Grundlegendes zu iindern. Ein derartiger politischer Immobilismus schloB freilich nach 1806 etwa die Ubernahme franzosischer Amtsbezeichnungen nicht aus. Das gait bis 1810 weitgehend auch fUr das GroBherzogtum Frankfurt sowie allgemein fUr das ebenfalls von Napoleon ins Leben gerufene GroBherzogtum Wiirzburg, nachdem dort zur Zeit der ersten bayerischen Herrschaft (1803/ 05) bereits weitergehende Reformen eingeleitet worden waren. Bayern, Baden und Wiirttemberg, in geringerem MaBe auch Hessen-Darmstadt und Nassau waren die eigentiichen Reformstaaten unter den nicht von Napoleoniden regierten Rheinbundmitgliedern. Hier waren teilweise bereits vor 1806, insbesondere im Kontext von Siikularisation und Mediatisierung, Neuerungen eingefUhrt worden. Die Aussicht auf eine Nachfolge Beauharnais' veranlaBte Dalberg seit 1810, die Innenpolitik seines Fiirstentums mehr jener der Napoleonischen Modellstaaten anzuniihern, ohne daB dieser Kurswechsel noch allzuviele dauerhafte Ergebnisse gezeitigt hiitte. Dem Konigreich Westfalen - bis zu einem gewissen Grad auch dem GroBherzogtum Berg - hatte Napoleon niimlich die Aufgabe zugedacht, durch eine vorbildliche Organisation von Staat und Gesellschaft " moralische Eroberungen" im iibrigen Deutschland zu machen und damit die Angleichung der Rheinbundstaaten an das franzosische Herrschafts- und Gesellschaftssystem zu fordern. Doch geriet diese Modellstaatskonzeption in einen unauf10slichen Widerspruch zu den kaiserlichen Machtambitionen, die nicht nur zu einer direkten Unterstellung Bergs unter die Befehlsgewalt der Pariser Zentrale fUhrten (1808), sondern besonders im Falle Westfalens auch zu einer regelrechten finanziellen Ausbeutung des Landes. Die Tatsache, daB Napoleon Spitzenvertreter seines neuen Reichsadels

3. Di e siiddeut· schen Reform· staaten

4. Die Napoleonischen Modellstaaten Berg und Westfal en

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5. Di e franzii sisch besetzten Gebiete

Di e Reformm oti ve:

a) Di e Integrati on neuerwo rbener Gebiete

b) Beseiti gung der Standeverfassung Durchsetzung der Staatsso uveranitat

l. Enzyklopiidischer Uberblick

mit rd. der Halfte der westfalischen und zeitweise fast einem Drittel der bergischen Domanen dotierte und selbst noch enorme Geldsummen und grol3e Truppenkontingente verlangte, verurteilte das Modell zum Scheitern. Die Nachfolgestaaten, insbesondere HessenKassel, in geringerem MaBe auch Hannover und Braunschweig, machten nicht nur den groBten Teil der westfalischen Gesetzgebung, sondern im Gegensatz zu PreuBen z. B. auch manche der nach diesen Normen abgewickelten Ablosungsgeschafte riickgangig. In den nur 1810-1813 dem Empire angegliederten Gebieten Norddeutschlands, z. B. in Hamburg, eriangten die alten Gesetze und Verfassungen ebenfalls wieder weitgehend ihre Giiltigkeit. Trotz franzosischer Amtssprache und Gesetzgebung war die vollige (z. B. auch zollpolitische) Integration in das Kaiserreich hier kein vorrangiges Ziel Napoleons gewesen. Reine Besatzungsgebiete (wie Hannover 1803 / 05 und - ebenso wie Braunschweig und Bayreuth1806 / 10) dienten ihm ohnehin nur als vorgeschobene Bastionen bzw. PHinder sowie als Objekte einer Ausbeutungs- , nicht einer auf Dauer angelegten Reformpolitik. Dagegen hatte die zwanzigjahrige franzosische Herrschaft den link srheinischen Gebieten so weitgehend ihren Stempel aufgedriickt, daB die nachfolgenden Regierungen sich veranlaBt sahen, der dortigen Bevolkerung mit einigen Modifikationen die Fortdauer der franzosischen Rechtsverhaltnisse zuzugestehen. Reformen und territoriale Veranderungen standen also in einem direkten Zusammenhang : Neuerungen wurden im Rheinbund praktisch nur dort durchgefiihrt, wo neue Staatsgebilde geschaffen od er aber bestehende ausgeweitet wurden. Denn das vielleicht wichtigste Antriebsmoment dieser Reformen bestand in dem Wunsch, neuerworbene Landesteile zu einem geschlossenen Ganzen zu verschmelzen. Diese Integration sollte nicht nur auf juristischem Wege erfolgen, d. h. durch die Vereinheitlichung der Gesetze, sondern auch wirtschaftlich und gesellschaftlich. Nicht zuletzt muBte die Loyalitat der neuen Untertanen erst gewonnen werden. Politisch gesehen boten die territorialen Veranderungen und der Zusammenbruch des Reiches den Regierungen jedoch die Moglichkeit, einen eventuell noch bestehenden Verfassungsdualismus zu beseitigen und die Staatssouveranitat nach innen voll durchzusetzen. Eine rationale, zentralistische Verwaltungsorganisation sollte von nun an eine maximale Effizienz des Staates gewahrleisten konnte man doch nur auf diese Weise Napoleon als wertvoller Verbiindeter erscheinen. Ihres reichsrechtlichen Schutzes beraubt, wur-

2. Die sog. Deutsche Reforrnzeit

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den daher die Landstiinde z. B. in Wiirttemberg, Tirol und HessenDarmstadt 1806 ein Opfer dieser Entwicklung. Da aber die wichtigste Funktion der alten Stiinde meist im Recht der SteuerbewiJligung und -erhebung bestanden hatte, glaubten manche Spitzenpolitiker, auf diesem Wege auch die driingenden Probleme des Fiskus losen oder wenigstens lindern zu konnen. Niemand vermochte ja nunmehr gegen geplante Steuererhohungen legal zu opponieren; der Beseitigung von Steuerprivilegien stand rechtlich nichts mehr im Wege. ledoch zeigte es sich bald, daB diese finanzpolitische AJlmacht der Regierungen ihre Kehrseite hatte. Denn mit der Beseitigung stiindischer Repriisentativorgane fehlten auch Garantien fUr die Riickzahlung der Staatschulden, allgemeiner: Es fehlte jede Kontrolle iiber das Finanzgebaren der StaatsfUhrung. Dabei waren die Regierungen durchaus bestrebt, ihre Entscheidungen nicht als Willkiirakte erscheinen zu lassen. Deshalb bemiihten sich die preuBischen Reformer - gegen Widerstiinde am Hof, im Adel und in der Biirokratie selbst - schlieBlich vergeblich urn die Einberufung einer neukonzipierten "Nationalversammlung", und deshalb wiinschten sie - erfolglos - zumindest die Unterstiitzung einer Notabelnversammlung fUr ihre (Finanz-)Gesetze. Die ersten umfassenden Dokumente einer politischen Neuordnung in den Rheinbundstaaten, die Konstitutionen von Westfalen (1807) und Bayern (1808), sahen ebenfalls "Reichsstiinde" vor, welche allerdings in Westfalen nur zweimal, in Bayern iiberhaupt nie einberufen wurden . Trotzdem besaBen diese Verfassungen eine erhebliche Bedeutung, und zwar nicht nur als rechtliches Fundament einer starken Staatsgewalt, sondern auch als erste Zusammenfassung und Fixierung grundlegender Garantien zahlreicher biirgerlicher Freiheitsrechte in Deutschland. In diesem Sinne bildeten sie den AbschluB einer langen aufgekliirten bzw. aufgekliirt-absolutistischen Reformtradition und den Auftakt zur konstitutionellen Entwicklung im 19. lahrhundert. Zwischen beiden Konstitutionen existierten allerdings auch charakteristische Unterschiede : Die westfiilische fUhrte beispielsweise den Code Napoleon im Lande unmittelbar ein, die bayerische sprach nur von einer kiinftigen einheitlichen Zivilgesetzgebung. Denn die Verfassung Westfalens war vom Kaiser selbst erlassen worden, diejenige Bayerns hatte Montgelas entworfen, sich dabei zwar am westfiilisch-franzosischen Vorbild orientiert, aber do ch bemiiht, sich einen Handlungsspielraum fUr eigene gesetzgeberische

c) Versuch wr Lasung der fiskalischen Probleme durch Abbau vo n Privilegi en

d) aufkliirerische Reformtradition: Verankerung der "biirgerlich en Freiheit"

e) napoleonischer Druck und franzasisches Vorbild

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f) Distanz bzw. Revanche gegeniiber Frankreich

g) Bildung, politische Erziehung und Mobilisierung einer " Staatsnation"

I. Enzyklopiidischer Uberblick

Maf3nahmen zu bewahren. Natiirlich wurde die Effizienz des franzosischen Staatsapparats iiberall bewundert. Aber die geographische und politische Nahe der verschiedenen Rheinbundstaaten zu Frankreich war unterschiedlich: in Baden etwa viel grof3er als in Sachsen. Dementsprechend verschieden war die Chance, gegeniiber dem von Frankreich ausgehenden Druck einheimische Gegebenheiten zu erhalten bzw. eigenstandige Reformvorstellungen zu realisieren. Schlief31ich dachte mancher Rheinbundpolitiker schon friihzeitig an den Tag, an dem Napoleons Stern sinken wiirde. Bis dahin wo lite man keine Gelegenheit versaumen, schon lange geplante Veranderungen durchzusetzen, sich jedoch nicht vollstandig in die Hand des Imperators geben. Die Distanz gegeniiber Frankreich sollte wenigstens so grof3 sein, daf3 man, innerlich gestarkt, eines Tages gegebenenfalls auch einen Biindniswechsel vollziehen konnte. Eine ahnliche Gratwanderung kennzeichnet das Vorgehen Hardenbergs. Dessen diplomatische Leistung bestand darin, Preuf3en nach 1810 als einigermaf3en loyalen Verbiindeten Frankreichs erscheinen zu lassen, wiewohl ein Scharnhorst zu gleicher Zeit mit Erfolg die Wiederaufriistung betrieb. Nur muf3te es hi er den Reformern von Anfang an um eine Wiedergewinnung der Grof3machtstellung Preuf3ens gehen, die nur auf Kosten der Napoleonischen Schopfungen Westfalen und Warschau, also nur im Rahmen eines Revanchekrieges gegen Frankreich, moglich war. Insofern nahm die Idee der "Befreiung vom napoleonischen Joch" in Preuf3en - anders als in den Rheinbundstaaten - immer einen prominenten Platz im Konglomerat der Reformmotive ein. Indes muf3te dazu in beiden Fallen - als Ergebnis eines Integrationsprozesses - ein Gemeinschaftsbewuf3tsein wenigstens innerhalb der (preuf3ischen, bayerischen etc.) "Staatsnation" geschaffen bzw. gestarkt werden. An ein iibergreifendes Deutschland bzw. deutsches Yolk dachten nur wenige Politiker wie etwa Stein. Die Idee des selbstverantwortlich tatigen, aber fUr die (staatliche) Gemeinschaft wirkenden Einzelnen war jedoch, vielleicht als Reaktion auf den friderizianischen Drill und Untertanengeist, bei den preuf3ischen Reformern besonders ausgepragt. Stein und die Berliner Militarreformer pladierten dafiir, die preuf3ische Nation - vor allem auf kommunaler Ebene - politisch mitwirken zu lassen und sie dadurch fUr spatere, gesamtstaatliche Aufgaben zu bilden bzw. sie (durch EinfUhrung der allgemeinen Wehrpflicht) zu einer solchen Aufgabe bereits heranzuziehen. Die Absicht, dem besitzenden und gebildeten

2. Die sog. Deutsche Reforrnzeit

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Teil der Untertanenschaft nach einer Hingeren Phase entsprechender Erziehung politische Mitbestimmungsrechte einzuraumen, teilten jedoch auch verschiedene rheinbiindische Staatsmanner.

2.2 Die einzelnen Reformbereiche Praktisch stand iiberall am Beginn des Reformwerks die Reform von Verwaltung und Biirokratie, da alle neuerungswilligen Minister eines effektiven Instruments zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen bedurften. Vorbildlich (z. B. fiir Baden 1809 / 19, Nassau 1811) wirkte hier die Reform des bayerischen Beamtenrechts, in deren Zentrum die Dienstpragmatik von 1805 stand. Dabei wurde, auch besoldungsmal3ig, eine klar gegliederte Beamtenhierarchie geschaffen, verbunden mit festen Rechtsanspriichen auf Pensionierung und Hinterbliebenenversorgung. Das (unregulierte) Sportelwesen sowie die Kauflichkeit und Erblichkeit von Amtern gehorten der Vergangenheit an . Dafiir mul3ten sich die jetzt auch aul3erlich "uniformierten" sog. "Staatsdiener" bestimmten Qualifikations- bzw. Leistungsanforderungen unterwerfen. Bei Amtsdelikten einschliel3lich Fahrlassigkeit und Faulheit drohten ihnen (abgestufte) Sanktionen bis hin zur gerichtlich ausgesprochenen Entlassung. Diese blieb aber eben nicht mehr der Willkiir des Fiirsten oder eines Vorgesetzten iiberlassen. Allerdings wurden die Beamtenprivilegien bald auf den im iibrigen auch vergleichsweise sehr gut besoldeten hoheren Staatsdienst beschrankt. Doch sorgte der Konkurrenzdruck angesichts des hohen Angebots an bisherigen Beamten (z. B. aus den mediatisierten Gebieten) dafiir, dal3 sich in der Folgezeit tatsachlich ein diszipliniertes, leistungsfahiges Beamtentum ausbildete, das freilich seinerseits gewisse " neustandische" Ziige trug. Die administrative Integration erforderte dariiber hinaus eine Neuorganisation des Verwaltungsapparats im Sinne des biirokratischen Zentralismus, welcher freilich oft in eine unpopulare " Vielschreiberei" miindete. Die Zentralbehorden wurden nun endgiiltig nach dem Realprinzip gegliedert - also in drei bis sechs Fachministerien unterteilt, die auf ihrem Sachgebiet fiir den Gesamtstaat zustandig waren - und zunehmend nach dem Direktorialprinzip gefiihrt. Hierbei dominierten vielfach einzelne Minister: Reitzenstein in Baden, Montgelas in Bayern , Beugnot in Berg, Simeon in Westfalen, Hardenberg als Staatskanzler ab 1810 in Preul3en. Der Einflul3

Bea mtenreform en: Die bayerisch e Dien stpragmatik vo n 1805

Verwa ltun gs reformen und administrati ve Integratio n

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Das Scheitern d es preul3i schen Gend a rmerie- Edikts von 1812

l. Enzyklopadischer Oberblick

von Kabinettsraten und damit indirekt die unmittelbare Eingriffsmoglichkeit des Fiirsten in die Verwaltung wurden zuriickgedrangt. Auch regelmaf3ige Ministerkonferenzen oder Geheim- bzw. Staatsratsgremien, in denen - vorbehaltlich der Sanktion durch den Fiirsten - die wichtigsten Angelegenheiten durch Mehrheitsbeschluf3 hatten entschieden werden konnen , bildeten entweder oft kein ausreichendes Gegengewicht gegen die Macht dieser Minister oder wurden ohnehin erst verspatet (re-)organisiert (z. B. Wiirttemberg 1816, Preuf3en 1814/ 17). Die teilweise erst jetzt eingerichtete mittlere Verwaltungsschiene wurde in fast alien rheinbiindischen Reformstaaten - unter Umstanden nach Durchlaufen der Zwischenstufe einer Provinzialeinteilung (Baden) - im wesentlichen nach franzosischem Vorbild gestaltet, also in Form neugebildeter, meist nach Fliissen benannter Kreise. An deren Spitze stand in den Napoleonidenstaaten ebenso wie im linksrheinischen Deutschland ein Prafekt. Auch in den iibrigen Rheinbundreformstaaten wurde das Biirosystem weitgehend verwirklicht und die kollegiale Entscheidungsfindung auf bestimmte Angelegenheiten eingegrenzt. Lediglich in Hessen-Darmstadt, wo die Provinzorganisation noch erhalten blieb , dominierte das Kollegialprinzip - wie in geringerem Maf3e auch bei den neugeschaffenen preuf3ischen " Regierungen" weiterhin . In ahnlicher Weise iibernahmen auf der unteren Verwaltungsebene der Bezirke und Gemeinden nur die am starksten von Frankreich gepragten Staaten dessen streng biirokratisches System ohne grof3ere Modifikationen, zumal hi er Justiz und Verwaltung oftmals weiterhin in einer Hand vereinigt blieben. Teilweise wurde jedoch die Sicherheitspolizei nach dem Vorbild der linksrheinisch im Kampf gegen das Rauberunwesen sehr erfolgreichen franzosischen Gendarmerie organisiert. Infolgedessen muf3ten die Patrimonialgerichte vielfach Befugnisse abgeben und sich , z. B. in Bayern, einer scharferen staatlichen Aufsicht unterwerfen . Im franzosisch regierten Deutschland, in Wiirttemberg (1809) und Baden (1813) wurden sie sogar aufgehoben; dies wurde im Vormarz nur teilweise wieder riickgangig gemacht. Entsprechende Plane (u . a. Steins) scheiterten in Preuf3en ganzlich. Zwar wollte Hardenbergs Gendarmerie-Edikt von 1812 die Unterbehorden nahezu vollstandig verstaatlichen : Uber den paritatisch von Bauern, Biirgern und Gutsbesitzern gewahlten Kreisdeputierten so lite a1s Chef der Exekutive, insbesondere der neuen Landpolizei, ein beamteter Kreisdirektor stehen. Die adelige Opposition und ihr Einfluf3 bei Hofe fiihrten jedoch dazu, daf3 das Edikt zu-

2. Die sog. Deutsche Reforrnzeit

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nachst suspendiert, spater wieder aufgehoben wurde. So blieb schlieBlich der alte adelige Landrat erhalten ; seine Kompetenzen wurden sogar noch erweitert. Dies beweist, da13 die Staatssouveranitat im Kampf gegen konkurrierende Gewalten nicht iiberall und auf Dauer mit Erfolg durchgesetzt werden konnte. Nur in den linksrheinischen Gebieten wurden die adeligen Herrschaftsrechte und Privilegien zur Ganze beseitigt. In Preu13en dagegen blieben sogar die Steuerfreiheiten der Rittergutsbesitzer noch Jahrzehnte erhalten . Die Rheinbundstaaten verkiindeten zwar teilweise das Prinzip der Rechtsgleichheit auf diesem und anderem Gebiet, durchbrachen es aber - mit Ausnahme Wiirttembergs - vielfach zugunsten der kaiserlichen Donatare (Westfalen) bzw. der Standesherren. Die bayerische Regierung beispielsweise verfuhr mit den Mediatisierten durchaus schonungsvoll - ihre diesbeziiglichen Regelungen wurden 1815 fUr die iibrigen Bundesmitglieder verbindlich. Aber die Reichsritter und Landadeligen , nunmehr rechtlich zu einer einheitlichen Adelsschicht zusammengefa13t, konnten ebenfalls zahlreiche Privilegien behaupten und wurden steuerlich milde eingeschatzt, sofern sie nur iiber gro13eren Grundbesitz verfiigten. Wie in Frankreich , suchten sich auch in Deutschland die Regierungen auf eine Schicht der " Besitzer" zu stiitzen , nur da13 diese rechts des Rheins iiberwiegend noch aus Adeligen bestand. Soweit jedoch die von der Rheinbundakte aufgezahlten Souveranitatsrechte (Steuerhoheit, hohe Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt etc.) nicht wesentlich tangiert waren, anderte sich deren Rechtsstellung nicht radikal. Neue Majoratsgesetze fiir gro13ere, schuldenfreie Giiter konnten ebenso wie die Aufhebung von bisherigen Beschrankungen des Giiterverkehrs oder Moratorien fiir Grundschulden (preu13isches Oktoberedikt bzw. sog. Indult vom November 1807) das Ziel verfolgen, die okonomische Basis dieser Schicht zu festigen . Harter traf der Privilegienabbau den Klerus, dem lediglich in Dalbergs Herrschaftsbereich ein Sonderrecht wie der privilegierte Gerichtsstand belassen wurde; infolgedessen bii13te er viel von seiner Attraktivitat fiir junge Adelige ein. Hatte das Aufklarungszeitalter schon eine weitgehende praktische Toleranz gebra cht, wurde nun , unter Integrationsgesichtspunkten, die rechtliche Fixierung von Toleranz, ja Pari tat zwischen den christlichen Konfessionen infolge der Mediatisierungen geradezu unausweichlich (z. B. Wiirttemberg 1806). Nach dem Reichsdeputationshauptschlu13 wurde aber auch das Staatskirchentum auf die Spitze getrieben und die Geistlichkeit in hohem Ma13e in den Dienst des Staates gestellt. Am

Der Abb a u von Pri vilegi en und die Durchsetzung d er Staatssouveriinitat:

a) gegeniiber d em Adel

b) gegenuber dem Kl e ru s

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c) gege n d as stiidtische Biirgertum

Idee und Praxi s der Selbstverwaltung in PreuBen

I. Enzyklopadischer Oberblick

Ende stand hier mitunter eine vom Staat verordnete bzw. beaufsichtigte protestantische Union (Rheinpfalz 1818, Preuf3en 1819). Urn das neue Verhaltnis zwischen Staat und Kirche auch katholischerseits von der hi:ichsten geistlichen Autoritat absegnen zu lassen, leiteten verschiedene Politiker Verhandlungen ein, die im Falle Dalbergs auf ein Reichs- bzw. Rheinbundkonkordat, sonst aber, urn ein solches zu verhindern, auf einzelstaatliche Konkordate nach dem franzi:isischen Vorbild von 1801 abzielten. Auch letztere Bestrebungen fUhrten jedoch erst nach 1815 zur Beendigung des bis dahin oft nur provisorischen Zustands z. B. hinsichtlich Amterbesetzung und Dii:izesangrenzziehung. Wie der Klerus verlor auch das stadtische Biirgertum seine eigenberechtigte Stellung, wo es eine solche noch besessen hatte, und zwar nicht nur in Form seiner Korporationen (wie der Ziinfte). Selbst die oftmals oligarchische Fiihrungsschicht ehemaliger Reichsstadte biif3te ihre Amter ein; staatliche Beamte iibernahmen die Verwaltungsaufgaben. Da sich die extreme Zentralisierung aber nur wenig bewahrte, wurden die ehemals stadtischen Befugnisse nach einer Reihe von Jahren an neuformierte, gewahlte Stadtmagistrate teilweise wieder zuriickgegeben (z. B. Bayern 1818, Hessen-Darmstadt 1821). In Preul3en waren "Privatherrschaft" und "Willkiir" zusammen mit der traditionellen stadtischen Selbstverwaltung bereits unter Friedrich Wilhelm I. weitgehend beseitigt worden. Deshalb konnte man hi er friiher als anderswo daran denken, durch eine neue Form der Selbstverwaltung, den "Gemeingeist" und "Biirgersinn" wieder zu beleben und dadurch auch den Staat, den seine Vormundschaft ohnehin teuer zu stehen kam, zu starken. Unter Mitarbeit vor allem des Ki:inigsberger Polizeidirektors Frey konzipierte daher der Freiherr vom Stein die nach ihm benannte, fUr das gesamte damalige Preuf3en giiltige Stiidteordnung (1808). Danach verschwand der fUr die Stadt bisher zustiindige Steuerrat. Zahlreiche Privilegien, z. B. einzelner Stadte oder Mediatherren, entfielen. Jedem Unbescholtenen stand gegen eine Gebiihr der Erwerb des Biirgerrechts offen, samtliche "Eigentiimer" (Gewerbetreibende, Hausund Grundbesitzer, nicht automatisch jedoch Beamte bzw. Akademiker) mUj3ten es sogar erwerben. Alle Biirger, die einen niedrigen Zensus erfUllten, bestimmten in freier Wahl die Stadtverordneten, welche ihrerseits das Budgetrecht besa/3en, den Magistrat bestellten und kontrollierten. Au13erhalb der Justiz und des vom Gesetzgeber nicht definierten Bereichs der Polizei, die nun von staatlichen Be-

2. Die sog. Deutsche Reforrnzeit

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horden oder zumindest im staatlichen Auftrag verwaltet wurden, beschrankte sich der Einfluf3 des Staates auf ein blof3es Aufsichtsrecht. Insofern zielte diese Stadteordnung auf einen langerfristigen politischen Erziehungsprozef3. Dieser setzte tatsachlich ein, allerdings durchaus miihsam, wie die Distanz vieler Biirger gegeniiber der neuen , ja auch belastenden Selbstverantwortung belegt: Selbst in Berlin war der erste freigewahlte Oberbiirgermeister ein adeliger Beamter! Jedoch ging die Stadteordnung, obwohl als "Modell einer Reprasentativverfassung mit Gewaltenteilung" [M. BOTZENHART) und als wichtiger Schritt zu einem gesamtstaatlichen Biirgerrecht zukunftweisend , noch nicht von einer Einwohnergemeinde aus - faktisch am wenigsten in den Grof3stadten. lodes konnten grundsatzlich auch Juden das Stadtbiirgerrecht erwerben, und die inlandischen Schutzjuden wurden durch das Emanzipationsedikt von 1812 sogar zu preuf3ischen Staatsbiirgern erklart. Jedoch entfiel fUr sie dabei nur die Masse der Beschrankungen im person lichen und wirtschaftlichen Bereich, und auch dieser Fortschritt gaIt nach 1815 nur fUr die "alten" Provinzen, nicht Z. B. fUr Posen. Der Zugang zu offentlichen Amtern (auf3er Lehr- und Gemeindeamtern) blieb ihnen generell noch lange verschlossen. Doch abgesehen vom linksrheinischen Deutschland (bis 1808) erreichten die Juden wahrend der Reformzeit nur in den kurzlebigen Staatssch6pfungen Westfalen und Frankfurt die volle Gleichberechtigung und damit mehr als in Preuf3en, wobei in alien Fallen die Zahlung (in Frankfurt ab 1810) bzw. die Beschaffung hoher Sum men zugunsten der Staatskasse diese Emanzipation zumindest begiinstigte. In Sachsen blieb sogar der Leibzoll noch bestehen, wogegen in der Mehrzahl der iibrigen Rheinbundstaaten die existierenden Judengesetze vereinheitlicht und meist auch im Sinne einer Emanzipation weiterentwickelt wurden, ohne daf3 diskriminierende Bestimmungen - wie etwa die Festlegung einer bestimmten Hochstzahl einheimischer Juden (Bayern 1813) - vollstandig entfallen waren. Hier glich das Ziel der Gesetzgeber jenem Josephs 11.: Assimilation der Juden unter Einsatz aller Mittel und unter utilitaristischen Gesichtspunkten. Auch auf anderen Gebieten der Legislation fielen zahlreiche, doch selten alle bisherigen Sonderrechte den neuen lntegrationsund Modernisierungstendenzen (im Sinne der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien) zum Opfer. I mmerhin konnte der fUhrende Strafrechtsdogmatiker seiner Zeit, Anselm Feuerbach, auf den die Formulierung "nulla poena sine lege" zuriickgeht, als Ministerial-

Breites Spektrum d er Jud enpolitik

46 Das baye risch e Strafgesetzbu ch von 18 13

Der Kampf um die Einfiihrung des Code Napoleon

Das Problem der Aufhebung von Feudalrechten

1. Enzyklopiidischer Uberblick

referent seine Vorstellungen in das bayerische Strafgesetzbuch von 18 13 in hohem Ma!3e einbringen. So fand darin lediglich die Festungshaft Aufnahme als eine (neu-)stiindische, "ehrenhafte" Sonderstrafe zugunsten von Tiitern aus den "gebildeten Stiinden". Sie war jedoch von gleicher Dauer wie eine Zuchthaus- bzw. Gefiingnisstrafe. Durch weitgehende Rechtsgleichheit, fortentwickelte Oberbegriffe (im Unterschied zur Kasuistik des ALR), durch eine priizise Fassung der einzelnen Tatbestiinde, die strenge Trennung von Recht und Moral und eine Humanisierung des Strafensystems, in dessen Zentrum nunmehr eindeutig die Freiheitsstrafen riickten, wirkte dieses erste wirklich moderne Strafgesetzbuch Deutschlands vorbildlich nicht nur innerhalb des deutschen Sprachraums, wo es bereits 1814 von Oldenburg rezipiert wurde. I m Strafproze!3wesen wies dagegen das franzosische Recht mit seinen Prinzipien der Offentlichkeit und Miindlichkeit des Verfahrens in die Zukunft. Die Entwicklung des Zivilrechts stand weithin unter dem Ein!lu!3 des Code Napoleon. Er wurde nicht nur linksrheinisch gel ten des Recht (und blieb es dort bis 1900), sondern auch in den Satellitenstaaten, wo sich sei ne aus der Revolution hervorgegangenen antifeudalen Bestimmungen (Prinzipien der Erbteilung und des Volleigentums, Verbot von Personalfronen und "ewigen" Grundrenten) allerdings in vieler Hinsicht an den traditionellen gesellschaftlichen Verhiiltnissen und den iibergeordneten Machtinteressen Na poleons brachen. In den Gro!3herzogtiimern Baden und Frankfurt wurde die Feudalverfassung juristisch sogar in den Code eingebaut; so entstand das " Badische Landrecht" des 19. Jahrhunderts. In Bay ern aber scheiterte der Rezeptionsanlauf, und gegeniiber Wiirttemberg und Sachsen hatte Napoleon nicht einmal den Versuch unternommen, ihnen "sein" Gesetzbuch aufzudrangen. Neben der Frage der Zivilehe lag der neuralgische Punkt regelma!3ig in der Behandlung der traditionellen feudalen Agrarverfassung mit ihren herrschaftlichen und genossen schaftlichen Bindungen. In Frankreich, wo die Revolution diesbeziiglich weitgehend tabula rasa geschaffen hatte, konnte man fortexi stierende Rechte als " biirgerliches Eigentum" klassifizieren und fUr die Zukunft schiitzen. Im rechtsrheinischen Deutschland stand man dagegen vor dem Problem, da!3 urspriinglich feuda1e Rechte inzwi schen oft versachlicht, ja zum Spekulationsobjekt geworden waren. Der gegenwartige Eigentiimer hatte sie ererbt oder gar titulo oneroso erworben. Aus welchem Grunde sollten derartige Herrsch aftsrechte nun abqualifiziert und - unter Umstanden als "Mi!3brauch" sogar entschadi-

2. Die sog. Deutsche Reformzeit

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gungslos - abgeschafft werden, wenn gleichzeitig ein ererbtes Kapital oder ein verpachtetes Grundstiick zum unantastbaren Eigentum erklart wurde? Durfte man "wohlerworbenen Rechten" den Eigentumscharakter absprechen, ohne die Existenz von fremdbewirtschaftetem Grundeigentum iiberhaupt zu gefahrden? [n der Regel versuchte man in dieser Situation zwischen Rechten , welche aus einer persanlichen Abhangigkeit resu[tierten, und solchen, die auf Grund und Boden harteten (sog. Realrechten), zu unterscheiden . So wurden - von Ausnahmen (Wiirttemberg vor 1817) abgesehen - Anspriiche aus der Personalleibeigenschaft als naturrechtswidrig iiberall entschadigungslos beseitigt. Schon die Frage, ob eine bestimmte Pflichtigkeit nun etwa aus der Leib- od er der Grundherrschaft resultierte, erwies sich jedoch oftmals als schwer od er gar nicht beantwortbar. Realrechte, die - wie Zehntoder (grund- bzw. gerichtsherrliche) Fronrechte - als hinderlich fUr die Entwicklung der Agrarproduktion angesehen wurden, sollten langfristig ebenfalls verschwinden , ab er nur auf dem Wege der Ablasung, also gegen Entschadigung der bisherigen Berechtigten. Zu einer radikaleren Umgestaltung der Eigentumsordnung kam es daher - infolge der Flucht vieler Feudalherren und der Ubertragung franzasischer Rechtsnormen - nur in den linksrheinischen Gebieten. [n Berg und Westfalen rehlte es dagegen weitgehend sowohl an einem wohlhabenden Biirgertum, das an agrarkapitalistischen Verhaltnissen interessiert gewesen ware, als auch an einer niederen Beamtenschaft, welche die Verwirklichung in diese Richtung zielender gesetzlicher Vorschriften aktiv betrieben hatte. Der haufig verbeamtete Ade1 verhinderte zusammen mit den kaiserlichen Donataren den Erfolg einer Ablasungsregelung (z. B. I: 20 fUr Geld- , 1: 25 fiir Naturalabgaben) , die angesichts der besonders in Westfalen hohen steuerlichen Belastung den Bauern ohnehin wenig Chancen bot. In Berg wurde zwar die Aufhebung des geteilten Eigentums Ende 1808 offiziell verkiindet - ein fiir Deutschland einmaliger programmatischer Akt. Doch fUhrte auch hier die Verworrenheit der Agrarverfassung zu einer solchen Fiille derart komplizierter Prozesse, daB sich die Regierung 1812 genotigt sah, alle schwebenden Verfahren niederzuschlagen, ob wo hi sie noch durch das sog. Septemberdekret von 1811 eine Bereinigung der wirren Rechtsverhaltnisse versucht und im Zuge dessen Z. B. samtliche Banngerechtigkeiten entschadigungslos a ufgehoben hatte. Ahnliche Probleme - und ahnlich geringe Erfolge - zeigten si ch in den anderen Rheinbundstaaten , die in dieser Zeit die Agrarver-

Versueh ein er Differenzierung: Perso nalreehte - Realreehte

Das Scheitern der Abliis ungsgesetz· gebun g in Berg und Westfale n

Ahnlich geringe Erfolge in anderen Rh einbundstaaten

4S

Die Um strukturi erun g d er Gutsherrschaft : a) in SchleswigHolstein

b) in Preufl en

l. Enzyklopadischer Oberblick

fassung zu reformieren suchten. Verschiedentlich, z. B. in HessenDarmstadt, wurden Weiderechte eingeschriinkt und die Freiteilbarkeit der Oi.iter verki.indet, der jedoch die Orundbesitzer durch testamentarische Verfi.igungen entgegenwirken konnten. Die Fixierung biiuerlicher Realleistungen machte Fortschritte, aber deren Ablosung blieb in aller Regel dem Einvernehmen von Pflichtigen und Berechtigten i.iberlassen. Auch Regierungen, die wenigstens fi.ir einen Teil ihrer Domiinenbauern noch vor oder wiihrend der Rheinbundzeit Ablosungsnormen verki.indeten (Bayern IS03 fi.ir die ehemaligen Klosteruntertanen), scheiterten damit weitgehend an den Konjunkturkrisen seit ca. IS10 / 12, am Kapitalmangel der Bauern sowie an der Tatsache, daB der Staat als Feudalherr bzw. Rechtsnachfolger von Feudalherren in seiner Finanznot wenig Entgegenkommen zeigen konnte. Im AblosungsprozeB erzielten die betreffenden Staaten kaum einen Vorsprung gegeni.iber anderen, die entsprechende Regelungen fi.ir ihre grundherrlichen Bauern erst einige lahre spiiter verki.indeten (Wi.irttemberg ISI7, Baden IS20, PreuBen IS21 fi.ir seine oft unterschiitzte, erhebliche Zahl grundherrlicher Bauern selbst in den ostelbischen Gebieten). Verschiirft stellten sich die Probleme im Bereich der Gutsherrschaft. Geschah in Mecklenburg und der siichsischen Oberlausitz vorerst kaum etwas wr Verbesserung der biiuerlichen Besitzrechte, so wurden die rd . 100000 gutsherrlichen Untertanen in SchleswigHolstein im lahre IS05 personlich befreit. Viele von ihnen konnten sogar dank Bauernschutz, weitergeltender Fi.irsorgepflichten und massiver Kredithilfen einen GroBteil des von ihnen bestellten Landes in Eigentum oder Besitz nehmen, was wesentlich w erheblichen Produktionssteigerungen beitrug, obgleich z. B. aus der Patrimonialgerichtsbarkeit resuItierende Abhiingigkeitsverhiiltnisse weiterbestand en und die soziale Differenzierung wuchs. Bekannter ist allerdings die preuBische "Bauernbefreiung". Nachdem bereits vor IS06 fi.ir einen Teil der Domiinenbauern - die in OstpreuBen rd . 55 %, in Schlesien aber nur ca. 7 % der gesamten Bauernschaft ausmachten - eine Umwandlung der Fronen in eine Geldabgabe sowie eine Verbesserung ihrer Besitzrechte eingeleitet worden waren, hob das sog. Oktoberedikt von IS07 bisherige Beschriinkungen im Grundsti.icksverkehr auf und statuierte ab Martini (11. 11.) IS10 die personliche Freiheit all er Gutsuntertanen. Damit entfielen noch nicht alle Fronpflichten, jedoch die Oesindezwangsdienste sowie die Beschriinkungen der Freizi.igigkeit, der Berufswahl und der Heirat. Die Frist bis J SI 0 sollte den Gutseigenti.imern die

2. Die sag. Deutsche Reforrnzeit

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Umstellung ihrer Wirtschaft auf persi:inlich freie Arbeitskrafte (Gesinde bzw. Landarbeiter) erleichtern. Eine im selben Jahr erlassene Gesindeordnung stellte sicher, daB Dienstboten auch weiterhin handgreiflich diszipliniert werden konnten. Angesichts der Kriegsschaden ging die preuBische Regierung namlich bereits seit Stein in hohem MaBe von Rentabilitatsgesichtspunkten aus. Im Gefolge einer Verordnung vom 14.2. 1808 wurde unter bestimmten Bedingungen das Bauernlegen bald iiberall gestattet. Eine generelle Regelung der besitzrechtlichen Fragen erfolgte aber erst 1811 durch das sog. Regulierungsedikt. Danach sollten die erblichen LaBbauern ein Drittel, die nichterblichen und die Zeitpachter sogar die Halfte des bisher von ihnen bebauten Landes an die Gutsherren abtreten, urn den Rest des Anwesens als Eigentum zugesprochen zu erhalten. Der EinfluB der Gutsherren fUhrte dazu , daB gegen den Widerstand von Hardenbergs Agrarexperten Scharnweber eine Deklaration von 1816 den Kreis der Abli:isungsberechtigten dann auf den GroBteil der spannfiihigen Stellen beschrankte. Speziell die zu Handfronen verpflichteten Kleinbauern blieben fUr die Abli:isung ihrer Dienste auf die Zustimmung ihrer Gutsherren angewiesen. Trotzdem machte das Regulierungsgeschaft, insbesondere etwa in Ostpreuf3en, schon in den folgenden Jahren rasche Fortschritte. Die Abtretung von Akkerboden zwang in den Ostprovinzen zu Neulandgewinnung und vermehrtem Arbeitseinsatz. Das rapide Wachstum der SUidte Berlin und Breslau und die spatere industrielle Entwicklung PreuBens diirften daher weniger als Folgeerscheinungen einer massenhaften Landflucht proletarisierter Kleinbauern zu betrachten sein als vielmehr als Konsequenzen eines generell schnellen Anstiegs der Landbevi:ilkerung, der seinerseits allerdings mit dem Landesausbau und dem Wegfall der Heiratsbeschrankungen zusammenhing. Schlief31ich bot die 1811 gegen den Widerstand breiter biirgerlich er Schichten verkiindete Gewerbefreiheit, die sonst fast nur im franzi:isisch regierten Deutschland herrschte, gute Chancen fUr eine wachsende Zahl neuer Gewerbetreibender. Zumindest auf dem Lande muBte man nun in der Regel nur mehr gegen Gebiihr einen Patentschein li:isen, urn sich in einem Gewerbeberuf niederlassen zu ki:innen . Auch in den Stadten wurden die Ziinfte zu Privatvereinen degradiert. Ihr Ansehen und EinfluB trugen indes dazu bei , daB sich die gewerbliche Entwicklung PreuBens zunachst nicht so sehr von jener der siiddeutschen Staaten oder Schleswig-Holsteins unterschied, die bei einem (z. T. groBziigig gehandhabten) Gewerbekonzessionssystem bzw. bei einer modifizierten Zunftverfassung stehen

Gewerb e- und Handel sreformen

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Sta atli che Finanznote und Moderni sierungspoiitik

Bedingte MiiitiirdienstpOicht oder allgem eine Wehrpflicht ?

1. Enzyklopadischer Oberblick

blieben und dabei neben "i:iffenflich-rechtlichen" Befugnissen (wie einer eigenen Zunftgerichtsbarkeit) bisherige Produktionsbeschrankungen ebenfalls abbauten. Giinstig wirkten in dieser Hinsicht zudem der Ausbau von Verkehrswegen, die Vereinheitlichung von Miinzen, Maf3en und Gewichten sowie handelspolitische Erleichterungen, etwa die Abschaffung der Binnenzolle (z. B. linksrheinisch 1794/ 98, Berg 1806/ 08, Bayern 1807, Westfalen 1811 -Ietzteres vorbildlich fUr Preuf3en 1818). Freilich verursachten auch derartige ModernisierungsmaI3nahmen haufig zunachst einmal Einnahmeausfalle bzw. neue Kosten . Die Finanzpolitiker zahlreicher Territorien suchten der steigenden Staatsverschuldung durch Steuerreformen zu begegnen , bei den en bisherige Steuerprivilegien abgebaut, vor allem die indirekten Steuern erhoht, das gesamte Steuer- und Kassensystem verstaatlicht, vereinfacht und vereinheitlicht und durch die Erstellung neuer Kataster die Steuerlasten besser an die unterschiedliche Belastbarkeit der Pflichtigen angepaI3t werden sollten. Da dies meist nicht ausreichte, wurden Zwangsanleihen ausgeschrieben. Berg versteigerte zwei Drittel seiner Domanen, Baden und Bayern unterzogen ihr Staatsschuldenwesen einer durchgreifenden Modernisierung. Die preuf3ische Regierung sah sich angesichts der hohen franzosischen Kontributionsforderungen ab 1807 jahrelang auf die Mitwirkung der adeligen Kreditinstitute angewiesen, den en dafUr sogar die Staatsdomanen verpfandet werden muf3ten. Dem Staatskredit sollte auch die Einberufung von Notabeln (1811,1812/ 15) dienen, aber gerade die diesbeziiglichen Erfahrungen bestarkten Hardenberg in seinem Vorhaben, eine entscheidungsbefugte Nationalreprasentation erst nach einer inneradministrativen Regelung des kiinftigen Abgabensystems und der Staatsschulden einzuberufen. War Kriegfiihren schon immer eine kostspielige Angelegenheit, so erforderte die Sicherung der eigenen staatlichen Existenz wahrend der napoleonischen Kriege noch zusatzlich eine Modernisierung und eine (unpopuliire) Ausweitung der Armeen . Diese erfolgte in den Rheinbundstaaten, die ja bestimmte Kontingente an den Kaiser abstellen muI3ten (z. B. Westfalen 25000, Arenberg 379 Mann), mehr oder minder nach franzosischem Vorbild. Dementsprechend wurde das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht (bei festgelegter Dienstzeit) generell durch die Moglichkeit zur Stellung eines Ersatzmannes durchbrochen, in Siiddeutschland anfanglich auch noch durch eine hohe, seit 1808/ 12 erheblich verminderte, spiiter teilweise wieder ausgeweitete Zahl von Befreiungen . Milizartige

2. Die sog. Deutsche Reforrnzeit

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Verbande wurden aufgelost bzw. in eine Art staatlich kontrollierter Landwehr umgewandelt. Deren Griindung hatten im Jahr vor dem Tiroler Volksaufstand der Minister Stadion und Erzherzog Johann in Osterreich durchgesetzt. Der fUhrende Heeresreformer der Monarchie, Erzherzog Karl, bemiihte sich als Generalissimus (18061809) allerdings eher urn eine Reform der Linientruppen, ohne indes selbst den Stellenkauf ganz beseitigen zu konnen. In Preuf3en wurde ebenfalls zuniichst das Heer neu gegliedert, die Auslandswerbung entfiel, und an die Stelle von mechanischer Pflichterfiillung und starrer Lineartaktik traten teilweise patriotischer Enthusiasmus und die flexiblere Tirailleur- und Kolonnentaktik. Aber auch Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz, Grolmann und Boyen hatten vielfaltige Widerstande zu iiberwinden, bevor ihre Idee einer allgemeinen Wehrpflicht nach einem ersten Anlauf 1813 / 14 in Preuf3en als einzigem Land Europas im September 1814 definitiv gesetzlich verankert wurde. Der Konig und konservative Militars befUrchteten namlich neben einer Verringerung der Heeresqua1itat revolutionare Folgen. Doch seit 1814/ 15 bestand das preuI3ische Militiir, das Napoleon 1807 auf 42 000 Mann begrenzt und fUr das Scharnhorst daraufbin durch eine Art Schnellschulung (sag. Kriimpersystem) eine geheime Reserve aufzubauen versucht hatte, aus der Linie, der Landwehr sowie dem nie wirklich zum militarischen Einsatz gelangten Landsturm. Die Landwehr ab er erfaJ3te alle Manner bis 40 Jahre, konnte - urn das Biirgertum zu gewinnen - ihre Offiziere grof3enteils aus dem Kreis der sozial gehobenen " Einjahrigfreiwilligen " wahlen und bewahrte damit trotz einer 1819 erfolgten Angleichung an das Linienmilitar eine gewisse Eigenstandigkeit. Eine Heranziehung derart breiter Schichten zum Militiirdienst ware wohl kaum moglich gewesen, wenn man an den alten drakonischen Militarstrafen (wie SpieI3rutenlaufen) festgehalten hatte. Nunmehr aber bemiihten sich viele Staaten, ihren "Vaterlandsverteidi- Die Id ee einer begern" eine besondere Soldatenehre zuzuschreiben , womit Z. B. der sonderen Soldatenehre AusschluI3 von Kriminellen aus der Armee einherging. Ziemlich konsequent wurde in Preuf3en das Prinzip der "Freiheit der Riikken" (Gneisenau) in die Tat umgesetzt. Der wiirttembergische Konig achtete dagegen zwar recht rigoros auf die allgemeine Militardienstverpflichtung seiner Untertanen , war aber im Gegensatz etwa zu seinem badischen Nachbarn nicht bereit, in dieser Hinsicht dem preuf3ischen und franzosisch-westfalischen Vorbild wenigstens teilweise zu folgen. Auch wies sein Offizierkorps einen relativ hohen Anteil an (z. T. aus PreuI3en stammenden) Adeligen auf, wogegen

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Reformen im Offi zierskorps

Ubergang von der Wohlfahrts- zu r Sozialpolitik

I. Enzyklopiidischer Dberblick

dieser in Bayern 1811 nur 40%, in Baden 1806 56%, in Sachsen jedoch 1808 uber 70ll{o betrug_ In Preu!3en freilich hatte der Prozentsatz 1806 sogar bei rd_ 90% gelegen. Doch wurden hier nach der Niederlage von 1806 / 07 unfiihige, weil z. 8. feige oder - hiiufiger - uberalterte Offiziere in gro!3er Zahl entlassen. Nach dieser " Selbstreinigung des Heeres" und der Verkundung des Leistungs- anstelle des Anciennitats- und Herkunftsprinzips auch fUr den Offiziersberuf (1808) sank der Anteil adeliger Offiziere steil auf 54 % (1819) ab , urn danach jedoch u. a. infolge der weiterbestehenden Zuwahlmoglichkeit von Fahnrichen ins Offizierkorps wieder merklich anzusteigen . Doch die nichtadeligen Offiziere entstammten meist ebenfalls einer schmalen, nur eben burgerlichen Eliteschicht und entwickeIten gerade in Preu!3en , weniger allerdings in Suddeutschland, einen ausgepragten, streng konservativmonarchistischen Korpsgeist. Sowohl durch reorganisierte bzw. neugegrundete Kadettenanstalten als auch durch den Kriegseinsatz von Massenheeren - obwohl oder gerade weil z. B. der Ru!3landfeldzug viele tausend Opfer forderte - trug das Militiir zur Entstehung eines Landespatriotismus und damit zur Konsolidierung speziell der neuen Staatsgebilde bei. DafUr stand den Soldaten und ihren Angehorigen nach Ansicht mancher Monarchen sogar ein Anspruch auf Versorgung zu . Au!3er gegenuber den zivilen und militarischen "Staatsdienern" zeigten sich die Regierungen angesichts knapper Finanzmittel allerdings in dieser Hinsicht auch in denjenigen Staaten relativ wenig gro!3zugig, in denen infolge der Siikularisation die Staatsgewalt eine Fulle sozialer Aufgaben ubernehmen sollte. Bis dahin hatten sie ja speziell das Armenproblem, von einzelnen Unterstutzungsleistungen (wie dem Verteilen von billigem Brot in Notzeiten) abgesehen, oft vornehmlich mit repressiven Mitteln zu losen versucht. In FortfUhrung aIterer Ansatze (Osterreich, Kurmainz) wurde aber nun selbst im uberwiegend katholischen 8ayern seit Oraf Rumford die ArmenfUrsorge von einer vorwiegend kirchlichen bzw. privaten, jedenfalls aus der Idee der christlichen Caritas gespeisten Angelegenheit auch zu einer regularen Aufgabe der weltlichen Obrigkeit. Wahrend der arbeitsfahige, aber arbeitsunwillige Bettler mehr denn je zum Asozialen, ja Kriminellen gestempelt wurde - dem ein Privater bei Strafe kein Almosen geben durfte! - , erkannte es die bayerische Regierung erstmals als ihre Ptlicht an , dem unverschuldet Arbeitsunfiihigen mittels individuell abgestufter Leistungen ein Existenzminimum zu garantieren, wenngleich sie die ErfUllung dieser Ver-

2. Die sag. Deutsche Refarrnzeit

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pflichtung bald wieder in die Hande der Gemeinden legte. Insofern steht die Zeit urn 1800 am Obergang von der alten Wohlfahrts- zur modernen Sozialpolitik. Auch wurde der Aufbau eines Offentlichen Gesundheitswesens (Pockenschutzimpfung!) allenthalben forciert. Ein gro/3eres Gewicht als auf diese sozialpolitischen Ansatze legten die Regierungen aber gemeinhin auf eine mit dem Auf- bzw. Ausbau eigener Schulbehorden verbundene starkere Forderung des Bildungswesens. Zwei Grundzuge pragten dessen Entwicklung: zum einen die fortschreitende staatliche Reglementierung und Vereinheitlichung auf wenige, hierarchisch abgestufte Schultypen, zum andern das Ringen zwischen einer mehr auf den berufsstandischen Nutzen hin orientierten philanthropistischen und einer eher auf "allgemeine Menschenbildung" zielenden neuhumanistischen Richtung. Auf dem Gebiet der Elementarschulbildung, wo - wie im Realschulwesen - die erstgenannte Richtung dominierte, kann man allerdings fUr die Iinksrheinischen und westfalischen Gebiete kaum von Fortschritten sprechen. Ansonsten jedoch blieben die in der Kontinuitat aufgeklart-absolutistischer Tendenzen stehenden Bemuhungen vieler Territorien urn eine hohere Schulbesuchsquote und einen weiteren Ausb au des Trivialschulwesens besonders in Sudwestdeutschland und Sachsen nicht ohne Erfolg. Doch dessen Qualitat verbesserte sich, trotz Intensivierung der Lehrerbildung und einer partiellen Rezeption von Pestalozzis Lehrmethoden, nur langsam. Schuld daran trug vor all em die schlechte Lehrerbesoldung. Weithin erhielt sich die meist ein- bis zweiklassige Dorfschule mit konfessioneller Trennung, deren Trager die Gemeinde bzw. ein adeliger Schulpatron war. Ein gro/3eres Augenmerk - und erheblichere finanzielle Mittel - widmeten die Politiker gemeinhin der hoheren Bildung und der Wissenschaftspflege. Die Interessen und das Selbstverstandnis der "gebildeten Stande" begunstigten hier das Vordringen des neuhumanistischen Ansatzes, der programmatisch auf eine Meritokratie abzielte, ohne infolge fehlender Chancengleichheit den sozialen Aufstieg aus der Unterschicht zu fordern ; eher gait dies schon fUr den Aufstieg aus dem niederen Biirgertum. Im Gymnasialbereich, wo im Zuge einer zentralistischen Reform (au/3er in Wurttemberg) zahlreiche alte Lateinschulen, Lyzeen etc. zugunsten einheitlich organisierter, wohldotierter Gymnasien verschwanden bzw. degradiert wurden , setzte sich der Neuhumanismus verschiedentlich schon fruhzeitig durch, wahrscheinlich am ausgepragtesten in Preu-

Eher quantitati ve Verbesserun gen im Elementa rschulbereich

Staatli che Fiirderung d er hiiheren Bildun g zw isch en Philanthropi smus und Neuhumani smu s

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Die Unterdruckung nationaler und konstitutionell er Regungen

I. Enzyklopiidischer Uberblick

l3en, das auch durch sein Gymnasiallehrerexamen (IS 10) und sein neues Abiturreglement (1SI2) besonders fUr Nord- und Mitteldeutschland vorbildlich wurde. Ahnlich verlief die Entwicklung auf der hochsten Ebene des Bildungswesens. Nach der Aufhebung zahlreicher Universitiiten insbesondere in ehemals geistlichen Territorien erfolgte eine Reihe von Reorganisationen bzw. Neugriindungen - z. B. Heidelberg (IS03 / 05), Berlin (1SI0), Bonn (ISIS) - sowie Verlegungen: Ingolstadt nach Landshut (ISOO) und weiter nach Milnchen (IS26) , Frankfurt! Oder nach Breslau (IS11). Dabei wurde das Universitiitsleben im rheinbilndischen Silddeutschland ganz im Gegensatz zu dem schon wieder stark geistlich dominierten Bildungswesen des franziszeischen Osterreich noch durch spiitaufkliirerische Maximen wie staatliche Reglementierung, Siikularisierung und Praxisorientierung gepriigt. In Baden wirkte sich allerdings auch schon Reitzensteins Sympathie fUr die Freiheit der Lehre, in Bayern aber eine liberale Berufungspolitik aus, die ungewollt antirationalistische Tendenzen (Schelling, Savigny) fOrderte. In Preul3en wollte man durch geistige Kriifte ersetzen, was man an physischen verloren hatte. Namentlich die unter Mitwirkung der idealistischen Philosophen Fichte und Schleiermacher zustande gekommene Griindung der Universitiit Berlin wandte sich deshalb nicht nur von der korporativ verfal3ten Universitiit des Alten Reiches, sondern ebenso von dem franzosischen Modell der Fachhochschulen ab. Bezilglich Organisation und Verwaltung orientierte man sich am Gottinger Vorbild . In "Einsamkeit und Freiheit" (Humboldt) sollten Forschung und Lehre, ihrerseits auf das engste verbunden, gedeihen und auf eine "Nationalerziehung" hinfUhren . Dieses Ideal wirkte weiter, wenngleich es sich in der bald anbrechenden Epoche der Reaktion natiirlich nur unvollkommen realisieren liel3. Allerdings war schon die napoleonische Zeit alles andere als ein Zeitalter geistiger Freiheit gewesen. Der wachsende Druck Napoleons lief3 liberale Ansatze etwa in der Zensurpolitik schnell verkiimmern, und dies nicht nur innerhalb seines engeren Machtbereichs , wiewohl vor allem in Berg die Presse nicht so rigoros gegiingelt wurde wie in Frankreich. In der Krise von IS \3 verschiirften manche seiner Verbiindeten das Spitzelwesen noch und verboten, wie zuvor schon der Despot von Stuttgart, schlankweg samtliche politischen Aul3erungen. Das sich teilweise anschliel3ende Tauwetter ging schnell voriiber. Metternich suchte mit Hilfe der Karlsbader Beschlilsse, die u. a. die Oberwachung der Universitiiten und eine

2. Die sog. Deutsche Reformzeit

55

Vorzensur fur Druckschriften bis zu 20 Bogen Uinge vorsahen, alle national en und konstitutionellen Regungen zu unterdrucken. Die zukunftsweisende Verfassungsgebung in verschiedenen suddeutschen Staaten konnte er freilich nicht verhindern . Zwar hatte mit der Aufhebung der landstandischen Verfassungen in den Modell- bzw. Reformstaaten des Rheinbundes gerade hier der Staatsabsolutismus Einzug gehalten. Doch hatte bereits dieser, vereinzelten Willkurakten zum Trotz, seine Machterweiterung wesentlich mit dem Schutz der "burgerlichen Freiheit" legitimiert, wie die Konstitutionen von Westfalen und Bayern und Frankfurts Organisationsedikt (lSl 0) zeigen. Nunmehr legte der einzelstaatliche Wille zur inneren Konsolidierung - ebenso etwa im finanziellen Bereich (Staatsschuldentilgung) wie auf gesellschaftlichem Gebiet (U. a. Integration der Mediatisierten) - die Gewahrung bestimmter legislativer Mitspracherechte an die Gebildeten und Besitzenden nahe. So stand am Ende der Reformzeit gewissermal3en ein viergeteiltes Deutschland: mit dem (relativen) Immobilismus des franziszeischen Osterreich, dem wirtschaftlich und teilweise auch kulturellliberalen PreuBen , den suddeutschen Staaten mit ihrer verfassungsmaBig garantierten "politischen Freiheit" und der Masse der mittel- und norddeutschen Territorien, die noch am ehesten von all en an die Zustande vor IS03 / 06 erinnerten.

Die Verfassungsfrage

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung 1. KontinuiHiten und DiskontinuiHiten des Reformprozesses zwischen 1740/48 und 1814/21 Die Zeit zwischen 1740/ 48 und 1814121 unter dem Aspekt der Innenpolitik der Reichsterritorien als eine Einheit aufzufassen , mag iiberraschen . Meistens wird doch in Lehre und Forschung die "Friihe Neuzeit" von der "neuesten Zeit" (19,/ 20. lahrhundert) abgegrenzt, wobei die Ara der Franz6sischen Revolution bzw. Napoleons auch fUr die deutsche Geschichte als Epochenscheide dient. In Ubereinstimmung mit verschiedenen neueren Uberblicks- " Epoch enjahre" : darstellungen lie13e sich d afUr unter au13en-, z. T. aber auch innenpo- 1740/ 48- 1763 1789/ 92-1 803/ 06 litischen Gesichtspunkten (Retablissement) jedoch ebenso das lahr 1763 ins Auge fassen oder aber eben - wie es hier unter dem Aspekt der intensivierten Reformtatigkeit wichtiger Reichsstande geschieht - die Zeit von 1740/ 48. Denn trotz eines voriibergehenden Abflauens der Reformbewegung ab 1785/ 90 gab es in der Folgezeit, zu Beginn des 19. lahrhunderts in Preu13en - und anderswo - eine "an alIen Ecken lebendige Tradition des Aufgeklarten Absolutismus" [24: K. O. Frhr. v. ARETI N, Bund, 130], und es waren die Reformer nach 1803/ 06 , "die entscheidende Forderungen der Aufklarer verwirklichten" [157: H. MOLLER, Preu13en, 528]. So fUhrte das 19. lahrhundert vieles zu Ende, was im 18. 1ahrhundert nur geplant oder erst begonnen worden war. Gerade die "sich immer mehr beschleunigende Aufl6sung der Alten Welt und die auf sie reagierenden und zugleich stimulierenden Reformversuche" haben H. MOLLER [64: Fiirstenstaat, 9] und in ahnlicher Weise K. O. Frhr. v. ARETI N [24: Bund] daher neuerdings veranla13t, die Epochen des "Aufgeklarten Absolutismus" und der "Deutschen Reformzeit" zusammenfassend darzustellen, entsprechend der Erkenntnis von E. WEIS: "Die Reformen der Franz6sischen Revolution und der Zeit des Empire sind in vielen Staaten des Festlandes schon vor 1789 durch den aufgeklar-

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Linien der Kontinuitat

Wachsende Domi nanz der Biirokratie im Reformprozel3

Kontinuitiit der Reformmoti ve:

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

ten Absolutismus eingeleitet worden, wobei Frankreich eine der wenigen Ausnahmen bildete" [101: Durchbruch, 22]. Im einzelnen lassen sich, R. VIERHAUS zufolge, Kontinuitiitslinien ziehen sowohl unter institutionellen Aspekten (Zentralisierung, Rechts-, Kirchen- und Schulpolitik) wie auf ideen- und mentalitiitsgeschichtlichem Gebiet, wo der philosophische Idealismus und der politische Friihliberalismus an Aufkliirungstendenzen ankniipfen konnten , schlief31ich aber auch im person ell en Bereich hinsichtlich der Karrieren der fUhrenden Reformpolitiker [in: 282: E. WEIS, Reformen]. Denn wiihrend wichtige, eh er traditionalistisch eingestellte soziale Gruppen (Reichsritter, Monchsklerus, adelige Reichskirche) von den Vorgiingen der Jahre 1802 / 06 auf das hiirteste betroffen wurden, erfolgte der Aufbau eines modernen Beamtenapparats vielfach re1ativ kontinuierlich [bes. fUr Wiirttemberg: 288: B. WUNDER, Privilegierung; fUr Baden: 112: K. G ERTEIS, Absolutismuskritik]. Die Reformen des beginnenden 19. Jahrhunderts waren also das Werk von Biirokratien, die zuvor schon partiell modernisiert worden waren. Allerdings lag im 18. Jahrhundert die Initiative zu Reformen und oft auch deren legislative Umsetzung (z. B. mittels Kabinettsorder) zumeist noch gro13enteils bei den Monarchen , wenngleich die neuere Forschung auch hier die Rolle der Beamten stiirker ins Blickfeld geriickt hat. Von einer Dominanz der Biirokratie im Reformproze13 kann man indes erst ftir die Reformzeit sprechen , wo lediglich der wiirttembergische Konig das Format eines eigenstiindigen und eigenwilligen Gestalters der Innenpolitik besa13 , wiihrend andere Monarchen, personlich regelma13ig iiberfordert, si ch von ihren Ministern mehr oder minder willig leiten lie13en. Letztere stammten - wie schon manche Reformbeamte des 18. Jahrhunderts - oftmals aus dem (deutschen) Ausland , und sie, Stein und Hardenberg, Montgelas, Marschall u. a., miissen als die eigentlichen Motoren des Reformwerks gel ten. Infolge der Reformen aber erlangten die Fiirsten gerade der deutschen Mittelstaaten zwischen 1806 und 1815 eine MachtfUlle, die sie weder davor noch danach besa13en. So leistete der Aufgekliirte Absolutismus in vieler Hinsicht eine "gewaltige Vorarbeit", indem er " bereits den Feudalismus auf der politischen - nicht auf der sozialen - Ebene entmachtet, .. . der monarchischen Zentralgewalt auf dem gesamten Staatsgebiet zur Anerkennung verholfen" hatte; aber bis zur Deutschen Reformzeit blieb der Staat doch " nach unten unvollstiindig", "gelang es ... keiner deutschen Regierung - mit Ausnahme derjenigen Josephs H . in

I. Kontinuitaten und Diskontinuitaten zwischen 1740/ 48 und 1814121

59

einigen Punkten - ... die herkommliche Gerichts-, Agrar-, Militarund Wirtschaftsverfassung grundsatzlich anzutasten" [E. WEIS, in : 115: F. KOPITZSCH, Aufklarung, 206 f.l. Von den Intentionen her gesehen, laBt sich die Reformzeit also in vieler Hinsicht nicht nur als eine "Nachholung des Absolutismus" in vielen Territorien [54 : E. R. H UBER, Verfassungsgeschichte I, 87], sondern auch als eine Vollen dung aufgeklart-absolutistischer Bestrebungen des 18. Jahrhunderts verstehen. Gerade die existentielle Bedrohung, die fUr die deutschen Territorien vom Napoleonischen Frankreich ausging, lieB namlich das Argument zeitweise wieder in den Vordergrund treten, das - alien Widerstanden zum Trotz - schon im Aufgeklarten Absolutismus eine wesentliche Rolle gespielt hatte: DaB man , urn den Staat zu erhalten , traditionelle Strukturen durch neue, effizientere ersetzen , althergebrachte "MiBbrauche" ohne Riicksicht auf partikulare Interessen und Rechtsanspriiche beseitigen miisse [vg!. 169 : D. BEALES, Joseph 11, 98 ff.; 280: E. WEIS, Montgelas, 224 ff.; zu Hardenberg: 21: G. WINTER, Reorganisation, 305]. DaB dies in einer besonderen Krisensituation gelang, deutet jedoch darauf hin , daB spataufklarerische Traditionen keineswegs den einzigen AnlaB fiir die Durchfiihrung der damaligen Reformen bildeten. In die gleiche Richtung wies das Bestreben der unt~reinander konkurrierenden groBeren Fiirsten, ihre staatsrechtlich gesehen weiterhin absolute Staatsgewalt zu erhalten bzw. zu erweitern. AuBerdem bildeten Kriege haufig den Ausgangspunkt fUr eine intensivierte Reformtatigkeit. Die Finanznot nach einem Krieg, der Wunsch, bei einem kiinftigen Waffengang (besser) geriistet zu sein , erforderten gebieterisch eine Steigerung der wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen der staatlichen Politik, wie zuletzt wieder fiir das theresiani sche Osterreich nachgewiesen wurde [177 : P. G . M. DICKSON , Finance]. Territoriale Erwerbungen boten, aufgrund der Starke der Krone gegeniiber ihren neuen Untertanen (einschliel3lich der Stande), zudem Experimentierfelder fiir Reformen , deren spate re Ubertragung auf den Gesamtstaat geplant war. Die Epoche des Aufgeklarten Absolutismus und die Reformzeit verbindet aber nicht nur der Wille zur Erhaltung bzw. Starkung der zentralen Staatsmacht, sondern auch Zielsetzungen, die aus dem spezifischen Ideengut der Aufklarung stammen, z. B. die Ausschaltung herrscherlicher " Willkiir" durch die Bindung des Fiirsten an das "Gemeinwohl". Die schrittweise Durchsetzung des Monopols legitimer Gewaltausiibung durch den Staat und die Tendenz zur

a) Erh altung und Au sweitung der Staatsmacht

b) Tendenz zur Achtung der " burgerlichen Freiheit"

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Veriinderte Bedingungen politischen Handelns

II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Achtung der "biirgeriichen" Freiheit - nicht der "politischen" Freiheit im Sin ne politischer Partizipation - durch eben diese Staatsgewait schlossen sich, einzelnen Dbergriffen zum Trotz, zunachst nicht unbedingt gegenseitig aus, solange vorrangig "feudale Machtzersplitterung", "standische Willkiir" und die Herrschaft korporativer " Partikularinteressen" die individuelle "biirgeriiche Freiheit" bedrohten [vgL R CONRAD u_ R LIEBEL, bd_ in: 53: W. H UBATSCH, Absolutismus]. Dennoch ist bei all er Kontinuitat der Reformmotive der Einschnitt, den die Franzasische Revolution verursachte, nicht zu iibersehen. Zum einen fUhrte sie auch in Deutschland zu einer partiellen Politisierung, zu einer Steigerung der Umbruchserwartung, zum anderen veranderte sie die Bedingungen politischen Handels. Das gilt fiir PreuJ3en, fUr das aus diesem Grunde TH. NIPPERD EY - oh ne die Verbindungslinien zwischen Stein-Hardenbergschen Reformen und preuJ3ischem Erbe, Absolutismus und Aufklarung zu leugnen - wie viele Autoren vor ihm das "factum brutum: die Katastrophe von 1806" am Anfang der Reformen stehen sieht [66 : Geschichte, 33], das gilt aber fast noch mehr fUr die kleineren und mittleren deutschen Staaten. Waren vor 1803 / 06 vielen Reformvorhaben wegen der reichskirchlichen Strukturen und der reichsrecht1ich geschiitzten landstiindischen Verfassungen enge Grenzen gesetzt, so hatten die Reformer nun nach dem Ende des Alten Reiches in dieser Hinsicht freiere Bahn. Das Vorbild und der politische Druck des imperialen Frankreich wiesen zudem vielen Reformplanen die konkrete Richtung. Schliel3lich wurde - bei aller Begrenztheit politischer Partizipation im Empire selbst - die Frage der Heranziehung breiterer Schichten zur Erfiillung der erweiterten staatlichen Aufgaben nun erst wirklich akut [E. FEHR ENBACH, in: 28: H. BERDING, H.-P. ULLMANN , Deutschland]. In diesem Zusammenhang sind u. a . die Ausdehnung der Wehrpflicht und die Ansatze politischer Mitwirkung durch " neustandische" Gremien ("N ationalreprasentationen" , Stadtverordnetenversammlungen in PreuJ3en) zu sehen. Doch erzielte gerade die rheinbiindische Reformzeit ihre graJ3ten Erfolge ebenso wie der Aufgeklarte Absolutismus im Verwaltungs- und Rechtsbereich ; Verwaltungs- und Verfassungsreformen bildeten immer noch eine Einheit. Immerhin hatte das Empire nicht nur die "absolutistische" Staatskonzentration, sondern auch den gesellschaftlichen Wan del von der standischen zur biirgeriichen Gesellschaft beschleunigt [DIES., in: 220: A. v. REDEN-DoHNA, Deutschland, 28 f.]. Doch zur Durchsetzung rechtsstaatlicher Strukturen

2. Der Aufgekliirte Absolutismus

61

muf3te, nachdem der "reformerische Absolutismus" der Jahre 1740 / 48 - 1814/ 21 sein Ziel eines staatlichen Gewaltmonopols weit· gehend erreicht hatte, der Absolutismus selbst angegriffen werden.

2. Der AufgekHirte Absolutismus 2.1 Historische Einheit im Widerspruch? Der Begriff "aufgeklarter Absolutismus", Mitte des 19. Jahrhun· derts entwickeit von W . RoscHER mit Blick auf das gegenuber dem "klassischen" bzw. "hi:ifischen" Absolutismus Ludwigs XIV. neue Staatsverstandnis Friedrichs H. und die sich daraus ergebenden po· litischen Konsequenzen, biirgerte sich manchen Einwanden zum Trotz in der deutschen Historiographie rasch ein. Er wurde auf an· dere Fiirsten - zunachst Joseph H. - iibertragen und wird heute (etwa als Synonym zum "despotisme eclaire") weithin aIs europai· sche Erscheinung verstanden [K. O. Frhr. v. ARETIN, in: 104: DERS., Absolutismus; Forschungsiiberblick: 61: J. KUNISCH, Absolutismus]. Die Umdeutung zum Epochenbegriff druckt sich dabei in der zu· nehmend haufigeren Schreibweise "Aufgeklarter Absolutismus" aus. Das hat den Begriff jedoch nicht vor grundsatzlicher Kritik be· wahren ki:innen. Traditionell trennt man im deutschen Sprachraum den west· und mitteleuropaischen "Absolutismus" vom russischen bzw. osma· nischen "Despotismus". Demgegeniiber empfahl der Amerikaner L. KRIEGER 1975, zwischen dem "aufgeklarten Absolutismus" als einer ungliicklichen und notwendigerweise umstrittenen Bezeichnung fUr die Beziehungen zwischen den Ideen der Aufklarung und einer hi:ichst heterogenen Herrschaftspraxis des 18. Jahrhunderts einer· seits und der von ihm untersuchten, z. B. von Physiokraten vertrete· nen "Idee" des "aufgeklarten Despotismus" andererseits zu unterscheiden [118: Essay]. Im gleichen Jahr rief C. B. A. BEHRENS sogar zu einem vi:illigen Verzicht auf diesen von ihr als zu unprazis und personalistisch empfundenen Begriff auf, insbesondere mit dem Ar· gument, daB kein Einvernehmen dariiber herrsche, welche wesentli· chen Veranderungen in Staat und Gesellschaft das aufgeklarte Den· ken eigentlich gefordert habe [106: Despotism]. Auf der Suche nach einem treffenderen Ersatzbegriff wird in letzter Zeit haufiger die neue Wortschi:ipfung "Reformabsolutis· mus" angeboten: In einer bestimmten Phase des Absolutismus habe das Moment der Reform eine neue Qualitat erhaiten, sei sozusagen

"Aufgekliirter Absolutismus" Geschichte eines Begriffs

Alternati ver Terminus: " Reformabsolutismus"

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Hartungs Definition des " Aufgekl ii rten Abso lutismus"

H. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

zu dessen Wesensbestandteil geworden . Doch erscheint die Verbindung des staatsrechtlichen Terminus " Absolutismus" (als Charakterisierung der vom 17. bis in das friihe 19. lahrhundert in Deutschland vorherrschenden Staatsform) mit dem Ausdruck "Reform" (verstanden als Modernisierungspolitik) kaum weniger unscharf als seine Synthese mit dem Sammelbegriff "Aufklarung" fur die pi akativ so genannte hochst komplexe geistige und gesellschaftliche Bewegung des 18. lahrhunderts. Auf die Frage, welchen Zeitraum die neue Bezeichnung abdecken soli, sind dementsprechend unterschiedliche Antworten gegeben worden. Charakterisiert eine derartige Begriffskombination nicht ohnehin eh er einen bestimmten Regierungstyp als eine Epoche? Schon 1932 gelangte F. HARTUNG nach Betrachtung der verschiedenen bis dahin vorgeschlagenen " Stufen" der absoluten Monarchie zu dem Ergebnis, daB es sich dabei nicht urn eine chronologische Reihenfolge , sondern lediglich urn unterschiedliche Erscheinungsformen des Absolutismus handele [in : 53: W. H UBATSCH, Absolutismus]. Die Festlegung des "Aufgeklarten Absolutismus" auf das halbe lahrhundert zwischen 1740 und 1790/ 92 wirkt auch deshalb einigermaBen gesucht, weil sich auch wahrend der sog. Reformzeit viele Politiker aufkl arerischen Idealen immer noch verpflichtet fUhlten. Umgekehrt wird zur Charakterisierung des Regierungsstils Maria Theresias gern dem Begriff " Reformabsolutismus" der Vorzug gegeben , weil nach einem Wort von R. A. KANN die Aufklarungsphilosophie hier eher "sozusagen als geistige Nachhut erfolgreich eingefuhrter Reformen" gewirkt habe [183: Kanzel , 127]. Dabei hatte F. HARTUNG 1955 in einer geradezu klassischen Definition unter " Au fgeklartem Absolutismus" " eine von der Philosophie, insbesondere von der Staatslehre der Aufklarung stark beeinfluBte Regierungsweise" verstehen wollen [in: 104: K . O. Frhr. V. ARETl N, Absolutismus, 57]. Als Charakteristika ergeben sich daraus ein gewandeltes herrscherliches Selbstverstandnis und das Beschreiten neuer Wege in der Politik , da Aufklarung nie nur Theorie, sondern immer auch Praxis sein wo lite. HARTUNG selbst stellte jedoch gerade mit Blick auf die Regierungspraxis seine eigenen Postulate wieder in Frage, wenn er schrieb: " Keiner der aufgeklarten ,Despoten ' hat ernstlich den Versuch gemacht, die Konsequenzen der aufgeklarten Staatslehre zu ziehen und die als hemmend empfundenen Schranken der bestehenden Gesellschaftsordnung zu durchbrechen oder auch nur beiseite zu sch ieben" [ebd. , 68]. Das verweist auf die Unscharfe der hier verwendeten Begriffe.

2. Der Aufgeklarte Absolutismus

63

Schon der Begriff "Absolutism us" erscheint problemgeladen: Im lahre 1740 war Preul3en vie! sHirker vom monarchischen Absolutismus gepriigt als z. B. die eher noch als "dualistischer Stiindestaat" zu charakterisierende Habsburgermonarchie. Zum anderen steUt sich auch in diesem Zusammenhang die klassische Frage: Was ist Aufkliirung? Hier reicht das Spektrum von " systemkonform " -gemiil3igten bis zu radikalen, potentiell revolutioniiren Ansiitzen. Nicht nur mul3 man zwischen deutscher und franzosischer, oft auch zwischen protestantischer und katholischer Aufklarung unterscheiden, sondern zudem noch den zeitlichen Faktor beriicksichtigen. Betrachtet man Aufkliirung als dynamischen Prozel3 , so hat dies Riickwirkungen z. B. auf eine vergleichende Wertung: Friedrich II. stand geistig in der franzosischen Aufkliirungstradition bis einschliel3lich Voltaire - zu der franzosischen Spiitaufkliirung eines Holbach fand er ebensowenig einen inneren Zugang wie zur postwolffschen deutschen Aufkliirungsliteratur. 10seph II. , einer neuen Generation angehorend , wuchs dagegen schon in einem anderen geistigen Umfeld auf. Die unterschiedlichen Inhalte, die dementsprechend den Begriffen "Aufkliirung" und " Absolutismus" zugeschrieben werden konnten, haben zu verschiedenartigen Deutungen des Verhiiltnisses zwischen diesen beiden historischen Phiinomenen gefiihrt. Die marxistisch-Ieninistische Geschichtsschreibung betrachtete traditionell den Absolutismus als eine auf eine einzelne Person mehr od er minder offen konzentrierte Form feudaladeliger Klassenherrschaft, die Aufkliirung hingegen als eine dem Wesen nach biirgerliche Ideologie. Von diesen Grundthesen ausgehend , haben vor all em iiltere Ostblock-Autoren, aber auch einige franzosische H istoriker den Aufgekliirten Absolutismus als bewul3tes Tiiuschungsmanover [z. B. 97 : G. VOGLER, K . VETTER, Preul3en , 107], ja sogar als blol3en modischen Zierat interpretiert, den sich einige Herrscher des 18. lahrhunderts zugelegt hiitten [G. LEFEBVRE, in: 104 : K. O. Frhr. v. ARETl N, Absolutismus]. Ernster nahm 1. MITTENZWEI das Reformwerk des Aufgeklii.rten Absolutismus , indem sie ihn als Versuch deutete, " den bereits absolutistischen Machtapparat den Bedingungen des sich im europiiischen Mal3stab u. a. durch das Aufkommen der Aufkliirung zuspitzen den Widerspruchs zwischen der sich entwickelnden Bourgeoisie und dem Feudalabsolutismus im Interesse einer weiteren Machtausiibung durch die herrschende Klasse anzupassen" . Mittels einzelner Reformen im Bereich des "Uberbaus" das bestehende System zu

Problematik von "Aufkl arung" und "Absoluti smus"

Das Verhaltnis von Aufkl arung und Absolutismus: a) marxistisch·leninisti sche Histori ographi e: Spiitfeudalismus

64

b) v.Aretin : Widerspru ch zwi sch en Emanzipati o n und Herrschaftsform

Il. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

stabilisieren, sei also das Ziel gewesen, und dieses Ziel habe gerade Friedrich II. insofern teilweise erreicht, als er "den Prozef3 der Bewuf3tseinsbildung des deutschen Btirgertums durch die Illusion vom aufgeklarten Herrscher verzogerte" [120: Problem]. Am meisten setzte sich zuletzt M. KOSSOK von den frtiheren Deutungen ab: Die Aufklarung sei nicht zur Ganze als gedanklich antizipierte btirgerliche Revolution zu verstehen, als "Magd" habe sie in den Absolutismus rationale Elemente eingebracht und damit "objektive Entwicklungsvarianten" eroffnet, " deren Sackgassencharakter sich erst wesentlich spater offenb art" habe. Doch auch er hielt daran fest, daf3 der Aufgeklarte Absolutismus keinesfalls eine grundlegende "Verbtirgerlichung" bzw. " Entfeudalisierung" von Staat und Gesellschaft bewirkt habe [117: Absolutismus, zit. 639]. Erblickt man, ohne die marxistischen Klassenkampftheoreme zu iibernehmen, in der " Aufkliirung" wesentlich ein Phanomen geistiger und gesellschaftlicher Emanzipation, so gelangt man fast zwangslaufig mit K. o. Frhr. v. AR ETlN zu der Auffassung, Aufklarung und Absolutismus hatten sich in letzter Konsequenz ausschlief3en mtissen. Der Aufgekliirte Absolutismus sei daher nur ein " Btindnis auf Zeit" gewesen und habe den " Keim der Oberwindung in sich" getragen : "Das Gesellschaftsideal des Aufgeklarten Absolutismus, das in der Hingabe jedes einzelnen an das Offentliche Wohl bestand, war nicht mit dem Freiheitsideal der Aufklarer der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts . .. identisch oder austauschbar. Letzteres war nur durch eine Revolution zu verwirklichen " [Einleitung, in: 104: DERS. , Absolutismus, zit. 43 f.]. Obwohl ARETlN das Bemiihen aufgeklarter Herrscher urn die "Gltickseligkeit" ihrer Untertanen glaubwtirdig erscheint, muf3te es doch seiner Deutung nach an systemimmanente Grenzen der standischen Gesellschaftsordnung und der monarchisch-absolutistischen Staatsstruktur stof3en , die realiter nur durch den Einfluf3 des revolutionaren und imperialen Frankreich iiberwunden werden konnten. Gerade die Einbeziehung des europaischen Aspektes fiihrte ARETlN jedoch auch zu der These, der Aufgeklarte Absolutismus sei, okonomisch gesehen, als Versuch riickstandiger Lander zu deuten, den Anschluf3 an die wirtschaftlich entwickelteren Staaten Westeuropas zu finden . Schon zuvor hatte H. LIEBEL die Reformen des Aufgeklarten Absolutismus als Maf3nahmen beschrieben, "die aus der sozialen und wirtschaftlichen Nachkriegskrise erwuchsen " [in: 53 : W. HUBATSCH, Absolutismus, 492]. Eine Betrachtungsweise, die "Aufklarung" vorrangig als einen

2. Der Aufgeklarte Absolutismus

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Rationali sierungsprozel3 begreift, fiihrt jedoch von der These vom immanenten Widerspruch des Aufgeklarten Absolutismus fort. So hat V. SELLl N zur Definition des Aufgeklarten Absolutismus lediglich einen "rationalen Gesamtentwurf der Politik und der Organisation des Staates" verlangt, wobei " die rein zweckrationale Rechtfertigung des Herrscheramts .. . als unterscheidendes Element" zur friiheren Form des Absolutismus erscheint, verbunden mit einer spiirbaren Steigerung der staatlichen Anspriiche gegeniiber den Untertanen . Aus der Sicht Friedrichs 11. habe es damit auch keinen Widerspruch gegeben zwischen der Behauptung und Erweiterung staatlicher Macht nach aul3en - durch Landerwerb - und nach innen mittels Starkung der staatlichen Institutionen [128 : Friedrich , zit.103). Dagegen wandte zuletzt G. BIRTSCH ein , daB man unter dem Gesichtspunkt der Rationalisierung des Staatsapparats schwerlich eine Epochengrenze zwischen dem " pragmatischen Reformabsolutismus" Friedrich Wilhelms 1. (oder auch Maria Theresias) und dem " aufgeklarten Reformabsolutismus" werde ziehen konnen [G. BIRTSCH, in : 108 : D ERs ., Idea ltyp , 11). Unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Machtexpansion als solcher diirfte von einer Epoche des "Aufgeklarten Absolutismus" wohl in der Tat schwerlich zu sprechen sein . Denkbar ist jedoch, dal3 eine neue, rationale Begriindung der fiirstlichen Macht die Chancen zu deren Ausweitung vergrol3erte. Schon W. ROSCH ER hatte gemeint, jede der von ihm beschriebenen Phasen des Absolutismus einschliel3lich der letzten , " aufgeklarten " Spielart habe die fiirstliche Machtfiille vermehrt - nicht zuletzt auf Kosten der Untertanen : "Im Namen des Staates kann dessen ,erster Diener' viel ungenirter [sic) Gut und Blut des Volkes in Anspruch nehmen, als in seinem eigenen" [77: Geschichte 1, 381). Dagegen sprach R. KOS ER 1889 von einer " Rilckbildung" des Absolutismus , insofern " als der sogenannte aufgeklarte Despotismus von neuem eine MaBigung sich auferlegte ... , nicht durch den Verzicht auf die volle Unumschranktheit, wohl aber durch den Verzicht auf die einseitige Betonung seiner Rechte, durch die Voranstellung der Pt1ichten vor den Rechten und durch die Anerkennung des N aturrechts als Grundprinzip der Monarchie . .. " [in : 53: W. HUBATSCH, Absolutismus, 3). Erst die neuere Forschung hat erkannt, dal3 rechtsstaatliche Tendenzen und die Expansion staatlicher Macht bis zu einem gewissen Grad Hand in Hand gingen. Aus diesem Grunde stieB der Ausbau der Staatsmacht lange Zeit nur seIten auf den Widerspruch deutscher Aufklarer. H. MOL-

c) Sell in : Mo derni sierung du rc h Zweckrati ona lit at

Di e Ak zepta nz staatlich er Machtex pa n sion

66

Neue Legitimation der monarchisch en Souveriinitiit

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

LER, der wie ARETIN den "Dualismus von Moral und Politik, von Aufkliirung und Absolutismus" betonte und den "Versuch ihrer Vermittlung im aufgekliirten Absolutismus ... auf partiellen Gemeinsamkeiten von temporiirer Geltung" beruhen sah, stellte fest, da13 die Berliner Aufkliirer mehrheitlich immer nur versuchten, durch eine eher indirekte Kritik langfristig auf Reformen hinzuwirken: "Die Aufkliirung des Absolutismus hatte in Preu13en beiden ihre Radikalitiit genommen" [157: Preu13en, 560). Eine Gegnerschaft zwischen "Aufkliirung" und "Absolutism us" a priori sei auch gar nicht anzunehmen, meinte J. VAN HORN MELTON [131: Enlightenment), da sich die deutschen Aufkliirer aus Bereichen (wie Universitiit, Beamtenschaft, protestantischem Klerus) rekrutiert hiitten, die mit dem monarchischen Staat eng verbunden gewesen seien. Au13erdem ging es ihnen, wie R. VIERHAUS bemerkte, bei der Propagierung ihres Menschheitsideals zuniichst urn die Entfaltung verniinftigen Denkens im Bereich Religion und Bildung, "im Vertrauen auf die Unaufhaltbarkeit des Prozesses der Aufkliirung" hingegen weniger urn politische Garantien [in: 133: DERS., Proze13, 17). Je mehr freilich die Staatsmacht ein Ubergewicht gegeniiber den stiindischen Gewalten erlangte, desto mehr mu13te sie, wenigstens potentiell , zum Hauptgegner der nunmehr zunehmend staatsbiirgerlich-individualistisch verstandenen "Freiheit" der Aufkliirer werden [126: J. SCHLUMBOHM, Freiheit). Insofern schlie13en sich die Deutungen des Phiinomens "Aufkliirung" als (potentiell revolutioniirer) Emanzipations- und als (staatlicherseits lenkbarer) Rationalisierungsproze13 keineswegs gegenseitig aus, sondern markieren eher verschiedene Schwerpunkte bzw. Phasen. Unter den Merkmalen eines idealtypisch verstandenen Aufgekliirten Absolutismus hob schon die iiltere Forschung die neue Begriindung der monarchischen Souveriinitiit hervor: das Selbstbildnis des Fiirsten als erstem Diener eines Staates, der sein Entstehen einem - freilich unkiindbaren und nicht verifizierbaren - Herrschaftsvertrag im Sinne der Naturrechtslehren verdankte und dessen Ziel die allgemeine Wohlfahrt darstellte. Doch ist das Verhiiltnis von deutschen Fiirsten zu Aufkliirern differenziert zu sehen [125: J. SCHLOHBACH, Aufkliirung). Auch diirfte dem physiokratischen Ideal des "Iegalen" bzw. "legitimen Despoten" fUr das Selbstverstiindnis aufgekliirter Herrscher nur eine affirmative Funktion zuzuschreiben sein [K. GERTEIS, in: 108: G. BIRTSCH, Idealtyp). Wichtiger, als da13 ein Fiirst derartige Theorien selbst nach auJ3en hin vertrat, erscheint allerdings ohnehin, da13 er aus ihnen Folgerungen fiir seine Regie-

2. Der Aufgeklarte Absolutismus

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rungspraxis zog [E. WEIS, in: 115 : F. KOPITZSCH, Aufklarung]. Doch fragt sich, ob der "Aufgeklarte Absolutismus" uberhaupt eines " aufgeklarten Herrschers" bedurfte. Traditionell ist der Begriff des "aufgeklarten" mehr als jener des "klassischen" Absolutismus an das Wirken einzelner Pers6nlichkeiten gebunden . Jungst hat G. BIRTSCH drei deutsche Hauptprotagonisten des Typus " aufgeklarter Herrscher" anhand der Kriterien: rationaler Legitimationsgrund der Herrschaft, Partizi pation am aufgeklarten DenkprozeB und aufgeklarte Reformtatigkeit miteinander verglichen und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen , daB allein Friedrich 11. von PreuBen dem Idealbild nahezu entsprochen habe - im Gegensatz zu dem Eklektiker Joseph I I. , dem in den patriarchalischen Traditionen lutherischen Amtsdenkens stehenden KarI Friedrich von Baden [in: 108 : DERS. , Idealtyp] od er gar, wie man hinzufugen k6nnte, Maria Theresia. Aber aIle stutzten sich auf Mitarbeiter, die oft mehr als sie selbst den Idealen der Aufklarung verptlichtet waren. Fur PreuBen kann zwar nach Ansicht P. BAUMGARTS sowohl fUr die Aufklarung als auch den Aufgeklarten Absolutismus Friedrich 11. " cum grano sal is" als Exponent geiten, doch zeichnete sich selbst dort bereits wahrend seiner Regierungszeit " der Aufstieg des ,burokratischen Absolutismus' [ab], der den monarchischen abl6sen soIlte" [137: Epochen]. Dabei erwies si ch beispielsweise in der Wirtschafts- und in der Judenpolitik ein GroBteil der Beamtenschaft im Sinne der aufklarerischen Ideale als "moderner" als der Monarch [138: P. BAUMGART, Staat; 139 : DERS., Stellung]. In Hannover, Bayern oder Sachsen waren die eigentlich treibenden Krafte der Reform ohnehin Beamte [e. INGRAO, in: 127 : H. M. SCOTT, Absolutism; E. WEIS, in: lOO : DERS., Deutschland]. Immerhin lag in dieser Epoche meist noch ein Gutteil der Initiative zu Reformen beim Fursten, der sich mit reformfreudigen Mitarbeitern umgab - und viele Reformvorhaben dies er aufgeklarten Staatsspitze scheiterten dann wenigstens teilweise daran , daB gerade bei der niederen Beamtenschaft herk6mmliche Denk- und Arbeitsweisen weiterlebten und sich Eintlusse lokaler bzw. standischer Interessen bemerkbar machten. Indes zeigen neuere Arbeiten, daB in manchen mittelgroBen Territorien die Stande entweder selbst einen nicht unbeachtlichen Anteil an der Modernisierungspolitik des Aufgeklarten Absolutismus leisteten [114 : e. INGRAo, State] oder ab er zumindest die finanzielle Basis sicherten, auf der der Furst gewisse Reformen durchfuhren konnte [25: K. O. Frhr. v. ARETI N, Weg]. Fur Bayern hat M.

Beda rf der " Aufgekliirte Absoluti smu s" ein es bestimmten H errsch ert yps?

Die Rolle der Burokratie im Aufgekl ii rten Absolutismus

Reformpolitik und standi sche Oppositi on

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Das Bildungswesen im Zeitalter des Aufgeklarten Absoluti smus

TT. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

RA UH sogar betont, auch der " spatere Absolutismus" habe die Stande zunachst nicht entmachtet, sondern "eingestaatet", und erst gegen Ende des 18. J ahrhunderts sei deutlich geworden , " daB auf dies em Weg eine weitere Steigerung staatlicher Leistungsfahigkeit kaum noch moglich war" , weswegen d ann der "Reformabsolutismus na ch 1800" das staatliche Gewaltmonopol unter Beseitigung der Stande durchgesetzt habe [123: Verwaltung, I f. , 285]. DaB es auch unter den Standevertretern reformfreudige Manner gab , uberrascht ab er insofern nicht, als die Aufklarer sich ja ihrerseits uberwiegend aus dem Bildungsburgertum und einer reformbereiten Minderheit des Adels rekrutierten - einer rasonnierenden Schicht von "Gebildeten", deren auch " privater" Beitrag zur Modernisierung etwa des Schul- und Armenwesens gerade im protestantischen Deutschland nicht geringzuschatzen ist [vg!. 116: F. KOPITZSCH, Grundzuge; 159: W. N EUGEBAUER, Staat]. Eine konsequente staatliche Schulpolitik, urn loyale Untertanen heranzubilden und die Wirtschaftskraft des Staates zu erhohen, hat es dagegen nach den Erkenntnissen von W. N EUGEBAUER in PreuBen , dem in dieser Hinsicht fruher gerne eine Vorreiterrolle zugeschrieben wurde, nicht gegeben . In der Ha bsburgermonarchie war der (gesamt-)staatliche Zugriff auf d as Schulwesen - auch im Sinne einer " Sozialdiszi plinierung" (G. OESTREICH) - konsequenter [130: J. VAN HOR N MELTON, Absolutism]. Ob er nur zu einer partiellen Umsetzung der zeitgenossischen Aufklarungsp adagogik geflihrt hat, ist umstritten [so 179: G. GRIMM, Schulreform ; dazu aber kritisch: G. KU NGENSTEIN, in: HZ 249, 1989]. Aus ubergreifender Perspektive hat K.-E. J EISMA NN betont, daB der Bildungsreformpolitik des Aufgeklarten Absolutismus eine " padagogische wie politische Philosophie" entsprochen habe, die " geradezu den Zusammenfall von Staatsrason und Bildungsreform propagierte und also das Bildungswesen zu einer Staatssache umzugestalten empfahl" [56: Bildungspolitik, 15]. Dabei konnten na ch neueren Forschungen manche FurstbischOfe auf einem hohen Niveau der Alphabetisierung aufbauen , das der alten und teilweise immer noch wiederholten These von der Ruckstandigkeit der katholischen und speziell der geistlichen Territorien widerspricht [Ill : E. FRA N~OIS, Volksbildung]. Namentlich in Mainz, Wurzburg und Bamberg erreichten auch die Universitaten ein beachtliches Niveau [113 : N. HAMMERSTEIN, Aufklarung]. So scheint es denkbar, daB die Regierungen kleinerer Territorien eine wirksamere Bildungspolitik betrieben haben als die GroBmachte

2. Der Aufgekliirte Absolutismus

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PreuBen und Osterreich. Dort fOrderten Friedrich H. und Joseph 11. die gesellschaftliche Emanzipation durch Bildung jedenfalls nur in begrenztem Umfang. Gesellschaftspolitisch ahnlich ambivalent zeigt sich der Aufgeklarte Absolutismus in den groBeren Staaten, neueren Studien zufolge, in der Pressepolitik. Friedrichs " liberale" VerfUgungen am Beginn seiner Regierung machten hinsichtlich der auf Massenwirkung angelegten Blatter nach kiirzester Frist wieder einer verscharften Zensur, ab er auch einer gezielten Pressebeeinflussung Platz, mit dem Ergebnis, daB seine Reformerfolge iibertrieben dargestellt, kritische Stimmen dagegen unterdriickt wurden. Andererseits lieB der Konig dem fUr die Bildungselite bestimmten Schrifttum tatsachlich einen relativ weiten Spielraum, wofUr si ch diese auch aus taktischen Griinden revanchierte, indem sie Friedrich - nach M. WELKES Ansicht [in: 134: J. ZIECHMA NN , Panorama] eigentlich unverdient - zum Schirmherrn der Geistesfreiheit stilisierte. In Osterreich und Bayern war die zeitweilige Lockerung der Zensur in den 1750er Jahren ebenfalls weniger vom Ideal der Pressefreiheit motiviert als vielmehr von der Idee einer Mobilisierung der Offentlichkeit zugunsten neuer Reformvorhaben speziell in der Kirchenpolitik [185: G. KUNGE NSTEI N, Staatsverwaltung; W. FICHTL, in: 45: H . GLASER, Krone]. DaB es zumindest im Falle Osterreichs lediglich urn eine "Erziehungszensur" als Vorstufe der spateren " Polizeizensur" ging [197 : O . SASHEGYI, Zen sur], belegt die in der Folgezeit restriktive Anwendung der Zensurbestimmungen , als Geheimbiinde bzw. eine wachsende publizistische Opposition gegen die obrigkeitliche Autokratie der aktuellen - reformerischen od er konservativen - Regierungspolitik gefahrlich zu werden drohten [175: L. 8001, Tauwetter]. Letztlich sollte immer der absolutistische Monarch, nicht die " Offentliche Meinung" die Entscheidungshoheit behalten. Trotzdem wirkten die aufgeklart-absolutistischen Fiirsten insofern in begrenztem Umfang modernisierend, als sie die Entstehung einer solchen Offentlichkeit eben partiell forderten. Eine einheitliche politische Linie war damit aber kaum verbunden. Denn zweifellos bildete die " von oben" , potentiell auch auf Kosten traditioneller, kirchlich-religios und standisch gepragter Strukturen betriebene Ausweitung staatlich-biirokratischer Macht ein Kernstiick "aufgeklart-absolutistischer" (im Sinne von zweckrationalistischer) Politik. Doch aus der konkreten Situation ihrer Lander zogen gerade Friedrich 11. und Joseph II . ganz unterschiedliche Konsequenzen. Wollte

Ambi valente Pressepolitik

Uneinheitli chkeit der gesellschaftspo liti schen Ziel· vo rstellungen

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AufgekHirter Absoluti smu s a ls re volutio niire Tra dition ?

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

der PreuBenkonig - wie der Miiller-Arnold-Fall beweist - jedem " sein " Recht zukommen lassen, so bedeutete diese Gleichheit var dem Gesetz doch noch keine Gleichheit der Gesetze. Im Gegenteil begniigte sich Friedrich weitgehend damit, die Stande zu einer Art fiir den Staat in unterschiedlicher Weise tatigen Berufsgruppen umzudeuten , urn Auflosungstendenzen innerhalb der Stiindegesellschaft zu begegnen. Nicht ohne Grund wurde seine Gesellschaftspolitik oft als HerrschaftskompromiB "zwischen Krone und Junkerkaste" [so z. B. : 82: H. SCHILLI NG, HOfe, 410, in der Tradition von 78 : H. ROSENBERG, Bureaucracy] gedeutet und als hochst konservativ, sogar als reaktioniir kritisch unter die Lupe genommen [T. C. W. BLA NN ING, in : 127: H. M . SCOTT, Absolutism]. Trotzdem kann man in ihr auch ein progressives Moment erkennen : "In historischer Perspektive ... bedeutete diese Umfunktionierung der Standeordnung doch mehr als eine bloBe Uminterpretation , namlich eine Infragestellung ihrer tradierten Geltung und einen Schritt auf dem Wege zu ihrer Auflosung" [R. VIERHAUS, in: 153 : J. KUNISCH, Analecta, 89]. Wo die Expansion staatlicher Macht durch die Beschneidung von Privilegien konsequenter auf eine "societas sine imperio" ausgerichtet war, wurde der Politik des Aufgekliirten Absolutismus dagegen sogar des ofteren ein " revolutionarer Charakter" zugeschrieben. Wenngleich gelegentlich bestritten wird, daB Joseph 11. die Stiindegesellschaft tatsiichlich habe " vernichten" wo lien [J. BERENGER, in : 193 : Osterreich, 444], und auch hier nur von einer "Umbildung" des Adels die Rede sein diirfte, wird man mit V. PRESS doch zumindest behaupten diirfen, daB Joseph H. durch seine Vernachliissigung des Wiener Hofadels eine traditionelle Stiitze der Habsburgermonarchie untergrub [DERS. , in : 96 : G. VOGLER, Herrscher]. Manche Autoren sehen in Joseph sogar einen " Revolutioniir auf dem Thron", gegen den sich die Krafte der Tradition allerdings mit grol3em Erfolg zur Wehr zu setzen vermochten. Aus dieser Sicht iiberrascht es jedenfalls nicht, daB revolutionare Bestrebungen direkt an obrigkeitliche Vorhaben ankniipfen konnten. In Osterreich wollten " die Jakobiner ... zunachst die Wiederaufnahme eines Reformprogramms josephinisch-Ieopoldinischer Priigung, wobei sie dann im EinfluBfeld der Franzosischen Revolution und der innenpolitischen Entwicklung unter Franz H. in ihren gesellschaftstheoretischen Vorstellungen iiber dieses Reformprogramm hinausgingen" [240: H. REINALTER, Revolution, 104]. Aber auch anderswo im Reich blieben die sog. deutschen Jakobiner mit ihren weitgesteckten Zielen eine rasch unterdriickte Minderheit, der

2. Der Aufgekliirte Absolutismus

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auch die jilngste, intensivierte Forschung - selbst marxistischer Autoren - mehr eine qualitative Bedeutung als Urvater der Demokratie in Deutschland als einen quantitativen EinfluB hinsichtlich der tatsachlichen Verbreitung revolutionarer, demokratischer bzw. republikanischer Ideen zuzuschreiben vermag. Wenngleich eher erklarungsbedilrftig erscheint, warum in Frankreich 1789 eine Revolution ausbrach als warum sie im Reich (und anderswo) ausblieb, so zahlt im letzteren Falle doch zweifellos das Fehlen einer breiten Tragerschicht zu den Grilnden. Noch bedeutsamer, wenngleich mit ambivalenten Folgen, erschien R. STADELMANN dabei jedoch das Ideal des Aufgeklarten Absolutismus selbst, das "Deutschland einen Augenblick lang an die Spitze der europaischen Verfassungsentwicklung gebracht", ab er "zugleich davon abgehalten [habe], an der allgemeinen Entwicklung teilzunehmen, die durch die westeuropaischen Revolutionen ... bestimmt worden ist" [88: Deutschland, 27]. Etwas vorsichtiger wird heute jedenfalls ziemlich allgemein anerkannt, daB durch die Reformen des Aufgeklarten Absolutismus zahlreiche Mil3stande beseitigt wurden, die in Frankreich zu der schliel3lich revolutionaren Mil3stimmung beitrugen: "Revolution war eine der moglichen Konsequenzen der Aufklarung, Reform eine andere" , heil3t es bei H. MOLLER [in: 70: H.-J. PUHLE, H.-U. WEHLER, Preul3en, 189 f.]. Implizit erkennt die obrigkeitlich initiierten Veranderungen dieser Epoche als - wenngleich in ihrer Reichweite begrenzte - zukunftsweisende Modernisierungsmal3nahmen auch an, wer etwa die wohlfahrtspolitischen Mal3nahmen Josephs IT. oder die friderizianische Getreidemagazinierung als Vorformen einer spateren Sozialpolitik beschreibt. Dagegen betont G. CORNI, dal3 der preul3ische Absolutismus "nicht als ein modernisierendes Regime angesehen werden" dilrfe [in: 144: DERS., Agrarpolitik, 313], und H.- U. WEHLER verwahrt sich generell dagegen, derartige staatliche Aktivitaten "als vorausschauende Progressivitat zu verkJaren" [98 : Gesellschaftsgeschichte I, 58]. Setzte eine Revolution ab er nicht ilberhaupt, wie K. O. Frhr. v. ARETl N meinte, ein Bilrgertum voraus, das der Aufgeklarte Absolutismus erst schaffen wollte [in: 104: DERS., Absolutismus]? Da auch die Franzosische Revolution nicht von einem modernen Wirtschaftsbilrgertum getragen wurde, erklaren sich die Unterschiede zur deutschen Entwicklung indes nach Ansicht von R. REICHARDT eher durch die unterschiedliche Struktur des Ade\s als jene des Bilrgertums. Zum andern glaubt er, zwischen einer ",hohen', nicht ei-

Aufgeklarter Absolutismus als Revolution sersa tz?

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Waren di e Reformen popul ar?

Die Voraussetzungen des Aufgekliirten Absolutismu s im "Dritten

Deutschland"

H. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

gentlich revolutionaren Aufklarung und einer radikalen aufklarerischen Unterstromung unterscheiden" zu konnen, wobei er das Ausbleiben einer Revolution in Deutschland auch auf das Fehlen eines Biindnisses der sog. deutschen Jakobiner mit dem aus wirtschaftlichen Griinden unruhigen stadtischen Kleinbiirgertum zuriickfiihrt [in: 245: J. Yoss, Deutschland, zit. 324]. War G _ RITTER noch iiberzeugt gewesen , der Aufgeklarte Absolutismus habe wesentlich dazu beigetragen, " die Anhanglichkeit der Deutschen an ihre angestammten Landesherren noch zu verstarken " , weil er ihnen das Gefiihl vermittelt habe, von " wohlgesinnten Regierungen betreut zu werden " [160 : Friedrich, 249], so wird heute allerdings bezweifelt, daB die "Menschheitsbegliicker" auf den Thronen und in den Amtsstuben bei der Masse ihrer nichtprivilegierten Untertanen in jedem Falle popular waren. Das mag der Fall gewesen sein in Hessen-Kassel [114: C. INGRAo, State]. In Kurmainz dagegen erschien nach den Feststellungen von T. C. W. BLANNING das Reformtempo Erzbischof Erthals fast alien gesellschaftlichen Gruppen als zu schnell [30 : Reform]. Doch wird man generell scharfer, als dies bisweilen geschehen ist, zwischen dem personlichen Ansehen eines aufgeklarten Fiirsten uod der Beurteilung der unter ihm eingeleiteten Reformen unterscheiden, umgekehrt aber beachten miissen, daB die Durchfiihrung von bestimmten Reformmal3nahmen mit einer Ablehnung aufklarerischer Ideen einhergehen konnte _ Andererseits soli en aufgrund der Nahe zwischen Fiirst und Yolk nach Ansicht von C. INGRAO die kleineren und mittleren Territorien in gewissen Grenzen sogar die besten Yoraussetzungen fiir eine Yerwirklichung von Reformen im Sinne des Aufgeklarten Absolutismus geboten haben , sofern man nur unter "aufgeklart" " wohlwollend" in einem weiten utilitaristischen Sinne verstiinde_ Geschiitzt durch die Reichsverfassung, hatten sich die Fiirsten hier auf die Innenpolitik konzentrieren konnen und angesichts der Konkurrenz zahlreicher Nachbarterritorien sogar konzentrieren miissen, die fiirstliche Planung habe sich angesichts weniger behordlicher und standischer Zwischenebenen unmittelbarer verwirklichen lassen, und schliel3lich sei wegen der relativ hohen Dichte der Universitaten die Zusammenarbeit zwischen den Theoretikern der Aufklarung und den praktischen Politikern besonders eng gewesen [114: State; DERs _ in: 127 : H. M. SCOTT, Absolutism]. Hinzuzufiigen ware vielleicht, daB gegeniiber einer rasch anwachsenden Flut an Presseerzeugnissen die staatlichen Zensoren in der zersplitterten Territo-

2. Der Aufgeklarte Absolutismus

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rienweIt des "Dritten Deutschland" wahrscheinlich noch machtloser waren als in den Grol3staaten. Demgegenuber hatte E. WEIS in einer ersten Zusammenschau 1979 betont, dal3 die kleineren deutschen Staaten nur seIten die systematische und ausgepragte Form des Aufgeklarten Absolutismus wie das friderizianische Preul3en oder gar das josephinische Osterreich erreicht hatten. Zu den Hindernissen fUr eine umfassende Modernisierungspolitik zahIte WEIS die territoriale Zersplitterung, das Fehlen eines einheitlichen, ausgebildeten Beamtenapparats, die Unfahigkeit, eine unabhangige Wirtschaftspolitik zu betreiben , sowie die im Durchschnitt immer noch sehr starke und vom Reich geschiitzte Stellung der Stande [in : 100: DERS., Deutschland]. Angesichts der Tatsache, dal3 der Aufgeklarte Absolutismus in den - oder besser: in manchen der - kleineren deutschen Territorien erst in der neuesten Forschung die gebiihrende Aufmerksamkeit zu finden beginnt, fehlen zu seiner abschliel3enden Beurteilung offensichtlich noch zahlreiche weitere Detailstudien. Gelegentliche Hinweise auf die Vorbildfunktion theresianisch-josephinischer Reformen auf entsprechende Ma!3nahmen in anderen katholischen Territorien - mitunter auch umgekehrt - werfen dariiber hinaus die Frage auf, ob es nicht sinnvoll ware, entsprechend der Differenzierung zwischen "katholischer" und "protestantischer" Aufklarung zwischen einem Aufgeklarten Absolutismus im katholischen und einem solchen im protestantischen Deutschland zu unterscheiden, statt wie bisher die jeweilige Ausformung in Preul3en, Osterreich und im ubrigen Reich zu untersuchen . Allgemein aber fehlt es z. B. noch an Untersuchungen uber die Einstellung und die soziale Herkunft der Beamten oder iiber den tatsachlichen Erfolg der Reformmal3nahmen im lokalen Bereich. Lag nicht, wie es bei R . VIER HA US anklingt, die Hauptbedeutung des aufgeklarten Herrschertums eher in der Weckung von Erwartungen auf eine freiheitlichere, rechtsstaatliche Entwicklung als in deren tatsachlicher Einlosung [in: 153: J. KUNISCH, AnalectaJ? 2.2 De,." M odell[all PreujJen"

Angesichts unterschiedlicher Entwicklungsgrade und -richtungen der Aufklarung mu!3 man auch beim Aufgeklarten Absolutismus in den verschiedenen Territorien des Reichs mit unterschiedlichen Ausformungen rechnen. Nirgendwo gab es so etwas wie einen "typischen" Territorialstaat, sondern allenfalls das Vorbild der beiden

Desid erata der Forschung

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Hurna nitii re Ideale und Staatsriison bei Friedri ch I I.

Ritter/ Dehi o : Di sku ssio n urn den ' preulli schen Militari srnu s

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Grof3machte [vg I. 132: A. SCHMID, Bayern]. Dabei lieferte das friderizianische Preul3en traditionell Anschauungsmaterial fUr eine allgemeinere Charakterisierung des Aufgeklarten Absolutismus, gerade weil es sich hier, wie TH. SCHIEDER, einer schon alteren Tradition folgend, formulierte, urn ein "Konigtum der Widerspriiche" handelte, welches die preul3ische Ambivalenz von Machtstaat und Staat der Philosophie und Wissenschaften begriindet habe [161: Friedrich , 34]. Jedoch bestritt jiingst G. BIRTSCH, daf3 Friedrich "von dem Gedanken der Umsetzung aufgeklarter Philosophie in die Staatspraxis beherrscht" gewesen sei [in: 147: O. HAUSER, Friedrich], und B. MOLLER meinte, die Spharen von Politik bzw. Staatsrason und Ethik bzw. politischer Philosophie der Aufklarer seien im Preuf3en des 18. Jahrhunderts getrennt geblieben. So habe auch Friedrich als "Politiker" handeln konnen, ohne auf den "Philosophen von Sanssouci" Riicksicht nehmen zu miissen [157: Preuf3en, 520, 545 ff.]. Ob Friedrich , den die kleindeutsch-preul3ische Geschichtsschreibung zum Nationalhelden stilisierte, noch weiterhin als "der Grof3e" bezeichnet wird , scheint ab er - m. E. oh ne eine Prinzipienfrage darzustellen - primar davon abzuhangen , ob die langlebigen Ergebnisse seiner Grof3machtpolitik, die fortschrittlichen Momente seiner Rechts- und Toleranzpolitik und die charismatische Ausstrahlung seiner Personlichkeit in den Vordergrund gestellt werden oder aber die moralisch bedenklichen Seiten seiner Auf3en- und die traditionalistischen Ziige seiner Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Ob man indes die Einheit seines Wirkens und seiner - freilich komplexen - Personlichkeit betonen [Po BAUMGART, in: 153 : J. KuNISCH, Analecta] und die angesprochenen Gegensatze eher als zeittypisch verstehen will oder nicht, sie erstrecken sich jedenfalls mehr a uf das Gebiet der Auf3en- als auf dasjenige der Innenpolitik. Dort namlich kontrastiert - scheinbar oder tatsachlich - der an humanitaren Idealen orientierte Autor des "Antimachiavel" mit dem brutalen Eroberer Schlesiens, hier erweisen si ch aufklarerische und machtpolitische Motive doch oft verschrankt, z. B. bei der Toleranzpolitik , der Humanisierung des Strafrechts, der Neugriindung der Berliner Akademie, der Binnenkolonisation etc. Doch entspann sich Mitte der 1950er Jahre vor dem Hintergrund von Auseinandersetzungen iiber das Verhaltnis von preuf3ischer Tradition und nationalsozialistischer Aggression eine heftige Kontroverse iiber das Problem des preuf3ischen " Militarismus", gleichsam die Nahtstelle zwischen Aul3en- und Innenpolitik. "Militarismus" bedeutete fUr G. RITTER den Vorrang des rein Militari-

2. Der Aufgekliirte Absolutismus

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schen gegenuber einer kuhl abwagenden, sittlich gepragten Staatsrason. Von daher konnte Friedrich 11. fur ihn kein "Militarist" sein: Der Preul3enkonig habe als nuchterner Machtmensch sein Heer nur als Instrument, zur Durchsetzung begrenzter politischer Ziele, gebraucht, sein Ideal aber sei ein Rechts- und Kulturstaat gewesen , fur dessen Aufbau er hochst positiv gewirkt habe [76: Staatskunst I]. Dagegen aul3erte L. D EHIO die S~rge, dal3 RITTERS "Verengung des Begriffes des Militarismus in Verbindung mit seiner Ethisierung des Begriffes der Staatsrason ihm den Zugang zu dem Zentrum des wirklichen deutschen Militarismus erschwere". Nach allgemeinem Sprachgebrauch brauchten sich "Staatsrason " und "Militarismus" verstanden als Durchsetzung des eigenen Willens mit militarischer Obermacht ohne Riicksicht auf Recht od er Unrecht - keineswegs auszuschlieBen. In diesem Sinne sei Friedrich 11. durchaus als Militarist zu bezeichnen, auch wenn es ihm schlieBlich gelungen sei , PreuBen in einer neuformierten, relativ stabilen Pentarchie zu etablieren . Auch seine inneren Reformen seien fast ausschlief31ich auf den machtpolitischen Nutzen - vor allem einer stiindigen und keineswegs nur defensiven Kriegsbereitschaft - ausgerichtet gewesen [37: Militarismus , zit. 64]. Die Analyse des Militarhistorikers c. D UFFY ergab inzwischen , daB Friedrichs Kriegfuhrung keine humanitaren Skrupel kannte und daB ihre Grenzen primar finan zieller und strategischer Natur waren [145: Friedrich , 416 ff.]. Das scheint DEHIOS Position zu bestatigen , wonach RITTERS Feststellung, daB die preuBische Militarmonarchie vom modernen Totalitarismus und seinem " total en Krieg" noch sehr weit entfernt gewesen sei, mit Hinblick auf Friedrichs Moglichkeiten kein allzu groBes Gewicht beizumessen sei. ledoch verwies D UFFY (auch 145a : DERS. , Army , 212) auf die zeitspezifischen Gegebenheiten - wozu etwa die Konzeption eines "begrenzten " Krieges zahlt - sowie auf den EinfluB landlicher Lebensformen auf das preuBische Militar und bestritt eine wesentliche Mitsprache von Offizieren bei zivilen Angelegenheiten. Dagegen hatte O . BUSCl-1 1952 / 62 die "soziale M ilitarisierung" PreuBens betont. Nicht genug, daB die wichtigsten Behorden aus der Militarverwaltung heraus entstanden seien (und ihre Hauptaufgabe weiterhin im Erhalt bzw. in der Vermehrung der Armee bestand) und das Militar eine tragende Rolle fur PreuBens Wirtschaft gespielt habe : Der Militarbereich habe prinzipiel1 Vorrang vor dem Zivilsektor genossen. Vor al1em aber seien die Verhaltnisse auf dem Land den Erfordernissen des Militarsystems angepaBt worden ,

Duffy : zeitspezifi sche Pra gun g d er Kriegfiihrun g

Bii sch: " Soziale Militarisi erung" in PreuJ3en

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Di skussion der Th esen Biischs

Friedrich und die Tradition hohenzollernscher Politik

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

denn "Bauernschutz" bedeutete "Soldatenschutz", "Adelsschutz" war "Offiziersschutz". Gleichzeitig stiltzten sich traditionelles Sozialsystem, speziell im Bereich der Gutsherrschaft, und Militarwesen gegenseitig: "J eder Stand hatte ... seine militarische Zuordnung: Wie der untertanige Bauer Soldat wurde, so wurde der Sohn des freien kollmischen Bauern [mit gutem "Kulmer" Besitzrecht] mit Vorliebe zum Unteroffizier gemacht, und der Gutsherr wurde Offizier." Da angeblich alle regelma13ig aus demselben Kanton stammten, konnte es zur " Rilckilbertragung der militarischen Disziplin auf das Rittergut" kommen . Natilrlich seien durch den Militardienst Gutsherren wie Bauern in gewissem Sinne mediatisiert worden. Das habe auch fur den Adel finanzielle Belastungen mit sich gebracht, habe das Selbstwertgefilhl der Bauern gehoben und ihnen eine begrenzte Rechtssicherheit geboten - aber eben urn den Preis einer Militarisierung der Menschenerziehung und einer Stabilisierung der nur fUr den Adel vorteilhaften standischen Ordnung [142: Militarsystem, zit. 30, 47]. In diametral em Gegensatz dazu hat 1987 H. BLECKWENN mit Blick auf die Ausweitung der Militar- auf Kosten der Patrimonialgerichtsbarkeit von "Bauernfreiheit durch Wehrpflicht" gesprochen und jede Identitat der Interessen von adeligen Gutsherren und Militaradel geleugnet [in: 155: Militarwesen]. Doch auch wenn man die gesellschaftliche Pragekraft des preu13ischen Militarsystems nicht mit M. MESSERSCHMITT fUr Reformdefizite im preu13isch-deutschen Militar bis 1914/ 18 verantwortlich machen will [in : 119 : B. R. KROENER, Europa], wird man sie doch angesichts etwa von dessen okonomischer Bedeutung oder der Verwendung zahlreicher ehemaliger Militars in zivilen Amtern kaum in Abrede stellen konnen [K. SCHWIEGER, in : 31: D. BLASIUS, Preu13en; B. R. KROE NER, in : 134: J. ZIECHMAN , Panorama]. Besa13en Friedrichs innenpolitische Reformen daher lediglich einen instrumental en Charakter filr seine Machtpolitik, wie G. NI EDHART meint, der sogar den Begriff "sozialkonservative Erziehungsdiktatur" ins Spiel bringt [122 : Rationalisierung], oder darf man ihnen doch ein eigenstandiges Gewicht als Produkte eudamonistischer Zielsetzungen zusprechen? Unterschiedlich bewertet wird auch, ob Friedrich bei seinen Reformen wirklich originell war. Stand nicht seine Toleranzpolitik ganz in der Kontinuitat der durch die konfessionellen Verhaltnisse im Lande bedingten Ma13nahmen seiner Vorganger ? War nicht sogar das vielgeruhmte Retablissement lediglich eine kurze und ziemlich unbedeutende Phase eines traditionellen Hohenzollernschen

2. Der Aufgekliirte Absolutismus

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Programms [SO 151: H. C. JOHNSON, Frederick, 196]? Man wird diesen Einwanden im letzteren Falle entgegenhalten kannen, da!3 Friedrichs Peuplierungswerk trotz unerfreulicher Begleiterscheinungen und aller Abstriche gegeniiber friiheren Schatzungen rein quantitativ ahnliche Projekte anderer Herrscher in den Schatten stellte [vg!. 144 : G . CORNI, Statol, im ersten, da!3 Friedrich infolge der Hahe seiner ReOexion nicht nur pragmatische Politik betrieb, sondern zukunftsweisende Prinzipien formulierte - und dies als regierender Fiirst tat! -, auch wenn er selbst nicht immer ihnen entsprechend gehandelt hat. Und gegen die altere These, da!3 er nichts an der Struktur der preul3ischen Verwaltung verandert habe, lal3t sich geltend machen, da!3 er durch die Schaffung mehrerer Sachdepartements schon einen wichtigen Schritt in Richtung auf die Durchsetzung des Realprinzips getan habe, und unter Hinweis auf seine immer haufigeren Riickgriffe auf Immediatanweisungen bzw. -beauftragte fragen , "ob sich der Charakter der preu!3ischen Administration zwischen 1740 und 1786 nicht ... tiefgreifend verandert hat" [Po BA UMGART, in: I : Acta Borussica XVII2, XXII]. Ob indes diese Veranderungen die Effektivitat der Verwaltungsarbeit gefardert haben, wird heute bezweifelt [G. BIRTSCH, in: 140: E. BETHKE, Friedrich]. Von der alteren Forschung wurden bekanntlich die Modernitat und Vorbildlichkeit des preu!3ischen Staates - insbesondere mit Blick auf die Unparteilichkeit und Effektivitat der preul3ischen Administration und Justiz - sehr hoch veranschlagt. Von einer in "erstaunlich hohem Mal3e" von den Standesinteressen des Adels gelasten Beamtenschaft als einem willenlos gefiigigen Werkzeug der friderizianischen Herrschaft sprach etwa G . RITTER [160 : Friedrich, 193]. In diesem Sinne sah noch 1981 W. HUBATSCH in den preu!3ischen Amtsstuben den "Geist der Entsagung, Hingabe, Aufopferung" herrschen [in: 35: O. Bi..iSCH, Preul3enbild]. Dagegen hat aus sozialgeschichtlicher Perspektive und gepragt durch seinen Aufenthalt in den USA H . ROSENBERG schon 1958 auf die engen VerOechtungen zwischen preul3ischer Biirokratie und standischem Adel durch Patronage bzw. Nepotismus verwiesen. Seine kritische Neuinterpretation der preul3ischen Geschichte mit Hilfe einer "Kollektivbiographie" der preu!3ischen Beamtenschaft wirkte anregend u. a. auf O. Bi..iSCH und bereitete der These vom illiberalen " deutschen Sonderweg" den Boden [vg!. H. A. WINKLER, in: HZ 248 (1989)]. Das friderizianische Preu!3en war ihm namlich eine "aristocratic monarchy . .. dominated by aristocratic power groups of bureaucrats and notables" - nur besonders effizient und

Di e Frage der Mod ernitiit der preuflischen Verwaltung

Rosenberg: Preu(Jische Biirokratie al s adelig gepragte Pressure-group

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Di sziplini e ru ng der preuf3ischen Bea rntenschaft

Auto kratische oder biiro kratische Herrschaft?

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

autoritiir. Im Machtdreieck von furstlicher Autokratie, traditioneller Aristokratie und moderni sierter Burokratie sah ROSENBERG die Beamtenschaft als Vertreterin eigener und gutsherrlicher Interessen schliel3lich im " bureaucratic absolutism under Stein and Hardenberg" triumphieren [78: Bureaucracy, zit. 19 f.]. Demgegenuber warnte TH . SCHI EDER vor einer Unterschiitzung der Spannungen und Rivalitiiten innerhalb der Eliten und betonte die erfolgreiche Bekiimpfung des A.mterhandel s nach 1740 [161 : Friedrich, 299 ff.] . Auf3erdem scheinen die preuf3ischen Amtstriiger ihre Kollegen in anderen Staaten tatsiichlich in bezug auf interessenneutrale PflichterfUllung iibertroffen zu haben [107 : C. B. A. BEHRE NS, Society]. Trotzdem ist fraglich, ob man , wie es bei G.-c. v. UNRUH anklingt, ausgerechnet die Kreistage und ihre Vorsitzenden, die Landriite, als selbstlos fUr die Wohlfahrt der Landbevolkerung tiitige " Organe der Selbstverwaltung" ruhmen soll [165 : Staatsverwaltung]. Gemeinhin gelten gerade die Landriite als lnteressenvertreter des ostelbischen Junkertums. W. N EUGEBA UERS Untersuchungen lassen eher vermuten, daf3 es vor allem die vielfiiltigen und rigorosen Kontrollmechanismen waren, die - mit einer bei wachsender Entfernung vo n der Zentrale abnehmenden Wirkung - Ubergriffen und Korruption mit einigem Erfolg vorbeugen konnten [in : 36 : 0 . BOSCH, W. N EUGEBAUER, Geschichte]. ledenfalls durfte die erzieherische Wirkung dieser Kontrollmaf3nahmen fUr die Ausbildung eines pflichtbewuf3ten Beamtenturns in Preuf3en hoher zu veranschlagen sein als die von W. H u BATSCH herausgearbeiteten Weiterentwicklungen der preuf3ischen Verwaltungsorganisation in friderizianischer Zeit [150: Verwaltung]. Weiterreichende Bedeutung besaf3en jedoch dessen Anregungen, vom tradition ell en Bild des grof3en Autokraten Friedrich ein wenig a bzurucken, da der Konig doch auf seine Mitarbeiter in vieler Hinsicht angewiesen gewesen sei. P. BAUMGART machte in diesem Zusa mmenhang auf eine Reihe von Fiillen aufmerksam, in den en hohe Beamte - trotz der zu erwartenden Reaktion - Friedrich offen zu widersprechen wagten. Am Selbstbewul3tsein der Biirokratie habe die friderizianische Autokratie ihre Grenzen gefunden [in: I: Acta Borussica XVII2; DERs. in : 80: M . SCHLEN KE, Preul3en]. Die Untersuchung der gei stigen Ausrichtung preuf3ischer Spitzenbeamter hat in der Tat ergeben , dal3 diese sich zwar als unbedingt loyale, gehorsame und rastlos arbeitende Diener eines wohlfahrtsstaatlich zwecko rientierten absolutistischen Staates empfanden , daf3 sie aber, gepriigt durch die preuf3ischen Naturrechtslehrer, auch eine geistig

2. Der AufgekHirte Absolutismus

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relativ homogene, gesellschaftspolitisch konservative, jedoch von ihrer eigenen Bedeutung uberzeugte Elite darstellten. Dabei "erwuchs die Option zugunsten der uneingeschrankten Monarchie zu einem wesentlichen Teil aus dem spezifisch beamtenschaftlichen Interessenhorizont" [148 : E. HELLMuTH, Naturrechtsphilosophie, 280]. Demgegenuber konzedierte H. C. JOHNSON zwar eine (freilich von MiBtrauen gepragte und spannungsreiche) "Kooperation" zwischen Friedrich und seinen leitenden Beamten - in dem Sinne, daB beide Seiten Anregungen und Konzeptionen zu Gesetzgebung und Regierung beitrugen. Aber er betonte die Unterschiede hinsichtlich Rekrutierung, Professionalitat und Organisation innerhalb der preu[3ischen Beamtenschaft und sprach von einer auch von Friedrich bewahrten "Balance" zwischen adeligen und burgerlichen Staatsdienern, denn erstere seien nur bei der Besetzung der hochsten Stellen bevorzugt worden [151 : Frederick]. Das entsprach nach H.-E. MUELLER allerdings nur bedingt den Intentionen des Konigs: Neben dessen Wertschiitzung von Erfahrung und Talent habe namlich der vorrangige Bedarf der Armee an qualifizierten Adeligen und das Desinteres se des Adels an formaler Bildung dazu beigetragen, daB sich von der h6chsten Ebene abgesehen - der Trend zur Anstellung burgerlicher Karrieremacher fortgesetzt habe. Die Einfiihrung von EinstellungsprUfungen fUr den Verwaltungsdienst konnte dagegen dem Wunsch des Konigs zur "Objektivierung" der Beamtenernennungen entsprungen sein, da er deren wachsende Zahl selbst nicht mehr uberblicken konnte und verhindern wo lite, daB sich das alte, in England noch lange lebenskraftige Patronagesystem wieder ausdehnte. Doch hatten die geringen Anforderungen bei diesen ohnehin nicht obligatorischen Examina letztlich doch die Selbstrekrutierungsmechanismen der Burokratie gestiirkt [65: Bureaucracy]. Jedenfalls laBt sich die Bevorzugung Adeliger bei der Besetzung hoher Posten nur schwer mit egalitaren bzw. meritokratischen Prinzipien in Einklang bringen. Widerspruche zwischen aufklarerischer Theorie und friderizianischer Regierungspraxis zeigen sich nach herrschender Meinung auch auf einigen anderen Gebieten der Innenpolitik: Die Toleranz Friedrichs erstreckte sich nicht auf die Juden, das Militarstrafwesen verlor nichts von seiner Brutalitat. Zudem teilte Friedrich nicht den Bildungsoptimismus der meisten, freilich nicht aller Aufkliirer - sein Bildungsbegriff blieb elitar und das preuBische Volksbildungswesen dementsprechend ruckstandig [K. E. JEISMANN, in: 153: J. KUNISCH, Analecta]. Schlief31ich kritisierte Friedrich die Gutsherrschaft gelegentlich auf das harteste -

Aufkliirerische Theorie und frideriziani sche Innenpolitik

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Di skussion um Reformmoglichkeiten , Reform will en und Reformerfolge Friedrichs

T1. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

unternahm aber keinen entschiedenen Versuch, die Stellung der Lal3bauern auf den Adelsgiitern zu verbessern. Kaum anderswo wird die fUr die Gesellschaftspolitik des Aufgeklarten Absolutismus charakteristische " Ambivalenz von Modernitat und Traditionalitat" so deutlich wie in Friedrichs agrarpolitischem Dilemma [64 : H. MOLLER, Fiirstenstaat, 167]: Die Anerkennung der " wohlerworbenen Rechte" des Adels, volkswirtschaftliche Riicksichten und der enge Zusammenhang zwischen der Struktur der landlichen Herrschaft und jener des "staatstragenden" Heeres verboten seiner Ansicht nach jeden tieferen Einschnitt in das gutsherrlich-bauerliche Verhaltnis aul3erhalb der Domanen . Ob es Friedrich in diesen Bereichen eher an Realisierungsmoglichkeiten od er am Realisierungswillen mangelte, ist strittig. Fur G . CORNI ging Friedrich selbst bei seinem relativ erfolgreichen Bauernschutz " nicht bis an die Grenze dessen, was moglich gewesen ware" [in : 134 : J. ZIECHMANN , Panorama, 322]. Umgekehrt meinte W. H uBATSCH: "Es kennzeichnet Friedrichs Reformen, daB er, vorsichtiger a ls Joseph n. und Struensee, sich stets auf das Erreichbare beschrankt hat" [150: Verwaltung, 175]. War die Gefahrdung PreuBens so groB und der innenpolitische Spielraum des Konigs so begrenzt, wie Friedrich selbst glaubte? MuB man den Primat der auf eine GroBmachtstellung ausgerichteten AuBenpolitik akzeptieren ? Zu klaren, was erreichbar gewesen ware, diirfte schwierig sein, nachdem man si ch nicht einma l dariiber einig ist, ob Friedrichs Wirtschaftspolitik eher als Motor oder als Hemmschuh der preul3ischen Wirtschaftsentwicklung zu gel ten hat - wobei sowohl der zeitliche Faktor als auch der unterschiedliche Entwicklungsstand der diversen Provinzen und Gewerbe zu beriicksichtigen ware [vg!. K. H. KA UFHOLD in: 164 : W. TREUE, Konig, bes. Ill; D ERs., in : 80: M. SCHLEN KE, PreuBen]. Generell hochst kritisch iiber Friedrichs Modernisierungsleistungen auBerte sich kiirzlich jedenfalls K. O . Frhr. v. ARETlN: "Im Vergleich zu den Reformen einer Katharina n ., eines Joseph 11., eines Leopold von Toskana, ja sogar eines Karl II I. von Spanien wurde PreuJ3en unter dem aufgeklartesten Fursten, den Europa kannte, geradezu archaisch regiert" [136 : Friedrich , 145]. " Mancher Unverstand und ein nur begrenzter Reformwille" kennzeichneten nach Ansicht von D . WILLOWEIT zumindest Friedrichs Rechtspolitik. Des Konigs standisch gepragtes Rechtsverstandnis habe ihn daran gehindert, die egalisierende und modernisierende Kraft naturrechtlicher Gesetzgebung voll zu erfassen , geschweige denn sie fUr seinen Staat zu nutzen. Doch habe er in sei-

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nem Bestreben, das preuBische Recht vom Romischen zu emanzipieren, Freiraume erOffnet, " in welchen Reformer von der Art Carmers Gesetzeswerke vollig neuen Stils errichten konnten " . Doch deren Bestrebungen als "Aufbau eines Rechtsstaats in PreuBen" zu charakterisieren, halt WILLOW ElT mit Hinblick auf die Fortexistenz absolutistischer Strukturen fUr problematisch [in: 154 : J. KU NlSCH, Umkreis, zit. 173]. Da sich in ahnlichem Sinne aus der Sicht des Englanders G. P. GOOCH Absolutismus und Rechtsstaatlichkeit einander grundsatzlich ausschlossen , konnte schon dieser Friedrich lediglich eine " entfernte Vorstellung vom Rechtsstaat" , nicht ab er von den Mitteln, diesen zu erreichen, zuschreiben [146: Friedrich, 309]. Doch zeigt eine nahere Untersuchung der in spaterer Zeit so vielgescholtenen "Kabinettsjustiz" , daB sie in vielen Fallen zu einer Humanisierung des Strafwesens beigetragen hat [J. REGGE, in: 134: J. ZIECHMANN, Panorama]. Dabei zeichnete sich nach E. SCHMIDTS Ansicht der preuBische Monarch gerade dadurch aus, "daB er den entscheidenden ersten Schritt zur Unabhangigkeit der Justiz getan" und dartiber hinaus " als der erste wirkliche Kriminalpolitiker" aus aufklarerisch-humanitarem Geist heraus eine zukunftsweisende Strafrechtsreform eingeleitet habe [162: Justizpolitik]. Was auf dem Gebiet der Rechtspolitik aber tatsachlich vorangetrieben wurde, ist immer noch umstritten , insbesondere hat auch das als "Gesetzbuch Friedrichs des Grof3en" apostrophierte ALR in der Forschung vor allem der sechziger und frtihen siebziger Jahre eine unterschiedliche Beurteilung erfahren. Glaubte H. THIEME, die Rechtsreformer hatten PreuBen in einen konstitutionellen Staat verwandeln wollen [163: Svarez], so sah A. VOIGT sogar das im Endeffekt in Kraft getretene Gesetzbuch zur Ganze unter dem EinfluB der Aufklarung stehen. Insgesamt, meinte er, sei es um die bei der Revision weggefallenen Passagen nicht schade - das aufgeklarte PreuBen sei trotzdem "der fortschrittlichste Staat der Welt" gewesen [166: Gesetzgebung]. Demgegentiber raumte H. CONRAO ein, die Reformer hatten ihr rechtsstaatliches Programm zwar infolge der einsetzenden Reaktion nicht unmittelbar realisieren konnen, doch habe das ALR selbst in seiner endgtiltigen Fasssung dem aufklarerischen Zeitgeist noch "weitgehend" Rechnung getragen, und schlief31ich sei die Saat der Reformer bereits in der folgenden Reformzeit, vor all em aber im preuBischen Kon stitutionalismus aufgegangen [in: 36: O. BDsCH, W. NEUGEBAUER, Geschichte, zit. 601; DERs.: 143: Grundlagen]. In ahnli-

Rechtsstaa tlich e Tenden zen irn frideriziani schen Preul3 en ?

Oer Streit urn den ko nstitutionell en C ha rakter des A LR

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Unterschi edliche Bewertun g des W611nerschen Reli · gionsedikts

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

chem Sinne hat auch H. H ATTENHAUER das ALR als "Gesetzbuch der Kompromisse" charakterisiert [Einfiihrung, in : 8: Landrecht, 30], und erst jiingst wieder hat ihm D . MERTEN eine " Briickenfunktion zwischen aufgekHirtem Absolutismus und rechtsstaatlichem Konstitutionalismus" zugeschrieben [in: 164 : W . TREUE, K6nig, 69]. Eher kritisch hat dagegen R. KOSELLECK das " J a nusgesicht", ja die innere Widerspriichlichkeit des ALR - einerseits aufgekliirte Staats- und Gesellschaftsplanung im Globalkonzept, andererseits Fixierung stiindischen Herkommen s in den Detailbesti mmungen beurteilt. KOSELLECKS Deutung des ALR als eine " Ersatzverfassung" (Svarez) verweist auf den preuf3ischen Weg, den Erlaf3 einer Repriisentativverfassung u. a. durch den Rekurs auf das ALR bis 1848 zu umgehen [60 : Preuf3en]. G. BIRTSCH fiihrte dazu aus, Klein habe zwar - im Gegensatz zu Svarez - friihliberale Ansiitze erkennen lassen , beide Autoren des ALR hiitten jedoch dem Schutz der " biirgerlichen" Freiheit gegeniiber der " politischen" in einer Weise den Prim at zuerkannt, daf3 das ALR "auf dem Wege zum Rechtsstaat im Gesetzesstaat steckengeblieben sei" [141: C hara kter, 114]. D agege n konnte H. MOLLER selbst bei Svarez friihkon stitutionelle Tendenzen entdecken. Ind es seien durch die Streichungen "wesentliche" Prinzipien des urspriinglichen Entwurfs revidiert worden, die Grenzen zwischen Aufkliirung und Absolutismus nunmehr auch im verfassungsrechtlichen - und nicht nur im sozialen - Bereich deutlich geworden [157: Preuf3en, 523 ff. , zit. 525]. Inwieweit schon das W61lnersche Religionsedikt den Ubergang zu dem restaurativen Klima markierte, in dem dann die Endredaktion des ALR erfolgte, ist ebenfalls umstritten. O. HI NTZE urteilte, es sei besser als sein Ruf und in Wahrheit "in seinem ersten Teil ... ein Toleranzedikt", das ganz in der Tradition des frideriziani schen . Staates stehe, in sei nem zweiten freilich von einer gewissen dogmatischen Enge sei [50: Hohenzollern , 411 f.]- eine Wertung, der sich in n euerer Zeit G. H EINRICH im Prinzip anschlof3 [in : 80: M. SCHLENKE, Preuf3en]. F. V ALJA VEC hingegen deutete das Edikt als eine Absage an die sich politisierende Aufkliirung, die, obwohl im Kampf der Ideen bald in die Defensive geraten, 1angfristig zur Festigung kirchlicher Disziplin und traditioneller Dogmatik beigetragen ha be [129: Religionsedikt]. Zumeist aber wurde und wird das Edikt als religionspolitischer Riickschritt und Eingriff in die Gewissensfreiheit verurteilt. Dies - und nicht etwa die Statuierung ei nes aktiven individuellen Freiheitsrechts - war nach G. BIRTSCH auch die Absicht des Edikts. Aber auch das " liberalere" ALR habe, so BII~ TSC H , den

2. Der Aufgeklarte Absolutismus

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Akzent lediglich auf den Schutz der eigenen Oberzeugung und der bffentlichen Ruhe gelegt, wenngleich es damit " wegweisend die Rechtsgrundlage einer moglichen freieren Entfaltung des religiosen Lebens gelegt" habe [29 : Gewissensfreiheit, 202]. Es verwundert nicht, daB gerade die Deutung so wichtiger Desiderata der preuBischer Gesetzeswerke nach wie vor uneinheitlich ist. Denn die Forschung intensivere Erforschung der Epoche zwischen 1786 und 1806 steht noch aus, da sie, zwischen friderizianischer Gloire und glorifizierter Reform liegend, vermutlich allzu einseitig als eine Epoche des Verfalls interpretiert und jedenfalls vernachlassigt worden ist [H. HATTEN HAUER, G . LA NDWEHR , in : 48: DIES. , PreuBen]. Auch fUr die Zeit Friedrichs gibt es erhebliche Forschungsliicken. So urteilte W. GEMBR UCH mit Blick auf die Erforschung der Personen an der Spitze des preuBischen Staates nicht zu Unrecht, wenn er meinte: "Es kam zur Apotheose des Konigs, die seine Heifer zu relativer Pygmaengri:iBe schrumpfen lieB ... " [in: 154 : Persi:inlichkeiten , 119]. Gerade der von J . K UN ISCH herausgegebene Sammelband iiber die " Persi:inlichkeiten im Umkreis Friedrichs des GroBen " beweist. daB einige von ihnen durchaus ein eigenstandiges Format besaBen.

2.3 " Theresianisch-josephinische Reformen " bzw. " josephinismus"

An Person und Werk Josephs II., der wie Friedrich n. schon zu Lebzeiten umstritten war, schieden sich auch die Geister der Historiographen des 19. Jahrhunderts. Die einen verklarten ihn als Menschenfreund, Volkskaiser und "Lichtbringer" aufklarerischer Toleranz, den lediglich seine autokratische Regierungsweise von einem aufrechten Liberalen unterschieden habe. Die anderen , vornehmlich konservativ-katholische Kirchenhi storiker, glaubten im giinstigsten Falle, Joseph 11. habe gutglaubig einer antikirchlichen Verschwi:irung Vorschub geleistet, andernfalls schilderten sie ihn als damonischen "Glaubensfeger ", grundsatzlich aber waren sie im Urteil einig, d a B seine Politik die Moral und den Glauben der Katholiken im Habsburgerreich, aber auch dieses selbst, an den Rand des Ruins gefUhrt habe. Die politische Aktu ali sierung, die in der Habsburgermonarchie nach 1848 das Bild Josephs n. dergestalt vor dem Hintergrund der Kontroversen um Konkordat und Nationalitatenfrage polarisierte, kam Maria Theresia im Lichte des Gegensatzes zu PreuJ3en und des Ausgleichs mit Ungarn dagegen zugute. Teilweise erschien sie nicht nur als Gegenfigur zu ihrem Widerpart Fried-

Joseph 11. und Mari a Theresia als Symbolfiguren wellanschaulicher Kontroversen

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M itrofa no v: Joseph 11. al s burokratisc her Herrsch er rnit pa rti ell en Erfolge n

Wint er: Josephini srnll S al s Reforrn katho lizisrnu s

lI. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

rich It., sondern in ihrer Herzenswiirrne und ihrern politischen Realisrnus auch zu ihrern Sohn Joseph, der gleichwohl rnitunter seinerseits als "Joseph der Deutsche" dern frankophilen Preuf3enkonig entgegengestellt wurde. Eine ausgewogenere Wiirdigung von Leben und Werk Josephs 11. hat 1906 / 10 der Russe P. v. MITROFANOY gegeben [192: Joseph 11.]. Nicht aufgrund philosophischer Idealvorstellungen , sondern aus Griinden der Staatsriison habe Joseph die praktische Reformpolitik seiner Mutter weiterentwickelt, die sich, bei gleicher Zielsetzung, Yorsichtiger, aber auch taktisch geschickter, rnit Halbheiten zufriedengegeben habe. Mif3erfolge Josephs hiitten sich nicht so sehr infolge der Komprornif3losigkeit und Hast eingestellt, die dieser bei seinen Reforrnen an den Tag legte, sondern dadurch, daf3 der Kaiser - trotz seines Bemiihens urn Volksniihe und seiner Unabhiingigkeit von stiindischen Vorurteilen ein ganz biirokratischer Despot - auf3er den traditionalistisch-stiindischen auch progressive, nationale und liberale Kriifte gegen sich aufbrachte, und zwar vornehrnlich auf3erhalb der deutschen Erblande. In den Erblanden aber sei das Reforrnwerk in seinen Grundziigen erhalten geblieben. Sieht man von einer bald darauf ausgetragenen Kontroverse urn die Urspriinge des Josephinisrnus - waren sie prirniir naturrechtlicher oder eher fiskalischer Natur ? - und einigen weiteren Biographien ab, dauerte es bis gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, ehe die Forschung zur theresianisch-josephinischen Reforrnpolitik urn wesentliche neue Aspekte bereichert wurde. Zuniichst stellte 1943 E. WINTER - der die Neuauflage seiner Studie dann 1962 rnit einigen rnarxistischen Garnierungen versah - den Josephinisrnus als eine langfristige, " reformkatholische" Strornung dar, niirnlich als den Versuch zur Regeneration der katholischen Kirche " irn Sin ne der Urkirche .. ., der unter Josef 11. seinen Hohepunkt erreichte" [103: Josefinisrnus, 7]. Dernnach griffen friihaufkliirerische und spiitjansenistische Einfliisse auf Bearnte und Geistliche in den Niederlanden , 80hrnen und Italien bereits unter Maria Theresia auf die Wiener Zensur- und Studienhofkomrnission iiber und wurden durch Kaunitz in den 1760er Jahren rnit dern osterreichischen Staatskirchenturn verkniipft. Entschiedener als seine Mutter habe dann Joseph Il. die Kirchenreform aus S~rge urn eine zeitgerniif3e Kirche in einem rnodernisierten Staat in Auseinandersetzung rnit der Kurie und dern rornhorigen Teil des Klerus, allgerneiner: den barock-feudalen Miichten, vorangetrieben . WI NTER, der seine Darstellung rnit antiromischem Affekt schrieb, glaubte, der Josephinisrnus habe als eine

2. Der Aufgekliirte Absolutismus

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innerkatholische Reformbewegung an dem "restaurativen Grundprinzip dieser Kirche" tragisch scheitern miissen [ebd., 355]. So habe 1790 der Feudalismus "auf dem Wege iiber den Landerseparatismus" gesiegt, meinte WI NTER spater, doch habe si ch in Opposition dazu der Spatjosephinismus zum Friihliberalismus weiterentwickelt [102 : Friihliberalismus, zit. 7]. In der Einschatzung des Josephinismus als einer bis weit ins 19. Jahrhundert nachwirkenden geistigen Bewegung war ihm F. VALJAV EC vorangegangen. Dieser analysierte den Josephinismus als eine nicht auf die Kirchenpolitik beschrankte, sondern wohlfahrtsund rechtsstaatliche Tendenzen einbeziehende spezifische Erscheinung der Habsburgermonarchie, bei der die wenigen Grundprinzipien sozial , national und religios differenziert und standig weiterentwickelt worden seien. AIs das literarisch und philosophisch schwer faf3bare Ergebnis eines Ausgleichs zwischen Sakularisierungs- bzw. Laisierungstendenzen einerseits und a"iteren politischen bzw. kirchlich-kulturellen Anschauungen andererseits habe sein Schwerpunkt in den katholisch-slawischen Gebieten auf seinem weltanschaulichen und kultureIlen Einfluf3 gelegen, in den deutschosterreichischen Landern dagegen auf seiner politischen Wirkung als " eine ins Biirokratische abgewandelte Abart des aufgeklarten Absolutismus", verbunden mit Zentrali sierung, Biirokratisierung und Sakularisierung. Hier habe si ch bei den urspriinglichen Tragern dieser Bewegung - hohen Beamten , Jntellektuellen und zahlreichen Geistlichen - im 19. lahrhundert eine zunehmend konservative Entwicklung im Sinne des Festhaltens an staatskirchlichen Doktrinen abgezeichnet, wohingegen der strikt antiklerikale, kleinbiirgerliche "Vulgarjosephinismus" sich letztlich im Liberalismus, Demokratismu s, ab er auch im Nationalismus aufgelost habe [93 : Josephinismus, zit. 88]. Schon in dem als "Josephinismus im strengen Sinne" definierten modernen osterreichischen Staatskirchentum - und nicht erst in der angeblich daraus resultierenden "josephinischen Mentalitat" sah jedoch der letzte der drei " Saulenheiligen " def alteren Josephinismusforschung, der Kirchenhistoriker F. MAASS , eine spezifisch antikirchliche bzw. antikatholische Kraft. Dieses von Kaunitz in den 1760er Jahren begriindete und mit Hilfe des Hofrats Heinke konsequent ausgearbeitete System staatlicher Verwaltungsmaf3nahmen sei letztlich nicht im Willen zur Reform der ohnehin nicht schwerwiegenden kirchlichen Mif3stande, sondern " im WiIlen zur Allmacht des Staates" begriindet gewesen . Deshalb habe Kaunitz

Valja vec: .losephi ni smu s al s Ausgl eich zwischen Aufkl ii rung und Tra diti o n

Maass: Jose phini s· mu s a ls m odern es osterreichi sches Sta atskirchentum

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Di e Weite rwirkun g dieser Posilion en

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

den traditionellen Weg des (konkordatsmii13igen) Ausgleichs zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen verlassen und mit Ubergriffen auf Gebiete begonnen, auf denen Rom zumindest ein Mitspracherecht zugestanden habe. Durch diese gehiissige und offenkundig widerrechtliche Politik gegeniiber der keineswegs vollig neuerungsfeindlichen Kirchenspitze habe der Josephinismus die osterreichische Kirche - und damit den katholischen Glauben aufs schwerste gefiihrdet. Er habe ihr niimlich, wenngleich nicht ohne soziale und organisatorische Verbesserungen gerade im Bereich des niederen Klerus, die ihr als "societas perfecta" zustehenden materiellen Giiter entzogen und ihr gleichzeitig durch die Propagierung des kirchen- und offenbarungsfeindlichen Staatsrechts der Aufkliirung, durch die Forderung einer rationalistischen Theologie und die Begiinstigung von Nichtkatholiken "im geistlichen Berei ch unermel3lichen Schaden zugefiigt". Von Leopold 11. lediglich modifiziert, sei dieses unselige System erst seit 1819 abgebaut, vor 1850 aber nicht beseitigt worden [10: Josephinismus, zit. Bd. J, XVIII f. bzw. Bd. V, XVII f.]. Die Frage, was der "J osephinismus" denn "nun eigentlich gewesen " sei , ist strenggenommen unsinnig. Denn es geht hi er urn ein definitorisches Problem, wobei schon die unterschiedliche Quellenauswahl eine Rolle spielt. Suchte VALJA VEC anhand einer Vielzahl von verschiedenartigen Quellen die geistige Situation nicht zuletzt der ungarischen und slawischen Bevolkerungsteile der Monarchie zu erfassen, so widmete sich MAASS vornehmlich den Verwaltungsakten und der diplomatischen Korrespondenz im Dreieck Wien Mailand - Rom, wiihrend WINTER vor allem die Selbstzeugnisse von "Reformkatholiken" aus Bohmen bzw. Wien heranzog. Aber auch weltanschauliche Differenzen - die den mitunter polemischen Ton der Auseinandersetzung erkliiren - beeinflussen die Definition: Stellte sich der schliel3lich zum Marxismus bekehrte Ex-Geistliche WI NTER die katholischen Interessen zumeist unabhiingig von der barocken Kirchenhierarchie vor, so konnte der Jesuit MAASS sie sich nur in Ubereinstimmung mit dieser vergegenwiirtigen. Unter diesen Vorzeichen blieben die Positionen der drei genannten Autoren zumindest bis in die 1970er Jahre richtungweisend [vg\. 200: K . VoCELKA, JosephinismusJ. Die neuere Forschung tendiert nun jedoch dahin , die Thesen von MAASS , WI NTER und VALJA VEC nicht als Alternativen, sondern als komplementiire Teile eines Ganzen zu verstehen , in dem die staatskirchlichen Aspekte gegeniiber den reformkatholischen mit

2. Der Aufgekliirte Absolutisrnus

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der Zeit irnrner deutlicher hervortraten, zumal - wie gezeigt werden konnte - selbst fUhrende Protagonisten der einen od er anderen Richtung - etwa Kaunitz oder der Wiener Erzbischof Migazzi - im Laufe ihres Lebens ihre kirchenpolitische Position anderten . Dabei richtete si ch ihr Augenmerk einerseits auf die Person Maria Theresias, andererseits auf jene Stromungen des Aufklarungszeitalters, die mit Begriffen wie Spatjansenismus, Febronianismus, Gallikanismus oder auch katholische Aufklarung markiert werden [vg!. z. B. 187: E. Kov ACS, Aufklarung]. Hatte MAAss ursprunglich noch geglaubt, Maria Theresia habe die Konsequenzen der von ihr sanktionierten Kirchenpolitik nicht uberblickt, so erklarte er sie 1969 zur "Mutter" des Josephinismus, also zur Hauptverantwortlichen fur die Konzeption, aber auch die beginnende Durchsetzung des neuen staatskirchlichen Systems [189: Fruhjosephinismus]. Demgegenuber beschrieb E. KOVACS zwar den Versuch hoher geistlicher Wurdentrager, mit Hilfe der Staatsgewalt eine Kirchenreform im episkopalistischen Sinne durchzufUhren, als eine schon im Ansatz gefiihrliche Illusion , da man die Geister, die man gerufen hatte, nicht mehr hatte loswerden konnen , doch charakterisierte sie die Politik Maria Theresias in diesen Auseinandersetzungen als ausgleichend [188: Ultramontanismus]. In diesem Sinne hat jiingst auch D. BEALES vor einer Uberbewertung einzelner Aul3erungen der Kaiserin gewarnt. Wo es urn konkrete kirchenpolitische Mal3nahrnen ging, habe sie doch aus frommer Rucksicht auf die traditionalistischen Krafte innerhalb der Kirche viele Vorschlage zumindest entschiirft und hatte sie, wenn nicht ihr Sohn Joseph die Kaunitzsche Position unterstiitzt hatte, wahrscheinlich vollig blockiert [169: Joseph Il., bes. 475 ff.]. Obwohl BEALES ganz allgemein den Einflul3 Josephs Il. wahrend seiner Mitregentschaft vergleichsweise hoch einschatzt, betont er doch, dal3 dieser eine Reihe von Planen - zur Schaffung eines homogenen habsburgischen Einheitsstaats, zur Sakularisation zahlreicher Kloster und zur Gewahrung religioser Toleranz - erst als Alleinregent habe in Angriff nehmen konnen und folglich der "Josephinismus" doch zu Recht seinen Namen trage. H. BENEDIKT hatte narnlich kategorisch behauptet: "Der Josephinismus wurde nach J oseph I I. benannt, aber er begann bereits mit Joseph I. und der Verbreitung des Jansenismus in Osterreich. Es war der Jansenismus, welcher dern josephinischen Staatskirchenrecht den Weg bahnte" [in: 68 : Osterreich und Europa, 183]. In eingehender Analyse vermochte jedoch inzwischen P. HERSCHE nicht nur Fehlurteile hin-

Maria Theresias Roll e im " Josephi · ni smus"

Di e neuere Di sku ssion um die Wurzein des Josephini smus

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Auseinandertreten vo n Staat und kath o li scher Kirche

Die Frage der Kon tinuitat zwischen th eresia nischer und josephinischer Politik

I!. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

sichtlich der Einordnung einzelner Personlichkeiten zu korrigieren (Maria Theresia, Swieten d. A.), sondern vor allem auch das Ph a nomen des "Spatjansenismus in Osterreich" als eine vornehmlich vo n Theologen getragene, unter dem EinfluB der Aufkliirung jedoch poIitisierte, theologisch von ihren Anfiingen stark fortentwickelte und d abei sakularisierte Bewegung in differenzierter Form zu erfassen. In Maria Theresia seien die " Stromungen des antikurialistischen Staatskirchentums und des jansenistisch gefarbten Reformkatholizismus zu einer wirkungsmachtigen Einheit" , der "osterreichischen Kirchenreform" , zusammengeflossen. loseph H ., jansenistischen Ideen gegenuber indifferent, habe das reformkatholische Element seinen staatskirchlichen Ambitionen untergeordnet, umgekehrt ab er habe sich der Spiitj ansenismus radikalisiert. Daran sei das Bundnis, aber letztlich auch der Janseni smu s als intendierter Mittelweg zwischen Barockkatholizismus und der in zunehmendem MaBe deistischen bzw. atheistischen Aufklarung gescheitert [181: Spatjansenismu s, zit. 388]. War " aufgeklarte Religion " demnach eine Unmoglichkeit, " katholische Aufkl iirung" allenfalls ein KompromiB auf Zeit ? Oder wurde, wie K. O. Frhr. v. AR ETlN meinte, der Konflikt dadurch unvermeidlich, daB sich die Kurie nach dem Tod Benedikts XIV. reformfeindlich zeigte, der Staat sich ab er seinerseits nicht darauf beschrankte, traditionelle innerkirchliche Reformanliegen zu fordern [in: 193: Osterreich] ? ledenfall s ist angesichts des Ausein a ndertretens von "Geistlichem" und " Weltlichem ", katholischer Kirche und Staat im 18. lahrhundert und der beiderseitigen Tendenz zur Bildung a utonomer Einheiten die These vom "Ubergriff ' des Staates auf den kirchlichen Bereich fragw urdig geworden [75 : R. REINHARDT, Beziehungen]. Im ubrigen hat G . KLl NGENSTEIN, die diesen Vorgang am Beispiel des Zensurwesens untersuchte, herausgearbeitet, da B weder "Aufklarer" bzw. " losephiner" einerseits noch der lesuitenorden , die Kurie oder das Pa psttum andererseits ideologische Geschlossenheit zeigten [1 85: Staatsverwaltung]. Daruber hinaus durfte auch fUr die Kirchenpolitik H. WAGNERS Feststellung gelten, die Alleinregierung Josephs Il. sei "in vielem nur eine konsequente Fortsetzung der Maria-Theresia nischen Staatserneuerung", sie musse " aber gleichzeitig in ihrer kompromi/3losen Radika litiit als Novum erscheinen " [in : 204 : Zeit Kaiser Josephs II. , 13]. Der Streit, ob Joseph dabei doktrinar oder pragmatisch vorgegangen sei, wird da hingehend zu entscheiden sein , daB

2. Der Aufgekliirte Absolutismus

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sich der Kaiser, ahnlich wie seine Mutter, nie einer Lehre vollig verschrieb, daB er aber im Unterschied zu ihr infolge seines ubersteigerten SelbstwertgefUhls von einer einmal gefaBten Uberzeugung schwer wieder abzubringen war. Fur diese Annahme spricht, daB viele radikal-aufklarerische Aussagen, mit denen Joseph H. auch in neueren wissenschaftlichen Darstellungen zitiert wurde, 1975 als apokryph entlarvt wurden [168: D. BEALES, False Joseph]. Immerhin wurde 1980 anlaBlich eines Wiener Symposiums deutlich, daB Joseph viel weniger in dynastischem und standischem lnteresse handelte als seine Mutter. Trotzdem wurde iiberwiegend die Kontinuitat zwischen theresianischer und josephinischer Politik betont - am dezidiertesten von E. W ANGERMANN, der fiir die Bereiche Agrarreform, Unterrichtsreform und Toleranz eine grundsatzliche Einheitlichkeit des politischen Programms postulierte (in: 193: bsterreich]. Diese Einschatzung erklart auch den Vorzug, der dem Begriff "theresianisch-josephinische Reformen" gegeniiber dem alteren Terminus "Josephinismus" heute gerne gegeben wird. I m Falle der Toleranzpolitik beschrankt sich die Kontinuitat freilich auf entsprechende Plane in Maria Theresias Umgebung, denn trotz vereinzelter Inkonsequenzen verfolgte die Kaiserin selbst eine entschieden intolerante Politik. Erst das personliche Engagement ihres Sohnes fUhrte zum ErlaB der Toleranzpatente, allerdings nicht nur, wie F. FEJTO glaubte, aus kameralistischen Motiven heraus [178: Joseph 11]. Vielmehr spielten, wie heute erkannt wird, rudimentare Toleranztraditionen der Habsburgermonarchie ebenso eine Rolle wie ein gewisser "Nachholbedarf' an aufgeklarter Religionspolitik, oh ne daB durch die von aufgeklarten Katholiken befiirworteten Zugestandnisse an die anschwellende protestantische "Freiheitsbewegung" das Ziel einer kiinftigen Rekatholisierung der gesamten Untertanenschaft prinzipiell schon aufgegeben worden ware [203: R. WOLNY, Hay; 167: F. BARTON, Zeichen]. Ob allerdings die von J. KARNIEL daneben noch betonte Intention, durch die Toleranzgewahrung auBenpolitisches Kapital zu schlagen, "das Image Josephs II. als das eines humanen, nachstenliebenden Herrschers ... unzweideutig widerlegt" [184: ToleranzpoIitik, 243], bleibt ebenso offen wie seine Annahme einer "germanisierenden" Intention der josephinischen Judenpolitik, die man auch als eine "antikorporative" MaBnahme unter anderen verstehen konnte. Generell interpretiert die moderne Forschung Josephs Sprachenverordnungen - trotz dessen unbestreitbarer Hochschatzung deutscher Kultur - zumeist als Schritt zur Homogenisierung der Be-

Die Motive der Toleranzpolitik

Germanisierungs· oder Zentralisierungspolitik Josephs I I. ?

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Di e Fo lgen der josephini schen Agra rpolitik

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

arntenschaft, zur Zentralisierung der Monarchie bzw. zur Schaffung einer osterreichischen Staatsnation. Die Bewertung dieser schon bei Maria Theresia angelegten, jedoch offenbar nicht prinzipiell verfolgten Vereinheitlichungspolitik ist jedoch nicht rnehr eindeutig positiv. Konnte noch F. WALTER beklagen, daB Joseph das Werk seiner Mutter, die Entrnachtung der von ihrn als eigensuchtige und engstirnige I nteressenvertreter des GroBgrundbesitzes beschriebenen Stiinde, nicht konsequent fortgefUhrt habe [22: Zentralverwaltung, I I. Abt. Bd. Ill, 5 ff., 499], so bedauerte R. A. KANN, daB schon die Kaiserin dazu beigetragen habe, "einer kilnftigen Foderalisierung der habsburgischen Liinder den Weg zu verbauen" [in: 193: Osterreich, 34]. Dem wird man freilich entgegenhalten konnen, daB gerade weitreichende Agrarreforrnen bei einer stiirkeren politischen Beteiligung der SUinde noch geringere Erfolgsaussichten gehabt hiitten . Irn Gegensatz zur Aufhebung der Erbuntertiinigkeit, bei der wenigstens die Intention Josephs allgernein positiv bewertet wird, werden die Folgen seiner Steuer- und Urbarialregulierung allerdings unterschiedlich beurteilt. Nach Ansicht R. ROZDOLSKlS handelte es sich dabei keineswegs urn eine gegen die nichtdeutschen Nationalitiiten gerichtete Politik, sondern urn eine Maf3nahrne, die zugunsten der Bauern und der kapitalistischen Produktionsweise den Lebensnerv der Feudalaristokratie hiitte treffen sollen. Die Bauern selbst seien anfiinglich zwar rnif3trauisch und unzufrieden geblieben, weil ihnen die Reforrnen nicht weit genug gegangen seien, doch wirkliche Unruhen habe es erst nach der verhiingnisvollen Rucknahme der josephinischen Urbarialregulierung gegeben. Diese sei letztlich gescheitert, weil sie von adeligen Bearnten wie Zinzendorf hintertrieben worden sei und Joseph es versiiumt habe, die Bauern gegen den Adel zu mobilisieren [196: Agrarreform]. Andere Autoren verweisen dagegen eher auf die praktischen Problerne einer exakten Taxierung. Doch haben nach Auffassung H. FEIGLS die theresianisch-josephinischen Agrarreformen immerhin zu einer rechtlichen und okonomischen Stiirkung der biiuerlichen Familienbetriebe beigetragen, wenngleich die Skepsis der Gutsherren gegenuber den physiokratischen Grundsiitzen der Regierung durchaus berechtigt gewesen sei und sich die groBen Gutsbetriebe (im Gegensatz zu den "raabisierten" Staatsgiltern) in der Zukunft als die Motoren des landwirtschaftlichen Fortschritts erwiesen hiitten [in : 193: Osterreich]. Dagegen verteidigte H. LIEBEL- WECKOWICZ sowohl die physiokratischen Prinzipien in der von Zinzendorf vertretenen

2. Der Aufgeklarte Absolutismus

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Form (Besteuerung des Nettoertrags) als auch dessen Kritik an der willkurlichen Verletzung adeligen Eigentums als " Iiberale Revolte" gegen eine unverstandige, uneinsichtige und keineswegs soziale, sondern fiskalisch orientierte Politik des Kaisers [in : 99 : H.- U. WEHLER, Sozialgeschichte). Damit stellt sich die Frage, auf welche gesellschaftlichen Grup- Die Josephiner pen sich Joseph 11. eigentlich hat stutzen konnen. Auch hi er scheint noch nicht das letzte Wort gesprochen. K. G UTKAS verwies auf den Einflu13 der dem Hofadel verha13ten biirgerlichen Sekretare und auf Josephs Vorreiterrolle bei der Qualifikation und sozialen Absicherung seiner Beamten , meinte aber, Joseph sei kein Revolutionar gewesen, sondern habe lediglich den Feudalstaat "menschlicher und zeitgema13er machen ", nicht ihn ersetzen wollen , und dementsprechend hatten si ch seine hohen Beamten fast ausschliel3lich aus dem Adel rekrutiert [180: Joseph 11., 248ff. , zit. 458). Fur M . J ENTZSCH waren die universitar gebildeten biirgerlichen Beamten dagegen nicht nur Trager, sondern auch Initiatoren der staatlichen Reformen, indem sie uber ihre Funktion als " Werkzeuge" des Absolutismus hinaus eigene, schichtenspezifische Interessen vertreten und weitergehende Reformvorstellungen als der Kaiser entwickelt hatten [182 : Denken). Demgegeniiber stellte P. BER NARD die Bedeutung der aufgeklarten Literaten in den Vordergrund. Entsprechend ihren von Anfang an bescheidenen politischen Ziele hatten die meisten zwar zeitweise als " Josephiner" die Reformen des Kaisers publizistisch unterstutzt, aber auch auf die anschlie13ende, ja nur partielle Reaktion hatten die meisten mit Anpassung, nur wenige mit einer Radikalisierung und lediglich eine bedeutungslose Splittergruppe mit Umsturzplanen reagiert [170: Jesuits)- eine Einschatzung, der die Jakobinerforschung naturlich widersprach. Auch die Gegner Josephs 11. hielt BERNARD indes fUr schwach: Zu einer echten Fronde sei der Adel nicht in der Lage gewesen, meinte er, und nur wenn Josephs Reformen erfolgreicher gewesen waren , hatte eine revolutionare Situation entstehen konnen [171: Joseph Il, 141). Der umgekehrten These, der Josephinismus habe - vielleicht, wie E. WINTER [103 : Josefinismus, 148) urteilte, ungliicklicherweise - eine revolutionare Entwicklung gehemmt, hielt schon E. WA NGERMANN entgegen , an der Abschaffung der Feudallasten sei der osterreichische Reformabsolutismus " zerbrochen" [in: 193: Osterreich, 40), und K. O. Frhr. v. ARETlN behauptete sogar, eine revolutionare Situ ation habe uberhaupt erst Joseph 11. durch seinen " kaum geziigelten Despotismus" und die Radikalitiit seines Programms

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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

herautbeschworen, das im Lande keine Basis gehabt hatte [in: ebd. , 522 f.]. Osterreichi scher Reform abso lutismus : indi vi duell e Rech tssicherheit und habsb urgi sche Staatsbildung

Desid erata de .. Forschung

Doch auch in bsterreich bedurfte die neue Machtfiille des aufgeklart-absolutistischen Staats einer neuen Rechtfertigung, und dieses Bediirfnis wies den Weg zu den Kodifikationsarbeiten. Mochten in der Praxis der josephinischen Strafjustiz die "Grenzen der AufkHirung" bald sichtbar werden [172: P. BERNARO, Limits], so erforderte das absolutistische Herrschaftsprinzip doch eine Bindung des Richters an den Willen des Gesetzgebers, die letztlich der Sicherheit des Individuums zugute kam [143 : H. CONRAO, Grundlagen]. Gerade das Schreckensbild eines " totalitaren " Systems jakobinischer Pragung mag erklaren, warum die Urteile in den Jakobinerprozessen der Habsburgermonarchie "streng, aber dem Gesetz entsprechend" ausfielen, und warum der neuerungsfeindliche franziszeische Staat ahnlich wie der preuf3ische nicht in einen "Verfassungsstaat", jedoch durch das ABGB in einen " Gesetzesstaat" umgewandelt wurde [199: H. E. STRAKOSCH, Rule; 198 : DERS. , Staatsbildung, zit. 74]. Neben den Kodifikationen trug offensichtlich die merkantilistische Wirtschaftspolitik des osterreichischen Reformabsolutismus wesentlich zur habsburgischen Staatsbildung bei [190: H. MATIS, Gliickseligkeit]. Utilitaristische, speziell wirtschaftspolitische Uberlegungen bestimmten auch den Kurs der Kirchenpolitik mit [G. OTRUBA, in: 187 : E. KOVACS, Aufklarung]. Allerdings kennen wir vom "Josephinismus" gerade diese Seite nur wenig: Sowohl seine okonomischen Implikationen, einschlief3lich jener der Klosteraufhebungen, als auch der Zusammenhang mit dem damaligen Mentalitatswandel sind noch ungeniigend erforscht. Ahnlich steht es urn Untersuchungen zum Heer und zu den Wandlungen auf der mittleren und unteren Verwaltungsebene. Als vorbildlich darf hier die Studie von F. QUARTHALlG. WIELANO/ B. DURR [195: Vorderosterreich] gelten. Hinsichtlich der Reaktion der Bevolkerung auf die Politik der Obrigkeit konnte es sich lohnen, Vergleiche zu ziehen beispielsweise zwischen dem Widerstand des "Volksglaubens" gegen die theresianisch-josephinische Kirchenpolitik und verwandten Reaktionen auf ahnliche obrigkeitliche Mannahmen etwa in Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aber z. B. auch im revolutionaren Frankreich. Denn der "Josephinismus", der gerade in der jiingsten Vergangenheit auch das Interesse angelsachsischer, kaum jedoch dasjenige deutscher Forscher auf sich zog, diirfte zumindest in den Erblanden interessante Parallel en zu Entwicklungen in anderen Reichsterritorien aufweisen.

3. Die Deutsche Reformzeit

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3. Die Deutsche Reformzeit 3.1 Zwischen nationaler Sichtweise und Modernisierungstheorien Stand der Aufgekliirte Absolutismus im Urteil der Geschichtsschreibung oftmals unter der Fragestel1ung nach der Vereinbarkeit von Rationalitiit und Staatsriison einerseits, Humanitat und Emanzipation andererseits, so drehte sich die Diskussion urn die Deutsche Reformzeit in der iilteren Forschung vielfach urn das Problem der jeweiligen Gewichtung und Bewertung von iiu!3erem - vornehmlich franzosischem - Einflu!3 und eigener deutscher (Reform-)Tradition. Am hiirtesten traf der von nationalistischer Seite vorwurfsvol1 verwendete Begriff der "Franzosenfreundschaft" die Bewohner der Iinksrheinischen Lande. Nannte H . v. TREITSCHKE die Pfiilzer deshalb sogar ein "Bastardsvolk" [91: Geschichte I, 361], so suchten fruhere Historiker aus diesen Gebieten die liberalen rheinischen Traditionen, die wesentlich eben auf die "Franzosenzeit" zuruckgingen, zu verteidigen, gleichzeitig aber ihre damaligen Landsleute als gute deutsche Patrioten zu schildern, welche gegen die "Fremdherrschaft" opponiert hiitten. Dabei macht ein Vergleich der Arbeiten etwa von M. SPRING ER [244: Franzosenherrschaft] und P. SAGNAC [241 : Rhin franc;:ais] deutlich, wie stark die damalige Forschung von der aktuel1en Diskussion urn die Rheingrenze bestimmt wurde: Fand der Franzose eine francophile, weil fUr die Segnungen der Revolution (Aufhebung des Feudalismus etc.) zu Recht dankbare Bevolkerung vor, betonten deutsche Autoren die Lasten der neuen Herrschaft, mi!3trauten dem " Amtsoptimismus" vieler franzosischer Quel1en und werteten die Resultate der Plebiszite als das ohnehin wenig erfolgreiche Werk franzosischer Propaganda und staatlichen Drucks auf eine weitgehend unpolitische Bevolkerung. Erst nach 1945 wurde die "Franzosenzeit" von deutschen und franzosischen Historikern als eine gemeinsame Forschungsaufgabe begriffen, die nunmehr auch unter Benutzung der jeweiligen ungedruckten Quel1en des Nachbarlandes in Angriff genommen werden konnte. Die Entfernung vom einseitigen Blickwinkel der Nationalgeschichtsschreibung kam der Jakobinerforschung, die vielfach " die seit langem vergessenen deutschen demokratischen Traditionen wieder aufweisen" wol1te [so 238: A. KUHN, Jakobiner, 170], ebenso zugute wie der Analyse des "Esprit public", dessen weitverbreitete Ambivalenz und zeitliche, regionale und soziale Differenziertheit erst jetzt vol1 gewurdigt wurden [235: K.-G. FABER, Rheinliinder;

Fran ziisisch er Ein· Oufl und d eutsche ( Reform · )Tradition

Das Bild der "Franzosenzeit "' in d er alteren Literatur

Di fferenzi ertere Betrachtung naeh 1945

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Der Aspekt d er M od erni sierun g

Politi sche Bedin gun ge n d er Siikul ari sation

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

233 : R. DUFRAlSSE, Revolution]. Fur d ie Mehrheit der linksrheinischen Bevolkerung gait wohl, daB sie si ch mit der franzosischen Herrschaft arrangierte und deren Verwaltung "weniger als Instrument der Unterdruckung denn als Voraussetzung fUr Ruhe und Prosperitat" empfand [H. MOLlTOR, in: 236 : A. GERLlCH, Reich , 44], wofur auch die - vermutlich durch die niedrigen Aushebungszahlen erkHirliche - relativ geringe Desertionsquote spricht [232: R. DuFRAlSS E, Populations]. Bei aller Schwierigkeit, die unterschiedlichen Motive im Spektrum zwischen total em Anpassungswillen und grundsatzlichem Widerstand zu quantifizieren , lehnt man es nunmehr ab, " Opposition oder Arrangement verallgemeinernd als Stellungnahme fUr oder gegen eine Staatsform oder als nationale Option zu interpretieren" [239 : H . MOLlTOR, Untertan, 210]. Beispielsweise wurde in bezug auf das auBer in Spitzen- bzw. Schlusselpositionen (Finanzwesen!) uberwiegend aus Deutschen bestehende Beamtenpersonal in den linksrheinischen Gebieten, spezieU in der Pfalz, eine beachtliche Kontinuitat zwischen Ancien Regime und Vormarz nachgewiesen [234 : K.-G . FABER, Justizbeamte] . Andererseits entstand , wie S. GRA UMANN fUr das okonomisch weit entwickelte Roerdepartement herausgearbeitet hat, wahrend der napoleonischen Zeit ein "neuer Beamtenstab aus Kaufleuten , Grundbesitzern , Beamten des Ancien Regime, Adeligen und einigen wenigen Jakobinern ", rekrutiert nach den Kriterien: Qualifikation und Loyalitat sowie bald auch Besitz und Vermogen , dem eine lange Zeit politisch weitgehend indifferente Bevolkerung gegenuberstand [237 : Niederrhein , zit. 106]. So steht heute nicht mehr der nationale Gegensatz im Vordergrund, sondern der Aspekt der Modernisierung. Das gilt auch fUr die Beurteilung der Sakularisation. Denn heute erkennt man , daB die traditionelle Rechtsposition, auf welcher die Existenz der geistlichen Staaten beruhte, schon seit langerem ausgehohlt war. Das beweist der Ubergang zu vernunftrechtlichen Argumenten selbst bei manchen Verteidigern der geistlichen Staaten [227 : P. WENDE, Publizistik]. Verursacht aber wurde diese Entwicklung durch eine " innerkirchliche Sakularisierung" und einen Wandel sowohl des Eigentumsbegriffs [R. Freiin V.OER, in : 94: R. VIERHAUS, Eigentum] als auch der politischen Konstellation innerhalb des Reiches : Der gerade von Kaiser Joseph II . betriebene Ausbau des Territorialkirchentums fUhrte zu einem Verlust def reichsbischoflichen Funktionen und EinfluBmoglichkeiten, ab er auch Rom wurde - aus Furcht vor episkopalistischen und febronia-

3. Die Deutsche Reforrnzeit

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nistischen Stromungen - zum Feind der Reichskirche [23: K. O. Frhr. v. ARETI N, Reich]. Unter den politischen Rahmenbedingungen von 1802 / 03 - Schwache der Reichsgewalt, franzosische Dominanz - konnten diese Tendenzen zum Umbruch fUhren. Heute betrachtet man den Reichsdeputationshauptschlul3 in seiner ganzen Problematik deshalb iiberwiegend als einen (reichs)verfassungswidrigen, jedoch durch elementare Staatsnotwendigkeiten gedeckten " Iegalen, da in gesetzliche Formen gepal3ten , revolutionaren Akt .. ., dem rechtsschopferische Kraft innewohnte" [211: K. D. HOMIG, Reichsdeputationshauptschlul3, 126]. Auf die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Vermogenssakularisation kann hier nicht naher eingegangen werden . Aber der unter EDV-Einsatz nachgewiesene Profit, den linksrheinisch Teile des Biirgertums mit ehemaligen Nationalgiitern erzielten [243: W. SCHIEDER, A. KUBE, Sakularisation], forderte zweifellos die Entwicklung sozialer Verhaltnisse, die denen anderer Teile des Empire entsprachen [vg\. 231: R. D UFRAISS E, Notables]. Dies mag erklaren, warum Preul3en bzw. Bayern hier nach 1815 die biirgerlich-liberal gepragten " rheinischen Institutionen" (Code civil, Geschworenengerichte, Mairieverfassung) langfristig im Prinzip unangetastet liel3en . Demgegeniiber scheint die Sakularisation rechtsrheinisch die sozio-okonomischen - nicht die politischen , kulturellen bzw. religiosen - Verhaltnisse strukturell insgesamt nur wenig verandert zu haben [212 : H. KL UETI NG, Westfalen; 226: E. WElS, Sakularisation im Widerspruch zu 217: R. MORSEY , Auswirkungen]. Denn rechts des Rheins iibernahm die Staatsgewalt in den meisten Territorien zumindest das Obereigentum auf langere Zeit, eine Vorgehensweise, die C. DIPPER als "domanenpolitischen Modus" der Sakularisation beschrieben hat [in: 220 : A. v. REDEN -DoHNA, Deutschland]. Die Verkaufe bzw. Zuteilungen von ehemaligem Kirchengut blieben gesamtwirtschaftlich gesehen eher marginal und kamen zudem nicht zuletzt einzelnen kapitalkraftigen Fiirsten- bzw. Adelsfamilien zugute [216: H. C. MEMPEL, Vermogenssakularisation]. Der eigentliche Gewinner innerhalb der Einzelterritorien aber war unzweifelhaft die Staatsgewalt - auch wenn die finanziellen Sakularisationsgewinne weit hinter den Erwartungen zuriickblieben, insbesondere als der Umfang der gleichzeitig iibernommenen Lasten erkennbar wurde. Denn die Sakularisation brachte neben ideellen Gewinnen (Verfiigung iiber Kulturgiiter) in jedem Fall eine erhebliche Steigerung des staatlichen Anteils an Rechten und am Bruttosozialprodukt mit sich . Insofern schuf sie (zusammen mit der

Ulllerschi edli che Au swirkun gen links und rechts des Rhein s

Festigung der lerril ori a len Slaatsgc walt

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T reitschke (iber den Rh einbund : " Partikularismus" und " und eutsche" Refo rm en

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Mediatisierung) " Iangst fallige Voraussetzungen fur die Modernisierung der staatlich-politischen Strukturen Deutschlands und fur deren Angleichung an die des ubrigen Europa" - fUr rationale Staatsverwaltung, groBraumige Wirtschaftspolitik, eine beginnende UmgestaItung der Eigentumsordnung und den Ubergang zur sog. burgerlichen Gesellschaft [R. LILL, in : 220: A. v. REOE N-DoH NA, Deutschland, 101]. Mit der Zerstorung der Reichskirche war der erste Schritt zur endgultigen Auflosung der aIten Reichsverfassung getan . Der machtpolitisch nicht lange austarierbare Widerspruch zwischen dem Souveranitatsstreben eines Friedrich von Wurttemberg und seinem Wunsch, Mitglied des Reiches zu bleiben [270: P. SAUER, Zar], scheint dabei nicht untypisch fur jene Fursten zu sein, die dem Rheinbund beitraten. Diese aber hatte TREITSCHKE aus dem Blickwinkel des idealisierten Macht- und Nationalstaats Bismarckscher Pragung durch "unbedingte Unterwerfung in Sachen der europaischen Politik [gegeniiber Napoleon] und ebenso unbeschrankte Souveranitat im Inneren " gekennzeichnet gesehen und haBerfullte Verdikte gegen sie geschleudert : "Der deutsche Particularismus trat in seiner Sunden Bluthe." " Herzlose Frivolitat", "grenzenlose Rohheit", "wuste Willkur" beherrschten seiner Ansicht nach die Politik dieser " rheinbundischen Despoten", obwohl er viele ihrer MaBnahmen als not wen dig ansah, urn "vollig verrottete, lacherliche Zustande" zu beseitigen, ohne daB deshalb z. B. in Bayern " Dank der fieberischen Hast der Regierung, die meisten dieser mit larmender Prahlerei angekundigten Reformen " wirklich ausgefUhrt worden waren [91 : Geschichte I, 232, 357 ff.]. Obwohl immer, besonders urn die Jahrhundertwende, einige Landeshistoriker z. T. schon aus Landespatriotismus die Innenpolitik der Rheinbundstaaten detaillierter untersuchten und wohlwollender kommentierten, blieb noch in der Zwischenkriegszeit das Urteil von der national en Sehweise beeinfluBt. Zwar schilderte E. HOLZLE den wurttembergischen Konig als fahigen und erfolgreichen , wenngleich skrupellosen Verfechter der 1nteressen seines Staates, und er betonte zu Recht, die Napoleonische Politik habe den Rheinbundstaaten einen gewissen "Raum zu einer eigenen Aufbaupolitik im Innern" gelassen. Aber diese waren fUr ihn alien Reformleistungen wm Trotz doch traditionslose "schwachliche Staatsgebilde" , die sich dem Franzosenkaiser gegenuber demutigen muBten und damit sogar ihre inn ere Organisation "als undeutsch, als volksfremd vor dem Volk und der Geschichte" kennzeichneten

3. Die Deutsche Reforrnzeit

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[263: Wiirttemberg, 47 ff.]. Selbst der 1936 zwangsemeritierte FRANZ SCHNABEL hatte neun lahre zuvor geklagt, daf3 die Leistungen der Rheinbundpolitiker nur dem "Aufbau einer zweckwidrigen partikularen Gewalt gedient" und damit dazu beigetragen hatten, "der deutschen Nation in der Folge den Weg zur vollendeten Einheit zu versperren" [272: Reitzenstein, 168). Nichtsdestoweniger waren es diese beiden Autoren, die - verschiedenartige - Ansatze zur Anerkennung der selbstandigen RoUe der Rheinbundstaaten lieferten. F. SCH NABEL verteidigte ihren Anschluf3 an Napoleon als unausweichlich angesichts der "Wahl ... zwischen Untergang od er Wachstum". Vor all em aber betonte er, aus nichtpreuf3ischer, ja teilweise europaischer Perspektive urteilend, man habe hier "das Staatsideal des aufgeklarten Absolutismus" verwirklicht, gleichzeitig aber pragmatisch das Ideengut der Franzosischen Revolution aufgenommen und erstmals "die neue Staats- und Gesellschaftsordnung in Deutschland eingefUhrt" [86 : Geschichte t, zit. 149, 158). Unter gesellschafts- und verfassungspolitischen Gesichtspunkten wurden die Rheinbundreformen also als positive Zukunftsleistungen gewiirdigt. Schon 1924 hatte M. DOEBERL fUr die bayerische Konstitution nachgewiesen, daf3 sie zu jenen Einrichtungen gehorte, mit deren Hilfe Montgelas eventueUe neue Bundesorgane in ihrer EinfluBmoglichkeit auf 8ayern schwachen wo lite, indem er vollendete Tatsachen im Rahmen dessen schuf, was er Napoleon an Abweichungen vom franzosischen Vorbild meinte zumuten zu konnen [255: Rheinbundverfassung). Daran ankniipfend fUhrte E. HOLZLE aus, Napoleon sei mit seinem Vorhaben, in Deutschland ein echtes "Staatssystem" als Teil der Revolutionierung Europas zu errichten , am Widerstand 8ayerns und Wiirttembergs gescheitert. Umgekehrt hatten die siiddeutschen Staaten die franzosischen Einrichtungen nicht, wie andere Rheinbundmitglieder, iiberhaupt nicht oder mehr dem Namen nach iibernommen - was in der Tat etwa fUr den Dalberg-Staat gilt [265: H. KLU ETl NG, Frankfurt). Dies sprache fUr eine weitgehend freiwiUige Ubernahme, vielfach sogar fUr eine bloB "gleichzeitige Entwicklung von Maximen und Praktiken auf Grund der gleichen Anschauungen und der gleichen autokratischen Tendenz" [in: 52: H. H. HOFMANN, Entstehung, 268 f). Diese Thesen stieBen allerdings lange auf Ablehnung. E. R. HUBER handelte die Rheinbundreformen als angeblich reine Verwaltungsmaf3nahmen zum Zwecke partikularer Staatsbildung nur ganz am Rande ab [54 : Verfassungsgeschichte T, 84 ff , 314 ff), und

Hiilzle/ Schn abel : se lbsta ndige Roll e de r Rh einbundstaat en

Di e Di sku ss ion urn den Rheinbund nach 1945

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Preisgabe der nationa len Perspekti ve

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

F. HARTUNG meinte, der Rheinbund habe "als Ganzes iiberhaupt keine Geschichte" gehabt. Zwar hiitten seine Mitglieder " Grol3es und Bleibendes geschaffen " , z. B. absolutistische Errungenschaften nachgeholt, ein - wenngleich nicht-deutsches - politisches Bewul3tsein entwickelt und "den Anschlul3 der katholischen Under Siiddeutschlands an das im protestantischen Norden entstandene deutsche Geistesleben " herbeigefiihrt. Indes habe sich "der unhistorische Zug, der den ganzen Reformen anhaftet, . .. so unentbehrlich er auch war, doch zugleich als schiidlich " erwiesen [47: Verfassungsgeschichte, 168, 196 f.). In diesem Sinne wirkt die traditionelle Deutung des Rheinbundes - charakterisiert durch die Kritik an der (unbestreitbaren) " Traditionslosigkeit" mancher der neuen Staatsgebilde und am "Pseudoliberalismus" gewisser Institutionen sowie durch die (in ihrer Pauschalitiit problem atische) Kennzeichnung als eine Epoche ausbeuterischer "Fremdherrschaft" - nicht zuletzt in Handbuchdarstellungen noch nach 1945 weiter, etwa bei M. BRAUBACH (in : 43: GEBHARDT, Handbuch Ill) oder sogar bei K. v. RA UMER , wenngleich dieser neben den Reformleistungen gerade die - z. T. auf dem Weg iiber eine spezifische " Rheinbundideologie" erfolgte - Ausbildung einer nationalen Str6mung in den Rheinbundstaaten hervorgehoben hat [in : 73 : DERS., M. BOTZENHART, Geschichte). Erst der neuesten Forschung ist es weitgehend gelungen , diese nationale Perspektive iiber friihere Ansiitze hinausgehend entweder zugunsten einer Beschriinkung auf das Selbstverstandnis der damaligen Rheinbundpolitiker v611ig aufzugeben oder aber sie in f6deralistischem Sinne so weit zu modifizieren , dal3 die Rheinbundiira unter diesem Aspekt uneingeschriinkt als eine notwendige und sogar fruchtbare Phase der deutschen Nationalgeschichte erscheint [vg\. 24 : K. O. Frhr. v. AR ETlN , Bund, 115; 250: H. BERDI NG, Reform, 524; lOO : E. WEIS, Deutschland, 217). E. WEIS stellte dariiber hinaus R. WOHLFEILS These, Napoleon habe urspriinglich den Rheinbundfiirsten keineswegs freie Hand lassen wollen [285 : Modellstaaten ; 286: D ERS., Untersuchungen), durch neue Quellenfunde in Frage. Aus Griinden der Staatsriison des Empire scheint Napoleon demnach an einer Konsolidierung der siiddeutschen Staaten ein echtes Interesse gehabt zu haben , was aber einzelne Eingriffe in deren innere Angelegenheiten nicht ausschlol3, sondern geradezu herausforderte, dort niimlich, wo die Stabilitiit eines Verbiindeten gefiihrdet erschien (Baden), generell aber auf jenen Gebieten , wo das Interesse des Ganzen auf dem Spiel zu stehen schien (Pressewesen, Zollsystem , dynastische Heiratspolitik). Andererseits spricht vieles da-

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ftir, daB die rheinbiindische Reformwelle von 1806 / 08 gerade durch die Unklarheit tiber (mogliche) bundespolitische Pli:ine Napoleons ausgelost wurde. Vermutlich sahen sich Politiker des ofteren gerade im gesellschaftspolitisch relevanten Bereich zu Reformprojekten veranlaBt, die iiber ihre eigentlichen Plane hinausreichten und die sie, als sie sich ihrer Souveranitat wieder sicher wahnten , schleunigst modifizierten [vgl. z. B. W . DEMEL, in : 282 : E. W EIS, Reformen]. Doch reichte jedenfalls weder die Modellstaatsbildung noch jedwede Art von Assimilationsdruck aus, urn eine vollstandige Angleichung der inneren Verhaltnisse im napoleonischen Herrschaftsbereich herbeizufUhren. So wurde tiberall im Rheinbund das franzosische Rechts- und Verwaltungssystem mehr oder minder modifiziert und ganz pragmatisch experimentiert, sei es u. a. aus Kostengrtinden, a us Rticksicht auf historische Gegebenheiten bzw. die (erwartete) Reaktion der 8evolkerung [Beispiele ftir Berg bei 260: M . W . FRANCKSE N, Staatsrat; fUr Bayern 283: 1. A. WEISS, Gemeinden ; bei 213: F. L. K NEM EYER, Verwaltungsreformen , 264f., sogar fUr das franzosische Lippe-Departement), sei es infolge eines untiberwindlichen konservativ-feudaladeligen bzw. innerbiirokratischen Widerstandes [E. FEHRENBACH, in: 220: A. v. REDE N-DoH NA, Deutschland). Insofern erscheinen die fUhrenden stiddeutschen Politiker als originelle Vermittler zwischen aufgeklart-absolutistischen Reformtraditionen (insbesondere ihrer eigenen Lander) und Anregungen bzw. Mustern , die das Empire bzw. dessen Modellstaaten als modifiziertes Erbe der Revolution bereitstellten - was N apoleons Rolle in vieler Hinsicht auf die eines " Katalysators" beschrankt [279: E. WEIS , EinfluG). Dabei mochte allerdings der Akzent unterschiedlich gesetzt sein : Die Reformen in manchen mittleren und kleineren Staaten [zu Isenburg oder Lippe vgl. 271 : H. A. SCHMITT, Germany) einschlieGlich jener in Bayern und Baden vor 1806 konnen als eine durch die neue Machtkonstellation ermoglichte Verwirklichung alterer Plane des aufgeklarten Reformabsolutismus gelten. Speziell 1807 / 09 wurde der franzosische Assimilationsdruck d ann in manchen Territorien jedoch unvermittelt spiirbar und ermoglichte nicht nur teilweise eine "Nachholung" , sondern vielfach eine "Vollendung des Absolutismus" [266: H. KLUETI NG, N achholung, 243 ; V. PRESS , in: 228: Zeitalter). Kennzeichnend scheint, daG die ftir die erste Phase typische, im Sinne von K . EpSTEI N [38 : Urspriinge, 21) " reformkonservative" Politik des Moralisten Brauer frtiher, etwa von W. ANDREAS [246: Geschichte), ausnehmend positiv, von neueren Forschern wie

Betonung der Abweichungen Yo m franzosischen Vorbild

100

" Franz6sisches'"

lInd "Deutsches" in d en prelll3ischen Reform e n

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

L. GALL [42: Griindung] dagegen im Vergleich zum mehr "franzosischen" Kurs Reitzensteins meist als rtickstandig bewertet wurde. Eine ahnliche Konstellation zeigt sich auch bei der Beurteilung der fiihrenden preuBischen Reformpolitiker. Hier erkor die traditionelle, national gepragte deutsche Geschichtsschreibung den Freiherrn vom Stein zu ihrer Idealfigur und folgte ihm in vielen seiner politischen Urteile. Hardenbergs groBerer politischer, speziell diplomatischer Gewandtheit stellte man Steins Uberlegenheit in bezug auf charakterliche Integritat, nationales Ethos und ein tieferes, von deutschen Traditionen gespeistes Freiheitsverstandnis - kenntlich an der Idee der Selbstverwaltung und an "echteren" konstitutionellen Gesinnungen - gegentiber. Wenn Stein bis in die Gegenwart hinein "von nahezu alien politischen Gruppen als Protagonist eigener Forderungen und Ziele in Anspruch genom men wurde" , so waren sich diese do ch einig in der "Intention, daB sie an ihrem He/den die nationale Eigenstandigkeit der politischen und sozialen Entwicklung Deutschlands in Theorie und Praxis exemplarisch zu demonstrieren suchten". Selbst eine angenommene Rezeption fremder Ideen durch Stein gait durchweg als ein "ihre Eindeutschung bewirkender ProzeB kreativer Aneignung" [44 : W. G EMBRUCH, Tendenzen , 81, 84 f.]. Obgleich Hardenberg durchaus positive Leistungen bescheinigt wurden , erschien er meist doch als vergleichsweise zu biirokratisch, doktrinar und - ahnlich wie Montgelas od er Reitzenstein - als ein Anhanger des aufgeklarten Absolutismus und des "geschichtslosen" franzosischen Rationalismus, der dementsprechend das von Stein begonnene Werk nur unvollkommen bzw. verfalscht fortfiihren konnte [z. B. 91 : H. v. TREITSCHKE, Geschichte I, 365 ff.] . Immerhin wurde vor allem bald nach 1900 die Frage des Eintlusses der Ideen von 1789 bzw. der franzosischen Revolutionsgesetzgebung auf Steins Reformen heftig diskutiert. Diese Kontroverse lenkte den Blick auf die Wurzeln von dessen gerne als religiossittlich, historisch-organisch charakterisierten und vom dominant rationalistisch-naturrechtlichen "franzosischen Geist" abgehobenen Staatsanschauungen . Bis heute wurden immer wieder bestimmte Eintliisse auf das Denken Steins hervorgehoben - seine Herkunft aus der nassauischen Reichsritterschaft, physiokratische Ideale, englische Vorbilder, seine westfalischen Erfahrungen, seine europaischen oder zuletzt gar - ftir die Zeit nach 1815 - seine restaurativen Ziige [290: W. G EMBR UCH, Stein]. Richtungweisend blieb jedoch, daB G . RITTER 1931 in seiner monumentalen Stein-Biographie

3. Die Deutsche Reformzeit

101

diese siimtlichen verschiedenen Eintlu13faktoren anerkannte, sie gewichtete, aber allesamt doch mehr als die im konkreten Einzelfall hervortretenden Aspekte, die unterschiedlichen Schichten einer ganzheitlich gedachten Personlichkeit darstellte. Deren Basis aber sah er in der altdeutsch-stiindischen Tradition und in der protestantischen Gesinnung, gerichtet "von Haus aus auf praktisch-nutzliches Wirken im konkreten Staate". Doch seien die Reformgesetze "mehr in der Gesamttendenz als in den Einzelheiten" als Ausdruck von Steins personlicher Uberzeugung zu betrachten, denn lediglich die stadtische Selbstverwaltung durfe als Steins origineller Reformgedanke gelten, die Aufhebung der Erbuntertiinigkeit hingegen als "der erste gro13e Einbruch westeuropaischer Freiheitsbegriffe" unter dem ma13geblichen Eintlu13 von dessen Mitarbeitern [311: Stein 1, 8, 319, 341]. Nichtsdestoweniger erschien ihm Stein als "Fuhrer" bei der Erziehung der Deutschen zum Staat und zum Gemeinsinn, und dieser Zusammenhang von innerer Erneuerung und nationaler Befreiung ebenso wie die angeblich letztlich unableitbare Originalitat des Politikers faszinierte auch F. SCHNABEL, wenngleich dessen "Stein" gegenuber dem von RITTER gezeichneten Bild europiiischer wirkt, mehr liberal als national und noch betonter humanitar-volkspadagogischen Zielen verpflichtet [314: Stein]. Wenn in diesem Zusammenhang D. SCHWAB 1971 davor warnte, Steins geistige Ursprunglichkeit zu uberschatzen, da er "fUr jede wesentliche Position seiner ,Selbstverwaltungsidee' .. . eine gewichtige Denktradition im 18. lahrhundert" nachweisen konnte [315: "Selbstverwaltungsidee", 155], so ging er damit auf Distanz zu der von jener Deutung zumindest nahegelegten Tendenz, Stein zu einem uber all em "Parteienhader" und divergierenden sozialen Interessen stehenden, nur dem "Gemeinwohl" verpflichteten Genie zu stilisieren. Bei RITTER, ebenso wie bei H. HUBATSCH [vg!. 301: Stein-Studien, 46 f.] oder H. HAUSSHERR [297: Hardenberg Ill], zeigt sich jedoch auch nach 1945 noch eine Tendenz, Steins "Liberalkonservativismus" als Wurzel einer "spezifisch deutschen" Form des Liberalismus gegenuber dessen westeuropiiischer Spielart positiv hervorzuheben [311: Stein, 3. Aufl. , 1I f., 107]. I nfolge des Zurucktretens des nationalen Gesichtspunkts erscheint demgegenuber das Bild von Stein und Hardenberg bei zahlreichen neueren Autoren - auch in der einstigen DDR [vg!. 310: Reformen] - gegenuber den fruher vorheuschenden Wertungen stark verandert, ja teilweise geradezu in sein Gegenteil verkehrt. So meinte H.-U. WEHLER, die nationalen und historistischen Traditio-

Ritter: Stein al s Erzieher zu " deut· scher" Freiheit

Revision der Bewertung van Stein und Hardenberg

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Di e Frage der Reformkontinuitat zwischen Stein und Hardenb erg

R eiati vierun g des Gege nsa tzes ,,franziisisches System" " deutscher Gei st"

Il. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

nen verbundene Mehrheit der aiteren Historikergeneration habe sich offenbar "mit diesem zeitweilig fruhliberal gefarbten, vorwiegend jedoch aItstandisch-romantisierend den ken den, reformkonservativen Beamten . . . identifizieren" k6nnen - und diesen dabei "ma/3los uberschatzt" . Hingegen habe die von Hardenberg "reprasentierte Fusion von Spataufklarung und Etatismus, von burokratischem Regiment und Anpassung an die Fortschritte Westeuropas ... die preu13ischen Reformen und ihre Fortentwicklung gepragt" - was insofern ein Lob bedeutete, als WEHLER die "Modernisierungsaufgabe" der deutschen Staaten darin sah, daB diese den Vorsprung der "westeuropaischen PionierIander" hatten aufholen mussen [98 : GeseIlschaftsgeschichte I, 399 ff.]. Abgesehen von der jungsten Neubewertung etwa der jeweiIigen agrarpoIitischen Leistungen (s. u.), erscheinen dementsprechend manchen neueren, starker sozialgeschichtlich orientierten Autoren zumindest die staatstheoretischen Positionen Hardenbergs modern er als jene Steins. Gab es demnach uberhaupt eine seit 1807 konsequente liberale Reformplanung, die dann urn 1820121 endgultig " scheitern" konnte, vieIleicht verbunden mit einer verhangnisvoIlen Abkoppelung der deutschen von der westlich-demokratischen Entwicklung, wie nach 1945 wiederholt vermutet wurde [so 316 : W. M. SIMON, Failure)? Diese Frage verneinte E. KLEI N, wenn er das Ziel Steins in der "Regeneration", dasjenige Hardenbergs in der blo13en "Reorganisation" Preu13ens sah und dessen Finanz- und Innenpolitik als ein von sozialen Rucksichten auf die Gro13grundbesitzer beherrschtes stiindiges - durch ZufaIl letztlich erfolgreiches - Improvisieren zur Vermeidung des Staatsbankrotts beschrieb [303: Reform, 313]. Demgegenuber hob W. HUBATSCH die Gemeinsamkeiten zwischen Stein und Hardenberg hervor [300: Reformen), und fUr H. O. SIEB URG stelIten die preu13ischen Reformen ein "im Ergebnis ... einheitliches Werk dar, das sich als ein tragfahiges Fundament fur das Staatsund GeseIlschaftsleben des modernen Preu13en erwiesen hat" [in: 222: DERs., Napoleon, 21 I]. Im Gegensatz dazu verIegte B. VOGEL den eigentlichen Beginn der Reform erst auf das Jahr 1810, "weil erst jetzt eine Modernisierungspolitik zur Steigerung wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Mobilitat einsetzte" [321 : Gewerbefreiheit, 12f.). Ob man nun aber die franz6sisch-westfalischen Einflusse sogar auf das preuBische Reformwerk betont oder umgekehrt mit H. A. SCHMITT [27 I: Germany) die Unterschiede selbst zwischen den Rheinbundmitgliedern herausstreicht - in keinem Fall so lite man

3. Die Deutsche Reformzeit

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libersehen , daB etwa die Departementaleinteilung auch in Frankreich (weniger freilich in dessen neuerworbenen Gebieten) keineswegs ganz schematisch ohne Berilcksichtigung der historischen Gegebenheiten erfolgte. I nsofern erscheint der Gegensatz zwischen "franz6sischem System" - sprich: abstraktem Rationalismus - und " deutschem Geist" - im Sinne von traditionsverbundener Geistigkeit - lediglich als ein in beiden Uindern unterschiedlich stark ausgepragtes Mehr oder Weniger von aufklarerisch-egalitaren Idealen einerseits, historisierend-standischen (auch neustandischen!) Zielvorstell ungen andererseits. Dementsprechend wird man heute auch nicht mehr unkritisch die These ilbernehmen k6nnen , daB es nur das durch " organische" Reformen erneuerte PreuBen sein konnte, welches "Deutschland" von der " Fremdherrschaft" zu befreien vermochte. Diese Vorstellung und die damit verbundene Begrifflichkeit erwiesen sich allerdings besonders in der DDR als zahlebig - wobei freilich hier "Befreiung " auf den Klassenkampf der "Volksmassen" gegen die "Herrschaft der franz6sischen GroBbourgeoisie" bezogen wurde. In der Auseinandersetzung mit ihrem kapitalistischen englischen Pendant habe sich diese, H. H EITZER zufolge, mit den reaktionaren deutschen Filrsten im Rheinbund gegen die meist spontan revolutionar handelnden Volksmassen und die gerade im antifeudalen Sin ne fortschrittliche Idee eines deutschen Nationalstaates verbilndet. Die Reformen seien lediglich Zugestandnisse an die Massen und das aufstrebende Bilrgertum gewesen , die den feudalen Machtapparat objektiv sogar gestarkt hatten [262: Insurrectionen]. Im Rahmen seiner Deutung des Rheinbundes als " Kern des napoleonischen Unterdruckungssystems in Deutschland" betonte HEITZER jedoch in einem spateren Beitrag, die dortigen Reformen hatten sich , obwohl vornehmlich auf den "Oberbau" beschrankt, langerfristig zugunsten einer burgerlich-kapitalistischen Entwicklung ausgewirkt [in : 206: Befreiungskrieg]. H. SCHEEL beschrieb sie, speziell fUr Bayern, sogaT als "Ergebnisse des antifeudalen Klassenkampfs der Volksmassen " , welche von einheimischen Jakobinern in erheblichem MaBe mobilisiert worden seien [242: Jakobiner, 696 f.] . Dagegen hatte P. STULZ nur festgestellt, daB die von der franz6sischen GroBbourgeoisie mit Hilfe ihres Instruments Napoleon eingeleiteten Reformen die bilrgerlich-liberalen Krafte in Deutschland anfanglich mit Befriedigung erfullt hatten . Als " H6hepunkt der fortschrittlichen Rolle Napoleons" betrachtete er jedoch die Niederwerfung PreuBens, " der Hochburg der lunkerherrschaft" [225: Fremdherr-

Refo rrnzeit und Befreiungskrieg in der DDR-Geschichtsschreibung

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Na poieo ni sche Wirtschaftspo iitik . Ko njunkturkri sen und d er Zu sa mmenbru ch des rheinbiin d ischen Systems

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

schaft, 21)_ Den spateren Sieg uber Napoleon verdankte Preul3en dann nach Ansicht von H. SCHEEL bzw. J . STREISAND weder der Regierung noch dem Linienmilitar, sondern neben den russischen Armeen vornehmlich den Volksmassen, denen der Lohn fUr ihre Blutopfer - die Befreiung vom feudalen Joch - schliel3lich vorenthalten worden sei. Anknupfend an die marxistischen Klassiker wurdigten beide Autoren andererseits das von den Reformern dem K6nig und der Junkerklasse abgerungene, wenngleich nur rudimentare Reformwerk. Jene, die preul3ischen Patrioten , hatten die nationale Bewegung im Yolk entfacht [in: 221: H. SCHEEL, F. STRAUBE, 1813). So lebten kleindeutsche Deutungsmuster, etwa im DDR-Geschichtslehrbuch von J. STREISAND [224: Deutschland), unter marxistischen und aktuell-politischen Vorzeichen weiter: Dem "burgerlichen Nationalstaat" wurde eine progressive Rolle zugeschrieben, der Napoleonischen Politik - zunehmend nach 1807 - ein rauberischer, antidemokratischer Zug. Dabei verwies man naturlich auf die Folgen der Napoleonischen Wirtschaftspolitik. Diese wird man , anknupfend an M . D UN AN [256: Napoleon), mit der neueren Forschung namentlich von R. D UFRAISSE jedoch regional und branchenmal3ig stark differenzieren und die Kurzfristigkeit der Krisenerscheinungen , die sehr begrenzte Wirksamkeit der Kontinentalsperre sowie die zumindest mittelfristigen Vorteile von Kapitalakkumulation - nicht zuletzt infolge des Schmuggels - sowie von gr6l3eren Rechts- und Wirtschaftsraumen fUr die industrielle Entwicklung beachten mussen [in : 28: H. BERDlNG, H. -P. ULLMANN , Deutschland). Die neuen Erkenntnisse legen allerdings auch nahe, dal3 konjunkturelle Einbruche, auch wenn sie alien falls indirekt mit der Napoleonischen Wirtschaftspolitik in Verbindung standen, der " Franzosenherrschaft" zur Last gelegt wurden und d a mit zum Ende des rheinbundischen Systems mal3geblich beitrugen [vg!. etwa: R. D UFRAISSE, in: 45: H . GLASER, Krone). Wenn danach, speziell in Norddeutschland , die Restauration machtvoll einsetzte, so hatte doch in einem Sonderfall wie Wurzburg der Reformprozel3 bereits seit 1805 stagniert ; die Wiederherstellung der ausschliel3lichen Katholizitat der dortigen Universitat verweist sogar auf eindeutig restaurative Tendenzen in diesem Rheinbundstaat [251: W. BILZ, Gror3herzogtumer). Wie in Preul3en, so ist jedoch auch in den rheinbundischen Reformstaaten ab 1810/ 12 ein Erlahmen des Reformeifers bemerkba r. Was bewegte oder hemmte also die Rheinbundreformen neben den franz6sischen Einflussen ?

3. Die Deutsche Reformzeit

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3.2 Wege und Ziele der Rheinbundreformen Anhand des bayerischen Beispiels suchte L. DOEBERL 1925 nachzuweisen, daB der "groBe EnteignungsprozeB der eigenberechtigten Gewalten im I nnern des Staates" ausschlieBlich durch das aus Frankreich stammende "Prinzip der Staatssouveriinitat" in Gang gesetzt worden sei [254: Montgelas, 13). Doch schon zwei lahre spater gelangte F. SCH NABEL zu einer differenzierteren Auffassung. Er ging zwar noch davon aus, daB Montgelas und Reitzenstein "ohne Rticksicht auf Gewordenes und auf erworbene Rechte" vorgegangen waren , schrieb dem badischen Minister jedoch bereits "sittliche Gr6Be" zu und betonte dessen neuhumanistisches Bildungsinteresse, als dessen Ergebnis er die Reform der fUr die vormarzliche Bildungslandschaft so wichtigen Heidelberger Universitat hervorhob [272: Reitzenstein, 132, 126). Sein Schtiler E. WEIS, der mit Montgelas' "Ansbacher Memoire" von 1796 eine Quelle entdeckte, deren Rang den spateren groBen Reformdenkschriften Steins und Hardenbergs entspricht, vermochte schlieI31ich 1970 nachzuweisen, " dal3 hinter dem ktihlen Machtpolitiker Montgelas, dem rticksichtslosen Vertreter der Staatssouveranitiit, ein aufkHirerischer Idealist steht, der sich jedoch bemtiht, seine Plane mit den Ergebnissen der Erfahrung und den gegebenen M6glichkeiten abzustimmen" [280 : Montgelas, 283 ; 281 : DERS. , Reformprogramm). Gerade deshalb forcierte er den Aufbau einer "neuen" Beamtenschaft. Abweichend von der traditionellen Auffassung, welche das Preul3en des Soldatenk6nigs als Ursprungsland des modern en deutschen Berufsbeamtentums ansah , konnte daher B. W UNDER feststeIlen , die Beamtenschaft als eine geschlossene Gruppe (gekennzeichnet durch Qualifikation, Inamovibilitat, materielle Absicherung und rechtlichen Sonderstatus) sei "eine bewul3te Neusch6pfung der Rheinbundstaaten , insbesondere Bayerns" gewesen [in: 282: E. WElS, Reformen , 181) - allerdings wiederum eine unter franz6sischem Einflul3 zustande gekommene Neusch6pfung, wie E. FEHRENBACH erganzte [257: Beamtentum). Dieser " Privilegierung", so ftihrte WUNDER aus, entsprach freilich auch eine " Disziplinierung", etwa die Schaffung einheitlicher Normen sowohl zur Ahndung von Dienstvergehen wie auch zur Rekrutierung ktinftiger Staatsdiener [vg\. 284: R. WEN DT, Konkursprtifung). Den Prozel3 der (modifizierten) Ubernahme der bayerischen Dienstpragmatik arbeitete er besonders fUr Wtirttemberg heraus [288: Privilegierung ; D ERS., in: 228: Zeitalter), nachdem E. ARNDT ahnliches vorrangig schon ftir

Schn abel / Wei s : Neuhumani sti sch er bzw . aufkliireri· scher " ldeali smu s" als Refo rmmotiv

Wund er: Bayern als Ursprungsland des modern en Berufsbeamtentums

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Berding: Imperiale Herrschaftsi nteressen vs. egalitiire Gesellschaftspolitik in Westfalen

It Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Baden getan hatte [247: Badenj. WUNDERS Eindruck, da13 mit dieser rechtlichen Abschichtung der Beamtenschaft eine Tendenz der sozialen Einengung ihrer Rekrutierungsbasis auf Angehorige der "gebildeten Stiinde" einherging, wurde inzwischen fUr Baden von L. E. LEE erhiirtet: Zwar seien die Beamten einerseits mit ihrem Anspruch, sich ganz dem (im Staat manifestierten) "gemeinen Wohl" hinzugeben , "Modell-Staatsbiirger" gewesen, andererseits aber habe die konkrete Ausgestaltung der "Leistungs"-Anforderungen, die an kiinftige Staatsdiener gestellt wurden, dazu gefUhrt, daB die Beamtenschaft des Vormarz "a very closed elite" gewesen sei [267: Politics, zit. 71j. Zu einem iihnlichen Ergebnis gelangte E. TREICHEL fiir das Herzogtum Nassau, das seinen Worten nach "in seiner Grundstruktur ein Beamtenstaat und kein Biirgerstaat" blieb [90 : Biirokratie, zit. 586]. Jedoch ist unbestreitbar, da13 die Rheinbundreformen auf anderen Gebieten tendenziell auf eine soziale Egalisierung, d. h. letztlich auf eine "biirgerliche" Gesellschaft mit Rechtsgleichheit abzielten. Dies lii13t sich etwa anhand der Adels- ebenso wie der Judenpolitik verdeutlichen, der verschiedene neue Beitriige gewidmet wurden [etwa in: 282: E. WElS, Reformenj. Erwies sich in letzterer Hinsicht Westfalen als echter "Modellstaat", so zeigte es sich, da13 z. B. in Baden auf kommunaler, in anderen Territorien auch auf gesamtstaatlicher Ebene alte Diskriminierungen fortbestanden [H. BERDING, in: ebd.; 248: DERS., Juden; 79: R. RURUP, Emanzipationj. Andererseits kennzeichnet gerade Westfalen die Ambivalenz einer Napoleonischen Staatsgriindung zwischen dem anfiinglichen Wunsch des Kaisers, in Deutschland moralische Eroberungen zu machen, und seiner permanenten Absicht, das Empire finanziell und militarisch abzusichern. Diese Intentionen liefen nur so lange parallel , wie die Angleichung der administrativen , rechtlichen und sozialen Verhaltnisse in Deutschland an das franzosische Vorbild die innere Homogenitat des Grand Empire starkte. Speziell am Beispiel der westfiilischen Domanendotationen konnte H. BERDING [249: Gesellschaftspolitikj jedoch nachweisen, wie die von einem Teil der westfiilischen Biirokratie aufgegriffenen und in eigener Regie umgesetzten Modellstaatsplane bald mit den Zielen des Imperators in Konflikt gerieten. Zum einen wollte Napoleon seinen Satelliten nicht aus seinem Klientelverhaltnis entlassen, zum anderen widersprach die Zerstarung der iiberkommenen feudalen Agrarstrukturen einem zentralen gesellschaftspolitischen Anliegen des Kaisers: "dem Aufbau einer auf agrarischem Grundbesitz beruhenden imperialen Fiihrungs-

3. Di e Deutsche Reforrn zeit

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schicht" [ebd., 15]. So ruinierten die Forderungen N apoleons d en westfalischen Staatshaushalt und diskreditierten die zu Steuererhohungen gezwungene Kasseler Regierung. Aber nicht nur, daf3 der Satellitenstaat - auf3er in administrativ-rechtlicher Hinsicht - den Modellstaat zunehmend in den Hintergrund dra ngte: Die Tatsache, daf3 die Entscheidung der vielen Rechtsstreitigkeiten , die urn die Beseitigung feudaler Rechte gefiihrt wurden, letzten Endes zugunsten der kai se rlichen Donatare fiel , starkte auch die Position des alteingesessenen westfalischen Adels. Dazu kam, daf3 sich in dem sta rk traditionell strukturierten Land ein reformfreudiger fiihrender Staatsmann wie Simeon, zumal bei fehlenden Deutschkenntni sse n, schnell isoliert fiihlen muf3te [276 : J. TULARD, Simeon]. So sehr in dem " Kunststaat" die Anwendung rationaler Organisationsprinzipi en nach franzosischem Muster na helag und auch von deutschen Intellektuellen in der Beamtenscha ft begriif3t wurde, so wenig konnte die Regierung auf die Mitarbeit gebildeter, franzo sisch sprechender Adeliger selbst in hochsten Amtern verzichten. Damit war schon innerbiirokrati sch eine Politik, welche die Interessen der alten Fiihrungsschicht massiv verletzt hatte, nicht durchzusetzen. Die " Modell staaten " Westfalen und Berg (welches iiberdies das Reformwerk langsamer anging und a m Fehlen einer politi schen Mitsprache seiner Biirger litt) vermochten daher nur langfristig d as Versta ndnis fUr die moderne Staatsidee zu fOrdern, meinte R. WOHLFEIL [285 : Modell staaten]. Mit komparativem Ansatz verfolgte E. FEHRENBACH [258 : Recht] die gleichen Widerspriiche anhand der Auseinandersetzungen urn die Einfiihrung des Code Napoleon in einer Reihe von Rheinbundstaaten . Der K aiser, so argumentierte sie, habe dieses Gesetzeswerk vo rrangig nur als ein - ihm zwar am Herzen liegendes, ab er prinzipiell auswechselbares - Instrument zur Sicherung seiner Herrschaft angesehen : D essen antifeudale Bestimmungen sollten eine den Machtinteressen des Empire besser dienende liberalisierte Eigentiimergesellschaft begriinden. Die M ajo ratspolitik des Kaisers und die in der Rheinbundakte verankerten Garantien fiir die Standesherren hatten diese Intentionen jedoch konterkariert. Das Dilemma: Der Code baute auf einer " burgerlichen Gesellscha ft " auf, die er in Deutschl and erst selbst schaffen muf3te. Diese Situation habe maximal die freilich allein in Baden dauerhafte Losung eines Einbaus der Feudalverfassung in den Code erlaubt. Zukunftwei send seien aber schon d ie kon stitutionellen und z. T. sogar nationalen Elemente der Rezeption sdi skussio n gewesen, auch wenn

Fehrenbach: Trad itionale Gesellschaft und revolutioniires Rechl

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Probleme ein er Rezeption des Code Napoleon

Hofmann: Konflikt zwischen adeliger Herrschaft und souveriinem Staat

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

die Totalrezeption in Westfalen und Berg angesichts der Machtstellung des Adels und des Konservativismus der unteren Beamtenschaft am Fehlen der institutionellen und sozialen Voraussetzungen gescheitert sei und in Bayern eine feudal-aristokratische Opposition selbst einen modifizierten Entwurf zu Fall gebracht habe. Auch W. SCHUBERT, dessen Arbeit parallel zu jener FEHRENBACHS entstand, bestiitigte, daB wiihrend der Rheinbundzeit - anders als danach - die gesellschaftspolitischen lmplikationen das Hauptmotiv fUr eine (unter luristen indes wenig verbreitete) Ablehnung des Code gebildet hatten . Andererseits jedoch arbeitete er als Rechtshistoriker mehr die dogmatischen und praktischen Probleme heraus, die der Ubernahme eines fremden Gesetzbuches - und damit unter Umstanden auch einer anderen Gerichtsverfassung - angesichts andersartiger deutscher Rechtstraditionen entgegenstanden. Letztlich aber gelangte er zu dem SchluB, daB eine Rezeption in modifizierter Form vor all em daran gescheitert sei, "daB die Propagierung dieses Gesetzbuchs mit der Militardiktatur und den imperialistischen und zugleich nationalistischen Zielen Napoleons gekoppelt gewesen" sei [273: Recht, 602]. Man wird wohl alle diese Faktoren sozialgeschichtliche, juristische, nationale und machtpolitische - berucksichtigen mussen und dabei zu bedenken haben, daB fur die UberfUhrung der "Ideen von 1789" in die Realitiit der deutschen Rechts- und Gesellschaftsverhiiltnisse der Code zwar ein in vieler Hinsicht ideales, aber nicht das einzig denkbare Vehikel darstellte [vg\. W. DEMEL, in : 45: H. GLASER, Krone Ill]. Trotzdem war es unvermeidbar, daB " adelige Herrschaft und souveriiner Staat" miteinander in Konflikt gerieten - wenngleich das Bild H. H. HOFMANNS zu holzschnittartig erscheint, wenn er schreibt, 1808 habe in Bayern eine " absolute Burokratie mit monarchischer Spitze" "die seit lahrtausenden [?] staatstragende Klasse, den Adel, .. . formal entmachtet", nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Staatensystems aber habe sich noch einmal ein "erbitterter Klassenkampf' zwischen beiden Parteien entsponnen , welcher in der Verfassung von 1818 zu einem nur vorubergehenden "Remis" gefUhrt habe [264: Herrschaft, 306 f.]. N aturlich wurde der grundbesitzende Adel in manchen Territorien durch verschiedene gesetzgeberische Akte wie etwa die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit od er der Steuerprivilegien schwer getroffen, und teilweise gelang es ihm auch nach 1815 nicht, seine Position mit Hilfe der Bundesakte wieder zu festigen [zu Baden: E. FEHRENBACH, in: 282: E. WEIS, Reformen]. ledoch hatte " die burokratische Integra-

3. Die Deutsche Reforrn zeit

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tion .. . zwar eine starkere Erfassung der Untertanen zur Folge, aber noch keine Vergrol3erung der Vertrauensbasis fUr die staatlichen Institutionen im Volk" [63 : K . Mac KL, Staat, 140]. Die - wie gerade neuere Forschungen zeigen - in allerdings unterschiedlichem Ausmal3 perfektionierte Zensur und der Aufbau einer Geheimpo1izei in verschiedenen Rheinbundstaaten vermochten dementsprechend zwar oppositionelle, insbesondere " partikulare" Regungen wirkungsvoll zu unterdriicken , eine erfolgreiche "Staatsintegration", etwa die Ausbildung eines bayerischen Patriotismus in den neuerworbenen frankischen Gebieten , mul3te jedoch einhergehen mit einer "sozialen Integration" [252: W. BLESSI NG, Staatsintegration]. Schon von daher - und nicht nur von den Bestimmungen der Rheinbundakte her - lag es nahe, die Rechte der alten Fiihrungsschichten so weit zu schonen, wie sie nicht wesentlich dem Prinzip der " Staatssouveranitat" widersprachen. Auch wenn die Betroffenen dies nicht unbedingt so empfanden, versuchte z. B. gerade in Bayern (aber etwa auch in Frankfurt) die Regierung Riicksicht auf bestehende soziale Besitzstande - keineswegs nur des Adels - zu nehmen [Wo DEMEL, in: 74: A. V. REDE N-DoHNA, R . MELVILLE, Adel; 253: DERS., Staatsabsolutismus]. Da nicht zu erwarten stand, dal3 eine Aufhebung der Ziinfte iiberall so "schnell, reibungslos und nahezu unbeachtet" iiber die Biihne gehen wiirde, wie dies offenbar teilweise in Gebieten geschah, die stark von Frankreich kontrolliert wurden [214: M . LAHRKAMP, Miinster, 528], wurde Z. B. in Bayern nicht die allgemeine Gewerbefreiheit, sondern nur ein Gewerbekonzessionssystem mit modifizierter Zunftverfassung eingefUhrt, und auch die Vergabe von Monopolrechten wurde etwa von der badischen Regierung nur schrittweise eingeschrankt [259: W. FISCHER, Staat]. Diese Riicksichtnahme hinderte die Regierungen rechts des Rheins natiirlich auch an einer entschadigungslosen Beseitigung der Feudalrechte, die sich in Handen von "Privatpersonen" befanden. Der einzige Versuch in dieser Richtung, das bergische Septemberdekret, scheiterte, wie E. F EHRENBACH feststellte, an der Vielfalt der Rechtsverhaltnisse und am Widerstand der Grundherren [258 : Recht]. Andererseits bot die traditionelle Agrarverfassung nach W. V. HIPPEL spezie\l im deutschen Siidwesten "relativ wenig AnstoBe zu tiefgreifender Veranderung". Von einem einigermaBen geschlossenen Konzept der Agrarpolitik konne man fUr die Rheinbundzeit nicht sprechen, lediglich davon, daB durch die Abgrenzung von offentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Bereich, wie

Rii cksichtnahm e auf besteh ende 50 ziale Besitzstan d e

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Bayern : fi skali sch e I nleressen bei del' Grundablosung

TI. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

sie bei der sog. Revenuen- und Schuldenausscheidung zwischen den Mediatisierten und den Staaten notwendig wurde, viele Feudalabgaben in ein "juristisches Zwielicht" geraten seien [in : 282 : E. W EIS , Reformen; vgJ. D ERS. , in: 28: H. BERDI NG, H .-P. ULLMANN, Deutschland). Auch C. DIPPER stellte fUr die Zeit urn 1800 "keine grundsiitzliche Kritik am Feudalregime ... , sondern nur an dessen Auswilchsen und Erosionserscheinungen" fest, machte ab er auf die Dynamik des Bevolkerungswachstums und das damit verbundene rapide Ansteigen der Preise aufmerksam [in: ebd. , 291). In seiner zusammenfassenden Analyse der "Bauernbefreiung in Deutschland" sprach er daher folgerichtig von der " Unersetzlichkeit staatlicher Initiative bei den Agrarreformen " [209, 110). Diese war aber eben in der na poleonischen Ara offenbar recht begrenzt. Selbst HessenDarmstadt, das in der vorkonstitutionellen Epoche eine relati v umfassende Reformtiitigkeit im Agrarbereich entfaltete und dessen Adel politisch und zahlenmiil3ig schwach war, griff die grundherrlichen Rechte nicht prinzipiell an [41: P. FLECK, Agra rreformen). Im lahre 1979 kam E. F EHR ENBACH deshalb zu dem Schlul3: " Fur die Bauern hat sich in der Rheinbundzeit nicht viel veriindert. Bestenfalls waren ihre Abgaben und Dienste jetzt fixiert ... und ablosbar gemacht. Im ilbrigen mul3ten sie weiterzahlen , d a die hohen EntschiidigungsgeJder unerschwinglich waren" [in: 28: H. BERDl NG, H.-P. ULLMA NN, Deutschland , 78). Diesen Eindruck vermittelte nicht zuletzt die Untersuchung von F. HAUSMA NN ilber die Agrarpolitik Montgelas' . Ausgehend vom Wachsen der Ausbeutung de r Bauern durch ihre Grundherren nahm sie an, Montgelas' Eingreifen sei fiskalpolitisch und antistiindisch motiviert gewesen. Doch habe die vom Staat geforderte Aufteilung der Allmende an Besitzlose und Kleingiltler ebensowenig die erwa rtete Steigerung der Produktivitiit (und damit der Steuereinnahmen) erbracht wie das Experiment mit einem ablosba ren Bodenzins auf siikuJarisierten Gutern . Schliel3lich habe sich die Regierung deshalb bereits 1808 " in einer radikaJen Kehrtwendung zu einer neuen Begunstigung de r grol3en Grundbesitzer" entschlossen und " eher den Weg der Restauration aJs der Reform " eingeschIagen [261: Agrarpolitik, 273 ff.). Dieser Schlul3folgerung widersprach schon P. FRI ED, der in Jangfristiger Perspektive die bayerischen Agrarreformen als ein im Ganzen gelungenes Werk der bayerischen Burokra tie bezeichnete [in : 282: E. WEIS, Reformen). Aber auch die kurzfristigen Erfolge waren, W. DEMEL zufolge, regional z. B. bei der AbJosung der Fronverpflichtungen grol3er als von F. HA USMA NN

3. Die Deutsche Reforrnzeit

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vermutet, wenngleich - auch aus der Sicht der Reformer - letzten Endes doch unbefriedigend. Den Hauptgrund dafiir sah er aber nicht im zweifellos massiven Widerstand einer " feudalherrlichen Partei" in dem 1808 errichteten Geheimen Rat, sondern in der Tatsache, daB der Staat selbst der mit weitem Abstand grbBte Feudalherr im Lande war. Den Bauern hatten Kriegslasten und wachsende Steuern gedriickt, den Fiskus ab er die gewaltigen Ausgaben fUr die KriegsfUhrung, die bis 1806 iibernommenen Verpflichtungen im Zivilbereich (Pensionen etc.) sowie schlief31ich auch fUr die Kosten des Reformwerks. Nahe am Bankrott konnte sich die Regierung nicht dazu durchringen, durch ein fUr die Bauern giinstiges Ablbsungsangebot das rentierliche Staatsvermogen zu verringern: " Die wachsende Armut der Landbevolkerung einerseits und die immer kritischer werdende Finanzsituation des Staates andererseits machten finanzielle Opfer beiden Seiten in zunehmendem MaBe unmoglich der einen , urn »freies Eigentum« zu erlangen , der anderen , urn solches herzustellen und dann auf dem Umweg iiber eine verbesserte Landeskultur auch hbhere Steuereinnahmen zu erzielen" [253 : Staatsabsolutismus, 553). DaB die Entwicklung der Staatsfinanzen ebenso Antriebsmoment wie Hemmschuh fUr Reformen sein konnte, daB das Ziel , den Staatsbankrott zu vermeiden , aber auch zu ebenso grundlegenden Reformen wie zu kurzatmigen Manipulationen in den Bereichen Steuer- und Staatsschuldenwesen fiihrte, beweist auch eine Reihe von anderen Arbeiten. Die vielschichtigen Alternativen und Probleme einer Reform der Realbesteuerung (also der Grund- und Dominikalsteuern) in den siiddeutschen Staaten, insbesondere die Fragen der Steuergerechtigkeit, der Abgrenzung von Feudal- und Staatsabgaben sowie der N otwendigkeit einer Flexibilitat des Steuersystems bei einer (kiinftigen) Ablosung der Feudallasten , hat in ihrer ganzen verwirrenden Vielfalt W. STEITZ dargestellt [274: Feudalwesen; 275: DERS., Realbesteuerung). Neben dem Steuersystem bildete das Staatsschuldenwesen die zunehmend wichtiger werdende zweite Stiitze der Offentlichen Finanzwirtschaft, wie H.-P. ULLMANN vornehmlich anhand des badischen und bayerischen Beispiels hervorhob [278: Staatsschulden ; D ERS ., in: 28 : H. BERDING, H.-P. ULLMAN N, Deutschland, und in: 282: E. WEIS , Reformen). Am Anfang stand die sich seit dem Ausbruch der Revolutionskriege bis zum Ende des A1ten Reichs ausdehnende "Schuldenexplosion". Im Vollbesitz der Souveranitat hatten die beiden Staaten 1806 / 08 ihre Finanzwirtschaft modernisiert und

Zwischen Staatsba nkrott und Mod ernisierung

Ullmann: Neuo rgani sati o n d es St aatsschuld enwese ns

112

11. Grundprobleme und Tenden zen der Forschung

tatsachlich eine gewisse Konsolidierung ihrer Haushalte erreicht. Vor allem die Fortsetzung des Krieges, aber auch konjunkturelle Faktoren hatten dann zu einer iiber das Jahr 1815 hinausreichenden bedrohlichen Krise der Staatsfinanzen gefUhrt, die erst mit der EinfUhrung einer konstitutionellen Finanzwirtschaft langsam habe iiberwunden werden k6nnen_ ULLMA NN schilderte fUr die Rheinbundzeit die Vereinheitlichung und Verstaatlichung des Steuerwesens, die drastische Erh6hung besonders der indirekten Steuern, vor allem aber die Entstehung eines modernen Offentlichen Schuldenrechts, die Tendenz zur Schaffung einer einheitlichen Schuldenverwaltung, die Zusammenziehung samtlicher Schulden zu einer einheitlichen Staatsschuldenmasse, die (in Baden eh er als in Bayern ausreichende) Heranziehung bestimmter Staatseinnahmen zur Verzinsung und Tilgung langfristiger Verbindlichkeiten sowie die (in Bayern besonders kon sequent vorangetriebene) Umgestaltung des Schuldenwesens nach marktwirtschaftlichen Grundsatzen _ Demgegeniiber "finanzierte Wiirttemberg seine wachsenden Ausgaben fast ausschlieBlich iiber h6here Steuern" und sei daher bis weit ins 19. Jahrhundert hinein traditionelien - und wenig ergiebigen - Formen der Kreditfinanzierung verhaftet geblieben [277 : D ERS. , Staatskredit, 334). ULLMANNS Hinweis, daB dies in den Verfassungskampfen den politischen Spielraum der wiirttembergischen Regierung begrenzte, zeigt ebenso wie B. WUNDERS Urteil, daB die Verwaltungsreformen " im Kern Finanzreformen" gewesen seien [in: 228: Zeitalter, 106), daB heute Fragen der Reformpolitik - auch in den Bereichen Verfassung und Verwaltung - zunehmend von der sozial- und finanzhistorischen Seite her beleuchtet werden. Das gilt in gieicher Weise fUr die Reformen in PreuBen.

3.3 Die Stein-Hardenbergschen Reformen

Reform in Preul3en al s origin a rer Beitrag zur " Weltgeschichte" ?

Lange Zeit bildete die Erforschung der sog. Stein-Hardenbergschen Reformen einen Schwerpunkt der stark personalistisch und machtbzw. geistesgeschichtlich orientierten traditionellen deutschen Geschichtsschreibung. Denn nicht nur gait die intensiv untersuchte Verwaltungsreform als grundlegend fiir das vorbildliche Funktionieren der preuBischen Biirokratie im 19. Jahrhundert, sondern dariiber hinaus das Gesamtwerk als paradigmatisch fUr jeden (nationalen) Aufstieg " aus tiefer Erniedrigung". Schlief31ich erschienen vor allem die Stadteordnung und die Einfiihrung der allgemeinen Wehrpflicht als originare deutsche Beitrage zur " Weltgeschichte"

3. Die Deutsche Reformzeit

113

und als eine unblutige Alternative zur Franzosischen Revolution auf dem Weg in die Moderne. Wurde bei Steins Versuch, Stiindevertreter in die Behordenarbeit einzubeziehen, zwar gerne das antibiirokratische Motiv gelobt, die Umsetzung ab er angesichts seines offenkundigen Scheiterns fiir unpraktisch angesehen, so galten und gel ten Steins Selbstverwaltungsideen als ein zukunftsweisendes Konzept und die Stiidteordnung als ein Erfolg - gerade weil sie sich darauf beschriinkte, Standesreform zu sein, wie R. KOSELLECK erliiuterte [60: Preul3en, 147). Demgemiif3 wird man allerdings kaum mehr, wie gelegentlich geschehen, davon sprechen konnen, Stein habe von unten nach ob en demokratische Zustiinde schaffen wollen, sondern aus der Retrospektive einschriinkend hochstens formulieren diirfen, sie habe "alles in allem ... ein so hohes Maf3 von liberal er, ja demokratischer Neugestaltung, wie es von Hause aus gewil3 nicht in Steins Reformtendenz lag", gebracht [49: H. HEFFTER, Selbstverwaltung, 95). Im iibrigen ist bei Einzeluntersuchungen deutlich geworden, wie langsam der Prozef3 eigenstiindiger Willensbildung in den ostelbischen Stiidten voranschritt und wie schnell neue Abhiingigkeiten von der staatlichen Biirokratie erwuchsen. Deren Rolle ist jedoch besonders seit ca. 1970 stark umstritten. Traditionell attestierte man der preuf3ischen Biirokratie des begin· nenden 19.1ahrhunderts wie ihrer Vorgiingerin in friderizianischer Zeit Uneigenniitzigkeit. Unberiicksichtigt blieben lange Zeit die Einwiinde von E. KEHR, der auf die Eigeninteressen der Beamtenschaft verwies und von einer seit den 1790er lahren schrittweise durchgesetzten, bereits 1807 auf der Basis der Kooptation funktionierenden "Diktatur der Biirokratie" - bzw. einer biirokratischen "Clique" - sprach, deren Kampf mit dem Ade1 immer von Konzessionen begleitet gewesen sei [59: Primat). Erst die etwas ausfiihrlicheren Darlegungen von H. ROSENBERG zum "biirokratischen Absolutismus" setzten KEHRS Gedankengang fort und charakterisierten die Reformzeit und ihr Ergebnis wie folgt: " ... the ,revolution from within' was, in substance, a factional struggle within the governing class" ... "Bureaucratic absolutism ... came to rest on a working alliance with the large landowners. The purpose of this alliance was the perpetuation of rulership by aristocratic elites. Its primary political function was to hold down and to divert liberal and democratic movements" [78: Bureaucracy, 204, 227). Dagegen zeichnete R. KOSELLECKS grof3es Preul3enbuch das Bild einer Biirokratie, die in enger Verbindung mit dem Bildungs-

Die Stadteordnung - Aufbau einer Demokratie von unten ?

Kehr / Rose nb erg: Herrschaftsi nteres· se ll der Biirokratie

114 Kose ll eck: Blirokratie zwisch en sozia ler Bewegun g und g rofjagra rischen I nteressen

" Inn erad mini strati ve Konstitutionali sierun g"

Veranderungen bzw. Konnikte in nel'h a lb del' Beamtenschaft

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

burgertum bis ca. 1820 durch ihr Reformwerk das " AlIgemeininteresse" glaubhaft vertreten konnte. Doch sah er sie dabei in einem doppelten Zwiespalt : dem Wunsch , eine rechtlich egalitiire Gesellschaft auf legalem Wege - d . h. unter Entschiidigung fUr verlorengegangene "wohlerworbene Rechte" - zu konstituieren und zugleich Personen ein gewisses Mal3 an Freiheit einzuriiumen , die man erst zur Freiheit erziehen wo lite. lnfolge der stiindischen Opposition seien die Reformer zu weitreichenden Konzessionen an die Rittergutsbesitzer gezwungen gewesen, welche daraufhin ihre materielle und politische Position hiitten konsolidieren konnen , sie hiitten aber andererseits durch ihre Reformgesetze eine soziale Bewegung entfesselt, die sich zunehmend der burokratischen Kontrolle entzogen habe. Da die Selbsterneuerung der Verwaltung als Grundlage weiterer Reformen gegolten ha be, infolge der Kriegskosten dann auch die Finanz- und Wirtschaftsreform in den Vordergrund geruckt sei, habe man der Verfassungsstiftung von Anfang an keine Prioritiit einriiumen konnen. Schliel3lich sei die Burokratie angesichts der divergierenden gesell schaftlichen Kriifte urn den Erhalt des eigenen Reformwerks will en auf den Ausweg verfallen, den Behordenausba u mit einem Staatsrat als " Beamtenparlament" an der Spitze im Sinne einer "verfassungspolitischen Vorleistung" vo ranzutreiben [60 : Preul3en). Der Widerspruch gegen KOSELLECKS Deutung bediente sich I. der KEHR-RoSENBERGSCHEN Argumente [so J. KOCKA, in: VSWG 57, 1970 : das Eigeninteresse der Burokratie, schon seit 1807 zur partiel[en Zusammenarbeit mit dem stiindischen Adel bereit, erkliire deren sonst iiberraschende " Wende" ), die durch weitere U ntersuchungen untermauert wurden [z. B. 291: M. W. GRAY, Landtag), 2. der Kritik an dessen Prioritiitenschema [H . OBENAUS, in : Gottingische Gelehrte Anzeigen 222, 1970), 3. der These, dal3 die angeblich homogene, zuniichst reformerische, d anach restaurative Beamten schaft einen personellen Wandel durchgemacht habe bzw. bereits vor 1820 in sich gespalten gewesen sei. Nun wird man die " bedingte Verselbstiindigung des Staatsapparates gegenuber den herrschenden gesellschaftlichen Kriiften " [287 : B. WU NDER, Entstehung, 461) auch fur Preul3en nicht in Abrede stellen konnen . W. BLEEK hat gezeigt, wie gerade die preul3ischen Reformen , obwohl sie "in einem .. . innerburokratischen Machtkampf von Verwaltungsbeamten gegen Justizjuristen durchgesetzt worden" waren, durch die Vereinheitlichung der Rekrutierungsprinzipien zur inneren Konsolidierung der gesa mten Beamten-

3. Die Deutsche Reformzeit

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schaft beigetragen haben [289: Reform, 181]. Freilich ging es in diesem Kampf auch urn die lange nicht konsequent rechtsstaatlich geregelte Frage der Unabhiingigkeit der Justiz und der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns [H. SCHR!MPF, in: 322: B. VoGEL, Reformen]. AuBerdem blieb die hohe Biirokratie immer ein Teil der adelig-biirgerlichen "gebildeten Stiinde", aber innerhalb dieser Schicht konnte es eben zu Verschiebungen kommen. So beobachtete J. R. G!LLIS als Folge der gleichzeitigen personellen Desintegration der adeligen Grundbesitzerschicht ein verstiirktes Einstromen von Adeligen in die Beamtenschaft spiitestens seit den 1820er lahren [in: ebd.]. Dagegen betrachtete die DDR-Literatur schon den preul3ischen Reformstaat immer als ein Herrschaftsinstrument des Feudaladels, freilich eher seines "anpassungsbereiten Teils", wie H. BLEIBER in Auseinandersetzung mit J. KOCKA hervorhob [in: ebd.]. Doch die 1981 gefiihrte Debatte iiber die unterschiedliche Fortschrittlichkeit Steins und Hardenbergs - " feudaler Humanismus" versus "Kapitalismus"? - beweist, dal3 auch hier die innerbiirokratischen Friktionen wahrgenommen wurden [310: Reformen]. Schliel3lich vermochte H. OBENAUS eine Gruppe innerhalb der Konservati ve Beamtenschaft zu identifizieren, die gemeinsam mit konservativen T endenzen in Blirokratie Kriiften am Hof und im Grol3grundbesitz Opposition gegen Hardenbergs Verfassungspliine betrieb [67 : Anfiinge]. Komplementiir dazu arbeitete B. VOGEL heraus, daB nur das von jiingeren Aufsteigern gepriigte Staatskanzleramt als "Reformbehorde" schlechthin gel ten konne [321: Gewerbefreiheit]. Dagegen habe gerade def Machtzuwachs der Biirokratie - zumal angesichts ihrer Kollegialverfassung bzw. (nach 1810) der verbreiteten Abneigung gegen die "Kanzlerdiktatur" - einer verdeckten innerbiirokratischen Fraktionsbildung Vorschub geleistet. Die "konservative" Fraktion innerhalb der sog. Reformpartei habe sich etwa in den Fragen der personlichen Freiheit der Bauern, der landstiindischen Verfassung oder der Notwendigkeit staatlicher Reorganisation und Integration deutIich von der altstiindischen Opposition unterschieden, sei jedoch mit dieser in ihrer Gegnerschaft zu einer Repriisentativverfassung und zur Mobilisierung der unteren Schichten konform gegangen. Begiinstigt durch die innenpolitisch anti-reformerische Wirkung der Befreiungskriege habe sie sich schliel31ich durchgesetzt [320: Beamtenkonservativismus]. In die gleiche Richtung zielte M. W. GRAY , die die preul3ischen Reformen als eine dynamische Interaktion zwischen Aufkliirungsideen und Kriiften sozialer Beharrung in einem europaweiten Kontext interpretierte, wenn sie zu zeigen versuchte,

der

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Die Diskussion urn die " Vorreforrnen "

Knapp: " Ba uern befreiung" al s Ursache der Entstehung der Landarbeiterschaft

H. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

daf3 schon unter Stein ein Gegensatz zwischen "aristokratischem" und "mittelstandischem Liberalismus" bestanden habe. Wie sich die Argumente hi er uberschnitten und die Reformarbeit - z. B. die geplante Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit - blockieren konnten, erlauterte sie an dem Beispiel, daf3 L. v. Schroetter im Gegensatz zu (dem freilich ebenfalls adeligen) Th. v. Schon bei den Adelsbauern den Bauernschutz moglichst schnell aufheben, dafiir aber andererseits bei den Domiinenbauern die Eigentumsverleihung mit dem Wegfall der staatlichen Hilfsverpflichtungen abgegolten wissen wollte [292: Prussia; 293: Schroetter]. Die Veranderung des Rechtsstatus der Domanenbauern war jedoch bekanntlich schon lahre vor dem militarischen Zusammenbruch von 1806 eingeleitet worden . Diese Tatsache bildete das Hauptargument fur die These von O. HINTZE, die Gesetzgebung von 1807 sei "im Grunde nur der Abschlu/3 einer langen, vorangegangenen Entwicklung". Freilich habe erst die Katastrophe den alteren Reformbestrebungen zum Durchbruch verholfen, aber auch danach seien die Grundzuge des altpreuf3ischen Militiir- und Beamtenstaates erhalten geblieben [51 : Regierung, zit. 508]. Diese Kontinuitiitsthese wurde gelegentlich weiter diskutiert, ab er nie zum Gegenstand einer umfassenden Untersuchung gemacht. Offenbar verdichtete sich der Eindruck, das lahr 1806 markiere im Regelfall die Grenze zwischen der Diskussion bzw. ersten Planung und der Ausfiihrung der Reformen. Immerhin hat neuerdings H. HARNISCH die spater Ofters wiederholten Darlegungen von G. F. KNAPP, auf die sich auch HINTZE bezogen hatte - wonach namlich die Befreiung der Domanenbauern als eine " geriiuschlose, tiefgreifende Reform" mehr Bauern zugute gekommen sei als die spatere Regulierungsgesetzgebung [304: Bauern=Befreiung I, 96 ff.] - angegriffen und aufgrund neuer Quellen die Bedeutung der betreffenden Reformmaf3nahmen sowohl quantitativ als auch qualitativ erheblich geringer bewertet [295: Reformmaf3nahmen]. Das zeigt, wie sehr KNAPPS umfangreiches Werk aus dem lahre 1887 schon wegen seiner Erhellung zahlreicher rechtlicher und legislativer Zusammenhange jahrzehntelang als maf3gebend gait. KNAPP war es auch, der den seit langem als unzulanglich erachteten Begriff "Bauernbefreiung" in die wissenschaftliche Diskussion einfiihrte ohne ihn allerdings mit einem liberalen Freiheitspathos verbinden zu wollen . Denn seine Darlegungen liefen darauf hinaus, da/3 die Agrargesetzgebung zwar in die Herrschaft der Gutsherren eingegriffen, deren Vermogen aber bewahrt habe. Statt dessen habe man in-

3. Die Deutsche Reformzeit

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folge von Leichtfertigkeit bzw. Nachgiebigkeit gegeniiber dem Adel den Bauernschutz geopfert, damit weite Flachen des Bauernlandes dem Gutsbesitz in die Hande gespielt und zugleich zahlreiche Kleinstellenbesitzer einem ruinosen Wettbewerb ausgesetzt, der nur dazu fiihren konnte, daB aus ihnen eine neue Klasse weitgehend besitzloser Landarbeiter hervorging [304: Bauern=Befreiung]. Diese Hauptthese KNAPPS, bei der Stein als " bauernfreundlich " erschien und der Schuldvorwurf auf seine~ angeblich doktrinar-liberalen Mitarbeiter Schon bzw. spater mehr auf Hardenberg zugespitzt wurde, blieb indessen nicht unumstritten. Eine minutiose Analyse der Redaktionsgeschichte des Oktoberedikts lief3 erkennen , daB die Beteiligten differenziertere, ab er allesamt doch tendenziell wirtschaftsliberale Positionen vertraten und unter dem Eindruck der in weiten Teilen ruinierten bauerlichen Landwirtschaft Ost- und WestpreuBens standen (323: G. WINTER: Oktoberedikt). 1st, so hat E. FEHRENBACH gefragt, " der Bauernschutz als Priif- und Maf3stab iiberhaupt geeignet ... , den Wert der Gesetzgebung historisch zu beurteilen" [40: Regime, 199] ? Auf die viel diskutierte Frage des Landverlusts der Bauern ein wirtschaftliches und soziales Problem der Zeit nach 1816 - kann hier nicht naher eingegangen werden . Doch hat die neuere Forschung gezeigt, daB von einer gelegentlich vermuteten " Befreiung der Gutsbesitzer" schwerlich die Rede sein kann, wenngleich diese Schicht langfristig einen deutlichen okonomischen Aufschwung nahm . Oberhaupt haben si ch nach den Feststellungen von D. SAALFELD infolge der Agrarreformen "keine umwalzenden Besitzumschichtungen" ergeben , insofern namlich , als die bauerliche Nutzflache relativ konstant blieb. Allerdings war dies nur deshalb der Fall, weil ein kleiner Teil der ausgedehnten Allmende den nunmehrigen bauerlichen Eigentiimern zugesprochen wurde, die Masse indes den Gutsherren [312: Frage, 170]. Dies zwang dazu , neues Land unter den Pflug zu nehmen , weshalb fiir G. IpSEN die Bauernbefreiung " im wesentlichen ein staatlich bewirkter Landesausbau" war, zum erheblichen Nutzen der Produktion und des Staates [in: 32: E. W. BOCKE NFORDE, Verfassungsgeschichte, 362]. Dies lag natiirlich ganz im Sinne der Reformer, die sich F. LUTGE zufolge als treibende Kraft des ganzen Prozesses iiber die Frage eines kiinftigen Landverlustes der Bauern wenig Gedanken machten, weil sie, von liberalen Ideen erfi.illt, der neuen Freiheit aller Wirtschaftssubjekte eine in jedem Fall segensreiche Wirkung zuschrieben [in: 62 : DERs., Studien]. DaB die schlieBlich eingetretene Konsolidierung des Bauernstandes

Debatte urn den La ndve rlust d er Bauern

liS

Neu ere wcstd eutsche Hi storiogra: phie: Betonung der "soziaien Kosten"

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

- ebenso wie die Starkung des Grol3grundbesitzes - keineswegs identisch war mit einer sozialen Absicherung einzelner Familien , wird man auch heute nicht aul3er acht lassen diirfen, wo man weil3, dal3 ein Landarbeiterproletariat im Gefolge der Agrarreformen nicht erst entstand , sondern sich nur erheblich vermehrte. Diese (im weitesten Sinne) "sozialen Kosten" der Reform und die Verfestigung als undemokratisch angesehener Machtstrukturen pragten stark das Bild der neueren westdeutschen Historiographie. So schrieb H . BOHM E 19SI , es sei darum gegangen , die "Kreditlosigkeit des Staates . .. mit der Kreditfahigkeit seiner Grundbesitzer politisch zu vermahlen" und die Macht der alten Elite in neuen Besitzverhaltnissen abzusichern: "Der neue Grol3grundbesitzer konnte sich entlastet von seinen sozialen Pflichten als Machttrager in der und mit Hilfe der leitenden Staatsbiirokratie erhalten und kraftigen - allerdings nicht in der Kontinuitat der Familien. Der freigesetzte Bauer zahlte . .. die Kosten fiir die Innovationsfahigkeit der Landwirtsch a ft und unterzeichnete damit zugleich seine eigene politische Entmiindigung" [in : 35: O. BUSCH, Preul3enbild, 14S f.] . Nach H . SCHISSLER war es die starke Kommerzialisierung der ostelbischen Landwirtschaft vor IS07 , die den " Schleier des Patriarchalismus" zerril3, die Ausbeutungspraktiken der zwar teilweise verschuldeten, aber weiterhin machtigen adeligen Gutsbesitzer - wie auch des koniglichen Domanenherrn - immer unverhiillter hervortreten liel3 und Reformen hinsichtlich der legislativen Rahmenbedingungen im Sin ne einer "Systemerhaltung durch gesteuerten Wandel" spatestens im Augenblick der Krise notwendig machte. Entgegen ihrer Selbsteinschatzung als kompetente Lenkerin sozialer und okonomischer Wandlungsprozesse habe die in sich uneinige Biirokratie die Veranderungen jedoch weitgehend planlos, zogerlich und inkonsequent vorangetrieben. Zudem sei ihr Handlungsspielraum von vornherein durch ihr anti-revolutionares Legalitiitsprinzip beschriinkt geblieben. Nicht zuletzt aber habe sie in der entstehenden Kl asse kapitalistischer Gutsbesitzer keineswegs den Motor landwirtschaftlichen Fortschritts gesucht - den diese gar nicht gebildet hatte -, sondern den Partner fUr einen neuen Herrschaftskompromil3 zur Absicherung ihrer eigenen Stellung. Fiir die Bauern sei auf diese Weise nur eine teilweise hoffnungslose Lage angesichts des Zusammenwirkens von feudaler und kapitalistischer Ausbeutung entstanden [S4: Agrargesellschaft, zit. 70, 116]. Gerade diese Kombination charakterisi erte nach Ansicht der marxisti sch-Ieninistischen Geschichtsschreibung den "preul3ischen

3. Die Deutsche Reforrnzeit

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Weg" der Agrarreform, der, ankniipfend an Lenin, als ein nichtrevolutionarer, gerade daher aber besonders langwieriger und fUr die Bauern qualvoller Weg von der feudalen zur kapitalistischen Ordnung beschrieben wurde, wobei man, ausgehend von einem Engels-Zitat, das Jahr 1807 als den " Beginn der biirgerlichen Revolution in Deutschland" kennzeichnete. Die in der DDR intensivierte Quellenforschung hat in den letzten Jahren die alteren Vorstellungen jedoch so stark differenziert, da/3 von einem neuen Bild der Agrarreformen gesprochen werden mu/3. Zunachst konstatierte H.-H. MULLER schon fur das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts einen rapiden Aufschwung der agrarischen Produktivkrafte in den Marken [158: Landwirtschaft]. Doch trotz des "Drucks von unten" habe diese Entwicklung den legislativen Rahmen nicht sprengen miissen, betonte demgegenuber H. HARNISCH. Erst die Folgen des Krieges und die Gesetzgebung in Westfalen und Warschau hatten ein Eingreifen der Politiker bewirkt. In der juristisch heiklen Eigentumsfrage habe man dann unter Stein nach einem Kompromi/3 gesucht und dabei durch die Verordnung vom 14.2. 1808 der gro/3en Gruppe der Zeitpachtbauern jegliches Eigentum an dem von ihnen bewirtschafteten Boden abgesprochen . Daher, und nicht wegen der sonst gelegentlich ins Feld gefiihrten "Lahmung" der Gutsbesitzer angesichts der Katastrophe von 18061 07, hatten diese gegen das Oktoberedikt weit weniger opponiert als gegen das Regulierungsedikt Hardenbergs. Durch dieses - und selbst durch die Deklaration von 1816 - sei ihnen namlich fUr die Regulierung im Falle des schlechtesten Besitzrechts keine volle Entschadigung mehr zugesprochen worden [294: Agrarreform; DERS. , in: 89: Studien]. Dazu pa/3t die Beobachtung K. VETTERS , da/3 der markische Adel - entgegen traditionellen Vorstellungen in seiner iiberwiegenden Mehrheit weit davon entfernt, grundsatzlich neuerungsfeindlich zu sein - die Vorteile des Oktoberedikts bald erkannte und beim Fortgang der Gesetzgebung als gewisserma/3en "konstruktive" Opposition nur seinen Arbeitskraftebedarf zu sichern, mi::iglichst giinstige Regulierungsbedingungen zu erzielen sowie den von Hardenbergs Mitarbeitern intendierten weitergehenden Privilegienabbau zu verhindern suchte [319: Adel]. Nach HARNISCH begann die "kapitalistische" Bauernbefreiung im Grunde erst 1811. Keineswegs primar durch kurzfristige fiskalpolitische Uberlegungen motiviert, habe die Regulierung gegen Landabtretung - mehr von den Bauern als von dem oft eh er an einer Geldentschadigung interessierten Adel vorangetrieben - dann

Der marxi sti schleninisti sche Ansatz: der "p reuBische Weg"

Jiingere DDR-Forschung : neues Bild d er Agrarreformen

Harni sch: erfolgreiche kapitali stische Bauernbefreiung nach 18 1 I

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Vogel: Gewerbefreiheit als umfassend e Modernisierungsstralegi e

It Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

teilweise sogar schon vor 1816 einen schnellen Aufschwung genommen_ Zusammen mit einer klugen Landeskulturgesetzgebung und der in ihrer Bedeutung meist striiflich unterschiitzten Abl6sungsordnung von 1821 habe sie eine starke einkommensmiiBige und soziale Differenzierung der Landbev61kerung bewirkt, dabei aber anfiinglich auch den Landarmen Chancen erOffnet Von der enormen Steigerung der Agrarproduktion hiitten jedenfalls nicht nur die GroBgrundbesitzer profitiert, sondern auch, wenngleich in bescheidenerem Umfang, viele Bauern, nicht indessen die Tagl6hner [294: Agrarreform 1Damit sollte bewiesen werden, daB die Agrarreformen durch die Erh6hung der Nachfrage eine entscheidende Voraussetzung ftir die Industrialisierung bildeten_ In diesem Sinne interpretierte B_ VoGEL auch die Verktindung der " Gewerbefreiheit" durch Hardenberg_ Bislang hatte man diese fast ausschliel3lich als eine Mal3nahme ins Auge gefal3t, die sich ganz tiberwiegend gegen die "MiBbriiuche", ja generell die "Erstarrung" des stiidtischen Zunfthandwerks gerichtet habe_ Selbst in der Hauptstadt Berlin iinderten sich aber, wie man feststellen konnte, die gewerblichen Verhiiltnisse - wenngleich von Handwerk zu Handwerk verschieden - teilweise erst im Laufe einer ganzen Reihe von lahren [I. MIECK, in: 36: 0 _ BUSCH, W_ N EUGEBAUER, Geschichte; 1_ BERGMANN, in: 322 : B_ VOGEL, Reformenl_ Dies sttitzt die schon mehrfach geiiuBerte generelle Theorie, daB man der Gewerbefreiheit unter den zahlreichen Faktoren, die auf das Handwerk einwirkten, nur eine sekundiire Bedeutung zuschreiben dtirfe, dies schien ab er auch die These E_ KLEI NS zu bestiitigen, daB es sich hierbei urn eine rein fiskalpolitisch motivierte MaBnahme angesichts schlimmer staatlicher Finanzn6te handelte [303: Reforml_ B. VOGEL hingegen sah in der Wirtschaftspolitik der Reformzeit immer eine " Mischung von programmatischer Zielverfolgung und Krisenmanagement" und speziell in der Gewerbefreiheit vorrangig ein Mittel, urn die Arbeitsmarktprobleme auf dem Lande zu 16sen_ Das Zie1 sei nicht zuletzt gewesen, den von der Regulierung nicht erfaBten untersten liindlichen Schichten neue Existenzmoglichkeiten zu er6ffnen, damit gleichzeitig auch das vorhandene Arbeitskriiftepotential zugunsten von Staat und Volkswirtschaft besser zu nutzen und den Riickstand hinsichtlich der Dichte des Landgewerbes gegentiber dem westlichen Ausland zu verringern_ Teilweise sei diese umfassende, nicht mit einer einfachen laissez-faire-Politik zu verwechselnde Modernisierungsstrategie tatsiichlich erfolgreich gewesen, auch wenn etwa staatliche Initiativen zur

3. Die Deutsche Reformzeit

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Mechanisierung des Textilgewerbes am innerbiirokratischen Widerstand gescheitert seien [321: Gewerbefreiheit, zit. 139]. Die Auswirkungen der preuBischen Agrar- und Gewerbepolitik der Reformzeit auf die spiitere Industrialisierung diirften sich somit doch auf die Schaffung notwendiger, aber eben nicht hinreichender Rahmenbedingungen beschranken. Als Ergebnis der Diskussionen wird man auBerdem festhalten k6nnen, daB die dabei oftmals konstatierten Unterschiede selbst zwischen den ostelbischen Provinzen schon hinsichtlich der Ausgangslage so gewaltig waren [vg!. z. B. R. BERTHOLD, in: 89: Studien], daB die Antwort auf die Frage nach "der" Wirkung der Reformen in jedem Fall sehr differenziert ausfallen muB und weniger denn je die fUr Ostelbien getroffenen Feststellungen unbesehen auf das iibrige Deutschland iibertragen werden diirfen. Die - freilich nie exakt meBbaren - sozialen Kosten waren zweifellos hoch. ledoch fragt sich, "wer eine noch radikalere Reformpolitik auBerhalb der schmalen Spitze der Biirokratie hatte unterstiitzen soli en" [209: C. DIPPER, Bauernbefreiung, 17]- und ob eine solche Politik dann tatsachlich humanere Folgen gehabt hatte. Im Hinblick auf die gesamtstaatliche Produktivitat waren die eingeleiteten MaBnahmen auf langere Sicht jedenfalls erfolgreich. Davon profitierte, wie die neuere Forschung zeigte, auch die Staatskasse, nachdem schon die beiden Steuerreformen von 1810/11 und 1817120 ebenso wie das Zollgesetz von 1818 auf eine Erh6hung der Staatseinnahmen abzielten. Denn 1807 war das alte staatliche Finanzsystem kollabiert - ein Ausdruck struktureller Schwachen, die im Augenblick des militarischen Zusammenbruchs virulent wurden. Die Antwort der Verwaltung war, wie eine neue Quellenedition belegt, vielfaltig und zunachst unsystematisch [313: H. SCHISSLER, Finanzpolitik; DIES., in: 16: DIEs., H.-U. WEHLER, Finanzpolitik]: Man steigerte mittels Erpressung der (meist dann doch profitierenden) Privatbankiers die Staatsverschuldung, betrieb eine Inflationspolitik, erh6hte in groBem Umfang - unter Abbau einiger Steuerprivilegien, aber doch in sozial und von Provinz zu Provinz sehr unausgewogener Weise - die Steuerbelastung und versuchte, zunachst wenig erfolgreich, Domanen zu verkaufen. Von der Finanzmisere ging ein wenigstens partieIler Modernisierungsdruck aus, bemiihte man sich doch erstmals, eine regelmal3ige, allgemeine Steuerpflicht einzufUhren. Vor allem aber wurde der Gesamtetat grundlegend umstrukturiert: Der Anteil der Militarausgaben hieltalien Kriegen zum Trotz - mit dem Anstieg der Zivilausgaben nicht Schritt, die Domaneneinnahmen verloren, relativ gesehen, drastisch

Neueste Diskussion iiber die preuBische Finanzpolitik

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Die Stellung der Militarreform im Reformwerk

IT. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

an Bedeutung, ebenso die direkten gegeniiber den indirekten Steuern. lm Unterschied zu H. SCHISSLER betonte B. VOGEL aber, daB die steuerliche Gesamtbelastung immer noch durchaus miiBig gewesen sei - die Kapazitiiten der Bevolkerung ja auch offensichtlich ausreichten, urn den Staat relativ schnell zu sanieren und den Wirtschaftsaufschwung einzuleiten. AuBerdem sei der Verzicht auf eine Grundsteuerreform nicht in erster Linie durch die Riicksicht auf den Widerstand der Gutsbesitzer bedingt gewesen, sondern durch finanztechnische Probleme [in: 207: H. BERDlNG, Privatkapital]. In iihnlicher Weise schrieb A. v. WITZLEBEN entgegen dem lange vorherrschenden Urteil der Hardenbergschen Finanzpolitik eine in gewisser Weise durchaus konstruktive Rolle zu und wies darauf hin, daB diese ein leistungsfiihiges Finanzierungssystem geschaffen und bei der Finanzierung der Kriegs- und Kriegsfolgekosten erhebliche Mittel bereitgestellt habe [324: Staatsfinanznot]. Diese Zusammenhiinge sind noch ungeniigend erforscht, zumal auch die Militargeschichtsforschung ihren Schwerpunkt nicht hierher, sondern traditionell auf die biographische Erfassung des Wirkens der groBen Militarreformer und deren personliche Zusammenarbeit mit den Zivilpolitikern sowie auf rein innermilitiirische Fragestellungen gelegt hat. Dabei hat sich indes z. B. ergeben, daB das einst vielgeriihmte Kriimpersystem "weit weniger wirkungsvoll [war], als man sich vorgestellt hatte" [G. A. CRAIG, in: 36: O. BUSCH, W. NEUGEBAUER, Geschichte, 823], wiewohl R G. NITSCHKE ihm weiterhin eine erhebliche Bedeutung fUr die spatere schnelle Aufstockung der Armee zuschrieb [307: Militiirreformen, 112]. Zum Thema "Reform und Befreiungskriege" steuerte R. IBBEKEN die Erkenntnis bei, daB die Kriegsfreiwilligen von 1813 eher markische Handwerker als akademisch gebildete Biirgersohne waren , was er mit der Gewerbereform in Verbindung brachte [302: PreuBen]. Dem widersprach B. v. MUNCHOW-POHL, fUr den der Ausbruch patriotischer Begeisterung das durch den Frontwechsel des Konigs bewirkte Ende einer Autoritats- und Identitatskrise darstellte, kaum dagegen ein Verdienst der Reformen: "Deren Segnungen lieBen mit wenigen Ausnahmen noch auf sich warten ... " Gleichzeitig bezweifelte er, daB die Reformer in ihrer Gesamtheit - wie es bei G . RITTER [311 : Stein, 3. Autl., 307] heiBt - ihr Werk "von vornherein bewuBt in den Dienst der nationalen Befreiung stellten". Abgesehen von der Frage, was hier "national" bedeute, hatten die Politiker lange den Ausgleich mit Napoleon gesucht, und die Identifizierung von "Patrioten" mit "Reformern" sei nicht generell anzunehmen - "fUr

3. Die Deutsche Reforrnzeit

123

den miliHirischen Bereich vielleicht noch am ehesten " [306: Reform , zit. 408 , 217]. Ausgehend von einem ganz anders gelagerten Forschungsinteresse untersuchte H. STUBIG die geistigen und institutionellen Bedingungen dessen , was er als das "Biindnis zwischen Armee und Nation" beschrieb, niimlich die piidagogisch-politischen Motive der Heeresreformer. Dabei wurde jedoch der Unterschied deutlich zwischen deren Konzeption des gebildeten, leistungsfiihigen Offiziers und dem Ideal allgemeiner Menschenbildung, wie es Humboldt vertrat [318 : Armee]. DaB sich dieser nicht mit seiner Forderung nach Abschaffung einer gesonderten KadettenausbiIdung durchsetzen konnte, erscheint geradezu aIs symptomatisch fUr das niichterne Bild vom Erfolg der Humboldtschen Bildungsidee, zu dem die neuere Forschung geIangt ist. So wenig hier - unabhiingig von der jeweiligen Bewertung - die weiterwirkende Bedeutung Humboldts aIs Bildungstheoretiker geIeugnet wird, so begrenzt war offenbar der unmitteIbare EinfluB seiner Ideale auf die preuBische Bildungswirklichkeit, nur teilweise mit Ausnahme der Universitiit. Am Ende stand, so resiimierte beispielsweise K .-E. l EISMA NN, " bei weitem kein ,Humboldtsches Gymnasium ' ... ; es war das ,PreuBische Gymnasium' , das mit seinen Vorziigen und Schwiichen diesem Staatswesen und den bestimmenden Kriiften seiner Geschichte seit dem ausgehenden 18.1ahrhundert durchaus entsprach " - womit es ab er doch " zu den modernsten und trotz aller Begrenzung der eigenen Idee am weitesten in die Gesellschaft hineinreichenden allgemeinen Offentlichen Erziehungsanstalten Europas" gehorte [57: Gymnasium, 397 f.]. Hatte Humboldt theoretisch den Vorrang der individuell en, aIJgemein-menschlichen, kosmopolitischen Bildung proklamiert, so behielt das gesamte preuBische Bildungswesen von der Elementarschule bis zur Universitiit einen - ab 1819 wiederum verstiirkten - biirokratischen, stiindischen und nationalpolitischen Zug [305: C. MENZE, Bildungsreform]. Nicht zu vergessen ist aber, daB das neugegriindete zentrale Kultusministerium gar kein bildungspolitisches Monopol besaB: Die Griindung von Realschulen bzw. -gymnasien , Gewerbeschulen und Oberrealschulen erfolgte ab 1815 aufgrund von Tnitiativen des Handels- und Gewerbedepartements, die von verschiedenen Stadtmagistraten aufgegriffen wurden [Po LUN DGREEN, in: 322: B. VOG EL, Reformen]. So kann die neue These von W. SPEITKAMP, daB rheinbiindische und preul3ische Bildungsreformen zu iihnlichen Konsequenzen gefUhrt hiitten , nicht mehr iiberraschen [223: Staat].

U nterschiedli che Bildungs konzepte im Wettstreit

124

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

3.4 Der Vergleich der ReJormen - Forschungsbilanz zur Deutschen ReJormzeit Die preul.lischen Reformen als " Biindnis zwischen Geist und Macht"

Modernisierung durch die Rheinbundreformen

DaB die Synthese von Geist und Macht - wiewohl, wie es nach 1945 bisweilen hieB, vielleicht unzureichend gelungen - ein Spezifikum der preuBischen Reformzeit darstelle, wird seit F. MEI NECKE [215: Zeitalter) immer wieder behauptet. Sie verlieh diesen Reformen , H. SCHULZE zufolge, "ihr eigenes Pathos, ihre eigene Substanz", obgleich sich ihre Trager gegeniiber ihren rheinbiindischen Kollegen "keineswegs avantgardistisch", sondern eher einem schmerzhaften Konkurrenzdruck ausgesetzt gefiihlt hatten [in: 39: K. D. ERDMA NN u. a., PreuBen, 205 f). TH. NIPPERDEY auBerte dazu , anders als die rheinbiindische sei die preuBische Reform "immer auch auf Befreiung ausgerichtet" und eine "idealistisch-moralische" Bewegung gewesen [66: Geschichte, 35, 33). DaB derartige Urteile noch keineswegs auf eine Idealisierung des Stein-Hardenbergschen Reformwerks hinauslaufen miissen, beweist schon K. v. RAUMER, der eine "verhaltnismaBige Schwache des Moments sittlicher Regeneration und national er Wiedergeburt bei den Reformen in Osterreich und im Rheinbund" konstatierte und doch im Anschluf3 an die Wertungen F. SCHNABELS [86: Geschichte) die Gleichrangigkeit der rheinbiindischen mit den preuBischen Reformen herausarbeitete und diesem Umstand - im Gegensatz selbst zu manchen neuesten Uberblickswerken [vg\. M. BEHNEN, in: 72: RASSOW, Geschichte) - auch hinsichtlich des Umfangs der jeweiligen Darstellungsteile Rechnung trug [in: 73 : DERS., M. BOTZENHART, Geschichte, zit. 352). Aber ein verdecktes bildungsbiirgerliches Ideal der Philosophenherrschaft mag doch dazu beigetragen haben , daB gerade mit diesem Argument zumeist die Uberlegenheit der preuBischen gegeniiber den rheinbiindischen Reformen begriindet wurde, wenn man nicht, wie lange Zeit noch die DDR-Forschung, einseitig daran festhalten wollte, daB die Rheinbundreformen eben doch primar dem fremden Eroberer, die preuf3ischen hingegen dem national en, antifeudalen Interesse gedient hatten [H. HEITZER, in: 206 : BEFREIUNGSKRIEG). Demgegeniiber hat H.-U. WEHLER betont, die rheinbiindischen Reformen seien "in all er Regel radikaler gedacht, haufig schneller durchgefiihrt, wenn man von der Bauernbefreiung absieht, und menschenfreundlicher im Effekt" gewesen [in: 35: O. BUSCH , Preuf3enbild, 29; vg\. 98: DERS., Gesellschaftsgeschichte I). E. WEIS machte darauf aufmerksam, daB die der rheinbiindischen bzw. franzosischen Gesetzgebung unterworfenen Regionen spater "die ei-

3. Die Deutsche Reforrnzeit

125

gentlichen Gebiete des deutschen Liberalismus" bildeten [in: 100: DERs., Deutschland, 217]. Die rheinbiindischen Reformen, hei13t es bei K. O. Frhr. v. ARETIN , lagen "zeitlich friiher" als die preu13ischen , denen sie daher vielfach zum Vorbild dienten, und sie "gingen zum Teil sehr viel we iter" als diese, insbesondere "in der Oberwindung des stiindisch gegliederten Staates" [24: Bund, 129]. Auch M. B01'ZENHAR1' bemerkte etwa, im Rheinbund habe man den "Dbergang zur freien Eigentiimergesellschaft auf dem Lande durchweg schonender vollzogen" - alles Bemerkungen einer Art, die P. BAUMGAR1' veranla13ten, sich von Aussagen zu distanzieren, die dazu neigten , " die rheinbiindischen Reformen zu stark zu betonen und sie womoglich iiber die preu13ischen Reformen zu stellen" [bd. in: 71: H. QUARITSCH, Gesellschaft, 64, 79]. Alle vorgebrachten Argumente zielen jedenfalls in die Richtung, den rheinbiindischen eine im Vergleich zu den preu13ischen gro13ere politische und gesellschaftliche - nicht allerdings wirtschaftliche - Modernisierungswirkung zuzuschreiben. Angesichts der Moglichkeit einer Umkehrung friiherer Wertungen hatte schon K. v. RA UMER in der nach der "S piritualisierung" der preu/3ischen Reformen eingetretene " Soziologisierung" die Gefahr gesehen, " die tatsiichlichen Folgen der Reform ... gleichsam in ihre Intention mit hineinzunehmen und Reformen wie Reformer an dieser Problematik zu messen" [309 : Beurteilung, 347]. In der Tat wird man fragen mii ssen, ob man bei unvorhergesehenen und vielleicht sogar unvorhersehbaren spiiteren Auswirkungen der Reformgesetze die "Schuld" dafUr nicht weniger den Reformpolitikern als vielmehr ihren Nachfolgern und deren Mangel an Bereitschaft zum Gegensteuern zuschreiben mii13te. Einen anderen Punkt beriihrte TH. NIPPERDEY , wenn er schrieb: "Die rheinbiindischen Reformen haben lange im Schatten der preu/3ischen gestanden, sie galten als Produkte der Fremdherrschaft oder als rationali stisch-aufkliirerische, nicht ,organische' Reformen . Heute werden sie gelegentlich gerade deshalb, weil sie stark er von der Aufkliirung und den - domestizierten Ideen von 1789 bestimmt gewesen seien, gegen die preu/3ischen ausgespielt. Beide Betrachtungsweisen sind Ideologie, und man sollte sie getrost beiseite lassen. Beide Reformtypen sind - im Rahmen der Reformperiode - eigenstandig und gleichgewichtig, beide haben ihre spezifische, aber unterschiedliche Modernitiit" [66 : Geschichte, 78 f.]. Gilt aber diese Gleichgewichtigkeit nicht auch fUr die Folgezeit, etwa in dem Sinne, wie es M. B01'ZEN HART andeutet, da/3 die preu/3i schen Reformer einen histori sch weiterwirkenden, hoheren

Preul3ische und rheinbiindische Reformen - Umkehr friiherer Wertungen

126

Vorze itige Ko nst ituti on a li sierun g a ls M o tor od er Hem mschuh d er Ent wicklun g?

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

ideellen Anspruch erhoben hatten, die rheinbiindi schen aber mit ihren eher pragmati schen Reformen weniger unmittelbar an der Wirklichkeit gescheitert seien [33 : Reform , 45 , 74f.] ? Verlief nicht ohnehin, wie B. VOG EL meinte, die Trennlinie zwischen rationalistischen, franzosisch beeinflu!3ten und organisch-gema!3igten Reformen nicht etwa zwischen Rheinbund und Reformpreu!3en , sondern zwischen Stein und Hardenberg [321 : Gewerbefreiheit, II]? Hat nicht a ndererseits " der Erfolg der wirtschaftlichen Reformen in Preu!3en zum Mi!3erfolg der politi schen Reformen beigetragen, und umgekehrt" [219 : P. NOLTE, Staatsbildung, 19] ? Ob die friihzeitige EinfUhrung konstitutioneller Formen die politi sche und gesell schaftli che Entwicklung eher gefordert oder behindert hatte, ist allerdings umstritten. H. OBENAUS, der sich von der traditionellen Abwertung des rheinbiindischen "Schein-Konstitutionalismus" , als " blo!3 es Beiwerk der biirokratischen Staatsverfassung" [so 54 : E. R. H UBER, Verfassungsgeschichte I , 88, 316] distanzierte, beschrieb die zweimal einberufenen westfalischen Reichsstande als fUr "Besitz und Bildung" durchaus " reprasentative Versammlungen " (ohne das befUrchtete Ubergewicht der Biirokraten), au sgestattet mit einem nicht unbedeutenden , wenngleich vornehmlich informellen Einflu!3 auf die legislative Arbeit. Einwande eines Teils der Abgeordneten etwa gegen die Gewerbefreiheit habe die Regierung lei cht mit Verwei s auf die Konstitution abblocken konnen, im iibrigen aber seien die Stande dem gesell schaftlichen Fortschritt durchaus aufgeschlossen gegeniibergestanden [268: Reichsstande]. Dagegen steht freilich die Beobachtung von V. PRESS, dal3 selbst der spatere wiirttembergische Landtag, entgegen seiner Verklarung in der " Hochzeit des Liberalismus", sich zunachst oft konservati ver zeigte a ls die aus dem Rheinbund stammende Biirokratie [69 : Landtag]. " Die Reformen waren der sozialen Entwicklung weit voraus", konstati erte K. O. Frhr. v.ARETI N [24 : Bund, 121]- mu!3te d ann nicht die Gefa hr bestehen , da !3 eine vorzeitige Kon stitutionalisierung Reprasentativorga ne hervorbrachte, die das Reformwerk des biirokrati schen Absoluti smus zumindest teilweise wieder riickga ngig gemacht hatten, wie Bestrebungen innerhalb der westfalischen Reichsstande wie auch in den von Hardenberg einberufenen Versammlungen es na helegen [in diesem Sinne z. B. E. FEHRENBACH und die Einleitung von H. BERDI NG, H.-P. ULLM ANN, beide in : 28: DI ES., Deutschl a nd] ? Ob di e Verfassunggebung in Preul3en eh er an d era rtigen liberal en oder aber an konservativen Einfliissen gescheitert ist, ist allerdings ebenso um stritten wie die Frage, ob sie in den

3. Die Deutsche Reforrnzeit

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Rheinbundstaaten als echter politischer Neuanfang od er eh er als Abschlul3 der Reformzeit gewertet werden soil. War da s ganze Reformwerk uberhaupt als eine zukunftsorientierte Neugestaltung konzipiert ? Der Herausforderung durch die Franzosische Revolution versuchten, so H.- U. WEH LER, die Machteliten in den meisten deutschen Staaten " durch vielfaltige Mal3nahmen einer teils radikalen , teil s nur punktuellen Moderni sierung zu begeg nen . In ihrem Grundchara kter blieb diese Strategie defens iver Natur, da n ach Moglichkeit wichtige Stutzpfeiler der alten Ordnung durch die Reform von oben gegen die Revolution von unten erhalten werden so li ten " [98: Gesellschaftsgeschichte I, 345]. Uber die " defen sive Modernisierung" [38: K. EpSTEIN, 692] als Refo rmmoti v sollte man jedoch nicht nur die Reformtraditionen des Aufgeklarten Absolutismus nicht vergessen, so ndern mit B. VOGEL gerade mit Blick auf Preul3en auch berucksichtigen , da l3 das Schlusselwort der Refo rmzeit " nicht Eindammung, so ndern ,Entfesselung' all e r Krafte, Beseitigung aller H indernisse der freien Entfaltung des Einzeln en " war und dal3 die Reformer " nicht die moglich ste Kon se rvie run g des Herrschaftssystem s mit sein e n wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen anstrebten" [in: 322: DI ES., Reformen , 10, 17]. Aul3erdem lassen sich die anhand der preul3i schen Reformen gewonnenen jeweiligen Erkenntnisse von W. M. SIMO N und B. VOGEL vermutlich verallgemeinern, dal3 namlich sow oh I " Reform er" a ls a uch " Reformgegner" weder in der Theorie noch in der Praxi s eine geschlo ssene Front darstellten und dal3 die Reformbereitschaft eines einzelnen Beamten nicht unmittelbar von seiner Herkunft a bhing [317 : Variations ; 321: Gewerbefreiheit]. Wenn sich derartige Beobachtungen nur unter Vorbehalt genera li sieren lassen , so deshalb , weil in der Forschung bi sher selten unter ei n er gemeinsamen Fragestellung konkrete, quellen gesa ttigte Vergleiche zwischen mehr als zwei Staaten angestellt wurden - und schon gar nicht zwischen Preul3e n und einem od er mehreren Rh einbund staa ten . Deshalb sind die nach einem ersten Anlauf von E. FEHRENBACH [in: 28: H. BERDl NG, H.-P. ULLMANN, Deutschl a nd] jungst unternommenen Bemuhungen von P. NOLTE zu begrul3en , obwohl sie sich weitestgehend auf Literatur stutzen und eine Detailforschun g nicht ersetzen konnen [21 8: Reformen ; 219: Staatsbildung]. Ferner fehlt es a uch fur di e Reform zeit, wie fur den Aufgeklarten Absolutismus, an konkreten Untersuchungen uber das Zusa mm enspiel von Innen- und Aul3enpolitik sowie uber di e Auswirkungen der Reformen auf di e Untertanen , z. B. hin sichtlich vo n de-

Die Reformzeit als " defensive Modernisierung" oder "Entfesselun g aller Kriifte"?

Desiderata der Forschung

12S

11. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

ren steuerlicher Belastung in verschiedenen Staaten. Tatsache ist, daB in den letzten zwanzig lahren eine "Konzentration der Forschung auf die Rheinbundstaaten Sud- und Westdeutschlands" erfolgte, wogegen die PreuBenforschung in mancher Hinsicht stagnierte und si ch mehr der (Um-)Interpretation bekannter als der ErschlieBung neuer Quellen widmete. DaB diese Entwicklung nicht nur durch einen gewissen Nachholbedarf, sondern auch durch "neue Legitimationsabsichten ... , bezogen auf die Uinder der [alten] Bundesrepublik und ihr politisches Selbstverstiindnis" begrundet sein k6nnte, wie o. DANN mutmaBt [20S: Deutschland, 423], wird man nicht in jedem Fall ausschlieBen durfen. Uberwiegend wird man sie aber doch auf die bis vor kurzem unterschiedliche ZugiingIichkeit der Quellen zuruckfUhren mUssen . Insofern ist zu hoffen, daB die deutsche Einigung der Forschung neue Impulse zu geben vermag.

4. Die deutsche Entwicklung vom aufgekHirten Reformstaat zum burokratischen Staatsabsolutismus im europaischen Rahmen Reformkontinuitat als deutsches Spezi fikum?

Dies k6nnte fUr das Bild der deutschen Entwicklung gerade im Rahmen der europiiischen Geschichte des IS. und 19.1ahrhunderts von Bedeutung sein. Denn wiihrend England in dieser Zeit den Absolutismus bereits uberwunden hatte, folgte fur die meisten europiiischen Staaten, die Reformen im Sinne des Aufgekliirten Absolutismus erlebt hatten, so schnell keine Phase einer Gesellschaftsreform und einer weiteren Expansion der Staatsmacht unter burokratischen Vorzeichen. In dieser Hinsicht wirkte Frankreich auf Deutschland wiihrend der Ara Napoleons teilweise unmittelbar, teilweise als vielfiiltiges Vorbild ein - nur war Frankreich vor 1789 selbst uber bescheidene aufgekliirt-absolutistische Reformansiitze nicht hinausgelangt und besaB danach eine eigenstiindige burgerliche Freiheitstradition. Insofern scheint die Kontinuitiit zwischen dem aufgekliirten Reformstaat des IS. und dem burokratischen Staatsabsolutismus des 19.1ahrhunderts ein spezifisch deutsches Phiinomen zu sein, dessen Erforschung noch ganz am Anfang steht.

5. Aufgeklärter Absolutismus

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5. Die Erforschung von Aufgeklärtem Absolutismus/ Reformabsolutismus und Deutscher Reformzeit 1993−2008 Nachtrag zur 2. Auflage 5.1 Diskussionen und Forschungen zum ausgehenden Ancien Régime im Reich Für die Charakterisierung der Epoche von ca. 1740 bis ca. 1790 beziehungsweise bestimmter Erscheinungen dieser Zeit setzte sich in den 1990er Jahren die Begriffsdiskussion fort zwischen jenen Forschern, die an dem Begriff „Aufgeklärter Absolutismus“ festhalten wollten [z. B. 372: P. BAUMGART, Absolutismus; H. REINALTER, in: 387: DERS./H. KLUETING, Vergleich], und anderen, die für den angeblich „unverfänglicheren“ Terminus „Reformabsolutismus“ plädierten [G. BIRTSCH, in: 373: DERS., Reformabsolutismus, zit. 109; Überblick mit weiterer Literatur: 374: W. DEMEL, Reformabsolutismus]. W. NEUGEBAUER ging – wie einige andere Historiker – noch einen Schritt weiter und fragte, ob nicht eine notwendige „Typologie des Wandels“ zur „Verabschiedung vom Absolutismus-Begriff als Epochensigné“ zwinge [DERS., in: 377: W. GREILING u.a., Ernst II., 38, 39]. Inwieweit wirkte etwa das Naturrecht in die damalige Gesetzgebung hinein, inwiefern tat dies eine neue Wahrnehmung des Raumes [351: D. KLIPPEL, Naturrecht; 389: D. SCHLÖGL, Staat]? Dabei galt das Augenmerk in dieser Debatte nicht mehr nur der „staatlichen“ Modernisierung – zumal das Verhältnis zwischen „Staat“ und Ständen höchst differenziert gesehen werden muss [331: G. AMMERER u.a., Bündnispartner; 368: J. SEITZ, Bayern; 378: G. HAUG-MORITZ, Württembergischer Ständekonflikt; 390: B. STOLLBERG-RILINGER, Vormünder; 417: G. P. OBERSTEINER, Steiermark] – und schon gar nicht mehr fast ausschließlich den „Großstaaten“. Vielmehr wurden nun gerade wenig bürokratisch strukturierte Kleinterritorien wie z. B. Sachsen-Weimar-Eisenach [392: M. VENTZKE, Herzogtum] unter der Fragestellung untersucht, inwieweit sie einen Modellfall aufgeklärter Herrschaft darstellten. Auf dem Gebiet der Erforschung kleiner und mittlerer Territorien war die ostdeutsche Forschung besonders aktiv. Das sächsische Rétablissement wurde, aus unterschiedlichen Perspektiven, mehrfach als ein erfolgreiches, allerdings auf die Wirtschaftsförderung beschränktes, sozialpolitisch sogar eher konservatives Unternehmen

„Aufgeklärter Absolutismus“ oder „Reformabsolutismus“?

Erforschung kleiner und mittlerer Territorien

130

II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

unter die Lupe genommen [S. LÄSSIG, in: 367: U. SCHIRMER, Sachsen; 381: K. KELLER, Saxony; 384: C. LEBEAU, Regierungskunst; 385: J. MATZERATH, Rétablissement; T. NICKLAS, in: 386: E. LAUX/K. TEPPE, Staat]. Untersucht wurden aber auch andere Fürstentümer, mit Blick zum Teil auf spezielle Protagonisten der Reform [u. a. 371: R. BAUMGÄRTEL-FLEISCHMANN, Erthal; 375: B. DÖLEMEYER, Staatsreformprogramme; 394: W. WIEGAND/J. MÖTSCH, Georg I. von SachsenMeiningen; 348: M. KAISER, A. PE Cˇ AR, Der zweite Mann (zu Kreittmayr, Montgelas und Kaunitz)], zum Teil auf bestimmte Sektoren der Politik [376: R. ENDRES, Wirtschaftspolitik in AnsbachBayreuth; 388: K. RIES, Stadt- und Landproteste in Nassau-Saarbrücken]. Daneben finden sich aber auch breit angelegte, die „Zäsur“ um 1800 überspannende Forschungen [332: J. ARNDT, Lippe; 337: J. ENGELBRECHT, Berg; 356: K. MURK, Waldeck] sowie eine ganze Reihe neuer bzw. zumindest neu aufgelegter Landesgeschichten [z. B. 338: W. FREITAG/M. HECHT, Anhalt; 349: W. KARGE u.a., Mecklenburg; für den heute bayerischen Raum: 341: HBG, für den badenwürttembergischen: 346: W. HUG, Baden; 362: M. SCHAAB/ H. SCHWARZMAIER, Handbuch]. Für Reformen in katholischen Territorien wurde dabei der Einfluss der Katholischen Aufklärung als einer spezifischen geistigen Bewegung verdeutlicht und die alte These eines generellen Modernisierungsdefizits geistlicher Fürstentümer zurückgewiesen [352: H. KLUETING, Katholische Aufklärung]. Für das protestantische Weimar war hingegen von besonderem Interesse der Nachweis des Bemühens, über personelle Netzwerke Reformprojekte voranzutreiben, was gut zu dem neuen Bild der Organisationsstruktur der mitteldeutschen Aufklärung passt [393: M. VENTZKE, Netzwerke; 395: H. ZAUNSTÖCK, Sozietätslandschaft]. Verstärkte Aufmerksamkeit und besondere Hochschätzung erHochschätzung von Wörlitz fuhren in diesem Zusammenhang die Person des Dessauer Herzogs (Leopold III. Friedrich) Franz sowie dessen Landschaftspark Wörlitz als „Idealort“ aufklärerischer Bildung. Neben Studien unter anderem von H. KATHE [in: 339: Geschichte Sachsen-Anhalts] liegt nun vor allem der umfangreiche, revidierte und ergänzte Erstdruck der halleschen Dissertation von 1969 des in diesem Bereich ungemein produktiven E. HIRSCH vor. Ob man der hier mit bewundernswerter Detailkenntnis geschilderten Dessau-Wörlitzer Reformbewegung gleich „zumindest [!] europäische Größe“ zuschreiben sollte [379: Reformbewegung, 526], sei allerdings dahingestellt. Günstig für Reformen war die Tatsache, dass dieses aufgeklärt-absolutistische Musterländchen ein „Domänenstaat“ war. Andererseits waren dessen

5. Aufgeklärter Absolutismus

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politische Möglichkeiten wegen seiner geringen Größe stark begrenzt. Deutlicher als früher tritt nun überhaupt hervor, warum be- Komparatistische stimmte Territorien kaum zu Reformen in der Lage waren. In Meck- Ansätze lenburg-Schwerin gelang es dem pietistisch geprägten Herzog Friedrich lediglich, gewisse Neuerungen im Bereich des domanialen Kirchen- und Schulwesens durchzuführen – viel mehr gestattete die lutherisch-orthodoxe bzw. ritterschaftliche Opposition nicht [354: M. MANKE/E. MÜNCH, Verfassung]. Kurhannover war ein heterogenes Gebilde, das als Nebenland der englischen Krone – abgesehen von geistigen Kontakten z. B. Göttinger Intellektueller [391: H.-J. TEUTEBERG, Reformbewusstsein] – wenig Reformanregungen von den Britischen Inseln empfing: Die Gründung einer Landschaftlichen Brandkasse (1750) konnte da schon als „Reformmaßnahme ..., herausragend unter allen“ bezeichnet werden [E. SCHUBERT, in: 334: W. BUCHHOLZ, Ende, 37]. Spezifischer als die Frage, wie sich das Ende der Frühen Neuzeit in verschiedenen Territorien darstellte, suchten zwei schon 1997/98 entstandene Beiträge die bislang erzielten Ergebnisse neuerer landesgeschichtlicher Forschungen dahingehend zu vergleichen, welche Voraussetzungen und Resultate den „aufgeklärten Absolutismus“ bzw. „Reformabsolutismus“ in kleinen bzw. mittelgroßen Territorien kennzeichneten und wie diese im Vergleich zur Situation in Preußen und Österreich zu werten seien [382: S. LÄSSIG, Reformpotential; W. DEMEL, in: 387: H. REINALTER/H. KLUETING, Vergleich]. Dabei ist deutlich geworden, dass es oft gerade kleine Territorien waren, die in puncto Sozial-, Kultur- und Emanzipationspolitik (kaum freilich hinsichtlich Verwaltungs- und Justizreformen) eine führende Rolle spielten. M. UMBACH ging wenig später sogar so weit, einen hier entwickelten dezentral-pluralistisch angelegten, an England orientierten und politisch bis heute revitalisierbaren „Enlightened Federalism“ – mit Wörlitz als „ideological backbone“ und dem Fürstenbund als reichspolitischem Konzept – dem für diese Territorien bedrohlichen, zentralistischen „Enlightened Absolutism“ der beiden deutschen Großmächte gegenüber zu stellen [369: Federalism, zit. IX]. Doch sollte man andererseits deren Vorbildwirkung nun nicht unterschätzen [vgl. z. B. H. KLUETING, in: 418: H. REINALTER, Josephinismus], wie umgekehrt freilich auch einmal etwa Schulideen aus dem winzigen Hochstift Passau der riesigen Habsburgermonarchie Anregungen zu vermitteln vermochten [383: M. LAUDENBACH, Aufklärung, 60].

132

II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Bemerkenswerter Weise hat H. J. BÖMELBURG selbst für Preußen zwei vergleichbar unterschiedliche „Modernisierungspfade“ ausgemacht: eine von Ostpreußen ausgehende bürokratisch-zentralistische sowie eine im späteren Westpreußen realisierte ständisch-dezentrale Variante, welch letztere freilich nach 1772 von der ersteren überformt wurde – eher ein Rückschritt als ein Fortschritt [397: Reformen; 398: DERS., Ständegesellschaft, 470−474]! W. NEUGEBAUER sieht andererseits schon spätestens in den 1760er Jahren auf regionaler Ebene eine „ständische Renaissance“ in Preußen einsetzen [357: Geschichte, 76; vgl. 358: DERS., Wandel, 87−125]. Stand die sicherlich bedeutende, aber widersprüchliche Persönlichkeit Friedrichs II., an der sich immer noch erfahrene Historiker abarbeiten [406: J. KUNISCH, Friedrich; 411: R. VIERHAUS, in: K.-H. ZIESSOW u.a., Neuzeit], vielleicht gar nicht so sehr für die zentralistische Spielart, wie man früher glaubte? Auch in anderer Hinsicht folgte der König jedenfalls nicht unbedingt dem „Zeitgeist“. Die preußische Adelspolitik blieb, auch im Vergleich, rückwärtsgewandt [400: W. DEMEL, Adelsrecht]. Dass Friedrichs Judenpolitik alles andere als von Toleranz gekennzeichnet war, ist zwar nicht neu, tritt aber in der zeitlich übergreifenden Darstellung von A. A. BRUER, der ihn diesbezüglich als den „härtesten“ aller Hohenzollernherrscher beschreibt, noch einmal deutlich hervor [333: Juden, 69−93, zit. 69]. In diesem Punkt dachten nicht wenige von Friedrichs Beamten sicherlich fortschrittlicher. Aber insgesamt war die Intensität staatlicher Herrschaft auch in Preußen noch recht begrenzt. Dies lag unter anderem an der auch vergleichsweise erstaunlich geringen Größe der preußischen Bürokratie, deren Gesinnungen und Struktur näher erforscht wurden [409: H. M. SIEG, Staatsdienst; 410: R. STRAUBEL, Beamte; E. HELLMUTH in: 373: G. BIRTSCH, Reformabsolutismus], aber auch daran, dass die Entwicklung vom Regional- zum Ressortprinzip in der Zentralverwaltung vorerst noch nicht zum Abschluss gelangte [P. MAINKA, in: 386: E. LAUX/K. TEPPE, Staat]. Zudem wurden Zweifel laut, ob die Innenpolitik für Friedrich II. Zweifel an deren langfristigen überhaupt eine eigenständige, über ihren Beitrag zum außenpolitiErfolgen schen Machterhalt seines Staates hinausreichende Funktion gehabt habe. Dies würde erklären, so U. MÜLLER-WEIL, warum auf manchen Feldern Veränderungen vorangetrieben, andere vernachlässigt wurden [355: Absolutismus, 294]. Doch selbst in Bereichen, die der König – wie die Landeskultur – fördern wollte, scheinen seine Erfolge von der Nachwelt gerne überschätzt worden zu sein [R. GUDERMANN, in:

Wege und Grenzen der preußischen Reformpolitik vor 1806

5. Aufgeklärter Absolutismus

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361: R. PRÖVE, Leben], wiewohl die Zahl der Neusiedler durchaus beeindruckt [359: W. NEUGEBAUER, Zentralprovinz, 131−134]. Selbst die Qualität der preußischen Armee nach 1763 wird unterschiedlich eingeschätzt [vgl. H. SCHULZE und D. SHOWALTER, bd. in: 363: P. G. DWYER, Rise; 407: D. E. SHOWALTER, Army; 365: M. RINK, „Partheygänger“, 147−174]. Sicher ist, dass es vor wie nach 1806 beachtliche Reformen im preußischen Militärbildungswesen gab – etwas strittig ist allerdings die daraus resultierende Prägung der künftigen Offiziere [O. JESSEN, in: 469: J. KLOOSTERHUIS/S. NEITZEL, Militär; F. C. STAHL, in: 471: B. SÖSEMANN, Gemeingeist]. W. BRINGMANN erkannte jedenfalls gerade im militärischen Bereich eine Weiterentwicklung, wenngleich „zu treu in den friderizianischen Bahnen“. Überhaupt lautet sein Hauptvorwurf an die Adresse Friedrich Wilhelms II., dass dieser keinen „Schlußstrich unter die friderizianische Mißwirtschaft“ gezogen habe [399: Preußen, 159, 192]. Dieses eher gegenüber der älteren als der jüngeren Literatur revisionistische Bild erkennt somit lediglich die Einleitung der Rechtsreformen, allen voran die Vorarbeiten für das Allgemeine Landrecht, als positives innenpolitisches Erbe Friedrichs II. an. Das Jubiläum des Inkrafttretens des „Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten“ löste um 1994 eine ganze Flut vor allem rechtshistorischer Publikationen aus [z. B. 396: G. BIRTSCH/D. WILLOWEIT, Reformabsolutismus; 403: T. FINKENAUER, Gesetzbuch; 404: G. KLEINHEYER, Landrecht]. Dabei betonte D. MERTEN dessen rechtsstaatlichen Züge, bezeichnete es aber gleichzeitig als ein „Gesetzbuch der Widersprüche“ [in: 402: F. EBEL, Gemeinwohl, 136, zit. 109]. Dagegen wollte D. SCHWENNICKE das damalige Preußen „kaum als ‚Rechtsstaat‘ im modernen Sinne ... eher als ‚Rechtestaat‘“ beschreiben [408: Einleitung, 381], während H. HATTENHAUER es immerhin „auf dem Wege zum Rechtsstaat“ sah [in: 405: J. WOLFF, Landrecht, 49]. Von Historikerseite diskutierte R. VIERHAUS erneut, ob das ALR als Verfassungsersatz gelten könne [in: 401: B. DÖLEMEYER/H. MOHNHAUPT, 200 Jahre]. Integrierend dürfte es langfristig wohl gewirkt haben, doch verweist schon sein Titel auf die Heterogenität der Hohenzollernmonarchie, deren sich die neuere Forschung bewusster ist als die ältere. Dass das Habsburgerreich aus ganz unterschiedlich strukturierten Ländern bestand, war dagegen stets augenfällig, das zeigt gerade auch der letzte der drei hier genannten neueren Sammelbände zum Thema „Josephinismus“ [418: H. REINALTER, Josephinismus; 419: DERS., Absolutimus; 420: W. SCHMALE u.a., Josephinismus]. Ein we-

Neue Forschungen zum Allgemeinen Landrecht

Beamten- und Kirchenreformen in Österreich

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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

sentliches verbindendes Element stellte indes die Beamtenschaft dar, die gerade in josephinischer Zeit zu einer regelrechten Bürokratie ausgebaut wurde [342: W. HEINDL, Rebellen]. Auch im internationalen Vergleich erscheint sie als durchaus effizient [347: C. INGRAO, Monarchy, 218]. Trotzdem vermochte Joseph II. – nicht zuletzt wegen seiner ungestümen Art – keineswegs alle seine Pläne zu verwirklichen. Wirkte seine Armenpolitik für lange Zeit prägend [H. WENDELIN, in: 343: W. HEINDL/E. SAUER, Grenze], so stieß seine Kirchenpolitik in breiten Kreisen vieler – allerdings nicht aller – habsburgischer Länder auf massiven Widerstand [vgl. 350: E. KIMMINICH, Volksbräuche; 360: M. PAMMER, Glaubensabfall]. Das josephinische Staatskirchentum, dessen Einfluss auf den Klerus näher untersucht wurde [D. BEALES, in: 412: N. ASTON, Change; 421: C. SCHNEIDER, Klerus], basierte dabei offenbar auf den Ideen des ursprünglich lutherischen Staatskirchenrechts des Territorialismus [415: H. KLUETING, Staatskirchentum]. Ihm hing namentlich Kaunitz an, dessen vielseitige Persönlichkeit nunmehr näher ausgeleuchtet wurde [414: G. KLINGENSTEIN/F. A. J. SZÁBO, Staatskanzler; 423: F. A. J. SZÁBO, Kaunitz]. Dabei unterstützte die öffentliche Meinung Joseph II. anfänglich bei dessen Kirchenreformen, distanzierte sich dann jedoch zunehmend von seinem absolutistischen Regierungsstil [424: E. WANGERMANN, Publizität]. Die zahlreichen Unruhen, die am Ende der Regierungszeit Joseph II. ausbrachen, brachte erst Leopold II. unter Kontrolle. Dessen undurchsichtige Persönlichkeit erscheint der neueren Diskussionen um Leopold II. Forschung allerdings als viel weniger liberal, als dies die große Biographie A. WANDRUSZKAs [201: Leopold II.] glauben machte, auch wenn Leopold z. B. das Polizeiministerium seines Vorgängers auflöste [413: P. BERNARD, Pergen, 170−179], das sein Nachfolger bald reaktivieren sollte. G. LETTNER sah in ihm, jedenfalls seit 1790, sogar einen Kämpfer gegen die Aufklärung [416: Rückzugsgefecht]. Immerhin hielt ihn F. A. J. SZÁBO inzwischen noch für ein wenig liberaler als seinen Bruder Joseph II. – schrieb ihm jedoch keine allzu abweichenden Prinzipien zu [422: Ambivalenzen]. Sollte der Ausbruch der Französischen Revolution Leopolds Einstellung verändert haben?

5. Aufgeklärter Absolutismus

135

5.2 Revolutionärer Umbruch und Reformen im Lichte der neuesten Forschung Fragen der Kontinuität über die durch die Französische Revolution und Napoleon ausgelösten Umbrüche hinweg stellten sich generell [336: H. DUCHHARDT/A. KUNZ, Reich] und forderten auch für das „nachfriderizianische“ Preußen weitere Forschungen heraus [344: E. HELLMUTH u.a., Zeitenwende]. Ziemlich unstrittig ist dabei, dass viele Reformen ab ca. 1799 in der Tradition „aufgeklärt-absolutistischer“ bzw. „reformabsolutistischer“ Bestrebungen standen, wobei der Prozess der Staatsbildung erst jetzt zu einem gewissen Abschluss gelangte [z. B. 462: H.-P. ULLMANN, Baden], und zwar nicht zuletzt infolge der Säkularisation und des Reichsendes. Früher und unmittelbarer wirkte der französische Einfluss natürlich auf die besetzten linksrheinischen Gebiete. Allgemein wurde hier eine „radikale und breite Erschütterung der Ordnung“ konstatiert und herausgearbeitet, was dies für einzelne Gruppen, etwa Beamte, Geistliche, Stadtbürger oder auch ein Fürstenhaus bedeutete [449: U. ANDRAE, Rheinländer, zit. 167; 430: C. DIPPER u.a., Herrschaft; 451: E. KELL, Leiningen; 441: V. RÖDEL u.a., Oberrheinlande; 452: J. MÜLLER, Umbruch; 453: J. SMETS, Freiheit]. Für die Juden änderte sich faktisch zunächst anscheinend wenig – ihr Rechtszustand blieb in der Schwebe –, aber ihr Selbstbewusstsein konnte angesichts der französischen Freiheits- und Gleichheitsparolen nur wachsen [433: C. KASPER-HOLKOTTE, Juden, 214]. Dagegen wurde natürlich der katholische Hoch- und Mönchsklerus schwer getroffen. Ausgehend von der inzwischen vorliegenden, vorzüglichen Dokumentation zur linksrheinischen Säkularisation [329: W. SCHIEDER/A. KUBE, Säkularisation] ließen sich andererseits auch die Profiteuere dieses Prozesses genauer ermitteln [440: G. B. CLEMENS, Immobilienhändler]. Allgemein wurden links- wie rechtsrheinisch die Schicksale einzelner Klöster sowie ehemaliger Klosterinsassen untersucht [z. B. 425: C. BARTZ, Maria Laach], und zahlreiche Sammelbände widmeten sich im Umfeld des „Jubiläums“ von 2003 einer Vielzahl von Aspekten des Phänomens Säkularisation [Forschungsüberblick mit umfassenden, im Literaturverzeichnis meist nicht aufgelisteten Werkangaben: 436: H. KLUETING, Reichsdeputationshauptschluß]. Etwas ältere zusammenfassende Darstellungen wie namentlich jene von W. MÜLLER [438: Säkularisation; 439: Deutschland] behielten gleichwohl ihren Wert. Freilich wurden durch neue Archivforschungen bisweilen ältere Annahmen präzisiert oder auch korrigiert, etwa

Französische Einflüsse: Wandel und Kontinuität

Folgen der französischen Herrschaft links des Rheins

Vorgeschichte, Verlauf und Folgen der Säkularisation von 1802/03

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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

durch den Nachweis R. STAUBERs, dass der Versuch Kurfürst Karl Theodors, den bayerischen Klöstern 15 Mio. Gulden abzupressen, total scheiterte [in: 443: A. SCHMID, Säkularisation]. Darstellungen, die zeigten, dass schon in den Jahrzehnten vor 1802/03 auch außerhalb der Habsburgermonarchie einzelne Klöster – freilich mit päpstlicher Zustimmung – aufgehoben worden waren [380: C. JAHN, Klosteraufhebungen; Beispiele auch in: 435: H. KLUETING, 200 Jahre], ebneten einer trotz fortdauernd unterschiedlicher Beurteilungen im Vergleich zu früher differenzierteren und auch nüchterneren Betrachtungsweise den Weg. Das gilt nicht nur hinsichtlich des von Kloster zu Kloster oft sehr Differenzierung der Lage der einzelnen unterschiedlichen Personal- und Finanzzustandes, sondern auch für die Klöster Bewertung der nun näher untersuchten Leistungen der Klöster im Bereich der Armen- und Krankenpflege oder auch des Schulwesens [440: R. NOLTE, Pietas; M. ALBERT in: 435: H. KLUETING, 200 Jahre; A. HOPFENMÜLLER, in: 427: R. BRAUN/J. WILD, Bayern]. Generell gilt: In der Regel waren die Klöster (und ebenso die Hochstifte [370: K. ANDERMANN, Staaten]) weder so schlecht geführt, wie dies Aufklärer und Liberale lange behauptet hatten, noch waren die meisten Säkularisierer so rücksichtslos und beschränkt, wie sie von der älteren katholischen Kirchengeschichtsschreibung oft beschrieben wurden [438: W. MÜLLER, Säkularisation, 8–11; R. BRAUN, in: 427: DERS./J. WILD, Bayern]. Vieles wurde in staatlichen Bibliotheken oder Archiven wahrscheinlich sogar besser für die Nachwelt bewahrt als in manchen Klöstern. Dass dennoch viel wertvolles Kulturgut verloren ging, ist nicht zu bestreiten [Beispiele für beides etwa in: 434: J. KIRMEIER/M. TREML, Glanz; M. FISCHER, in: 431: V. HIMMELEIN/H. U. RUDOLF, Klöster]. Für manches hatte man zeitgenössisch einfach kein Interesse [H. MÜLLER, in: 429: I. CRUSIUS, Säkularisation], anderes wurde aufgrund des kurzfristigen Überangebots auf dem lokalen Markt höchst billig abgegeben. Denn die Regierungen benötigten dringend Geld. Doch hatte „Jahrzehnte vor der Säkularisation ... bereits kriegs- und krisenbedingt ein Ausverkauf geistlicher Schätze ein[gesetzt]“, einiges wurde auch vor dem Zugriff der Behörden verborgen [448: W. WÜST, Schätze, 386]. Jedenfalls vermochten die rechtsrheinischen Säkularisierer, anders als Frankreich in den linksrheinischen Gebieten, trotz aller Bemühungen kurzfristig nicht so viel zu erlösen, wie sie gehofft hatten – auch wenn die „Gesamtbilanz“ staatlicher Einnahmen bis heute umstritten bzw. gar nicht zu erstellen ist [W. DEMEL, in: 427: R. BRAUN/J. WILD, Bayern]. Natürlich war die Säkularisation in gewissem Sinne ein staatlicher Griff nach der Kirche [447: M. WEITLAUFF, Staat]. Aber die Grenze zwi-

5. Aufgeklärter Absolutismus

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schen staatlicher und kirchlicher Sphäre war eben in dieser Zeit umstritten und wurde erst durch die Säkularisation im „modernen“ Sinn gezogen – was der katholischen Kirche in Deutschland, die nun keine „adelige Reichskirche“ mehr war, gerade im geistlich-religiösen Bereich neue Spielräume eröffnete, die bald genutzt wurden und auch von der heutigen Kirchengeschichtsschreibung, bei allem Bedauern wegen ideeller Verluste und menschlicher Tragödien, positiv bewertet werden [z. B. 446: W. WEISS, Würzburg]. Die formale Legitimation der bisher erwähnten Säkularisationen bot rechtsrheinisch bekanntlich der Reichsdeputationshauptschluss, dem 2003 eine neue Dokumentation, zudem auch ein Ausstellungskatalog gewidmet wurde [325: U. HUFELD, Reichsdeputationshauptschluß; 444: P. SCHMID/C. UNGER, 1803]. Dabei fand im Vergleich zur Klostersäkularisation die Mediatisierung geistlicher und weltlicher Territorien weniger Beachtung in Forschung und Öffentlichkeit. Aber natürlich erschienen auch hierzu, nicht zuletzt für Oberschwaben, einzelne Arbeiten, die sich dann oft besonders der Frage der Integration der mediatisierten Reichsritter, Reichsstädte oder Territorien widmeten, gegen die es zum Teil massive Widerstände gab [z. B. 340: W. D. GOODSEY, Nobles; 426: P. BLICKLE/A. SCHMAUDER, Mediatisierung; 428: C. BUMILLER, Adel; 432: D. HOHRATH u.a., Ende reichsstädtischer Freiheit; 457: C. A. HOFFMANN/R. KIESSLING, Integration; 459: A. KOHNLE u.a., Kurpfalz; Beiträge auch in: 431: V. HIMMELEIN/H. U. RUDOLF, Klöster]. Sie vollends zu brechen, vermochte Hardenberg in Franken während der 1790er Jahre noch nicht [vgl., unterschiedlich akzentuiert, R. ENDRES und W. DEMEL, bd. in: 474: T. STAMM-KUHLMANN, Kräfte]. Erst der RDHS und das Reichsende änderten die Lage [vgl. z. B. 442: A. SCHMID, 1806] und erfüllten in dieser Hinsicht eine „Brückenfunktion“, die auch ein neuer Sammelband verdeutlicht, indem er Beiträge zur Säkularisation mit Aufsätzen zu den napoleonischen „Modellstaaten“ kombiniert [435: H. KLUETING, 200 Jahre]. Dort behauptete K. ROB, „dass die maßlos exekutierte Verfügungsgewalt Napoleons über die Staatsdomänen deutschen Ministern ... um der Verteidigung der Interessen ihres Standes willen die Möglichkeit eröffnete, ... unbemerkt das Scheitern auch der französischen Staatsdomäne, genannt Königreich Westphalen, zu bewerkstelligen“ [in: ebd., 243]. Das Königreich – ein Opfer intriganter deutscher Minister? Davon liest man in dem neuen, von H. BURMEISTER herausgegebenen Sammelband nichts [455: Reformstaat]: Hier werden oppositionelle „deutsche Patrioten“ und restaurativ einge-

Neues zum Reichsdeputationshauptschluss und zur Mediatisierung

Weitere Forschungen zu den napoleonischen „Modellstaaten“

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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

stellte Adelige durchaus behandelt, doch erscheinen unter den höchsten Beamten eher einige französischer als deutscher Herkunft als nicht immer ganz loyal gegenüber ihrem König Jérôme, jedoch als durchaus fähig – ebenso wie dieser von der älteren Geschichtsschreibung oft in schwarzen Farben gemalte Herrscher selbst! Jedenfalls wird in diesem Band die liberale Judenpolitik gerühmt, ebenso die westfälische Konstitution von 1807 als erste moderne Verfassung und Beginn des Konstitutionalismus in Deutschland sowie vor allem die als Vorbild in Nachfolge- und Nachbarstaaten weiterwirkende, am französischen Beispiel orientierte Verwaltung. Auch J. ENGELBRECHT [in: 435: H. KLUETING, 200 Jahre] sieht in der tüchtigen französisch-deutschen Spitzenbürokratie des Großherzogtums Berg ab 1808 den Motor weitreichender Reformen, die freilich teilweise an der Adelsopposition, vor allem aber an der Kürze ihrer Wirkungszeit scheiterten. Damit fällt die Hauptschuld am Misserfolg der „Modellstaaten“ doch wieder Napoleon zu, der seine Schöpfungen überlastete und dann nicht einmal verteidigen konnte [H.-P. ULLMANN, in: 364: W. SPEITKAMP/DERS., Konflikt]. Immerhin: Der von ihm angestoßene rheinbündische Konstitutionalismus sollte, selbst in einzelnen Kleinstaaten weiter wirken [454: H. BRANDT/E. GROTHE, Konstitutionalismus] – schon weil man überall mit massiven Finanzierungsproblemen zu kämpfen hatte [Beiträge in: 468: J. KLOOSTERHUIS/ W. NEUGEBAUER, Finanzen]. Wie Forschungen zu den napoleonischen Modellstaaten können Neue Arbeiten zu den süddeutschen auch neue Arbeiten zu den Reformen in den süddeutschen RheinReformstaaten bundstaaten nunmehr auf eine große Quellenedition zurückgreifen [328: Quellen]. Die beiden Bände von I. U. PAUL enthalten sogar umfangreiche Studien zu den dargebotenen Materialien, die, zusammengenommen, die neueste Gesamtschau der württembergischen Reformen bieten [knapp zusammenfassend DIES., in: 366: H. SCHILLING, Reich, 343−355]. Eine Bilanz der bayerischen Reformzeit enthält schon E. WEIS’ Beitrag zur Neuauflage des Handbuchs der bayerischen Geschichte [in: 341: HBG]. Dessen zweiter Band der Montgelas-Biographie bereichert die Forschung noch durch zahlreiche neue Ergebnisse [463: DERS., Montgelas]. War das Reformprogramm des späteren Ministers bereits 1996 erneut betrachtet worden [456: M. HENKER u.a., Bayern], so veranlasste das Jubiläum der bayerischen Konstitution von 1808 einen Sammelband, der den Verfassungswandel in Bayern thematisierte und ihn mit demjenigen in anderen Ländern verglich. Mit der Konstitution war ein allererster Schritt zum „süddeutschen (Früh-)Konstitutionalismus“ getan. Doch

5. Aufgeklärter Absolutismus

139

wenn z. B. auch Nassau bereits 1814 eine Verfassung erhielt, so war es in der Rheinbundzeit tendenziell durch eine „Verwaltungsherrschaft“ geprägt worden – was erst recht für Hessen-Darmstadt gilt [458: W. JÄGER, Nassau; 273a: A. SCHULZ, Herrschaft]. Eigentlich hatte die 1806 erlangte Souveränität allen deutschen Ländern neue innenpolitische Spielräume eröffnet. In den mecklenburgischen Herzogtümern misslangen jedoch die Versuche zur Revision des Erbvergleichs von 1755, praktisch der Landesverfassung, bald nicht nur dank des ständischen Widerstands, sondern auch infolge der Uneinigkeit der Herzöge. In Schwedisch-Vorpommern scheiterten die auf eine Integration des Landes in den schwedischen Gesamtstaat angelegten Verfassungs- und Verwaltungsreformen an den folgenden Kriegswirren, dem innenpolitischen Umsturz in Schweden und schließlich der Übernahme des Landes durch Preußen. Immerhin: Hier blieben die Patrimonialgerichte abgeschafft, die Stadtgerichte jedoch erhalten, während Mecklenburg 1818 eine Landesjustizreform durchführte, 1821 die Patrimonialgerichte „teilverstaatlichte“ und, auch im Interesse der soziale Unruhen fürchtenden Ritter, eine neue Armenordnung erließ [M. MANKE, in: 354: DERS./E. MÜNCH, Verfassung; K. JANDAUSCH bzw. J. E. OLESEN, in: 460: M. NORTH/R. RIEMER, Ende; Beiträge in: 345: E. V. HEYEN, Verwaltungsreformen]. In Sachsen verhinderten geringer Reformdruck und der Konservativismus des Monarchen nennenswerte Reformen [W. MÜLLER, in: 461: A. SCHMID, Konstitution], nicht jedoch eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung. Ähnliches gilt für Österreich – mit Ausnahme der Heeres- und der Rechtsreformen. Für Preußen wurden die Zusammenhänge zwischen Finanzlage, Ständemacht und Reformpolitik sowie die Heeresreformen jüngst neu analysiert [468: J. KLOOSTERHUIS/W. NEUGEBAUER, Finanzen; 469: J. KLOOSTERHUIS/S. NEITZEL, Militär] – was die inzwischen geäußerte Kritik an dem in der 1. Auflage verwendeten Begriff „Stein-Hardenbergsche Reformen“ [B. SÖSEMANN, in: 471: DERS., Gemeingeist, 20] verstärken könnte. Ansonsten wurde, nach dem Überblick von I. MIECK [470: Preußen], im Gesamtbereich „Preußische Reformen“ eher deren „Umfeld“ als deren Entstehung erforscht (was zum Teil an der Quellenlage – der Vernichtung von Archivgut zur Reformzeit im Zweiten Weltkrieg – liegt). Man widmete sich biographisch den bekanntesten Protagonisten der Reform sowie Friedrich Wilhelm III. [464: H. DUCHHARDT, Stein; 472: T. STAMM-KUHLMANN, König; 473: DERS., Hardenberg] und machte eine „Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung“ [so als etwas zu bescheidene Selbstbezeichnung

„Reformunfähige“ deutsche Länder

Neuerscheinungen zu den preußischen Reformen

140

II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

474: T. STAMM-KUHLMANN, Kräfte]. Ein Sammelband von 1993 [471: B. SÖSEMANN, Gemeingeist] widmete sich eher der Historiographiegeschichte und dem Schicksal der Reformen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts (mit einer bemerkenswert skeptischen Einschätzung von I. MIECK hinsichtlich des langfristigen Erfolgs der Steinschen Städteordnung) als der Reformzeit selbst. Auch S. HAAS [465: Verwaltung] fragte nach der längerfristigen Umsetzung der Bürokratie- und Verwaltungsreformen und sah eine neue Verwaltungskultur entstehen. Obwohl A. HOFMEISTER-HUNGER zeigen konnte, wie systematisch Hardenberg die Öffentlichkeit in seinem Sinne zu lenken suchte [466: Pressepolitik], erhielt Preußen, anders als die süddeutschen „Reformstaaten“, bekanntlich vorerst keine gesamtstaatliche Verfassung. Das lag allerdings, wie W. NEUGEBAUER [in: 461: A. SCHMID, Konstitution] meint, wohl nicht an einer von Anfang an geschlossenen altständischen Opposition, sondern an der konfrontativen Politik Hardenbergs, die reformbereite Kräfte in den Provinzen nicht einband, sondern vor den Kopf stieß. Auch musste B. WUNDER feststellen, dass von den Verwaltungs-, Kommunal- und Beamtenreformen lediglich die territoriale Neugliederung Preußens und die Neuordnung der Zentralverwaltung nach 1815 unangefochten Bestand hatten. Alle anderen Maßnahmen scheiterten oder blieben bruchstückhaft: „Von einer Effizienz des preußischen Gesetzesstaates kann daher im Vormärz mit Ausnahme einiger Fachverwaltungen nicht gesprochen werden“ [in: 445: H.-P. ULLMANN/C. ZIMMERMANN, Restaurationssystem, zit. 90]. Gerade der eben erwähnte Band betont die Kontinuitätslinien Problematik des Begriffs „Deutsche zwischen „Reformzeit“ und „Vormärz“. Wenn O. LEHNER nunmehr Reformzeit“ für Österreich die Jahre 1749−1792 als „die Reformzeit“ bezeichnete, die Jahre 1792−1848 aber als „Zeit der Restauration“ [353: Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 140, 160], so wird die Problematik einer auf ca. 1799−1821 datierten „Deutschen Reformzeit“ vollends deutlich. Ohnehin verschieben sich die Gewichte, wenn man nicht nur die etatistisch-bürokratischen Reformen betrachtet, sondern auch die gesellschaftlichen Reformpotentiale einkalkuliert (H.-W. HAHN, in: 366: H. SCHILLING, Reich, 372−376). Nicht zuletzt wird der tatsächlich erzielte „Reformerfolg“ heute teilweise skeptischer betrachtet als in der Vergangenheit (vgl. 335: C. CLARK, Preußen, 393).

Ill. Quellen und Literatur Die Abkiirzungen fiir Zeitsch riften entsprechen den Siglen der " Hi storischen Zeitschrift".

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142

III. Quellen und Literatur

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2. Epochenübergreifende Darstellungen

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III. Quellen und Literatur

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