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German Pages 196 Year 2013
ENZYKLOPÄDIE DEUTSCHER GESCHICHTE BAND 71
ENZYKLOPÄDIE DEUTSCHER GESCHICHTE BAND 71 HERAUSGEGEBEN VON LOTHAR GALL IN VERBINDUNG MIT PETER BLICKLE ELISABETH FEHRENBACH JOHANNES FRIED KLAUS HILDEBRAND KARL HEINRICH KAUFHOLD HORST MÖLLER OTTO GERHARD OEXLE KLAUS TENFELDE
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE UND HISTORISCHE DEMOGRAPHIE 1800 – 2010 VON JOSEF EHMER
2., um einen Nachtrag erweiterte Auflage
OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN 2013
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Titelbild:. Harry Weber: „Die Anderen“. Österreichische Nationalbibliothek fol. 27, Nr. 16 Einbandgestaltung: Dieter Vollendorf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d.nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, D-81671 München www.degruyter.com/oldenbourg Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-71218-6 eISBN 978-3-486-78097-0
Vorwort
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Vorwort Die „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ soll für die Benutzer – Fachhistoriker, Studenten, Geschichtslehrer, Vertreter benachbarter Disziplinen und interessierte Laien – ein Arbeitsinstrument sein, mit dessen Hilfe sie sich rasch und zuverlässig über den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse und der Forschung in den verschiedenen Bereichen der deutschen Geschichte informieren können. Geschichte wird dabei in einem umfassenden Sinne verstanden: Der Geschichte der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Staates in seinen inneren und äußeren Verhältnissen wird ebenso ein großes Gewicht beigemessen wie der Geschichte der Religion und der Kirche, der Kultur, der Lebenswelten und der Mentalitäten. Dieses umfassende Verständnis von Geschichte muss immer wieder Prozesse und Tendenzen einbeziehen, die säkularer Natur sind, nationale und einzelstaatliche Grenzen übergreifen. Ihm entspricht eine eher pragmatische Bestimmung des Begriffs „deutsche Geschichte“. Sie orientiert sich sehr bewusst an der jeweiligen zeitgenössischen Auffassung und Definition des Begriffs und sucht ihn von daher zugleich von programmatischen Rückprojektionen zu entlasten, die seine Verwendung in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer wieder begleiteten. Was damit an Unschärfen und Problemen, vor allem hinsichtlich des diachronen Vergleichs, verbunden ist, steht in keinem Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die sich bei dem Versuch einer zeitübergreifenden Festlegung ergäben, die stets nur mehr oder weniger willkürlicher Art sein könnte. Das heißt freilich nicht, dass der Begriff „deutsche Geschichte“ unreflektiert gebraucht werden kann. Eine der Aufgaben der einzelnen Bände ist es vielmehr, den Bereich der Darstellung auch geographisch jeweils genau zu bestimmen. Das Gesamtwerk wird am Ende rund hundert Bände umfassen. Sie folgen alle einem gleichen Gliederungsschema und sind mit Blick auf die Konzeption der Reihe und die Bedürfnisse des Benutzers in ihrem Umfang jeweils streng begrenzt. Das zwingt vor allem im darstellenden Teil, der den heutigen Stand unserer Kenntnisse auf knappstem Raum zusammenfasst – ihm schließen sich die Darlegung und Erörterung der Forschungssituation und eine entsprechend gegliederte Auswahlbiblio-
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Vorwort
graphie an –, zu starker Konzentration und zur Beschränkung auf die zentralen Vorgänge und Entwicklungen. Besonderes Gewicht ist daneben, unter Betonung des systematischen Zusammenhangs, auf die Abstimmung der einzelnen Bände untereinander, in sachlicher Hinsicht, aber auch im Hinblick auf die übergreifenden Fragestellungen, gelegt worden. Aus dem Gesamtwerk lassen sich so auch immer einzelne, den jeweiligen Benutzer besonders interessierende Serien zusammenstellen. Ungeachtet dessen aber bildet jeder Band eine in sich abgeschlossene Einheit – unter der persönlichen Verantwortung des Autors und in völliger Eigenständigkeit gegenüber den benachbarten und verwandten Bänden, auch was den Zeitpunkt des Erscheinens angeht. Lothar Gall
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Inhalt
Inhalt Vorwort des Verfassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
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Enzyklopädischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Der geographische Rahmen der deutschen Bevölkerungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Quellen: Volkszählungen, Kirchenbücher, Zivilstandsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung . . . . . . . . 3.1 Bevölkerungswachstum im „langen“ 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Epoche der Katastrophen und die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik . . . . . . . 3.3 Bundesrepublik, DDR und das wiedervereinigte Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die langen Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Von der Mobilität zur Sesshaftigkeit: Binnenmigration und Verstädterung . . . . . . . . . . 4.2 Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit: Rückgang der Sterblichkeit und Anstieg der Lebenserwartung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Entwicklung der Fertilität im Übergang zu Geburtenkontrolle und Familienplanung . . . . 4.5 Der Bedeutungswandel von Heirat, Ehe und Unehelichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Wandel der Altersstruktur . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung 1. Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie .
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2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik . . 2.1 Paradigmen der Bevölkerungspolitik: Von der „Übervölkerungsangst“ zur „Entvölkerungsangst“ . 2.2 Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik . . . . .
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3. Migrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bevölkerungsgeschichte und Migrationsforschung 3.2 Transnationale Migrationen . . . . . . . . . . . . 3.3 Binnenmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Faktoren des Wandels der Mortalität . . . . . . . . 4.2 Säuglingssterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 . Fertilität und Geburtenrückgang . . . . . . . . . . . . .
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6. Heiratsverhalten und Unehelichkeit . . . . . . . . . . .
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7. Die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: ein „demographischer Übergang“? . . . . . .
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8. Nachtrag 2013 – Demografischer Wandel 1990–2010 . 8.1 Diskurs und Wissenschaft: Die Entdeckung des „demografischen Wandels“ . . . . . . . . . . . . 8.2 Bevölkerungsentwicklung, Altersstruktur und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Lebenserwartung und Sterblichkeit . . . . . . . . 8.4 Fertilität und Geburtenverhalten. . . . . . . . . .
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A. Quellen und Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Forschungsberichte, Wissenschaftsgeschichte, Theorien, Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übergreifende Darstellungen: Deutschland im internationalen Kontext . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Quellen und Literatur
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Inhalt
IX
3. Übergreifende Darstellungen und Sammelbände zur deutschen Bevölkerungsgeschichte, -theorie und -politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Epochenspezifische Darstellungen . . . . . . . . . 4.1 Deutscher Bund und Kaiserreich 1815–1914 . . 4.2 Weltkriege, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, Nachkriegsjahre (1914–1949) . . 4.3 DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Länder- und Regionalstudien . . . . . . . . . . . . 6. Lokale Fallstudien, Mikrogeschichten. . . . . . . . 7. Migrationen und Verstädterung . . . . . . . . . . . 8. Mortalität, Lebenserwartung, epidemiologische Transition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Fertilität und Geburtenkontrolle . . . . . . . . . . . 10. Heiratsverhalten und Unehelichkeit . . . . . . . . . 11. Demographischer Übergang . . . . . . . . . . . . . 12. Nachtrag 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Themen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Inhalt
XI
Vorwort des Verfassers Demographie, Historische Demographie und Bevölkerungsgeschichte sind junge Wissenschaftszweige, deren Untersuchungsgegenstand nur unscharf abgegrenzt ist. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf ihre Kernbereiche: Wachstum, Verteilung und Altersstruktur der Bevölkerung; Migration; Mortalität und Fertilität; und Heiratsverhalten. Wie jede Überblicksarbeit zur Bevölkerungsgeschichte steht sie vor einem strukturellen Problem. Die formalen Methoden der Demographie und ihrer historischen Subdisziplinen sind außerordentlich hoch entwickelt und bieten ein differenziertes Bild der realgeschichtlichen demographischen Strukturen und Prozesse. Weniger überzeugend sind dagegen die Angebote zur Erklärung dieser Strukturen und ihres Wandels. Demographische Theorien und Modelle sind in der Regel umstritten und oft nicht von langer Dauer. Im vorliegenden Band wurde aus dieser Spannung die folgende Konsequenz gezogen: Der erste, enzyklopädische Teil beschränkt sich weitgehend auf die deskriptive Darstellung der demographischen Strukturen und Trends des 19. und 20. Jahrhunderts. Erklärungsmodelle, Theorien und Begriffe werden erst im zweiten, forschungsorientierten Teil ausführlich diskutiert. Ein Vorzug von Demographie und Bevölkerungsgeschichte ist ihre Internationalität. Auch im vorliegenden Band wird versucht, die deutsche Entwicklung so weit wie möglich in vergleichender Perspektive zu betrachten und in der Theoriediskussion die wichtigsten internationalen Positionen zu berücksichtigen. Zugleich bestehen aber auch spezifisch deutsche wissenschaftsgeschichtliche Traditionen. Historische Demographie, die überwiegend Individualdaten auf lokaler Ebene vom 17. bis zum 19. Jahrhundert auswertet, Bevölkerungsgeschichte, die auf der Grundlage der amtlichen Statistik das 19. und 20. Jahrhundert behandelt, und die Bevölkerungswissenschaft, die demographische Entwicklungen der unmittelbaren Vergangenheit und Gegenwart analysiert, stehen in Deutschland relativ unverbunden nebeneinander. Der Band bemüht sich so weit wie möglich um eine Integration dieser drei Forschungsstränge. Ein weiteres Problem der deutschen Bevölkerungsgeschichte und Historischen Demographie besteht darin, dass ihre thematischen, zeitlichen und räumlichen Schwerpunkte ungleichge-
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Vorwort zur 2. Auflage
wichtig verteilt sind. Migration und Mortalität wurden wesentlich intensiver erforscht und diskutiert als etwa Fertilität und Heiratsverhalten. Zur Periode des Kaiserreichs liegen mehr Arbeiten vor als zu anderen historischen Perioden. Die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reichs wurden in der neueren Forschung weitgehend ausgeklammert, vor allem die Lokalstudien der Historischen Demographie sind auf den Westen Deutschlands konzentriert. Dieser ungleichgewichtige Forschungsstand ließ sich auch im vorliegenden Überblick nicht völlig ausgleichen. Eine letzte Besonderheit liegt im spezifischen Platz des Konstrukts „Bevölkerung“ in der deutschen Wissenschafts- und Realgeschichte. Bevölkerungsgeschichte und „erbbiologische“ Mikro-Demographie nahmen in der „Volksgeschichte“ und in der „Rassenkunde“ des „Dritten Reichs“ einen bedeutenden Platz ein. Der Begriff der „Bevölkerungspolitik“ wurde in den vergangenen Jahren zu einem der Leitbegriffe für die Erforschung des Nationalsozialismus, zu einem Überbegriff für die verschiedenen Aspekte seiner Vernichtungspolitik. Bevölkerungswissenschaftler spielten bei der Planung und Legitimierung dieser Politik eine wichtige Rolle. Eine deutsche Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts kann deshalb auf eine kritische wissenschaftsgeschichtliche Selbstreflexion nicht verzichten. Aus verschiedenen Gründen hat die Arbeit am vorliegenden Band länger gedauert, als ursprünglich geplant. Ich danke dem verantwortlichen Herausgeber Klaus Tenfelde für seine große Geduld und seine behutsamen Ermunterungen. Peter Becker, Thomas Buchner, Thomas Kroll, Norbert Ortmayr, Alexander Pinwinkler, Thomas Sokoll, Annemarie Steidl und Jörg Vögele danke ich für die kritische Lektüre des Manuskripts, Erika Ehmer für ihre Hilfe beim Lektorieren. Salzburg, im Sommer 2003
Josef Ehmer
Vorwort zur 2. Auflage Der Text für die erste Auflage dieses Buchs wurde 2003 abgeschlossen. Er beruht auf dem Forschungsstand bis einschließlich der 1990er-Jahre und bemühte sich, historisch-demografische Trends bis zur Jahrtausendwende darzustellen und sie mit Datenreihen – soweit
Vorwort zur 2. Auflage
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diese verfügbar waren – bis zum Jahr 2000 zu belegen. Seitdem sind mehr als zehn Jahre vergangen; in diesem kurzen Zeitraum hat sich die öffentliche Wahrnehmung der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland – wie überall in Europa – beträchtlich verändert. „Demografischer Wandel“ ist zu einem Leitbegriff der Gesellschaftsdiagnose und der Politik geworden. Im selben Zeitraum – und in Wechselwirkung damit – hat sich die demografische Forschung in Deutschland deutlich intensiviert und internationalisiert. Die Bevölkerungsentwicklung seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit im Jahr 1990 lässt sich nun sehr genau nachzeichnen. Sie zeigt zum einen die Fortsetzung langer demografischer Trends, zum anderen erstaunlich kurzfristige Veränderungen, vor allem in den neuen Ländern. Die ersten Ergebnisse des Zensus 2011, die am 31. Mai 2013 veröffentlich wurden, konnten in die zweite Auflage noch einbezogen werden. Die zweite Auflage dieses Buchs strebt danach, dem so schnell gewachsenen Interesse am „demografischen Wandel“ wie auch der Intensivierung der demografischen Forschung gerecht zu werden. Sie lässt den Text der ersten Auflage unverändert, versucht aber, ihn in einem ergänzenden Kapitel in zweifacher Weise zu aktualisieren. Das erste Ziel besteht darin, die wichtigsten Trends in der Entwicklung der deutschen Bevölkerung in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung, also von 1990 bis 2010, zu beschreiben sowie ihre Ursachen und Wirkungen zu diskutieren. Die dazu herangezogenen Quellen bestehen ganz überwiegend aus Forschungsergebnissen der Sozialwissenschaften, insbesondere der Demografie. Zugleich bleibt der spezifisch historische Anspruch des Buchs erhalten, nämlich den Blick auf langfristige Prozesse zu lenken und den aktuellen Wandel demografischer Strukturen, so neuartig er auch erscheinen mag, in eine längere historische Perspektive einzubetten. Es geht also um die Integration der Gegenwart in die deutsche Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zum Zweiten sollen aber auch neue Tendenzen und Problemstellungen der Forschung herausgearbeitet werden, die von allgemeiner, über die jüngste Geschichte hinausreichender Bedeutung sind. Dazu gehören, wie schon in der ersten Auflage, auch Forschungen zu Bevölkerungsdiskursen und -politiken. Im Unterschied zur ersten Auflage, in der „Enzyklopädischer Überblick“ und „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“ getrennt voneinander behandelt wurden, werden diese beiden Zugangsweisen hier integriert. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage ist die Bedeutung des World Wide Web als Speicher wissenschaftlicher Information und als Ort wissenschaftlicher Kommunikation enorm gestie-
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Vorwort zur 2. Auflage
gen. Die zweite Auflage bemüht sich deshalb, den Zugang zu Quellen und Literatur im Internet mit entsprechenden Verweisen zu unterstützen. Den ebenfalls veränderten sprachlichen Gewohnheiten entsprechend wird im Folgenden einheitlich die Schreibweise „Demografie“ benützt. Der Dank des Verfassers gilt allen jenen Kolleginnen und Kollegen, mit denen er in den vergangenen Jahren in interdisziplinären Forschungsgruppen in Kontakt stand. Dazu gehören vor allem das Schwerpunktprogramm 1106 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Das Konstrukt ,Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ,Dritten Reich‘“; die Akademiengruppe „Altern in Deutschland“; die Arbeitsgruppe „Zukunft mit Kindern – Fertilität und gesellschaftliche Entwicklung“; und das Internationale Geisteswissenschaftliche Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Anregungen aus diesen Diskussionszusammenhängen sind in den vorliegenden Text in stärkerem Maß eingegangen, als dies im Literaturverzeichnis dokumentiert werden kann, und sie gehen weit über die hier vorliegende Erweiterung der zweiten Auflage hinaus. Die Verantwortung für den Text liegt natürlich ausschließlich beim Autor. Wien/Berlin, im Juni 2013
Josef Ehmer
1. Der geographische Rahmen
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I. Enzyklopädischer Überblick 1. Der geographische Rahmen der deutschen Bevölkerungsgeschichte Der Begriff der Bevölkerung bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch die Einwohner eines bestimmten Territoriums, in der Regel einer politischen Einheit. Auf welches Territorium bezieht sich nun die deutsche Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts? Vor der Reichsgründung des Jahres 1871 ist der räumliche Bezugsrahmen der deutschen Bevölkerung keineswegs eindeutig. Der Deutsche Bund von 1815 bis 1866 umfasste zunächst 41, später 38 Staaten. Zu ihm gehörten die westlichen Teile der Habsburgermonarchie (die österreichischen Alpenländer und die böhmischen Länder), nicht aber die östlichen Teile des Königreichs Preußen (Ost- und Westpreußen, Posen). Als territoriale Einheit einer deutschen Bevölkerungsgeschichte des 19. Jahrhunderts eignet er sich nur begrenzt. In der Forschung werden zwei Wege beschritten, um diese Schwierigkeit zu überwinden. Die erste Möglichkeit besteht darin, auf Bevölkerungsangaben für ganz „Deutschland“ zu verzichten und sich auf die Entwicklung in einzelnen deutschen Staaten zu beschränken. Dabei erlangen diejenigen Staaten, die schon im frühen 19. Jahrhundert statistische Ämter eingerichtet hatten und dementsprechend vielfältige und verlässliche Daten bieten, besonderes Gewicht, vor allem Preußen, aber auch Bayern und Württemberg. Der zweite Weg, der in der Geschichtswissenschaft häufiger verfolgt wird, besteht darin, das Ergebnis der Nationalstaatsbildung von 1871 in die Geschichte zurückzuprojizieren. Die meisten Überblicksdarstellungen zur deutschen Bevölkerungsgeschichte des 19. Jahrhunderts bieten Datenreihen von 1816 an, die sich auf den Raum des späteren Deutschen Reichs beziehen. Dabei wird Schleswig-Holstein (ab 1866 bei Preußen) in der Regel von Anfang an der fiktiven territorialen Einheit „Deutschland“ zugerechnet, Elsass-Lothringen dagegen meistens erst ab seiner Angliederung an das Reich (1871). Von 1871 bis 1945 ist der räumliche Bezugsrahmen der jeweilige
Deutschland vor der Reichsgründung
Rückprojektion des Nationalstaats
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Grenzen des Deutschen Reichs
Bundesrepublik und DDR
Problematik nationaler Datenreihen
Demographisches Verhalten und Staatsgrenzen
I. Enzyklopädischer Überblick
Gebietsstand des Deutschen Reichs, zunächst in den Grenzen von 1871, ab 1920 in den im Friedensvertrag von Versailles (1919) festgelegten Grenzen. Das Saarland, das von 1920 bis 1935 unter der Verwaltung des Völkerbunds stand, wird in der Regel durchgehend zum Reichsgebiet gerechnet. Andererseits werden die vom nationalsozialistischen Regime 1938 bis 1940 annektierten Staaten und Territorien, die offiziell in das Reich eingegliedert worden waren, und auch die 1939 bis 1941 besetzten und unter deutsche Verwaltung gestellten Gebiete, die ebenfalls als zum nationalsozialistischen „Großdeutschen Reich“ gehörend betrachtet wurden, in bevölkerungsgeschichtliche Datenreihen meist nicht aufgenommen. Der Gebietsstand vom Ende des Jahres 1937 dient als räumlicher Bezugsrahmen der Bevölkerung bis 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezieht sich die Bevölkerungsgeschichte auf das im Potsdamer Abkommen (1945) festgelegte Gebiet bzw. (ab 1949) auf die Territorien der beiden deutschen Staaten Bundesrepublik und DDR. Das Saarland, von 1945 bis 1959 unter einem Sonderstatut, wird meist durchgehend der Bundesrepublik zugerechnet. Ab 1990 bildet das vereinigte Deutschland den Rahmen der Bevölkerungsgeschichte, wobei sich in der Forschung die Neigung verstärkt, im Rückblick auch die Entwicklung von 1945 bis 1990 unter eine gesamtdeutsche Perspektive zu stellen. Die deutsche Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bezieht sich also auf unterschiedliche Gebietsstände und rechtlich-politische Territorien, die erst im historischen Rückblick zu einer räumlichen Einheit zusammengefasst wurden. Die Konstruktion von „nationalen“ Datenreihen, die sich auf ein gesamtes Staatsgebiet beziehen, ist der Realität der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts angemessen und gängige Praxis der Bevölkerungsgeschichte. Trotzdem ist sie nicht unproblematisch. Sie suggeriert, dass in den Grenzen eines politischen Herrschaftsgebiets ein einheitliches demographisches Verhalten geherrscht habe, mit dem sich die Bevölkerung dieses Gebietes von anderen Bevölkerungen unterschied. Dies entspricht nicht den Befunden der historischen Forschung. Die Bevölkerungsgeschichte Deutschlands – wie jedes anderen genügend großen Territoriums – besteht aus einer Vielzahl von regionalen und sozialen Teilen, deren Entwicklung unterschiedlich, mitunter sogar entgegengesetzt verlief. Häufig ist das demographische Verhalten zwischen benachbarten Regionen diesseits und jenseits einer Staatsgrenze ähnlicher als zwischen Regionen innerhalb desselben Staatsgebiets. Dazu kommt, dass die Historische Demographie in den letzten Jahrzehnten vor allem Fragestellungen behandelt hat, die sich nicht auf
2. Quellen
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den Nationalstaat als quasi „natürliche“ Untersuchungseinheit beziehen. Sie untersucht das Verhalten von Individuen und sozialen Gruppen und die vielfältigen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Faktoren, die demographisches Verhalten (und seinen Wandel) beeinflussen. Vor allem historisch-demographische Mikrostudien verlassen den Nationalstaat als Untersuchungseinheit der Bevölkerungsgeschichte auf zweifache Weise: Einerseits durch die Konzentration auf kleine, überschaubare, auch individuelles Verhalten berücksichtigende Forschungsfelder; andererseits aber auch durch ein ausgeprägtes Interesse, die gewonnenen Ergebnisse mit jenen anderer Mikrostudien zu vergleichen, nicht nur im regionalen und nationalen, sondern auch im internationalen Rahmen.
Mikrostudien
2. Quellen: Volkszählungen, Kirchenbücher, Zivilstandsregister Die Bevölkerungsgeschichte stützt sich auf Daten, die aus der Verwaltungstätigkeit von Staaten, Kommunen, Kirchen und ähnlichen Institutionen hervorgegangen sind. Die Staatsbildungsprozesse der Frühen Neuzeit förderten das Streben nach Registrierung und zahlenmäßiger Erfassung der Bevölkerung. Am Beginn einer flächendeckenden Erhebung demographischer Daten standen vom 16. Jahrhundert an die katholische Kirche und eine zunehmende Zahl von protestantischen Landeskirchen, die ihre Geistlichen verpflichteten, in Kirchenbüchern alle Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle zu verzeichnen. In der Französischen Revolution wurde diese Tätigkeit von den Kirchen auf staatliche Organe übertragen. „Zivilstandsregister“ wurden unter napoleonischer Herrschaft auch in Teilen Deutschlands eingeführt und blieben in der preußischen Rheinprovinz, der Pfalz und in Rheinhessen auch nach 1815 in Kraft. In den übrigen deutschen Staaten fand erst zwischen den 1850er und den 1870er Jahren der Übergang von einer kirchlichen zu einer staatlichen Registrierung demographisch relevanter Ereignisse statt. 1875 wurde ein einheitliches für ganz Deutschland geltendes Registersystem geschaffen, das in seinen Grundzügen bis heute besteht. Seitdem verzeichnen lokale „Standesämter“ Geburten, Sterbefälle, Eheschließungen und Ehescheidungen und leiten die Daten an übergeordnete Verwaltungseinrichtungen weiter, darunter auch an statistische Ämter. Diese Daten dienen der Bevölkerungsgeschichte zur Konstruktion „vitalstatistischer Reihen“ und im Weiteren zur Analyse der „natürlichen“ Be-
Kirchenbücher
Staatliche Zivilstandsregister
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Seelenbeschreibungen
Langsame Vereinheitlichung der Volkszählungen
Geringe Verlässlichkeit der frühen Zählungen
I. Enzyklopädischer Überblick
völkerungsbewegung, wie die Entwicklung von Geburten und Sterbefällen und ihr Verhältnis zueinander bezeichnet werden. Die Zahl der Geburten, Sterbefälle oder Heiraten wird aber erst aussagekräftig, wenn sie auf eine Bevölkerung bezogen werden können, deren Größe und Zusammensetzung, insbesondere nach Alter und Geschlecht, bekannt sind. Die Ermittlung des Bevölkerungsstandes und der Bevölkerungsstruktur bildet das zweite Standbein der Bevölkerungsgeschichte. Die Erhebung des Bevölkerungsstandes bereitet aber von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart größere Schwierigkeiten als die Ermittlung der Bevölkerungsbewegung und die Quellenlage ist in diesem Bereich deutlich schlechter. Auch hier waren es zunächst die Kirchen, die so genannte „Seelenbeschreibungen“ durchführten. Das im 18. Jahrhundert stark ansteigende Interesse der Staaten an der Ermittlung ihres Bevölkerungsstandes stützte sich zunächst auf diese kirchlichen Listen und führte erst allmählich zur Durchführung eigener staatlicher „Volkszählungen“. In den einzelnen deutschen Territorien wurden solche Zählungen bis in das frühe 19. Jahrhundert mit sehr unterschiedlicher Intensität und mit sehr unterschiedlichen Methoden durchgeführt. Von 1815 an erfolgten allerdings eine Verallgemeinerung und eine Vereinheitlichung des Volkszählungswesens. Einen wesentlichen Anstoß dazu bildete die Gründung des Deutschen Bundes, der die Einzelstaaten verpflichtete, nach ihrer Bevölkerungszahl abgestufte finanzielle Beiträge zu leisten. Der Deutsche Zollverein (1834) sah für alle seine Mitgliedsstaaten ab 1834 Zählungen in einem dreijährigen Rhythmus vor, überließ ihnen aber ihre Gestaltung und Durchführung. Im Königreich Hannover wurden z. B. bis 1851 nur Haushaltsvorstände namentlich erfasst, die übrigen Haushaltsangehörigen dagegen nur zahlenmäßig. 1867 beteiligten sich erstmals auch die nicht dem Zollverein angehörenden deutschen Staaten an einer Zählung. Diese erste gesamtdeutsche Volkszählung wurde aber, ebenso wie die erste Zählung im Deutschen Reich 1871, noch von den Einzelstaaten mit unterschiedlichen Methoden durchgeführt. Gesamtstaatlich einheitliche Volkszählungen erfolgten von 1875 bis 1910 in einem fünfjährigen Rhythmus. An die Verlässlichkeit der Zählungen dürfen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine großen Erwartungen geknüpft werden. Schwankungen im Bereich von bis zu zehn Prozent sind durchaus möglich. Die in der Geschichtswissenschaft verbreiteten und auch im Folgenden benützten Daten sind das Ergebnis von Schätzungen und Berechnungen durch Historiker. Im Lauf des 19. Jahrhunderts stieg allerdings die Verlässlichkeit der Daten an. Einen wesentlichen Beitrag
2. Quellen
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dazu leistete die Professionalisierung der amtlichen Statistik, die in der Gründung von statistischen „Bureaus“ – und später „Ämtern“ – zum Ausdruck kam. Statistische Landesämter wurden von 1805 (Preußen) bzw. 1808 (Bayern) an bis 1861 (Hessen) in den meisten deutschen Staaten gegründet. In den 1860er Jahren begannen auch die großen Städte mit der Gründung von städtischen statistischen Ämtern, die sich um die Erhebung besonders differenzierter Daten bemühten. Den Abschluss der Vereinheitlichung der deutschen Bevölkerungsstatistik brachte 1872 die Bildung des „Kaiserlichen Statistischen Amtes“, das von nun an für die Durchführung der reichsweiten Volkszählungen, für die Aufbereitung der Daten und die Veröffentlichung der Ergebnisse verantwortlich war. In der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ führte diese Behörde, nun unter der Bezeichnung „Statistisches Reichsamt“, ihre Tätigkeit weiter. Regelmäßigkeit und Einheitlichkeit des Volkszählungswesens im Kaiserreich wurden aber in der Republik und in der nationalsozialistischen Diktatur nicht fortgeführt. Im Krieg (1916 und 1917) und unmittelbar nach Kriegsende (1919) hatte es zwar Volkszählungen gegeben, deren Ergebnisse aber völlig unzureichend waren. In der Weimarer Republik wurde eine einzige brauchbare Zählung durchgeführt, nämlich 1925. Das „Dritte Reich“ veranstaltete zwei Zählungen, 1933 und 1939. In dieser Periode wurde die Bevölkerungsstatistik verstärkt für „völkische“ und dann auch rassistische Ziele eingesetzt. 1939 wurde nach der „Volkszugehörigkeit“ und – auf einer Ergänzungskarte – auch nach der in den Nürnberger Gesetzen (1935) definierten „rassischen Abstammung“ gefragt, um mit Hilfe der Volkszählung Juden und Angehörige anderer religiöser und ethnischer Minderheiten identifizieren zu können. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs initiierten die Besatzungsmächte 1946 eine gemeinsame Zählung in allen vier Besatzungszonen, die aber nur ein unzureichendes Ergebnis brachte. Die Gründung der Bundesrepublik führte zur Einrichtung eines „Statistischen Bundesamtes“ (1949), das insgesamt vier Volkszählungen durchführte, zunächst etwa alle zehn Jahre, dann in größeren Abständen (1950, 1961, 1970 und 1987). Auch in der DDR fanden vier Zählungen statt (1950, 1964, 1971 und 1981). Zwischen den Zählungsjahren führten und führen die jeweiligen statistischen Ämter eine „Fortschreibung“ der Bevölkerung durch, die sich auf die Daten der Standesämter und der Meldeämter stützt. Seit 1957 beruht die Berechnung des Bevölkerungsstandes auch auf dem „Mikrozensus“, einer jährlich erhobenen, repräsentativen Stichprobe von einem Prozent der Bevölkerung.
Statistische Ämter
Bevölkerungsstatistik im „Dritten Reich“
Mikrozensus
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Quellen und Methoden der Historischen Demographie
„Erbbiologische“ Mikro-Demographie
I. Enzyklopädischer Überblick
Die deutsche Forschungstradition ist von einer Spannung zwischen Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie geprägt (vgl. dazu Kapitel II.1). Während die Bevölkerungsgeschichte versucht, Einzeldaten zusammenzufassen und demographische Prozesse und Strukturen für größere Bevölkerungsgruppen zu rekonstruieren, nimmt die Historische Demographie auch Handlungen und Motive einzelner Menschen in ihren familialen und häuslichen Kontexten in den Blick. Auch die Historische Demographie stützt sich dabei auf Kirchenbücher und Volkszählungslisten, beschränkt sich allerdings auf den mikrogeschichtlichen Raum einzelner oder einiger weniger Pfarreien, Dörfer oder Stadtteile. Der Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, den gesamten Lebenslauf einzelner Individuen und die Generationenfolge von Familien zu erfassen und in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext integrieren zu können. Die Rekonstruktion von demographischen Lebensläufen einzelner Menschen aus den Angaben von Geburts-, Heirats- und Sterbebüchern wird als „Familienrekonstitution“ bezeichnet. In Deutschland begannen schon im späten 19. Jahrhundert Genealogen damit, die Informationen der Kirchenbücher einzelner Pfarreien zu Familienbüchern oder „Ortssippenbüchern“ zusammenzufassen. In den 1920er Jahren expandierte dieses Interesse im Rahmen einer völkisch und „erbbiologisch“ orientierten Anthropologie, und im Nationalsozialismus wurde diese Methode zum Kern „rassenkundlicher“ Forschungen, die es ermöglichen sollten, jedes Individuum zweifelsfrei der deutschen „Bluts- und Volksgemeinschaft“ zuordnen bzw. von ihr ausschließen zu können. Die Verknüpfung dieser Forschungen mit der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik hat nach 1945 zu einer deutlichen Distanz gegenüber diesen Quellen geführt. Erst in den 1970er Jahren wurden sie von einer neuen Generation von historischen Demographen aufgegriffen, die nicht aus der deutschen bevölkerungsgeschichtlichen Tradition hervorgegangen waren, sondern sich an westeuropäischen, vor allem französischen und englischen Vorbildern orientierten und sich die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung zu Eigen machten.
3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung 3.1 Bevölkerungswachstum im „langen“ 19. Jahrhundert Bevölkerungswachstum im europäischen Vergleich
Die deutsche Bevölkerung ist im „langen“ 19. Jahrhundert sehr stark gewachsen. Für 1816 wird die Zahl der Einwohner auf dem Gebiet des
3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung
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späteren Deutschen Reichs, Elsass-Lothringen eingeschlossen, auf rund 25 Millionen geschätzt, am Vorabend des Ersten Weltkriegs lag sie knapp unter 68 Millionen. Ein schnelles Bevölkerungswachstum erfolgte in dieser Periode in ganz Europa, aber in Deutschland war es besonders deutlich ausgeprägt. Am Beginn des 19. Jahrhunderts wies Deutschland, nach Russland und Frankreich, die drittgrößte Einwohnerzahl auf, ganz knapp gefolgt von den Ländern der Habsburgermonarchie und von Italien. 1914 war das Deutsche Reich hinter Russland an die zweite Stelle gerückt, hatte Frankreich überholt, Österreich-Ungarn deutlich zurück gelassen, und den Abstand zu Italien und Großbritannien vergrößert. In relativer Hinsicht blieb das deutsche Bevölkerungswachstum allerdings hinter jenem von Großbritannien und Russland zurück. Die Einwohnerzahl von Großbritannien stieg zwischen 1816 und 1914 auf rund das Vierfache, von Russland auf rund das Dreieinhalbfache, von Deutschland auf das 2,7fache. Die übrigen großen europäischen Staaten kamen an diese Wachstumsraten nicht heran. Der starke Bevölkerungszuwachs in Deutschland verlief in einem ungleichmäßigen Rhythmus. Nach den Napoleonischen Kriegen und auch noch in den 1820er Jahren deuten die Bevölkerungszahlen auf ein starkes Wachstum hin. In dieser Periode sind die Quellen allerdings noch unzuverlässig (vgl. dazu Kapitel I.2). Möglicherweise ist der rasche Anstieg der Bevölkerungszahl zwischen 1816 und 1840 (vgl. Tabelle 1) nicht real, sondern das Ergebnis einer effizienteren administrativen Erfassung der Einwohner. Im übrigen Kontinentaleuropa wären jedenfalls jährliche Wachstumsraten von über einem Prozent in dieser Periode ganz ungewöhnlich. Im Vormärz und noch mehr in den 1850er Jahren verlangsamte sich das Bevölkerungswachstum. Von den 1860er Jahren an begann es sich wieder zu beschleunigen und im Kaiserreich wies es – von einer leichten Abschwächung in den 1880er Jahren abgesehen – eine außerordentliche Dynamik auf. Zwischen 1900 und 1910 erreichte die jährliche Zuwachsrate mit rund 1,5 Prozent ihren Höhepunkt. Die Bevölkerung nahm in dieser Periode schneller zu als jemals zuvor und jemals danach in der deutschen Geschichte. Der Bevölkerungszuwachs des 19. Jahrhunderts verlief nicht nur in zeitlicher, sondern auch in regionaler Hinsicht sehr ungleichmäßig. Die einzelnen Teile Deutschlands trugen in ganz unterschiedlichem Ausmaß zum Wachstum bei und veränderten damit ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung. Das Königreich Sachsen, einer der kleineren, aber gewerblich und industriell am höchsten entwickelten deutschen Staaten, wies ein besonders starkes Bevölkerungswachstum auf. Zwischen 1816 und 1910 stieg die Einwohnerzahl auf das Vierfache an, von rund
Rhythmen des Wachstums
Höhepunkt des Wachstums
8 Sachsen und Preußen
Drei Wachstumszonen innerhalb Preußens
Rheinland und Westfalen
Zentralraum Berlin
Geringes Wachstum im Süden
I. Enzyklopädischer Überblick
1,2 auf 4,8 Millionen. Nur wenig geringer war das Wachstum in Preußen, dem mit Abstand größten Einzelstaat Deutschlands. Preußen erhöhte im selben Zeitraum seine Einwohnerzahl von 10,4 auf 40,2 Millionen und seinen Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung von 42 auf 62 Prozent. Dabei fielen aber die preußischen Annexionen des Jahres 1866 kräftig ins Gewicht. Die Einverleibungen von Hannover, Schleswig und Holstein, Hessen/Kassel, Nassau und einigen kleineren Territorien vermehrten die preußische Bevölkerung um rund 4,5 Millionen. Sachsen und Preußen wiesen ähnlich hohe Wachstumsraten auf wie sonst in Europa nur Großbritannien. In Preußen traten drei Wachstumszonen besonders deutlich hervor. In der ersten Jahrhunderthälfte nahm die Bevölkerung im Osten Preußens rasch zu, vor allem in den agrarischen Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen und Pommern. Von den 1870er Jahren an gingen die Zuwachsraten in diesem Gebiet aber deutlich zurück und der Anteil des Ostens an der Bevölkerung Deutschlands nahm wieder ab. Eine umgekehrte Entwicklung nahmen das Rheinland und Westfalen, also eine der Kernregionen der Industrialisierung. Bis in die 1860er Jahre lag hier das Bevölkerungswachstum zwar über dem deutschen Durchschnitt, war aber im Vergleich zum Osten Preußens niedrig. In der Periode des Kaiserreichs erfolgte dagegen ein rasanter Anstieg. Die Einwohnerzahl des Rheinlands und Westfalens stieg zwischen 1871 und 1910 von 5,3 auf 11,3 Millionen, also in knapp 40 Jahren auf mehr als das Doppelte! Ein ähnlich dramatisches Wachstum wurde von keiner anderen größeren Region auch nur annähernd erreicht. Die dritte hervorgehobene Wachstumszone Preußens bildeten die Hauptstadt Berlin und ihr Umland. Im Unterschied zu den beiden vorher behandelten Regionen verlief hier die Bevölkerungszunahme relativ kontinuierlich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch, wenn sie sich auch im Kaiserreich noch merklich beschleunigte. 1816 lebten in Brandenburg und Berlin rund 1,3 Millionen Menschen oder 5,5 Prozent der deutschen Bevölkerung, 1910 dagegen 6,2 Millionen oder 9,5 Prozent. Das Bevölkerungswachstum Preußens verlief im 19. Jahrhundert also in drei unterschiedlichen Bahnen: in der ersten Jahrhunderthälfte in der Zunahme der ländlichen Bevölkerung der Ostprovinzen; in der zweiten Jahrhunderthälfte im Bevölkerungsanstieg in den Ballungszentren des rheinisch-westfälischen Industriegebiets; durch das ganze Jahrhundert hindurch im Aufstieg der Hauptstadt Berlin zu einer der großen europäischen Metropolen. Der Süden Deutschlands blieb hinter dieser Dynamik zurück. Auch hier stieg die Bevölkerung an, aber nur langsam. Die drei süd-
3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung
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deutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden zählten 1816 rund sechs Millionen Einwohner, 1910 rund 11,5. Mit diesem langsamen Wachstum verloren sie innerhalb der deutschen Bevölkerung an Gewicht. 1816 lebten in Bayern, Baden und Württemberg rund 26 Prozent der deutschen Bevölkerung, 1910 nur mehr 18 Prozent. Von den Zuwachsraten her gesehen, weist der Süden Deutschlands mehr Ähnlichkeiten mit Italien, Spanien oder den Ländern der Habsburgermonarchie auf als mit Preußen, Sachsen oder Großbritannien. Auch die meisten mittel- und norddeutschen Regionen, mit Ausnahme der großen Hafenstädte, verzeichneten nur ein langsames Wachstum. Bevölkerungswachstum entsteht, wenn mehr Menschen geboren werden als sterben und wenn mehr Menschen zuwandern als abwandern. Das Bevölkerungswachstum des „langen“ 19. Jahrhunderts beruhte ausschließlich auf dem Geburtenüberschuss, wie die Differenz zwischen der Zahl der Geburten und der Sterbefälle genannt wird. Vor der Reichsgründung schwankte die Sterbeziffer zwischen 25 und 30 pro 1000 Einwohner, die Geburtenziffer zwischen 35 und 40. Es wurden also jedes Jahr rund 10 Menschen pro 1000 Einwohner mehr geboren als starben. Geburten und Todesfälle lagen immer noch auf einem hohen Niveau, das für vorindustrielle Gesellschaften charakteristisch gewesen war, aber die drei großen todbringenden Geißeln Seuchen, Hunger und Kriege waren deutlich schwächer geworden. Im Kaiserreich stieg der Geburtenüberschuss kräftig an. In den ersten Jahren nach der Reichsgründung lag er bei rund einer halben Million pro Jahr, nach der Jahrhundertwende bei über einer Million. Dies war weniger darauf zurückzuführen, dass mehr Menschen geboren worden wären, sondern dass die Sterblichkeit sank (vgl. dazu die Kapitel I.4.3 und I.4.4 sowie Tabelle 2). Zuwanderung spielte für das Bevölkerungswachstum des 19. Jahrhunderts keine Rolle. Ganz im Gegenteil war Deutschland in dieser Periode ein Auswanderungsland. Rund fünf Millionen Deutsche wanderten ab, vor allem nach Übersee (vgl. dazu Kapitel I.4.2). Der Geburtenüberschuss, die so genannte „natürliche“ Bevölkerungsvermehrung, war so stark, dass auch diese hohe Auswanderung das Wachstum nicht bremste. Die regionalen Unterschiede des Bevölkerungswachstums hingen allerdings eng mit einer sehr starken Binnenmigration zusammen. Vor allem das nordrheinisch-westfälische Industriegebiet und der Zentralraum Berlin-Brandenburg profitierten von innerdeutscher Zuwanderung.
Geburtenüberschuss als Quelle des Wachstums
Bevölkerungszunahme trotz Auswanderung
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I. Enzyklopädischer Überblick
3.2 Die Epoche der Katastrophen und die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik
Demographischer Wandel in der Weimarer Republik
Geringer Einfluss der Bevölkerungspolitik auf Kinderwünsche
Mit dem Ersten Weltkrieg fand das extreme Bevölkerungswachstum des Deutschen Reichs sein Ende. Die deutsche Bevölkerung nahm auch weiterhin zu, aber nur mehr langsam. Dies ist zum einen Ausdruck langfristig wirkender Prozesse, eines Wandels des demographischen Verhaltens, zum anderen aber auch die Folge der großen gesellschaftlichen Katastrophen dieser Jahre: der beiden Weltkriege und der nationalsozialistischen Herrschaft. Auch in der Weimarer Republik nahm die Sterblichkeit noch weiter ab, aber Deutschland wurde nun stärker von einem schnellen Rückgang der Geburten geprägt. In ganz Europa fand in dieser Periode der Übergang zu bewusster Geburtenkontrolle und Familienplanung statt (vgl. dazu Kapitel I.4.4). Wenn man sich auf die Friedenszeiten beschränkt, dann war 1933 ein erster Tiefpunkt der Geburtenziffer erreicht: 15 Geburten pro 1000 Einwohner standen 11 Todesfälle gegenüber. Deutschland wies immer noch einen Geburtenüberschuss auf, der allerdings im Vergleich zum 19. Jahrhundert stark zurückgegangen war (vgl. Tabelle 2). Im „Dritten Reich“ stiegen die Geburtenziffern bis 1940 – dem ersten vollen Kriegsjahr – an, aber darin kommt keine grundlegende Veränderung des demographischen Verhaltens zum Ausdruck. Kinderwünsche, die in der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 nicht realisiert werden konnten, wurden in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nachgeholt. Dies zeigt, dass viele Menschen positive Erwartungen an das neue Regime knüpften. Einen Erfolg der pronatalistischen Elemente der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik kann man in dieser Entwicklung aber nicht sehen. In den 1920er und 1930er Jahren blieb die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Frau im Lauf ihres Lebens zur Welt brachte, ziemlich konstant bei rund zwei. Der Zeitpunkt einer Geburt wurde nun sorgfältiger geplant, durchaus in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen und politischen Lage. Die Zahl der Kinder, die man insgesamt haben wollte, wurde aber weder von der Konjunktur noch von der Bevölkerungspolitik nachhaltig beeinflusst. Im Ganzen war die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik eher von einem „extremen Antinatalismus“ (G. Bock) als von Pronatalismus geprägt (vgl. dazu Kapitel II.2.2). Der geringe Geburtenüberschuss sorgte für einen Anstieg der deutschen Bevölkerung zwischen 1919 und 1939 um rund sieben Millionen. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert war dies ein schwaches
3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung
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Wachstum. Auch die geographische Mobilität war in dieser Periode sehr gering. Sowohl die grenzüberschreitenden als auch die innerdeutschen Wanderungen waren deutlich zurückgegangen. Dies führte auch zu einer relativ hohen Konstanz der regionalen Verteilung der deutschen Bevölkerung, wenn man von den Gebietsverlusten im Gefolge des Ersten Weltkriegs absieht, die vor allem das demographische Gewicht des Ostens Deutschlands stark verringert hatten. Von den Trends des Kaiserreichs setzten sich allerdings zwei auch in der Weimarer Republik fort: die Bevölkerungsgewinne des Zentralraums um Berlin und des Rheinlands und Westfalens. Die beiden großen Kriege und die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik führten zu extremen Brüchen der deutschen Bevölkerungsgeschichte. Schon die Bevölkerungsbilanz des Ersten Weltkriegs war erschreckend. Genaue Daten sind bis heute nicht verfügbar, aber man schätzt, dass allein durch direkte Kriegseinwirkungen 2,5 Millionen Militär- und Zivilpersonen den Tod fanden. Weitere rund 4,5 Millionen verlor die deutsche Bevölkerung durch den Geburtenausfall und die Mehrsterblichkeit unter der Zivilbevölkerung in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren. Der lange Trend des Geburtenrückgangs hatte sich in den Kriegsjahren dramatisch beschleunigt, die Sterblichkeit war dagegen empor geschnellt. In den Jahren 1915 bis 1918 lag die Zahl der Todesfälle deutlich über jener der Geburten, ein Verhältnis, das durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch nie aufgetreten war. Auch die im Frieden von Versailles festgelegten Gebietsabtrennungen führten zum Rückgang der auf deutschem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung. Man schätzt ihn auf knapp sieben Millionen Menschen. Die Zahl der Rückwanderer aus den abgetrennten Gebieten und ebenso die Zahl der Einwanderer und Flüchtlinge in den Jahren nach dem Krieg waren im Vergleich dazu gering und betrugen höchstens 1,5 Millionen. Insgesamt dürfte die deutsche Bevölkerung 1920 um rund 12 Millionen – oder fast ein Fünftel des Standes von 1910 – weniger gezählt haben als dies ohne Krieg der Fall gewesen wäre. Die Bevölkerungsbilanz des „Dritten Reichs“ fällt um einiges dramatischer aus. Die nationalsozialistische Herrschaft setzte ungeheure Bevölkerungsverschiebungen in Gang. Schon in den ersten Wochen und Monaten nach der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 flohen rund 30 000 bis 40 000 seiner politischen Gegner ins Ausland. In den folgenden Jahren folgten ihnen etwa 280 000 bis 330 000 Deutsche jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, nach der Annexion Österreichs und der Zerschlagung der Tschechoslowakei weitere 130 000 österreichische und 33 000 tschechische Juden. Insgesamt suchten mehr
Hohe Konstanz der Bevölkerungsstruktur in der Zwischenkriegszeit
Demographische Folgen des Ersten Weltkriegs
Flucht aus dem „Dritten Reich“
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Zwangsmigration durch „Lebensraumpolitik“
Deportationen im besetzten Polen
Zwangsarbeiter
„Rücksiedlung“, Flucht, Vertreibung
I. Enzyklopädischer Überblick
als eine halbe Million Menschen allein aus dem deutschsprachigen Raum Zuflucht im Exil. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs gewannen erzwungene Migrationen eine bis dahin ungeahnte Dimension. Die nationalsozialistischen Ziele der Eroberung neuen „Lebensraums“ im Osten, der ethnischen Säuberung bzw. Homogenisierung ihres neuen Herrschaftsbereichs und der Vernichtung von als „rassisch minderwertig“ angesehenen Menschen, setzten riesige Bevölkerungsbewegungen in Gang. Den Anfang machte die Umsiedlung von mehr als 550 000 Angehörigen deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen, die – zum Teil freiwillig, überwiegend aber gezwungen – aus ihren teilweise jahrhundertealten Siedlungsgebieten aus dem Baltikum, aus Südtirol, aus Wolhynien und Bessarabien, aus der Bukowina und der Dobrudscha „heim ins Reich“ geholt wurden. Ihnen war die Rolle zugedacht, die gerade eroberten und dem Deutschen Reich einverleibten Gebiete zu „germanisieren“. Dies wiederum setzte die Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung voraus bzw. in Gang. Aus den annektierten Teilen Polens wurden schon vom Herbst 1939 bis zum Frühjahr 1941 rund 1,2 Millionen polnische Bürger, unter ihnen eine halbe Million Juden, in das ebenfalls unter deutscher Verwaltung stehende „Generalgouvernement Polen“ deportiert. Hunderttausende Franzosen wurden aus dem Elsass und aus Lothringen vertrieben, tausende Slowenen aus Kärnten und der Südsteiermark. Eine weitere riesige Gruppe von Zwangsmigranten bildeten die in der deutschen Kriegswirtschaft eingesetzten Ausländer. Von 1940 an waren Landwirtschaft und Industrie in zunehmendem Maß auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Die deutschen Siege am Beginn des Krieges brachten ein riesiges Arbeitskräftereservoir in die Gewalt des nationalsozialistischen Regimes. Vor allem Kriegsgefangene und Zivilpersonen der besetzten Staaten wurden zur Arbeit in Deutschland gezwungen. Im Sommer 1944 leisteten rund 7,8 Millionen Menschen aus 20 europäischen Ländern in Deutschland Zwangsarbeit. Die meisten stammten aus der Sowjetunion (2,8 Millionen), aus Polen (1,7 Millionen) und aus Frankreich (1,3 Millionen). Der militärische Rückzug der Wehrmacht war zunächst von „Rücksiedlungen“, dann von Flucht und Vertreibung begleitet. Zwischen Anfang 1943 und Januar 1945 wurden 450 000 Deutsche aus Osteuropa in das „Altreich“ umgesiedelt. Ihre Zahl wurde weit übertroffen von jener der Flüchtlinge aus den deutschen Ostprovinzen, die im Herbst 1944 und im Frühjahr 1945 vor der vorrückenden Roten Armee nach Mittel- und Westdeutschland flohen. Im Mai 1945 dürfte ihre Zahl
3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung
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drei Millionen erreicht haben, von denen ein Drittel unmittelbar nach Kriegsende wieder in ihre Heimat zurückkehrte. Auch ein Teil der Zivilbevölkerung in Mittel- und Westdeutschland wurde in der Endphase des „totalen Krieges“ zur Migration gezwungen. Vor allem Bewohner von Großstädten flüchteten vor den Bombardements der Alliierten, aber auch vor der zunehmend schlechteren Versorgung, auf das Land. Die Bevölkerung der Städte des späteren Nordrhein-Westfalen z. B. war im Sommer 1944 auf 64 Prozent des Standes von 1939 gefallen, im April 1945 unter 50 Prozent. In Köln, der größten und am stärksten betroffenen Stadt der Region, war die Bevölkerung auf 15 Prozent des Vorkriegsstandes gesunken. Von den Behörden wurden in ganz Deutschland rund 5,6 Millionen Bewohner aus Groß- und Industriestädten evakuiert, vor allem in die gebirgigen Landschaften Mitteldeutschlands und Bayerns. Nach Kriegsende strömten die Menschen wieder in die Städte zurück, die 1946 bereits 80 Prozent, 1947 etwa 90 Prozent ihres alten Standes erreichten. Das demographische Ergebnis der nationalsozialistischen Herrschaft ist traumatisch. Zunächst erfolgte ein sprunghafter Anstieg der deutschen Bevölkerung durch Eroberungen und Annexionen. In den formell in das Deutsche Reich eingegliederten Gebieten (vor allem Österreich, das Sudetenland und die polnischen Westgebiete) lebten 1940 rund 20 Millionen Menschen, in den „unter deutscher Verwaltung“ stehenden Gebieten (vor allem das polnische „Generalgouvernement“ und das „Protektorat Böhmen und Mähren“) weitere 27 Millionen. Dazu kam die Herrschaft über die Bewohner der im Krieg besetzten Gebiete. Wie sich am Ende des Krieges zeigte, wurde diese kurzfristige Herrschaft über Europa, auch wenn man zunächst nur auf die deutsche Bevölkerung blickt, mit einem enormen Blutzoll bezahlt. Die Verluste der Wehrmacht und anderer militärischer Verbände werden auf 3,8 Millionen Menschen geschätzt, unter der Zivilbevölkerung sind etwa zwei Millionen Tote zu verzeichnen, unter den Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten weitere 1,2 Millionen. Zusammen fielen der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Krieg mindestens sieben Millionen Deutsche zum Opfer. Geburtenausfall und Mehrsterblichkeit ohne direkte Kriegseinwirkung bewirkten einen Verlust von ebenfalls rund sieben Millionen Menschen. Der Tod war im „Dritten Reich“ aber höchst selektiv. Vor allem darf nicht vergessen werden, dass die nationalsozialistische Rassenpolitik von einem engen „Ineinandergreifen von Umsiedeln und Aussiedeln, von Selektion und Völkermord“ (G. Aly) gekennzeichnet war. In den eroberten Ostgebieten wurden riesige Ghettos und Vernichtungs-
Großstädte im „totalen Krieg“
Rückkehr in die Städte
Gewaltsame Expansion des „Dritten Reichs“
Demographische Konsequenzen des NS-Regimes
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Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden
Opfergruppen
Vernichtung der europäischen Juden
Demographische Bilanz des Vernichtungskriegs
Displaced Persons
I. Enzyklopädischer Überblick
lager angelegt, in denen die jüdische Bevölkerung zusammengetrieben und schließlich planmäßig ermordet wurde. Allein aus dem „Altreich“ wurden von Oktober 1941 an rund 135 000 und aus dem annektierten Österreich weitere 50 000 Juden in Vernichtungslager deportiert, das waren fast alle, die zu diesem Zeitpunkt hier noch lebten. 1933 hatten in Deutschland rund 525 000 Personen gelebt, die sich zum jüdischen Glauben bekannten. Insgesamt 870 000 Menschen waren von den Nürnberger Rassengesetzen zu „Nicht-Ariern“ erklärt worden. 1945 lebten nur mehr 25 000 Juden beider Kategorien in Deutschland. Von den 206 000 jüdischen Österreichern waren 1945 nicht mehr als 5500 im Land und am Leben geblieben. Auch von den 30 000 deutschen Roma und Sinti überlebten nur wenige. 190 000 körperlich und geistig behinderte Menschen wurden im Zuge des „Euthanasie-Programms“ ermordet. Dazu kommen hunderttausende Opfer unter den aus verschiedensten Gründen in den Konzentrationslagern inhaftierten Menschen, seien es Angehörige des politischen Widerstands, Zeugen Jehovas, Homosexuelle usw. Die wahre Dimension des nationalsozialistischen Terrors wird aber erst sichtbar, wenn man den Blick auf die Gesamtheit der von den Deutschen besetzten bzw. mit Krieg überzogenen Länder richtet. Aus ganz Europa, soweit der deutsche Einfluss reichte, wurden die Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft in den Osten des deutschen Herrschaftsbereichs verschleppt. Insgesamt fielen rund sechs Millionen europäischer Juden der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik zum Opfer. Rund die Hälfte von ihnen wurde in Vernichtungslagern quasi „fabrikmäßig“ getötet, ein Viertel wurde von SS, Polizei- und Wehrmachtseinheiten erschossen, ein Viertel kam in Ghettos, Konzentrationslagern und auf Todesmärschen zu Tode. Die Gesamtzahl aller Toten des Zweiten Weltkriegs in Europa konnte bisher nur annähernd geschätzt werden, sie liegt aber sicherlich bei mehr als 50 Millionen. Die Sowjetunion, Polen und Jugoslawien hatten mit 10 bis 20 Prozent ihrer gesamten Bevölkerung die höchsten Verluste zu tragen. Das Ausmaß der Menschenverschiebungen wurde mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes sichtbar. Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und die wenigen Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager bildeten eine riesige Zahl von Displaced Persons, wie sie die Alliierten nannten. Ihre Zahl wurde bei Kriegsende auf 11 bis 12 Millionen geschätzt, rund 4,5 Millionen befanden sich allein in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Im Lauf des Jahres 1945 kehrten die meisten von ihnen in ihre alte Heimat zurück.
3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung
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Eine große Gruppe strebte dies allerdings nicht mehr an. Mehr als 700 000 Displaced Persons emigrierten nach Übersee, vor allem in die USA, nach Kanada und Australien, und ein Teil blieb als „heimatlose Ausländer“ in Deutschland. Zum Ende des Krieges befanden sich auch 7,6 Millionen deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft, davon 5,4 Millionen in den Lagern der westlichen Alliierten, 2,2 Millionen in sowjetischen Lagern. Die meisten Kriegsgefangenen der Westmächte wurden schon 1945 bis 1947 freigelassen, aus den sowjetischen Lagern kehrten die letzten Gefangenen 1955 heim. Nach Kriegsende schlug die Politik der „ethnischen Säuberung“ auf die Deutschen zurück. Im Potsdamer Abkommen vom August 1945 wurde festgelegt, die Deutschen aus den nun unter sowjetische und polnische Verwaltung gestellten Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie sowie die deutschen Minderheiten in den ostmitteleuropäischen Staaten nach Deutschland umzusiedeln. In einer Mischung von Flucht und Massenvertreibung verließen zwischen 1945 und 1949 weitere 11 bis 12 Millionen Menschen ihre alten Wohngebiete in Polen und der Tschechoslowakei, in kleinerem Ausmaß auch in Jugoslawien, Ungarn und Rumänien. Rund zwei Millionen von ihnen haben Flucht und Vertreibung nicht überlebt. 3.3 Bundesrepublik, DDR und das wiedervereinigte Deutschland Die erste Volkszählung nach dem Krieg – die aber aufgrund der hohen Fluktuation der Bevölkerung und der noch nicht gefestigten Verwaltung als unzuverlässig gilt – wies im Oktober 1946 für Deutschland in seinen neuen Grenzen 63 bis 65 Millionen Menschen aus, darunter rund zehn Millionen Flüchtlinge, Vertriebene, Displaced Persons der verschiedensten Art. In den nun abgetrennten Gebieten des ehemaligen Deutschen Reichs hatten vor dem Krieg etwa zehn Millionen Menschen gelebt. Man kann also annehmen, dass die Mehrheit derer, die überlebt hatten – im Unterschied zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg – in Nachkriegsdeutschland ihre neue Heimat fand. Die demographischen Folgen des Krieges hatten alle vier Besatzungszonen betroffen. Mit 3,6 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen hatte die sowjetische Zone sogar den größten Anteil aufgenommen. Mit dem Beginn des Wiederaufbaus und des Kalten Kriegs, mit der zunehmenden Trennung zwischen den westlichen und der sowjetischen Besatzungszone und schließlich mit der Gründung von Bundesrepublik und DDR begann sich auch die Bevölkerung der beiden deutschen Staaten in zwei unterschiedliche Richtungen zu entwickeln.
Flüchtlinge in Nachkriegsdeutschland
Unterschiede zwischen den Besatzungszonen
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Bevölkerungszunahme in der Bundesrepublik
Bevölkerungsrückgang in der DDR
Immigration als entscheidender Faktor
Abwanderung vom Osten nach dem Westen
I. Enzyklopädischer Überblick
Die Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik war von einem ständigen Wachstum geprägt. Von der Mitte der 1950er bis zur Mitte der 1970er Jahre war es sehr stark, mit jährlichen Wachstumsraten, die teilweise über einem Prozent lagen; in den späten 1970er und den 1980er Jahren war es schwach. Insgesamt stieg die Bevölkerung auf dem Gebiet der Bundesrepublik von 45 (1946) auf 63 (1990) Millionen. Die DDR dagegen war das einzige Land in Europa mit einer schrumpfenden Bevölkerung. Die Zahl der Einwohner auf ihrem Gebiet sank von 18 (1946) auf 16 (1990) Millionen. Der Bau der Mauer 1961 verlangsamte den Bevölkerungsrückgang, kehrte ihn aber nicht um. Nach 1990 haben sich diese unterschiedlichen Entwicklungen fortgesetzt. Die Bevölkerung der alten Länder stieg im Jahr 2000 auf 67 Millionen an, jene der neuen Länder fiel auf 15 Millionen zurück. Die „natürliche Bevölkerungsbewegung“ zeigt dabei in Bundesrepublik und DDR eine relativ hohe Ähnlichkeit. In der Phase des „Babybooms“ wiesen beide deutschen Staaten einen moderaten Geburtenüberschuss auf. Ab 1969 (DDR) bzw. 1972 (BRD) sank die Geburtenziffer im Großen und Ganzen dauerhaft unter die Sterbeziffer, in der Bundesrepublik wesentlich deutlicher ausgeprägt als in der DDR, die in den 1980er Jahren mehrmals eine knapp positive Geburtenbilanz aufwies. Ein radikaler Rückgang der Fertilität erfolgte hier erst nach der „Wende“ (vgl. dazu Kapitel I.4.4). Der wesentliche Unterschied zwischen Bundesrepublik und DDR, und zugleich der entscheidende Faktor der Bevölkerungsentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, lag aber im Wanderungsgeschehen. Die Bundesrepublik war in ihrer ganzen Geschichte ein Einwanderungsland (vgl. dazu Kapitel I.4.2). Bis zur Mitte der 1970er Jahre trugen „Babyboom“ und Immigration gemeinsam zum Bevölkerungswachstum bei, in den 1990er Jahren glich die Zuwanderung das Geburtendefizit mehr als aus. Im sehr geringen Bevölkerungswachstum der späten 1970er und der 1980er Jahre überlagerten sich dagegen der Rückgang der Geburten und ein zeitweiliger Rückgang der Einwanderung. Die Bevölkerungsgeschichte der DDR war dagegen von einer ständigen Abwanderung geprägt: stark bis 1961, schwach, aber trotzdem kontinuierlich auch nach dem Bau der Mauer. Diese Tendenz setzte sich auch nach der Wiedervereinigung fort. Der Wanderungssaldo zwischen Ost- und Westdeutschland war 1990, nach dem Fall der Mauer, sprunghaft auf rund 350 000 Menschen angestiegen. In der Folge ging er zurück, und 1997 wanderten nur 10 000 Menschen mehr von Ost nach West als umgekehrt. Von da an nahm der Wanderungsverlust der neuen Länder aber wieder zu und stieg auf rund 61 000 im Jahr
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3. Phasen der Bevölkerungsentwicklung
2000 an. In einzelnen deutschen Regionen erreichte die Abwanderung dramatische Dimensionen. Der innerdeutschen Bevölkerungsbewegung entspricht auch eine unterschiedliche Attraktivität für Zuwanderer aus dem Ausland. Diese zogen ganz überwiegend in die alten Länder. Als Folge davon ist der Ausländeranteil im Osten Deutschlands außerordentlich gering, in den meisten Ländern unter zwei Prozent. Alle diese Tendenzen zusammen finden im Rückgang des Anteils der DDR bzw. der neuen Länder an der gesamten deutschen Bevölkerung ihren Ausdruck: Er fiel von 27 (1950) auf rund 18 (2000) Prozent. Berlin und sein Umland konnten unter den Bedingungen der Spaltung und des Kalten Kriegs, aber auch nach der Wiedervereinigung, das demographische Gewicht des späten Kaiserreichs und der Zwischenkriegszeit nicht wiedererlangen. Aber auch die westlichen Länder entwickelten sich ungleichmäßig. Nordrhein-Westfalen erhöhte seinen Bevölkerungsanteil bis in die frühen 1970er Jahre, seither stagniert dieser aber. Der wirtschaftliche Strukturwandel der letzten Jahrzehnte führte in dieser alten Industrieregion zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums. Die dynamischste Entwicklung fand umgekehrt in Süddeutschland statt. Bayern und Baden-Württemberg erhöhten ihren Anteil an der gesamten deutschen Bevölkerung zwischen 1950 und 2000 auf nunmehr 27 Prozent – ungefähr so viel, wie schon am Beginn des 19. Jahrhunderts (vgl. dazu Tabelle 3). Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, 1816–2000 Jahr
Bevölkerung (in Mio.)
1816 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910
24,8 26,1 29,4 32,8 35,3 37,6 40,8 45,1 49,2 56,0 64,6
Wachstum (in %)
12,6 11,0 8,2 6,5 8,5 10,5 9,2 14,2 15,2
Jahr
Bevölkerung (in Mio.)
Wachstum (in %)
1920 1930 1940
61,7 65,1 69,8
5,5 7,3
1950 1960 1970 1980 1990 2000
68,4 72,7 77,7 78,3 79,4 82,2
6,3 6,9 0,7 1,4 3,6
Wachstum: in Prozent des vorhergehenden Bevölkerungsstandes. Gebietsstände: 1816–1871: von 1871; 1920–1940: von 1937; 1950–2000: vom 3. 10. 1990.
Starke Dynamik in Süddeutschland
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I. Enzyklopädischer Überblick
Tabelle 2: Die „natürliche“ Bevölkerungsbewegung, 1820–2000 Geburten und Sterbefälle pro 1000 Einwohner Jahr
GBZ
STZ
Saldo
Jahr
GBZ
STZ
1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910
39,9 35,5 36,4 37,2 36,4 38,5 37,6 35,7 35,6 29,8
24,4 27,4 26,5 25,6 23,2 27,4 26,0 24,4 22,1 16,2
15,5 8,1 9,9 11,6 13,2 11,1 11,6 11,3 13,5 13,6
1920 1930 1940
25,9 17,5 20,0
15,1 11,1 12,7
1950 1960 1970 1980 1990 2000
16,2/16,5 17,4/17,0 13,4/13,9 10,1/14,6 11,4 9,3
10,5/11,0 11,6/13,6 12,1/14,1 11,6/14,2 11,6 10,2
Saldo 10,8 6,4 7,3 5,7/ 5,5 5,8/ 3,4 1,3/–0,2 –1,5/ 0,4 –0,2 –0,9
GBZ: Geburtenziffer; STZ: Sterbeziffer; Saldo: Differenz (positive Werte: Geburtenüberschuss; negative Werte: Sterbefallüberschuss). Gebietsstände: 1820–1870: von 1871; 1920–1940: von 1937; 1950–1980: BRD/DDR; 1990–2000: vom 3. 10. 1990.
Tabelle 3: Regionale Verteilung der Bevölkerung, 1816–2000 (in Prozent der Gesamtbevölkerung)
Ostdeutschland (a) Brandenburg u. Berlin Rheinland u. Westfalen Preußen zusammen Süddeutschland (b) Sachsen Restliches Nord- u. Mitteldeutschland Gesamtbevölkerung (in Mio.)
1816
1871
1910
19,7 5,2 12,0 42,0 29,0 4,8 24,2
24,0 7,0 13,1 60,2 23,7 6,2 9,9
19,8 9,6 17,4 62,2 20,7 7,4 9,7
24,8
41,0
64,6
1925 Ostdeutschland (c) Brandenburg u. Berlin Rheinland u. Westfalen Preußen zusammen Süddeutschland (d) Sachsen Restliches Nord u. Mitteldeutschland Gesamtbevölkerung (in Mio.)
14,2 10,5 19,1 61,5 19,8 7,9 10,8 63,2
19
4. Die langen Trends
Nordrhein-Westfalen Bayern, Baden-Württemberg BRD/alte Länder zusammen Brandenburg u. Berlin (e) DDR/neue Länder zusammen Gesamtbevölkerung (in Mio.)
1950
1970
1990
2000
18,9 22,5 73,1
21,8 24,9 78,0 7,6 22,0 77,7
21,5 25,4 81,1 7,6 18,9 79,4
21,9 27,6 81,6 7,3 18,4 82,2
26,9 68,4
Die Tabelle enthält ausgewählte Staaten, Regionen und Länder. a) Ost- u. Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien. b) Bayern, Württemberg, Baden, Elsass-Lothringen, (ohne Hohenzollern) c) Ostpreußen, Posen-Westpreußen, Ober- u. Niederschlesien, Pommern (Gebietsstand 1925) d) Bayern, Baden, Württemberg, (ohne Hohenzollern) e) Brandenburg, Berlin Ost u. West (Gebietsstand 3. 10. 1990) Quellen zu den Tabellen 1 bis 3: 10: STATISTISCHES BUNDESAMT, Bevölkerung; 56: M. HUBERT, Deutschland; 48: W. KÖLLMANN, Bevölkerung und Raum; 6: A. KRAUS, Quellen; 60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte; 8: R. RYTLEWSKI/M. OPP DE HIPT, Bundesrepublik; 11: STATISTISCHES JAHRBUCH.
4. Die langen Trends 4.1 Von der Mobilität zur Sesshaftigkeit: Binnenmigration und Verstädterung Binnenmigration, die Wanderung innerhalb Deutschlands, stellt in Geschichte und Gegenwart mit großem Abstand die zahlenmäßig wichtigste Migrationsform dar. Schon in der Frühen Neuzeit war die räumliche Mobilität der Bevölkerung sehr hoch. Im Lauf des 19. Jahrhunderts stieg sie weiter an und im Kaiserreich gelangte sie zu ihrem bisherigen Höhepunkt. Nach den Volkszählungen von 1871 und 1907 lebte fast die Hälfte der Bevölkerung nicht an ihrem Geburtsort, hatte also mindestens einmal den Wohnsitz gewechselt. Zwischen den 1860er Jahren und dem Ersten Weltkrieg sind mindestens 60 Millionen Menschen innerhalb Deutschlands gewandert. Die Binnenwanderung war von kleinräumiger Migration geprägt. Die meisten Migranten waren „Nahwanderer“, die sich innerhalb benachbarter Gemeinden bewegten und bestenfalls die Grenzen eines Kreises überschritten. Deutlich geringer war die Zahl der „Fernwanderer“, die über die Grenzen eines Regierungsbezirks, einer Provinz oder
Hohe Mobilität innerhalb Deutschlands
20 Nah- und Fernwanderung
Gleichgewicht von Zu- und Abwanderung
Permanente Zirkulation Ost-WestWanderung
Wanderungsgewinne der Städte
I. Enzyklopädischer Überblick
eines Landes hinaus gingen. Der Anteil der Fernwanderer machte 1871 in Preußen weniger als ein Fünftel, 1907 im ganzen Reich etwas weniger als ein Drittel aller Binnenmigranten aus. Zahlenmäßig vorherrschend waren also nicht die großen spektakulären Wanderungen, sondern die vielen kleinen, in den Alltag eingebundenen Schritte. Kleinund großräumige Wanderungen zeichneten sich dadurch aus, dass sie keiner Einbahnstraße folgten. Sowohl in den Städten wie auch in den Landgemeinden lagen die Zahlen der Zu- und der Abwanderer erstaunlich nahe beisammen. In den Jahren 1859 bis 1868 gaben in Preußen von allen Personen, die als Zuwanderer in Stadt- oder Landgemeinden registriert wurden, nur etwa ein Achtel bis ein Viertel an, dass es dauerhaft einen neuen Wohnsitz begründen wollten. Für die große Masse der Wandernden war Migration ein längerer Prozess, der durch viele Dörfer und Städte hindurchführte. Die Massenmigration des 19. Jahrhunderts trug weniger die Züge einer einmaligen Ortsveränderung, als vielmehr jene einer permanenten Zirkulation. Trotzdem lassen sich im Kaiserreich auch Wanderungsströme mit eindeutiger Zielrichtung identifizieren. Besonders bemerkenswert war die Ost-West-Wanderung, die zwischen 1860 und 1910 rund vier Millionen Menschen von den preußischen Ostprovinzen in den Westen führte: etwa die Hälfte nach Berlin und Brandenburg, große Gruppen nach Sachsen, in die norddeutschen Hafenstädte und – vor allem – in die Industrieregionen Rheinland-Westfalens. 1907 waren mehr als 800 000 Einwohner der Rheinprovinz und Westfalens aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen und Schlesien zugewandert, die meisten von ihnen Polen, Masuren oder Angehörige anderer slawischer Minderheiten. Schwieriger zu erfassen ist der Wanderungsstrom vom Land in die Städte. Das Wachstum der Städte ist nicht nur auf Zuwanderung zurückzuführen, sondern bis 1914 auch auf eine überwiegend positive Geburtenbilanz. Gerade in den Städten stand einer großen und steigenden Zahl von Zuwanderern eine große und ebenso steigende Zahl von Abwanderern gegenüber. Dies findet seine Erklärung auch darin, dass unter den Abwandernden die gerade erst Zugewanderten überproportional vertreten waren. Die hohe Mobilität des 19. Jahrhunderts ist zum großen Teil den so genannten Durchwanderern geschuldet. Dass im Verlauf des Jahrhunderts Großstädte und insbesondere Industriestädte doch stärker wuchsen als andere Siedlungsformen, ist darauf zurückzuführen, dass in ihnen die Zahl der Zuwanderer die Zahl der Abwanderer in den meisten Jahren knapp überstieg. Wenn sie in der Regel auch nur kleine Wanderungsgewinne erzielten, so haben sich diese über die
4. Die langen Trends
21
Jahre und Jahrzehnte hinweg dennoch summiert. Gegenüber den kleinen Städten und den Dörfern, in denen ja ebenfalls eine hohe Mobilität anzutreffen war, hatten Großstädte und Industriegebiete den Vorteil, dass sie Zuwanderer nicht nur aus ihrer unmittelbaren Umgebung anzogen, sondern auch aus großer Entfernung. Die Berliner Bevölkerung stammte 1907 zu 41 Prozent aus Berlin selbst, zu 18 Prozent aus dem engeren Umland, der Provinz Brandenburg, zu 28 Prozent aber aus den östlichen Provinzen Preußens. Der Rest von 13 Prozent wies eine breite Streuung der Herkunftsgebiete auf, darunter auch einen kleinen Anteil von Ausländern. Fernwanderung trug zum überdurchschnittlichen Wachstum der Großstädte und der Industrieregionen erheblich bei. Das soziale Profil der Wandernden weist relativ eindeutige Merkmale auf. Die meisten Migranten waren jung, wobei insbesondere die Altersgruppen zwischen 15 und 30 Jahren überproportional vertreten waren. Die meisten waren auch, wie es ihrem Alter entsprach, ledig und wanderten ohne ihre Familien. Die Zahl der jungen Männer lag nur knapp über jener der jungen Frauen. Die Massenmigration des 19. Jahrhunderts bedeutete also nicht, dass große Bevölkerungsgruppen lebenslang unterwegs gewesen wären. Die hohe räumliche Mobilität dieser Periode erscheint vielmehr als Bestandteil einer lebenszyklischen Übergangsphase, die sich früher oder später abschwächte oder in eine dauerhafte Niederlassung mündete – in der Herkunfts- bzw. Heimatgemeinde der Wandernden oder an einem der Orte, die man auf der Wanderung passierte. Vermutlich gab es nur sehr wenige Menschen, die nicht zumindest in ihrer Jugend Erfahrungen mit Migration gesammelt hätten. Die außerordentlich hohe Mobilität in der Periode des Kaiserreichs wird sichtbar, wenn man versucht, einen Überblick über das gesamte Migrationsgeschehen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert zu gewinnen. Die Berechnung von Migrationsraten (Zahl der Zuwanderer pro 100 Einwohner) ermöglicht es, die Entwicklung der Binnenmigration in langen Datenreihen darzustellen (vgl. dazu Abb.1). Zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg erreichte die räumliche Mobilität in Deutschland ihren Höhepunkt. In den Berliner Vorstädten Wilmersdorf, Schöneberg und Charlottenburg kamen etwa 1910 auf 100 Einwohner zwischen 34 und 46 Zuwanderer! Schon in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg scheint die Binnenmigration ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Die Kriegsjahre selbst und die unmittelbare Nachkriegszeit zeigen eine sprunghafte und uneinheitliche Entwicklung, die 1918 und 1919 zu den höchsten bisher gemessenen Migrationsraten führte. In der ersten
Soziales Profil der Migranten
Zunahme der Mobilität im 19. Jahrhundert
22
I. Enzyklopädischer Überblick Abbildung 1: Migrationsraten in Deutschland, 1824–1988
Migrationsrate: Zahl der Zuwanderer in eine Gemeinde pro 100 Einwohner. Datenbasis: 1824–1865: Zuwanderungsstatistiken von rund 200 Gemeinden des Regierungsbezirks Düsseldorf; 1881–1912: Statistiken der deutschen Großstädte; 1919–1940: Daten für alle Gemeinden Preußens; 1950–1988: Daten für alle Gemeinden der Bundesrepublik. Starke Linie: durchschnittliche Migrationsrate; schraffiertes Feld: Bandbreite um den Durchschnitt +/– 20 Prozent. Quelle: 169: S. HOCHSTADT, Mobility, 277.
Rückgang der Mobilität nach dem Ersten Weltkrieg
Geringe Mobilität in der Bundesrepublik
Hälfte der 1920er Jahre erfolgte ein dramatischer Absturz, der sich als dauerhafter Rückgang der Mobilität erwies. Der Zweite Weltkrieg und die unmittelbaren Nachkriegsjahre waren mit ungeheuren Bevölkerungsverschiebungen verbunden, die aus dem langfristigen Trend der Migrationsentwicklung völlig herausfallen. Etwa ab 1950 stabilisierten sich in der Bundesrepublik die Verhältnisse neuerlich auf einem niedrigeren Niveau der räumlichen Mobilität. Die Entwicklung der Binnenmigration in Deutschland lässt damit einen langfristigen Zyklus erkennen: Ein Anstieg im 19. Jahrhundert wurde von einem starken Rückgang im 20. Jahrhundert abgelöst. Die deutsche Bevölkerung der Gegenwart weist eine historisch außerordentlich hohe Ortsstabilität auf. Ihre räumliche Mobilität ist geringer als im 19. Jahrhundert und vermutlich auch niedriger als in der Frühen Neuzeit. Das geringe Ausmaß der Binnenmigration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird am Beispiel der DDR besonders deutlich
4. Die langen Trends
23
sichtbar. Nach dem Ende der kriegsbedingten Bevölkerungsverschiebungen lagen die Migrationsraten in der DDR in den 1950er Jahren auf einem Niveau von etwa sieben Wanderungen pro 100 Einwohner, was dem Stand der Bundesrepublik entsprach. In den 1960er Jahren wurde die Binnenmigration in der DDR aber schwächer. Zwischen 1970 und 1988 waren jährlich nur mehr rund 2,5 Wanderungen pro 100 Einwohner zu verzeichnen, kaum mehr als die Hälfte des ohnehin schon niedrigen Niveaus der Bundesrepublik. Die Schließung der Außengrenzen der DDR durch das SED-Regime 1961 bis 1989 trug zum geringen Ausmaß der Mobilität bei, kann sie aber doch nur zum kleinen Teil erklären. Die geringe räumliche Mobilität in der DDR wurde auch durch die Wiedervereinigung nicht grundlegend geändert und nicht einmal die „Wende“ selbst war mit dramatischen Migrationsbewegungen verbunden. So spektakulär im Sommer 1989 die Flüchtlingsströme über die ungarische Grenze in politischer Hinsicht waren und so stark auch die Westemigration in den ersten Monaten nach dem Fall der Mauer zu sein schien, so handelte es sich quantitativ doch um eher bescheidene Bewegungen. 1989 und 1990 übersiedelten jeweils rund 400 000 DDRBürger in den Westen. Dies war ohne Zweifel viel, verglichen mit den wenigen Zehntausend pro Jahr, denen das SED-Regime die Auswanderung gestattet hatte. Trotzdem war die Migration von der DDR in die Bundesrepublik 1989/90 erstaunlich gering, wenn man sie mit dem „normalen“ Wanderungsgeschehen dieser Jahre vergleicht. 1989 und 1990 verzeichnete die Bundesrepublik jeweils rund 1 180 000 Zuwanderer aus dem Ausland (d. h. ohne Übersiedler aus der DDR) und rund 580 000 Auswanderer in das Ausland. In denselben Jahren wechselten auch mehr als 700 000 Bundesbürger von einem der alten Bundesländer in ein anderes. Auch in der DDR lag die Zahl der Binnenwanderer 1988 (495 000) über jener der Auswanderer von 1998 und 1990. „Die amtlich registrierte Binnenwanderung in der BRD war somit selbst im Jahr der Öffnung der DDR-Grenze zur BRD und zu Westberlin größer als die migrationelle Mobilität der DDR-Bevölkerung insgesamt“ (S. Grundmann). Am Beginn des 19. Jahrhunderts lebte die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung auf dem Land. In Preußen wohnten während der ersten Hälfte des Jahrhunderts fast drei Viertel der Gesamtbevölkerung in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern. Natürlich gab es seit dem späten Mittelalter in Deutschland viele Städte, die sich in manchen Regionen – wie z. B. Sachsen – zu Städtelandschaften verdichteten, aber die meisten von ihnen waren klein und beherbergten nur wenige tausend Einwohner. Um 1800 wiesen nur zwei oder drei Dutzend
Noch geringere Mobilität in der DDR
Flucht und Auswanderung aus der DDR
Ost-West-Wanderung nach der Wende
Verstädterung
24
I. Enzyklopädischer Überblick
deutsche Städte mehr als 10 000 Einwohner auf und nur ein halbes Dutzend mehr als 50 000. Zu ihnen gehörten mit Dresden, Köln, München, Frankfurt/Main, Breslau oder Danzig die Residenzen der größeren deutschen Staaten und die traditionellen Handelsstädte. Am oberen Ende der Skala gab es nur zwei Großstädte mit mehr als hunderttausend Einwohnern: Berlin, das schon zur Mitte des 18. Jahrhunderts diese Schwelle überschritten hatte, und Hamburg.
Tabelle 4: Bevölkerung nach Ortsgrößen (in Prozent)
1816 1834 1852 1871 1890 1910
a)
b)
c)
a)
b)
c)
74 74 73 64 53 40
24 24 24 31 35 39
2 2 3 5 12 21
1939 30 1961 21 1980 6 1990 (BRD) 6 1990 (DDR) 24 2000 7
38 45 60 61 49 62
32 34 34 33 27 31
Ortsgrößen: a) –2000 b) 2000–100 000 c) 100 000- Einwohner. 1816–1852: Preußen; 1871–1939: Deutsches Reich; 1961–1980: BRD. Quellen: 60: MARSCHALK, Bevölkerungsgeschichte, 184; 11: STATISTISCHES JAHRBUCH.
Wachstum der Großstädte im Kaiserreich
Vielfältige Wurzeln der Großstädte
Die Entwicklung der Großstädte (mit mehr als 100 000 Einwohnern) macht den folgenden Trend am klarsten sichtbar. Zunächst stieg ihre Zahl nur sehr langsam an und noch im Jahr der Reichsgründung betrug sie nicht mehr als acht. Dann allerdings gewann der Verstädterungsprozess eine ungeheure Dynamik. Zwischen 1871 und 1910 stieg die Zahl der Großstädte auf 48, also auf das Sechsfache an und der Anteil der Bewohner der Großstädte an der deutschen Gesamtbevölkerung wuchs von 4,8 auf 21,3 Prozent. Die absoluten Zahlen sind noch beeindruckender. 1871 lebten zwei Millionen Deutsche in Großstädten, 1910 rund 14 Millionen, ein Anstieg auf das Siebenfache! In dieser Periode allgemeinen starken Bevölkerungswachstums wuchsen die Großstädte wesentlich stärker als jede andere Kategorie. Das Wachstum erfasste überwiegend Städte, die als politische, Verwaltungs-, Handels- und Dienstleistungszentren eine lange Tradition aufwiesen und im Lauf des 19. Jahrhunderts auch zu industriellen Standorten wurden. Insbesondere die modernsten Industrien des späten 19. Jahrhunderts, Maschinenbau und Elektrotechnik, fanden in Großstädten günstige Bedingungen vor. Ein Teil der neuen Großstädte ging aber unmittelbar auf die
4. Die langen Trends
25
Entwicklung der Industrie zurück. Das wichtigste deutsche Beispiel ist das Ruhrgebiet, in dem eine ganze Reihe von Ortschaften, die am Beginn des Jahrhunderts zwei-, drei- oder bestenfalls fünftausend Einwohner aufgewiesen hatten, am Ende des Jahrhunderts zu Großstädten geworden waren wie z. B. Essen, Duisburg, Oberhausen, Bochum, Gelsenkirchen, Mülheim und andere. Diese vielfältigen Wurzeln der deutschen Großstädte führten dazu, dass sich im Verstädterungsprozess des 19. Jahrhunderts das traditionelle polyzentrische Städtesystem Deutschlands sogar noch verstärkte. Sicherlich wuchs Berlin rasch zu einer internationalen Metropole heran, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts Wien als die bis dahin größte mitteleuropäische Stadt überholte und am Beginn des 20. Jahrhunderts fast drei Millionen Einwohner zählte, wenn man alle jene Vorstädte und Gemeinden des engeren Umlandes einbezieht, die 1920 in das nunmehrige „Groß-Berlin“ eingemeindet wurden. Trotzdem gelangte Berlin nicht zu einer Dominanz, die mit jener von Paris für Frankreich, Wien für die Habsburgermonarchie und dann für die Republik Österreich und London für England vergleichbar wäre. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich der Verstädterungsprozess in Deutschland fort, wenn auch nur mehr langsam. Die Zahl der Großstädte stieg in der Zwischenkriegszeit wie auch nach 1945 weiter an. 1939 gab es im Deutschen Reich schon 59 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, 2000 im vereinigten Deutschland 82. Der Anteil der Großstädter an der Bevölkerung nahm allerdings nur bis in die 1930er Jahre zu. 1939 lag er mit 32 Prozent auf einem Niveau, das auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr wesentlich überschritten wurde. In der alten Bundesrepublik lebte – mit geringen Schwankungen – rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung in Großstädten. Nach der Eingliederung der DDR, die einen etwas geringeren Verstädterungsgrad aufgewiesen hatte als Westdeutschland, liegt ihr Anteil nun bei rund 31 Prozent (2000), also etwa auf dem Stand vor dem Zweiten Weltkrieg. Nimmt man die Großstädte zum Maßstab, dann hat sich der Verstädterungsprozess in Deutschland etwa am Beginn der 1930er Jahre erschöpft. Dieses Bild vermittelt aber nicht die gesamte Realität. Seit der Zwischenkriegszeit zeigen vor allem die kleinen und mittelgroßen Städte mit 5000 bis 50 000 Einwohnern eine starkes Wachstum, das bis in die Gegenwart anhält. 1925 lebten etwa 21 Prozent der Gesamtbevölkerung in Orten dieser Größe, 1970 in den alten Ländern rund 31, 1993 in der gesamten Bundesrepublik aber schon knapp mehr als 40 Prozent!
Keine Dominanz Berlins
Ende des Großstadtwachstums
Zunahme der Mittelstädte
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Attraktivität der Klein- und Mittelstädte
I. Enzyklopädischer Überblick
Während die Dynamik der Verstädterung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik von den Großstädten getragen worden war, hat sie sich in der Bundesrepublik auf kleine und mittelgroße Städte verlagert. Dies ist auf zwei Ursachenbündel zurückzuführen. Zum einen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Disparitäten zwischen den Regionen abgeschwächt und lange Zeit benachteiligte Regionen – mit ihren kleineren und mittleren Städten – haben wirtschaftlich, sozial und kulturell aufgeholt. Zum anderen ist das Wachstum der mittelgroßen Städte nicht im Gegensatz, sondern in einer engen Beziehung zu den Großstädten zu sehen. Viele der mittelgroßen Städte befinden sich im „suburbanen Umland“ der Großstädte oder zumindest in einer mit den modernen Verkehrsmitteln leicht überbrückbaren Entfernung. Die Attraktivität dieser Städte scheint darin zu liegen, dass sie es ermöglichen, die Wohn- und Freizeitqualität einer ländlichen Umwelt mit großstädtischen Arbeitsmärkten und Kulturangeboten zu kombinieren. An die Stelle des Gegensatzes zwischen Großstadt und Dorf scheint ein „abgestuftes Kontinuum urbaner Lebensformen“ (J. Reulecke) getreten zu sein.
4.2 Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland
Europa vom Auszum Einwanderungskontinent
Im Vergleich zur Binnenwanderung kommt der Aus- und Einwanderung im gesamten 19. und 20. Jahrhundert nur eine geringe zahlenmäßige Bedeutung zu. Umgekehrt proportional dazu war und ist allerdings die überaus hohe Aufmerksamkeit, die Aus- und Einwanderung in Politik und Öffentlichkeit genießen. Von demographischem Interesse sind zunächst die langen Trends der transnationalen Migrationen, die im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts einen charakteristischen Zyklus bildeten. Dabei ist es nützlich, zwischen transkontinentalen und innereuropäischen Wanderungen zu unterscheiden. Im Bereich der transkontinentalen Migrationen nimmt Deutschland an einer gesamteuropäischen Entwicklung teil, die sich als Wandel vom Auswanderungskontinent zum Einwanderungskontinent beschreiben lässt. Vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 50 bis 60 Millionen Europäer ihren Heimatkontinent. Diese enorme Auswanderung aus Europa stieg im Lauf des Jahrhunderts in mehreren Wellen an und erreichte im Jahrzehnt vor dem „Großen Krieg“ ihren Höhepunkt. Allein zwischen 1900 und 1915 emigrierten knapp 20 Millionen Europäer nach Übersee. In der Epoche der Kriege 1914 bis 1945 ging die Auswanderung aus Europa stark zurück
4. Die langen Trends
27
und etwa ab 1960 kündigte sich eine Trendwende an: Europa zog nun immer mehr Einwanderer aus anderen Kontinenten an. Die deutschen Außenwanderungen waren und sind ein Bestandteil dieser globalen Trends. Zugleich weisen sie aber doch besondere Merkmale auf. Bezogen auf die Zahl der Emigranten nahm Deutschland eine mittlere Position ein. Zwischen 1820 und 1914 gingen rund fünf Millionen Deutsche nach Übersee. Ungefähr gleich hoch war die Zahl der Auswanderer aus der Habsburgermonarchie und aus Spanien. Wesentlich mehr Emigranten kamen aus Großbritannien und Italien, deutlich weniger aus den anderen europäischen Ländern. Bezogen auf die eigene Bevölkerung war die deutsche Überseewanderung relativ gering. Auch an ihren Höhepunkten umfasste sie – abgesehen von einzelnen Spitzenjahren – kaum mehr als drei Emigranten auf 1000 Einwohner pro Jahr, während Großbritannien, Norwegen, Italien oder Portugal über längere Perioden hinweg Spitzenwerte von zehn und mehr erreichten. Deutschland zeigt auch einen besonderen Rhythmus der Emigration. Im 19. Jahrhundert erreichte sie ihren Höhepunkt früher als in den meisten anderen europäischen Staaten, dagegen wies sie noch in den späten 1950er und in den 1960er Jahren eine bemerkenswerte Stärke auf. Auswanderung war in Deutschland schon in der Frühen Neuzeit keineswegs ungewöhnlich. Im 17. und 18. Jahrhundert emigrierten Zehntausende Menschen nach Nordamerika und Hunderttausende nach Ost- und Südosteuropa, vor allem in das habsburgische Ungarn und in das russische Reich. Auswanderung nach Russland war auch am Beginn des 19. Jahrhunderts noch relevant. Vor allem Zar Alexander I. (1801–1825) förderte die Einwanderung von deutschen Bauern und Handwerkern. Der Übergang zur Massenemigration des 19. Jahrhunderts setzte in den 1830er Jahren ein. Die Zahl der Auswanderer stieg in den 1840er Jahren dramatisch an und ihre bevorzugten Ziele lagen nunmehr in Übersee, vor allem in Nordamerika. In den Jahren 1852–1854 erreichte die Emigration ihren ersten Höhepunkt, allein 1854 wanderten 240 000 Deutsche nach Übersee aus. Eine zweite Welle der Auswanderung fiel in die Jahre 1866 bis 1873. Sie ging fast vollständig in die Vereinigten Staaten, zeitweilig stellten die Deutschen mehr als ein Drittel aller Einwanderer in die USA. Die dritte und zahlenmäßig bedeutendste Phase der Emigration erfolgte 1880 bis 1893. In diesen 14 Jahren wanderten knapp 1 800 000 Deutsche nach Übersee, wiederum an die 90 Prozent davon in die USA. 1881 bildete mit 221 000 Auswanderern das Spitzenjahr.
Spezifik der deutschen Auswanderung
Lange Traditionen der Emigration
Massenemigration im 19. Jahrhundert
28
Rückgang der Überseewanderung
Massenemigration im 20. Jahrhundert
Schwankungen der Auswanderung
I. Enzyklopädischer Überblick
Von der Mitte der 1890er Jahre an verlor die deutsche Überseewanderung aber rasch an Bedeutung. Gerade in einer Periode, in der die Massenemigration aus Europa insgesamt ihren historischen Höhepunkt erreichte, ging sie im Deutschen Reich auf wenige Zehntausend pro Jahr zurück. Auch die Dominanz der USA als Migrationsziel wurde nun schwächer, die Bedeutung Lateinamerikas stieg. In den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland immer mehr zum Transitland für die nunmehr wachsende Zahl der Emigranten aus Ostmitteleuropa, vor allem aus den östlichen Territorien der Habsburgermonarchie und den angrenzenden Provinzen des Zarenreichs, von denen viele die Häfen Bremen und Hamburg benützten. Als Option blieb die Auswanderung nach Amerika aber auch in Deutschland präsent. Dies wurde zunächst sichtbar zu Anfang der 1920er Jahre, als die Zahl der Emigranten wieder sprunghaft anstieg, 1923 mit 115 000 einen neuerlichen Höhepunkt erreichte und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Unmittelbar nach dem Krieg wanderten vor allem Displaced Persons und Flüchtlinge aus Deutschland aus, da die westlichen Alliierten der Einwanderung von Deutschen Hindernisse entgegensetzten. Nachdem diese ab 1948 abgebaut worden waren, stieg auch die Zahl der deutschen Emigranten wieder an. Sie erreichte bis 1960 rund 760 000. Rechnet man Displaced Persons, Flüchtlinge, Vertriebene und deutsche Staatsbürger zusammen, dann gingen vom Kriegsende bis 1960 1,5 bis zwei Millionen Emigranten von Deutschland nach Übersee. Diese Zahl ist mit der Massenemigration des 19. Jahrhunderts durchaus vergleichbar. Erst in den 1960er Jahren scheint die transatlantische Massenemigration – zumindest auf absehbare Zeit – ausgelaufen zu sein. Die Ursachen des Anstiegs, Rückgangs und spezifischen zeitlichen Verlaufs der deutschen Überseeemigration sind seit langer Zeit Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion (vgl. dazu Kapitel II.3.2). Einfacher sind die kurzfristigen Schwankungen der Auswanderung zu erklären. Sie wurden – abgesehen von den beiden Weltkriegen, in denen transkontinentale Migrationen praktisch zum Erliegen kamen – am stärksten von den Wirtschaftszyklen und von politischen Ereignissen im wichtigsten Zielland, den USA, beeinflusst. Die Weltwirtschaftskrisen 1857–1859 und 1873–1878, die amerikanische Rezession der frühen 1890er Jahre und naturgemäß auch die große Weltwirtschaftskrise von 1929 führten zu deutlichen Rückgängen der Migration, ebenso wie der amerikanische Bürgerkrieg 1861–1864. Drastische und dauerhafte Wirkung hatten aber vor allem die Einwanderungsbeschränkungen, die in den USA 1924 und in den meisten anderen ame-
4. Die langen Trends
29
rikanischen Staaten 1930 bis 1933 getroffen wurden. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass die große europäische Emigration in der Zwischenkriegszeit fast zum Erliegen kam. Neben den zyklischen Schwankungen der Auswanderung aus Deutschland sind im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch strukturelle Veränderungen zu konstatieren. Zum einen vollzog sich ein Wandel der Herkunftsgebiete der Emigranten, zum anderen ihres sozialen Profils. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war – wie schon im 18. Jahrhundert – Südwestdeutschland die wichtigste Auswanderungsregion und unter den Emigranten dominierten selbständige Bauern und Handwerker, die mit ihren ganzen Familien auswanderten. In der zweiten Jahrhunderthälfte nahm zunächst die Auswanderung aus den ostelbischen Provinzen Preußens und aus Mecklenburg zu. Aus diesem Gebiet stammte in den 1880er Jahren ein Drittel der Emigranten. Angehörige der ländlichen Unterschicht, Landarbeiter, Knechte und Mägde, waren unter ihnen besonders zahlreich vertreten und gegenüber der Familienwanderung gewann nun die Einzelwanderung an Gewicht. Um die Jahrhundertwende wiederum wuchs der Anteil der Auswanderer aus den industriellen oder industrienahen Regionen im Westen und Nordwesten Deutschlands. Von nun an nahmen auch städtische Bevölkerungsgruppen und Industriearbeiter an der Auswanderung teil. In der Weimarer Republik schließlich wies neben den großen Hafenstädten und dem gesamten deutschen Nordwesten auch Süddeutschland überdurchschnittliche Emigrantenzahlen auf. Die Massenemigration des 19. und 20. Jahrhunderts hatte also in regionaler und sozialer Hinsicht ein variables und sich wandelndes Profil. Schon im 19. Jahrhundert war Deutschland allerdings nicht nur ein Auswanderungsland, sondern auch ein Einwanderungsland. In den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts spielte die Immigration eine geringe Rolle, aber im Kaiserreich nahm sie zunächst allmählich und dann immer schneller zu. 1871 lag der Ausländeranteil an der deutschen Bevölkerung bei 0,5 Prozent, 1910 bei knapp zwei Prozent. Im Unterschied zur Auswanderung handelte es sich dabei um innereuropäische Wanderungen, wobei der grenzüberschreitenden Nahwanderung eine besondere Bedeutung zukam. Mehr als die Hälfte aller Zuwanderer stammte aus der Habsburgermonarchie, jeweils ein Zehntel aus den Niederlanden und aus Russland, kleinere Anteile auch aus Dänemark, Frankreich und der Schweiz. Die rund 1,2 Millionen Ausländer, die 1910 im Deutschen Reich gezählt wurden, machen aber das Ausmaß der Einwanderung nur unvollständig sichtbar. Seit den 1890er Jahren wuchs die Zahl der Wan-
Wandel des sozialen Profils der Migranten
Einwanderung in das Kaiserreich
30
Saison- und Wanderarbeiter
Restriktive Migrationspolitik im Kaiserreich
Enge Verbindung von Ein- und Auswanderung
Gruppen von Zuwanderern
I. Enzyklopädischer Überblick
derarbeiter bzw. Saisonarbeiter rapide an und erreichte schließlich vor dem Ersten Weltkrieg fast 800 000. Die meisten von ihnen arbeiteten in der ostelbischen Landwirtschaft, ein Teil aber auch im Straßen- und Kanalbau oder in Ziegeleien. Fast die Hälfte der Saisonarbeiter waren Polen aus dem Russischen Reich und dem österreichischen Galizien, große Gruppen bildeten Ruthenen (Ukrainer), ebenfalls aus Galizien, und Tschechen. Das ganze Ausmaß der Arbeitseinwanderung in das späte Kaiserreich wird sichtbar, wenn man die Zahl der erwerbstätigen Ausländer, etwa eine Million, und die Zahl der Saisonarbeiter addiert. Zusammen stellten sie in den Jahren vor dem Krieg rund 1,8 Millionen Arbeitskräfte, sechs bis sieben Prozent der unselbständig Erwerbstätigen. Der rechtliche Status der Wanderarbeiter war äußerst schlecht. Preußen, das den größten Teil der ausländischen Arbeitskräfte aufnahm, entwickelte seit den 1890er Jahren ein striktes System der Kontrolle und Überwachung der Saisonarbeiter. Seit 1907 schloss dies den Zwang zur Rückkehr in das Herkunftsgebiet während des Winters ein. Sie führte zu einer charakteristischen „Fieberkurve der Arbeitswanderung aus dem östlichen Ausland nach Preußen mit dem Steilanstieg im Frühjahr, dem Höhepunkt in der sommerlichen Hochsaison und dem Steilabfall zu Beginn der winterlichen Sperrfrist“ (K. J. Bade). Auf diese Weise passierten Hunderttausende Arbeitswanderer jedes Jahr zweimal die deutsche Grenze. Wenn ihre Mobilität auch nicht in die gängigen Aus- und Einwanderungsstatistiken Eingang fand, so stellte sie doch die überseeische Auswanderung aus Deutschland weit in den Schatten. Die enge Verbindung von Auswanderung und Einwanderung, die schon im Kaiserreich sichtbar geworden war, prägte das gesamte 20. Jahrhundert. In der Weimarer Republik und in den ersten Jahren des „Dritten Reichs“ war das Ausmaß der transnationalen Migration insgesamt gering, sie bestand aber sowohl in Aus- wie in Einwanderung. Zwischen einem Drittel und der Hälfte der Einwanderer waren Rückwanderer, also Menschen, die in früheren Jahren Deutschland verlassen hatten und nun zurückkehrten. Die Bundesrepublik war vom Anbeginn ihrer Geschichte von starker Zuwanderung geprägt. Die Migration der ersten Jahre war von Kriegsfolgen und Nachkriegsordnung bestimmt und führte vor allem ethnische Deutsche in die Bundesrepublik. Die amtliche Terminologie unterschied zwischen mehreren Gruppen: Flüchtlinge und Vertriebene, die in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsperiode in die westlichen Besatzungszonen bzw. in die BRD gelangten; Aussiedler, die nach 1945 in ihren alten Wohngebieten verblieben waren und erst von den 1950er Jahren an die Auswanderung in
4. Die langen Trends
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die Bundesrepublik anstrebten; Übersiedler, die legal oder illegal die DDR verlassen hatten. Allen diesen Gruppen wurde der Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt, sodass sie in der Wanderungsstatistik nicht als Ausländer erscheinen. Der Strom der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa nahm gegen Ende der 1940er Jahre rasch ab, ohne aber völlig zu versiegen. In den 1950er Jahren kamen noch Flüchtlinge und Vertriebene in die Bundesrepublik, die sich zunächst in Österreich oder in der SBZ/DDR niedergelassen hatten und erst später nach Westdeutschland weiterwanderten. Aussiedler bildeten in der Ära des Kalten Krieges eine relativ kleine Gruppe, deren Größe vom jeweiligen Stand der diplomatischen Beziehungen zwischen West und Ost abhängig war. Immerhin wanderten zwischen 1950 und 1987 rund 1,5 Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik ein, im Durchschnitt etwas weniger als 40 000 pro Jahr. Die dritte Gruppe bildeten Flüchtlinge bzw. „Übersiedler“ aus der DDR. Schon in den Jahren 1945 bis 1949 wurden rund 1,5 Millionen Migranten aus der Sowjetischen Besatzungszone gezählt, und aus der DDR kamen bis zum Bau der Mauer im August 1961 weitere drei Millionen. Die Besonderheit dieser Einwanderung bestand darin, dass sie überwiegend auf Dauer angelegt war und ihr keine nennenswerte Ausbzw. Rückwanderung gegenüberstanden. Die Immigration aller dieser Gruppen schlug sich deshalb unmittelbar in einem starken Bevölkerungswachstum nieder. Schon die erste Volkszählung der Bundesrepublik im Jahr 1950 hatte knapp acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebene nachgewiesen. Gemeinsam mit den Migranten aus der SBZ/DDR machten sie fast 19 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Bis 1960 stieg ihre Zahl auf mindestens 14 Millionen bzw. 24 Prozent. Damit bestand rund ein Viertel der Bevölkerung aus Zuwanderern. Während ihre Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft lange Zeit als rasch und problemlos und sogar als „eines der größten Nachkriegswunder“ (W. Benz) erschien, hat die neuere Forschung auch auf Akzeptanz- und Anpassungsprobleme verwiesen (vgl. dazu Kapitel II.3.2). Der zweite große Einwandererstrom in die BRD hatte seine Wurzeln in der Arbeitsmigration. Schon 1955 und verstärkt in den frühen 1960er Jahren begann die Bundesrepublik mit der Anwerbung ausländischer Gastarbeiter. Trotz der riesigen Zahl der zugewanderten Vertriebenen und Flüchtlinge waren im Gefolge des Wirtschaftswunders Arbeitskräfte knapp geworden. 1960 war die Arbeitslosigkeit auf unter ein Prozent gefallen und damit praktisch verschwunden und 1961 schnitt die Schließung der innerdeutschen Grenze den Zustrom aus der
Aussiedler und Übersiedler
Flüchtlinge und Vertriebene: problemlose Integration?
Gastarbeiter
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Zu- und Abwanderung von Arbeitsmigranten
Von der Arbeitsmigration zur Einwanderung
I. Enzyklopädischer Überblick
DDR ab. Die Bundesrepublik reagierte darauf mit zwischenstaatlichen Abkommen und eröffnete in Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal, Jugoslawien und einigen anderen Ländern mehr als 500 Rekrutierungsbüros, die junge und gesunde Arbeitskräfte anwarben, meist Männer zwischen 20 und 40. Bis 1973 stieg die Zahl der in Deutschland lebenden ausländischen Arbeitskräfte auf rund 2 600 000, ihr Anteil an den abhängig Beschäftigten erreichte 12 Prozent. Zunächst schien es, als ob das Konzept der „Gastarbeit“, das einen begrenzten Arbeitsaufenthalt und eine Rückkehr in das Heimatland vorsah, tatsächlich aufgehen würde. Zwischen 1955 und 1973 wanderten 14 Millionen Ausländer in die Bundesrepublik, 11 Millionen (oder 79 Prozent) verließen sie aber im selben Zeitraum wieder. Gastarbeiter waren sehr mobile Menschen, die als Puffer am Arbeitsmarkt dienten. In der Rezession 1966/67 verließen viele von ihnen die BRD, um während des folgenden Aufschwungs wieder zurückzukehren. Die Krise des Jahres 1973 brachte in vieler Hinsicht eine grundlegende Wende. Die Bundesregierung erließ einen „Anwerbestopp“ für Gastarbeiter und tatsächlich sank die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte bis 1978 auf 1 800 000, also um fast ein Drittel ab. Zugleich veränderte sich aber auch das Migrationsverhalten der Gastarbeiter. An die Stelle der bisherigen hohen transnationalen Fluktuation trat das Bestreben, Aufenthalt und Arbeit in der BRD keinem Risiko auszusetzen, sich auf einen längeren oder sogar dauernden Aufenthalt einzurichten und auch Familienangehörige nachkommen zu lassen. Der Zuzug neuer Gastarbeiter wurde beschränkt und erschwert, aber die bereits in Deutschland lebenden wurden zu Einwanderern. „Was Mitte der 1950er Jahre als amtlich organisierte Arbeitswanderung auf Zeit begonnen hatte, zeigte schon in den späten 1970er Jahren fließende Übergänge zu einer echten Einwanderungssituation“ (K. J. Bade). Die Zahl der Ausländer an der Bevölkerung der Bundesrepublik spiegelt diesen Trend deutlich wieder. Zwar stagnierte sie zwischen 1973 und 1979 auf einer Höhe von rund vier Millionen, aber ab 1980 stieg sie kontinuierlich auf rund sieben Millionen (8,6 Prozent) im Jahr 1995 an. Mit rund einem Drittel bildeten Türken die stärkste Gruppe, gefolgt von Jugoslawen und Italienern mit jeweils knapp über einem Zehntel. Zu beachten ist allerdings, dass der Begriff „Ausländer“ nur einen rechtlichen Status beschreibt. Schon 1987 waren rund zwei Drittel aller Ausländer unter 18 Jahren in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen. Im Unterschied zur Aufnahme der 14 Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge (1945–1960) ist die Integration der rund sieben Millionen aus Arbeitsmigration stammenden Ausländer in die bundesrepublikanische Ge-
4. Die langen Trends
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sellschaft nur zum Teil gelungen. Seit den späten 1960er Jahren stellt sie einen politischen und sozialen Konfliktstoff dar. Von 1988 an erfolgte eine neuerliche starke Zunahme der Einwanderung in die BRD. Sie erreichte 1992 mit rund 1,5 Millionen Immigranten ihren Höhepunkt, sinkt seitdem aber wieder ab. Bezogen auf die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik, blieb die Einwanderungsrate 1992 mit 1,8 Zuwanderern auf 100 Einwohner immer noch niedrig. Gleichwohl hatte es seit den Bevölkerungsverschiebungen am Ende des Zweiten Weltkriegs nie eine ähnlich hohe Zahl von Zuwanderern gegeben, auch nicht auf dem Höhepunkt der Gastarbeiterimmigration in den frühen 1970er Jahren. Hauptursache für den neuen Anstieg der Migration war der politische Wandel in Osteuropa, der sich schon 1988 und 1989 mit einer liberaleren Auswanderungspolitik ankündigte. Der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme 1989/90 führte zu einer weiteren Zunahme der Migration und die politische Instabilität mancher postkommunistischer Regime – bis hin zu den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien – trieb viele Menschen in die Flucht. Die Möglichkeit, bei deutscher Abstammung den privilegierten Status eines „Aussiedlers“ zu erlangen und auch das großzügige Asylrecht der Bundesrepublik, gewannen unter diesen Bedingungen eine bisher unbekannte Bedeutung. Zwischen 1988 und 1996 kamen knapp 2 300 000 Aussiedler in die BRD, allein im Jahr 1990 fast 400 000. Während in den ersten Jahren Zuwanderer aus Polen, Rumänien und Ungarn vorherrschten, bildeten ab 1993 ethnische Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus Russland, Kasachstan und Kirgisien, den größten Teil der Aussiedler. Auch die Gruppe der Asylbewerber nahm von 1988 an sehr stark zu. Bekanntlich sichert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Menschen, die aus politischen und anderen Gründen verfolgt werden, Asylrecht zu. Die Zahl der Asylbewerber blieb bis in die 1980er Jahre auf wenige Zehntausend pro Jahr beschränkt. Ab 1988 erfolgte eine sprunghafte Zunahme der Asylgesuche, die schließlich 1992 mit knapp 400 000 eine bis dahin ungeahnte Höchstzahl erreichte. Flüchtlinge aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien und aus Rumänien stellten die größten Gruppen, gefolgt von Flüchtlingen aus der Türkei. 1992 erreichte auch die Zahl der Asylgesuche von Afrikanern ihren bisherigen Höhepunkt. Die Zunahme der Immigration von Aussiedlern und Asylbewerbern brachte der Bundesrepublik einen starken Bevölkerungszuwachs. Das relative Gleichgewicht zwischen Zu- und Abwanderungen, das zwischen 1974 und 1987 vorgeherrscht hatte, wurde von deutlichen
Anstieg der Migration mit dem Umbruch in Osteuropa
Aussiedler aus der Sowjetunion
Asylwerber
Internationalisierung der Asylsuchenden Bevölkerungswachstum durch Immigration
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Beschränkung der Zuwanderung
I. Enzyklopädischer Überblick
Wanderungsgewinnen abgelöst. Schließt man die DDR-Emigranten der Jahre 1989 und 1990 ein, dann ließen sich zwischen 1988 und 1996 auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik vier bis fünf Millionen Zuwanderer nieder. Von den frühen 1990er Jahren an versuchte die Bundesregierung allerdings die Zuwanderung zu beschränken. 1994 war die Zahl der neu ankommenden Asylbewerber auf 127 000 gesunken, die Zahl der Aussiedler auf 222 000 (2000: 95 000). In der weiten Hälfte der 1990er Jahre lag die Zuwanderung nach Deutschland nur knapp über der Abwanderung. 4.3 Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit: Rückgang der Sterblichkeit und Anstieg der Lebenserwartung
Rascher Anstieg der Lebenserwartung
Physiologische und ökologische Lebenserwartung
Der Rückgang der Sterblichkeit und der damit verbundene Anstieg der Lebenserwartung ist einer der Kernprozesse des demographischen Wandels im 19. und 20. Jahrhundert. Für den amerikanischen Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger Robert Fogel ist dieser Prozess sogar „one of the greatest events of human history“. Er hat zu einer historisch einzigartigen Sicherheit des Lebens geführt. Noch 1865 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Deutschland für Männer bei 34 und für Frauen bei 37 Jahren, 1998/2000 dagegen bei 75 bzw. 81. In 130 Jahren hat sich also die Lebenserwartung mehr als verdoppelt. Während bis weit in das 19. Jahrhundert hinein der Tod bei Säuglingen und Kindern reiche Ernte hielt und darüber hinaus alle Lebensalter bedrohte, hat er sich nun auf das hohe Alter zurückgezogen. War im frühen 19. Jahrhundert rund die Hälfte aller Verstorbenen jünger als fünf Jahre, so waren 1998 57 Prozent älter als 70 (bei den Männern) bzw. 80 (bei den Frauen). Dabei hat es den Anschein, dass die „physiologische Lebenserwartung“, also die dem Menschen von der Natur gesetzte Grenze, relativ konstant bei einem mittleren Maximum von 85 bis 90 Jahren lag und liegt. Der Wandel betrifft die „ökologische Lebenserwartung“, wie die unter den jeweiligen natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen tatsächlich realisierbare Lebensspanne bezeichnet wird. Wenn der im 19. Jahrhundert begonnene Trend weiterhin anhält, könnte er zu einer „rechteckigen Überlebenskurve“ (A. E. Imhof) führen. Damit ist gemeint, dass immer mehr Menschen ihre biologisch mögliche Lebenszeit zu Ende leben und dann im gleichen sehr hohen Alter sterben. Der Rückgang der Mortalität ist ein universeller Prozess, der sich im 19. und 20. Jahrhundert überall in Europa vollzog und heute eine globale Dimension aufweist. Allerdings zeigt er in jedem einzelnen
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Land einen spezifischen Verlauf und darüber hinaus starke regionale und soziale Differenzierungen. Zur Beschreibung des langfristigen Trends werden mehrere demographische Kennziffern benützt. Eine erste Annäherung bietet die Sterblichkeitsziffer, also die Zahl der jährlich Gestorbenen je 1000 Einwohner. Ihre langfristige Entwicklung legt es nahe, den Rückgang der Mortalität in vier Phasen zu gliedern. Im 18. Jahrhundert stand die Mortalität in Deutschland noch in den Traditionen der vorindustriellen Gesellschaft, die sich durch zwei Merkmale auszeichnete. Zum einen war die „gewöhnliche Sterblichkeit“ hoch. In normalen Jahren schwankte die Sterbeziffer zwischen 25 und 40 Todesfällen je 1000 Einwohner, wobei die Ziffern für die Städte etwas höher lagen als für das Land. Charakteristisch für diese Periode war aber zweitens, dass es viele Krisenjahre gab, in denen die Sterbeziffer auf extreme Werte von 50, 60 oder 70 anstieg, also auf das Doppelte oder Dreifache. Hunger (meist als Folge von Missernten), Seuchen (oft im Gefolge von Hunger und Kriegen) und Kriege waren die drei großen Geißeln der vorindustriellen Bevölkerung, die immer wieder zu einem Emporschnellen der „Krisensterblichkeit“ führten. In den 1770er Jahren setzte in vielen Regionen Europas ein langfristiger Rückgang der Sterblichkeit ein, den man als „Ende des demographischen Ancien Regime“ (R. Gehrmann) bezeichnen kann. Für Norddeutschland ist dieser Prozess gut dokumentiert. Hier sank die Sterbeziffer von Werten über 30 (pro 1000 Einwohner) auf rund 22 zu Anfang der 1820er Jahre ab. Eine zweite Phase der Mortalitätsentwicklung reichte von den 1820er bis in die 1870er Jahre. In dieser Periode wurde der im späten 18. Jahrhundert begonnene Rückgang der Sterblichkeit unterbrochen. Die Sterbeziffern stiegen leicht an und schwankten zwischen 25 und 30. Dies beruhte zu einem guten Teil auf dem Anstieg der Säuglingssterblichkeit, der in vielen deutschen Regionen bis in die 1880er Jahre, in manchen sogar bis zur Jahrhundertwende anhielt. Besonders in den größten und am raschesten wachsenden Städten nahm die Sterblichkeit zu. In Berlin, Breslau, Köln, München, um nur einige Beispiele zu nennen, lagen die Sterbeziffern wieder bei 30 und darüber und auch im allgemeinen war das Sterberisiko in den Städten höher als auf dem Land. Trotzdem zeichneten sich die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts auch durch eine „Stabilisierung“ (M. Flinn) der Mortalitätsverhältnisse aus. Immer noch forderten Epidemien ihren Tribut, wie zum Beispiel die Cholera, eine in Europa bis dahin unbekannte Seuche, die Deutschland erstmals 1831/32 und dann immer wieder heimsuchte. Insgesamt wurde aber die todbringende Wirkung der Seuchen schwä-
Merkmale vorindustrieller Mortalität
Rückgang der Sterblichkeit im 18. Jahrhundert
Schwankende Entwicklung im 19. Jahrhundert
Stabilisierung der Mortalität
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Übergang zu niedriger Mortalität
Sterbeziffern und Altersstruktur
Lebenserwartung bei der Geburt
I. Enzyklopädischer Überblick
cher. Auch der Hunger stand in den unteren Schichten noch immer auf der Tagesordnung, aber als Auslöser von Massensterben blieb er doch nur in den Agrargesellschaften an den Rändern des europäischen Kontinents präsent, wie zum Beispiel in Irland 1845/49, in Spanien in den 1860er oder in Russland in den 1890er Jahren. Dazu kommt, dass das Jahrhundert zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg eine vergleichsweise friedliche Periode war. Die „normale“ Sterblichkeit blieb hoch, aber die extremen Ausschläge der „Krisensterblichkeit“ wurden seltener und schwächer. In einer dritten Phase, zwischen den 1870er Jahren und 1930, sank dann auch die „Normalsterblichkeit“ rasch und dauerhaft, insbesondere ab den 1890er Jahren. In dieses halbe Jahrhundert fällt ein besonders schneller und deutlicher Rückgang der Sterblichkeit, sodass es den Historikern lange Zeit als die entscheidende Phase des „demographischen Übergangs“ von einem hohen zu einem niedrigen Niveau der Mortalität erschien. Die Sterbeziffer sank von etwa 30 (1870) auf knapp über 10 (1930) Gestorbene je 1000 Einwohner, also um rund zwei Drittel. In der vierten Phase der Mortalitätsentwicklung, von 1930 bis in die Gegenwart, erfolgte dann die Stabilisierung der Sterblichkeit auf dem neuen niedrigen Niveau. Abgesehen von den beiden großen Kriegen, die den Trend zur niedrigen Mortalität kurzfristig unterbrachen, und abgesehen von kleineren Schwankungen, pendelt die Zahl der Verstorbenen je 1000 Einwohner in Deutschland in den beiden letzten Dritteln des 20. Jahrhunderts zwischen zehn und 12 (1995/2000: 10,8) – eine historisch nicht nur außerordentlich niedrige, sondern auch außergewöhnlich stabile Mortalität. Der Rückgang der Sterblichkeit ist um 1930 allerdings nicht an sein Ende gelangt, sondern ging und geht seitdem weiter. Die allgemeine Sterbeziffer drückt allerdings diese Entwicklung nicht aus, da sie von der Altersstruktur der Gesellschaft abhängt. Wenn der Anteil der älteren Menschen in der Gesellschaft zunimmt, also die Gruppe mit einem hohen Sterberisiko wächst, müsste auch die Sterbeziffer steigen. Ihre tatsächlich beobachtbare Stabilität verbirgt den weiteren Rückgang der Mortalität auch in den letzten 70 Jahren. Diesen Prozess macht eine andere demographische Maßzahl sichtbar, nämlich die altersspezifische Lebenserwartung, die eine zusätzliche Perspektive auf den säkularen Rückgang der Mortalität erschließt. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Deutschland bei rund 40 Jahren. Im Vormärz und insbesondere zur Mitte des Jahrhunderts, in den 1840er, 1850er und 1860er Jahren, ging sie zurück. Etwa um 1865
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wurde der tiefste Stand erreicht, der zugleich die Trendwende einleitete. Von nun an stieg die Lebenserwartung dauerhaft an. Allerdings überschritt sie erst spät das Niveau, das bereits im frühen 19. Jahrhundert bestanden hatte. Bei den Frauen lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt etwa 1875 wieder bei 40 Jahren, bei den Männern erst 1895. Im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung bis in die 1960er Jahre steil an, ein Trend, der aber bei den Männern durch die Weltkriege drastisch unterbrochen wurde. In den letzten Jahrzehnten setzt sich die Zunahme der Lebenserwartung, wenn auch etwas langsamer, fort. Hinter diesem allgemeinen Trend verbergen sich große Unterschiede nach Alter, Geschlecht, Region und sozialer Stellung. Im 19. und noch im frühen 20. Jahrhundert war die Sterblichkeit von Säuglingen (innerhalb des ersten Lebensjahres) und Kindern (vom zweiten bis zum 10. oder 15. Lebensjahr) der entscheidende Faktor. Der Rückgang der Lebenserwartung bei der Geburt in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist überwiegend auf einen zeitweiligen Anstieg der Säuglings- und Kindersterblichkeit zurückzuführen. Er ist in den meisten Teilen Deutschlands zu beobachten, verlief aber regional und sozial sehr differenziert. Deutschland war von einem deutlichen Nord-SüdGefälle geprägt. In den 1850er Jahren starben in Württemberg 348 von 1000 Neugeborenen, in Bayern 311, in Sachsen 255, in Baden 252, in Preußen 211, aber in Schleswig-Holstein nur 124. In Preußen überlagerte sich das Nord-Süd-Gefälle mit einem Ost-West-Gefälle. Die östlichen Provinzen lagen über dem gesamtstaatlichen Durchschnitt, die westlichen deutlich darunter. In den 1870er Jahren starben im Regierungsbezirk Aurich 11 Prozent der Säuglinge im ersten Lebensjahr, in Arnsberg und Düsseldorf 14 und 15, in Königsberg 21 und in Liegnitz bis zu 28 Prozent. Auch die Trends verliefen unterschiedlich. In Württemberg, Bayern und Baden stieg die Säuglingssterblichkeit bis in die 1860er Jahre, im gesamten Preußen bis in die 1870er, in Sachsen bis in die 1880er Jahre, in einigen preußischen Bezirken aber bis zur Jahrhundertwende an. Auch zwischen Stadt und Land bestanden beträchtliche Unterschiede. Im Allgemeinen war die Säuglingssterblichkeit in den Städten höher als in den Landgemeinden. Insbesondere in den Arbeitervierteln der rasch wachsenden Industrie- und Großstädte war sie extrem hoch. In vielen Städten entfielen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehr als 40 Prozent aller Todesfälle auf Säuglinge. Auch die „soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod“ (R. Spree) war nach wie vor enorm. In Preußen stieg die Sterblichkeit der Neugeborenen in den Familien ungelernter Arbeiter bis 1900 an und
Zeitweilige Zunahme der Säuglingssterblichkeit
Nord-Süd- und West-Ost-Gefälle der Mortalität
Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod
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Rückgang und Angleichung der Mortalität
Bessere Überlebenschancen in Städten
Ende der Säuglingssterblichkeit
Steigende Lebenserwartung im hohen Alter
Ursachen des Mortalitätsrückgangs Geringe Rolle der Medizin
I. Enzyklopädischer Überblick
war noch vor dem Ersten Weltkrieg mehr als doppelt so hoch wie in den Familien von Beamten. Von den 1870/1880er Jahren an begannen Säuglings- und Kindersterblichkeit dauerhaft zu sinken und die Unterschiede zwischen den Regionen, zwischen Land und Stadt und – mit einiger Verzögerung – auch zwischen den sozialen Schichten zu verblassen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lag die Säuglingssterblichkeit in den Städten schon niedriger als auf dem Land. Städtische Lebensweisen und Lebensbedingungen, die im Vergleich zum flache Land in der europäischen Geschichte Jahrhunderte lang ein höheres Sterberisiko beinhaltet hatten, begannen nun bessere Lebenschancen zu bieten. Im 20. Jahrhundert sank die Säuglingssterblichkeit weiter kontinuierlich ab, ein Trend, der sich in der Zwischenkriegszeit und dann in der Bundesrepublik und in der DDR fortsetzte. Gegenwärtig sterben in Deutschland von 1000 Neugeborenen nur mehr vier im ersten Lebensjahr. Die Säuglings- und auch die Kindersterblichkeit ist damit praktisch zum Erliegen gekommen. In den letzten Jahrzehnten wurde dagegen die Zunahme der Lebenserwartung im höheren Alter immer wichtiger. Im frühen 19. Jahrhundert konnten Sechzigjährige im Durchschnitt mit etwa 10 weiteren Lebensjahren rechnen, gegen Ende des Jahrhunderts schon mit 13 oder 14. In der Zwischenkriegszeit stieg die Lebenserwartung im Alter besonders schnell an. Dann begann sich allerdings eine Schere zwischen den Geschlechtern zu öffnen. Die Lebenserwartung der älteren Frauen nahm weiterhin rasch zu. 1998/2000 hatten sechzigjährige Frauen im Durchschnitt weitere 23 Lebensjahre zu erwarten. Bei den Männern dagegen verlief die Zuwachskurve flacher. Sechzigjährige Männer haben gegenwärtig rund 19 weitere Lebensjahre vor sich. Die Steigerung der Lebenserwartung trifft auch für Hochbetagte zu. Achtzigjährige konnten in Deutschland am Beginn des 20. Jahrhunderts mit rund vier weiteren Jahren rechnen, am Ende des Jahrhunderts mit sieben (Männer) bzw. acht (Frauen). Noch nicht abgeschätzt werden kann, ob die bisherige Zunahme der Lebenserwartung langfristig weitergehen wird: Wird sie den biologisch gesetzten Rahmen des menschlichen Lebens erweitern oder an einer physiologischen Obergrenze ihr Ende erreichen? Die Ursachen des Mortalitätsrückgangs werden in Demographie und Bevölkerungsgeschichte seit langem und immer noch kontrovers diskutiert (vgl. dazu ausführlich Kapitel II.4). Ein erster Themenbereich betrifft die Rolle der Medizin. Ihre Bedeutung für die ersten Phasen des Sterblichkeitsrückgangs wird nicht sehr hoch eingeschätzt. Für die Frühe Neuzeit und auch noch für das 19. Jahrhundert vermuten manche Historiker, akademisch ausgebildete Ärzte hätten „wahrschein-
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lich mehr Menschen getötet als geheilt“ (A. Armengaud). Insbesondere den meisten Infektionskrankheiten stand die Medizin hilflos gegenüber. Auch wenn – wie das im 19. Jahrhundert zunehmend der Fall war – Krankheitserreger erkannt wurden, bedeutete das noch nicht, dass ihre Bekämpfung erfolgreich war. Erst im Lauf des 20. Jahrhunderts, und insbesondere nach 1945, wurde die medizinische Wissenschaft in Verbindung mit einem sozialstaatlich ausgebauten Gesundheitssystem zu einem entscheidenden Faktor für die Verbesserung der Lebenschancen. Ausnahmen für die frühere Zeit bildete die Bekämpfung der Sterblichkeit durch Blattern oder Pocken, die durch vorbeugende Impfungen schon an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert reduziert worden waren, und durch Diphtherie – eine der gefährlichsten Kinderkrankheiten des 19. Jahrhunderts – von den 1890er Jahren an. Ein positiver Einfluss der Ärzte bestand darüber hinaus in der Förderung von Gesundheitsbewusstsein, sowohl in der Politik, als auch in der breiten Bevölkerung. All dies war nicht unwichtig, erklärt den Mortalitätsrückgang aber nur zu einem kleinen Teil. Die meisten Krankheiten im Panorama der Todesursachen büßten an Wirkung ein, lange bevor sie von der Medizin bekämpft werden konnten. Wodurch ist dies zu erklären? Einen großen Stellenwert nimmt in der bevölkerungsgeschichtlichen Diskussion die Entwicklung des Lebensstandards ein, der nach Ansicht vieler Historiker der entscheidende Faktor für den Rückgang der Sterblichkeit vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war. Dazu gehört vor allem eine Verbesserung der Ernährung, die nicht nur in einer höheren Kalorienzahl, sondern auch in einem vielfältigeren Speisenangebot und einer gleichmäßigeren, weniger krisenabhängigen Versorgung bestand. Gut und gleichmäßig ernährte Menschen waren widerstandsfähiger gegen viele der damaligen Infektionskrankheiten und Epidemien. Zum Lebensstandard gehören aber auch bessere Wohnverhältnisse. Die überfüllten Wohnungen und Mietshäuser der großstädtischen Arbeiterquartiere mit ihren rasch wechselnden Schlafgängern und Untermietern förderten die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Der zeitweilige Wiederanstieg der Sterblichkeit in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts könnte also mit den sozialen Problemen in den Frühphasen der Industrialisierung zu tun haben. Große Beachtung findet deshalb in der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung die Entwicklung der städtischen Gesundheits- und Infrastrukturpolitik. Von den 1870er Jahren an wurden in vielen großen Städten Deutschlands sanitäre und hygienische Reformen begonnen. Straßenpflasterung, Kanalisation, die Versorgung mit sauberem Trinkwasser und die Kontrolle von Lebensmitteln auf städtischen Märkten
Ausnahme: Impfungen
Hebung des Lebensstandards?
Öffentliche Hygiene
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Private Hygiene
Gesundheitsbewusstsein
Geändertes Verhalten gegenüber Kranken und Kleinkindern
I. Enzyklopädischer Überblick
leisteten wesentliche Beiträge zur Eindämmung von Krankheiten. Am Beispiel der Cholera ist dies gut dokumentiert. In Städten mit einem frühen Ausbau der öffentlichen Hygiene verlor die Cholera rasch ihren Schrecken. In Städten wie Hamburg andererseits, wo die kommunalpolitischen Eliten nur unzureichende Maßnahmen ergriffen, wütete noch 1892/93 eine der heftigsten Choleraepidemien des Jahrhunderts. Neben der öffentlichen Hygiene wird von der Forschung auch die Entwicklung der privaten Hygiene thematisiert, etwa das regelmäßige Baden von Säuglingen, der sorgfältige Umgang mit Lebensmitteln und anderes mehr. Der Gebrauch von Seife zum Beispiel stieg in Deutschland in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts steil an. Dies setzte wiederum Aufklärung über die Krankheitsrisiken bestimmter alltäglicher Verhaltensweisen voraus, die im späten 19. Jahrhundert von Ärzten, kommunalen Behörden oder sozialreformerischen Vereinen mit zunehmender Intensität geleistet wurde. Die mit der allgemeinen Schulpflicht gestiegene Bildung der Menschen und ihr durch einen höheren Lebensstandard gewachsener materieller Handlungsspielraum verbesserten die Rezeptionsbereitschaft in der breiten Bevölkerung. Hygienemaßnahmen und ein neues Gesundheitsbewusstsein scheinen sich in den Städten rascher ausgebreitet zu haben als auf dem Land, was zu erklären vermag, dass – in Preußen etwa zur Jahrhundertwende – die städtischen Sterbeziffern erstmals unter jene des Landes fielen. Letztlich erscheint auch die mentale Einstellung der Menschen zueinander als wesentlicher Faktor: der Umgang mit Kranken und vor allem das Verhalten von Müttern und Vätern gegenüber ihren Säuglingen und Kindern. Noch im frühen 20. Jahrhundert waren die Überlebenschancen der Säuglinge wesentlich davon bestimmt, ob sie gestillt wurden oder nicht. Die großen regionalen Unterschiede der Säuglingssterblichkeit hängen wesentlich mit unterschiedlichen Stillpraktiken zusammen. Erst allmählich wurde es möglich, die Krankheits- und Todesrisiken der „künstlichen“ Ernährung durch bewusste und intensive Betreuung und Pflege auszugleichen. Am meisten Zustimmung findet in der gegenwärtigen Forschung die Ansicht, dass der Wandel der Mortalität, sei es ihr langfristiger Rückgang oder auch zeitweilige Gegentendenzen, nicht auf eine oder zwei Ursachen und auch nicht auf wenige einzelne Faktoren zurückgeführt werden kann, sondern auf ein komplexes Bündel von Ursachen. Erst ihr Zusammenwirken ermöglichte jene „Gesundheits-Revolution“ (G. Caselli), die unsere gegenwärtigen Sterblichkeitsverhältnisse prägt. Nach wie vor ist es aber schwierig, den Beitrag der einzelnen Faktoren zu diesem Prozess zu bestimmen und zu gewichten.
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Der Rückgang der Sterblichkeit und der Anstieg der Lebenserwartung waren und sind eng mit einer Verschiebung im Spektrum der Krankheiten verbunden, die zum Tod führen. Die Forschung bezeichnet diesen Wandel der Krankheitsbilder und der Todesursachen mit dem Begriff der „epidemiologischen Transition“. Im 19. Jahrhundert dominierten unter den Todesursachen Infektionskrankheiten und Krankheiten der Verdauungsorgane wie z. B. Pocken, Typhus, Masern oder Ruhr. Dazu kamen Krankheiten der Atmungsorgane wie z. B. Lungenentzündungen und – im 19. Jahrhundert zunehmend – Tuberkulose. Im späten 20. Jahrhundert sind dagegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen (Neoplasmen) in den Vordergrund gerückt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren diese beiden Krankheitssyndrome für weniger als ein Fünftel aller Todesfälle verantwortlich, gegenwärtig etwa für drei Viertel. Man kann diesen Wandel auch als eine Verschiebung von exogenen Todesursachen (zunächst Hunger, Seuchen, Kriege, dann Infektionskrankheiten) hin zu endogenen oder körpereigenen Todesursachen verstehen, die mit lebenslangen Belastungen und Deformationen zu tun haben. Die epidemiologische Transition hängt eng mit dem Wandel des Sterbealters zusammen. Infektionskrankheiten bedrohten vor allem das Leben von Säuglingen und Kindern, HerzKreislauf-Erkrankungen und Neoplasmen Menschen in höherem Alter. Damit gehört die epidemiologische Transition sowohl zu den Ursachen als auch zu den Folgen des Mortalitätsrückgangs. Sie steht zum einen für Erfolge bei der Bekämpfung und Ausschaltung bestimmter Krankheiten, vor allem von Infektionskrankheiten, zum anderen ist sie aber auch ein Ergebnis der durch den Mortalitätsrückgang gewandelten Altersstruktur der Gesellschaft. Infektionskrankheiten sind allerdings auch in der Gegenwart nicht vollständig besiegt. Derzeit stellen sowohl alte, längst überwunden geglaubte Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Diphtherie) wie auch neue (AIDS) eine Bedrohung dar. 4.4 Die Entwicklung der Fertilität im Übergang zu Geburtenkontrolle und Familienplanung Die Entwicklung der Fertilität gehört zu den wesentlichen Themen von Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie. Insbesondere der Verlauf und die Ursachen des im späten 19. Jahrhundert einsetzenden und das 20. Jahrhundert prägenden Geburtenrückgangs stehen im Mittelpunkt des Interesses. Für die Periode vor dem Beginn des Geburtenrückgangs liegen zahlreiche Lokalstudien vor, die demographische Entwicklungslinien von der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahr-
Epidemiologische Transition
Von exogenen zu endogenen Todesursachen
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Kontinuität des Gebärverhaltens
Fruchtbarkeitsrate und Kinderzahl
I. Enzyklopädischer Überblick
hunderts ziehen. Sie zeigen eine relativ hohe Kontinuität der Fruchtbarkeit. Die kleine Zahl von Frauen, die schon mit 20 Jahren verheiratet waren und deren Ehen bis zum Ende ihrer fruchtbaren Periode Bestand hatten, mochten bis zu acht, zehn oder sogar zwölf Kindern das Leben schenken. Das waren aber Ausnahmen. Die meisten Frauen heirateten spät, viele starben früh und oft beendete auch der Tod des Mannes eine Ehe. Ein Durchschnittswert von fünf Geburten pro verheirateter Frau ist realistisch. Allerdings muss man zwischen Geburtenzahlen und Kinderzahlen klar unterscheiden. Noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte kaum mehr als die Hälfte aller Geborenen das Erwachsenenalter. Erst vom späten 19. Jahrhundert an begannen sich durch den Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit die Geburten- und die Kinderzahlen in den Familien anzunähern. Wie es scheint, unterschieden sich die Verhältnisse in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts nicht grundlegend von jenen des 17. oder 18. Jahrhunderts. Bei aller gebotenen Vorsicht zeichnet sich aber doch ein Wandel ab: Die durchschnittliche Zahl der Geburten pro Ehe lag im 19. Jahrhundert knapp über der des 18. Jahrhunderts. Bis in das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts ist eine leichte Zunahme der Geburtenraten zu konstatieren. Allerdings bieten erst vom späten 19. Jahrhundert an die verfügbaren statistischen Daten die Möglichkeit, die Entwicklung der Fruchtbarkeit der gesamten deutschen Bevölkerung genauer zu berechnen. Zwei demographische Kennziffern – für die sich allerdings im Deutschen noch keine einheitliche Terminologie durchgesetzt hat – sind dafür besonders gut geeignet: erstens die „Fruchtbarkeitsrate“ (Kinderzahl pro Frau, bezogen auf das Geburtsjahr der Kinder; Gesamtfruchtbarkeitsrate; zusammengefasste Geburtenziffer) und zweitens die „durchschnittliche Kinderzahl“ pro Frau, bezogen auf das Geburtsjahr der Frauen (kohortenspezifische Geburtenrate). Die „Fruchtbarkeitsrate“ enthält die Geburten eines Jahres, bezogen auf 1000 Frauen der einzelnen Altersklassen von 15 bis 45 Jahren. Sie dient der Querschnittsanalyse und lässt kurzfristige Schwankungen der Fertilität, die sich im Gefolge von Kriegen, Wirtschaftskrisen oder politischen Umbrüchen ergaben, klar hervortreten. Die „durchschnittliche Kinderzahl“ dient dagegen als Indikator für die endgültige Geburtenzahl der Frauen eines bestimmten Jahrgangs. Sie dient der Längsschnittanalyse und ist relativ unabhängig von kurzfristigen Schwankungen, da Geburten, die aus den verschiedensten Gründen in einem bestimmten Jahr nicht realisiert werden konnten, häufig in den folgenden Jahren nachgeholt wurden. Diese Kennziffer lässt den strukturellen Wandel des Kinderwunsches besonders deutlich sichtbar werden.
4. Die langen Trends
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Abbildung 2: Der langfristige Abnahmetrend der Geburtenrate im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland von 1890 bis 2000
Dünne unterbrochene Linie: Fruchtbarkeitsrate; fette Linie: durchschnittliche Kinderzahl. Quelle: H. BIRG/D. FILIP/E.-J. FLÖTHMANN, Paritätsspezifische Kohortenanalyse des generativen Verhaltens in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Bielefeld 1990.
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Übergang zur Geburtenkontrolle
Konjunkturelle Schwankungen
Erster Fruchtbarkeitsrückgang
„Babyboom“
I. Enzyklopädischer Überblick
Die Frauengeneration, die in den 1850er Jahren geboren wurde, brachte im Durchschnitt etwas mehr als fünf Kinder zur Welt. Erst die folgenden, zwischen 1860 und 1900 geborenen Frauengenerationen standen am Beginn des Übergangs zur bewussten Geburtenkontrolle und Familienplanung. Die „durchschnittliche Kinderzahl“ sank in wenigen Jahrzehnten von rund fünf auf rund zwei. Die „Zwei-Kinder-Familie“ wurde zum vorherrschenden gesellschaftlichen Ideal. Dies löste in der Zeit um den „Großen Krieg“ und noch mehr in den 1920er und 1930er Jahren heftige politische Debatten aus, die nationalistisch, „völkisch“ und zunehmend auch rassistisch aufgeladen wurden. Der Rückgang der Geburten wurde als Ausdruck von Dekadenz, als „Volkstod“ oder „Rassetod“ interpretiert. Die Entwicklung der „Fruchtbarkeitsrate“ verlief parallel, wies aber gravierende kurzfristige Schwankungen auf. Im Ersten Weltkrieg beschleunigte sich der langfristige Trend des Geburtenrückgangs enorm, gegen Ende des Krieges sank die Rate auf einen bis dahin kaum vorstellbar niedrigen Wert von fast 1,5. In den Nachkriegsjahren stieg sie rasch wieder an, ein deutlicher Hinweis auf das Nachholen von Geburten, die in den Kriegsjahren aufgeschoben worden waren. Dieser Anstieg war allerdings von sehr kurzer Dauer. Schon in den 1920er Jahren gingen die „Fruchtbarkeitsraten“ wieder zurück, um in der Wirtschaftskrise 1932 einen neuerlichen Tiefpunkt von 1,7 zu erreichen. Am Beginn des „Dritten Reichs“ erfolgte ein Anstieg, in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs ein neuerlicher dramatischer Rückgang. Die Periode vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stellte in Deutschland wie in den meisten anderen europäischen Ländern einen „ersten Fruchtbarkeitsrückgang“ dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand, wie es schien, der langfristige Trend des Rückgangs sein Ende. Die in der Zwischenkriegszeit geborenen Frauen prägten die Geburtenentwicklung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik und der DDR. Ihre Generation war die Trägerin des „Babybooms“ der 1950er und 1960er Jahre. In der Mitte der 1960er Jahre stieg die „Fruchtbarkeitsrate“ auf über 2,5, ein Wert, der seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs nicht erreicht worden war. Die „durchschnittliche Kinderzahl“ lag aber auch in dieser Periode nur knapp über zwei, ein Hinweis darauf, dass auch im „Babyboom“ das nun etablierte Ideal der „Zwei-Kinder-Familie“ nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Der Wiederanstieg der Geburtenraten war allerdings nur von kurzer Dauer. Bei der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Frauengeneration setzte sich der langfristige Rückgang der Geburten fort. In der
4. Die langen Trends
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Bundesrepublik sank die „Fruchtbarkeitsrate“ in nur einem Jahrzehnt, zwischen 1968 und 1978, von 2,4 auf 1,4! Dies war der so genannte Pillenknick. Die Verfügbarkeit eines neuen, sicheren und ausschließlich in der Verantwortung der Frauen liegenden Verhütungsmittels, der „AntiBaby-Pille“, erleichterte Geburtenkontrolle und Familienplanung. Dass die „Fruchtbarkeitsrate“ aber so rapide absank, lässt sich durch die „Pille“ allein nicht erklären. Offensichtlich überlagerte sich in diesem Jahrzehnt der langfristige Wandel der Fertilität mit den gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen von „1968“. Das neuerliche Sinken der Geburtenzahlen seit den 1960er Jahren vollzog sich im Großen und Ganzen in der gesamten westlichen Welt und kann als „zweiter Fruchtbarkeitsrückgang“ angesehen werden. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die „Fruchtbarkeitsrate“ in der Bundesrepublik bzw. den alten Ländern bei einem Wert von rund 1,4 eingependelt. Deutschland liegt damit – gemeinsam mit Ländern wie Italien und Spanien – am unteren Ende der westeuropäischen Skala. Die „durchschnittliche Kinderzahl“, die auch den Kinderwunsch ausdrückt, ging aber, wie es scheint, auch in dieser Periode weiter zurück. Noch immer herrscht das Ideal der „Zwei-Kinder-Familie“ vor, aber eine wachsende Zahl von Frauen bleibt nun zeitlebens kinderlos, in der seit 1965 geborenen Generation rund ein Drittel. Bis zum Anfang der 1970er Jahre verliefen die Entwicklungen in der Bundesrepublik und in der DDR ungefähr parallel. Dann erst setzten unterschiedliche Trends ein. In der Bundesrepublik bzw. in den alten Bundesländern kam es ab etwa 1980 zu einer relativen Stabilisierung der „Fruchtbarkeitsrate“ auf dem Niveau von etwa 1,4 Geburten pro Frau. In der DDR dagegen stieg die Fertilität in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre neuerlich an. Möglicherweise beeinflusste die pronatalistische Familienpolitik am Beginn der Ära Honecker gemeinsam mit anderen DDR-spezifischen Anreizen und Zwängen diesen Trend, wenn auch ihre tatsächlichen Wirkungen in der Forschung umstritten sind (vgl. dazu Kapitel II.5). In den 1980er Jahren sank auch in der DDR die „Fruchtbarkeitsrate“ wieder ab, wenn sie auch auf einem höheren Niveau blieb, als in der Bundesrepublik. Ein dramatischer Rückgang der Fertilität folgte hier der „Wende“ von 1989 und der Wiedervereinigung. In nur fünf Jahren, zwischen 1989 und 1994, ging die „Fruchtbarkeitsrate“ im Gebiet der ehemaligen DDR von 1,57 auf 0,77 zurück und sank damit deutlich unter das westdeutsche Niveau. Dieser Rückgang hängt natürlich mit den enormen Veränderungen zusammen, die Wende und Wiedervereinigung für die Bewohner der ehemaligen DDR auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens mit sich brach-
„Pillenknick“
Zweiter Fruchtbarkeitsrückgang
Bundesrepublik und DDR: Parallelen und Unterschiede
Absturz der Fertilität mit der „Wende“
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Niedrige Fertilität in den neuen Ländern
I. Enzyklopädischer Überblick
ten. Trotzdem ist er schwieriger zu interpretieren, als es auf den ersten Blick scheinen mag (vgl. dazu Kapitel II.5). In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre stiegen die Fruchtbarkeitsziffern in den neuen Bundesländern wieder an, wenn auch sehr langsam und ohne die Kluft zwischen dem alten und dem neuen Bundesgebiet wirklich zu schließen.
Tabelle 5: Entwicklung der Fertilität („Fruchtbarkeitsrate“ 1881–2000) Deutsches Reich 1881/90 1891/99 1911/15 1916/20 1930/35 1936/40
4,9 4,8 3,5 2,3 1,8 2,2
1950 1960 1970 1980 1990 2000
BRD/ alte L.
DDR/ neue L.
2,1 2,4 2,0 1,5 1,5 1,4
2,3 2,3 2,2 1,9 1,4 1,1
D
1,5 1,4
Quellen: 60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 157; 45: J.-P. BARDET/J. DUPÂQUIER, Histoire III, 570; 11: STATISTISCHES JAHRBUCH 2002.
Problem der Erklärung des Geburtenrückgangs
Die Ursachen des Übergangs zur Fruchtbarkeitskontrolle und des langfristigen Geburtenrückgangs werden in den Sozialwissenschaften, seit sie im frühen 20. Jahrhundert erstmals mit diesem Phänomen konfrontiert wurden, heftig diskutiert. Bis heute sind sie umstritten (vgl. dazu Kapitel II.5). Möglicherweise haben wir es nicht mit einem langen Trend zu tun, sondern mit mehreren „Geburtenrückgängen“, die nicht derselben Logik gehorchten. Eindeutig ist nur, dass sich alle Theorien und Erklärungsansätze, die in einzelnen Faktoren die Ursachen des Geburtenrückgangs sahen, seien sie ökonomischer oder kultureller Art, als empirisch nicht haltbar erwiesen haben. 4.5 Der Bedeutungswandel von Heirat, Ehe und Unehelichkeit Die Eheschließung ist nicht in erster Linie ein demographisches, sondern viel mehr ein soziales, kulturelles und wirtschaftliches Phänomen. Trotzdem bildet das Heiratsverhalten einen wesentlichen Untersuchungsgegenstand von Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie. Dies beruht auf der Tatsache, dass in der neueren europäischen Geschichte der überwiegende Teil aller Kinder von verheirateten Frauen geboren wurde. Der Anteil der verheirateten Frauen und
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ihr Heiratsalter haben daher beträchtliche Auswirkungen auf die Fertilität. Der langfristige strukturelle Wandel des Heiratsverhaltens wird besonders deutlich anhand der Entwicklung des Heiratsalters und des Anteils zeitlebens Lediger sichtbar. Für den Beginn des 19. Jahrhunderts gibt eine große Zahl von Dorfstudien Auskunft über das Heiratsalter, das sich im Folgenden nur auf Erstehen, also auf Eheschließungen von Ledigen, bezieht. Die einzelnen Werte zeigen eine relativ große Übereinstimmung. Um 1800 heirateten die Frauen in Deutschland im Durchschnitt mit 26, die Männer mit 28 Jahren. Dies war, im europäischen Vergleich betrachtet, relativ spät. Deutschland wird daher jenem als „European Marriage Pattern“ bezeichneten nordwesteuropäischen Heiratsmuster zugerechnet, das sich durch hohes Heiratsalter und hohe Anteile zeitlebens Lediger auszeichnete. Im Lauf des 19. Jahrhunderts stieg dieses hohe Heiratsalter zunächst noch weiter an. In den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts heirateten die Frauen im Durchschnitt mit 27, die Männer mit 29 bis 30 Jahren. In vielen Regionen erreichte das Heiratsalter einen historischen Höhepunkt im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts, also im Zeitraum zwischen etwa 1850 und 1875. Der Anstieg des Heiratsalters parallel zu den ersten Phasen der Industrialisierung weckt allerdings Zweifel an dem Modell eines vorindustriellen „European Marriage Pattern“. Tatsächlich wird dieses Konzept in der internationalen Historischen Demographie zunehmend kritisch betrachtet (vgl. dazu Kapitel II.6). Von den 1870er Jahren an bietet die staatliche Statistik Daten für ganz Deutschland und diese zeigen nun für die folgenden 100 Jahre einen relativ kontinuierlichen Rückgang des Heiratsalters. Die Männer heirateten im Durchschnitt 1871 mit 29, 1890 mit 28, 1910 und 1930 mit 27 und 1970 mit 25,5 (BRD) bzw. 24 (DDR) Jahren. Die Entwicklung des Heiratsalters der Frauen verlief parallel. Es sank von 26,5 Jahren 1871 auf 25 (1910 und 1950) und erreichte ebenfalls um 1970 seinen bisherigen Tiefststand: 23 Jahre in der BRD, knapp unter 22 in der DDR. Die Menschen heirateten nun in Deutschland also um vier bis fünf Jahre früher, als zur Mitte des 19. Jahrhunderts – ein durchaus bemerkenswerter Rückgang. In den 1970er Jahren setzte aber zugleich in beiden deutschen Staaten eine radikale Trendwende ein. Von nun an stieg das Heiratsalter wiederum sehr schnell an und erreichte neue Spitzenwerte, die sogar über jenen des 19. Jahrhunderts liegen. 2000 heirateten ledige Männer im Durchschnitt mit 31, ledige Frauen mit 28 Jahren. Auch der Anteil der dauerhaft Ledigen, also jener Menschen, die
Struktureller Wandel des Heiratsverhaltens
European Marriage Pattern
Weiterer Anstieg des Heiratsalters
Sinken des Heiratsalters
Trendwende zum späten Heiraten
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Lebenslänglicher Ledigenstand
Variierende Heiratschancen für Männer und Frauen
Ehescheidungen
I. Enzyklopädischer Überblick
freiwillig oder erzwungen ihr ganzes Leben lang keine Ehe schlossen, unterlag erheblichen Veränderungen. Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sind nur wenige verstreute Daten verfügbar. Sie weisen eine große Spannweite auf. Im niedersächsischen Dorf Belm waren 1812 drei Prozent und 1858 acht bzw. sechs Prozent aller Männer und Frauen über 45 ledig. In elsässischen Dörfern schwankte der Anteil lebenslang unverheirateter Frauen im 19. Jahrhundert zwischen sechs und 19 Prozent, in den beiden Schwarzwalddörfern Aach und Schönmünzach zwischen sechs und zehn Prozent bei den Männern, zwischen elf und 15 Prozent bei den Frauen. Auch diese wenigen Beispiele zeigen, dass in manchen Gegenden Deutschlands und in manchen Perioden des 19. Jahrhunderts das „definitive Zölibat“ sehr selten war, in anderen aber durchaus weit verbreitet. Zwischen 1871 und 1910 sank der Ledigenanteil bei den Männern von neun auf sieben Prozent, bei den Frauen blieb er, von Schwankungen abgesehen, auf der Höhe von zwölf Prozent. Im Lauf des 20. Jahrhunderts verlor der Anteil der dauerhaft Unverheirateten vor allem bei den Frauen relativ kontinuierlich, wenn auch nicht dramatisch, an Gewicht. 1996 waren in Deutschland sieben Prozent aller über 45jährigen Männer und Frauen ledig. Geschlechtsspezifische Unterschiede haben vor allem mit dem Schicksal einzelner Geburtskohorten zu tun. Die Frauen der Geburtsjahrgänge 1931–1946, die in den späten 1950er und in den 1960er Jahren in das übliche Heiratsalter kamen, fanden einen günstigen Heiratsmarkt vor und strebten auch – dem Familienideal dieser Periode entsprechend – in die Ehe. Der Anteil der zeitlebens ledigen Frauen in dieser Kohorte war mit fünf Prozent außerordentlich niedrig. Die vor 1926 geborenen Frauen dagegen, die während des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen Partner suchen mussten, hatten damit wesentlich größere Schwierigkeiten. Von ihnen blieben rund neun Prozent zeitlebens ledig. Im vorindustriellen Europa, und auch noch im 19. Jahrhundert, endete die Ehe in aller Regel mit dem Tod eines der Gatten. Die Zahl der gerichtlich geschiedenen oder getrennten Ehen war außerordentlich gering. In Preußen wurden um 1840 jährlich rund 3400 Ehen geschieden, auf 1000 Einwohner entfielen also rund 0,2 Scheidungen pro Jahr. Im Lauf des 19. Jahrhunderts änderte sich daran nur wenig. Die Scheidungsrate, die für das gesamte Reichsgebiet von den 1880er Jahren an statistisch erfasst ist, lag sogar niedriger. 1900 wurden knapp unter 8000 Ehen geschieden, 0,14 pro 1000 Einwohner oder 0,8 pro 1000 bestehenden Ehen. Der Anteil der Geschiedenen an der Gesamtbevölkerung war dementsprechend mit 0,2 Prozent marginal.
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Die geringe Bedeutung von Ehescheidungen noch im ausgehenden 19. Jahrhundert wird häufig mit den herrschenden Ehegesetzen erklärt, die eine Scheidung kaum zugelassen hätten. Zweifellos bestand ein äußerst restriktiver rechtlicher Rahmen. Zugleich ist aber zu bedenken, dass in den Kirchenrechten der Frühen Neuzeit und in den bürgerlichen Gesetzbüchern des 19. Jahrhunderts Ehescheidungen zumindest prinzipiell möglich waren. Im katholischen Kirchenrecht stellte die Trennung der Gatten „von Bett und Tisch“ de facto, wenn auch nicht de jure, eine Scheidung dar, auch wenn sie die Wiederverheiratung nicht gestattete. Im 19. Jahrhundert bestanden in Deutschland unterschiedliche Zivilrechte nebeneinander, die erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 vereinheitlicht wurden. In der preußischen Rheinprovinz und in Baden galt der französische Code civil, der in Scheidungssachen relativ liberal war. Trotzdem gab es im Rheinland wesentlich weniger Ehescheidungen als im restlichen Preußen. Im 19. Jahrhundert scheint die geringe Zahl der Scheidungen also nicht nur von der rechtlichen Lage abhängig gewesen zu sein. Vermutlich war in der Neuzeit und auch noch im 19. Jahrhundert die Unauflöslichkeit der Ehe so stark in Kultur und Sozialstruktur verankert, dass der „Lebensbund“ nur in extrem seltenen Fällen vor dem Tod gelöst wurde. Die wenigen Ehescheidungen dieser Periode fanden zudem vor allem in den großen Städten statt und kaum auf dem flachen Land. Zur Jahrhundertwende begannen sich aber schon jene Tendenzen anzukündigen, die im Lauf des 20. Jahrhunderts Ehescheidungen zu einem Massenphänomen machten. Auch dabei spielten die rechtlichen Rahmenbedingungen nur eine geringe Rolle. Das BGB von 1900, das – mit Ausnahme des NS-Scheidungsrechts von 1938 bis 1945 – fast das ganze Jahrhundert in Kraft blieb und in der Bundesrepublik erst von der Eherechtsreform 1977 abgelöst wurde, machte Scheidungen nur unter sehr wenigen Bedingungen und nach einem aufwändigen und kostspieligen Verfahren möglich. Der Geist des Gesetzes bestand darin, Ehen durch den Aufbau möglichst hoher Hürden vor der Scheidung zu stabilisieren. Trotzdem nahm die Scheidungsrate im 20. Jahrhundert rapide zu. Es kann ein langfristiger Trend beobachtet werden, der in einer relativ kontinuierlichen Zunahme der Scheidungen unabhängig von der jeweiligen rechtlichen, politischen oder wirtschaftlichen Lage seinen Ausdruck fand. Die Zahl der Scheidungen pro 1000 bestehender Ehen stieg zwischen 1900 und 1999 von 0,8 auf über 10, pro 1000 Heiraten von 17 auf 443. Diese Zahlen drücken die enorme Dynamik des strukturellen Wandels der gesellschaftlichen Stellung der Ehe aus, der sich im
Rechtliche Bedingungen der Scheidung
Unauflöslichkeit der Ehe als soziale Tradition
Trotz restriktiver Gesetze wird Scheidung Massenphänomen
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I. Enzyklopädischer Überblick
Tabelle 6: Jährliche Ehescheidungen pro 1000 Einwohner 1900 1920 1940
0,1 0,6 0,7
1960 1980 2000
0,9 1,3 2,4
Quellen: 302: D. BLASIUS, Ehescheidung; 314: R. PHILLIPS, Untying; 11: STATISTISCHES JAHRBUCH 2002.
Scheidungsboom nach den Kriegen
Anteil der Geschiedenen
20. Jahrhundert in Deutschland genauso wie in den anderen Ländern der westlichen Welt vollzog. Der langfristige Trend verlief aber nicht gleichmäßig, sondern wies erhebliche Schwankungen auf. Ein besonders steiler Anstieg der Scheidungsraten erfolgte in den Jahren nach dem Ersten und ebenso nach dem Zweiten Weltkrieg. Die jahrelange Trennung der Ehegatten und die Erschütterung der traditionellen Geschlechterrollen standen der Rückkehr zu einem „normalen“ Familienleben in vielen Fällen im Wege. Auch dem nationalsozialistischen Scheidungsrecht von 1938 folgte im darauf folgenden Jahr eine deutliche Zunahme der Scheidungen. Der nationalsozialistische Staat, der die Ehe nicht als privaten Vertrag, sondern als Keimzelle der „Volksgemeinschaft“ betrachtete, hatte die Möglichkeiten der Scheidung beträchtlich erweitert, um Ehen, die ihm aus „rassischen“, eugenischen oder politischen Gründen unerwünscht waren, leichter trennbar zu machen. Dies erhöhte den individuellen Spielraum bei der Auflösung einer Ehe, zugleich aber auch den gesellschaftlichen Druck, die aus den verschiedensten Gründen nicht mehr akzeptierten Partnerinnen und Partner zu verlassen. Die kurzfristig besonders schnellen Zunahmen der Scheidungshäufigkeit bildeten demnach Reaktionen auf die großen gesellschaftlichen Krisen des 20. Jahrhunderts. Sie beschleunigten und verstärkten den langfristigen Trend. Die Bevölkerung der DDR reagierte dagegen auf „Wende“ und Wiedervereinigung mit dem entgegengesetzten Verhalten. Die Jahre von 1989 bis 1991 brachten einen dramatischen Rückgang der Scheidungshäufigkeit, erst seit 1992 steigt die Scheidungsrate in den neuen Ländern allmählich wieder an. Im 20. Jahrhundert ist der Anteil der Geschiedenen an der Bevölkerung sehr stark angestiegen, von 0,2 (1900) auf rund fünf Prozent (1999). Im mittleren Erwachsenenalter, etwa zwischen 40 und 55 Jahren, lebt gegenwärtig rund ein Zehntel der Bevölkerung in diesem Stand. Für Männer ist es schon wahrscheinlicher geworden, ihre Partnerin durch eine Scheidung zu verlieren, als durch den Tod. Bei Frauen ist dies, aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung, noch umgekehrt.
4. Die langen Trends
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Fasst man alle diese Tendenzen zusammen, dann lässt die Entwicklung des Heiratsverhaltens im 19. und 20. Jahrhundert drei Phasen erkennen. In der ersten Phase, die bis in die 1870er Jahre reichte, standen Heirat und Ehe noch in den Traditionen der vorindustriellen Gesellschaft. Der Anteil der lebenslang Ledigen blieb hoch, das Heiratsalter stieg sogar an. In der zweiten Phase, den 100 Jahren zwischen 1870 und 1970, löste sich das Heiratsverhalten aus dieser Tradition. Der Einfluss von gesellschaftlichen Normen, Rücksichten und Zwängen auf die Eheschließung nahm ab und ebenso ihre Bedeutung für die zukünftige soziale Position der einzelnen Menschen. Dies führte zu einem starken Schub in Richtung einer Individualisierung von Heirat und Ehe. Trotzdem – oder gerade deswegen – heirateten die Menschen häufiger und früher. Die Ehe erschien weiterhin als Normalfall des Zusammenlebens von Mann und Frau. Zwar gewannen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch Ehescheidungen immer mehr an Gewicht, aber doch nur langsam. Die 1950er und 1960er Jahre waren nicht nur die Jahre des „Babybooms“, sondern auch das „goldene Zeitalter der Ehe“. Die dritte Phase begann in den 1970er Jahren und leitete einen historisch neuartigen Bedeutungswandel von Heirat und Ehe ein. Mit der dramatischen Zunahme der Scheidungen hat die Ehe ihren lebenslänglichen Charakter verloren. Die hohen Raten der Wiederverehelichung von Geschiedenen zeigen zwar, dass mit der Scheidung nicht notwendigerweise auch die Institution der Ehe in Frage gestellt wird. Das aus dem Mittelalter tradierte Prinzip der Dauerhaftigkeit und Unauflöslichkeit der Ehe scheint aber doch in Auflösung begriffen zu sein. Zudem wird die formelle Eheschließung immer weniger als Voraussetzung für das Zusammenleben eines Paares oder das Aufziehen von Kindern angesehen. Die Ehe hat ihr Monopol auf gemeinsame Haushaltsführung, auf legale sexuelle Beziehungen und auf die Fortpflanzung verloren. Gerade in den Altersgruppen, in denen man gegenwärtig bevorzugt heiratet, stieg in den letzten Jahren auch der Anteil der Ledigen kräftig an. Dies weist darauf hin, dass nicht nur die Eheschließung im Lebenslauf hinausgeschoben wird, sondern dass es auch ein zunehmender Teil der Menschen in seiner Lebensplanung als möglich erachtet, dauerhaft zwar nicht unbedingt auf partnerschaftliches Zusammenleben, aber doch auf die Heirat zu verzichten. Das Ausmaß des Wandels muss allerdings differenziert eingeschätzt werden. Bis heute ist die Ehe die häufigste Form des Zusammenlebens geblieben, aber die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften steigt ständig an. 1999 bestanden in Deutschland 19,5 Millionen Ehen und 2,1 Millionen Lebensgemeinschaften. Rund jedes zehnte
Drei Phasen der Entwicklung des Heiratsverhaltens
Individualisierung von Heirat und Ehe
Ehen ohne lebenslängliche Dauer
Ehe bleibt häufigste Lebensform
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Unehelich Geborene
Ausmaß der Illegitimität
Sexuelle Befreiung oder Krisenphänomen?
I. Enzyklopädischer Überblick
Paar lebt gegenwärtig also ohne Trauschein zusammen. Unklar ist auch, ob der Bedeutungsverlust von Heirat und Ehe die gesamte Gesellschaft erfasst oder eher zu einer Spaltung zwischen ehelichen und nichtehelichen Lebensstilen führt. Natürlich ist auch nicht vorauszusehen, ob sich die Trends der letzten drei Jahrzehnte langfristig fortsetzen werden und die Ehe eines Tages zu jenen gesellschaftlichen Institutionen gehören wird, die im Lauf der Geschichte verschwunden sind. Die Entwicklung des Heiratsverhaltens und der Bedeutungswandel der Ehe wirken sich auch auf die rechtliche Stellung der Neugeborenen aus. In der europäischen Geschichte wurde die überwiegende Zahl der Kinder von verheirateten Müttern geboren. In der Frühen Neuzeit kamen in Deutschland kaum mehr als drei oder vier Prozent aller Kinder unehelich zu Welt. Im 18. Jahrhundert setzte allerdings ein Wandel ein, der im 19. und 20. Jahrhundert zu einer insgesamt höheren, wenn auch stark schwankenden Unehelichkeit führte. Daten für ganz Deutschland liegen seit den 1850er Jahren vor. Zwischen der Mitte des 19. und des 20. Jahrhunderts schwankte die Illegitimitätsquote, die den Anteil der unehelich Geborenen an allen Geborenen wiedergibt, zwischen neun und 12 Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg sank die Illegitimitätsquote bis in die späten 1960er Jahre ab, in denen sie mit fünf Prozent den niedrigsten Wert seit dem 18. Jahrhundert erreichte. Der „Babyboom“ der 1960er Jahre fand innerhalb von Ehe und Familie statt, wozu auch der historische Tiefstand des Heiratsalters in dieser Periode beitrug. Ab 1970 setzte dagegen ein langfristiger Anstieg der Unehelichkeit ein, der sich in den 1990er Jahren spektakulär beschleunigte. 1999 lag die Illegitimitätsquote in Deutschland mit 22 Prozent weit über allen bisherigen Werten des 19. und 20. Jahrhunderts. In diesen Schwankungen kommen langfristige Veränderungen in der Bedeutung von Familie und Ehe ebenso zum Ausdruck wie kurzfristige Einflüsse von gesellschaftlichen Krisen. Der Anstieg der Unehelichkeit bis in die 1870er Jahre steht im Zusammenhang mit dem sozial-ökonomischen Strukturwandel der frühen Industrialisierung. Er wird von manchen Historikern optimistisch als Ausdruck einer sexuellen Befreiung, von anderen pessimistisch als Ergebnis des Zusammenbruchs traditioneller sozialer Bindungen interpretiert. Der Rückgang der Illegitimität im Kaiserreich deutet auf die Stabilisierung eines traditionellen Familienleitbilds in den unteren Schichten hin. Die Jahre von 1914 bis 1945 erscheinen als Krisen bedingte Unterbrechung der allgemeinen Wertschätzung von Familie und Ehe, die dann nach dem Krieg in der Zeit des Wirtschaftswunders und des „Babybooms“ umso deutlicher zum
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Ausdruck kam. Der neuerliche und immer schnellere Wiederanstieg der Unehelichkeit seit den 1970er Jahren stellt dagegen einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit dar und steht in Zusammenhang mit der Verbreitung von nichtehelichen Lebensstilen. Die über Jahrhunderte bestehende Bindung der Geburt an die Ehe wird zunehmend schwächer.
Neue Bedeutung der Unehelichkeit
4.6 Wandel der Altersstruktur Das Zusammenspiel von Mortalität, Fertilität und Migration prägt die Altersstruktur. Trotz des enormen Wachstums der deutschen Bevölkerung im 19. Jahrhundert blieb ihre altersmäßige Zusammensetzung bis zum Ersten Weltkrieg relativ stabil. Mehr als ein Drittel machten die Kinder (bis zum 15. Lebensjahr) aus, der Anteil der älteren Menschen (60+) lag dagegen nur bei sechs bis acht Prozent, ein Altenanteil, der auch in der Frühen Neuzeit nicht ungewöhnlich gewesen ist. Vor allem die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit bewirkte, dass sich trotz eines ständigen Geburtenüberschusses der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung kaum veränderte. Im regionalen Vergleich schwankten die Werte aber doch beträchtlich. In Regionen mit besonders hoher Säuglingssterblichkeit, wie z. B. in Bayern, lag der Anteil der unter 15-Jährigen knapp unter 30 Prozent, während der Anteil der über 60-Jährigen, als statistische Folge davon, fast zehn Prozent erreichte. Um die Jahrhundertwende lief der beginnende Geburtenrückgang mit der Verbesserung der Überlebenschancen für Säuglinge und Kleinkinder parallel, sodass der hohe Kinderanteil an der Bevölkerung im Großen und Ganzen bis zum Ersten Weltkrieg erhalten blieb. Zu gravierenden Veränderungen der Altersstruktur kam es erst im 20. Jahrhundert. Der Anteil der Kinder sank im Lauf des Jahrhunderts um mehr als die Hälfte ab, der Anteil der Älteren stieg umgekehrt auf das Dreifache an. Die Ursache dafür liegt weniger im Rückgang der Sterblichkeit, als im Sinken der Geburtenrate. Die beiden Phasen eines beschleunigten Fertilitätsrückgangs im Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit, und dann wiederum von den 1970er Jahren an, führten zur Gewichtsverlagerung in der Altersstruktur von den Kindern und Jugendlichen zu den älteren Menschen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde auch die zunehmende Lebenserwartung im Alter zu einem Faktor, der zum Anstieg des Altenanteils an der Bevölkerung beitrug. Dass die Lebenserwartung im Alter bei Frauen schneller zunahm als bei Männern (vgl. dazu Kapitel I.4.3), führte zu einer deutlichen Verweiblichung des „dritten Alters“. Die höhere Sterblich-
Lange Kontinuität der Altersstruktur
Steigender Anteil älterer Menschen
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I. Enzyklopädischer Überblick
Tabelle 7: Wandel der Altersstruktur Anteil der Altersgruppen in Prozent (a)
1816–1861 1871–1900 1910 1925 1939 1950 1960 1970 1980 1990 2000
(b)
(c) (d) (d) (d) (d)
0–15
15–60
60–
35 35 34 26 23 23 22 23 18 16 15
59 57 58 64 65 62 61 57 63 64 61
6 8 8 10 12 15 17 20 19 20 24
a) Die Grenzen der Altersgruppen zwischen 14 und 15 sowie zwischen 60 und 61 sind in einigen Statistiken nicht eindeutig. Dies kann zu Abweichungen bis zu einem Prozent führen. b) Preußen. c) Deutsches Reich in den Grenzen von 1937. d) BRD und DDR Quellen: 6: A. KRAUS, Quellen; 60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte; 11: STATISTISCHES JAHRBUCH.
Altersstruktur in Bundesrepublik und DDR Geringerer Altenanteil in der DDR
keit der Männer im Zweiten Weltkrieg verstärkte diesen Trend. Die Zahl der über 70-jährigen Frauen war 2000 mit mehr als sechs Millionen fast doppelt so hoch wie jene der Männer (rund 3,2 Millionen). Obwohl die Bevölkerungsentwicklung in der BRD und in der DDR entgegengesetzt verlief, mit einer starken Zunahme im westlichen und einer Abnahme im östlichen Teil Deutschlands (vgl. dazu Kapitel I.3.3), unterschied sich die Altersstruktur der beiden deutschen Staaten nur wenig. Der Anteil der älteren Menschen lag in der DDR von den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre über jenem der BRD, deren Bevölkerung sich durch die starke Immigration dieser Periode verjüngte. In den 1980er Jahren sank der Altenanteil der DDR dagegen unter jenen der BRD, was auf das Zusammenwirken von mehreren Faktoren zurückzuführen ist: Die legale Auswanderung von der DDR in die Bundesrepublik war nach 1961 fast ausschließlich Rentnern gestattet, was den Altenanteil im Osten senkte, im Westen erhöhte. Dazu kommt, dass in der DDR nun jene Jahrgänge in das höhere Alter kamen, die vor 1961, als damals 20- oder 30-Jährige, besonders stark an Flucht und Übersiedlung in den Westen beteiligt gewesen waren und deshalb an zahlenmäßigem Gewicht verloren hatten. Auch die etwas geringere Le-
4. Die langen Trends
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benserwartung für die höheren Jahrgänge in der DDR trug zur Reduzierung des Altenanteils bei. In der Bundesrepublik war vor allem der Rückgang der Arbeitsimmigration zwischen 1974 und 1989 jener Faktor, der das Gewicht der älteren Jahrgänge erhöhte. Der Vergleich zwischen BRD und DDR zeigt das außerordentlich komplexe Zusammenwirken einzelner demographischer Faktoren, deren Ergebnis die Altersstruktur einer Gesellschaft bildet. Der Vergleich zeigt auch, dass eine „junge“ Gesellschaft nicht notwendigerweise eine attraktivere und zukunftsfähigere Gesellschaft ist. 1990, am Ende ihrer von kontinuierlichen Bevölkerungsverlusten geprägten Geschichte, war die DDR „jünger“ als die Bundesrepublik. Die sozialpolitische Diskussion konzentriert sich gegenwärtig auf das Verhältnis der potenziell erwerbstätigen Altersgruppen zu jenen, die aufgrund der Jugend oder des Alters in der Regel nicht am Erwerbsleben teilnehmen. Tabelle 7 fasst die Altersgruppen zwischen 15 und 60 als potenzielle Erwerbstätige zusammen. Langfristig betrachtet blieb der Anteil dieser Altersgruppen relativ stabil. Im 19. Jahrhundert entfielen 57 bis 59 Prozent der Bevölkerung auf dieses Alter, im 20. Jahrhundert – von wenigen Ausnahmen abgesehen – 61 bis 65 Prozent. Das Verhältnis von „erwerbsfähiger“ und „nichterwerbsfähiger“ Bevölkerung gestaltete sich also im 20. Jahrhundert günstiger als im 19. Jahrhundert. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der Rückgang des Kinderanteils schneller verlief als der Anstieg des Altenanteils. In den kommenden Jahrzehnten wird sich dieses Verhältnis vermutlich umkehren. Die meisten Prognosen nehmen an, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen nur mehr langsam sinken, der Anteil der älteren Menschen dagegen stark und schnell steigen wird. Zusammengenommen wird dies eine Umschichtung von der „erwerbsfähigen“ zur „nichterwerbsfähigen“ Bevölkerung bedeuten. Die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes gehen davon aus, dass der Anteil der 20- bis 60-Jährigen an der deutschen Bevölkerung von 56 Prozent im Jahr 2000 auf 48 Prozent im Jahr 2050 zurückgehen wird. In derartige Prognosen fließen natürlich viele schwer vorherzusagende Faktoren ein, nicht zuletzt das Ausmaß der Migration. Auch wenn man die prognostizierte Entwicklung für realistisch hält, bleibt es schwierig, ihre Auswirkungen zu beurteilen. Schwankungen in diesem Ausmaß hat es auch im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts gegeben. Vor allem sollte man sich hüten, einen hohen Anteil an „Erwerbsfähigen“ automatisch mit wirtschaftlicher Prosperität gleichzusetzen. Wie Tabelle 7 zeigt, wies die Periode des Kaiserreichs mit ihren hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten einen sehr niedrigen Anteil an potenziell Erwerbstätigen auf,
Steigender Anteil potenziell Erwerbstätiger
Altersstruktur und Prosperität
56
Grund für düstere Prognosen?
I. Enzyklopädischer Überblick
die Krisenperiode 1914–1945 dagegen einen sehr hohen Anteil. Interessanterweise wurde gerade in den 1920er Jahren mit ihrer außergewöhnlich günstigen Altersstruktur im öffentlichen Diskurs die Gefahr der „Vergreisung“ besonders dramatisch beschworen. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich kein Zusammenhang zwischen den Veränderungen der Alterstruktur und den Konjunkturzyklen erkennen. Dazu kommt, dass die Stärke einer Altersgruppe ein sehr unzuverlässiger Indikator für die Zahl der Erwerbstätigen ist. Die Macht der Geschlechterrollen (das Alleinverdiener-Hausfrauen-Modell), die Beschaffenheit der Arbeitsmärkte (zwischen Arbeitskräftemangel und Arbeitslosigkeit), die Struktur der Ausbildungs-, Renten- und Sozialsysteme und viele andere Faktoren stecken den Rahmen, in dem der Übertritt von der altersmäßigen Erwerbsfähigkeit zur tatsächlichen Erwerbstätigkeit erfolgt. Die Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte mahnt zur Vorsicht gegenüber düsteren wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Prognosen, die aus dem Wandel der Altersstruktur abgeleitet werden.
1. Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie
57
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung 1. Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie haben sich seit den 1970er Jahren in der deutschen Geschichtswissenschaft etabliert. Wenn sie auch eine deutlich geringere Rolle innerhalb der historischen Forschung spielen, als dies in anderen westeuropäischen Ländern der Fall ist, so sind sie doch als relevante Teilgebiete oder Spezialfächer anerkannt, und demographische Themen finden in zunehmendem Maß auch in geschichtswissenschaftliche Synthesen Eingang. Aufgrund der geringen institutionellen Verankerung der Bevölkerungswissenschaften an den deutschen Universitäten werden in Deutschland – auch dies im Unterschied zu andern westlichen Wissenschaftskulturen – historisch-demographische Forschungen kaum von Demographen, sondern überwiegend von Historikern durchgeführt. Weitgehend unerforscht ist allerdings die Ausbreitung demographischer Themen, Fragestellungen und Methoden in der deutschen Geschichtswissenschaft geblieben. Die erste umfassende Darstellung der Geschichte der Bevölkerungswissenschaften in Deutschland [15: B. VOM BROCKE, Bevölkerungswissenschaft] klammert Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie nicht aus, widmet ihr aber auch keine spezielle Aufmerksamkeit. Bisher gibt es nur zwei knappe Versuche einer systematischen Darstellung der Geschichte dieser Spezialgebiete, die von zwei ihrer einflussreichsten Vertreter verfasst wurden: die Beiträge von W. KÖLLMANN [27: Bevölkerungsgeschichte] und A. E. IMHOF [26: Historische Demographie] in den von Schieder und Sellin herausgegeben Bänden zum Stand der deutschen Sozialgeschichte in den 1980er Jahren. Dass hier mit Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie zwei unterschiedliche und sogar in expliziten Gegensatz gestellte Konzepte abgehandelt werden, macht schon auf eine unaufgelöste Spannung aufmerksam: Die Spannung zwischen Bevöl-
Etablierung historischer Bevölkerungsforschung
Gegensätzliche Konzepte
58 Bevölkerungsgeschichte als Makroanalyse
Historische Demographie als Mikroanalyse
Bevölkerungsgeschichte im Nationalsozialismus
„Volkskörperforschung“
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
kerungsgeschichte, die – im Verständnis W. KÖLLMANNs [27: Bevölkerungsgeschichte, 18] – „demographische Strukturen und strukturwandelnde Prozesse raumgebundener sozialer Kollektive“ makroanalytisch untersuche, und Historische Demographie, die – nach A. E. IMHOF [26: Historische Demographie, 47] – „auf dem Individuum“ basiere und dessen demographisches Verhalten mikroanalytisch erforsche. KÖLLMANN [Ebd., 16] stellt sein Konzept von Bevölkerungsgeschichte in eine spezifisch deutsche wissenschaftliche Tradition, die in den 1930er Jahren besonders fruchtbar gewesen sei, während IMHOF [Ebd., 66] die Forschungsgeschichte der Historischen Demographie in Deutschland in den 1960er Jahren beginnen lässt und französische, englische, skandinavische und nordamerikanische Einflüsse als prägend anführt. Die Spannung zwischen diesen beiden Konzepten stellt in der Tat eine Besonderheit der deutschen Wissenschaftsgeschichte dar. Für die bevölkerungsgeschichtliche Traditionslinie, auf die sich W. Köllmann bezieht, stellt sich die Frage, welches denn das grundlegende „raumgebundene Kollektiv“ sei, das den Gegenstand der Bevölkerungsgeschichte bilde. Im späten 19. Jahrhundert entstand die Bevölkerungsgeschichte im Rahmen der Bevölkerungsstatistik und der Nationalökonomie, beides wissenschaftliche Disziplinen mit engen Bindungen an den Nationalstaat. In den 1920er und 1930er Jahren rückten „Volk“ und „Rasse“ in den Mittelpunkt des Interesses. Bevölkerungsgeschichte wurde im Kontext der „Volksgeschichte“ neu definiert. Sie müsse, so A. HELBOK 1935, von den „alten sozialgeschichtlichen Fragestellungen“ der bisherigen „historischen Bevölkerungsstatistik“ zu den „heutigen tieferen biologischen Fragestellungen“ vordringen [87: Volksgeschichte, 38–41]. E. KEYSER, der führende Bevölkerungshistoriker des „Dritten Reichs“, verstand unter Bevölkerung die Gesamtheit der in einem bestimmten Raum lebenden biologisch definierten Gruppen, zu denen er vor allem Völker, aber auch Stände, Berufsgruppen und Familien zählte [92: Bevölkerungsgeschichte, 2, 7]. Eine ähnliche Position vertrat er noch 1956. Gegenstand der Bevölkerungsgeschichte seien nicht die Staaten, die als „Gemeinschaften des Willens (. . .) vergänglich“ seien und – wie der preußische Staat – auch verschwinden könnten. Der eigentliche Gegenstand der Bevölkerungsgeschichte seien vielmehr die „natürlich gegebenen Gemeinschaften des Ursprungs, wie die Familie, die Sippe, der Stamm, das Volk“. Die grundlegenden Themen und Begriffe der Bevölkerungsgeschichte seien demnach „Übervölkerung und Entvölkerung, Unterwanderung, Geburtenrückgang, Vergreisung, Rassen und Lebensräume“ [93: Erforschung, 495 f.]. Dieses „völkische“ Verständnis von Bevölkerungsgeschichte
1. Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie
59
schloss auch die „erbbiologischen“ und „familienanthropologischen“ Interessen ein, die in den Jahren um den Ersten Weltkrieg zunehmende Verbreitung fanden und in den 1920er und 1930er Jahren zu einer Flut von lokalen und regionalen Studien zur „Volkskörperforschung“ führten. W. KÖLLMANN nahm in den 1960er und 1970er Jahren gegenüber diesen Traditionen eine ambivalente Haltung ein. „Erbbiologischen“ Lokalstudien stand er ablehnend gegenüber, die „völkischen“ Theorien Gunther Ipsens versuchte er dagegen in eine moderne Bevölkerungsgeschichte zu integrieren [28: W. KÖLLMANN/P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte; zu Ipsen 18: J. EHMER, Bevölkerungsgeschichte]. KÖLLMANNs eigene empirische Arbeiten waren aber auf den Nationalstaat konzentriert. Sein bekanntestes Werk aus den frühen 1960er Jahren, der vierte Band des so genannten Bevölkerungs-Ploetz [48: Bevölkerung und Raum], ist ein frühes Beispiel einer nationalstaatlich orientierten und zugleich vergleichenden Bevölkerungsgeschichte. In der Forschungspraxis setzte er „raumgebundenes soziales Kollektiv“ mit Staatsbevölkerung gleich. Für A. E. IMHOF, den Begründer der modernen Historischen Demographie in Deutschland, verkörperte all dies eine „Bevölkerungsgeschichte traditioneller Art, die sich auf – oft publizierte – vitalstatistische Reihen sowie auf die Resultate von Bevölkerungszählungen stützt und dementsprechend meist makroregional ausgerichtet ist (ein ganzes Land, eine Provinz, die Gesamtheit der Städte als Basis-Einheit)“ [24: Einführung, 36]. Er hielt dies nicht für überflüssig, aber doch nur in Kombination mit den Fragestellungen der Historischen Demographie für sinnvoll. Deren wesentliches Merkmal sah er darin, dass sie an „keinen bestimmten Standort gebunden“ sei und sich gerade nicht an einem bestimmten Territorium orientiere, sondern ausschließlich an inhaltlichen Fragestellungen. „Menschen werden überall geboren, bilden Familien, migrieren, sterben (. . .). Der Reiz historisch-demographischen Arbeitens erwächst zu einem großen Teil aus (einem) Spannungsverhältnis: einerseits intensivste Feldforschung auf Mikroniveau, andererseits wegen der Homogenität der Quellen und Fragestellungen Austausch der Forschungsergebnisse und daraus ständige Kontakte auf internationaler Ebene“ [Ebd., 9 f.]. In Deutschland ist die Quellenlage für lokale historisch-demographische Untersuchungen außergewöhnlich günstig. Seit dem Jahrhundertbeginn haben Genealogen und in den 1920er und 1930er Jahren „völkisch“ und rassistisch orientierte Bevölkerungsforscher aus Kirchenbüchern eine große Zahl von Familienbüchern oder Ortssippenbü-
Ambivalente Positionen Köllmanns
Imhofs Kritik der Bevölkerungsgeschichte
Mikrogeschichte und Internationalität
Genealogische Quellen
Ortssipppenbücher
60
Demographische Themen in Lokalstudien
Mangel an überregional vergleichenden Forschungen
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
chern erstellt, von denen mehr als 200 gedruckt oder maschinenschriftlich und noch sehr viel mehr in Manuskriptform vorliegen [1: W. BÖSER, Ortssippenbücher]. Im „Dritten Reich“ dienten diese Quellen direkt den rassistischen Selektionsbestrebungen des nationalsozialistischen Regimes [83: M. GAILUS, Sozialpfarrer]. Nach 1945 wurden sie zwar von der akademischen Wissenschaft nicht mehr zur Kenntnis genommen, aber in einer kaum zu überblickenden Zahl von Lokalstudien ausgewertet [12: V. WEISS/K. M. MÜNCHOW, Ortsfamilienbücher]. In demographischer Hinsicht ist die Qualität dieser Studien allerdings sehr unterschiedlich. Ein koordinierendes und methodisch vereinheitlichendes Forschungszentrum wie in England die „Cambridge Group for the History of Population and Social Structure“ ist in Deutschland nicht entstanden. Erst von den 1970er Jahren an begann sich die entstehende Historische Demographie auf diese Quellen zu stützen [136: A. E. IMHOF, Ländliche Familienstrukturen, 198 ff.; 68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 12 ff.]. Viele der interessantesten neueren historisch-demographischen Lokalstudien sind ausdrücklich [141: H. MEDICK, Weben, 123 f.; 143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe, 19 f.] oder der Sache nach [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben; 144: S. SCHRAUT, Sozialer Wandel; und viele andere] dem Paradigma der „Mikrogeschichte“ verpflichtet. Dies beinhaltet eine kritische Distanz gegenüber einer makroanalytischen Bevölkerungsgeschichte ebenso wie gegenüber einer auf demographische Phänomene beschränkten Historischen Demographie. Ihr Ziel ist es vielmehr, „die Isolierung demographischer Aspekte“ zu überwinden, die Analyse auf ökonomische und soziale Fragen auszudehnen und „in die Tiefen einer lokalen Gesellschaft einzudringen“ [143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe, 24]. Bestrebungen, die Fülle der Ergebnisse lokaler historisch-demographischer Forschungen zu einer „nationalen Bevölkerungsgeschichte“ zusammenzufassen, wie Wrigley und Schofield dies in ihrer „Population History of England“ taten [39: T. SOKOLL, Historische Demographie, 413 ff.], haben sich dagegen in Deutschland nicht entwickelt. J. KNODELS [68] „Demographic Behavior in the Past“ ist der bisher einzige Versuch, aus der Analyse von 14 Dörfern verschiedener Teile Deutschlands systematische Aussagen über demographische Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert abzuleiten. Überregionale und vergleichende Perspektiven wurden sonst nur für Teilfragen entwickelt. Dazu gehören vor allem die im Umkreis von A. E. IMHOF entstandenen Studien zu Lebenserwartung und Mortalität [226: IMHOF, Lebenserwartungen; 230: I. E. KLOKE, Säuglingssterblichkeit] oder auch J. SCHLUMBOHMs [70: Sozialstruktur und Fortpflanzung;
1. Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie
61
289: Soziale Unterschiede] vergleichende Analysen des Heiratsverhaltens und der Fertilität. Überblicksdarstellungen, die sich auf ganz Deutschland beziehen und alle Aspekte der Demographie einbeziehen, stehen dagegen in der bevölkerungsgeschichtlichen makroanalytischen Tradition [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte; 56: M. HUBERT, Deutschland]. Sie liegen nur für das 19. und 20. Jahrhundert vor und verwenden ausschließlich die aggregierten Daten der amtlichen Statistik. Eine Synthese der lokalen historisch-demographischen Forschungen streben sie nicht an. Bisher hat nur R. GEHRMANN in seiner [120] „Bevölkerungsgeschichte Norddeutschlands“ makro-statistische Daten systematisch mit den Ergebnissen von Lokalstudien kombiniert und damit die Spaltung von Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie überwunden. Seine Arbeit weist einen neuen Weg, ist aber auf einen begrenzten Raum und auf die Periode von etwa 1740 bis 1840 beschränkt. Durch die Trennlinie zwischen Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie ist es in Deutschland „zu einer eigentümlichen Dreiteilung demographischer Forschungsinteressen gekommen, die bis heute anhält und die deutsche Forschung im internationalen Feld wieder zurückgeworfen hat. Diejenigen, die auf dem Gebiet der historischen Demographie arbeiten, konzentrieren sich vornehmlich auf das 17. bis 19. Jahrhundert (. . .). Dagegen beschränkt sich die Bevölkerungsgeschichte in der Nachfolge Köllmanns nach wie vor auf das 19. und 20. Jahrhundert, während sich die moderne Bevölkerungswissenschaft so gut wie ausschließlich mit aktuellen Fragen der Bevölkerungsentwicklung und -politik befasst“ [40: T. SOKOLL/R. G. GEHRMANN, Historische Demographie, 160]. Die „bevölkerungsgeschichtliche“ Tradition, die W. Köllmann betonte, geriet in den letzten Jahren vor allem in Zusammenhang mit der Diskussion um die Rolle deutscher Historiker im Nationalsozialismus in den Blick. Bekanntlich hat sich in der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem Anfang der neunziger Jahre eine neue Debatte um die Geschichte des Fachs in der NS-Zeit entwickelt [85: I. HAAR, Historiker; 103: P. SCHÖTTLER, Geschichtsschreibung; 104: W. SCHULZE/ O. G. OEXLE, Deutsche Historiker]. Brisanz gewann dieses Thema auch deshalb, weil es die Frage nach Kontinuitäten von der nationalsozialistischen „Volksgeschichte“ zur Sozialgeschichtsschreibung der Bundesrepublik aufwarf [97: W. OBERKROME, Volksgeschichte]. Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungswissenschaften insgesamt werden in diesem Kontext als wesentliche Bestandteile der nationalsozialistischen „Volksforschung“ immer wieder angesprochen. Dies geschieht
Bevölkerungsgeschichtliche Synthesen
Dreiteilung der Forschung
Historiker im Nationalsozialismus
Bevölkerung in „Volksgeschichte“ und „Volksforschung“
62
Bevölkerung als innovativer Ansatz?
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
vor allem in zwei Diskussionszusammenhängen. Der erste betrifft die Beziehungen zwischen Bevölkerungswissenschaften und nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik, insbesondere der Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik in Osteuropa [74: G. ALY, „Endlösung“; 75: G. ALY/S. HEIM, Vordenker der Vernichtung; 81: M. FAHLBUSCH, Wissenschaft; vgl. dazu Kapitel II.2.2). Ein zweiter Diskussionsstrang betrifft die Frage, ob „Volksgeschichte“ und „Volksforschung“ trotz (oder neben) ihrer unbestrittenen ideologischen und politischen Funktionen methodisch innovativ gewesen seien oder zumindest einzelne innovative Ansätze enthalten hätten, die für die Entwicklung der späteren bundesrepublikanischen Sozialgeschichtsschreibung förderlich gewesen seien. Ein zentrales Argument der „Innovationsthese“ besteht darin, dass die „Volksgeschichte“ innerhalb einer bis dahin um Staat und Politik zentrierten Geschichtswissenschaft den Blick auf neue Themen und Wirklichkeitsbereiche erschlossen habe. Dabei werden „Bevölkerung“ und einzelne demographische Themen wie Migrationen an vorderster Stelle genannt. In den letzten Jahren wird die Innovationsthese im Allgemeinen [103: P. SCHÖTTLER, Geschichtsschreibung, 18] wie auch im Hinblick auf die Bevölkerungsgeschichte [82: A. FLÜGEL, Ambivalente Innovation] allerdings zunehmend kritisch beurteilt.
2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik
Multidisziplinarität der Bevölkerungswissenschaft
Staats- und Politiknähe
Die Unsicherheit von Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie über ihren Gegenstand und ihr Verhältnis zueinander hängt damit zusammen, dass die Bevölkerungswissenschaft insgesamt keine fest umrissenen Konturen hat und nach Ansicht vieler ihrer Vertreter „erst auf dem Weg zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin“ ist [14: H. BIRG, Johann Peter Süßmilch, 53]. N. C. LÖSCH, der dem Anatomen, Anthropologen und Rassenhygieniker Eugen Fischer, einer der prägenden Figuren der deutschen Bevölkerungswissenschaft in den 1930er Jahren, eine ausführliche Darstellung widmete [96: Rasse als Konstrukt], spricht deswegen von einer „Multidisziplin“ bzw. von einem ganzen „Biotop der Bevölkerungswissenschaften“ [in 33: R. MACKENSEN, Bevölkerungsfragen, 156 f.]. Ein gemeinsamer Fluchtpunkt dieser „Multidisziplin“ war allerdings ihre Nähe zu Staat und Politik. Bevölkerungswissenschaftler boten einen allgemeinen theoretischen Rahmen für politisches Handeln, sie forderten staatliche Bevölkerungs-
2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik
63
politiken und sorgten umgekehrt für deren wissenschaftliche Legitimation. Staats- und Politiknähe der Bevölkerungswissenschaften sind internationale und epochenübergreifende Phänomene, die für viele Länder untersucht wurden, wie zum Beispiel für Frankreich und die USA [20: S. GREENHALGH, Social Construction; 332: S. SZRETER, Idea; 29: R. LENOIR, Erfindung]. In Deutschland war die enge Verbindung von Bevölkerungswissenschaften und Politik besonders folgenreich. Die Bevölkerungswissenschaft war „wie kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin in die Umbrüche, Zusammenbrüche, Verwerfungen der deutschen Geschichte und in den Kampf der Ideologien verwickelt“ [15: B. VOM BROCKE, Bevölkerungswissenschaft, 11]. Die Forschungsdiskussion hat sich dabei auf zwei Perioden angewandter Bevölkerungspolitik konzentriert: auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, während der in den meisten deutschen Staaten mittels Heiratsverboten die Fortpflanzung der Unterschichten gehemmt werden sollte, und auf die Periode des Nationalsozialismus. 2.1 Paradigmen der Bevölkerungspolitik: Von der „Übervölkerungsangst“ zur „Entvölkerungsangst“ Die Geschichte von Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik ist von zeittypischen Leitdiskursen geprägt. Im 18. Jahrhundert herrschte der Geist der Populationistik vor, für den in der Bevölkerungsvermehrung „die Glückseligkeit eines Staates“ bestand, wie es J. P. SÜSSMILCH 1741 ausdrückte [41: Göttliche Ordnung, I, 151]. Süßmilch, der vom Feldprediger zum Oberkonsistorialrat und schließlich zum Mitglied der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften aufstieg, gilt als der führende deutsche Bevölkerungswissenschaftler des 18. Jahrhunderts [vgl. 14: H. BIRG, Johann Peter Süßmilch]. Die Forschung hat allerdings noch zu wenig zwischen den verschiedenen Varianten des Bevölkerungsdenkens in Merkantilismus und Kameralismus differenziert, in denen sowohl „Über-“ als auch „Entvölkerungsfurcht“ zum Ausdruck kamen. Wie es scheint, herrschte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts das Streben nach einem Gleichgewicht zwischen „Menge der Einwohner“ und „Nahrung“ vor, wie die zentralen Kategorien bei Süßmilch hießen [304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 34 ff.], während sich erst in den 1760er Jahren der Akzent auf einen „Populationsoptimismus“ verschob, der das Wachstum der Bevölkerung als Motor des Wirtschaftswachstums ansah. Am Beispiel von Baden-Durlach hat G. FERTIG [163: Lokales Leben, 385 ff.] diese zweite Phase populationistischen Bevölkerungsdenkens mit der Rezeption der
Streben nach Bevölkerungswachstum
Populationsoptimismus
64
Angst vor Bevölkerungswachstum Pauperismus
Malthus-Rezeption
Heiratsverbote für Unterschichten
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Schriften des Kameralisten Johann H. von Justi in Zusammenhang gebracht. Im 19. Jahrhundert fand jedenfalls ein grundlegender Paradigmenwechsel statt, in dem die Furcht vor „Übervölkerung“ zum Leitmotiv wurde. In Deutschland vollzog sich dieser Wandel im Kontext der Pauperismus-Diskussion [73: H.-U. WEHLER, Gesellschaftsgeschichte II, 281 ff.]. K.-J. MATZ [312: Pauperismus, 74 f.] schätzt, dass rund zwei Drittel der zeitgenössischen Autoren, die sich mit Problemen des Pauperismus beschäftigten, eine „Übervölkerung“ oder „das Überwuchern eines massenhaften und unvernünftig sich mehrenden Proletariats als wichtige Ursache für das wachsende Elend breiter Schichten im Vormärz betrachteten“. In Deutschland wurde die Idee eines Zusammenhangs zwischen Bevölkerungswachstum und Armut wesentlich durch die Rezeption der Schriften des englischen Theologen und Ökonomen Thomas Robert Malthus beeinflusst [38: R. P. SIEFERLE, Bevölkerungswachstum; 52: M. FUHRMANN, Volksvermehrung, 303]. Sie dienten zur wissenschaftlichen Legitimierung von bevölkerungspolitischen Maßnahmen, in deren Zentrum Heiratsverbote für Angehörige der Unterschichten standen. Der im 18. Jahrhundert angestrebte Staatsinterventionismus mit dem Ziel der Förderung von Heiraten und Volksvermehrung wurde abgelöst von einem Staatsinterventionismus zur Verhinderung von Heiraten und Bevölkerungswachstum, allerdings in Konkurrenz mit liberalen Ideen, die staatliche Bevölkerungspolitik ablehnten [52: M. FUHRMANN, Volksvermehrung, 417]. Staatliche Ehebeschränkungen gehen in Deutschland bis in das 17. Jahrhundert zurück, aber erst im frühen 19. Jahrhundert wurden sie in Form des „politischen Ehekonsenses“ rechtlich vereinheitlicht [304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 45 ff.]. Besonders restriktive Bestimmungen wurden in den süddeutschen Staaten in den 1830er und dann nochmals in den 1850er Jahren erlassen, während in Norddeutschland ein breites Spektrum zwischen liberalen und restriktiven Regelungen bestand. Preußen war der einzige deutsche Staat ohne politischen Ehekonsens (zu den regionalen Schwerpunkten und zur Periodisierung vgl. 312: K.-J. MATZ, Pauperismus, 181]. Erst in der Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes (1868) und schließlich des Reichs (1871) wurde die Beschränkung der Ehe aus wirtschaftlichen, politischen oder polizeilichen Gründen abgeschafft, wenn auch Ausnahmen für Bayern bis 1916, im österreichischen Tirol sogar bis 1921, weiter bestanden [4: W. HUBBARD, Familiengeschichtliche Materialien, 48; 311: E. MANTL, Legal Restrictions, 187]. Bei der Beurteilung der praktischen Auswirkungen des politi-
2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik
65
schen Ehekonsenses legen gerade Historische Demographen große Zurückhaltung an den Tag. „Without more precise information on the nature of such local regulations on marriage in the local communities under study, an exacting analysis of their possible effect on illegitimacy trends is not possible“ [68: J. KNODEL, Demographic Behaviour, 195]. Einzelne Lokalstudien, wie zum Beispiel über Esslingen, sind als „Ausdruck des geringen Wirkungsgrades der gesetzlichen Ehehindernisse“ zu interpretieren [144: S. SCHRAUT, Sozialer Wandel, 137]. Nach den Schätzungen von K.-J. MATZ [312: Pauperismus, 233] wurden in der Periode der stärksten Einschränkungen von 1852 bis 1863 in Württemberg rund sechs Prozent aller beabsichtigten Ehen verhindert, in Baden etwa gleich viel, in Hessen weniger, in Bayern mehr. Ob bzw. in welchem Ausmaß diese Werte das Bevölkerungswachstum beeinflussten, wurde noch nicht systematisch erforscht. Gerade angesichts des in dieser Periode so hohen Anteils unehelicher Geburten ist jedenfalls Skepsis angebracht [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 31; vgl. dazu auch Kapitel II.6]. Was die Motive einer restriktiven Bevölkerungspolitik betrifft, so ist die Mehrzahl der deutschen Historiker geneigt, die zeitgenössische Wahrnehmung einer „Übervölkerung“ als Quelle von Verarmung und Verelendung ernst zu nehmen. W. CONZES Aufsatz [64] „Vom ‚Pöbel‘ zum ‚Proletariat‘“ (1954) übte in dieser Hinsicht großen Einfluss aus. Die Annahme, dass „im Vormärz die vorhandene ökonomische Kapazität in Landwirtschaft und Gewerbe durch die Übervölkerung definitiv überfordert wurde“ [73: H.-U. WEHLER, Gesellschaftsgeschichte II, 286] oder dass ganz allgemein ein „Missverhältnis zwischen dem Bevölkerungswachstum und den Erwerbsmöglichkeiten“ [51: CROMM, Familienbildung, 80] bestanden habe, scheint auch gegenwärtig im Rang einer nicht zu hinterfragenden Selbstverständlichkeit zu stehen. Trotz dieser dichten Tradition wurden gegen die Denkfiguren von „Übervölkerung“ und „Verelendung“ Einwände vorgebracht. Zunächst ist die Eignung des zeittypischen, bevölkerungspolitisch und wissenschaftsgeschichtlich so erfolgreichen Begriffs der „Übervölkerung“ als wissenschaftliche und analytische Kategorie in Frage zu stellen [22: S. HEIM/U. SCHAZ, Berechnung und Beschwörung]. Den verschiedenen – durchaus zunehmend komplexeren – Definitionen von „Übervölkerung“ ist gemeinsam, dass sie sich einer empirischen Operationalisierung und Überprüfung entziehen. Kritik an diesem Konzept wurde in den letzten Jahren vor allem im Kontext der Historischen Migrationsforschung laut [163: G. FERTIG, Lokales Leben, atlantische Welt, insbes. 51 ff.; 160: J. EHMER, Migration und Bevölkerung; vgl. dazu auch
Wirksamkeit der Eheverbote
Motive restriktiver Bevölkerungspolitik
Übervölkerung als Topos der Sozialgeschichte Kritik am Übervölkerungs-Diskurs
66
Ausmaß des Wachstums im Vormärz
Ungehemmte Fortpflanzung des Proletariats?
Nachkommenzahl und Besitz
Früher Rückgang der Mortalität
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Kapitel II.3.1]. Für die Realgeschichte des deutschen Vormärz ist zu bedenken, dass Bevölkerungsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und insbesondere die Erforschung des Lebensstandards viel zu wenig entwickelt sind, um die zeitgenössische Vorstellung einer „Übervölkerung“ zu belegen. Die Annahme eines extrem starken Bevölkerungswachstums in der Periode von 1816 bis 1840 beruht auf Datengrundlagen, die aufgrund der in vielen Staaten bzw. Regionen erst am Anfang stehenden Bevölkerungsstatistik noch „keine zu hohen Ansprüche“ an Genauigkeit gestatten [6: A. KRAUS, Quellen, 4; vgl. auch Kapitel I.2]. Außer Frage steht, dass die deutsche Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugenommen hat. Dieses Bevölkerungswachstum – und als angenommene Konsequenz eben der Pauperismus – wird häufig mit „ungehemmter Fortpflanzung“ der Unterschichten infolge sinkenden Heiratsalters und steigender Kinderzahl erklärt [31: G. MACKENROTH, Bevölkerungslehre, 474; 64: W. CONZE, ‚Pöbel‘, 335 ff.; 60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 28]. Neuere empirische Forschungen, vor allem von R. GEHRMANN für Norddeutschland [120: Bevölkerungsgeschichte, 234 ff.], stellen dagegen den vermuteten Zusammenhang zwischen Bevölkerungsvermehrung und „Proletarisierung“ in Frage. „Nach dem bisherigen Stand der Forschung sind Fälle von einer höheren Kinderzahl in klein- und unterbäuerlichen Schichten auf dem Lande als Ausnahme zu werten“, die Annahme einer besonders starken demographischen Vermehrung der Unterschichten demnach als „Fehlschluss“ [Ebd., 236]. Viel wahrscheinlicher ist dagegen, trotz aller dabei nach wie vor zu konstatierenden Unsicherheit [62: CH. PFISTER, Bevölkerungsgeschichte, 95], dass auch im frühen 19. Jahrhundert Besitzende mehr Nachkommen hatten als Besitzlose [120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte, 237; 143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe, 156–158]. Als entscheidende Komponente des Bevölkerungswachstums tritt dagegen stärker die Sterblichkeit in den Blick [59: W. R. LEE, Germany, 147–149]. Die Lebenserwartung bei der Geburt war in Norddeutschland 1835/39 gegenüber 1775/98 von rund 37 auf rund 41 Jahre, also um ein Zehntel, gestiegen [120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte, 139]. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war in ganz Deutschland von einer relativen Stabilisierung der Mortalität geprägt. Wenn auch das Niveau der Sterblichkeit immer noch hoch war, so war doch die extreme Fluktuation der Sterbeziffer, die noch das 18. Jahrhundert beherrscht hatte, einer „Verstetigung“ gewichen [249: R. SPREE, „Volksgesundheit“, 82 ff.]. Die Hungerjahre 1816/17 erscheinen in dieser Sichtweise als „letzte große Subsistenzkrise“ [141: H. ME-
2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik
67
DICK, Weben, 311 f.]. A. E. IMHOF [137: Berlin] sieht in dieser „Verstetigung“ die erste Stufe der demographischen Transition. Die bis 1870 „stabile Sterblichkeit“ mag im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich als Ausdruck der Rückständigkeit Deutschlands erscheinen [56: M. HUBERT, Deutschland, 28], aber sie deutet jedenfalls nicht auf eine Verschlechterung des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung hin (zur Diskussion über den Zusammenhang zwischen Mortalität und Lebensstandard vgl. Kapitel II.4.1). Auch das Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum scheint nicht so negativ gewesen zu sein, wie es unter dem Eindruck der zeitgenössischen Pauperismus-Debatte angenommen wurde. Nach H.-U. WEHLER [73: Gesellschaftsgeschichte II, 32] fielen in die Periode von 1826 bis 1876 „die fünfzig ‚goldenen Jahre‘ der deutschen Landwirtschaft“. Die landwirtschaftliche Produktion habe sich in dieser Periode mengenmäßig verdoppelt [Ebd., 44 f.], stieg also schneller, als die Bevölkerung. WEHLER hält aber trotzdem an der Denkfigur der „Übervölkerung“ fest [Ebd., 52]. Auch unter den Zeitgenossen fand die Annahme von „Übervölkerung“ und die auf ihr beruhende Erklärung von Armut keine ungeteilte Zustimmung. U. FERDINAND [19: Das Malthusische Erbe, 65 ff.] hat diesen lange Zeit völlig verdrängten Traditionsstrang der deutschen Bevölkerungstheorie des frühen 19. Jahrhunderts sichtbar gemacht. Neben anderen Nationalökonomen vertrat vor allem Friedrich List die optimistische Perspektive, dass „Bevölkerungswachstum Bedingung und Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und Fortschritt sei“ [Ebd., 68]. Noch ungeklärt ist, wieweit List in dieser Hinsicht am „Populationsoptimismus“ des späten Kameralismus anknüpfte. Gegen Malthus führte er an, dass „die produktive Kraft der Menschheit zur Hervorbringung von Subsistenzmitteln“ [zit. nach ebd., 66] sich schneller vermehre als die Bevölkerung. Armut sei dagegen Ausdruck von Störungen der ökonomischen Entwicklung. Ähnliche Ansichten vertraten der Frühsozialist Wilhelm Weitling, der sich explizit gegen das „Geschrei der Übervölkerung“ wandte, und von den 1840er Jahren an auch eine Gruppe von Sozial- und Gesundheitsreformern, wie zum Beispiel der Arzt Rudolf Virchow. Gemeinsam war diesen theoretischen und politischen Entwürfen, Armut nicht als Folge von „Übervölkerung“ anzusehen, sondern als Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Mängel. Damit bereiteten sie den Wandel zu einer neuerlichen optimistischen Sichtweise des Bevölkerungswachstums und zu einer Stärkung liberaler, gegen bevölkerungspolitischen Staatsinterventionismus gerichteter Auffassungen vor, die in der zweiten Hälfte des
Stabilisierung der Sterblichkeit
Wachstum der Agrarproduktion
Zeitgenössische Kritik am Übervölkerungs-Diskurs
68
Heiratsverbote und soziale Ungleichheit
Medizin und Rassenhygiene
„Nationalbiologie“
Pluralismus der Weimarer Republik
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
19. Jahrhunderts die Vorherrschaft gewannen [19: U. FERDINAND, Das Malthusische Erbe, 88, 97 ff; 52: M. FUHRMANN, Volksvermehrung, 308]. Zur Interpretation der restriktiven Bevölkerungspolitik des „politischen Ehekonsenses“ wurden Erklärungsmodelle entwickelt, die dem Topos der „Übervölkerung“ vor allem eine legitimatorische Funktion zuschreiben [304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 62 ff.]. In dieser Sichtweise erscheinen die Heiratsbeschränkungen für Angehörige der unteren Schichten als Versuche von lokalen Eliten, in Zeiten schneller sozialer Veränderungen eine tradierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. E. MANTL hat in einer umfassenden Studie über obrigkeitliche Heiratsbeschränkungen in Tirol von 1820 bis 1920 gezeigt, wie sehr in dieser Periode die Ehen von proletarisierten Selbständigen und von Unselbständigen als Bedrohung von überlieferten „dörflichen Ungleichheitssystemen“ erschienen [310: Heirat als Privileg, 134 f.]. Im späten 19. Jahrhundert fand ein neuer Paradigmenwechsel der Bevölkerungswissenschaft statt, den das Eindringen eugenischer, sozial- und rassenhygienischer Vorstellungen charakterisiert [15: B. VOM BROCKE, Bevölkerungswissenschaft, 55 ff.]. In diesem Zusammenhang etablierten sich Medizin und Rassenhygiene als neue Leitdisziplinen für „Bevölkerungsfragen“. Führende Vertreter dieser Richtungen, wie der Arzt und Sozialwissenschaftler Wilhelm Schallmayer, trieben die „biologische Aufladung“ sozialer Phänomene [H.-P. KRÖNER in 33: R. MACKENSEN, Bevölkerungsfragen, 148; 107: P. WEINGART/J. KROLL/K. BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, 163 ff.] voran und konzipierten eine „Nationalbiologie“ als Verbindung von quantitativer und qualitativer Bevölkerungspolitik: „möglichst starke Vermehrung“, um im „Kampf ums Dasein der Völker“ gerüstet zu sein, und ebenso „Steigerung der Erbqualitäten“ durch Förderung der „biologisch Wertvollen“ und „freiwillige oder erzwungene Unfruchtbarkeit der Schlechtesten“ [W. Schallmayer, zit. nach 19: U. FERDINAND, Das Malthusische Erbe, 192 f.]. In derartigen Ideologien gingen Pro- und Antinatalismus, auf der Grundlage ihres gemeinsamen „selektiven“ oder „bedingten“ Charakters, enge Bindungen ein [13: S. BREUER, Ordnungen, 239]. Die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik ermöglichten ein pluralistisches Spektrum von bevölkerungswissenschaftlichen und -politischen Ansätzen, die von Sexualberatung und der Freigabe von Antikonzeptiva bis zur Forderung nach Euthanasie reichten [19: U. FERDINAND, Das Malthusische Erbe, 277]. Die Forschung hat sich vor allem auf die Radikalisierung des biologistischen Bevölke-
2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik
69
rungsdenkens konzentriert, die von einer rassenhygienischen Interpretation der Kriegsverluste und durch die beginnende Wahrnehmung des Geburtenrückgangs verstärkt wurde. Friedrich Burgdörfer zum Beispiel, einer der führenden Bevölkerungsstatistiker der Weimarer Republik und später des „Dritten Reichs“, lieferte Grundlagen für den rechtskonservativen und nationalsozialistischen Bevölkerungsdiskurs [106: F. VIENNE, Volk ohne Jugend]. Schon in der Weimarer Republik nahmen „Bevölkerungsfragen“ allerdings, weit über Fachwissenschaftler hinaus, in der Gedankenwelt rechtsradikaler Intellektueller einen zentralen Stellenwert ein. U. HERBERT [89: Best, 91 ff.] hat dies am Beispiel des überaus einflussreichen Buchs von Edgar Jung, „Die Herrschaft der Minderwertigen“ (1927), verdeutlicht. Jung hat sich explizit auf die Schriften von Bevölkerungswissenschaftlern wie Schallmayer, Harmsen oder Burgdörfer bezogen [Ebd., 92, 557]. Die „Bevölkerungsfrage“ wurde nicht nur vom rechten Rand des politischen Spektrums als relevant angesehen, sondern – wie vor allem M. SCHWARTZ [105: Sozialismus und Eugenik] nachgewiesen hat – auch von der Linken. Ihre politische Sprengkraft wird von der neueren Forschung aber doch vor allem darin gesehen, dass sie einen gemeinsamen Nenner im breit gefächerten national-konservativen, völkischen und nationalsozialistischen ideologischen Spektrum bildete. 2.2 Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik Die Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus ist kaum mehr überschaubar. In Bezug auf Bevölkerungspolitik und Bevölkerungswissenschaft lässt sich aber trotzdem ein klarer Trend erkennen: Der Begriff der Bevölkerungspolitik rückt zunehmend in das Zentrum der Analyse des nationalsozialistischen Regimes und wird zugleich zunehmend weiter gefasst. Die verschiedenartigsten Maßnahmen, die vom Kaiserreich über die Weimarer Republik angedacht worden waren, wurden unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur radikalisiert und realisiert. Das stärkste Gewicht hat die Forschung auf die selektierenden und ausgrenzenden Dimensionen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik gelegt, die von ihren Protagonisten als „Reinigung des Volkskörpers“ verstanden wurde [88: U. HERBERT, Traditionen des Rassismus, 485; 100: U. PLANERT, Körper des Volkes]. Die Ausgrenzung traf vor allem Juden, aber auch Slawen, „Zigeuner“, „Asoziale“ („Gemeinschaftsunfähige“), Homosexuelle, Geisteskranke, chronisch Kranke und andere. Ziel der Bevölkerungspolitik war zunächst die
Radikalisierung des Bevölkerungsdiskurses
Bevölkerung als gemeinsamer Nenner völkischer Ideologien
70
Quantitative Bevölkerungspolitik
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
möglichst präzise Identifizierung der Angehörigen dieser Gruppen, die Verschlechterung ihrer Lebenschancen, die Verhinderung der „Blutmischung“ (d. h. das Verbot von Ehe und sexuellen Beziehungen mit „Deutschen“, „Wertvollen“ oder „Gesunden“) und schließlich, als letzte Konsequenz, ihre Aussonderung und letztendlich ihre Vernichtung. In diesem Sinn haben die Nationalsozialisten die antisemitischen Gesetze und Maßnahmen, die im April 1933 mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ einsetzten und sich in den folgenden Jahren immer mehr radikalisierten, als Teil ihrer „Bevölkerungspolitik“ verstanden [88: U. HERBERT, Traditionen des Rassismus, 485]. Die Bevölkerungsexperten und -politiker des „Dritten Reichs“ setzten sich nicht nur eine „qualitative“, sondern auch eine „quantitative“ Bevölkerungspolitik zum Ziel. Mit einer Reihe von pronatalistischen Maßnahmen sollte die Gebärfreudigkeit gefördert werden [56: M. HUBERT, Deutschland, 258]. Zu ihnen gehörten „Ehestandsdarlehen“ (1933; pro lebend geborenem Kind wurden 25 Prozent der Darlehenssumme erlassen); Steuernachlässe und Kinderbeihilfen (1934); Ehrungen für kinderreiche Familien und Mütter (1938; „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“); aber auch die Verschärfung der Strafen für Abtreibung [51: J. CROMM, Familienbildung, 265 ff.]. Geburten sollten aber nur bei jenen gefördert werden, die nach sozialen, medizinischen und rassischen Kriterien als „wertvoll“ eingestuft wurden. Ausgeschlossen von den Förderungsmaßnahmen waren „Nichtarier“, „Asoziale“ (Mütter so genannter asozialer Großfamilien waren explizit vom „Mutterkreuz“ ausgenommen) und alle jene, die ihre „Erbgesundheit“ nicht nachweisen konnten. Auch die pronatalistischen Ziele waren also rassistisch determiniert, sie verbanden „quantitative“ und „qualitative“ Elemente der Bevölkerungspolitik [56: M. HUBERT, Deutschland, 257]. Trotz des erwähnten kurzfristigen Anstiegs der Geburtenraten (vgl. Kap. I.3.2) lassen die demographischen Daten nicht den Schluss zu, dass die pronatalistischen Maßnahmen des Regimes erfolgreich gewesen wären. Die „Jahrgänge, die ihre Kinder in den 1930er und 1940er Jahren geboren hatten (. . .), haben die Gesamtzahl ihrer Kinder (im Durchschnitt um 1,9) trotz der bevölkerungspolitischen Maßnahmen und trotz der Inanspruchnahme der angebotenen Vergünstigungen nicht erhöht“ [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 79 f.]. Unabhängig von dieser Diskussion vertritt G. BOCK [77: Zwangssterilisation] die These, dass die Bevölkerungspolitik des NS-Regimes, aufs Ganze gesehen, nicht durch Pronatalismus gekennzeichnet war, sondern durch einen extremen „Antinatalismus“. Antinatalistische
2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik
71
Ziele verfolgten etwa die Gesetze „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (1933; Zwangssterilisierung von Kranken, Behinderten und „Minderwertigen“); „über gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (1933; Androhung der Zwangskastration) und zum „Schutz der Erbgesundheit“ (1935; Heiratsverbote bei verschiedenen Krankheiten). Alle diese Maßnahmen erfolgten nicht im Geheimen, sondern waren mit einer enormen bevölkerungspolitischen Propaganda verbunden. Reichsinnenminister Frick erklärte im Juni 1933 zu den Zielen seiner „Bevölkerungs- und Rassenpolitik“, dass zwar jedes Jahr rund 300 000 mehr Kinder geboren, zugleich aber auch 12 Millionen Menschen, also fast ein Fünftel der deutschen Bevölkerung, an der Fortpflanzung gehindert werden sollten [79: G. BOCK, Gleichheit, 290, 294]. All dies führte G. Bock zu dem Schluss: „Nirgendwo – weder in den gleichzeitigen Diktaturen noch in den Demokratien – hat es bisher einen Staat gegeben, der eine derartige Ideologie, Propaganda und Politik der Geburtenverhinderung betrieben (. . .) hatte“ [Ebd., 293]. Die neuere zeithistorischen Forschung fasst den Begriff der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik noch weiter, indem sie die „nationalsozialistischen Eingriffe in die Lebensverhältnisse der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen“ zum Ausgangspunkt nimmt: „ ‚Bevölkerungspolitik‘ ist der umfassende Begriff, mit dem die Maßnahmen und Vorhaben des Regimes auf den unterschiedlichen Teilgebieten von Gesundheits-, Familien- und Sozialpolitik am besten in ihrem Zusammenhang erfasst werden“ [101: L. RAPHAEL, Radikales Ordnungsdenken, 9; 91: H. KAUPEN-HAAS, Griff nach der Bevölkerung]. Zu den Handlungsfeldern dieser weiten Bevölkerungspolitik werden die Sozialpolitik mit ihrem Streben nach Trennung von „Minderwertigen und Hilfsbedürftigen“ gezählt, die Raumplanung (einschließlich Stadt- und Siedlungsforschung, Agrar- und Regionalforschung), die Arbeitswissenschaften mit ihrem Ziel einer „völkischen Leistungsgemeinschaft“ und vieles andere mehr. Dieses weit gefasste Feld von Bevölkerungspolitik erscheint als Handlungsraum wissenschaftlicher Experten der verschiedensten Disziplinen, die allgemeine Zielstellungen in konkret machbare Teilziele übersetzten und dabei eng mit den politischen Führungsgruppen und den Verwaltungen des „Dritten Reichs“ zusammenarbeiteten. Ihr gemeinsames Ziel lag in der Utopie eines ökonomisch leistungsfähigen, politisch pazifizierten und „rassenhygienisch ‚gereinigten‘ Volkskörpers“ [101: L. RAPHAEL, Radikales Ordnungsdenken, 18–20, 25]. Eine weitere Ausdehnung des Begriffs der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik bezieht auch die militärische Expansion zunächst
Bevölkerungspolitik als Überbegriff
Bevölkerungsexperten
72
„Völkische Neuordnung“ Europas
„Hungerplan“
Übervölkerung als Topos der „Ostforschung“
Osteuropa als bevölkerungspolitisches Laboratorium Einheit der rassistischen Politik des NS-Regimes
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
in ihrer Planung und ab 1939 in den konkreten Maßnahmen der „völkischen Neuordnung“ der militärisch besetzten Gebiete Osteuropas ein. Besonders G. ALY [74: ‚Endlösung‘, 375, 381; 75: G. ALY/S. HEIM, Vordenker der Vernichtung] hat die „totalitäre Einheit so genannter negativer und positiver Bevölkerungspolitik“ mit dem „Ineinandergreifen von Umsiedeln und Aussiedeln, von Selektion und Völkermord“ in Zusammenhang gebracht. Dazu gehören die Umsiedlung der so genannten Volksdeutschen in die besetzten Gebiete Polens und in enger Verbindung damit die Vertreibung von Polen und Juden in das „Generalgouvernement“ (vgl. dazu Kapitel I.3.2). Dies geht bis zu dem bizarren, im Frühjahr 1941 entwickelten „Hungerplan“ des Reichsernährungsministeriums, der vorsah, rund 30 Millionen Russen in die „Waldzone“ nördlich von Moskau zu vertreiben, von der Lebensmittelversorgung auszuschließen und schließlich dem Hungertod preiszugeben [84: CH. GERLACH, Krieg, Ernährung, Völkermord, 16 ff.]. Damit sollte die Ernährung der in Russland stehenden deutschen Armeen und der deutschen Heimatbevölkerung gesichert und verbessert werden. Die Eskalation dieser immer weiter reichenden Bevölkerungsverschiebungen führte schließlich – so die Argumentation G. Alys – in letzter Konsequenz der „völkischen Flurbereinigung“ großen Stils zur Ermordung der europäischen Juden in den Ghettos und Vernichtungslagern Ostmitteleuropas. „Bevölkerungsargumente“ spielten in allen Deportations- und Umsiedlungsplänen eine wesentliche Rolle. G. ALY/S. HEIM [75: Vordenker der Vernichtung] haben gezeigt, wie weit verbreitet unter deutschen Experten die Annahme einer „Übervölkerung“ Osteuropas war. Die im Vormärz entstandenen „Übervölkerungs“-Stereotypen wurden vom späten 19. Jahrhundert an auf die osteuropäischen Agrargesellschaften projiziert (36: J. SCHLUMBOHM, Family forms]. „Übervölkerung“ wurde einerseits als Ausdruck eines Entwicklungsdefizits, andererseits als Bedrohung angesehen und ließ die Reduzierung der Bevölkerungszahl als vorrangiges politisches Ziel erscheinen. I. HAAR [85: Historiker, 197 ff.; 86: „Ostforschung“ und „Lebensraumpolitik“] hat auch für die Volksgeschichte eine „Hinwendung zur Bevölkerungspolitik“ nachgewiesen. Für völkische Historiker genauso wie für Sozialwissenschaftler anderer Disziplinen diente der „europäische Osten als . . . bevölkerungspolitisches Laboratorium“ [98: W. OBERKROME, Historiker, 89]. Zusammenfassend lassen sich in der neueren historischen Forschung zum Nationalsozialismus zwei Tendenzen erkennen: Zum ersten werden die verschiedensten auf rassenhygienischer Grundlage basierenden Politikfelder immer mehr in ihrer Einheit und in ihrem Zusammenhang thematisiert. Gerade die Fülle der neueren Einzelstudien
2. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik
73
hat es ermöglicht, „die rassistische Politik des Regimes als Einheit zu begreifen und ihre Traditionen in der deutschen Geschichte freizulegen. Die rassenhygienisch motivierte Verfolgung der verschiedenen Opfergruppen in Deutschland und das Vorgehen gegen die Angehörigen der slawischen Völker und vor allem gegen die Juden wurden nun langsam auch konzeptionell als miteinander in Zusammenhang stehend erkannt und untersucht“ [90: U. HERBERT, Vernichtungspolitik, 22; 89: DERS., Best, 249]. Vernichtungspolitik und Förderung der als erbbiologisch wertvoll und leistungsfähig eingestuften „Volksgenossen“ werden als Einheit gesehen. Zum zweiten wird der Begriff der „Bevölkerungspolitik“ benützt, um die Einheit dieser verschiedenen Handlungsfelder auszudrücken. „Bevölkerungspolitik“ erscheint immer mehr als zentrale Kategorie für die Analyse des NS-Regimes, als Überbegriff für die verschiedenen Erscheinungsformen des angewandten Rassismus. Aus der umfassenden Bedeutung von „Bevölkerungspolitik“ ergibt sich, dass an ihrer theoretischen Ausarbeitung und an ihrer praktischen Umsetzung keineswegs nur Bevölkerungsexperten im engeren Sinn beteiligt waren, wie zum Beispiel Demographen oder Statistiker. Ganz im Gegenteil: Gerade die erweiterte Bedeutung von „Bevölkerungspolitik“ hat dazu geführt, ihre Vordenker nicht nur in der nationalsozialistischen „Weltanschauungselite“ (L. Raphael) und ihre ausführenden Akteure nicht nur in den Apparaten von Partei und SS aufzusuchen, sondern darüber hinaus auch „die traditionellen Eliten in Verwaltung, Wissenschaft und Industrie“ stärker in den Blick zu nehmen [90: U. HERBERT, Vernichtungspolitik, 24]. Was die Wissenschaft betrifft, hat Raphael vorgeschlagen, von „humanwissenschaftlichen Expertenkulturen“ zu sprechen als dem gemeinsamen Ort aller jener, die „vor und nach 1933 ein Expertenwissen über Menschen, ihre Konstitution, ihre Gesellschaft, Geschichte und Kultur erhalten hatten und damit als Berater, Planer und Ideologen nationalsozialistischer Eingriffe in die Lebensverhältnisse der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen in Frage kamen [101: L. RAPHAEL, Radikales Ordnungsdenken, 9 f.]. Wenn auch die große Rolle von bevölkerungswissenschaftlichen Experten für die Planung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik außer Frage steht, so gibt es doch weiterhin Diskussionen über die konkrete Wirkung einzelner Maßnahmen. Dies trifft z. B. auf die Volkszählung 1939 zu, die auf einer „Ergänzungskarte“ Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze erfasste, und darüber hinaus ganz allgemein die Verantwortung der amtlichen Statistik. G. ALY/K.-H. ROTH [76: Restloses Erfassen] und andere haben die Volkszählung als unmittelbares
Bevölkerungspolitik als begrifflicher Ausdruck der Einheit
Wissenschaftler als Vordenker, Planer und Ausführende
74
Volkszählungen als Instrumente der Selektion?
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Instrument zur Selektion und Deportation der jüdischen Bevölkerung gesehen. Neuere Studien relativieren diesen Befund, in dem sie zeigen, dass die Auswertung der Volkszählung für dieses Ziel höchstwahrscheinlich zu spät kam und die so genannte „Sondererhebung der Juden nicht für die Vorbereitung der Deportationen“ zur Verfügung stand [108: J. WIETOG, Volkszählungen, 193]. Allerdings publizierten Mitglieder des Statistischen Reichsamtes ab 1940 auf der Volkszählung beruhende Aufsätze über die Zahl der noch in Deutschland verbliebenen Juden und die Effektivität der antisemitischen Verfolgung [94: M. LABBÉ, La statistique racial, 50]. Am Berliner Beispiel hat M. GAILUS gezeigt, welch große Rolle die Auswertung von Kirchenbüchern durch Sippenforscher für die Selektion von Juden und Menschen mit jüdischen Vorfahren spielte. Schon 1936 war die „Verkartung“ der Berliner Kirchenbücher so weit abgeschlossen, dass alle Berliner „Judentäuflinge“ identifiziert werden konnten [93: Sozialpfarrer, 816]. Auch dieses Ergebnis fügt sich in die Tendenz der neueren Forschung, einen sehr breiten Kreis von „humanwissenschaftlichen Experten“ als Akteure der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik anzusehen.
3. Migrationen 3.1 Bevölkerungsgeschichte und Migrationsforschung
Migrationsforschung als Teil der Bevölkerungsgeschichte
Migrationen waren und sind von großem Einfluss auf Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsstruktur. Trotzdem ist das Verhältnis von Migrationsforschung und Bevölkerungsgeschichte umstritten. Die einflussreichsten Bevölkerungstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts, beginnend mit Malthus, schrieben Wanderungen eine „Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion“ zu, die einen „Abbau regionaler Überschussbevölkerung oder die Auffüllung regionaler Leerräume durch Verlagerung“ bewirke [28: W. KÖLLMANN/P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 13]. Migration erschien als Ventil, durch das Menschen aus demographischen „Hochdruckgebieten“ in „Tiefdruckgebiete“ strömten, wie es in den im frühen 20. Jahrhundert beliebten meteorologischen Metaphern hieß. In dieser mechanistischen Sichtweise waren Wanderungen ein selbstverständlicher Teil der Bevölkerungsgeschichte. W. Köllmann, der von den 1950er bis in die 1970er Jahre einflussreichste Bevölkerungshistoriker der Bundesrepublik, sprach Wanderungen ein höheres Ausmaß an Autonomie zu und warf die Frage nach den „Interdependenzen“ zwischen „Bevölkerungsweisen“ und
3. Migrationen
75
„Wanderungsweisen“ auf [Ebd., 14]. Auch für ihn bildete aber die Bevölkerungsgeschichte den selbstverständlichen theoretischen und methodischen Rahmen für die Erforschung von Wanderungen. In der neueren Forschung wurde dagegen die Einbindung von Wanderungen in die Bevölkerungsgeschichte von verschiedenen Seiten her in Frage gestellt. In der Historischen Demographie, in ihrer französischen, englischen und schließlich auch deutschen Ausprägung, wurden Migrationen vor allem als „störende“ Phänomene wahrgenommen, die zur statistischen Verzerrung der eigentlich wichtigen, aus Kirchenbüchern gewonnenen Informationen über Geburt, Heirat und Tod führen können [169: S. HOCHSTADT, Mobility, 10]. Die zeitliche Konzentration auf die Frühe Neuzeit, verbunden mit der bis vor kurzem vorherrschenden Annahme einer geringen Mobilität vormoderner Gesellschaften, schwächte das geringe Interesse der Historischen Demographie an der Erforschung von Wanderungen weiter ab. [163: G. FERTIG, Lokales Leben, 54]. In A. E. IMHOFs wegweisender [24] „Einführung in die Historische Demographie“ zum Beispiel kommen Wanderungen als eigenständiges Thema nicht vor. Eine Distanzierung erfolgte aber auch von Seiten der sich spezialisierenden und verselbständigenden Migrationsforschung. Im deutschen Sprachraum wurde dafür das von K. J. BADE entwickelte Konzept einer „Sozialhistorischen Migrationsforschung“ besonders wichtig. Bade geht es darum, „Migration als Sozialprozess so in den interdependenten Zusammenhang der Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft einzubetten, dass Multidimensionalität und Multikausalität dieses komplexen Teilbereichs gesellschaftlicher Wirklichkeit im historischen Prozess erfassbar werden“ [152: Sozialhistorische Migrationsforschung, 63]. Analytisch unterscheidet Bade erstens zwischen „Wanderungsgeschehen“, den vor allem quantitativ zu bestimmenden Ausmaßen, Verlaufsformen und Strukturen der Migration; und zweitens dem „Wanderungsverhalten“ als individuellem Verhalten, das gleichwohl von überindividuellen Faktoren als auch von kollektiven Einstellungen und Verhaltensmustern beeinflusst ist. Als Aufgabe der Forschung postuliert er die Verknüpfung beider Aspekte und ihre Einbettung in die „Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte von Ausgangs- und Zielräumen“ [Ebd., 68]. Bevölkerung kommt also auch hier als Element von Erklärungszusammenhängen ins Spiel, sie wird allerdings gegenüber anderen Faktoren nicht a priori privilegiert. Bade sieht dementsprechend die Historische Migrationsforschung als eigenständigen Teil der Historischen Sozialwissenschaften an, nicht als Teil der Bevölkerungsgeschichte.
Geringes Interesse an Wanderungen
Sozialhistorische Migrationsforschung
76
Bevölkerung in Theorien der Migrationsforschung
Normalität von Wanderungen
Migrationssysteme
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Die theoretischen Ansätze in der Migrationsforschung zeigen ebenfalls eine zunehmende Distanz zur Bevölkerungsgeschichte. Bis in die 1980er Jahre waren Migrationstheorien von der Frage nach den „Ursachen“ von Wanderungen geprägt. Wanderungen erschienen als „unnormal“ oder „pathologisch“ und wurden, mit Hilfe einer aus der Zeit des Spätkameralismus stammenden Denkfigur, als Ergebnis und Folge von gesellschaftlichen „Krisen“ oder „Missständen“ verstanden [163: G. FERTIG, Lokales Leben, 385 ff.]. Als bevorzugte „Ursachen“ galten Armut, politische oder religiöse Unterdrückung oder eben Anomalien der Bevölkerung, vor allem „Übervölkerung“ oder „Bevölkerungsdruck“. Im Theorieangebot der gegenwärtigen Sozialwissenschaften spielen Bevölkerungsargumente dagegen praktisch keine Rolle mehr [191: D. S. MASSEY/J. ARANGO/u. a., Theories; 201: CH. PARNREITER, Theorien]. In der Historischen Migrationsforschung haben sich vor allem neuere Mikrostudien gegen die Annahme gewandt, dass Migrationen auf gesellschaftliche Destabilisierungen – welcher Art auch immer – zurückzuführen seien [163: G. FERTIG, Lokales Leben, 19 ff.; 186: A. LUBINSKI, Entlassen, 15]. Diese Arbeiten verstehen Wanderungen in vorindustriellen wie in industriellen Gesellschaften nicht als außergewöhnlichen, sondern als „normalen“ Sachverhalt, als selbstverständlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Sie kombinieren verschiedene – wenn auch eher implizite als explizit ausformulierte – theoretische Ansätze miteinander. Individualisierende „rational choice“Theorien werden mit der Einbindung der Migranten in soziale (familiale, verwandtschaftliche, ethnische etc.) Netzwerke verknüpft. Darüber hinaus wird in neueren Studien die mikrogeschichtliche Untersuchung der Herkunftsgebiete von Emigranten eingebettet in das Konzept von „Migrationssystemen“, die verstanden werden als lange bestehende und zugleich historisch variable, jedenfalls überregionale und überstaatliche Kommunikations- und Handlungsräume. Dazu gehörte bis in das 19. Jahrhundert der von J. LUCASSEN [187: Migrant Labour] untersuchte Nordseeraum und dann immer stärker ein transkontinentales „atlantisches Migrationssystem“ [172: D. HOERDER, Migration]. Großräumige und auch transatlantische Wanderungen erscheinen in dieser Perspektive als räumliche Ausweitung von lange etablierten Mobilitätsmustern, die keineswegs in erster Linie von „Grenzexistenzen“ praktiziert wurden. „Die Nordamerikaemigranten (. . .) waren keine irrationalen bäuerlichen Hungerwanderer, wir haben sie vielmehr als rational agierende Individuen und Kleinfamiliengruppen kennen gelernt. . . Diese Menschen wurden nicht gedrückt und nicht gezogen, sie
3. Migrationen
77
investierten. Das eher passive Migrantenbild eines Großteils der traditionellen Forschung wird hier also durch ein eher aktives ersetzt“ [163: G. FERTIG, Lokales Leben, 397 f., 401]. „Kettenwanderungen, Wanderungstraditionen und transatlantische Kommunikation“ wie auch die Eigendynamik der Migration nehmen in diesen alternativen Erklärungszusammenhängen zentrale Positionen ein [186: A. LUBINSKI, Entlassen, 254]. Während die traditionelle Migrationsgeschichte vor allem männliche Wanderer in den Blick nahm, haben neuere Forschungen sichtbar gemacht, dass sich die Zahl der männlichen und der weiblichen Migranten kaum unterschied und dass Frauen genauso wie Männer selbständige Akteure im Migrationsgeschehen waren [164: S. HAHN, Frauen; 166: CH. HARZIG, Women; 181: M. KRAUSS/H. SONNABEND, Frauen]. In allen diesen neuen Forschungsansätzen spielt Bevölkerung bestenfalls eine nebensächliche und untergeordnete Rolle. Die zunehmende Distanz zwischen Historischer Migrationsforschung und Bevölkerungsgeschichte schließt jedoch nicht aus, dass einzelne bevölkerungsgeschichtliche Denktraditionen auch in neueren Arbeiten unhinterfragt weiterleben. In der deutschen Forschung kommt dabei dem Konzept der „Übervölkerung“ eine besondere Bedeutung zu. Dieser Begriff ist für die empirische Forschung nicht operationalisierbar und hat in der Vergangenheit vor allem der Propagierung und Legitimierung staatlicher Bevölkerungspolitik gedient, nicht zuletzt auch im Nationalsozialismus [22: S. HEIM/U. SCHAZ, Berechnung und Beschwörung; vgl. dazu auch Kapitel II.2.1. und II.2.2]. Trotzdem ist er, wenn auch nicht mehr an zentraler Stelle, auch in der modernen deutschen Historischen Migrationsforschung erstaunlich präsent [160: J. EHMER, Migration und Bevölkerung].
Tradition und Kommunikation
Frauen in der Migrationsgeschichte
Persistenz des ÜbervölkerungsDiskurses
3.2 Transnationale Migrationen Der Schwerpunkt der deutschen historischen Migrationsforschung lag und liegt auf transnationalen Migrationen. Dabei stieß lange Zeit die Auswanderung aus Deutschland auf das stärkste Interesse. Bevorzugte Themen waren Untersuchungen einzelner Auswanderungsregionen wie Württemberg [168: W. VON HIPPEL, Auswanderung], Westfalen [177: W. D. KAMPHOEFNER, Westfalen] und viele andere. Sowohl in Regionalstudien als auch in Untersuchungen zur gesamtdeutschen Emigration, stand die Auswanderung nach Nordamerika im 19. Jahrhundert im Zentrum [208: M. W. WALKER, Germany and the Emigration; 189: P. MARSCHALCK, Deutsche Überseewanderung; 195: G. MOLTMANN, Deutsche Amerikaauswanderung]. In den 1990er Jahren stieg
Auswanderungsregionen
78
Mikrohistorische Migrationsforschung
Einwanderung
Migrationspolitik
Integration von Immigranten
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
das Interesse an kleinen Untersuchungsräumen, die es ermöglichen, auf lokaler oder regionaler Ebene möglichst viele einzelne Emigranten zu identifizieren. Ziel dieser mikrogeschichtlichen Forschungen ist es, möglichst präzise Informationen über den Umfang, die Verlaufsformen und die Strukturen des Wanderungsgeschehens zu gewinnen und sie mit den Motiven und Entscheidungen von Emigranten und Nichtemigranten zu verknüpfen [163: G. FERTIG, Lokales Leben; 186: A. LUBINSKI, Entlassen]. Als Reaktion auf ausländerfeindliche Tendenzen in der deutschen Gesellschaft um 1980 und der damit wachsenden Bedeutung von „Ausländer-“ oder „Einwanderungspolitik“ stieg das Interesse an der Geschichte der Einwanderung nach Deutschland stark an [113: H. BERGHOFF, Population Change, 67]. Insbesondere K. J. BADE hat versucht, eine Brücke zwischen der aktuellen politischen Diskussion und der historischen Forschung zu schlagen und den Wandel Deutschlands „vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland“ zu thematisieren [149: Auswanderungsland; 150: DERS., Auswanderer]. Zu diesem Forschungskonzept gehört es, die Erfahrungen von Deutschen im Ausland und die Erfahrungen von Fremden in Deutschland als gleichberechtigten Gegenstand anzusehen [153: BADE, Deutsche im Ausland]. Ein Ergebnis dieser Bemühungen war die Gründung des „Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien“ (IMIS) an der Universität Osnabrück im Jahr 1991, dessen Ziel in der interdisziplinären Erforschung gesellschaftspolitisch relevanter Themen im Zusammenhang mit Wanderungen besteht [vgl. 155: BADE, Migrationsforschung und Gesellschaftspolitik]. Seit den 1980er Jahren hat eine Reihe von Studien die lange Tradition und die Vielfalt der Einwanderungen nach Deutschland sichtbar gemacht. Neben dem eigentlichen Wanderungsgeschehen trat die Frage nach der sozialen Integration der Zuwanderer in den Vordergrund. Dabei hat die historische Forschung zwei Gruppen von Immigranten besonders hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Zum Ersten geht es um Arbeitsimmigration. Neben Überblicksdarstellungen [167: U. HERBERT, Ausländerbeschäftigung] steht eine wachsende Zahl von Studien zu einzelnen Immigrantengruppen. Diese beziehen sich zum Teil auf die Zeit des Kaiserreichs [209: A. WENNEMANN, Arbeit; 159: R. DEL FABBRO, Transalpini], aber auch das breite Spektrum der Gastarbeiterimmigration und -integration in der Bundesrepublik (besonders in Bezug auf Italiener, Türken und Polen) und in der DDR (Vietnamesen, Polen, Angolaner) wird immer stärker zum Thema [193: MIGRATION IN DEUTSCHLAND; 203: Y. RIEKER, Südländer].
3. Migrationen
79
Die zweite Gruppe bilden ethnische Deutsche aus Ostmittel- und Osteuropa, die von 1945 an zunächst als „Vertriebene“ und dann als „Aussiedler“ nach Deutschland kamen [198: R. MÜNZ/R. OHLIGER, Minderheiten]. Während in den 1950er Jahren die „Vertriebenenforschung“ in der BRD als politisches Instrument diente [157: M. BEER, Dokumentation], ist sie in den 1980er Jahren zu einem Teil der historischen Migrationsforschung geworden. Neuere Forschungen haben das Bild einer harmonischen Eingliederung von Vertriebenen und Aussiedlern in die deutsche Gesellschaft relativiert, nach Ansicht mancher Historiker sogar als „Mythos“ „entlarvt“ [147: V. ACKERMANN, Flüchtling, 14]. Offensichtlich bestand ein breites Spektrum mehr oder weniger gelungener, schnellerer oder langsamerer Integration, und sowohl bei Einheimischen wie auch bei Vertriebenen lässt sich das Bedürfnis nach Wahrung der eigenen Identität mittels Abgrenzung vom jeweils anderen nachweisen [173: D. HOFFMANN/M. KRAUSS/M. SCHWARTZ, Vertriebene]. In der Geschichte der transnationalen Migrationen aus und nach Deutschland sind einige Fragen offen geblieben. Dies betrifft vor allem die Verbindung von Auswanderung und Einwanderung. Der Anspruch, die drei Typen von Migration – Einwanderung, Binnenwanderung und Auswanderung – als wechselseitig verbunden anzusehen [D. H. HOERDER in 171: DERS./J. NAGLER, People, 2], ist ganz überwiegend Forschungsprogramm geblieben und bisher kaum empirisch eingelöst worden. Eines der wenigen und jetzt schon „klassischen“ Beispiele dafür ist die Studie von K. J. BADE [148: Massenwanderung] zur Beziehung von Überseemigration, interner Abwanderung und Einwanderung im deutschen Nordosten zur Zeit des Kaiserreichs. Die Verbindung von Einwanderung und Auswanderung ist aber auch für die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik relevant. Seit dem Beginn der Gastarbeiterimmigration in den späten 1950er Jahren prägen ausländische Arbeitskräfte und deren Familienangehörige nicht nur die Einwanderungs-, sondern auch die Auswanderungsstatistik. Nach einer in der Migrationsforschung weit verbreiteten Meinung zeigten Gastarbeiter vor allem bis 1973 eine starke Fluktuation von Einund Auswanderung in Abhängigkeit von den Konjunkturzyklen. Der Anwerbestopp von 1973 und die folgende restriktive Ausländerpolitik habe dagegen die Bereitschaft zur Pendelwanderung geschwächt und „die Tendenz zu Daueraufenthalt und Familiennachzug“ verstärkt [153: K. J. BADE, Deutsche im Ausland, 396]. „Thus, ironically, a measure taken to reduce the number of foreigners produced the opposite effect“ [113: H. BERGHOFF, Population Change, 61; 190: D. S. MASSEY, Ein-
Vertriebene
Problemlose Integration?
Verknüpfung von Migrationstypen
Folgen restriktiver Migrationspolitik
80
Parallele von Zuund Abwanderung
Rückwanderung
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
wanderungspolitik, 62 ff.]. Das Migrationsverhalten von Ausländern war aber auch noch in den 1980er Jahren in wesentlich stärkerem Maß von Konjunkturzyklen beeinflusst, als das von Inländern [169: S. HOCHSTADT, Mobility, 245–249]. Nicht nur in den Rezessions- bzw. Krisenjahren 1966/67 und 1973, sondern auch 1978 und 1982/84 verließen viele Ausländer Deutschland [114: H. BIRG/ H. KOCH, Bevölkerungsrückgang, insbes. Schaubilder 138 f.]. In allen diesen Perioden verzeichnete die Bundesrepublik mehr Auswanderer als Einwanderer. Während der letzten großen Einwanderungswelle 1988–1993 stieg auch die Auswanderung an. 1993 erreichte sie mit rund 800 000 Auswanderern, 90 Prozent von ihnen Ausländer, den Höchststand in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik [11: STATISTISCHES JAHRBUCH 1993]. Dazu kommt, dass Ausländer auch innerhalb Deutschlands eine höhere Mobilität als Inländer aufweisen [169: S. HOCHSTADT, Mobility, 247]. Die enge Verknüpfung von Zu- und Abwanderung, die in der Migrationsgeschichte den Normalfall bildet, ist also auch im gegenwärtigen Wandergeschehen vorhanden. Die Bedeutung der Rückwanderung wurde aber auch für andere Perioden des 19. und 20. Jahrhunderts noch nicht ausreichend untersucht. Traditionellerweise wurden transnationale und insbesondere transkontinentale Wanderungen als Einbahnstraßen betrachtet. Neuere Forschungen gehen dagegen davon aus, dass von den um 1900 in die USA kommenden europäischen Emigranten 35 bis 50 Prozent in ihre Herkunftsländer zurückkehrten und Pendelwanderungen über den Atlantik nicht ungewöhnlich waren [196: E. MORAWSKA, Return Migration, 277 f.; 210: M. WYMAN, Round-Trip]. Für Deutschland liegen bisher nur wenige Schätzungen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vor, die die Rückwanderungsraten deutlich niedriger ansetzen, nämlich zwischen sieben Prozent in den 1850er und 22 Prozent in den 1870er Jahren. Es ist durchaus möglich, dass diese niedrigen Raten auf einer mangelhaften statistischen Erfassung durch die Behörden beruhen und die tatsächliche Rückwanderung auch nach Deutschland um einiges höher lag. 3.3 Binnenmigration Die bundesdeutsche Forschung zur Binnenmigration wurde maßgeblich von W. KÖLLMANN beeinflusst, der an Migrationsstudien aus den 1920er und 1930er Jahren anknüpfte [57: Bevölkerung]. Im Migrationsgeschehen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte für Köllmann die Auswanderung aus Deutschland den entscheidenden Faktor
3. Migrationen
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dar, während er interne Massenmigrationen dem „Zeitalter der Hochindustrialisierung“ (1860–1914) zuschrieb [Ebd., 41 ff.; 48: DERS., Bevölkerung und Raum, 65 ff.]. Die Binnenmigration der Hochindustrialisierungsperiode sah er durch „zwei Bewegungen“ charakterisiert: den Zuzug vom Land in die Städte, der überwiegend auf Nahwanderung beruhte, und die Ost-West-Wanderung, vor allem aus dem agrarischen Nordosten Deutschlands in das Ruhrgebiet, die von 1890 an die deutsche Überseewanderung abgelöst habe [Ebd., 87, 89 ff.]. Den polnischen Arbeitsmigranten aus dem Osten Preußens in das Ruhrgebiet hat die Forschung auch unter dem Blickwinkel der Segregation bzw. Integration einer ethnischen Minderheit Aufmerksamkeit geschenkt [178: CH. KLESSMANN, Bergarbeiter; 179: DERS., Long-Distance Migration]. Einen neuen Ansatz verfolgte D. LANGEWIESCHE mit dem Versuch, das Gesamtausmaß der deutschen Binnenmigration und ihre Strukturen zu erfassen [183: Wanderungsbewegungen]. Langewiesche benützte die Daten städtischer statistischer Ämter und beschränkte sich damit auf städtische Zu- und Abwanderung, aber er öffnete den Blick für die langfristigen Rhythmen der Binnenmigration über die Hochindustrialisierungsphase hinaus [182: LANGEWIESCHE, Mobilität]. Am Beispiel Düsseldorfs und Duisburgs haben F. LENGER und J. H. JACKSON gezeigt, dass das Wanderungsvolumen schon in den 1830er Jahren beträchtlich anstieg und schon in den 1840er Jahren Werte erreichte, die bis in die 1880er Jahre nicht mehr wesentlich übertroffen wurden [69: F. LENGER, Kleinbürgertum, 68; 175: J. H. JACKSON, Migration in Duisburg, 171]. Langewiesche und Lenger haben auch auf den drastischen Rückgang der deutschen Binnenmigration nach dem Ersten Weltkrieg und auf die außerordentlich geringe Mobilität in der Bundesrepublik hingewiesen. Dieser Forschungsansatz wurde fortgeführt von S. HOCHSTADT [169: Mobility], der die bisher umfassendste und anspruchsvollste Darstellung der langfristigen Entwicklung der inneren Migration in Deutschland auf der Grundlage einheitlicher Mobilitätskennziffern vom frühen 19. bis in das späte 20. Jahrhundert (1820 bis 1989) vorgelegt hat (vgl. Kap. I.4.1.). Im Unterschied zu Langewiesche nimmt Hochstadt an, dass der Höhepunkt der Binnenmigration nicht erst mit dem Ersten Weltkrieg, sondern schon um 1900 erreicht worden ist [Ebd., 119]. Zum einen wegen, zum anderen trotz der skizzierten Forschungsansätze weist die Geschichte der deutschen Binnenmigration im 19. und 20. Jahrhundert nach wie vor große Defizite auf. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde immer noch nicht ausreichend zum Gegenstand der Forschung gemacht [69: F. LENGER, Kleinbürgertum, 65; 170:
Hauptrichtungen der Binnenmigration
Wanderungsvolumen
Anstieg und Rückgang der Mobilität
82
Unterschätzung vorindustrieller Mobilität
Traditionelle Migrationsformen
Gesellenwanderung als Massenmigration
Stadt-LandWanderungen
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
S. HOCHSTADT/J. H. JACKSON, ‚New‘ Sources]. Auch wenn die neuere Forschung das dichotome Bild einer „immobilen“ vorindustriellen Gesellschaft und einer „mobilen Moderne“ zurückgewiesen hat und die Kontinuität einer hohen geographischen Mobilität von der Frühen Neuzeit in die industrielle Welt betont, werden die Persistenz und das Ausmaß „traditioneller“ Wanderungsformen im 19. Jahrhundert immer noch zu wenig wahrgenommen bzw. stark unterschätzt. Dies trifft zu für saisonale Arbeitswanderungen [vgl. am Beispiel der lippischen Ziegler 185: P. LOURENS/J. LUCASSEN, Arbeitswanderung], für den Wanderhandel [200: H. OBERPENNING, Migration und Fernhandel], für die Migration weiblicher Dienstboten [197: R. MÜLLER/S. SCHRAUT, Weibliche Migration; 165: S. HAHN, Female migrants] oder für die Wanderungen von Handwerksgesellen [139: W. R. LEE, Urban Labor Markets; 162: R. ELKAR, Wandernde Gesellen; 207: A. STEIDL, Wien]. Am Beispiel der Handwerksgesellen lässt sich zeigen, dass das enorme Ausmaß ihrer fluktuierenden Mobilität alle bekannten Daten zum Wanderungsvolumen weit übersteigt [161: J. EHMER, Migration]. Die enge Verknüpfung von Binnenmigration, Verstädterung und Industrialisierung in der deutschen Historiographie hat zu einer völligen Vernachlässigung und einseitigen Wahrnehmung des Wanderungsgeschehens in ländlichen Räumen geführt. Das flache Land erschien ausschließlich als Quelle des „Zuzugs in die Stadt“ oder in die neuen Industriezentren [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 50], der gelegentlich sogar als Einbahnstraße interpretiert wurde. Der dahinter stehende Interpretationsrahmen, dass die Menschen ländlich-bäuerlicher Gesellschaften prinzipiell sesshaft gewesen seien und erst durch Industrialisierung und Urbanisierung mobilisiert worden wären, war in der Forschung weit verbreitet. Erst die Erkenntnis, dass die Zu- und Abwanderungsraten in bzw. aus den Städten eng beisammen lagen, hat den Blickwinkel auf die Mobilität im ländlichen Raum verändert. So hat etwa D. LANGEWIESCHE [183: Wanderungsbewegungen, 19] vorgeschlagen, die Migrationsbeziehungen zwischen Land und Stadt als kontinuierlichen Austauschprozess zu betrachten. Offensichtlich bestimmten bis in das späte 19. Jahrhundert die Bedürfnisse der ländlichen Gesellschaft die Rhythmen der Arbeitsmigration [184: D. LANGEWIESCHE/ F. LENGER, Internal Migration, 94; 205: H. SCHOMERUS, Saisonarbeit]. Trotz des geschärften Blicks liegen aber bisher nur sehr wenige Informationen zum Wandergeschehen in den ländlichen Regionen selbst vor. Am Beispiel des Regierungsbezirks Düsseldorf konnte S. HOCHSTADT [169: Mobility, 70 ff] zeigen, dass um 1820 zwischen großen und kleinen und ebenso zwischen fabrikindustriellen und landwirt-
3. Migrationen
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schaftlichen Gemeinden keine Unterschiede in den Zuwanderungsraten bestanden. Nur die von Hausindustrie geprägten Orte zeigen eine schwächere räumliche Mobilität. Die Migration nahm in den folgenden Jahrzehnten in allen Siedlungstypen zu, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: Zwischen 1830 und 1860 stiegen die Zuwanderungsraten in den Industriegemeinden um das Dreifache, in den Landgemeinden um das Zweifache [Ebd., 72]. Flächendeckende Angaben für ganz Preußen liegen erst für die 1920er Jahre vor. Sie zeigen höhere Mobilitätsraten in den agrarischen Provinzen und ganz allgemein auf dem Land als in den industriellen Provinzen und in den Städten [Ebd., 132]. Die größte Forschungslücke besteht allerdings in Bezug auf das Wanderungsgeschehen innerhalb ländlicher Milieus. P.-A. ROSENTAL [204: Sentiers] hat für Frankreich nachgewiesen, dass am Beginn des 19. Jahrhunderts die Masse der Migrationen zwischen Dörfern stattfand. Die Sesshaftigkeit in ländlichen Gemeinden war niedriger als in den Städten. Erst gegen Ende des Jahrhunderts ist eine Kanalisation der Migration in die Großstädte und insbesondere nach Paris zu erkennen. Der Verstädterungsprozess war also nicht das Ergebnis des Anstiegs der Migration, sondern eines Richtungswechsels [Ebd., 36, 42]. Wie Rosental zeigt, entsteht der Eindruck eines „ländlichen Exodus“ nur dann, wenn man die Einwanderer in ihren städtischen Zielorten nach ihrer Herkunft auflistet. Untersucht man umgekehrt die Ziele der Abwanderer aus den Dörfern, so ergibt sich ein anderes Bild [Ebd., 33]. Derartige Ergebnisse machen den Mangel an Dorfstudien in der Historischen Migrationsforschung schmerzlich sichtbar. Ein immer wieder diskutiertes Thema der deutschen Migrationsforschung liegt in der Frage, welchen Beitrag Zuwanderung überhaupt zum Städtewachstum leistete. Gegenüber der Betonung der Binnenwanderung als entscheidendem Faktor der Verstädterung haben H. MATZERATH und H.-D. LAUX auf die Bedeutung des Geburtenüberschusses als Wachstumskomponente verwiesen. Matzerath hat das überdurchschnittliche Wachstum der Städte vor allem in den westlichen Provinzen Preußens überwiegend aus der „natürlichen“ Bevölkerungsbewegung erklärt [192: H. MATZERATH Urbanisierung, 304–311]. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Zuwanderung vor allem junge Menschen in die Städte gebracht hatte. Die meisten Großstädte, und insbesondere die großen Industriestädte, wiesen im Vergleich zum flachen Land und zu den kleineren Städten eine ausgesprochen „jugendliche“ Altersstruktur auf, die zu hohen Geburtenraten führte. Die Frage der „Netto-Immigration“ oder der „Wanderungseffektivität“ hat die Forschung immer wieder beschäftigt. In Berlin in den
Migration im ländlichen Raum
Wanderung zwischen Dörfern
Zuwanderung und Stadtwachstum
Netto-Immigration
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Niedrige Wanderungsgewinne
Niedrige Mobilität in der Bundesrepublik
Binnenmigration in der DDR
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
1880er Jahren waren fast 60 Prozent der männlichen Zuwanderer zwei Jahre nach ihrer Ankunft wieder verschwunden, nach fünf Jahren drei Viertel, nach acht Jahren vier Fünftel. Frauen zeigten eine etwas höhere Persistenz als Männer, aber denselben Trend. Nur die rund 20 bis 30 Prozent der Zuwanderer und Zuwanderinnen, die sich länger als acht Jahre in Berlin aufhielten, blieben dann auch relativ dauerhaft in der Stadt. In kleineren Großstädten war die Mobilität sogar noch höher [158: S. BLEEK, Mobilität und Sesshaftigkeit, 23, 26 f.]. Gerade dieses hohe Ausmaß permanenter Mobilität führte dazu, dass die Wanderungsgewinne der Städte ziemlich gering waren. Netto-Immigrationsraten von bis zu 20 Prozent, die für die Großstädte des Kaiserreichs geschätzt wurden [183: D. LANGEWIESCHE, Wanderungsbewegungen, 5], scheinen nur in Ausnahmefällen vorgekommen zu sein und wurden von der neueren Forschung weit nach unten korrigiert. Nach S. HOCHSTADTs Berechnungen wies die Hälfte der deutschen Großstädte eine Netto-Zuwanderung von weniger als fünf Prozent der gesamten Zuwanderung auf, in einigen von ihnen lag die „Wanderungseffektivität“ nur bei ein oder zwei Prozent [169: Mobility, 137 ff.]. Dies führt natürlich zur Frage, welche Typen von Migranten mehr oder weniger zur dauerhaften Niederlassung neigten. Für Hochstadt strebten vor allem Verheiratete bzw. mit ihren Familien wandernde Menschen die ständige Niederlassung an. Familienwanderung hatte zwar nur einen sehr kleinen Anteil am gesamten Wanderungsvolumen, war aber für den Wanderungsgewinn der Städte äußerst wichtig: „family migration created urban growth“ [Ebd., 102]. Andere Historiker betonen dagegen, dass auch junge und ledige Migranten nach einer „mobilen Phase“ zu einer „sesshaften Daseinsweise“ übergingen, oft in Verbindung mit der Eheschließung [158: S. BLEEK, Mobilität und Sesshaftigkeit, 30]. Die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik ist weniger gut erforscht, als jene des Kaiserreichs. Vor allem die so außerordentlich geringe Mobilität ist erklärungsbedürftig. R. MACKENSEN hat auf relativ hohe wirtschaftliche und soziale Kosten des Wohnsitzwechsels aufmerksam gemacht, durch die „der Wert der Sesshaftigkeit bedeutend gestiegen“ sei. Dazu kommen verbesserte Verkehrsverhältnisse, die längere Berufswege gestatten und die Beibehaltung des Wohnorts auch dann ermöglichen, wenn sich der Arbeitsort ändert [188: Stadtentwicklung 1980/1986, 85]. Die Binnenmigration in der DDR wurde dagegen vor allem mit politischen Entscheidungen der Staatsführung in Verbindung gebracht [grundlegend dazu 110: S. GRUNDMANN, Bevölkerungsentwicklung, 96 ff]. In den 1950er Jahren lag die Binnenmigration der DDR noch ungefähr auf dem Niveau der Bundesrepublik. Diese Peri-
3. Migrationen
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ode war von der forcierten Entwicklung neuer Industriestandorte im Osten des Landes geprägt. Schwedt an der Oder, Eisenhüttenstadt, Cottbus und der Uranbergbau in Sachsen und Thüringen zogen ebenso Zuwanderer an wie der Ausbau der Ostseehäfen in Rostock und Greifswald oder der feinmechanischen Industrie in Thüringen. Die Gebietsreform 1952, die 15 Bezirke an die Stelle der alten Länder setzte, machte eine Reihe von bisher unbedeutenden Städten wie z. B. Suhl oder Neubrandenburg zu Bezirkshauptstädten. Sie wurden zu Konzentrationspunkten von Industrie, Verwaltungseinrichtungen und Wohnungsbau und damit zu bevorzugten Zielen der Migration [Ebd., 104]. In den 1970er und 1980er Jahren sank die Binnenmigration in der DDR dagegen auf die Hälfte der westdeutschen ab. Die wenigen Wanderungen im Inneren der DDR wurden nun immer stärker von der staatlichen Wohnungsbaupolitik beeinflusst. Die weitgehende Konzentration des Wohnungsneubaus auf die Ränder der Großstädte war mit dem Verfall der Wohnsubstanz in Dörfern, Kleinstädten und in den Zentren der Großstädte verbunden. Dies führte dazu, dass vor allem jüngere Menschen mit höherem Einkommen in die Neubaugebiete an den Rändern der Großstädte umzogen und den meisten Großstädten einen dauerhaften Wanderungsgewinn bescherten. Wo sich der Verschleiß des Altwohnbestandes, die Vernachlässigung der städtischen Infrastruktur und Umweltbelastungen durch die Industrie überlagerten, waren kontinuierliche Wanderungsverluste zu verzeichnen. Dies trifft vor allem für die Bezirke und Städte Halle und Leipzig zu, aber auch für Görlitz im äußersten Südosten der DDR. Aus den sozialen Problemzonen im Süden und Südosten der DDR kamen auch überproportional viele Auswanderungsanträge in die BRD. Zum Anziehungspunkt für Binnenwanderer in der DDR wurde immer mehr Ostberlin. Vor dem Mauerbau 1961 erlitt Ostberlin massive Bevölkerungsverluste durch Umsiedlungen nach Westberlin und in die Bundesrepublik. Zwischen 1962 und 1989 wies die Hauptstadt der DDR aber ununterbrochene Wanderungsgewinne aus allen Teilen des Landes auf. Insbesondere in den 1980er Jahren bot Berlin die besten Lebensbedingungen in der DDR. Nach 1985 konzentrierte sich auch der Wohnungsneubau stark auf die Hauptstadt. 1950 hatten in Ostberlin 1 189 000 Menschen gelebt, 1961 nur etwas mehr als eine Million, 1988 aber fast 1 300 000. Die Attraktivität Berlins sorgte auch für Wanderungsgewinne im näheren Umland, von Potsdam bis Frankfurt/Oder [Ebd., 110–113]. Während die Wirtschafts-, Sozial- und Wohnungsbaupolitik der DDR-Führung die Richtung der Binnenwanderungen in Ostdeutschland also durchaus zu erklären vermag, bleibt die Erklärung der in ganz Deutschland so niedri-
Migration und Wohnungsbaupolitik
Attraktivität von Ostberlin
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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
gen geographischen Mobilität weiterhin ein Desiderat der Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts.
4. Sterblichkeit 4.1 Faktoren des Wandels der Mortalität
McKeowns Thesen
Rückgang der Mortalität ohne Einfluss der Medizin
Ernährung als Hauptfaktor
Im Zentrum der Debatte über den Wandel der Mortalität und insbesondere über die Ursachen des Sterblichkeitsrückgangs stehen seit den 1950er Jahren die Thesen des englischen Sozialmediziners und Epidemiologen T. MCKEOWNs [244: Rise of Population]. McKeown hatte die lange Zeit vorherrschende Ansicht, dass der Rückgang der Mortalität durch Fortschritte der Medizin verursacht worden wäre, in Zweifel gezogen. Einen direkten Einfluss der Medizin auf die Mortalität hielt McKeown – mit Ausnahme der Pocken und der Diphtherie – erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für relevant. Der Rückgang aller übrigen großen „Killer“ sei dagegen erfolgt, ohne dass sie von der Medizin wirkungsvoll bekämpft worden wären. McKeown demonstrierte dies vor allem am Beispiel der Tuberkulose, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Untersuchungsgebiet England – aber auch in Deutschland bis zur Jahrhundertwende – für Erwachsene die gefährlichste Einzelkrankheit war [Ebd., 92 f.; 259: J. VÖGELE, Urban Mortality Change, 230–245]. Der Tuberkelbazillus war zwar 1882 von Robert Koch identifiziert worden, eine tatsächlich wirksame medizinische Behandlung der Tuberkulose gab es aber, so McKeown, erst nach 1945. Trotzdem sank die von Tuberkulose verursachte Sterblichkeit schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stark ab, was einen wesentlichen Beitrag zum allgemeinen Rückgang der Sterblichkeit leistete [259: J. VÖGELE, Urban Mortality Change, 57]. Wie kam dieser Rückgang zustande? Da der Tuberkelbazillus über die Atemluft übertragen wird, schloss McKeown, dass auch sanitäre Reformen wie Kanalisation oder Trinkwasserversorgung nur einen beschränkten Einfluss gehabt haben könnten. Er sah deshalb in einem verbesserten gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung, der wiederum auf Fortschritten in der Ernährung beruhe, den entscheidenden Faktor. Kurz gesagt, war für McKeown die Verbesserung der Ernährung – als Teil einer allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards – die Hauptursache für den Rückgang der Sterblichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Thesen McKeowns haben den Blick der Forschung auf das „Todesursachen-Panorama“ [251: R. SPREE,Veränderungen] gelenkt
4. Sterblichkeit
87
und sichtbar gemacht, dass jede einzelne der wichtigsten lebensgefährlichen Krankheiten von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Das Bild eines homogenen Mortalitätsrückgangs wurde damit durch den Versuch ersetzt, den rückläufigen Beitrag einzelner Krankheiten zur allgemeinen Sterblichkeit zu bestimmen [für die deutschen Großstädte 259: J. VÖGELE, Urban Mortality Change, 54–84]. In Deutschland tragen drei Forschungsansätze zu dieser Diskussion bei. Der erste Ansatz untersucht den Zusammenhang zwischen Lebensstandard, Ernährung und Gesundheit. Da das Niveau der Ernährung einzelner Bevölkerungsgruppen im Zeitverlauf nur sehr schwer empirisch zu bestimmen ist, benützen J. KOMLOS und seine Arbeitsgruppe an der Universität München die Entwicklung der Körpergröße von Männern und Frauen als Indikator. Diese in den USA entstandene „anthropometrische Geschichtsforschung“ beruht auf der Erkenntnis, dass die Ernährung einen wesentlichen Einfluss auf das körperliche Wachstum der Menschen ausübt [232: Bedeutung]. Insbesondere die Ernährung von Säuglingen und Kindern und die Essgewohnheiten der Mütter während der Schwangerschaft beeinflussen die Körpergröße, die Erwachsene später erreichen [234: J. KOMLOS, Lebensstandard, 104]. Daten über die Körpergröße liegen für viele Teilpopulationen vor, wie für Soldaten, Schüler und Angehörige anderer Institutionen, und bieten einen quantitativen Indikator für die Ernährungssituation großer Menschengruppen, der als „biologischer Lebensstandard“ bezeichnet wird [235: J. KOMLOS/J. BATEN, Biological Standard of Living]. Mit Hilfe dieser Methode konnte für viele Regionen Europas und Nordamerikas gezeigt werden, dass der Lebensstandard in den frühen Phasen der Industrialisierung zeitweilig sank. In Bezug auf Deutschland wurde für Bayern ein Rückgang der Körpergröße von etwa 1820 bis 1840 und ein sehr niedriger Stand in den 1850er Jahren nachgewiesen; für Württemberg noch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts [211: J. BATEN, Ernährung; 212: DERS., Heights]. KOMLOS hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Zusammenhang zwischen Ernährung, Gesundheit und Sterblichkeit keine Einbahnstraße ist. Krankheiten und Seuchen, die die Verdauung von Nährstoffen im Körper beeinträchtigen, erhöhen den Nährstoffbedarf und verschlechtern die Ernährungslage auch bei gleich bleibendem Nahrungsmittelangebot [233: J. KOMLOS, Wachstum, 193 f.]. Da Krankheiten der Verdauungsorgane (gastro-intestinale Krankheiten) vor allem in den großen Städten bis in das späte 19. Jahrhundert die zahlenmäßig größte Gruppe an Todesursachen in Deutschland bildeten [259: J. VÖGELE, Urban Mortality Change, 54], könnte dadurch auch ein verbesser-
Wandel der Todesursachen
Anthropometrie
Biologischer Lebensstandard
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Krankheit und Ernährung
Sozialgeschichte der Medizin
Medikalisierung
Pockenimpfungen
Immunisierung
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
tes Nahrungsmittelangebot in Bezug auf Gesundheit und Mortalität unwirksam geworden sein. Wenn die anthropometrische Geschichtsforschung auch die zentrale These McKeowns betrifft, so ist sie doch nur am Rande mit der demographischen und bevölkerungsgeschichtlichen Diskussion verknüpft. Ihr Bezugsrahmen ist vielmehr die Wirtschaftsgeschichte und im Mittelpunkt ihrer Forschungsinteressen stehen weniger Sterblichkeit und Lebenserwartung als vielmehr sozio-ökonomische Lebenslagen. Enger mit historisch-demographischen Fragen ist ein zweiter Forschungsansatz verknüpft, der den Einfluss der Medizin auf den Wandel der Mortalität untersucht. In Deutschland wurde dieser Ansatz vor allem im Rahmen einer „Sozialgeschichte der Medizin“ entwickelt [zum Forschungsstand vgl. 236: A. LABISCH/R. SPREE, Entwicklungen].“ Der Begriff „Medizin“ steht dabei für ein breites Spektrum von Praktiken. Zu ihnen gehören der (natur-)wissenschaftliche medizinische Wissensstand, die Einbeziehung der Bevölkerung und insbesondere der Unterschichten in ein gesellschaftliches System medizinischer Betreuung, die mit dem Begriff der „Medikalisierung“ bezeichnet wird, der Einfluss von Ärzten auf das öffentliche und private Gesundheits- und Hygienebewusstsein und anderes mehr. Dabei ist zwischen „kurativen medizinischen Maßnahmen“ und „präventiven Gesundheitsvorsorgemaßnahmen“ zu unterscheiden [260: J. VÖGELE, Sozialgeschichte, 410]. In der deutschen Forschung überwiegt dabei die Meinung, dem Einfluss der „präventiven“ Medizin auf die Entwicklung von Gesundheit und Sterblichkeit – wenn schon nicht dem der „kurativen“ Medizin – doch ein höheres Gewicht zuzumessen, als dies McKeown tat. Ein erstes Beispiel dafür ist die Geschichte der Pockenimpfungen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Deutschland mit vorbeugenden Impfungen experimentiert. Im frühen 19. Jahrhundert bildeten Schutzimpfungen einen wesentlichen Teil staatlicher Gesundheitsmaßnahmen, sei es in Form von Empfehlungen, sei es in Form einer Impfpflicht, die einige Staaten wie Bayern (1807), Hannover (1821) oder Braunschweig (1833) durchzusetzen versuchten. Die praktische Wirkung dieser Maßnahmen wurde lange Zeit eher skeptisch beurteilt [221: C. HUERKAMP, Smallpox Vaccination]. Für Norddeutschland hat allerdings R. GEHRMANN [120: Bevölkerungsgeschichte, 285–298] den drastischen Rückgang der Pockensterblichkeit zwischen dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts und der Periode 1816–1840 betont. Dies betraf vor allem die Mortalität von Kindern zwischen dem zweiten und dem siebten Lebensjahr. Gehrmann erklärt dies mit der „Immunisierung des weitaus überwiegenden Teils der Kinder“. Die öffentliche De-
4. Sterblichkeit
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batte für und gegen Pockenimpfungen regte darüber hinaus einen breiten Gesundheitsdiskurs an. Ein zweites Themenfeld bildet die Geschichte des Krankenhauses [236: A. LABISCH/R. SPREE, Entwicklungen]. Während die Bedeutung von Krankenhäusern im 19. Jahrhundert für die medizinische Forschung und die Ausbildung von Ärzten unbestritten ist, wurde sie für die Betreuung und Heilung von Kranken als wenig relevant angesehen. Sie galten der Forschung vielmehr als „gesellschaftlich stigmatisierte Heilanstalten für Angehörige der unteren Bevölkerungsschichten“ [218: U. FREVERT, Krankheit, 75]. In Krankenhäusern sah die Forschung lange Zeit vor allem Orte der Ansteckung. „Die medizinkritische Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der späten 1970er und frühen 1980er Jahre hat deshalb dem Krankenhaus bis weit in das 19. Jahrhundert hinein überhaupt jede Leistungsfähigkeit abgesprochen“ [254: R. SPREE, Anspruch, 144]. Auch neuere Untersuchungen billigen den Krankenhäusern nur eine geringe Wirkung auf den Sterblichkeitsrückgang zu [260: J. VÖGELE, Sozialgeschichte, 366]. Außer Streit scheint zu stehen, dass trotz einiger Fortschritte im Bereich der Antisepsis, der Arzneimittel und der Diagnostik ein entscheidender Durchbruch zu einer gezielten Heilung von Krankheiten in den deutschen Krankenhäusern erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erfolgte. Trotzdem konstatiert Spree eine steigende Attraktivität von Krankenhäusern schon in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts. Auch wenn das Therapieangebot der Krankenhäuser noch wenig wirksam war, stellten sie doch eine den natürlichen Genesungsprozess fördernde äußere Umgebung bereit, ein Pflegeangebot also, das vor allem von der großen, mobilen, unverheirateten, ohne Familie lebenden Bevölkerungsgruppe genutzt wurde. Spree zieht daraus den Schluss, dass „Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung (. . .) im 19. Jahrhundert keineswegs so stark auseinander (klafften), wie man bis vor kurzem selbst in der einschlägigen Forschung zu glauben geneigt war“ [254: R. SPREE, Anspruch, 149]. Im Ausbau des Gesundheitswesens sehen A. LABISCH/R. SPREE [236: Entwicklungen, 21] schon im 19. Jahrhundert eine Abschwächung der sozialen Ungleichheit der Lebenschancen – ohne diese allerdings aufzuheben. Den stärksten Widerspruch provozierten McKeowns Thesen in einem dritten Themenbereich, nämlich dem Einfluss sanitärer Reformen auf den Rückgang der Sterblichkeit. Während McKeown auch diesem Faktor nur geringes Gewicht zuwies, haben englische [256: S. SZRETER, Importance] und deutsche Forschungen städtische Infrastrukturmaß-
Krankenhäuser
Therapie- und Pflegeangebot
Angleichung von Lebenschancen
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Städtische Infrastruktur
Choleraepidemien
Wirkung der Stadtassanierung
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
nahmen im Bereich der Wasserversorgung und der Kanalisation – so genannte Assanierungen – als wesentlich für den Wandel der Mortalität betrachtet [260: J. VÖGELE, Sozialgeschichte, 253 ff.]. Das Thema „Stadt und Gesundheit“ und insbesondere der Einfluss der Stadtassanierungen im späten 19. Jahrhundert auf Gesundheit und Sterblichkeit wurden in zahlreichen Publikationen untersucht [245: J. REULECKE/ A. ZU CASTELL RÜDENHAUSEN, Stadt und Gesundheit; 237: A. LABISCH/ J. VÖGELE, Stadt und Gesundheit]. Die Abwasserkanalisation und die Versorgung mit sauberem Trinkwasser, die in den deutschen Städten von den 1870er Jahren an systematisch vorangetrieben wurden, bildeten eine Voraussetzung für die Bekämpfung der Krankheiten des Verdauungstraktes und boten zunehmenden Schutz vor Seuchen und Epidemien. Besonders umfassend wurden diese Zusammenhänge am Beispiel der Cholera untersucht, die von 1830/31 an [216: B. DETTKE, Die asiatische Hydra] durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch immer wieder Deutschland heimgesucht hatte, besonders heftig 1846–1869, 1854, 1859, 1866 – wo sie in Pommern schlimmer wütete als jemals zuvor – und 1892. Die Epidemien bildeten wesentliche Anstöße zur Stadtassanierung und diese wiederum führte zum raschen Rückgang der Sterblichkeit durch Cholera oder auch Typhus [220: M. HAVERKAMP, Cholera; 146: A. WEIGL, Demographischer Wandel, 187 ff.]. Wo sanitäre Maßnahmen nicht oder nur unzureichend durchgeführt wurden, bildeten die seuchenartig auftretenden Krankheiten bis in das späte 19. Jahrhundert eine essentielle Bedrohung wie in Hamburg, das 1892/93 als einzige westeuropäische Großstadt von der letzten großen Choleraepidemie in Westeuropa erfasst wurde [217: R. J. EVANS, Tod in Hamburg; 237: A. LABISCH/J. VÖGELE, Stadt und Gesundheit, 412]. Trotz dieser eindeutig nachgewiesenen Zusammenhänge ist auch bei der Einschätzung der Auswirkungen sanitärer Reformen auf den Wandel der Sterblichkeit Vorsicht angebracht. Ohne Zweifel dienten sie der Bekämpfung von Seuchen und gastro-intestinalen Krankheiten. R. SPREE [252: Rückzug des Todes] schätzt, dass in Preußen 1877– 1913 der Rückgang der Magen-Darm-Infektionen – als jenes Krankheitssyndroms, das am leichtesten durch sanitäre Reformen bekämpft werden konnte – mit rund einem Drittel zur allgemeinen Senkung der Sterblichkeit beitrug. Dies ist ein beträchtlicher Anteil, der – im Gegensatz zu McKeowns Thesen – die Stadtassanierung als wesentlichen Faktor des Wandels der Mortalität erscheinen lässt. Ob oder inwieweit sie aber auch auf andere Todesursachen wirkte, bleibt unklar. Tuberkulose zum Beispiel wird häufig mit schlechten und beengten Wohnver-
4. Sterblichkeit
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hältnissen in Verbindung gebracht, insbesondere mit der Überbelegung von Wohnungen und dem weit verbreiteten Schlafgängerwesen, das die erste Phase beschleunigten Städtewachstums charakterisierte. Nach J. VÖGELE [259: Urban Mortality Change, 213] setzte allerdings der Rückgang der Tbc-Mortalität in Deutschland schon vor einer grundlegenden Verbesserung der Wohnverhältnisse der städtischen Unterschichten ein. Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert verloren Städte den „Urban Penalty“, wie ihre Jahrhunderte langen demographischen Nachteile in der angelsächsischen Forschung genannt werden. Offensichtlich hatte dieser „Urban Penalty“ in Deutschland in den 1860er und 1870er Jahren einen Höhepunkt erreicht. Am Beginn des 20. Jahrhunderts waren dagegen in den großen Städten die Gesundheitsverhältnisse besser und die Mortalität niedriger geworden als auf dem Land. Um diesen Wandel zu erklären, scheint es wenig zielführend zu sein, einen Faktor zu stark zu betonen. Die Entwicklung des Lebensstandards und der Ernährung, die Standards der medizinischen Versorgung und Betreuung, wie sie etwa in Krankenversicherungen und Ärztedichte oder in der Existenz von Gesundheitsämtern oder Beratungseinrichtungen zum Ausdruck kamen, die Entwicklung der Hygiene im öffentlichen und im privaten Leben, insbesondere im Wohnbereich, und nicht zuletzt ein zunehmend gesundheitsorientierter Lebensstil, alle diese Faktoren zusammen scheinen dazu beigetragen zu haben, dass urbanindustrielle Umweltbedingungen und Lebensweisen zunehmend der Gesundheit förderlich wurden [260: J. VÖGELE, Sozialgeschichte, 412].
Tuberkulose
„Urban Penalty“
Urbane Lebensformen fördern Gesundheit
4.2 Säuglingssterblichkeit Am Beispiel der Säuglingssterblichkeit lässt sich die Komplexität der Mortalitätsentwicklung besonders gut diskutieren. Der Begriff umfasst alle Todesfälle zwischen der Geburt und der Vollendung des ersten Lebensjahres. Da die Sterblichkeit von Neugeborenen und von wenige Wochen oder Monate alten Kleinkindern bis in das frühe 20. Jahrhundert einen beträchtlichen Anteil aller Todesfälle ausmachte – in Deutschland in den 1870er Jahren etwa 40 Prozent [253: R. SPREE, Infant Mortality Change, 19] –, hat sie schon früh die Aufmerksamkeit von Bevölkerungswissenschaftlern auf sich gezogen. Auch gegenwärtig findet die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit starkes Interesse [215: C. A. CORSINI/P. VIAZZO, Historical decline; 213: A. BIDEAU/B. DESJARDIN/H. PÈREZ BRIGNOLI, Infant and Child Mortality; 242: W. R. LEE/P. MARSCHALCK, Infant Mortality]. Die Sterblichkeit von Kindern
Säuglings- und Kindersterblichkeit
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Regionale Varianz
Zunahme regionaler Unterschiede
Nord- und Süddeutschland als Gegenpole
Rückgang regionaler Unterschiede
Unterschiedliche Verlaufsformen
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
(vom zweiten bis zum fünften, zehnten oder fünfzehnten Lebensjahr) ist gerade für Deutschland in sehr viel höherem Maß ein Forschungsdesiderat geblieben [253: R. SPREE, Infant Mortality Change, 2]. Für die Historische Demographie ist insbesondere wichtig, dass Säuglingssterblichkeit – zumindest für das 19. Jahrhundert – auch auf der lokalen Ebene gut erforscht werden kann. Geburten und Sterbefälle von Säuglingen lassen sich aus Kirchenbüchern erschließen. Die Sterblichkeit von Menschen höheren Alters ist aufgrund ihrer hohen Mobilität dagegen mikrogeschichtlich schwerer zu erfassen. Das auffallendste Merkmal der Säuglingssterblichkeit in Deutschland ist ihre enorme regionale Varianz. Für das 18. und 19. Jahrhundert stehen zahlreiche Lokal- und Regionalstudien aus verschiedenen geographischen Räumen zur Verfügung. Sie lassen schon im 18. Jahrhundert große Unterschiede und ein deutliches Nord-Süd-Gefälle erkennen [231: J. KNODEL, Two Centuries; 230: I. E. KLOKE, Säuglingssterblichkeit]. Im Lauf des 19. Jahrhunderts nahmen diese regionalen Unterschiede zu. In einer Reihe von bayerischen und württembergischen Dörfern starben in den 1840er Jahren 40 bis 50 Prozent aller Neugeborenen im ersten Lebensjahr [125: R. W. LEE, Population Growth; 141: MEDICK, Weben, 356]. Wo die Säuglingssterblichkeit dagegen schon im 18. Jahrhundert niedrig gewesen war, wie in Ostfriesland, Schleswig-Holstein und anderen norddeutschen Regionen, ging sie auch im frühen 19. Jahrhundert weiter zurück. J. SCHLUMBOHMs [143: Lebensläufe, 153] Mikrogeschichte des Osnabrückischen Kirchspiels Belm weist für die 1840er Jahre eine Säuglingssterblichkeit von nur mehr 12 Prozent auf. Erst spät begann sich die Schere zwischen den Regionen zu schließen. Nun sank die Säuglingssterblichkeit gerade in den Regionen besonders rasch ab, die zuvor ein hohes Niveau der Mortalität aufgewiesen hatten wie in Württemberg und Bayern seit den 1870er und in Sachsen seit den 1890er Jahren. In den 1920er Jahren wiesen dann Württemberg mit zehn und Sachsen mit 11 Prozent bereits ein niedrigeres Mortalitätsniveau auf als Preußen (12 Prozent), während Bayern mit 15 Prozent immer noch hohe Werte zeigte [261: A. WAGNER, Entwicklung, 15]. Die großen regionalen Unterschiede in Höhe und Entwicklung der Säuglingssterblichkeit im 19. Jahrhundert werfen die Frage auf, ob es für diesen Zeitraum überhaupt sinnvoll ist, Werte zu berechnen und Aussagen zu treffen, die sich auf ganz Deutschland beziehen. Die gegenwärtig vorherrschende Ansicht, dass die Säuglingssterblichkeit in Deutschland von den 1820er bis in die 1860er Jahre leicht angestiegen
4. Sterblichkeit
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sei [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 38] und dass anhaltende Verbesserungen erst gegen Ende des Jahrhunderts eingesetzt hätten [231: J. KNODEL, Two Centuries, 31], trifft für viele nord- und westdeutsche Regionen nicht zu und beschreibt auch die süddeutsche Entwicklung nicht adäquat [230: I. E. KLOKE, Säuglingssterblichkeit, 71 ff.]. Auch im Hinblick auf ein Nord-Süd-Gefälle ist Vorsicht angebracht. Gerade im Süden bestanden auch starke kleinräumige Unterschiede. Zu den Gebieten mit der niedrigsten bisher bekannten Säuglingssterblichkeit im frühen 19. Jahrhundert gehört etwa auch das Saarland, das geographisch nicht weit von badischen und württembergischen Regionen mit Höchstwerten entfernt liegt [Ebd., 82]. Innerhalb Bayerns starben in Oberbayern und in Schwaben rund doppelt so viele Neugeborene wie in Ober- und Unterfranken und in der (linksrheinischen) Pfalz [261: A. WAGNER, Entwicklung, 20]. Vermutlich prägten im vor- und auch noch im frühindustriellen Europa kleinräumige demographische Besonderheiten die Strukturen der Mortalität [240: W. R. LEE, Infant, Child, and Maternal Mortality, 10]. Auch der zweifellos bestehende Land-Stadt-Gegensatz muss problematisiert werden. Wo das allgemeine Niveau der Säuglingssterblichkeit hoch war wie in Bayern, waren die Unterschiede zwischen Stadt und Land sehr gering [261: A. WAGNER, Entwicklung, 24]. Wo das Niveau niedriger war wie in Preußen, lag die städtische Säuglingssterblichkeit in den 1870er Jahren rund ein Fünftel über der ländlichen [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 167; 253: R. SPREE, Infant Mortality Change, figure 3]. Allerdings war in Preußen die Säuglingssterblichkeit in den hoch urbanisierten und industriell entwickelten westlichen Provinzen wesentlich niedriger als im ländlichen Osten. Zudem waren auch die Unterschiede zwischen einzelnen Städten sehr groß. In Hamburg, der zweitgrößten deutschen Stadt, starb in den 1860er und 1870er Jahren rund ein Drittel weniger Säuglinge als in Berlin [219: R. GEHRMANN, Urbane Mortalitätsmuster, 253]. In Frankfurt am Main lag die Säuglingssterblichkeit um 1880 nur bei 16 Prozent und damit sogar deutlich unter dem Durchschnitt der preußischen Landgemeinden [253: R. SPREE, Infant Mortality Change, table 1]. Diese Befunde schwächen die Annahme einer allgemeinen städtischen Übersterblichkeit von Säuglingen ab. Worin lagen aber die Ursachen der regionalen Unterschiede der Säuglingssterblichkeit? Gerade darauf hat die Forschung bisher keine zufrieden stellenden Antworten gegeben. Sie bietet vielmehr eine Reihe von mehr oder minder plausiblen Hypothesen an, die zusammengenommen zumindest die Komplexität des Problems sichtbar machen.
Kleinräumige demographische Besonderheiten
Land-Stadt-Unterschiede
Kein eindeutiges Land-Stadt-Gefälle
Erklärung der Varianz
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Stillgewohnheiten
Nord-SüdGegensatz
Ursachen unterschiedlicher Stillgewohnheiten
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Zur Erklärung der Unterschiede des Sterberisikos werden etwa Faktoren wie das Klima, der Ernährungsstatus, die Häufigkeit von Subsistenzkrisen, die hygienischen Verhältnisse und ähnliches herangezogen. Den prominentesten Platz in dieser Diskussion nehmen allerdings Stillgewohnheiten ein, von denen vermutet wird, dass sie einen großen Teil der nationalen und regionalen Unterschiede erklären [215: C. A. CORSINI/P. VIAZZO, Historical decline, 12]. Die Forschung ist sich darin einig, dass gestillte Babys aus zwei Gründen wesentlich besser vor Krankheits- und Sterblichkeitsrisiken geschützt sind als „künstlich“ ernährte, wie dies im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts hieß. Zum einen erhöht Muttermilch die Abwehrfähigkeit der Säuglinge gegenüber Krankheitserregern, zum anderen reduziert sie das Risiko der Ernährung mit unzureichenden, schlecht verdaulichen oder verdorbenen Lebensmitteln [247: R. SCHOFIELD/D. REHER/A. Bideau, Decline of Mortality, 15 f.]. Die für Deutschland im 19. Jahrhundert vorliegenden Lokalstudien bestätigen diesen Zusammenhang. In den norddeutschen Dörfern mit einer geringen Säuglingssterblichkeit scheinen nahezu alle Mütter ihre Säuglinge gestillt zu haben, und dies auch relativ lang, zumindest das ganze erste Lebensjahr [231: J. KNODEL, Two Centuries, 46; 228: H. J. KINTNER, Trends; 143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe, 185 ff.]. In süddeutschen Gemeinden mit einer hohen Säuglingssterblichkeit wurde dagegen schon von Zeitgenossen darüber geklagt, dass viele Mütter ihre Kinder nicht oder nur ganz kurz stillen würden [230: I. E. KLOKE, Säuglingssterblichkeit, 191 ff.; 141: H. MEDICK, Weben, 365 ff.]. Allerdings ist für das 18. und auch noch für das 19. Jahrhundert unser Wissen über Stillpraktiken nur fragmentarisch. Auch wenn man von einem engen Zusammenhang zwischen Stillpraktiken und Überlebenschancen ausgeht, sind damit keineswegs alle Probleme gelöst. Nun stellt sich die Frage, warum in der einen Region viele und in der anderen Region nur wenige Frauen ihre Kinder stillten. Um darauf Antworten zu finden, ist die Historische Demographie gezwungen, weit über ihr eigenes Fachgebiet hinauszugehen und eine Vielzahl von kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren in ihre Erwägungen einzubeziehen. Am weitesten hat dabei A. E. IMHOF ausgegriffen, der die regionalen Unterschiede der Säuglingssterblichkeit in einen breiten mentalitätsgeschichtlichen Kontext stellt [25: Die verlorenen Welten, 91 ff.]. Für ihn hat sich im Lauf der Frühen Neuzeit in Norddeutschland eine Mentalität der „Achtung vor dem Leben“ und der „Bewahrung menschlichen Lebens“ herausgebildet, in Süddeutschland dagegen eine Mentalität der „Gleichgültigkeit gegenüber dem Le-
4. Sterblichkeit
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ben“ und der „Verschwendung menschlichen Lebens“ [Ebd., 109–111]. Den Hintergrund dafür sieht Imhof in einer „Traumatisierung der lokalen Bevölkerung“ [Ebd., 101] durch eine rasche Abfolge immer wiederkehrender Seuchen, kriegerischer Verwicklungen und Hungersnöte. Viele norddeutsche Regionen seien dagegen im Windschatten der Seuchen- und Kriegszüge geblieben. Dies habe zur Entstehung unterschiedlicher kollektiver Mentalitäten von langer Dauer geführt. In mentalitätsgeschichtlichen Erklärungsansätzen spielt auch der Einfluss von Religiosität und Konfessionszugehörigkeit eine wichtige Rolle. Einer verbreiteten These nach wären Katholiken eher als Protestanten bereit gewesen, den Tod als Schicksal hinzunehmen [223: A. E. IMHOF, Unterschiedliche Säuglingssterblichkeit, 366 f.]. Imhof hat Konfession auch mit Frauenbildung verknüpft, da die Angehörigen reformierter Kirchen in der Regel lesen konnten. In Schweden zum Beispiel setzten der dauerhafte Rückgang der Säuglingssterblichkeit und die Zunahme der Lebenserwartung schon im späten 18. Jahrhundert ein. Zu dieser Zeit konnten in Schweden alle Frauen und Männer lesen und zu dieser Zeit begann die Regierung, aufklärerische Schriften unter der Bevölkerung zu verbreiten, in denen Frauen aufgefordert wurden, ihre Säuglinge und Kleinkinder lange zu stillen und intensiv zu pflegen. Männer wurden dazu angehalten, Frauen mit Kleinkindern von anderen Aufgaben zu entlasten. Deutsche Lokalstudien für das 19. Jahrhundert lassen allerdings keinen Zusammenhang zwischen Säuglingssterblichkeit und Religion erkennen. In konfessionell gemischten Gemeinden unterschieden sich die Überlebenschancen von Kindern protestantischer und katholischer Eltern nicht [143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe, 159; 230: I. E. KLOKE, Säuglingssterblichkeit, 181, 266]. Das von H. MEDICK untersuchte Laichingen zeigt nicht nur einen Spitzenwert der Säuglingssterblichkeit, sondern auch eine starke pietistische Prägung und eine hoch entwickelte Buch- und Lesekultur [141: Weben]. Gegenüber mentalitätsgeschichtlichen Erklärungsansätzen hat vor allem Robert Lee den Einfluss sozialökonomischer Faktoren betont [240: W. R. LEE, Infant, Child and Maternal Mortality]. Er stellt den Zusammenhang zwischen Säuglingssterblichkeit, Stillgewohnheiten und den Lebensbedingungen der Frauen in das Zentrum seiner Überlegungen. Diese Fragen können auch zur Erklärung des Anstiegs der Säuglingssterblichkeit im 19. Jahrhundert beitragen. Agrarrevolution, Kommerzialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft haben zur Intensivierung der ländlichen Frauenarbeit beigetragen [241: W. R. LEE, Agrarian Change]. Hatten Frauen unter diesen Bedingungen weniger Zeit und Gelegenheit, ihre Säuglinge zu stillen und ihre Kinder zu
Mentalitäten
Konfession und Alphabetisierung
Geschlechterbeziehungen
Wirkung der Konfessionszugehörigkeit?
Armut und Frauenarbeit
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Soziale Position
Höhere Überlebenschancen in den unteren Schichten?
Stillen aus Armut
Höhere Lebenschancen in höheren Schichten?
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
pflegen? Umgekehrt trug allerdings Frauenarbeit zum Einkommen der Familien und damit zur Verbesserung des Lebensstandards bei. Auch in Bezug auf den Einfluss der sozialen Stellung der Eltern auf die Überlebenschancen der Kleinkinder zeichnen die vorliegenden Forschungsergebnisse ein widersprüchliches Bild. Aus dem Vergleich einer großen Zahl von Lokalstudien, die bis in das späte 19. Jahrhundert reichen, zog J. SCHLUMBOHM den Schluss, dass sich in ländlichen Regionen „innerhalb eines Ortes die Überlebenschancen der Kinder zwischen den sozialen Schichten nicht wesentlich unterschieden“ [143: Lebensläufe, 157]. Auch J. KNODEL [231: Two Centuries, 33] und I. E. KLOKE [230: Säuglingssterblichkeit, 270 f.] schreiben der sozialen Stellung der Eltern keinen signifikanten Einfluss auf die Säuglingssterblichkeit zu. Eine ganze Reihe von Studien weist sogar bessere Lebenschancen der Kinder aus den Unterschichten nach [138: W. KASCHUBA/ C. LIPP, Dörfliches Überleben, 556; 70: J. SCHLUMBOHM, Sozialstruktur, 339 f.; 230: I. E. KLOKE, Säuglingssterblichkeit, 269]. Als Gründe für diese auf den ersten Blick paradox erscheinenden Unterschiede werden eine „Abneigung gegen das Stillen“ [215: C. A. CORSINI/P. VIAZZO, Historical decline, 15; 141: H. MEDICK, Weben, 368; 230: I. E. KLOKE, Säuglingssterblichkeit, 269] bei den Frauen der Oberschicht angeführt, eine steigende Arbeitsbelastung von Bäuerinnen [138: W. KASCHUBA/ C. LIPP, Dörfliches Überleben, 557] oder auch eine bewusste „nachgeburtliche“ Familienplanung von Bauern [70: J. SCHLUMBOHM, Sozialstruktur, 342]. Möglicherweise waren auch viele Frauen der unteren Schichten zu arm, um ihren Babys Milch oder andere Lebensmittel kaufen zu können. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als lange zu stillen, womit sie die Überlebenschancen ihrer Kinder erhöhten [240: W. R. LEE, Infant, Child and Maternal Mortality, 14]. Aus einer europäisch vergleichenden Perspektive kamen C. A. CORSINI und P. VIAZZO [215: Historical decline, 14 f.] sogar zu dem Schluss, dass eine starke „umgekehrte Beziehung“ zwischen Säuglingssterblichkeit auf der einen und Klassenzugehörigkeit, Einkommen und Berufsposition auf der anderen Seite bestanden habe. So überzeugend diese Ergebnisse einschlägiger Mikrostudien auch sind, so problematisch erschiene es zugleich, sie für die gesamte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu verallgemeinern. Aggregierte Datenreihen für das späte 19. Jahrhundert lassen die „soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod“ (Spree) sehr deutlich hervortreten. R. SPREE hat zunächst für ganz Preußen [248: Soziale Ungleichheit] und dann differenziert nach Regionen eine hohe Übereinstimmung von sozialem Status und Säuglingssterblichkeit nachgewiesen. Die besten Leben-
4. Sterblichkeit
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schancen hatten die Kinder von Beamten und Angestellten, die schlechtesten die Kinder von ländlichen Dienstboten und ungelernten Arbeitern. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahmen die sozialen Unterschiede der Säuglingssterblichkeit – im Gegensatz zur regionalen Varianz – sogar weiter zu [253: R. SPREE, Infant Mortality Change, 17, 20]. Dazu kommt, dass die Sterblichkeit unehelich geborener Kinder deutlich über der von ehelich geborenen lag. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verweisen viele Lokalstudien auf Unterschiede zwischen 50 und 70 Prozent! In Preußen stieg die Sterblichkeit der unehelichen Säuglinge bis zum Ende der 1860er Jahre deutlich stärker an als jene der ehelichen und sie ging auch später und langsamer zurück. Zwei Drittel der Todesfälle von unehelichen Säuglingen entfielen auf Mütter, die als ländliche Gesindepersonen oder als städtische Dienstboten arbeiteten [Ebd., 11]. Die geringeren Lebenschancen der Unehelichen waren damit einer der Faktoren, die zum allgemeinen Anstieg der Säuglingssterblichkeit beitrugen. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begannen nahezu überall in Europa die Sterbeziffern zu fallen. Zugleich damit wurden nationale Unterschiede schwächer. In den 1950er Jahren hatten sich die Mortalitätsniveaus in Europa weitgehend angenähert, die Säuglingssterblichkeit lag nun quer durch Europa zwischen zwei und fünf Prozent [215: C. A. CORSINI /P. VIAZZO, Historical decline, 9]. Die deutsche Entwicklung fügt sich in diesen Trend. Um 1900 starben noch mehr als 200 von 1000 Neugeborenen im ersten Lebensjahr, 1930 nur mehr 85, 1960 34 (BRD) bzw. 38 (DDR), 2000 nur mehr vier [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 168; 11: STATISTISCHES JAHRBUCH 2003]. Dieser Prozess war mit einer Homogenisierung der Mortalität verknüpft. Die einstmals so prägenden Unterschiede zwischen den Regionen, zwischen Land und Stadt, zwischen ehelichen und unehelichen Kindern verloren an Bedeutung. Die Diskussion der Ursachen des Rückgangs der Säuglingssterblichkeit verläuft zum Teil parallel zu jener des allgemeinen Mortalitätsrückgangs, weist aber auch eigene Akzente auf. Wie oben dargestellt wurde, scheinen im 18. und 19. Jahrhundert Stillgewohnheiten die Säuglingssterblichkeit entscheidend beeinflusst zu haben. Es ist noch weitgehend ungeklärt, ob bzw. in welchem Ausmaß ein Wandel im Stillverhalten zum Sterblichkeitsrückgang beitrug. In Deutschland – wie in anderen europäischen Ländern – wurde von den 1860/70er Jahren an und besonders am Beginn des 20. Jahrhunderts das Stillen der Säuglinge stark propagiert [246: C. ROLLET, Fight; 255: S. STÖCKEL, Säuglingssterblichkeit]. Tatsächlich ist in vielen Städten eine Ausbrei-
Uneheliche Kinder
Ledige Mütter im Gesindedienst
Ende der Säuglingssterblichkeit
Angleichung der Lebenschancen
Ursachen des Rückgangs
Wandel des Stillverhaltens
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Ernährung und Pflege
Einfluss der Medizin
Rolle der Ärzte
Geburtenrückgang
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
tung des Stillens zu beobachten. [261: A. WAGNER, Entwicklung, 72]. Allerdings ist zu bedenken, dass in dieser Periode die Muttermilch ihre herausragende Bedeutung für eine gesunde Ernährung der Säuglinge einbüßte und „künstliche Nahrungsmittel“ ihre potenzielle Gefährlichkeit sukzessive verloren [219: R. GEHRMANN, Urbane Mortalitätsmuster, 242]. Verbesserte Verkehrsverbindungen und neue Erkenntnisse der Lebensmitteltechnologie erleichterten den Zugang zu gesunder Kindernahrung. Die Versorgung der Großstädte mit frischer, sterilisierter oder pasteurisierter Milch wurde möglich. Die Verwendung dieser Lebensmittel setzte allerdings gestiegene Reallöhne und einen höheren Lebensstandard voraus. Ein Netz von Säuglingsfürsorge bzw. -beratungsstellen diente dem Zweck, das Hygienebewusstsein der Mütter bei der Pflege und Ernährung ihrer Kinder zu erhöhen [229: H.-J. KINTNER, Determinants, 606]. Ein direkter Einfluss der Medizin ist auch in Bezug auf die Säuglingssterblichkeit umstritten. Für R. SPREE [253: Infant Mortality Change, 7] haben medizinische Therapien erst nach dem Zweiten Weltkrieg einen nennenswerten Beitrag zum Rückgang der Säuglingssterblichkeit geleistet, zu einem Zeitpunkt also, als diese schon relativ niedrig war. Die vermutlich schon im frühen 19. Jahrhundert wirksamen Pockenimpfungen führten erst nach dem Säuglingsalter zu einem erhöhten Schutz [231: J. KNODEL, Two Centuries, 28; 120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte]. Unbestritten ist allerdings der Einfluss von Ärzten auf eine Verbesserung der Säuglingspflege und -betreuung in den Familien. Auch der Zusammenhang zwischen sanitären Reformen, „öffentlicher Hygiene“ und Rückgang der Säuglingssterblichkeit wird diskutiert. Frisches und nicht von Exkrementen verunreinigtes Wasser dürfte den Rückgang von Verdauungskrankheiten und in der Folge davon der Mortalität der Säuglinge gefördert haben [260: J. VÖGELE, Sozialgeschichte, 130 ff., 320 ff.; 248: R. SPREE, Soziale Ungleichheit, 123; 261: A. WAGNER, Entwicklung, 119]. Einige Bevölkerungswissenschaftler haben den Rückgang der Säuglingssterblichkeit auch als eine Folge des Fruchtbarkeitsrückgangs gesehen. Wenn Mütter weniger Babys und Kinder haben, können sie sich um jedes einzelne intensiver kümmern. Statistische Prüfungen dieser Hypothese haben aber zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt. Einige Analysen zeigen einen starken Zusammenhang zwischen Fruchtbarkeit und Säuglingssterblichkeit [229: H. J. KINTNER, Determinants, 606], andere bestätigen ihn nicht [259: J. VÖGELE, UrbanMortality Change, 53]. Ein direkter und automatischer Zusammenhang zwischen sinkenden Geburtenraten und Rückgang der Säuglingssterblichkeit
5. Fertilität und Geburtenrückgang
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scheint jedenfalls nicht zu bestehen. Eine große Rolle wird in der wissenschaftlichen Diskussion aber dem Wandel der Einstellung zu Kindern zugeschrieben. C. A. CORSINI und J. VIAZZO [215: Historical decline, 15] vermuten, dass vor dem späten 19. Jahrhundert Eltern schwere und häufig tödliche Krankheiten ihrer Babys und kleinen Kinder als unvermeidlich ansahen. Erst dann verbreitete sich das Bewusstsein, dass ihr Tod verhindert werden könnte. Möglicherweise bestand der wichtigste Einfluss der Medizin darin, die Verbreitung dieses Bewusstseins zu fördern: Ärzte propagierten die Idee der Vermeidbarkeit des Todes.
Einstellung zum Tod
5. Fertilität und Geburtenrückgang Die Untersuchung der Fruchtbarkeit zählt zu den zentralen Themen der Demographie. Weltweit gesehen, standen spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch für Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie die Fertilität und vor allem ihr Rückgang im 19. und 20. Jahrhundert im Mittelpunkt des Interesses. Die „Theorie der demographischen Transition“ (vgl. dazu Kapitel II.7) kreiste um die Frage des Geburtenrückgangs und der Familienplanung [20: S. GREENHALGH, Social Construction, 27 f.]. Das bisher größte Forschungsprojekt zur europäischen Bevölkerungsgeschichte war dementsprechend das 1963 an der amerikanischen Princeton University begonnene und bis in die 1980er Jahre fortgeführte „Princeton European Fertility Project“, das den Rückgang der Fruchtbarkeit auf dem gesamten europäischen Kontinent, vom Atlantik bis zum Ural, untersuchte. Dieses Projekt verarbeitete demographische Daten für rund 600 regionale Einheiten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis etwa 1960 [267: A. J. COALE/S. C. WATKINS, Decline of Fertility]. In der neueren deutschen Bevölkerungsgeschichte und Historischen Demographie hat das Thema der Fertilität dagegen eine geringe Rolle gespielt. Der Wandel der Mortalität wurde in den letzten Jahrzehnten wesentlich intensiver erforscht und diskutiert als der Wandel der Fertilität (vgl. dazu Kapitel II.4). Aus diesem Grund bilden die Ergebnisse des „Princeton European Fertility Projects“ immer noch einen Markstein für die Geschichte der Fertilität in Deutschland. Im Rahmen dieses Projekts hat der amerikanische Demograph J. KNODEL die Geschichte des Geburtenrückgangs in Deutschland untersucht. In einer ersten Monographie [279: Decline of Fertility] behandelte er mittels aggregierter Daten den Übergang zur
Princeton European Fertility Project
Ergebnisse des Princeton Projects
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Dorfstudien
Fertilität im politischen Diskurs
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Geburtenkontrolle in Deutschland zwischen 1871 und 1939. Eine spätere zweite Studie [68: J. KNODEL, Demographic Behavior] wertete Individualdaten aus den Pfarrregistern bzw. Ortssippenbüchern von 14 Dörfern aus dem Norden, der Mitte und dem Süden Westdeutschlands für das 18. und 19. Jahrhundert aus. Auch hier galt das Interesse Knodels zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend der Fertilität. In der deutschen Bevölkerungsgeschichte wurde das Thema der Fertilität in den letzten Jahrzehnten vor allem im Kontext von mikrohistorischen Dorfstudien behandelt, die zum Teil primär historischdemographisch orientiert sind [wie z. B. 133: R. GEHRMANN, Leezen], zum Teil demographische Themen in allgemeinere sozialgeschichtliche Fragestellungen integrieren. Zu letzteren gehören etwa die in den 1970er Jahren von den Göttinger Historikern P. KRIEDTE, H. MEDICK und J. SCHLUMBOHM begonnenen Forschungen zur Proto-Industrialisierung [143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe; 141: H. MEDICK, Weben; allgemein dazu 62: CH. PFISTER, Bevölkerungsgeschichte, 119 ff.]. Der zeitliche Schwerpunkt aller dieser Arbeiten liegt, wenn man von wenigen Ausnahmen absieht [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben; 144: S. SCHRAUT, Sozialer Wandel], in der Frühen Neuzeit. Ihre Fragestellungen beziehen sich auf vorindustrielle ländliche Gesellschaften und auf deren Übergang in die Moderne. Die Daten reichen allerdings in der Regel bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, zum Teil sogar bis in das beginnende 20. Jahrhundert [138: W. KASCHUBA/ C. LIPP, Dörfliches Überleben; 130: R. K. ADLER, Demographie und Familiengeschichte]. Trotz der unglücklichen Trennung der deutschen Forschung zwischen einer auf das 17. bis 19. Jahrhundert konzentrierten Historischen Demographie und einer auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkten Bevölkerungsgeschichte sind die Ergebnisse der Dorfstudien, die auf Individualdaten und Familienrekonstitutionen beruhen, auch für die Bevölkerungsgeschichte der sich industrialisierenden Gesellschaft relevant. Seit dem späten 19. Jahrhundert gehören soziale Unterschiede der Fruchtbarkeit zu den am heftigsten diskutierten und am stärksten politisch aufgeladenen Fragen der Demographie [286: P. MARSCHALCK, Deutungen, 14 ff.]. Die Angst vor einer höheren Fruchtbarkeit von Unterschichten, ethnischen Minderheiten oder Zuwanderern zieht sich von der sozialdarwinistischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen Immigrationsdebatten [20: S. GREENHALGH, Social Construction, 35; 265: A. BERGMANN, Verhütete Sexualität, 47 f.]. In der deutschen Bevölkerungsgeschichte wurde dieses Thema vor allem im Zusammenhang mit der vermuteten „ungehemmten Fortpflanzung“ des
5. Fertilität und Geburtenrückgang
101
aus ständischen Kontrollen befreiten frühindustriellen Proletariats behandelt (vgl. dazu Kapitel II.2.1). H. LINDE [30: Familie und Haushalt, 39] vermutet wohl nicht zu Unrecht, dass es sich dabei um „keineswegs nachgeprüfte Rückprojektionen von Befunden (aus der) europäischen Geburtenrückgangsdiskussion der Zwischenkriegszeit“ handelte. Das Thema der Fruchtbarkeitsunterschiede spielt auch in den historischdemographischen Mikrostudien eine wesentliche Rolle. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeichnen in einer Hinsicht ein eindeutiges Bild: Die regionale Varianz der Fruchtbarkeit war in Deutschland im 19. Jahrhundert – vor dem Beginn des Geburtenrückgangs – außerordentlich groß. Die eheliche Fruchtbarkeit erreichte in ostfriesischen Dörfern kaum zwei Drittel von jener in schwäbischen und bayerischen Gemeinden [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 250]. In einigen der untersuchten süddeutschen Pfarren lag sie sogar über den Werten der in Amerika lebenden Angehörigen der religiösen Gemeinschaft der Hutterer, die im „Princeton Fertility Project“ als höchste bis dahin gemessene menschliche Fruchtbarkeit galten [141: H. MEDICK, Weben, 342]. Die großen regionalen Unterschiede der Fruchtbarkeit und die Zuordnung der extremen Pole zum Norden und zum Süden Deutschlands werden durch die aggregierten Daten der amtlichen Statistiken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigt. 1867 und 1900 lag die eheliche Fruchtbarkeit in Regierungsbezirken wie Schwaben oder Niederbayern um mehr als ein Drittel über jener des Bezirks Lüneburg [267: A. J. COALE/S. C. WAKTKINS, Decline of Fertility, 42, 46]. Allerdings bestanden auch innerhalb von Regionen, sogar zwischen benachbarten Dörfern, ganz erstaunliche Unterschiede der Fertilität [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 372; 130: R. K. ADLER, Demographie und Familiengeschichte, 80]. Weniger eindeutig ist die Erklärung der Varianz. Die extremen Pole hoher und niedriger Fruchtbarkeit werden – ebenso wie jene der Säuglingssterblichkeit – meist mit der Praxis des Stillens erklärt: Stillen verzögert das Einsetzen der Empfängnisbereitschaft nach einer Geburt und kann deshalb den Abstand zwischen den Geburten beträchtlich erhöhen [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 251]. Vermutlich wurden Säuglinge im Norden Deutschlands häufiger und länger gestillt als im Süden [143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe, 185 ff.; 141: H. MEDICK, Weben, 365 ff.]. Die parallelen Unterschiede der Säuglingssterblichkeit deuten auf diesen Zusammenhang hin, wenn auch die Kenntnisse der regionalen Stillpraktiken immer noch sehr mangelhaft sind (vgl. dazu Kapitel II.4.2). Noch schwieriger wird die Erklärung der Fruchtbarkeitsunterschiede, wenn man berücksichtigt, dass sie nicht
Regionale Varianz
Nord-Süd-Gegensatz
Einfluss der Stillpraktiken
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Weitere Einflussfaktoren
„Natürliche“ Fruchtbarkeit?
Kontrollierte Fruchtbarkeit
Biologistisches Denken
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
nur in extremen Polen ihren Ausdruck finden, sondern in einem breiten Spektrum mit fließenden Übergängen [35: J. SCHLUMBOHM, Möglichkeiten und Grenzen, 51]. Die große regionale Varianz der ehelichen Fruchtbarkeit vor dem Übergang zur Geburtenbeschränkung wurde über Deutschland hinaus von zahlreichen historisch-demographischen Mikrostudien sichtbar gemacht [47: M. FLINN, European Demographic System, 102 ff.]. Neben den Stillpraktiken beeinflussten auch gesundheitliche Faktoren, Ernährungslagen, die zeitweilige Trennung der Ehegatten durch Arbeitsmigration und vieles andere mehr die Fertilität in der Ehe. All dies stellte auch den Begriff der „natürlichen Fruchtbarkeit“ in Frage, den in den 1950er und 1960er Jahren der französische Demograph L. HENRY in die Historische Demographie einführte. Henry benützte die Begriffe der „natürlichen“ und der „kontrollierten Fruchtbarkeit“, um die Entwicklung der Fertilität vom vorindustriellen Europa bis in das 20. Jahrhundert zu beschreiben [277: Data on Natural Fertility]. Unter „natürlicher Fruchtbarkeit“ verstand er ein Verhalten, das keine bewusste Beschränkung der Kinderzahl in einer Ehe anstrebe. Als „kontrollierte Fruchtbarkeit“ bezeichnete er dagegen das Vermeiden von weiteren Geburten, sobald eine bestimmte erwünschte Kinderzahl erreicht worden war [267: A. J. COALE/S. C. WATKINS, Decline of Fertility, 9]. In der Historischen Demographie wurde der Begriff der „natürlichen Fruchtbarkeit“ allerdings häufig in einem allgemeineren Sinn als Bezeichnung für eine hohe und nur biologisch begrenzte eheliche Fertilität verstanden, die man als charakteristisch für vor- und frühindustrielle Gesellschaften ansah. Nur „die Varianz des Heiratsalters (habe) zu unterschiedlichen Geburtenzahlen je Ehe geführt“ [so – in kritischer Perspektive – 70: J. SCHLUMBOHM, Sozialstruktur, 333]. Dieses biologistische Verständnis von „natürlicher Fruchtbarkeit“ wurde von den 1970er Jahren an immer mehr kritisiert. Es hat viele Demographen veranlasst, den Begriff überhaupt zu vermeiden. Auf der anderen Seite hat gerade die große Bandbreite der ehelichen Fruchtbarkeit auch ohne bewusste Geburtenkontrolle vor allem angelsächsische Demographen bewogen, den Begriff der „natural fertility“ als Gegenbegriff zur intentionalen Geburtenbeschränkung beizubehalten. „Natürliche Fruchtbarkeit“ bezeichnet in diesem Verständnis durchaus verhaltensabhängige, aber nicht intentionale Variationen der Fertilität [323: J. KNODEL, Demographic Transitions, 359]. Das Feld der (historischen) Demographie ist jedenfalls ein „lexikalisches Feld voller Biologismen“ [40: T. SOKOLL/R. GEHRMANN, Historische Demographie, 164], dessen kritische Reflexion noch kaum begonnen hat.
5. Fertilität und Geburtenrückgang
103
Soziale Unterschiede der Fruchtbarkeit sind schwieriger zu fassen als regionale. Die vorherrschende Meinung geht dahin, dass in der Frühen Neuzeit und auch noch im 19. Jahrhundert die soziale Varianz der Fertilität in Deutschland sehr gering war [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 296]. Anders formuliert, bestanden die großen Unterschiede zwischen den Dörfern und Regionen, während innerhalb der Dörfer – auch wenn sie eine beträchtliche sozial-ökonomische Ungleichheit aufwiesen – ein erstaunlich einheitliches Fruchtbarkeitsverhalten vorherrschte [323: J. KNODEL, Demographic Transitions, 387]. Demgegenüber hat H. MEDICK [141: Weben, 346 f.] eingewendet, dass in einer großen Zahl von Dorfstudien – wie auch in dem von ihm untersuchten Laichingen – doch erhebliche Unterschiede bestanden. Wenn man bereit ist, bei aller gebotenen Vorsicht, die in den historisch-demographischen Mikrostudien erkennbare soziale Differenzierung der Fertilität als relevant anzuerkennen, dann erhebt sich als nächste Frage, ob die Unterschiede zwischen den Schichten einem einheitlichen Muster folgten. Auch hier sind verallgemeinernde Aussagen sehr schwierig. Die eheliche Fruchtbarkeit war in einer Reihe von Dörfern in den Familien der bäuerlichen Oberschicht höher als in den Familien der unterbäuerlichen Schichten. Eine höhere Fruchtbarkeit der Oberschichten ist im 19. Jahrhundert etwa erkennbar in den norddeutschen Gemeinden Belm [143: J. SCHLUMBOHM, Lebensläufe] und Leezen [133: R. GEHRMANN, Leezen] und in den süddeutschen Gemeinden Laichingen [141: H. MEDICK, Weben und Überleben], Kiebingen [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben] und Esslingen [144: S. SCHRAUT, Sozialer Wandel]. In den meisten der von J. KNODEL [68: Demographic Behavior, 294 f.] untersuchten Dörfern zeigen dagegen die Besitzlosen eine höhere eheliche Fruchtbarkeit als die Bauern. H. MEDICK [141: Weben, 347 f.] hat allerdings bezweifelt, ob die von Knodel benützten sozialen Kategorien die reale Schichtung dieser Dörfer adäquat erfassen. Andere Studien lassen jedoch eine höhere Fruchtbarkeit in den besitzenden Familien erkennen [70: J. SCHLUMBOHM, Sozialstruktur, 337 f.]. Da die Männer der dörflichen Oberschicht in aller Regel jüngere Bräute heirateten als die Angehörigen der ländlichen Unterschichten, brachten ihre Frauen im Lauf einer Ehe auch mehr Kinder zur Welt [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben, 524 ff.; 130: R. K. ADLER, Demographie und Familiengeschichte, 82]. Bei aller noch immer gebotenen Vorsicht wird man für die ländliche Gesellschaft Deutschlands im 19. Jahrhundert doch von einer sozial differenzierten Fertilität und einer „positiven Korrelation zwischen Nachkommenzahl und Besitz“ ausgehen können [120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte, 237].
Soziale Varianz der Fertilität
Höhere Fertilität der Oberschicht
Höhere Fertilität der Unterschicht
Heiratsalter als entscheidender Faktor
Kinderzahl und Besitz
104
Einfluss der Konfession
Beginn des Geburtenkontrolle
Verlaufsmuster des Geburtenrückgangs
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Im Vergleich zu den regionalen und sozialen Unterschieden der Fertilität hat die Forschung religiösen Einflüssen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine historisch-demographische Studie über das Elsass von 1750 bis 1870, also vor seinem Anschluss an das Kaiserreich, stellte den Vergleich von Katholiken und Lutheranern in das Zentrum [128: K. MCQUILLAN, Culture]. In den hier untersuchten Dörfern wiesen die Lutheraner eine deutlich niedrigere Fertilität auf als die Katholiken [Ebd., 105]. Ob dieser Befund verallgemeinert werden kann, ist aufgrund des unzureichenden Forschungsstandes nicht zu entscheiden. R. GEHRMANN [271: Einsichten, 474] warnt vor einer einfachen Gleichsetzung von Protestantismus mit niedriger und Katholizismus mit hoher Fertilität. Zu den süddeutschen Gemeinden mit außerordentlich hoher Fruchtbarkeit gehörten jedenfalls im 19. Jahrhundert protestantische Dörfer wie Laichingen [141: H. MEDICK, Weben] ebenso wie katholische Dörfer in Bayern [68: J. KNODEL, Demographic Behavior]. Die auf Individualdaten beruhende mikrogeschichtliche Perspektive der Dorfstudien, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts reichen, trägt auch zu einer differenzierten Sicht auf den Beginn des Geburtenrückgangs bei. Für ganz Deutschland hat das „Princeton European Fertility Project“ das Jahr 1888 als Beginn des irreversiblen Übergangs zur Geburtenkontrolle bestimmt [267: A. J. COALE/S. C. WATKINS, Decline of Fertility, 38]. Nach den Kriterien des Projekts hat der „fertility decline“ 1879 den ersten deutsche Regierungsbezirk erfasst, 1914 den letzten. Um 1935 scheint in Deutschland die „fertility transition“, der Übergang zur kleinen Familie als allgemeine Norm und Praxis, abgeschlossen gewesen zu sein [54: T. W. GUINANNE, Economy and Population]. Nach Meinung mancher deutscher Historiker ist es auf nationaler Ebene erst ab 1900 zu einem substanziellen Rückgang der Fruchtbarkeit gekommen [278: G. HOHORST, Decline of Fertility, 51]. Die einzelnen Dorfstudien zeigen dagegen sehr unterschiedliche Trends und zum Teil einen wesentlich früheren Beginn des Geburtenrückgangs. In KNODELs Untersuchung [68: Demographic Behavior] sind drei Verlaufsmuster zu erkennen. Eine Gruppe von Dörfern zeigt einen Anstieg der ehelichen Fruchtbarkeit bis zu jener Kohorte, die zwischen 1850 und 1874 heiratete, also fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Kinder bekam. Eine zweite Gruppe zeigt, von kurzfristigen Schwankungen abgesehen, eine relativ stabile Fertilität durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch. In einer dritten Gruppe setzt der Geburtenrückgang schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein. Eine sehr niedrige eheliche Fruchtbarkeit, die bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts auf Geburtenkontrolle
5. Fertilität und Geburtenrückgang
105
hinweist, wurde auch für die Stadt Bremen und für ihre ländliche Umgebung festgestellt [285: P. MARSCHALCK, Städtische Bevölkerungsstrukturen, 170 f.]. In der städtischen Beamtenschaft dürfte schon vor der Wende zum 19. Jahrhundert mit bewusster Familienplanung begonnen worden sein [268: A. ZU CASTELL RÜDENHAUSEN, Forschungsergebnisse, 168]. Dies alles weist auf zeitlich weit gefächerte Übergänge zur Geburtenkontrolle hin, die aber in einigen Gebieten des ländlichen und städtischen Deutschland zum Teil beträchtlich vor dem Ende des 19. Jahrhunderts einsetzten [323: J. KNODEL, Demographic Transitions, 361; 274: T. GUINNANE/B. OKUN/J. TRUSSEL, What Do We Know, 16]. Diese multiplen Anfänge widersprechen auch den Annahmen der „Diffusion“ einer neuen Einstellung zu Geburt und Kinderzahl von einem Zentrum aus. Im Übrigen hat J. KNODEL [68: Demographic Behavior, 371] darauf aufmerksam gemacht, dass sich ein Anstieg der ehelichen Fruchtbarkeit und der Übergang zur Geburtenkontrolle, so paradox dies auch auf den ersten Blick erscheinen mag, nicht notwendigerweise ausschließen. In den von ihm untersuchten 14 Dörfern ging das durchschnittliche Alter der Mütter bei ihrer letzten Geburt kontinuierlich vom Beginn des 19. Jahrhunderts an zurück, in einigen Gemeinden um bis zu fünf Jahre! Das „Stoppen“ der Geburten im höheren Alter, nachdem bereits eine bestimmte Anzahl von Kindern geboren worden war, gilt in der Historischen Demographie als eindeutiger Hinweis für bewusste Geburtenkontrolle und Familienplanung [280: J. KNODEL, Starting]. Zugleich stieg aber die Fruchtbarkeit der jüngeren verheirateten Frauen an. In den untersuchten 14 Dörfern bekamen Ehefrauen im Alter von 20 bis 24 Jahren im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt alle 26 Monate ein Kind, im letzten Viertel alle 22 Monate. Dieses Phänomen wurde noch nicht eindeutig erklärt. Möglicherweise drückt es einen Rückgang des Stillens im Zusammenhang mit dem Wandel weiblicher Erwerbstätigkeiten aus [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 366]. Wenn dies zuträfe, dann würde eine Verhaltensänderung ungewollt zur Zunahme der Geburtenzahlen führen und zwar bei Frauen, die – im höheren Alter – bereits bewusst Geburtenkontrolle praktizierten. Die Ergebnisse der deutschen historisch-demographischen Mikrostudien passen gut zur internationalen Diskussion um den Beginn des Geburtenrückgangs. Man geht heute davon aus, dass „freiwillige Geburtenkontrolle . . . in kleinen Teilen der Bevölkerung schon lange“ vor dem 19. Jahrhundert praktiziert wurde [49: M. LIVI BACCI, Europa, 196]. Die Renaissance als sozio-kulturelle Umbruchsphase kommt da-
Geburtenkontrolle im 18. Jahrhundert
Höhere Fertilität trotz Geburtenkontrolle?
Anfänge in der Renaissance
106
Familienplanung als Massenphänomen
Zunahme der sozialen Differenzierung
Konfessionelle Differenzierung
Vorläufer und Nachzügler
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
bei verstärkt in den Blick [318: J.-C. CHESNAIS, Demographic Transition]. A. E. IMHOF hat sogar die Meinung vertreten, dass man sich angesichts des hohen Heiratsalters und der niedrigen Illegitimität im vormodernen Europa „wahrscheinlich in weitesten Kreisen der Bevölkerung im Zeitraum zwischen der Pubertät und dem Eingehen der Ehe ziemlich gründliche Kenntnisse und Techniken einer effektiven Antikonzeption erworben haben dürfte. Man brachte diese dann in die Ehe mit und wandte sie bei Bedarf (. . .) an“ [23:, Bevölkerungsgeschichte, 39]. Neu war im 19. Jahrhundert nicht die „Erfindung“ der Familienplanung und der bewussten Beschränkung der Kinderzahl, sondern ihre Entwicklung zum Massenphänomen – wenn man von Frankreich absieht, wo dieser Prozess bereits im späten 18. Jahrhundert einsetzte. Der Übergang zur ehelichen Geburtenbeschränkung als Norm und Massenphänomen baute auf viele Vorläufer in einzelnen Dörfern, Städten und sozialen Gruppen auf. Übereinstimmung herrscht in der Historischen Demographie darüber, dass sich in der Phase des Übergangs die regionalen und sozialen Unterschiede der Fruchtbarkeit erhöhten. In den untersuchten Dörfern nahmen im späten 19. Jahrhundert zwar alle sozialen Gruppen an der Geburtenbeschränkung teil, aber in unterschiedlichem Maß. Bei den Bauern erfolgte der Übergang zur Familienplanung schneller und stärker als bei den Besitzlosen [70: J. SCHLUMBOHM, Sozialstruktur, 337]. Die bis dahin eher schwache soziale Differenzierung der Fertilität wurde in der ersten Phase des „fertility decline“ beträchtlich verstärkt. Dasselbe zeichnet sich in Bezug auf religiöse Unterschiede ab. Die demographischen Unterschiede zwischen den Konfessionen vergrößerten sich im Lauf des 19. Jahrhunderts erheblich [128: K. MCQUILLAN, Culture, Religion, 127 f.]. Die soziale Differenzierung steht auch im Mittelpunkt der insgesamt nur wenigen Arbeiten, die den Verlauf des Geburtenrückgangs in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts untersuchen [293: R. SPREE, Geburtenrückgang; 268: A. ZU CASTELL RÜDENHAUSEN, Forschungsergebnisse]. Die Forschung stützt sich dabei vor allem auf die familienstatistischen Ergebnisse der Volkszählung von 1939, die von jeder verheirateten Frau die Zahl der von ihr geborenen Kinder erfragte und mit einer Reihe von sozial-ökonomischen Angaben verband [30: H. LINDE, Familie, 40]. Diese Untersuchungen bestätigen erneut, dass bereits vor dem Beginn des massenhaften Übergangs zur Geburtenbeschränkung in einzelnen sozialen Gruppen Familienplanung betrieben wurde. Großfamilien mit sechs und mehr Kindern kamen in den höheren Bildungsschichten schon am Beginn des 20. Jahrhunderts kaum mehr vor [284: R. MACKENSEN, Nachwuchsbeschränkung, 315]. Bei
5. Fertilität und Geburtenrückgang
107
den Mittelschichten ging der „neue Mittelstand“ der Freiberufler, Beamten und Angestellten als erstes zur Geburtenbeschränkung über, besonders rasch die akademisch gebildeten urbanen Gruppen [71: R. SPREE, Strukturierte soziale Ungleichheit]. In der Arbeiterschaft waren die hoch qualifizierten Facharbeiter der großstädtischen Industrien die Vorläufer [268: A. ZU CASTELL RÜDENHAUSEN, Forschungsergebnisse, 167]. Am entgegengesetzten Pol standen die Beschäftigten in der Landwirtschaft und ganz allgemein die Menschen der ländlichen Regionen. Innerhalb der Arbeiterschaft nahmen die Bergarbeiter der jungen Industrieagglomeration des Ruhrgebiets, die sehr hohe Geburtenraten aufwiesen, eine Sonderstellung ein. W. KÖLLMANN [57: Bevölkerung, 244 f.] hat dies mit einem traditionellen demographischen Verhalten von Zuwanderern agrarischer Herkunft erklärt. Allerdings ist eine hohe Fertilität von Bergarbeiterfamilien bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in Europa und Nordamerika häufig beobachtet worden, und nicht nur in „jungen“ Industrierevieren. Sie wird deshalb auch mit anderen Faktoren in Zusammenhang gebracht, wie den schlechten Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen und umgekehrt den guten für männliche Jugendliche im Bergbau [276: M. HAINES, Fertility]. Für die Saarregion hat allerdings CH. GLÜCK-CHRISTMANN [121: Familienstruktur, 223] gezeigt, dass sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auch in „Bergmannsehen“ Geburten beschränkendes Verhalten ausbreitete. Übereinstimmung herrscht in der Forschung darüber, dass in der zweiten Phase des Geburtenrückgangs, nach dem Ersten Weltkrieg, die soziale Differenzierung der Fertilität stark zurückging. Es erfolgte eine Angleichung auf niedrigem Niveau. Dieser Prozess ist innerhalb einzelner sozialer Klassen wie dem Kleinbürgertum [292: R. SPREE, German Petite Bourgeoisie, 21] ebenso zu verfolgen wie zwischen den Schichten und den Stadtvierteln einer Großstadt wie Berlin [134: B. GRZYWATZ, Arbeit und Bevölkerung, 217]. Spree [Ebd.] hat dies mit der Hypothese zu erklären versucht, dass der dem Krieg folgende soziale und wirtschaftliche Wandel zur Einebnung der Unterschiede in den Mentalitäten und Verhaltensweisen beitrug. Das Bild einer sich zunächst ausweitenden und dann aber rasch zurückgehenden Differenzierung der Fertilität im Übergang zur Geburtenbeschränkung wird für Deutschland auch auf der regionalen Ebene bestätigt. Die Unterschiede der ehelichen Fruchtbarkeit zwischen den deutschen Regierungsbezirken stiegen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beträchtlich an und erreichten 1910 ihren Höhepunkt [267: A. J. COALE/S. C. WATKINS, Decline of Fertility, 42]. Nach dem Ersten Weltkrieg ging die re-
Sonderstellung der Bergarbeiter
Angleichung des Gebärverhaltens
108
Erklärungsansätze
Rationale Reaktion auf sozial-ökonomischen Wandel
Kulturen der Empfängnisverhütung
Ökonomische versus sozio-kultuelle Theorien
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
gionale Varianz der Fertilität rapide zurück, schon 1933 war sie geringer als 1871. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich dann eine – historisch betrachtet – außergewöhnlich hohe Homogenität der Fruchtbarkeit. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts versuchen zahlreiche Theorien den Geburtenrückgang zu erklären. Das zentrale Problem besteht darin, dass die Motive von Eltern bei der Entscheidung für eine bestimmte Kinderzahl in aller Regel nicht klar artikuliert wurden und auch kaum einen Niederschlag in historischen Quellen gefunden haben. Die Forschung ist daher auf Indikatoren angewiesen, die Rückschlüsse auf den Wandel des Kinderwunsches und seine gesellschaftlichen Ursachen erlauben. Die Vielfalt der einschlägigen Theorien ist nur schwer zu überblicken [262: G. ALTER, Theories]. Zwei Gruppen von Theorien können aber unterschieden werden. Zum einen handelt es sich um ökonomische Theorien, die den Menschen als rational wirtschaftenden Akteur konzipieren und den Wunsch nach Geburtenbeschränkung als rationale Reaktion auf den sozial-ökonomischen Strukturwandel interpretieren [287: R. A. POLLACK/S.C.WATKINS, Approaches, 468 f.]. Der Geburtenrückgang wird dabei mit Kosten und Nutzen von Kindern, mit dem Interesse an Sicherung oder Erhöhung des Lebensstandards, mit dem Wunsch nach sozialem Aufstieg für sich und seine Nachkommen, mit den Austauschbeziehungen und den Transfers zwischen den Generationen und ähnlichen Faktoren in Zusammenhang gebracht. Zum anderen handelt es sich um sozio-kulturelle oder im weitesten Sinn kulturgeschichtliche Theorien, die den Geburtenrückgang als Teil sich wandelnder „Kulturen der Emfängnisverhütung“ (cultures of contraception) verstehen [272: J. R. GILLIS/L. A. TILLY/D. LEVINE, European Experience, 5]. Der Wandel des Kinderwunsches und die Herausbildung einer bewussten Vorstellung über die Zahl der erwünschten Kinder wird dabei mit Einstellungen zu Sexualität, Bildern von Mütterlichkeit und Väterlichkeit, Partnerbeziehungen und ehelichen Machtverhältnissen, Familienfunktionen und ähnlichen Themen verknüpft [273: J. R. GILLIS, Gender and Fertility Decline]. Medizinischen Diskursen, Einstellungen gegenüber empfängnisverhütenden Praktiken und der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln kommt in diesen Ansätzen große Bedeutung zu [299: J. WOYKE, Birth Control, 4]. Selbstverständlich sind diese beiden Gruppen von Theorien nicht inkompatibel [287: R. A. POLLAK/S. C. WATKINS, Approaches, 489]. In der Forschungspraxis liegen sie aber doch weit auseinander. Ökonomische Theorien sind ganz überwiegend mit quantifizierenden Verfahren verbunden, die für große Bevölkerungsgruppen Hypothesen formulieren und statistisch testen.
5. Fertilität und Geburtenrückgang
109
Sozio-kulturelle Ansätze bevorzugen dagegen qualitative Quellen, die Auskunft über kollektive Mentalitäten und über individuelles Handeln geben, und narrative Darstellungsformen [298: E. VAN DE WALLE, Fertility Transition]. Ökonomische Theorien und quantitative Verfahren beziehen sich in der Regel auf den Zeitraum vom späten 19. Jahrhundert an, für den statistische Massendaten in ausreichender Menge und Qualität zur Verfügung stehen. Kulturgeschichtliche Ansätze zeigen eine Spannung zwischen epochenübergreifenden Überlegungen, die den Wandel der Mentalitäten und des Menschenbildes von der Renaissance an thematisieren [318: J.-C. CHESNAIS, Demographic transition], und mikrogeschichtlichen Forschungen, zum Teil mit Hilfe von Oral history [Beispiele in 272: J. R. GILLIS/L. A. TILLY/D. LEVINE, European Experience]. In der bisherigen Forschung zur Geschichte der Geburtenkontrolle haben sozio-ökonomische Ansätze und quantifizierende Verfahren dominiert. Ausgangspunkt für das bereits erwähnte „European Fertility Project“ der Princeton University war die Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen Geburtenrückgang, Industrialisierung und Urbanisierung. Die Ergebnisse des Projekts haben diese Annahme für Europa insgesamt aber nicht so eindeutig bestätigt, wie dies erwartet worden war. Neuere statistische Analysen für Preußen von 1875 bis 1910 [281: R. D. LEE/P. R. GALLOWAY/E. A. HAMMEL, Fertility Decline in Prussia] haben aber doch eine hohe Korrelation zwischen Geburtenrückgang und einigen Indikatoren für Modernisierung ergeben, wobei die weibliche Erwerbstätigkeit in nichttraditionellen Berufen, die Zahl der Lehrer und der im Gesundheitswesen Beschäftigten sowie die Höhe des Realeinkommens besonders ins Gewicht fielen [Ebd., 370]. Das Potential von ökonomisch-statistischen Forschungsansätzen ist – trotz einer wachsenden Skepsis ihnen gegenüber – noch nicht erschöpft. Eine lange kulturgeschichtliche Betrachtung des Geburtenrückgangs, die bis zum Humanismus und zur Reformation zurückreicht, hat in der deutschen Bevölkerungswissenschaft H. LINDE [282: Säkulare Nachwuchsbeschränkung, 213 f.] vorgeschlagen, der damit auch den Wechsel von „demostatistischen“ zu „sozio-kulturellen“ Paradigmen anstrebte [284: R. MACKENSEN, Nachwuchsbeschränkung, 317]. Sein Ansatz hat aber die historisch-demographische Forschung nicht beeinflusst. Die Durchsetzung der Geburtenbeschränkung als Massenphänomen vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre wurde dagegen in den letzten Jahren nicht nur von der Historischen Demographie und der Bevölkerungsgeschichte im engeren Sinn untersucht, sondern ist auch Gegenstand von diskurs-, kultur-, institutionen- und politikge-
Industrialisierung und Urbanisierung
Traditionen der „Nachwuchsbeschränkung“
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Techniken der Empfängnisverhütung
Abtreibungen
Geschlechtergeschichte
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
schichtlichen Forschungen geworden. Eine ganze Reihe von Studien behandelt Themen wie die Methoden zur bzw. Kenntnisse über Empfängnisverhütung, die Verfügbarkeit von technischen Hilfsmitteln und die gesetzlichen Rahmenbedingungen ihrer Verbreitung und Anwendung. J. WOYKE [299: Birth Control] misst dem Angebot bzw. dem „marketing“ von Kontrazeptiva große Bedeutung für den Geburtenrückgang zu. Seit den 1890er Jahren habe sich in Deutschland ein einschlägiger Massenmarkt herausgebildet und in den 1920er Jahren habe man bis in die kleinsten Dörfer Zugang zu modernen Verhütungsmitteln gehabt [Ebd., 164]. Lokalstudien zeigen allerdings, dass der Gebrauch solcher Verhütungsmittel erst am Ende der 1920er Jahre – also nicht vor dem Ende des „Übergangs“ – zunahm. Auch das Netz von Sexualberatungsstellen wurde erst lange nach dem Beginn des Geburtenrückgangs dichter [264: S. BAJOHR, Sexualität]. Von enormer Bedeutung war dagegen die Abtreibung, die – als illegale, gefährliche und demütigende Prozedur – in vielen Studien thematisiert wird. Die einschlägigen Zahlen sind umstritten, aber nach manchen Schätzungen lag am Beginn der 1930er Jahre die Zahl der Abtreibungen in Deutschland über der Zahl der Geburten [297: C. USBORNE, Abortion, 203]. Besonders frauengeschichtliche Studien lenken die Aufmerksamkeit auf den Alltag von Frauen, die unter schwierigen Bedingungen ihren Wunsch nach Begrenzung ihrer Familie durchsetzten [275: K. HAGEMANN, Frauensache]. Ein geschlechtergeschichtlicher Ansatz, der Kinderwunsch und Geburtenkontrolle im Kontext der sich wandelnden ehelichen Kommunikation, Kooperation und Machtverteilung erforscht [291: W. SECCOMBE, Men’s „Marital Rights“], ist dagegen in Deutschland noch nicht verbreitet. Enthaltsamkeit und Coitus interruptus, die in vielen sozialen Milieus bis in die 1920er Jahre wichtigsten Formen der Empfängnisverhütung, waren ohne Mitwirkung der Ehemänner nicht durchzuführen. Eine neue und international rasch expandierende Forschungsrichtung behandelt den Geburtenrückgang im Kontext einer Geschichte „sexueller Kulturen“ [46: F. EDER/L. HALL/G. HEKMA, Sexual Cultures]. Der gesellschaftliche und bevölkerungspolitische Diskurs über den Geburtenrückgang stellt in der Regel den Kontext zur Integration dieser vielfältigen Forschungsansätze dar [265: A. BERGMANN, Verhütete Sexualität; 270: CH. DIENEL, Kinderzahl und Staatsräson; 99: L. PINE, Nazi Family Policy]. Seit den späten 1980er Jahren ist die Geschichte der Geburtenkontrolle, vor allem für das späte Kaiserreich, die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“, von diesen im weitesten Sinn kulturgeschichtlichen Forschungen intensiver behandelt worden
5. Fertilität und Geburtenrückgang
111
als von der Bevölkerungsgeschichte im engeren Sinn. Ein ausgesprochener Mangel herrscht allerdings für diese Periode an mikrogeschichtlichen Lokalstudien, in denen Diskurse und Institutionen mit der Praxis einzelner Frauen und Männer verknüpft werden. Beispielhafte Arbeiten, die auf Oral-history beruhen, behandeln großstädtische Arbeitermilieus in Braunschweig [264: S. BAJOHR, Sexualität] und Hannover [315: H. ROSENBAUM, Proletarische Familien]. Der Wandel der Fertilität vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart wurde nicht von Bevölkerungshistorikern oder Historischen Demographen untersucht, sondern von Sozialwissenschaftlern. Diese haben sich seit den 1970er Jahren auf den so genannten „neuen Geburtenrückgang“ [283: R. MACKENSEN, Das generative Verhalten, 85] konzentriert, während der vorhergegangene „Baby-boom“ der 1950er Jahre bisher kaum auf das Interesse der Forschung stieß. Kontext und konzeptioneller Rahmen der Forschungen zum „neuen Geburtenrückgang“ waren die Erwartung bzw. Befürchtung eines Bevölkerungsrückgangs in der Bundesrepublik [114: H. BIRG/H. KOCH, Bevölkerungsrückgang]. Übereinstimmung herrscht darüber, dass die von den 1960er Jahren an Verbreitung findenden oralen Kontrazeptiva, umgangssprachlich als „Pille“ bezeichnet, nicht die Ursache des neuen Fertilitätsrückgangs bildeten, aber doch zu einem neuen Standard der Familienplanung beitrugen. Die „Pille“ stellte erstmals ein absolut sicheres Verhütungsmittel dar, dessen Anwendung in der Macht der Frauen lag. Damit bewirkte sie, „dass Kinder zu haben eine von Zufälligkeiten oder schicksalhaften Ereignissen unabhängige ebenso frei wählbare Option der individuellen Lebensplanung und Lebensführung darstellt wie andere“ [294: K.-P. STROHMEIER, Geburtenrückgang, 75]. Besonderes Interesse fand in der Forschung die Zunahme der „Kinderlosen“, die über die Geburtenbeschränkung hinaus auf Nachkommen überhaupt verzichten, und der Anstieg des Alters bei der ersten Geburt [114: H. BIRG/ H. KOCH, Bevölkerungsrückgang, 57 ff.]. In den 1990er Jahren rückte die „Fertilitätskrise in Ostdeutschland“ [288: R. SACKMANN, Fertilitätskrise] in den Mittelpunkt der demographischen Aufmerksamkeit. Die Transformation der kommunistischen Herrschaftssysteme in marktwirtschaftliche Gesellschaften führte in ganz Osteuropa zu einem schockartigen Abfall der Geburtenraten, der aber in der ehemaligen DDR am spektakulärsten ausfiel [263: A. AVDEEV, Fertility Trends, 5604]. Die Fruchtbarkeitsrate sank hier von 1,6 (1987) auf 0,8 (1994) und erreichte damit den weltweit niedrigsten Stand [288: R. SACKMANN, Fertilitätskrise, 187 f.]. Dieses Phänomen hat auch das Interesse am Vergleich der Fertilitätsentwicklung
Sexualität in Arbeitermilieus
Neuerlicher Geburtenrückgang
Einfluss der „Pille“
Fertilitätskrise in Ostdeutschland
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Gebärverhalten in der DDR
Einfluss der Familienpolitik
Optimistische und pessimistische Erklärungen
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
in der alten Bundesrepublik und in der DDR erhöht. Bis zum Anfang der 1970er Jahre entwickelten sich die Geburtenraten in der BRD und in der DDR trotz aller gesellschaftlichen Unterschiede erstaunlich parallel. Von da an lag die Geburtenrate in der DDR bis zum Anfang der 1990er Jahre deutlich höher [269: CH. CONRAD/M. LECHNER/W. WERNER, East German Fertility]. In den beiden deutschen Staaten entstanden unterschiedliche Muster der Fertilität. Während sich in Westdeutschland polarisierte Lebensstile zwischen kinderlosen Paaren bzw. Frauen auf der einen Seite und familienorientierten Paaren mit meist zwei Kindern auf der anderen Seite herausbildeten, waren in Ostdeutschland dauerhaft kinderlose Paare bzw. Frauen wesentlich seltener. Zum anderen bekamen die Frauen der DDR ihr erstes Kind wesentlich früher als die Frauen der Bundesrepublik. Bei Frauen mit höherer Bildung wird dieser Unterschied noch deutlicher sichtbar. Mutterschaft und Heirat fielen in der DDR in der Regel in die Zeit des Studiums und wurden nicht, wie im Westen, bis zum Ende der Ausbildung oder bis zur Etablierung im Beruf aufgeschoben [111: J. HUININK, Familienentwicklung]. Zur Erklärung des spezifischen Fertilitätsmusters der DDR wird in der Regel auf das Zusammenspiel von staatlichen Angeboten und Zwängen verwiesen: auf der einen Seite die voraussehbare Sicherheit von Arbeit und Einkommen, auf der anderen Seite die Beschränkung des Wohnungszugangs auf Familien. „Marriage and family formation were the most important steps for young people leading to independent lives away from parental households“ [269: CH. CONRAD/M. LECHNER/W. WERNER, East German Fertility, 336]. Ungeklärt ist allerdings der Einfluss der pronatalistischen Familien- und Bevölkerungspolitik, die in der DDR vom Beginn der Ära Honecker an betrieben wurde. Nach Ansicht der zeitgenössischen ostdeutschen Demographen ermöglichte es diese Politik den Familien und Frauen, vorhandene Kinderwünsche auch tatsächlich zu erfüllen [112: W. SPEIGNER/G. WINKLER, Pronatalistische Sozialpolitik, 213 ff.]. J. CROMM [51: Familienbildung, 541] hat demgegenüber argumentiert, dass eine „klare Aussage über die langfristigen Möglichkeiten von Bevölkerungspolitik im Hinblick auf die Kinderzahl“ auch für die DDR nicht getroffen werden könne. Auch die Erklärung des dramatischen Geburtenrückgangs mit der „Wende“ ist umstritten. Eine – pessimistische – Richtung sieht ihn als Ausdruck der Pathologien des Transformationsprozesses, ein optimistischer Ansatz als Anpassung an die gestiegenen biographischen Wahlmöglichkeiten und an die westliche Konsumgesellschaft [269: CH. CONRAD/M. LECHNER/W. WERNER, East German Fertility, 341]. Eine weiter reichende Theorie zur Erklärung des aktuellen Geburten-
6. Heiratsverhalten und Unehelichkeit
113
rückgangs in West- und Ostdeutschland entwickelte der Bielefelder Demograph H. BIRG [114: DERS./H. KOCH, Bevölkerungsrückgang, 42– 52]. Birg geht in seiner „biographischen Theorie der Fertilität“ davon aus, dass sich das Leben jedes Menschen in einem „Möglichkeitsraum der biographischen Entwicklung“ vollziehe. Der Modernisierungsprozess führe zu einer ständigen Erweiterung dieses „Möglichkeitsraums“, zu einer „Expansion des biographischen Universums“ [266: H. BIRG, Reproduktion, 202 f.]. Entscheidungen für eine dauerhafte Partnerbindung und für die Geburt eines Kindes schränken dagegen den biographischen Möglichkeitsraum langfristig ein. Je weiter und offener der Möglichkeitsraum, so Birg, desto gravierender auch die Einschränkungen, die familiale Bindungen mit sich bringen können, und desto häufiger der Entschluss zur Kinderlosigkeit.
Birgs biographische Theorie der Fertilität
6. Heiratsverhalten und Unehelichkeit Uneheliche Geburten kamen im Europa der Frühen Neuzeit nicht allzu häufig vor. In Deutschland schwankte ihr Anteil vor 1780 zwischen zwei und vier Prozent, wenn auch in einzelnen ostalpinen Regionen zeitweilig Raten von über 20 Prozent erreicht wurden [131: P. BECKER, Leben, 237; 47: M. FLINN, European Demographic System, 82]. Aus diesen niedrigen Werten kann man allerdings nicht auf das Fehlen von vorehelichen sexuellen Beziehungen schließen. Der Anteil der unehelichen Erstgeburten lag überall beträchtlich höher und erreichte in vielen deutschen Dörfern zwischen 13 und 19 Prozent. Noch höhere Werte ergeben Berechnungen der vor- oder außerehelichen Empfängnisse. In den von J. KNODEL [68: Demographic Behavior, 221] untersuchten Dörfern wurden im 18. Jahrhundert rund 30 Prozent aller Erstgeburten vor der Ehe gezeugt. Die niedrigen Illegitimitätsquoten der Frühen Neuzeit belegen also nicht ein Monopol der Ehe auf Sexualität und Fortpflanzung, wie das Modell einer „agrarischen Bevölkerungsweise“ [32: G. MACKENROTH, Grundzüge, 35] suggeriert. Sie verweisen vielmehr auf die wichtige Rolle sexueller Beziehungen für die Anbahnung der Ehe [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben, 365; 305: J. EHMER, Marriage, 316]. Eine voreheliche Schwangerschaft führte in den meisten Fällen schon vor der Geburt, in weniger Fällen auch nach der Geburt, zur Heirat [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 221; 307: A. KRAUS, Antizipierter Ehesegen]. Das 19. Jahrhundert zeigt überall in West- und Mitteleuropa einen
Voreheliche Empfängnisse
Sexuelle Beziehungen als Eheanbahnung
114
Anstieg der Unehelichkeit
Regionale Unterschiede
Rückgang der Unehelichkeit
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
starken Anstieg der Unehelichkeit. In den verfügbaren deutschen Dorfstudien kommt dies in allen Parametern zum Ausdruck. Der Anteil der unehelichen Geburten an allen Geburten stieg in manchen Dörfern auf über 25 Prozent und an den Erstgeburten auf über 40 Prozent. In J. KNODELs Sample [68:, Demographic Behavior, 221] wurde zwischen 1800 und 1899 knapp mehr als die Hälfte aller Erstgeburten vor oder außerhalb der Ehe gezeugt. Dasselbe war zeitweise im württembergischen Kiebingen der Fall, und auch im hessischen Heuchelheim kam es in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts zu einer markanten Zunahme der vorehelichen Konzeptionen [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben, 380; 136: A. E. IMHOF, Ländliche Familienstrukturen, 226]. Der Anstieg der Illegitimität verlief aber regional sehr unterschiedlich. In manchen norddeutschen Dörfern blieb die Unehelichenquote auch im ganzen 19. Jahrhundert unter drei Prozent, während sie in Mittel- und Süddeutschland auf ein Vielfaches anstieg [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 196]. Auf regionaler Ebene lag Bayern mit Werten über 20 Prozent (1826–1870) [51: J. CROMM, Familienbildung, 60] am höchsten, gefolgt von Sachsen, Schlesien, Hannover und Thüringen [313: M. MITTERAUER, Ledige Mütter, 26]. In vielen mittleren und größeren Städten stiegen die Illegitimitätsraten zur Mitte des Jahrhunderts auf über 50 Prozent [51: J. CROMM, Familienbildung, 66]. Dabei ist aber der Einfluss von Gebär- und Findelhäusern zu bedenken, die überall in Europa im 19. Jahrhundert stark ausgebaut wurden und ledige Mütter aus einem großen Einzugsbereich aufnahmen [303: J. EHMER, Familienstruktur, 96 f.]. In sozialer Hinsicht war Unehelichkeit überwiegend ein Problem der ärmeren Schichten [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben, 390]. Der Anstieg der Unehelichkeit verlief auch in unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen. Viele Dörfer und Regionen zeigen schon im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts hohe Werte [120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte, 157; 130: R. K. ADLER, Demographie, 125]. In den meisten Gebieten erreichte die Unehelichkeit aber in den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts ihren Höchststand [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 196, 221; 138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben, 367]. Etwa ab 1870 begann die Trendwende zu einem langfristigen Rückgang der Illegitimität, der nun auch in den gesamtdeutschen Daten der amtlichen Statistik fassbar wird. In der Periode des Kaiserreichs lag der Anteil der unehelichen Geburten unter zehn Prozent [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 172; 56: M. HUBERT, Deutschland, 341]. Die Diskussion um die Erklärung des Anstiegs der Unehelichkeit
6. Heiratsverhalten und Unehelichkeit
115
im 19. Jahrhundert wurde lange Zeit von den Thesen des amerikanischen Historikers E. SHORTER geprägt, der sie als Ausdruck einer „sexuellen Revolution“ [316: Geburt, 99 ff.; 131: P. BECKER, Leben, 301 ff.] interpretierte. Die Verbreitung der romantischen Liebe im späten 18. und 19. Jahrhundert habe die Eheschließung aus ihren bisherigen sozialen und ökonomischen Bindungen heraus gelöst. Ähnlich sah R. W. LEE [308: Bastardy] am Beispiel des ländlichen Bayern die Zunahme der Illegitimität als Ausdruck ihrer geringeren Stigmatisierung und zugleich eines höheren Handlungsspielraums der jungen Menschen infolge gestiegener Löhne. Diese optimistischen Erklärungsansätze sind überwiegend auf Skepsis gestoßen [53: A. GESTRICH, Familie, 31, 80 ff.]. Ihnen stehen die schlechteren Lebensbedingungen unehelich geborener Kinder gegenüber, die sowohl in einer deutlich höheren Säuglingssterblichkeit als auch in einem schlechteren Ernährungszustand zum Ausdruck kamen [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 167; 301: J. BATEN/J. E. MURRAY, Bastardy]. Eine alternative Erklärung bieten L. TILLY, J. SCOTT und M. COHEN [295: Women’s Work]. Ihrer Meinung nach habe sich im Prozess von Industrialisierung, Proletarisierung und Urbanisierung die traditionelle Bedeutung vorehelicher sexueller Beziehungen verändert. Ledige Frauen hätten im Fall einer vorehelichen Schwangerschaft nicht mehr wie bisher darauf vertrauen können, geheiratet zu werden. Die neuen ökonomischen Möglichkeiten und Zwänge hätten das traditionelle System der Eheanbahnung erschüttert. Das Sexualverhalten sei durchaus gleich geblieben, aber die veränderten Bedingungen hätten zu einem Anstieg der Unehelichkeit geführt. Diese beiden Erklärungsansätze sind nicht unvereinbar. J. KNODELs Dorfstudien [68: Demographic Behavior, 221] zeigen im 19. Jahrhundert einen starken Anstieg der vorehelichen Empfängnisse, was auf eine Verhaltensänderung hinweist. Zugleich zeigen sie einen deutlichen Rückgang der Heiraten nach einer Schwängerung, was als Erschütterung eines traditionellen Regelsystems interpretiert werden kann. All dies spielte sich aber in kleinen Dörfern ab. Das Erklärungsmodell von Tilly, Scott und Cohen ist durchaus plausibel, wenn auch Konzepte wie Industrialisierung und Proletarisierung nur mit höchster Vorsicht zu benützen sind. In großstädtischen Arbeitermilieus ist auch eine zunehmende Akzeptanz des Zusammenlebens von unverheirateten Paaren nicht auszuschließen – nicht als dauernde Alternative zur Heirat, aber doch für einen längeren Zeitraum. In der deutschen Forschung wird der Anstieg der Unehelichkeit in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts häufig mit einer Ver-
These der sexuellen Revolution
Alternative Erklärungen
Bedeutungswandel vorehelicher sexueller Beziehungen
Rückgang der Heiratsbereitschaft
116
Unehelichkeit und Heiratsalter
Differenzierung des Heiratsverhaltens
Heiratsmuster in der Arbeiterschaft
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
schlechterung der Heiratschancen, vor allem in den Unterschichten, in Zusammenhang gebracht [60: P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, 37 f.; 54: T. W. GUINNANE, Population and Economy, 13]. Auf den ersten Blick zeichnen sich tatsächlich Parallelen ab. Das Heiratsalter stieg in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an und erreichte etwa in der Periode zwischen 1830 und 1870 seinen Höchststand [304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 16 f., 292 f.]. Gesetzliche Heiratsbeschränkungen, die in mehreren – vor allem süddeutschen – Staaten von den 1820er Jahren an die Eheschließung von Männern und Frauen der unteren Schichten behindern sollten, wurden zwischen 1850 und 1860 am restriktivsten gehandhabt [312: K.-J. MATZ, Pauperismus, 181]. Ein genauerer Blick auf die lokalen und regionalen Variationen des Heiratsverhaltens stellt aber diesen so plausibel erscheinenden Zusammenhang doch in Frage [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben, 368]. „Die einfache Rechnung (. . .), dass hohes Heiratsalter und Häufigkeit vorehelicher Geburten in einem direkten Zusammenhang standen, geht offensichtlich nicht auf.“ [290: H. SCHOMERUS, Sozialer Wandel, 179] Auch Heiratsalter und Ledigenanteile wiesen im 19. Jahrhundert eine große Bandbreite auf [306: J. KNODEL/M. J. MAYNES, Marriage Patterns]. Die Annahme eines einheitlichen „European Marriage Pattern“ wurde angesichts der immer differenzierteren empirischen Forschung in Frage gestellt [305: J. EHMER, Marriage, 301 ff.]. In Deutschland war das Heiratsverhalten nicht nur regional, sondern auch sozial stark differenziert. Verhältnisse, die dem Bild des „European Marriage Pattern“ entsprechen, finden sich im 19. Jahrhundert in den traditionellen Produktionsweisen des bäuerlichen Familienbetriebs, sowohl bei Realteilung als auch bei Anerbenrecht, und in der handwerklichen „kleinen Warenproduktion“. Die Arbeiterschaft war bis zum Ersten Weltkrieg von einer polarisierten Struktur geprägt. Hohe Verehelichtenquoten finden sich im Bereich „moderner“ Lohnarbeit in der Schwerindustrie, im Maschinenbau, bei Eisenbahn- und Postbediensteten und ähnlichen Gruppen. Die zahlenmäßig große Gruppe der Arbeiter im Kleingewerbe war dagegen überwiegend ledig, wie dies der handwerklichen Tradition entsprach. Nur in den größeren Städten wurde diese polarisierte Struktur von fließenden Übergängen ersetzt [304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 210 ff.]. Die Eheschließung war auch noch zur Jahrhundertwende für unselbständig Beschäftigte keineswegs selbstverständlich. Dementsprechend zeigt auch das Verhältnis von Heiratsalter, Ledigenquoten und hoher Unehelichkeit ganz unterschiedliche Muster
6. Heiratsverhalten und Unehelichkeit
117
[313: M. MITTERAUER, Ledige Mütter, 25; 304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 104 f.]. In Bayern stimmen in der Tat hohes Heiratsalter, hohe Quoten zeitlebens Lediger und eine hohe Unehelichkeit überein. Im Westen Deutschlands, vom Oberrhein bis in die preußische Rheinprovinz, waren Heiratsalter und Ledigenquoten kaum niedriger als in Bayern, die Unehelichenquoten dagegen sehr gering [51: J. CROMM, Familienbildung, 60]. Das Königreich Sachsen gehörte umgekehrt zu den Regionen mit den niedrigsten Ledigenquoten Deutschlands und zeigt doch eine relativ hohe Illegitimität. Auch die Annahme einer direkten Auswirkung von staatlichen Ehebeschränkungen auf den Anstieg der Unehelichkeit wurde stark relativiert [68: J. KNODEL, Demographic Behavior, 195 ff.; 144: S. SCHRAUT, Sozialer Wandel, 136 f.; vgl. auch Kapitel II.2.1]. Zielführender als die Konstruktion linearer Zusammenhänge zwischen Heiratsverhalten und Illegitimität scheint es zu sein, beide Phänomene im Kontext regionsspezifischer sozial-ökonomischer Strukturen und kultureller Traditionen zu analysieren. Die beste Diskussion dazu bieten W. KASCHUBA und C. LIPP [138: Dörfliches Überleben, 363–448]. Für Bayern ist sicherlich die Kombination von bäuerlichem Familienbetrieb und Gesindedienst relevant, die im gesamten Ostalpenraum für geringe Verehelichtenquoten und hohe Illegitimität verantwortlich war [313: M. MITTERAUER, Ledige Mütter, 23 ff.; 67 ff.]. Die Realteilungsgebiete im Westen Deutschlands zeigen dagegen einen ebenfalls in Europa öfter anzutreffenden Zusammenhang von kleinbäuerlichem Familienbetrieb ohne Knechte und Mägde, sehr hohem Heiratsalter und sehr niedriger Unehelichkeit [304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 135]. Der Rückgang der Unehelichkeit vom späten 19. Jahrhundert an hat das Interesse der Forschung in wesentlich geringerem Maß auf sich gezogen als der vorhergehende Anstieg. Sicherlich hängt er mit der Stabilisierung der Lebenslage der unteren Schichten und mit der Ausbreitung des bürgerlichen Familienmodells zusammen. Wie S. BAJOHR am Braunschweiger Beispiel zeigt, blieben voreheliche Sexualbeziehungen in der Arbeiterschaft durchaus die Regel, aber „kinderreiche Familien und nichteheliche Mütter wurden abschätziger bewertet als früher“ [264: Sexualität, 152]. Die Abnahme der unehelichen Geburten wurde allerdings immer wieder von Krisen unterbrochen. Sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene zeichnen sich Wiederanstiege der Illegitimität in den beiden Kriegs- und Nachkriegsperioden und in den Jahren der Wirtschaftskrise 1930–1934 ab [138: W. KASCHUBA/C. LIPP, Dörfliches Überleben, 367]. Die im Kaiserreich starke rechtliche Diskriminierung von ledigen Müttern und ihren Kindern wurde in der Wei-
Varianten im Verhältnis von Heiratsverhalten und Illegitimität
Zwei Formen bäuerlicher Familienbetriebe
Langfristiger Rückgang der Unehelichkeit
118
Tiefststand der Unehelichkeit
Neue Unehelichkeit und Bedeutungswandel der Ehe
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
marer Republik gemildert, im „Dritten Reich“ „rassenpolitisch“ umdefiniert [309: G. LILIENTHAL, Illegitimacy question]. Erst in den 1960er Jahren, unter den Bedingungen des Wirtschaftswunders und einer hohen Wertschätzung des bürgerlichen Familienmodells, ist Unehelichkeit fast völlig verschwunden. Auch die modernen Empfängnisverhütungsmittel trugen zu diesem seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr beobachteten Tiefststand der Illegitimität bei [63: K. SCHWARZ, Rückblick, 244]. Dies blieb allerdings eine kurze Episode. In den 1970er Jahren setzte in ganz Westeuropa ein neuerlicher Anstieg der Unehelichkeit ein, der sich in den 1990er Jahren dramatisch beschleunigte. Gegenwärtig wird in ganz Deutschland rund ein Viertel aller Kinder von unverheirateten Müttern geboren, in den neuen Ländern mehr als 40 Prozent. Demographen sehen dies als Ausdruck einer „Ehemüdigkeit“, die auch in der Zunahme von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und nicht wieder heiratenden Geschiedenen zum Ausdruck kommt [63: K. SCHWARZ, Rückblick, 244 f.]. Die Institution der Ehe verliert ihren Stellenwert nicht nur für das Zusammenleben von Frauen und Männern, sondern auch für das Aufziehen von Kindern. Unehelichkeit erhält damit eine völlig neue und von den Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts grundlegend verschiedene Bedeutung.
7. Die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: ein „demographischer Übergang“? Die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist von grundlegenden Veränderungen und von einer starken Dynamik geprägt. Der demographische Wandel vollzog sich aber auf vielfältige und unterschiedliche Weise. Manche Trends verliefen kontinuierlich und nahezu linear, andere sprunghaft und unregelmäßig. Manche Entwicklungen scheinen am Beginn des 21. Jahrhunderts ihr Ende erreicht zu haben, wie der Rückgang der Säuglingssterblichkeit, andere setzen sich weiter fort, wie der Anstieg der Lebenserwartung im höheren Alter. Einiges erscheint als „großer Zyklus“, wie die Zu- und Abnahme der Binnenmigration oder die regionale und soziale Differenzierung des demographischen Verhaltens, die im 19. Jahrhundert anstieg und im 20. von einer zunehmenden Homogenisierung abgelöst wurde. Andere Trends stellen sich eher als eine Reihe von Zyklen dar, wie die Entwicklung der Fertilität oder der Unehelichkeit. Die Scheitel- und Wen-
7. Die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
119
depunkte der einzelnen demographischen Kurven fallen mitunter zusammen, häufig gehören sie aber ganz unterschiedlichen Perioden und gesellschaftlichen Kontexten an. Der demographische Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt also ein facettenreiches Profil. Gibt es die Möglichkeit, die Vielfalt der Verlaufsformen in einer einzigen Theorie zu erfassen? Die Antwort auf diese Frage ist eng mit dem Begriff der „demographischen Transition“ – oder, wie es im Deutschen häufig heißt, des „demographischen Übergangs“ – verbunden. Dieser Begriff hat für die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zentrale, wenn auch zunehmend umstrittene Bedeutung. Der Begriff wird auf unterschiedliche Weise benützt. Zum einen dient er in eher umgangsprachlicher Verwendung zur Bezeichnung des langfristigen Rückgangs der Mortalität und der Fertilität. Zum anderen repräsentiert er aber auch ein elaboriertes sozialwissenschaftliches „Modell“, eine der wenigen allgemeinen demographischen Theorien [318: J.-C. CHESNAIS, Demographic Transition, 1] und für viele Demographen sogar das „bedeutendste und allgemeinste Stück der Bevölkerungstheorie“ [325: R. MACKENSEN, Theoretische Erwägungen, 76]. Die „Theorie der demographischen Transition“ versucht, den säkularen Rückgang von Fertilität und Mortalität sowohl miteinander als auch mit dem im 18. Jahrhundert einsetzenden globalen Bevölkerungswachstum zu verknüpfen und als Teil eines ebenfalls globalen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zu beschreiben und zu erklären. Sie verbindet damit Aussagen über vergangene, gegenwärtige und zukünftige demographische Entwicklungen. „German population history of the last two centuries is the history of important changes in reproductive behaviour, which are comprised within the concept of demographic transition, of the transition from an ancient demographic regime to a modern system of population and society.“ [327: P. MARSCHALCK, Age of Demographic Transition, 15] Die „Theorie der demographischen Transition“ ist allerdings kein homogenes und geschlossenes Gedankengebäude, sondern ein Korpus von Ideen, die seit den 1920er Jahren von einer Reihe französischer, britischer und amerikanischer Autoren entwickelte wurden [318: J.-C. CHESNAIS, Demographic Transition, 1–9; 326: R. MACKENSEN, Theoretische Notizen, 5 ff.]. Es handelt sich um „a set of generalizations about the decline in mortality and fertility that typically accompanies the modernization of a society“ [267: A. J. COALE/S. C. WATKINS, Decline of Fertility, xix]. Der Begriff selbst wurde 1945 am führenden demographischen Forschungsinstitut der USA geprägt, dem „Office of Population Research“ an der Princeton University, und hier erfolgten auch die
Demographischer Übergang als Leitbegriff?
Theorie der Transition
120
Drei Phasen-Modell
Vormoderne Balance
Phase des Übergangs
Moderne Balance
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
wesentlichen Schritte zur Ausformulierung als allgemeine Theorie [329: F. W. NOTESTEIN, Population, 41; 319: K. DAVIS, World demographic transition]. Ihre Grundzüge lassen sich mit wenigen Sätzen beschreiben. Nach der „Theorie der demographischen Transition“ verlief die globale Bevölkerungsentwicklung in drei Phasen. Die erste Phase verkörpert eine Art „demographischen Naturzustands“ [331: T. SOKOLL, Der Übergang, 90] bis zum Beginn der Transition. Die harten Lebensumstände in diesem längsten Teil der Menschheitsgeschichte hätten in einer hohen Mortalität ihren Ausdruck gefunden, die wiederum – schon um der bloßen Bestandserhaltung willen – eine ebenso hohe Fertilität erfordert habe. „Any society having to face the heavy mortality characteristic of the premodern era must have high fertility to survive“ [329: F. W. NOTESTEIN, Population, 39]. Mortalität und Fertilität hätten sich demnach auf einem hohen Niveau in einem annähernden Gleichgewicht befunden, was zur Stagnation bzw. einem nur sehr langsamen Wachstum der Bevölkerung führte. Die „demographische Transition“ wird als zweite Phase gesehen. Der gesamte Modernisierungsprozess, vor allem aber die Innovationen in der Landwirtschaft, die Industrialisierung und die Fortschritte im Bereich von Hygiene und Medizin hätten einen langfristigen Rückgang der Sterblichkeit eingeleitet. Die Fertilität reagiere dagegen langsamer auf den Modernisierungsprozess. Sie sei eingebettet in religiöse Doktrinen, Moralvorstellungen, Bräuche, Familienformen usw., die allesamt auf eine hohe Fruchtbarkeit zielten. Deshalb bleibe die Furchtbarkeit trotz sinkender Sterblichkeit hoch, was zu einem raschen und starken Bevölkerungswachstum führe. Erst allmählich setze ein Rückgang der Geburtenraten ein. Unter dem Einfluss urbaner und industrieller Lebensformen und im Zusammenhang mit der Zunahme des Individualismus hätten sich die Menschen von „älteren Tabus“ [Ebd., 41] befreit und neue Vorstellungen in Bezug auf Familiengröße und Kinderzahl entwickelt. Dieser radikale Wandel führe zu einer rationalen Geburtenkontrolle mittels empfängnisverhütender Praktiken. Das Ergebnis sei eine Anpassung der Fertilität an die niedrigen Sterberaten der modernen Gesellschaft und damit auch das Ende des schnellen Bevölkerungswachstums in der Phase der Transition. Die „neue demographische Balance“ [319: K. DAVIS, World Demographic Transition, 5] stellt in der „Theorie der demographischen Transition“ die dritte Phase der Bevölkerungsentwicklung dar. In Europa, Nordamerika und in den überseeischen Ausläufern der westlichen Welt sei diese Phase, so F. W. NOTESTEIN 1945 [329:, Population, 40 f.], bereits zur Realität geworden. Sie könne auch in den noch nicht industrialisier-
7. Die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
121
ten Teilen der Welt erreicht werden, wenn es in ihnen zu einer tief greifenden Modernisierung nach westlichem Muster komme, insbesondere zu Industrialisierung, Urbanisierung, Erhöhung des Lebensstandards, öffentlichen Erziehungssystemen und politischer Partizipation [Ebd., 52]. Der Kern der Theorie lässt sich in zwei Aussagen zusammenfassen [318: J.-C. CHESNAIS, Demographic Transition, 2 f.]. Zum Ersten postuliert sie eine Abfolge von drei Phasen, die jede menschliche Bevölkerung auf dem Weg in die Moderne zu durchlaufen habe: von einem stabilen Gleichgewicht von Mortalität und Fertilität auf hohem Niveau über eine Phase der Destabilisierung und des Bevölkerungswachstums zu einem neuerlichen stabilen Gleichgewicht von Mortalität und Fertilität auf niedrigem Niveau. Zum Zweiten postuliert sie für die zweite, transitorische Phase eine bestimmte chronologische Sequenz: Der Rückgang der Sterblichkeit habe zuerst eingesetzt und der Rückgang der Fruchtbarkeit sei erst mit zeitlicher Verzögerung gefolgt. Wie F. W. NOTESTEIN [329: Population, 39] – nicht ohne Selbstironie – feststellte, sind „the essentials of the story simple enough“. Vermutlich beruhten gerade auf dieser einfachen Struktur die Attraktivität und der anhaltende Erfolg der „Theorie der demographischen Transition“. Sie hat auch die Konstruktion ähnlicher langfristiger Entwicklungsmodelle für andere Teilbereiche der Demographie angeregt. Der englische Historiker P. LASLETT, einer der Pioniere der historischen Altersforschung, prägte den Begriff der „säkularen Verwerfung“ des Alters [324: Significance, 381]. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert lagen Lebenserwartung und Altenanteil auf einem niedrigen Niveau; im 20. Jahrhundert stieg beides steil an; im 21. Jahrhundert sei eine neuerliche Stabilisierung der Lebenserwartung und des Anteils der älteren Menschen zu erwarten. In die deutsche Demographie und Bevölkerungsgeschichte fand die „Theorie der demographischen Transition“ erst relativ spät Eingang und stieß von Anfang an auf keine ungeteilte Zustimmung [325: R. MACKENSEN, Theoretische Erwägungen]. Zeitlich übergreifende bevölkerungsgeschichtliche Arbeiten der 1950er und 1960er Jahre, wie z. B. jene KÖLLMANNs [48: Bevölkerung und Raum], kamen noch ohne sie aus. Allerdings sind Analogien zu der damals in Deutschland einflussreichen Bevölkerungslehre von G. MACKENROTH [31: Bevölkerungslehre] unübersehbar. Ähnlich wie der „Theorie der demographischen Transition“ liegt auch Mackenroths Bevölkerungslehre ein Drei-Phasen-Modell zugrunde. Er spricht von einer „vorindustriellen“ oder „agrarischen Bevölkerungsweise“ bzw. „generativen Struktur“ mit ho-
Kern der Theorie
Säkulare Verwerfung des Alters
Transition bei Mackenroth
122
Vormoderne Balance in deutschen Bevölkerungslehren
Modernisierungstheorie versus Kulturpessimismus
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
her Mortalität und Fertilität und geringem Bevölkerungswachstum, von einer „Bevölkerungswelle des 19. Jahrhunderts“ und schließlich von der Etablierung einer neuen „Bevölkerungsweise“ bzw. „generativen Struktur des Industriesystems“ mit niedriger Mortalität und Fertilität [32: G. MACKENROTH, Grundzüge, 34, 36 f.]. Auch für Mackenroth ist also die Bevölkerungsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte durch den „Übergang von einer generativen Struktur auf eine andere“ [Ebd., 30] charakterisiert. Neben diesen Analogien bestehen aber auch grundlegende Unterschiede zwischen der Tradition des deutschen bevölkerungstheoretischen Denkens und der „Theorie der demographischen Transition“, zumindest in ihrer ursprünglichen Formulierung. Sie liegen zum Ersten im Verständnis der „vorindustriellen Bevölkerungsweise“. Für Mackenroth bestand ihr wesentliches Merkmal nicht schlechthin in einer hohen Fertilität, sondern gerade in der Niedrighaltung und Kontrolle der Fruchtbarkeit mittels Heiratsbeschränkungen, worin er eine „Abstimmung“ auf einen prinzipiell begrenzten „Nahrungsspielraum“ zu erkennen glaubte [Ebd.]. Mit dieser Auffassung stand Mackenroth in einer spezifisch deutschen Tradition demographischen Denkens, die von Süßmilch im 18. Jahrhundert bis zu Ipsen in den 1930er Jahren reichte, von Köllmann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter geführt und auch außerhalb Deutschlands aufgegriffen wurde [zur Kritik vgl. 304: J. EHMER, Heiratsverhalten, 34–44]. Ein zweiter Unterschied liegt in der Erklärung des Bevölkerungswachstums am Beginn des „demographischen Übergangs“. Für Ipsen und in seiner Nachfolge für W. CONZE [64: ‚Pöbel‘] und andere mit Bevölkerungsthemen befasste Vertreter der frühen deutschen Sozialgeschichte beruhte das Bevölkerungswachstum in dieser Periode vor allem auf einem Anstieg der Fruchtbarkeit der unteren Schichten durch den Zusammenbruch des Kontrollsystems der „agrarischen Bevölkerung“(vgl. dazu Kapitel II.2.1). Das Bevölkerungswachstum des 19. Jahrhunderts setzte in dieser Sichtweise also vor dem Rückgang der Mortalität ein [327: P. MARSCHALCK, Age of Demographic Transition, 19 f.]. Als letzten Unterschied könnte man anführen, dass die uneingeschränkt positive Bewertung der westlichen Modernisierung bei den amerikanischen Begründern der „Theorie der demographischen Transition“ in Deutschland bis in die 1970er Jahre in Konkurrenz zu einer kulturpessimistischen Denktradition stand, die mit dem Ende „Alteuropas“ in der „Sattelzeit“ um 1800 eine lange „Krise der Neuzeit“ beginnen sah. Das Modell des „Übergangs“, begrifflich gefasst als „Bevölkerungswelle“, fand zunächst im Mackenrothschen Sinn Eingang in die
7. Die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
123
deutsche Bevölkerungsgeschichte [48: W. KÖLLMANN, Bevölkerung und Raum, 1–5]. Von den 1970er Jahren an wurde dann in Anlehnung an die international vorherrschende Terminologie der Begriff des „demographischen Übergangs“ zu einem Leitbegriff auch der deutschen Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, der in alle gängigen Lehr- und Handbücher Eingang fand. Widersprüche zwischen der „Theorie der demographischen Transition“ und der deutschen Tradition bevölkerungsgeschichtlichen Denkens bestanden durchaus weiter, wurden aber nicht explizit thematisiert. Eine uneingeschränkte Übernahme der „Theorie der demographischen Transition“ hat von den 1970er Jahren an vor allem die von A. E. IMHOF [24: Einführung, 60 ff.] vertretene Historische Demographie geprägt. In den 1980er Jahren bemühten sich auch die Demographen der DDR um die Ausarbeitung einer „marxistischen Theorie der demographischen Transition“ [322: P. KHALATBARI, Demographische Transition; 328: H. MICHEL, Theorie, 269]. Seit ihrer Entstehung wurde die „Theorie des demographischen Übergangs“ immer wieder modifiziert und kritisiert [326: R. MACKENSEN, Theoretische Notizen]. Eine Modifikation bestand in einer differenzierten Gliederung des Phasenablaufs der Transition in fünf oder mehr Phasen [137: A. E. IMHOF, Berlin; 17: J. CROMM, Bevölkerung, 169 ff.; 330: K. SCHWARZ, Kritische Bemerkungen, 19 ff.]. Eine systematische Kritik durch Bevölkerungshistoriker und Historische Demographen erfolgte aber erst seit den 1980er Jahren. In Deutschland zog 1997 der „Arbeitskreis Historische Demographie“ der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft eine „kritische Bilanz“ des „Modells des demographischen Übergangs“, die in Schwerpunktheften der „Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft“ [326: R. MACKENSEN, Theoretische Notizen] und der „Beiträge zur Historischen Sozialkunde“ [331: T. SOKOLL, Übergang] ihren Niederschlag fand. Die Kritik beruht vor allem darauf, dass sich die immer zahlreicheren empirischen Befunde zur europäischen Bevölkerungsgeschichte immer schwerer in die globale „Theorie der demographischen Transition“ integrieren ließen. Drei Bereiche stehen im Zentrum der Kritik. Der erste und wichtigste Kritikpunkt betrifft die „Denkfigur zweier stabiler Lagen“ vor und nach der „demographischen Transition“ [120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte, 164]. In Bezug auf die Frühe Neuzeit hat die neuere Forschung Zweifel an der vermuteten Balance zwischen Fertilität und Mortalität und generell an der Annahme einer stabilen „generativen Struktur“ geweckt. Die – in Europa am besten erforschte – englische Bevölkerungsgeschichte zeigt vom 16. bis
Übernahme der Theorie
Modifikation und Kritik der Theorie
Denkfigur zweier stabiler Lagen
124
Kein Gleichgewicht vormoderner Bevölkerung
Kein Gleichgewicht postmoderner Bevölkerung
Zweite demographische Transition
Probleme von Bevölkerungsprognosen
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
zum 18. Jahrhundert starke Schwankungen der Fertilität, der Mortalität und des Bevölkerungswachstums. Sie führen zu dem Schluss, „dass wir auch für die Zeit vor 1780 von demographischen Wechsellagen auszugehen haben, die der herkömmlichen Vorstellung mehr oder weniger konstanter, gleichsam ‚naturwüchsiger‘ demographischer Ausgangsniveaus in vorindustrieller Zeit widersprechen“ [40: T. SOKOLL/R. GEHRMANN, Historische Demographie, 187]. Dies impliziert die Kritik an Modellen „homöostatischer“ oder „autoregulativer“ vorindustrieller Bevölkerungsweisen, die gerade in der deutschen Bevölkerungsgeschichte eine lange Tradition aufweisen [320: G. FERTIG, Demographische Autoregulation; 37: J. SCHLUMBOHM, Micro-History; 120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte, 168 ff.]. Auch in der post-transitorischen Phase ist es offensichtlich nicht zu einer dauerhaften Balance zwischen Mortalität und Fertilität gekommen [326: R. MACKENSEN, Theoretische Notizen, 10 f.]. In den meisten europäischen Ländern, wie in Deutschland seit den 1970er Jahren, ist die Geburtenrate vielmehr deutlich unter die Sterberate gefallen, was – ohne Immigration – nicht zu dem erwarteten Gleichgewicht, sondern zum Rückgang der Bevölkerung führen würde [114: H. BIRG/H. KOCH, Bevölkerungsrückgang, 43]. In der demographischen Literatur hat sich zur Beschreibung dieses Sachverhalts seit der Mitte der 1980er Jahre der Begriff der „Zweiten demographischen Transition“ (Second Demographic Transition) eingebürgert, der einen neuerlichen grundlegenden Wandel des demographischen Verhaltens in post-industriellen oder post-modernen Gesellschaften bezeichnet [333: D. J. VAN DE KAA, Europe’s Second Demographic Transition]. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass das Konzept einer post-transitorischen Phase auf demographischen Prognosen beruht. Während die meisten Demographen von der Verlässlichkeit ihrer Bevölkerungsvorausberechnungen überzeugt sind [44: H. BIRG, Zeitenwende, 83 ff.], mahnen andere zur Vorsicht. Der französische Demograph und Bevölkerungshistoriker H. Le Bras etwa meint, dass demographische Prognosen über mehr als zehn Jahre hinaus unseriös seien. „Sie hätten eher die Funktion, gegenwärtige politische Ängste in Szene zu setzen als Aussagen über die Bevölkerungsentwicklung zu machen, die – zumal hinsichtlich der Migration – niemand langfristig voraussagen könne“ [21: S. HEIM, Normative Demographie, 369]. Ein zweiter Bereich kritischer Einwände gegen die „Theorie der demographischen Transition“ bezieht sich auf den Beginn des Mortalitäts- wie des Fertilitätsrückgangs und seine Bindung an den Modernisierungsprozess. Die Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen
7. Die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
125
„demographischer Transition“, Industrialisierung und Urbanisierung hat in der deutschen Bevölkerungsgeschichte dazu geführt, den Beginn der ersteren „nicht vor 1865“ anzusetzen [327: P. MARSCHALCK, Age of Demographic Transition, 23]. Diese Fixierung hatte nach R. GEHRMANN [321: Sterblichkeitsrückgang, 107] zur Folge, den in Norddeutschland schon zwischen 1790 und 1820 beobachtbaren „Übergang zu qualitativ neuen Verhältnissen“ auszublenden. In Bezug auf die Fertilität hat schon H. LINDE [282: Säkulare Nachwuchsbeschränkung, 214] dafür plädiert, den „demographischen Übergang“ von einer „säkularen Nachwuchsbeschränkung“ zu unterscheiden, die mit einem langfristigen Strukturwandel von Ehe und Familie verbunden sei und spätestens in der „Epoche aufgeklärter Empfindsamkeit“ eingesetzt habe. Auch das bisher größte Forschungsprojekt zur europäischen Bevölkerungsgeschichte, das „Princeton Project on European Fertility Decline“, konnte für den engeren Zeitraum der „demographischen Transition“ keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Modernisierung und Geburtenrückgang nachweisen (siehe dazu Kapitel II.5). Die europäische Bevölkerungsgeschichte der letzten 50 Jahre zeigt darüber hinaus, dass moderne und post-moderne Gesellschaften trotz ihres gemeinsamen niedrigen Niveaus der Fertilität auch eine hohe Varianz der Fruchtbarkeitsraten und ihrer Entwicklung aufweisen. Dies leitet zu einem dritten Kritikpunkt an der „Theorie der demographischen Transition“ über, nämlich zur Annahme, dass der Rückgang der Mortalität jenem der Fertilität vorauszugehen habe. Zweifel an diesem Theorem wurden bereits angesichts der Entwicklung in Frankreich laut, wo die Geburtenkontrolle schon im späten 18. Jahrhundert einsetzte und Mortalitäts- und Fertilitätsrückgang mehr oder minder parallel verliefen [318: J.-C. CHESNAIS, Demographic Transition, 7]. Neuere Forschungen zeigen eine große Varianz im Verhältnis von Mortalität und Fertilität. Die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums wurde in vielen Regionen durch einen Rückgang der Sterblichkeit eingeleitet. Dies scheint im Norden und auch in anderen Teilen Deutschlands der Fall gewesen zu sein [120: R. GEHRMANN, Bevölkerungsgeschichte; 59: W. R. LEE, Germany; kritisch dazu 62: CH. PFISTER, Bevölkerungsgeschichte, 95]. Auf der anderen Seite hat T. SOKOLL [39: Historische Demographie, 418] die deutsche Bevölkerungsgeschichte mit den Ergebnissen der von E. A. Wrigley und R. Schofield rekonstruierten „Population History of England“ konfrontiert, nach denen vom 16. Jahrhundert an die Veränderungen der Fruchtbarkeit stärker auf das Bevölkerungswachstum einwirkten als jene der Sterblichkeit. Im „langen 18. Jahrhundert (1680–1820)“ trug der Anstieg der
Wann beginnt der Rückgang der Mortalität?
– und wann jener der Fertilität?
Problem der chronologischen Sequenz
126
Ein modernisierungstheoretischer Mythos?
– oder ein Phänomen langer Dauer?
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Fruchtbarkeit zweieinhalb Mal soviel zum Bevölkerungswachstum bei wie der Rückgang der Sterblichkeit. Weder die „Theorie der demographischen Transition“ noch die Denkfigur der Auflösung einer „agrarischen Bevölkerungsweise“ vermögen diese Vielfalt zu erfassen. Welche Schlussfolgerungen kann man aus diesen kritischen Überlegungen ziehen? Für den englischen Historiker S. SZRETER [332: Idea] stellt die „Theorie der demographischen Transition“ einen modernisierungstheoretischen Mythos dar, der für die empirische Forschung sinnlos sei und deshalb völlig fallen gelassen werden sollte. Für R. MACKENSEN [326: Theoretische Notizen, 10] werden „unter der Bezeichnung des ‚demographischen Übergangs‘ (. . .) völlig inkommensurable Erklärungsmodelle“ verwendet. Die Sinnhaftigkeit dieses Terminus bleibe offen. R.GEHRMANN [321: Sterblichkeitsrückgang, 108] plädiert dagegen für ein Verständnis der „demographischen Transition“ als Phänomen der „longue durée“, das den Begriff allerdings aus einem unmittelbaren Kontext von Industrialisierung und Urbanisierung herauslöst. E. VAN DE WALLE [298: Fertility Transition, 487 f.] hat gezeigt, dass die „Theorie“ oder das „Modell der demographischen Transition“ von den späten 1980er Jahren an aus der internationalen bevölkerungswissenschaftlichen Literatur mehr oder minder verschwunden ist. Geblieben ist dagegen der Begriff der „demographischen Transition“ ohne jegliche theoretische Implikation als bequemes Kürzel für den Übergang von hohen zu niedrigen Geburten- und Sterberaten. In dieser Gebrauchsweise wird der Begriff vermutlich auch weiterhin in Verwendung bleiben. Als theoretischer Rahmen einer Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts scheint er sich aber nicht mehr zu eignen. Diese Überlegungen führen letztlich zur Frage, inwieweit es überhaupt gerechtfertigt ist, von „generativen Strukturen“, „demographischen Systemen“ oder „Bevölkerungsweisen“ zu sprechen. In diesen Konzepten schwingt implizit oder explizit die Annahme mit, dass die Wechselbeziehungen zwischen Sterblichkeit, Fruchtbarkeit, Heiratsverhalten, Migrationen usw. enger wären als zwischen jeder einzelnen dieser demographischen Variablen und ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umwelt. Sicherlich gibt es spezifisch innerdemographische Zusammenhänge: Die zahlenmäßige Entwicklung und die altersmäßige Zusammensetzung einer Gesellschaft ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Geburten, Sterbefällen und Wanderungen. Natürlich hängen Geburt und Tod zusammen: Nur wer geboren wurde, kann und wird sterben. Wann und wo dies aber der Fall sein wird und ob Frauen überhaupt Kinder zur Welt bringen, hängt von anderen Faktoren ab. Die „Theorie der demographischen Transition“ beruht auf der An-
8. Nachtrag 2013
127
nahme enger Beziehungen zwischen Fertilität und Mortalität, wenn sie auch – von wenigen Ausnahmen abgesehen [318: J.-C. CHESNAIS, Demographic Transition] – Migrationen ausklammert. Auch die meisten mikroanalytischen Forschungen der Historischen Demographie, die sich auf die Periode vom 17. bis zum 19. Jahrhundert beziehen, gehen implizit oder explizit davon aus, dass jene Ereignisse, die in den Kirchenbüchern verzeichnet wurden, also Taufen, Trauungen und Sterbefälle, statistisch miteinander zu tun haben. Die referierten kritischen Überlegungen zur Transitionstheorie führen dagegen in letzter Konsequenz zum Zweifel an der Annahme eines systematischen Zusammenhangs zwischen den einzelnen demographischen Variablen. Die bevölkerungsgeschichtliche Forschung über das 19. und 20. Jahrhundert ist denn auch in ihrer Praxis von einer zunehmenden Spezialisierung und von einer Aufsplitterung in Teilbereiche geprägt. Forschungen zur Entwicklung von Mortalität und Fertilität, von Heiratsverhalten und Migration, bemühen sich in aller Regel sehr viel stärker darum, ihren Gegenstand in wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und oft auch politischen Strukturen zu verankern, als darum, ihn mit anderen demographischen Phänomenen in Beziehung zu setzen. Diese Tendenz wurde noch kaum theoretisch reflektiert. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass eines Tages nicht nur die „Theorie der demographischen Transition“, sondern die Einheit der Bevölkerungsgeschichte insgesamt als bloßes Konstrukt einer Wissenschaftsdisziplin oder gar als „Mythos“ erscheint.
Bevölkerungsgeschichte als Konstrukt?
8. Nachtrag 2013 – Demografischer Wandel 1990–2010 8.1 Diskurs und Wissenschaft: Die Entdeckung des „demografischen Wandels“ Die Wahrnehmung demografischer Prozesse und ihre Bewertung in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik sind seit vielen Jahrhunderten von zeittypischen Leitdiskursen geprägt (vgl. dazu S. 63 ff.). Am Beginn des 20. Jahrhunderts gaben die Anfänge des Geburtenrückgangs Anlass zu einer Welle von „apokalyptischen“ Bevölkerungsdiskursen, in denen unter nationalistischen oder biologistischen Vorzeichen „Überalterung“, „Vergreisung“ oder Schrumpfung der jeweils eigenen Bevölkerung als Gefahren beschworen wurden [344: T. ETZEMÜLLER, Untergang; 345: T. ETZEMÜLLER, Population Discourse]. In unterschied-
Traditionen „apokalyptischer“ Diskurse
128
Der neue Leitdiskurs des „demografischen Wandels“
Demografischer Wandel als Chance
Steigendes Interesse in den Geschichtswissenschaften
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
licher Intensität und terminologischer Ausprägung dominierte diese Sichtweise das Bevölkerungsdenken des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu S. 56). Erst seit den späten 1980er-Jahren setzte sich ein neuer Leitdiskurs durch, der im Begriff des „demografischen Wandels“ seinen Ausdruck fand. Während er im deutschen Sprachraum vor 1990 noch kaum gebraucht wurde, gewann er danach allmählich in Buchtiteln und im Namen von wissenschaftlichen Kommissionen Verbreitung. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stieg sein Gebrauch in Öffentlichkeit und Wissenschaft exponentiell an; er gilt nun als einer der bestimmenden „,Megatrends‘ unserer Zeit“ [366: B. SCHWENTKER/J. W. VAUPEL, Kultur des Wandels, 4]. Bevölkerungsdiskurse sind immer ambivalent und vielseitig politisch instrumentalisierbar. Der neue Leitdiskurs unterscheidet sich aber dennoch in dreifacher Hinsicht von seinen Vorgängern: Einmal ist er in Tonfall und Argumentation um größere Gelassenheit und Sachlichkeit bemüht. Zweitens sieht er die aktuellen demografischen Veränderungen nicht vorrangig als Bedrohung an, sondern auch als Chance: Die Angst vor „Vergreisung“ wurde von der Hoffnung auf die „gewonnenen Jahre“ des längeren und länger gesunden Lebens abgelöst. Und drittens proklamiert er nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – das Ziel, die einzelnen Menschen zu einer Änderung ihres generativen Verhaltens zu bewegen oder zu zwingen, sondern zielt umgekehrt auf die Anpassung gesellschaftlicher Institutionen (wie Arbeitsmärkte, Bildungssysteme, Sozialsysteme) und Mentalitäten an die Entwicklung der Bevölkerung [354: J. KOCKA/U. M. STAUDINGER, Gewonnene Jahre; 366: B. SCHWENTKER/J. W. VAUPEL, Kultur des Wandels, 10; 334: T. BRYANT, Demografiediskurs, 44]. Die Wissenschaften haben zur Etablierung des neuen Leitdiskurses einen wesentlichen Beitrag geleistet. Auch wenn Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie – im engeren Sinn von Spezialgebieten oder Subdisziplinen der historischen Forschung – in Deutschland nach wie vor ein Schattendasein führen, ist in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte ein stark steigendes Interesse an der Thematik der Bevölkerung zu beobachten [359: R. MACKENSEN/J. REULECKE, Konstrukt; 360: R. MACKENSEN/J. REULECKE/J. EHMER, Ursprünge; 351: S. KESPER-BIERMANN/E. MAURER/D. KLIPPEL, Bevölkerung]. Während zunächst die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik und ihren Vordenkern im Mittelpunkt stand, und ganz allgemein das Verhältnis von Wissenschaft und Politik (vgl. dazu S. 69–74) [358: R. MACKENSEN, Bevölkerungslehre], trat in den letzten beiden Jahrzehnten das Interesse an Diskursen und an Prak-
8. Nachtrag 2013
129
tiken des generativen Verhaltens in den Vordergrund [371: C. USBORNE, Social Body; 367: E.-M. SILIES, Pille]. Dabei wurde auch der „Eigensinn“ individueller Entscheidung im generativen Verhalten sichtbar gemacht [339: J. EHMER/J. ERHARDT/M. KOHLI, Fertilität, 45 f.]. Auch in der demografischen Forschung vollzog sich ein paradigmatischer Wandel. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte in den deutschen Bevölkerungswissenschaften eine nationalistische und zum Teil auch rassistische Grundierung vorgeherrscht. Davon abweichende liberale Haltungen waren zwar vorhanden, wurden aber im „Dritten Reich“ gewaltsam ausgeschaltet. In der frühen Bundesrepublik blieben Traditionen des „Dritten Reichs“ durchaus erhalten, vor allem in personeller und diskursiver Hinsicht [364: A. PINWINKLER, Bevölkerungsforschungen]. Noch in den 1970er-Jahren ist eine Gemengelage zwischen neuen Ansätzen (z. B. in der Historischen Demographie durch A. E. Imhof; vgl. S. 59) und alten Netzwerken zu beobachten, die z. B. noch 1973 die Gründung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) beeinflussten [355: C. KULLER, Demographen]. Erst in den letzten Jahrzehnten erfolgte in der demografischen Forschung ein gravierender Wandel hin zu einer Wissenschaftskultur, die „reproduktive Rechte“ als Menschenrechte betrachtet und die Individualität des generativen Verhaltens respektiert [346: L. P. FREEMAN/S. L. ISAACS, Human Rights; 339: J. EHMER/J. EHRHARDT/M. KOHLI, Fertilität, 33, 62]. In Deutschland stand die Etablierung des neuen Leitdiskurses des demografischen Wandels in einer engen Wechselbeziehung zwischen Politik und Wissenschaft, die zu einer enormen Ausweitung und Internationalisierung der demografischen Forschung führte. 1996 wurde das Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock gegründet (www.demogr.mpi.de), 2004 das Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels (www.rostockerzentrum.de). Das Statistische Bundesamt (www.destatis.de) und das BIB haben ihre einschlägigen Forschungen intensiviert (www.bib-demografie.de). Interdisziplinäre Arbeitsgruppen von Wissenschaftsakademien haben sich mit spezifischen Aspekten der Bevölkerungsentwicklung beschäftigt, mit dem „Altern in Deutschland“ (www.altern-in-deutschland.de) ebenso wie mit der „Zukunft mit Kindern“ (www.zukunft-mit-kindern.eu). Alle diese Forschungsstätten und -gruppen sind bestrebt, ihre Daten und Ergebnisse im World Wide Web schnell und kostenlos zugänglich zu machen. Auch wenn die Forschungen zum demografischen Wandel vor allem von aktuellen und gesellschaftspolitisch relevanten Fragen ausgehen, bemühen sie sich in der Regel um die Rekonstruktion längerfristiger historischer Trends. Deshalb sind ihre Ergebnisse und die sie
Paradigmenwechsel
„Reproduktive Rechte“ als Menschenrechte
Intensivierung, Internationalisierung und interdisziplinäre Einbindung
130
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
begleitenden methodischen und theoretischen Reflexionen auch für Historiker von großer Bedeutung. 8.2 Bevölkerungsentwicklung Vom Wachstum zum Rückgang der deutschen Bevölkerung
Ergebnisse des Zensus 2011
Faktoren des Rückgangs
Die langfristige demografische Entwicklung Deutschlands zeigt, dass das mehr als zwei Jahrhunderte dauernde Bevölkerungswachstum zu Ende gegangen ist. Frühere Phasen des Rückgangs nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg waren von kurzer Dauer und beruhten nicht auf demografischen, sondern auf politischen Ursachen, nämlich der Verkleinerung des Territoriums. In welchem Jahr in Deutschland die Abnahme der Bevölkerung begann, kann nicht genau gesagt werden. Nach den bisherigen Angaben des Statistischen Bundesamts wurde 2002 der höchste Bevölkerungsstand mit 82,537 Mio. Einwohnern erreicht. Da die letzten Volkszählungen in der DDR aber 1981 und in der alten BRD 1987 stattfanden, beruhten diese Daten auf einer Bevölkerungsfortschreibung. Die Ergebnisse der aktuellen Zählung 2011 (Zensus vom 9. Mai 2011) zeigen jedoch, dass man den Bevölkerungsstand um rund 1,5 Mio. Menschen überschätzte und Deutschland zu diesem Stichtag nicht – wie erwartet – 81,7, sondern nur 80,2 Millionen Einwohner zählte [11e: Statistisches Bundesamt, ZENSUS]. Die Ursache dieser Differenz liegt überwiegend darin, dass die Ab- bzw. Rückwanderung von in Deutschland lebenden Ausländern nur unvollständig an die Meldeämter gelangte. Der Unterschied zwischen Fortschreibung und Realität hat mit hoher Wahrscheinlichkeit schon in den 1990er-Jahren begonnen. Mit Sicherheit wuchs die deutsche Bevölkerung in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre aufgrund der damals sehr starken Zuwanderung noch an. Die bisher für das Jahr 2000 vermutete Bevölkerungszahl von 82,3 Mio. ist dagegen sehr wahrscheinlich überhöht (vgl. Tab. 8). Der Übergang von einer wachsenden zu einer schrumpfenden Bevölkerung dürfte in den Jahren rund um die Jahrtausendwende stattgefunden haben. Demografische Prognosen gehen nun davon aus, dass der Bevölkerungsrückgang dauerhaft sein und Deutschland im Jahr 2050 mit relativ großer Wahrscheinlichkeit zwischen 64 und 72 Mio. Einwohner zählen wird [DEMFO 9 (2012), Nr. 2, 2]. Die Ursache dafür liegt darin, dass seit 1971 in jedem Jahr – und in wachsendem Ausmaß – die Zahl der Sterbefälle jene der Geburten übersteigt (vgl. dazu Tab. 1 und 2) [1b: BIB, BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG, 7]. Ein Anstieg der Geburtenraten würde dies nur geringfügig ändern, da aufgrund des Wandels der Altersstruktur der Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter sinkt. Auch
131
8. Nachtrag 2013
Tabelle 8: Bevölkerungsentwicklung 1990–2010 (a)
Bevölkerungszahl (in Mio.) Anteil der neuen Länder (ohne Berlin, in Prozent) Geburtenziffer (Lebendgeborene/ 1000 Einwohner) Sterbeziffer (Gestorbene/1000 Einwohner) Saldo Zusammengefasste Geburtenziffer (total fertility rate) Durchschnittliches Alter der Mütter bei Geburt eines Kindes (c) Erstheiratsalter Frauen Männer Lebenserwartung bei der Geburt Weitere Lebenserwartung mit 60
Frauen Männer Frauen Männer
1990
2000
2010
79,5
82,3
81,8/80,2 (b)
18,5
17,4
15,6
11,4 11,6 –0,2
9,3 10,2 –0,9
8,3 10,5 –2,2
1,5
1,4
1,4
27,6 25,5 27,9
28,7 28,4 31,2
30,5 30,3 33,2
79 72 22 18
81 75 23 19
83 78 25 21
15,5 60,9 23,6
13,4 60,3 26,3
(1990 = 1991/93, 2000 = 1999/01; 2010 = 2008/10) Altersstruktur (Anteile in Prozent) 0–15 16,2 15–60 63,4 60– 20,4
a) Alle Daten bezogen auf Gesamtdeutschland (Gebietsstand vom 3. 10. 1990). Die Daten beruhen auf den neuesten Berechnungen und können sich deshalb für 1990 und 2000 von den Tabellen 1–3 geringfügig unterscheiden. b) Die Annahme einer Bevölkerungszahl von 81,8 Millionen im Jahre 2010 beruht auf den bisher gebräuchlichen Fortschreibungen. Seit dem 31. 5. 2013 stehen die ersten Daten des Zensus 2011 zur Verfügung, der für den 9. Mai 2011 zu der wesentlich geringeren Zahl von 80,2 Millionen kommt. Dementsprechend ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der bisher angenommene Wert für das Jahr 2000 überhöht (vgl. dazu Kapitel II.8.2). c) Das durchschnittliche Gebäralter schließt alle Geburten ein. Das Alter bei der ersten Geburt wird statistisch erst ab 2008 für verheiratet und ledige Mütter erfasst. 2010 lag es bei 28,9 (29,2 in den alten und 27,4 in den neuen Ländern) Jahren. Quellen: 11b: STATISTISCHES JAHRBUCH 2012; 11c: PERIODENSTERBETAFELN; 4a: HUMAN FERTILITY DATABASE; 11e: ZENSUS 2011.
die weitere Zunahme der Lebenserwartung verhindert den Bevölkerungsrückgang nur zum Teil, da die Sterblichkeit unter Menschen höheren Alters größer ist als unter jungen.
132
Deutschland bleibt Einwanderungsland
Regionale Unterschiede
Sinkende Einwohnerzahl in der DDR und den neuen Ländern
Wandel der Altersstruktur
Zunahme der höchsten Altersgruppen
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Bis zur Jahrtausendwende wurde der Rückgang durch eine positive Wanderungsbilanz ausgeglichen, d. h. es wanderten mehr Menschen ein als aus. Die frühen 1990er-Jahre waren von einer besonders intensiven Zuwanderung geprägt, die in Deutschland den bisher letzten Bevölkerungszuwachs bewirkte (vgl. S. 33 f.). Deutschland wird auch weiterhin ein Einwanderungsland bleiben, die Jahre 2010–2012 z. B. wiesen eine sehr starke und steigende Zuwanderung auf. Die Prognosen gehen allerdings davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten auch starke Wanderungsgewinne nicht ausreichen werden, um den gegenwärtigen Bevölkerungsstand zu halten. Die zu erwartende Schrumpfung der Bevölkerung ist ein Kernelement des demografischen Wandels. Sie vollzieht sich allerdings nicht gleichmäßig im gesamten Staatsgebiet, sondern regional sehr unterschiedlich. In Deutschland wird es auch weiterhin zahlreiche Regionen und Städte mit wachsender Bevölkerung geben, wie z. B. Berlin, Hamburg, Köln, München oder Stuttgart mit dem jeweiligen Umland, aber auch zahlreiche Regionen und Städte mit schrumpfender Bevölkerung [363: W. PETERS, Leere, 18 f.]. Am stärksten ist der Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern, wo sich eine negative Geburtenbilanz und kontinuierliche Abwanderung überlagern. Die DDR war in ihrer gesamten Geschichte von einer schrumpfenden Bevölkerung geprägt, ihre Einwohnerzahl sank von rund 18 (1950) auf rund 16 Millionen (1990; vgl. S. 16 f.). Nach der Wiedervereinigung setzte sich dieser Trend in den neuen Ländern fort, die – ohne Berlin – 1990 rund 14,7 Millionen Einwohner zählten, nach dem Zensus von 2011 nur mehr 12,6 [11e: Statistisches Bundesamt, ZENSUS, 7]. Der Verlust von mehr als zwei Millionen Menschen war zu etwa 60% der Abwanderung geschuldet, zu etwa 40% der negativen Geburtenbilanz. In den letzten Jahren haben in den neuen Ländern nur wenige Städte bzw. Stadtregionen von Zuwanderung profitiert, außer Berlin nur noch Leipzig, Dresden, Jena, Potsdam und Rostock [363: W. PETERS, Leere, 18 f.]. Ein zweites Kernelement des demografischen Wandels ist der Wandel der Altersstruktur. In Deutschland ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine relativ kontinuierliche Abnahme der jüngeren und eine Zunahme der höheren Altersgruppen zu verzeichnen (vgl. S. 53–56). Dies ist eine unvermeidliche und weltweit in Erscheinung tretende Folge des ersten und des zweiten Geburtenrückgangs und der zunehmenden Lebenserwartung im höheren Alter. In Deutschland wurden 2010 rund 11 Millionen unter 15-Jährige und rund 21 Millionen über 60-Jährige gezählt. Besonders schnell wächst die Zahl der Menschen höheren Alters (über 80) und derjenigen über 100 Jahren an. Die
8. Nachtrag 2013
133
demografische Alterung wird in diesem Jahrzehnt schnell verlaufen, weil nun die geburtenstarken Jahrgänge des Babybooms der 1950erund 1960er-Jahre ins höhere Alter gelangen. Schon ab den 2020er-Jahren ist dagegen eine Verlangsamung des Trends zu erwarten, da die ersten „Babyboomer“ ins Sterbealter kommen und die nachfolgenden Geburtskohorten aufgrund des zweiten Geburtenrückgangs schwächer besetzt sind [1b: BIB, BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG, 14]. Zwischen 1990 und 2010 verlief die demografische Alterung in Deutschland allerdings regional differenziert, vor allem in Zusammenhang mit der Migration. Im Unterschied zur DDR, in der ab 1961 fast ausschließlich Rentner auswandern konnten, sind jüngere Menschen in der Regel mobiler als ältere. Regionen mit hoher Abwanderung verlieren deshalb vor allem jüngere Einwohner, Regionen mit hoher Zuwanderung gewinnen sie. Dabei fällt die Zuwanderung aus dem Ausland besonders ins Gewicht. 2011 waren rund 60% der in Deutschland lebenden Ausländer im besten Erwerbsalter von 18 bis 49 Jahren, aber nur 41% der deutschen Staatsbürger [11e: Statistisches Bundesamt, ZENSUS, 15). Der Anteil der höheren Altersgruppen steigt daher in den Abwanderungsregionen der neuen Länder, die auch keine nennenswerte Zuwanderung aus dem Ausland aufweisen, besonders stark an [363: W. PETERS, Leere, 20]. Nach den Ergebnissen des Zensus 2011 liegt der Anteil der über 65Jährigen in allen neuen Ländern (ohne Berlin) über dem deutschen Durchschnitt, unter den alten Ländern ist dies nur in Bremen, Schleswig-Holstein und dem Saarland der Fall [11e: Statistisches Bundesamt, ZENSUS, 15].
Einfluss der Zu- und Abwanderung
8.3 Lebenserwartung und Sterblichkeit Die Zunahme der Lebenserwartung ist ein säkularer Prozess, der die Bevölkerungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts prägte (vgl. dazu S. 34–38) und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im 21. Jahrhundert weiter andauern wird. In Deutschland ist die durchschnittliche Lebenserwartung von Neugeborenen zwischen 1871 und 2011 von 36 (Männer) bzw. 39 (Frauen) Jahren auf 78 bzw. 83 Jahre angestiegen. In diesem langen Zeitraum lassen sich mehrere Phasen unterscheiden. Bis zur Mitte des 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung außerordentlich schnell, um rund 4 zusätzliche Jahre pro Jahrzehnt. Der treibende Faktor dieser Periode war der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit (vgl. dazu S. 91–99). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Sterblichkeit von Säuglingen und Kleinkindern fast völlig verschwunden; in Deutschland starben 2010 von 1000 Neugebo-
Dynamisch steigende Lebenserwartung
134
Angleichung der neuen an die alten Länder
Grenze des menschlichen Lebens
Kein Limit der Lebenserwartung?
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
renen nur mehr 3,4 im ersten Lebensjahr. Dementsprechend verlief die weitere Zunahme der Lebenserwartung in geringerem Tempo, sie lag nun bei etwa 2,2 zusätzlichen Jahren pro Jahrzehnt. Als neuer treibender Faktor fiel jetzt aber die weitere Zunahme der Lebenserwartung in den höheren und höchsten Altersgruppen immer stärker ins Gewicht. Internationale Vergleichsstudien zeigen, dass in den Staaten mit der weltweit höchsten Lebenserwartung zwischen 1990 und 2007 fast 80% des gesamten Zuwachses auf die Altersgruppen über 65 Jahren entfallen sind, und dabei die Altersgruppen über 80 die stärkste Dynamik aufweisen [335: K. CHRISTENSEN u. a., Ageing Populations, 1199]. In Deutschland konnten 60-Jährige 2010 im Durchschnitt mit mehr als 21 (Männer) bzw. 25 (Frauen) zusätzlichen Jahren rechnen, 80-Jährige mit rund 8 bzw. 9 Jahren [343: M. EISENMENGER/D. EMMERLING, Sterbetafeln, 232]. Bis in die 1970er-Jahre lag die Lebenserwartung im Westen und im Osten Deutschlands ungefähr auf demselben Niveau und ihre Zunahme verlief parallel. Ab den späten 1970er-Jahren begann dagegen in der DDR eine Periode der Stagnation. 1990 starben Frauen in Ostdeutschland um 2,8 und Männer um 3,5 Jahre früher als in Westdeutschland. Unmittelbar nach der Wende setzte allerdings im Osten ein erstaunlich schneller Aufholprozess ein. 2010 war die Lebenserwartung der Frauen mit rund 82,5 Jahren fast völlig ausgeglichen, bei den Männern hatte sie sich zumindest stark angenähert: 77,8 Jahre im Westen, 76,4 im Osten [365: R. SCHOLZ/H. MAIER, Plasticity of Mortality, 2003]. Bis vor wenigen Jahren war die übereinstimmende Auffassung, dass sich die menschliche Spezies durch eine physiologisch begrenzte Lebensspanne von etwa 85 bis 90 Jahren auszeichnen würde (vgl. dazu S. 34). Aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wird nun von vielen Humanwissenschaftlern eine biologische Grenze des menschlichen Lebens sehr viel höher, zwischen 120 und 130 Jahren angesetzt. Als bisher älteste Frau gilt eine Französin, die 1997 mit 122 Jahren, als ältester Mann ein Däne, der 1998 mit 115 Jahren verstarb. In Deutschland wurden 2011 17 über 110-jährige Personen verzeichnet [361: H. MAIER u. a., Methusalem]. Andere Wissenschaftler stellen die Idee einer maximalen Lebensspanne überhaupt infrage. Zwei Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock veröffentlichten 2002 einen international überaus einflussreichen Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Broken limits to life expectancy“ [362: J. OEPPEN/J. W. VAUPEL Broken Limits; 335: K. CHRISTENSEN u. a., Ageing Populations, 1198]. Sie un-
8. Nachtrag 2013
135
tersuchten darin die weltweite Entwicklung der Lebenserwartung, indem sie ab 1840 die Länder mit den jeweils höchsten Werten erfassten. Ihr Ergebnis zeigt einen erstaunlich gleichmäßigen Anstieg von knapp über 45 Jahren bei schwedischen Frauen um 1840 bis fast 85 Jahren bei japanischen Frauen um 2000 (2010 bereits 86,4 Jahre). Die höchste Lebenserwartung stieg also jedes Jahr um fast 3 Monate (oder 2,5 Jahre pro Jahrzehnt)! Oeppen und Vaupel schließen daraus, dass sich alle bisherigen Annahmen über eine maximale Lebensspanne als falsch erwiesen haben, und „that the reductions in mortality should not be seen as a disconnected sequence of unrepeatable revolutions but rather as a regular stream of continuing progress” [362: OEPPEN/J. W. VAUPEL, Broken Limits, 1029]. Der Trend beruht offensichtlich auf einem Mix von vielen Faktoren (vgl. dazu S. 86–91). Im Deutschland der 1990er-Jahre leistete z. B. die Vermeidung bzw. zunehmende Beherrschung von HerzKreislauf-Erkrankungen einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion der Mortalität und auch zum schnellen Anstieg der Lebenserwartung in Ostdeutschland seit 1990. Grundlagen dafür waren der Ausbau von Vorsorgeuntersuchungen und verbesserte medizinische Behandlung, ein dichtes Netz von Ärzten und Krankenhäusern wie auch die Zugänglichkeit medizinischer Leistungen durch ein umfassendes System der Sozialversicherung. Dazu gehört aber auch eine gesündere Lebensweise [352: J. KLENK u. a., Mortality, 590]. Ein in Öffentlichkeit und Wissenschaft zunehmend diskutiertes Thema betrifft die Auswirkungen der gestiegenen und weiter steigenden Lebenserwartung auf die Gesundheit im hohen und höchsten Alter. Ist mit einer Zunahme der gesunden und aktiv gestaltbaren Lebensjahre zu rechnen oder mit Verlängerung einer von körperlichem und geistigem Verfall und von Pflegebedürftigkeit geprägten letzten Lebensphase vor dem Tod? In den damit befassten Wissenschaften herrscht die Annahme vor, dass die Zunahme der weiteren Lebenserwartung im höheren Alter ohne eine Verbesserung des Gesundheitszustands der älteren Menschen nicht hätte stattfinden können. Dabei wurde die Hypothese der „Kompression der Morbidität“ aufgegriffen, die der amerikanische Mediziner James F. Fries bereits 1980 formuliert hatte [347: J. F. FRIES, Aging]. Nach seiner Meinung könnten die meisten chronisch-degenerativen Krankheiten durch Prävention und Behandlung soweit hinausgezögert werden, dass massive krankheitsbedingte Einschränkungen der selbstständigen Lebensführung und der Lebensqualität auf eine kurze Phase vor dem Tod zusammengedrängt würden. Gegenwärtige Forschungen von Medizinern wie von Sozial- und Verhaltenswissen-
Gesundheitssystem und Lebensweise
Zugewinn an gesunden Lebensjahren
„Kompression der Morbidität“
136
Soziale und geschlechtsspezifische Ungleichheit
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
schaftlern kommen zu dem Schluss, „that people are not only living longer than previously, but also they are living longer with less disability and fewer functional limitations“ [335: K. CHRISTENSEN u. a., Ageing Populations, 1206]. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass eine deutliche geschlechtsspezifische und soziale Ungleichheit in Bezug auf Lebenserwartung und Gesundheit im Alter besteht. Zwischen 1990 und 2010 ist in Deutschland die Lebenserwartung der Männer schneller gestiegen als die der Frauen, der Abstand hat sich von sieben Jahren auf fünf Jahre reduziert (vgl. Tab. 8). Die gesunde Lebenserwartung hat sich bei beiden Geschlechtern in ungefähr gleichem Ausmaß erhöht [370: R. UNGER/A. SCHULZE, Trends]. Soziale Unterschiede in Bezug auf Einkommen, Bildung und berufliche Position fallen noch deutlicher aus. In der Periode 1995–2005 lag die Lebenserwartung der Männer der unteren Einkommensgruppen (weniger als 60% des Durchschnitts) bei 70 Jahren, bei Männern der oberen Gruppen (mehr als 150% des Durchschnitts) dagegen bei 81 Jahren! Bei den Frauen ist der Unterschied weniger ausgeprägt, lag aber immer noch bei acht Jahren [356: T. LAMPERT u. a., Ungleichheit, 17]. Vom Zugewinn an gesunden Lebensjahren haben alle sozialen Gruppen profitiert, aber er ist – vor allem bei den Männern – in den höheren sozialen Gruppen stärker ausgefallen [370: R. UNGER/A. SCHULZE, Trends]. 8.4 Fertilität und Geburtenverhalten
Angleichung der Fertilität in den alten und neuen Ländern
Die Bundesrepublik war 1975 das erste Land in Europa, in dem die zusammengefasste Geburtenziffer (total fertility rate, TFR) unter 1,5 Kinder je Frau fiel. Seitdem liegt sie mit einer erstaunlichen Stabilität zwischen 1,35 und 1,45 Kindern pro Frau. Die DDR wies nach einem kurzen Anstieg in den 1970er- und 1980er-Jahren (vgl. dazu S. 112) einen massiven Geburtenrückgang in den ersten Jahren nach der Wende auf, 1994 lag die TFR auf einem extrem niedrigen Niveau bei 0,77. Seitdem erfolgte in den neuen Ländern aber ein rascher Anstieg der Geburtenziffer, seit 2008 liegt sie leicht über dem Niveau Westdeutschlands. Während in der zusammengefassten Geburtenziffer kurzfristige Reaktionen der Menschen auf wirtschaftliche und politische Veränderungen zum Ausdruck kommen, vor allem durch das Aufschieben und Nachholen von Geburten, zeigt die endgültige Kinderzahl pro Frau (completed fertility rate, CFR) langfristige Verhaltensänderungen an, auch in Bezug auf Kinderwünsche und Vorstellungen einer idealen Familiengröße (vgl. S. 42) [1b: BIB, BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG, 26].
8. Nachtrag 2013
137
Die CFR ist von der in den 1930er-Jahren geborenen Generation, die für den Nachkriegsbabyboom verantwortlich war, bis zu der in den 1960er-Jahren geborenen Generation kontinuierlich gefallen, von etwa 2,2 auf 1,5 Kinder pro Frau. Auch bei der CFR sind Unterschiede zwischen der BRD und der DDR erkennbar, sie sind aber wesentlich geringer als bei der TFR. Dies deutete auf eine grundsätzliche Übereinstimmung in Bezug auf die angestrebte und als ideal bewertet Kinderzahl hin. Für die ab 1970 geborenen Frauengenerationen zeichnet sich eine Stabilisierung der CFR auf einem einheitlichen und niedrigen Niveau von etwa 1,5 Kindern pro Frau ab [348: A. FÜRNKRANZ-PRSKAWITZ U. A., Analyse, 122 ff.]. Auch die Verteilung zwischen kinderlosen Frauen oder Paaren bzw. Ein-, Zwei-, oder Mehrkinderfamilien zeigt interessante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Zunächst ist der Anteil der kinderlosen Frauen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in ganz Deutschland beträchtlich gefallen. Er lag bei der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen Frauengeneration bei einem Fünftel bis einem Viertel und sank erst bei den in den 1930er-Jahren geborenen Frauen auf rund ein Zehntel ab. In der zweiten Jahrhunderthälfte zeigt sich dagegen ein markanter Unterschied zwischen BRD und DDR: Eine starke Zunahme der Kinderlosigkeit bis auf rund 22% bei den um 1965 geborenen westdeutschen Frauen, ein konstant niedriger Anteil von rund 11% bei den ostdeutschen Frauen, der auch nach der Wiedervereinigung nur wenig angestiegen ist [11a: Statistisches Bundesamt, MIKROZENSUS]. Die Familiengröße ergibt ein umgekehrtes Bild. Unter den ostdeutschen Frauen der Geburtsjahrgänge 1960 bis 1970, die noch in der DDR oder kurz nach deren Ende ihre Kinder bekamen, lässt sich eine Verschiebung von der Zwei- zur Ein-Kind-Familie beobachten, während in Westdeutschland relativ konstant die Zwei-Kind-Familie das dominante Muster blieb. Der Anteil der Familien mit drei und mehr Kindern ging überall deutlich zurück [348: A. FÜRNKRANZ-PRSKAWITZ U. A., Analyse, 129]. Hinter der Angleichung der Geburtenziffern stehen also zwei unterschiedliche Muster: die Diskrepanz zwischen Kinderlosigkeit und zwei Kindern im Westen, ein stärkeres Gewicht der EinKind-Familie im Osten. Auch das Verhältnis von Bildung und Kinderlosigkeit zeigt Unterschiede. Bei den um 1965 geborenen westdeutschen Frauen mit hohen Bildungsabschlüssen ist der Anteil der Kinderlosen höher und die durchschnittliche Kinderzahl niedriger als bei Frauen mit geringer Bildung, während bei ostdeutschen Frauen derselben Kohorte kaum Unterschiede bestehen [348: A. FÜRNKRANZ-PRSKAWITZ U. A., Analyse, 133].
Stabilisierung von Kinderwunsch und Kinderzahl auf niedrigem Niveau
Kinderlosigkeit und Familiengröße
Kinderlosigkeit und Bildung
138 Trend zur späten Geburt
Hoher Anteil nicht ehelicher Geburten im Osten
Anstieg des Heiratsalters
Theorie des zweiten demografischen Übergangs
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Ein allgemeiner Trend, der in den meisten westlichen Ländern mit der um 1950 geborenen Frauengeneration einsetzte, ist das Aufschieben der Geburten in ein höheres Alter. In Westdeutschland stieg das Erstgeburtsalter zwischen 1970 und 2010 von 23,8 auf 29,2 Jahre. In Ostdeutschland lag es bis zur Wende deutlich niedriger bei etwa 22,5 Jahren, um dann relativ schnell auf 27,4 Jahre (2010) anzusteigen (vgl. Tab. 8, S. 131) [368: T. SOBOTKA, Fertility, 277; 11b: Statistisches Bundesamt, JAHRBUCH 2012, 36]. Der Trend zur späteren Geburt trägt zu den niedrigen Geburtenraten bei, da nicht alle aufgeschobenen Geburten auch tatsächlich nachgeholt werden (können). Seit den 1970er Jahren ist in Deutschland – wie überall in Europa – der Anteil nicht ehelicher Geburten stark angestiegen (vgl. S. 118). Auch hier besteht ein markanter Unterschied zwischen Ost und West: Ostdeutschland liegt mit mehr als 61% (2010) im europäischen Spitzenfeld, Westdeutschland dagegen erst bei 27% [1b: BIB, BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG, 18]. Unterschiede in den Illegitimitätsraten zwischen Ost und West stehen in Deutschland in einer langen, zumindest in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition, in den beiden Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung haben sie sich allerdings deutlich vergrößert [353: S. KLÜSENER/J. R. GOLDSTEIN, East-West-Divide]. Im Westen besteht deshalb nach wie vor ein Zusammenhang zwischen Heiratsalter und Fertilität. Das durchschnittliche Erstheiratsalter der Männer stieg zwischen 1975 und 2010 von 25,3 auf 31,8 Jahre, das der Frauen von 22,7 auf 29,4, also weitgehend parallel zum Erstgeburtsalter. Im Osten war der Anstieg des Erstheiratsalters in derselben Periode noch stärker ausgeprägt, von 23,3 auf 32,9 (Männer) bzw. 21,3 auf 30,3 (Frauen) [349: E. GRÜNHEID, Wandel, 5]. Aufgrund der enormen Zunahme der Unehelichkeit im Osten scheint dies hier aber nur von geringer Bedeutung für die Gesamtfertilität gewesen zu sein [als systematischen Vergleich der Fertilitätsmuster in Ost- und Westdeutschland vgl. 368: T. SOBOTKA, Fertility, 292 f.]. Bei der Beschreibung des Geburtenrückgangs hat die demografische Forschung in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. Seine Erklärung ist dagegen nach wie vor schwierig geblieben, hier stehen unterschiedliche Theorien neben- und gegeneinander [342: J. EHRHARDT U. A., Theorien]. Die Komplexität des Phänomens arbeitete in den letzten Jahren vor allem die „Theorie des zweiten demografischen Übergangs“ (Second Demographic Transition-Theorie) heraus [357: R. LESTHAEGHE, Demographic Transition]. Sie zeigt, dass die beiden entscheidenden Brüche im Geburtenverhalten, der erste und der zweite Fruchtbarkeitsrückgang (vgl. S. 44 f.), mit ganz unterschiedlichen ge-
8. Nachtrag 2013
139
sellschaftlichen Faktoren und Rahmenbedingungen verknüpft waren. Um nur einige zu nennen: Der erste Geburtenrückgang war mit sinkendem Heiratsalter und einer steigenden Bedeutung der Ehe verbunden, der zweite mit steigendem Heiratsalter, einer starken Zunahme der Scheidungen und des Zusammenlebens unverheirateter Paare. Beim ersten standen kaum Verhütungsmittel zur Verfügung, beim zweiten mit der „Pille“ ein sehr effizientes und von Frauen verwendbares Kontrazeptivum. Der erste war mit der Durchsetzung des „AlleinverdienerHausfrauen-Modells“ verbunden, der zweite mit einer zunehmenden Erwerbstätigkeit auch von verheirateten Frauen und Müttern [357: R. LESTHAEGHE, Demographic Transition, 182]. Dies weist darauf hin, dass in unterschiedlichen historischen Kontexten einzelne gesellschaftliche Faktoren auf verschiedene, ja gegensätzliche Weise das Geburtenverhalten beeinflussen können und dass alle monokausalen Ansätze eher zur Bildung von Mythen führen, als einen Beitrag zur Erklärung dieses komplexen Phänomens zu leisten [369: G. STOCK U. A., Zukunft mit Kindern]. Die Theorie geht davon aus, dass der weltgeschichtliche Übergang zu niedriger Fertilität unumkehrbar ist, auch wenn es im historischen Verlauf und zwischen einzelnen Ländern, Regionen und sozialen Milieus durchaus relevante Variationen gab und weiterhin geben wird [350: J. HUININK/D. KONIETZKA, Familiensoziologie, 114].
Vergleich zwischen erstem und zweitem Geburtenrückgang
Gegensätzliche Wirkung gesellschaftlicher Faktoren
5. Resümee Die beschriebenen demografischen Trends sind Teil eines globalen Wandels. Sie vollziehen sich in den entwickelten Teilen der Welt auf ähnliche Weise, aber zugleich in nationalen und regionalen Variationen. Deutschland zeigt allgemeine und spezifische Züge: Die Geburtenziffern sind hier – wie auch in Österreich und der Schweiz – auf einem deutlich niedrigeren Niveau als etwa in Frankreich, Großbritannien und den nordischen Ländern. Die demografische Alterung verläuft in Deutschland langsamer als etwa in Japan oder China. Der Übergang von einer wachsenden zu einer schrumpfenden Bevölkerung wird sich gegen Ende des Jahrhunderts vermutlich weltweit vollziehen, aber in Westeuropa ist Deutschland früher dabei als einige seiner Nachbarländer. Innerhalb Deutschlands lag das Interesse auf den demografischen Konsequenzen des Zusammenwachsens zweier politisch und wirtschaftlich unterschiedlicher Systeme. Das vereinigte Deutschland zeigt eine komplexe Mischung von regionaler Kontinuität, von Konvergenz und Divergenz. Wesentliche Elemente des demografischen Verhaltens
Spezifik Deutschlands im globalen Wandel
Konvergenz und Divergenz zwischen alten und neuen Ländern
140
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
haben sich angeglichen, aber zugleich bestehen immer noch unterschiedliche Kulturen der Reproduktion mit ihrer eigenen Logik. Die hier beschriebenen Trends beruhen ganz überwiegend auf Forschungen von Sozialwissenschaftlern, unabhängig ob es sich um das Geburten- und Heiratsverhalten handelt oder um die Wechselbeziehungen von Lebensstandard, Lebensstilen und Gesundheitssystem in ihrer Konsequenz für die Lebenserwartung und die Gesundheit im höheren Alter. Mit der Entwicklung langfristiger Perspektiven und mit der historischen Kontextualisierung des demografischen Wandels – in der Realität und im Diskurs – könnten auch Historiker einen wertvollen Beitrag zu seinem besseren Verständnis leisten.
A. Quellen und Daten
141
III. Quellen und Literatur Abkürzungen nach Historische Zeitschrift sowie: APuZ = Aus Politik und Zeitgeschichte BHSK = Beiträge zur historischen Sozialkunde CC = Continuity and Change CPS = Comparative Population Studies – Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft. DemFo = Demografische Forschung. Aus erster Hand DemInfo = Demographische Informationen Hfam = The History of the Family. An International Quarterly HSR = Historical Social Research/Historische Sozialforschung JFH = Journal of Family History MPIDR WP = Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Working Paper PDR = Population and Development Review ZfB = Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft
A. Quellen und Daten 1. W. BÖSER, Ortssippenbücher. Erschließung einer genealogischen Sekundärquelle für die Sozialgeschichtsforschung, in: BlfdtLG 121 (1985) 1–48. 1a. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg.), (Keine) Lust auf Kinder? GEBURTENENTWICKLUNG in Deutschland. Wiesbaden 2012 (www.bib-demografie.de). 1b. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg.), BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG. Daten, Fakten, Trends zum demografischen Wandel. Wiesbaden 2013 (www.bib-demografie.de). 2. W. FISCHER/J. KRENGEL/J. WIETOG, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Bd. I: Materialien zur Geschichte des Deutschen Bundes 1815–1870. München 1982.
142
III. Quellen und Literatur
3. G. HOHORST/J. KOCKA/G. A. RITTER, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Bd. II: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870– 1914. München 1975. 4. W. HUBBARD, Familiengeschichte. Materialien zur Geschichte der deutschen Familie seit dem 18. Jahrhundert. München 1983. 4a. HUMAN FERTILITY DATABASE (www.humanfertility.org). 5. J. KNODEL, Ortssippenbücher als Quelle für die Historische Demographie, in: GG 1 (1975) 288–324. 6. A. KRAUS, Quellen zur Bevölkerungsstatistik Deutschlands 1815– 1875, in: W. KÖLLMANN (Hrsg.), Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815–1875. Bd. 1. Boppard 1980. 7. D. PETZINA/W. ABELSHAUSER/A. FAUST, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Bd. III: Materialien zur Statistik des Deutschen Reichs 1914–1945. München 1978. 8. R. RYTLEWSKI/M. OPP DE HIPT, Die Bundesrepublik Deutschland in Zahlen 1945/1949–1980. München 1987. 9. R. RYTLEWSKI/M. OPP DE HIPT, Die Deutsche Demokratische Republik in Zahlen 1945/1949–1980. München 1987. 10. STATISTISCHES BUNDESAMT (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972. Stuttgart 1972. 11. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), STATISTISCHES JAHRBUCH für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1952 ff. 11a. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), MIKROZENSUS 2008. Neue Daten zur Kinderlosigkeit in Deutschland. Wiesbaden 2009 (www.destatis.de). 11b. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), STATISTISCHES JAHRBUCH 2012. Deutschland und Internationales. Wiesbaden 2012 (www.destatis.de). 11c. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), PERIODENSTERBETAFELN für Deutschland. Allgemeine Sterbetafeln, abgekürzte Sterbetafeln und Sterbetafeln. 1871/1881 bis 2008/2010. Wiesbaden 2012 (www.destatis.de). 11d. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), GEBURTEN IN DEUTSCHLAND. Ausgabe 2012. Wiesbaden 2012 (www.destatis.de). 11e. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), ZENSUS 2011. Ausgewählte Ergebnisse. Tabellenband zur Pressekonferenz am 31. Mai 2013 in Berlin. Wiesbaden 2013 (www.destatis.de). 12. V. WEISS/K. MÜNCHOW, Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Aufl. Neustadt/Aisch 1998.
B. Literatur
143
B. Literatur 1. Forschungsberichte, Wissenschaftsgeschichte, Theorien, Methoden 13. S. BREUER, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001 (Kapitel 7: Bevölkerung und Familie). 14. H. BIRG, Johann Peter Süßmilch und Thomas Robert Malthus – Marksteine der bevölkerungswissenschaftlichen Theorieentwicklung, in: R. Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungstheorie in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main 1989, 53–76. 15. B. vOM BROCKE, Bevölkerungswissenschaft Quo vadis? Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland. Mit einer systematischen Bibliographie. Opladen 1998. 16. W. CONZE (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976. 17. J. CROMM, Bevölkerung – Individuum – Gesellschaft. Theorien und soziale Dimensionen der Fortpflanzung. Opladen 1988. 18. J. EHMER, Eine „deutsche“ Bevölkerungsgeschichte? Gunther Ipsens historisch-soziologische Bevölkerungstheorie, in: DemInfo (1992) 60–70. 19. U. FERDINAND, Das Malthusische Erbe. Entwicklungsstränge der Bevölkerungstheorie im 19. Jahrhundert und deren Einfluß auf die radikale Frauenbewegung in Deutschland. Berlin 1999. 20. S. GREENHALGH, The Social Construction of Population Science: An Intellectual, Institutional, and Political History of TwentiethCentury Demography, in: CSSH (1996) 26–66. 21. S. HEIM, Normative Demographie, in: NPL 47 (2002) 365–370. 22. S. HEIM/U. SCHAZ, Berechnung und Beschwörung. Übervölkerung – Kritik einer Debatte. Berlin 1996. 23. A. E. IMHOF, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie, in: R. Rürup (Hrsg.), Historische Sozialwissenschaft. Göttingen 1977, 16–58.
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III. Quellen und Literatur
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B. Literatur
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III. Quellen und Literatur
3. Übergreifende Darstellungen und Sammelbände zur deutschen Bevölkerungsgeschichte, -theorie und -politik 51. J. CROMM, Familienbildung in Deutschland. Soziodemographische Prozesse, Theorie, Recht und Politik unter besonderer Berücksichtigung der DDR. Opladen 1998. 52. M. FUHRMANN, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts. Paderborn 2002. 53. A. GESTRICH, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999. 54. T. W. GUINNANE, Population and Economy in Germany, 1800– 1990, in: S. Ogilvie/R. Overy (Hrsg.), Germany: A New Social and Economic History. London 2003. 55. H.-G. HAUPT/P. MARSCHALCK (Hrsg.), Städtische Bevölkerungsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Soziale und demographische Aspekte der Urbanisierung. St. Katharinen 1994. 56. M. HUBERT, Deutschland im Wandel. Geschichte der deutschen Bevölkerung seit 1815. Stuttgart 1998. 57. W. KÖLLMANN, Bevölkerung in der industriellen Revolution. Göttingen 1974. 58. W. KÖLLMANN, Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: H. Aubin/ W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. II. Stuttgart 1976, 9–50. 59. W. R. LEE, Germany, in: DERS. (Hrsg.), European Demography and Economic Growth. London 1979, 144–195. 60. P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1984. 61. D. PETZINA/J. REULECKE (Hrsg.), Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft seit der Industrialisierung. Festschrift für Wolfgang Köllmann zum 65. Geburtstag. Dortmund 1990. 62. CH. PFISTER, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500–1800. München 1994. 63. K. SCHWARZ, Rückblick auf eine demographische Revolution. Überleben und Sterben, Kinderzahl, Verheiratung, Haushalte und Familien, Bildungsstand und Erwerbstätigkeit der Bevölkerung in Deutschland im 20. Jahrhundert im Spiegel der Bevölkerungsstatistik, in: ZfB 24 (1999) 229–279.
B. Literatur
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4. Epochenspezifische Darstellungen 4.1 Deutscher Bund und Kaiserreich 1815–1914 64. W. CONZE, Vom ‚Pöbel‘ zum ‚Proletariat‘. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: VSWG 41 (1954) 333–364. 65. J. EHMER, Lohnarbeit und Lebenslauf im Kaiserreich, in: GG 14 (1988) 448–471. 66. H. HARNISCH, Bevölkerungsgeschichtliche Probleme der industriellen Revolution in Deutschland, in: K. Lärmer (Hrsg.), Studien zur Geschichte der Produktivkräfte. Berlin/DDR 1979, 267–339. 67. J. KNODEL, Town and Country in 19th Century Germany: A Review of Urban: Rural Differentials in Demographic Behaviour, in: Social Science History 1 (1977) 356–382. 68. J. KNODEL, Demographic Behaviour in the Past. A study of fourteen German village populations in the 18th and 19th centuries. Cambridge 1988. 69. F. LENGER, Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat. Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816–1878. Göttingen 1986. 70. J. SCHLUMBOHM, Sozialstruktur und Fortpflanzung bei der ländlichen Bevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert. Befunde und Erklärungsansätze zu schichtspezifischen Verhaltensweisen, in: 42, 322–346. 71. R. SPREE, Strukturierte soziale Ungleichheit im Reproduktionsbereich. Zur historischen Analyse ihrer Erscheinungsform in Deutschland 1870 bis 1913, in: J. Bergmann (Hrsg.), Geschichte als politische Wissenschaft. Stuttgart 1979, 55–115. 72. K. TENFELDE, Großstadtjugend in Deutschland vor 1914. Eine historisch-demographische Annäherung, in: VSWG 69 (1982) 182– 218. 73. H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band. München 1987.
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169
Register Personenregister ACKERMANN, V. 79 ADLER, R. K. 100 f., 114 ALTER, G. 108 ALY, G. 13, 62, 72 f. ARANGO, J. 76 Armengaud, A. 39 AVDEEV, A. 111 BADE, K. J. 30, 32, 75, 78 f. BAJOHR, S. 110 f., 117 BARDET, J.-P. 46 BATEN, J. 87, 115 BAYERTZ, K. 68 BECKER, P. 113, 115 BEER, M. 79 Benz, W. 31 BERGHOFF, H. 78 f. BERGMANN, A. 100, 110 BIDEAU, A. 91, 94 BIRG, H. 43, 62 f., 80, 111, 113, 124 BLASIUS, D. 50 BLEEK, S. 84 BOCK, G. 10, 70 f. BÖSER, W. 60 BREUER, S. 68 BROCKE, B. VOM 57, 63, 68 BRYANT, T. 128 Burgdörfer, F. 69 Caselli, G. 40 CASTELL RÜDENHAUSEN, A. Gräfin ZU 90, 105 f. CHESNAIS, J.-C. 106, 109, 119, 121, 125 ff. CHRISTENSEN, K. 134, 136 COALE, A. J. 99, 101 ff., 107, 119 COHEN, M. 115 CONRAD, CH. 112 CONZE, W. 65 f., 122 CORSINI, C. A. 91, 94 ff., 99
CROMM, J. 65, 70, 112 ff., 117, 123 DAVIS, K. 120 DEL FABBRO, R. 78 DETTKE, B. 90 DESJARDIN, B. 91 DIENEL, CH. 110 DUPÂQUIER, J. 46 EDER, F. 110 EHMER, J. 59, 63–68, 77, 82, 113 ff., 128 EHRHARDT, J. 129, 138 EISENMENGER, M. 134 ELKAR, R. 82 EMMERLING, D. 134 ETZEMÜLLER, T. 127 EVANS, R. J. 90 FAHLBUSCH, M. 62 FERDINAND, U. 67 f. FERTIG, G. 63 ff., 75–78, 124 Fischer, E. 62 FLINN, M. 35, 102, 113 FLÜGEL, A. 62 Fogel, R. 34 FREEMAN, L. P. 129 FREVERT, U. 89 Frick, W. 71 FRIES, J. F. 135 FUHRMANN, M. 64, 68 FÜRNKRANZ-PRSKAWITZ, A. 137 GAILUS, M. 60, 74 GALLOWAY, P. R. 109 GEHRMANN, R. 35, 61, 66, 88, 93, 98–104, 114, 123–126 GERLACH, CH. 72 GESTRICH, A. 115 GILLIS, J. R. 108 f. GLÜCK-CHRISTMANN, CH. 107 GREENHALGH, S. 63, 99 f. GRÜNHEID, E. 128
170
Register
GRZYWATZ, B. 107 GUINANNE, T. W. 104–106 HAAR, I. 61, 72 HAGEMANN, K. 110 HAHN, S. 77, 82 HAINES, M. 107 HALL, L. 110 HAMMEL, E. A. 109 Harmsen, H. 69 HARZIG, CH. 77 HAVERKAMP, M. 90 HEIM, S. 62, 65, 72, 77, 124 HEKMA, G. 110 HELBOK, A. 58 HENRY, L. 102 HERBERT, U. 69 f., 73, 78 HIPPEL, W. VON 77 Hitler, A. 11 HOCHSTADT, S. 22, 75, 80–84 HOERDER, D. 76, 79 HOFFMANN, D. 79 HOHORST, G. 104 Honecker, E. 45, 112 HUBBARD, W. 64 HUBERT, M. 19, 61, 67, 70, 114 HUERKAMP, C. 88 HUININK, J. 112, 139 IMHOF, A. E. 32, 57–60, 67, 75, 94 f., 106, 114, 123 Ipsen, G. 59, 122 ISAACS, S. L. 129 JACKSON, J. H. 81 f. Jung, E. 69 Justi, J. H. von 64 KAA, D. J. van de 124 KAMPHOEFNER, W. D. 77 KASCHUBA, W. 60, 96, 100, 113 f., 116 f. KAUPEN-HAAS, H. 71 KESPER-BIERMANN, S. 128 KEYSER, E. 58 KHALATBARI, P. 123 KINTNER, H. J. 94, 98 KLENK, J. 135 KLESSMANN, CH. 81 KLIPPEL, D. 128 KLOKE, J. E. 60, 92–96 KNODEL, J. 60, 65, 92–96, 98–105, 113–117
KOCH, H. 80, 111, 113, 124 Koch, R. 86 KOCKA, J. 128 KOHLI, M. 129 KÖLLMANN, W. 19, 57 ff., 61, 74, 80, 107, 121, 123 KOMLOS, J. 87 KONIETZKA, D. 139 KRAUS, A. 54, 66, 113 KRAUSS, M. 77, 79 KRIEDTE, P. 100 KROLL, J. 68 KRÖNER, H.-P. 68 KULLER, C. 129 LABBÉ, M. 74 LABISCH, A. 88–90 LAMPERT, T. 136 LANGEWIESCHE, D. 81–84 LASLETT, P. 121 LAUX, H.-D. 83 Le Bras, H. 124 LECHNER, M. 112 LEE, R. D. 109 LEE, W. R. 66, 82, 91–96, 115, 125 LENGER, F. 81 f. LENOIR, R. 63 LESTAEGHE, R. 138–139 LEVINE, D. 108 f. LILIENTHAL, G. 118 LINDE, H. 101, 106, 109, 125 LIPP, C. 60, 96, 100, 113 f., 116 f. List, F. 67 LIVI BACCI, M. 105 LÖSCH, N. C. 62 LOURENS, P. 82 LUBINSKI, A. 76–78 LUCASSEN, J. 76 MACKENROTH, G. 66, 113, 121 f. MACKENSEN, R. 62, 68, 84, 106, 109, 111, 119, 121, 123 f., 126, 128 Malthus, T. R. 64, 67 f., 74 MANTL, E. 64, 68 MARSCHALCK, P. 19, 24, 46, 54, 59, 61, 65 f., 70, 74, 77, 82, 91, 93, 97, 100, 105, 114–116, 119, 121, 125 MASSEY, D. S. 76, 79 MATZ, K.-J. 64 f., 116 MATZERATH, H. 83 MAYNES, J. 116 MCKEOWN, T. 86, 88, 90 MCQUILLAN, K. 104, 106
Register MEDICK, H. 60, 66 f., 92, 94–96, 100 f., 104 MICHEL, H. 123 MITTERAUER, M. 114, 117 MOLTMANN, G. 77 MORAWSKA, E. 80 MÜLLER, E. 82 MÜNCHOW, K. M. 60 MÜNZ, R. 79 MURRAY, J. E. 115 NAGLER, J. 79 NOTESTEIN, F. W. 120 f. OBERKROME, W. 61, 72 OBERPENNING, H. 82 OEPPEN, J. 134–135 OEXLE, O. G. 61 OHLIGER, R. 79 OKUN, B. 105 OPP DE HIPT, M. 19 PARNREITER, CH. 76 PERÉZ BRIGNOLI, H. 91 PETERS, W. 132–133 PFISTER, CH. 66, 100, 125 PHILLIPS, R. 50 PINE, L. 110 PLANERT, U. 69 POLLAK, R. A. 108 RAPHAEL, L. 71, 73 REHER, D. 94 REULECKE, J. 90, 128 RIEKER, Y. 78 ROLLET, C. 97 ROSENBAUM, H. 111 ROSENTAL, P.-A. 83 ROTH, K.-H. 73 RYTLEWSKI, R. 19 SACKMANN, R. 111 Schallmayer, W. 68 f. SCHAZ, U. 65, 77 Schieder, W. 57 SCHLUMBOHM, J. 60, 66, 72, 92, 94 ff., 100 ff., 106, 124 SCHOFIELD, R. 60, 94, 125 SCHOMERUS, H. 82, 116 SCHÖTTLER, P. 61 f. SCHRAUT, S. 60, 65, 82, 100, 117 SCHULZE, A. 136 SCHULZE, W. 61
171
SCHWARTZ, M. 69, 79 SCHWARZ, K. 118, 123 SCHWENTKER, B. 128 SCOTT, J. 115 SECCOMBE, W. 110 Sellin, V. 57 SHORTER, E. 115 SIEFERLE, R. P. 64 SILIES, E.-M. 129 SOBOTKA, T. 138 SOKOLL, T. 60 f., 102, 123–125 SONNABEND, H. 77 SPEIGNER, W. 112 SPREE, R. 37, 66, 86, 88–93, 96 ff., 106 f. STAUDINGER, U. M. 128 STEIDL, A. 82 STOCK, G. 139 STÖCKEL, S. 97 STROHMEIER, K.-P. 111 SÜSSMILCH, J. P. 62 f., 122 SZRETER, S. 63, 89, 126 TILLY, L. A. 108 f., 115 TRUSSEL, J. 105 UNGER, R. 136 USBORNE, C. 110, 129 VAUPEL, J. P. 128, 134–135 VIAZZO, P. 91, 94, 96 f., 99 VIENNE, F. 69 Virchow, R. 67 VÖGELE, J. 86–91, 98 WAGNER, A. 92 f., 98 WALKER, M. W. 77 WALLE, E. VAN DE 109, 126 WATKINS, S. C. 99, 101 f., 104, 107 f., 119 WEHLER, H.-U. 64 f., 67 WEIGL, A. 90 WEINGART, P. 68 WEISS, V. 60 Weitling, W. 67 WENNEMANN, A. 78 WERNER, W. 112 WIETOG, J. 74 WINKLER, G. 112 WOYKE, J. 108, 110 WRIGLEY, E. A. 60, 125 WYMANN, M. 80
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Register
Ortsregister Aach 48 Alpenländer 1 Amerika, amerikanische Staaten 28 f. – Lateinamerika 28 – Nordamerika 27, 77, 87, 107, 120 Arnsberg 37 Atlantik 80, 99 Aurich 37 Australien 15 Baden, badische Regionen 9, 37, 65, 93 Baden-Durlach 63 Baden-Württemberg 17, 19 Baltikum 12 Bayern 1, 5, 9, 13, 17, 37, 53, 64 f., 87 f., 92 f., 104, 114, 117 – bayerische Gemeinden 101 – Oberbayern 93 – Niederbayern 101 Belm 48, 92 Berlin 8, 11, 17–19, 20 f., 24 f., 35, 67, 74, 83–85, 93, 107, 123, 132 – Berlin-Brandenburg 9 – Ostberlin 85 – Westberlin 23, 85 Bessarabien 12 Bielefeld 113 Bochum 25 Böhmen 13 – böhmische Länder 1 Brandenburg 8, 18 f., 21 Braunschweig 88, 111, 117 BRD, Bundesrepublik, altes Bundesgebiet 2, 5, 15 f., 18 f., 22–26, 30–34, 38, 44–47, 49, 54 f., 74, 78–81, 84 f., 97, 110, 112 Bremen 28, 105, 132 Breslau 35 Bukowina 12 Charlottenburg 21 Cottbus 85 Dänemark 29 DDR, neue Bundesländer, neues Bundesgebiet, SBZ 2, 5, 15–19, 22 ff., 29, 31, 34, 38, 44–47, 50, 55, 78, 84 f., 97, 112, 123 Dobrudscha 12 Dresden 24, 132
Duisburg 25, 81 Düsseldorf 22, 37, 81 f. Elsass 12, 104 – elsässische Dörfer 48 Elsass-Lothringen 1, 7, 19 Eisenhüttenstadt 85 England 25, 60, 86, 125 Essen 25 Esslingen 65 Europa 7 f., 13–15, 26 f., 34 f., 72, 87, 97, 102, 105–107, 109, 113, 117, 120, 123 – europäischer Kontinent 36, 99 – europäischer Osten 72 Frankfurt/Main 24, 93 Frankfurt/Oder 85 Frankreich 7, 12, 25, 29, 63, 67, 83, 125 Galizien 30 Gelsenkirchen 25 Görlitz 85 Göttingen 100 Greifswald 85 Griechenland 32 Großbritannien 7 ff., 27, 67 Habsburgermonarchie 1, 7, 9, 25, 27 ff. Halle/Saale 85 Hamburg 24, 28, 40, 90, 93 Hannover 4, 8, 111, 114 Hessen 8, 65 Heuchelheim 114 Hohenzollern 19 Holstein 8 Irland 36 Italien 7, 9, 27, 32, 45 Japan 135 Jena 132 Jugoslawien 14 f., 32 f. Kanada 15 Kärnten 12 Kasachstan 33 Kassel 8 Kiebingen 114
Register Kirgisien 33 Köln 13, 24, 35 Königsberg 37 Laichingen 95, 104 Leezen 100 Leipzig 85, 132 Liegnitz 37 London 25 Lothringen 12 Lüneburg 101 Mähren 13 Masuren 20 Mecklenburg 29 Mitteldeutschland 12 f., 18, 114 – mitteldeutsche Regionen 9 Mitteleuropa 113 Moskau 72 Mühleim/Ruhr 25 München 24, 35, 87 Nassau 8 Neubrandenburg 85 Niederlande 29 Neiße 15 Norddeutschland 18, 35, 61, 64 f., 88, 94, 125 – norddeutsche Dörfer 114 – norddeutsche Hafenstädte 20 – norddeutsche Regionen 9, 92 – Nordosten, deutscher 79, 81 – Nordwesten, deutscher 29 Nordrhein-Westfalen 13, 17 – nordrhein-westfälisches Industriegebiet 9 Nordseeraum 76 Norwegen 27 Oberfranken 93 Oberhausen 25 Oberrhein 117 Oder 15 Osnabrück 78 Ostalpenraum 117 – ostalpine Regionen 113 Ostdeutschland, Osten Deutschlands, östlicher Teil Deutschlands, deutsche Ostprovinzen 8, 11 ff., 16 ff., 54, 85, 110, 112 f. – Osten des deutschen Herrschaftsbereichs 14 Osteuropa 12, 27, 33, 62, 72, 79, 111
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– Ostmitteleuropa, ostmitteleuropäische Staaten 15, 72, 79 – Südosteuropa 27 Österreich 11, 14, 25, 31 – österreichische Alpenländer 1 Ostpreußen, Osten Preußens, östliche Provinzen Preußens, ostelbische Provinzen Preußens 1, 8, 19 ff., 29, 37, 81 Paris 25, 83 Pfalz 3, 93 Polen 12, 14 f., 20, 30, 33, 72 – Generalgouvernement 13 – polnische Westgebiete 13 Pommern 8, 19 f., 90 Portugal 27, 32 Posen 1, 8, 19 f. Potsdam 15, 85, 132 Preußen 1, 5, 8 f., 18, 20–24, 29 f., 30, 37, 40, 48, 81, 83, 90, 92 f., 96 f. – preußische Bezirke 37 – preußische Landgemeinden 93 Rheinhessen 3 Rheinland 8, 11, 18, 49 Rheinland-Westfalen 20 – rheinisch-westfälisches Industriegebiet 8 Rheinprovinz, preußische 3, 20 Ruhrgebiet 25, 81, 107 Rumänien 15, 33 Russland, russisches Reich, Zarenreich 7, 27 ff., 33, 36 Rostock 85, 132 Saarland 2, 93, 133 Sachsen 7 ff., 18, 20, 23, 37, 85, 92, 114, 117 Schlesien 19, 114 – Oberschlesien 19 – Niederschlesien 19 Schleswig 8 Schleswig-Holstein 1, 37, 92, 132 Schöneberg 21 Schönmünzach 38 Schwaben 93, 101 – schwäbische Gemeinden 101 Schweden 95, 135 Schwedt/Oder 85 Schweiz 29 Sowjetunion 12, 14, 33 Spanien 9, 27, 32, 36, 45
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Register
Süddeutschland 17 f., 29, 94, 114 – süddeutsche Gemeinden, Pfarren 101, 104 – süddeutsche Staaten 116 – Südwestdeutschland 29 Sudetenland 13 Südsteiermark 12 Südtirol 12 Suhl 85 Tirol 64, 68 Thüringen 85, 114 Tschechoslowakei 11, 15 Türkei 32 f. Ungarn 15, 27, 33 – ungarische Grenze 23
Unterfranken 93 Ural 99 USA, Vereinigte Staaten 15, 27 f., 63, 80, 87 Westdeutschland 12 f., 16, 25, 31, 100, 112 f. Westeuropa 90, 113, 118 Westfalen 8, 11, 18 ff., 77 Westpreußen 1, 8, 20 Wien 25, 82 Wilmersdorf 21 Wolhynien 12 Württemberg 1, 9, 19, 37, 65, 77, 87, 92 – württembergische Regionen 93
Sachregister Abtreibung 70, 110 Abwanderung, Abwanderer 17, 20, 32 ff., 79–82, 132 Afrikaner 33 Aids 41 Alter, hohes, höheres, „drittes“ 34, 41, 53 f., 92, 105, 118, 121, 133–135 – Altenanteil 53 ff. Altersstruktur 36, 40, 53–56, 131 f. Angestellte 97, 107 Angolaner 78 Anthropometrie 87 f. Antinatalismus 10, 68, 70 Arbeiter, Arbeiterin, Arbeiterschaft, Proletariat 37, 64, 66, 97, 101, 107, 116 f. – Arbeiterquartiere, -milieus, -viertel 37, 39, 111, 115 – Bergarbeiter 107 – Facharbeiter 107 Arbeitsmigration, -wanderung, Arbeitsmigrant, -wanderer 29–32, 78, 81 f., 102 Arzt, Ärzte, Ärztedichte 38 ff., 67, 68, 88 f., 91, 98 f. „Asoziale“ 69 Assanierung s. Stadtassanierung Asylwerber, -suchender 33 f. Ausland, Ausländer, -anteil 17, 21, 23, 29–32, 78 ff., 130
– Ausländerbeschäftigung 78 – Ausländerpolitik 78 f. Aussiedler 13, 30 f., 33, 79 Auswanderung, Emigration, Auswanderer, Emigrant 9, 23, 26–30, 54, 77–80 – Auswanderungsland, -region 9, 26, 29, 77 f. – Auswanderungspolitik 33 – überseeische Auswanderung, Überseemigration, -wanderung 27 f., 30, 77, 79, 81 „Babyboom“ 16, 44, 51 f., 111, 133, 137 Bauern, bäuerliche Oberschicht, dörfliche Oberschicht 27, 29, 96, 103, 106 – bäuerlicher Familienbetrieb, bäuerliche Gesellschaft 76, 82, 116 f. Beamter, Beamtenschaft 38, 97, 105, 107 Blattern s. Pocken Bevölkerungsbewegung, -entwicklung 4, 61, 120, 124, 130–133 – Bevölkerungsrückgang, -verlust 16, 85, 124, 130–133 – Bevölkerungsverschiebung 11, 22 f., 33, 72 – Bevölkerungswachstum, -vermeh-
Register rung, -zunahme 6–10, 16 f., 24, 33, 63–67, 74, 119–122, 124 ff., 130, 132 – „natürliche“ Bevölkerungsbewegung, -vermehrung 3 f., 9, 16, 18 Bevölkerungslehre, -theorie 67, 74, 119 ff. Bevölkerungspolitik, bevölkerungspolitischer Diskurs 10, 61–65, 67 f., 69 ff., 110, 112 – nationalsozialistische Bevölkerungspolitik 10 f., 14, 62, 69–74, 77 Bevölkerungsprognose 124 Bevölkerungsstatistik 5, 58, 66 Bevölkerungsstruktur 4, 11, 74 Bevölkerungsweise 74, 122, 124, 126 – „agrarische Bevölkerungsweise“ 113, 121 f. Bevölkerungswissenschaft 57, 61 ff., 68 f., 123, 128 f. Binnenmigration, -wanderung 9, 19– 23, 26, 80 ff., 84, 118 – in der DDR 84 f. – Ost-West-Wanderung 20, 23, 81 – Stadt-Land-Wanderung 82 Biologismus, biologistisches Denken 68 f., 102 Cambridge Group for the History of Population 60 Cholera 35, 40, 90 Demographischer Übergang s. Transition, demographische Demografischer Wandel 127–140 Deportation 12, 72, 74 Dienstboten s. Gesinde Diphtherie 39, 41, 86 Displaced Person 14 f., 28 Dorfstudien s. Lokalstudien Ehebeschränkung, -verbot, Heiratsbeschränkung, -verbot 63 ff., 68, 70 f., 116 f., 122 – politischer Ehekonsens 64 f. Ehescheidung, Scheidung 3, 48–51 Eheschließung, Heirat, Heiratsverhalten 3 f., 46 f., 51 f., 61, 64, 84, 112, 115 ff., 126 f. Einwanderung, Immigration, Einwanderer, Immigrant 11, 16, 26–33, 54 f., 78 ff. – Einwanderungsbeschränkung 28
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– Einwanderungsland 16, 26, 29, 78, 132 – Einwanderungspolitik 78 Emigration s. Auswanderung Empfängnisverhütung, Empfängnisverhütungsmittel, empfängnisverhütende Praktiken, Antikonzeption, Kontrazeption 68, 106, 108 f., 111, 118, 120 – „Pille“ 45, 111 Epidemie, Seuche 9, 35, 39, 41, 90, 95 – epidemiologische Transition 41 Ernährung, Ernährungslage 39, 86 f., 72, 91, 98, 102 Erster Weltkrieg 7, 10 f., 15, 19, 21 f., 25 f., 28, 30, 36, 38, 44, 50, 53, 59, 81, 107 European Marriage Pattern 47, 116 Euthanasie 14, 68 Familiengröße 136 f. Familienplanung s. Geburtenbeschränkung Familienpolitik 45, 71, 112 Familienrekonstitution 6 Fernwanderung, -wanderer 19 ff. Fertilität s. Fruchtbarkeit Fertilitätsrückgang, Fruchtbarkeitsrückgang s. Geburtenbeschränkung Flucht, Flüchtling, Flüchtlingsströme 11 ff., 15, 23, 28, 30–33, 54, 79 Franzosen 12 Fruchtbarkeit 9 f., 16, 18, 41 f., 45 ff., 53, 61, 83, 98–113, 118–127, 130 f., 136–139 – eheliche Fruchtbarkeit 101–105, 107 – „natürliche“ Fruchtbarkeit 102 – konfessionelle Varianz der F. 104, 106 – regionale Varianz der F. 101 f., 104 f. – soziale Varianz der F. 103, 105, 106 Gastarbeiter, – immigration 31 ff., 79 Gebärverhalten s. Fruchtbarkeit Geburtenbeschränkung, -kontrolle, -rückgang 10 f., 41, 44 ff., 53, 69, 98–102, 104–112, 120–125 Geburtenbilanz 16, 20 – Geburtenausfall, -defizit 11, 13, 16 – Geburtenüberschuss 9 f., 16, 18, 83 Geburtenrate, -ziffer s. Fruchtbarkeit
176
Register
Generative Struktur 121 ff., 126 Geschiedene, Geschiedenenanteil 50, 118 Geschlechtergeschichte 110 Geschlechterbeziehungen, -rollen 50, 56, 95 Gesinde, -dienst, -personen 82, 97, 117 Gesundheit, Gesundheitsverhältnisse 39, 87 ff., 91, 135 – Gesundheitsbewusstsein 39 f., 88 – Gesundheitsmaßnahmen, -politik, -reform, -wesen 39 f., 67, 71, 89, 109 Großstädte 13, 20 f., 24 ff., 37, 84 f., 90, 98, 107 – Großstadtwachstum 25 Handwerker, Handwerksgesellen, handwerkliche Traditionen 29, 82, 116 Heirat, Heiratsverhalten s. Eheschließung Heiratsbeschränkung, -verbot s. Ehebeschränkung Heiratsalter 47 f., 51 f., 66, 102 f., 106, 116 f., 131, 138–139 Homosexuelle 14, 69 Hunger, -tod, Hungersjahre, -nöte 9, 35 f., 41, 66, 72, 95 Hygiene 39 f., 91, 98 – Hygienebewusstsein 88, 98 Illegitimität s. Unehelichkeit Immigration s. Einwanderung Impfung 39, 88 f., 98 Industriegemeinde, -ort, -region, -stadt, -zentrum 17, 20 f., 24 f., 37, 82 f., 85 Italiener 32, 78 Juden 5, 11 f., 14, 69, 72 ff. Jugoslawen 32 Katholiken, Katholizismus, katholische Kirche 3, 104 Kettenwanderung 77 Kinderkrankheiten, -sterblichkeit 37 ff., 42, 53, 91 Kinderlosigkeit, kinderlose Paare 112 f., 137 Kinderwunsch 10 f., 42, 45, 108, 110, 112, 136
Kirchenbücher 3, 5 f., 59, 74 f., 100, 127 Kleinbürgertum 107 Kleinstädte, Mittelstädte 25 f. Konfession, Religion 95, 104, 106 Körpergröße 87 Kranke, Krankheiten, Erkrankungen 39 f., 41, 69, 87, 89 f., 99 Krankenhaus 89 Lebenserwartung 5, 34, 36 ff., 40, 50, 53 ff., 60, 66, 88, 95, 118, 121, 132– 136 Lebensgemeinschaft 51, 118 Lebensstandard 39 f., 66 f., 86 f., 91, 95, 98, 108, 121 Ledige, Ledigenstand, Ledigenanteil 47 f., 116 f. Lokalstudien, Dorfstudien, Mikrostudien, mikrogeschichtliche Studien 3, 60 f., 100–104, 109, 111 – erbbiologische Lokalstudien 6, 59 Lutheraner s. Protestanten Masern 41 Medikalisierung 88 Medizin 38 f., 68, 86, 88, 98 f. – medizinische Versorgung 91, 124 Migrant, Migration 12, 19–23, 29, 77, 81 f., 126 f. – Migrationspolitik 30, 78 f. – Migrationsraten 21 ff., 81, 83 – Migrationstypen, -systeme 76, 79 Migrationsforschung 65, 74–79, 83 Mikrogeschichte 59 f. Mikrostudien, mikrogeschichtliche Studien s. Lokalstudien Mikrozensus 5 Minderheiten 5, 15, 20, 69, 81 Mittelschicht 107 Mittelstädte s. Kleinstädte Mobilität s. Migration Mobilitätskennziffern, -raten s. Migrationsraten Mortalität s. Sterblichkeit Nahwanderung 19 f., 29, 81 Nürnberger Gesetze, Rassengesetze 5, 14, 73 Oberschicht, höhere Schicht, höhere Bildungsschicht 96, 103, 106 Ortssippenbücher 6, 59 f., 100
Register Österreicher 14 Pauperismus, -debatte 64, 66 ff. Pendelwanderung 79 f. Pfarrregister s. Kirchenbücher Pocken 39, 41, 88 f., 98 Polen 72, 78 Populationistik, Populationsoptimismus 63, 67 Princeton Project on European Fertility 99, 101, 104, 109, 125 Princeton University 109, 119 Proletariat s. Arbeiterschaft Pronatalismus, pronatalistische Maßnahmen 10, 68, 70 Protestanten, protestantische Kirchen, Lutheraner 3, 104 Rassenhygiene 68 f., 72 f. Rassenpolitik, rassistische Politik, Rassismus 6, 13, 71 ff. Rechte, reproduktive 129 Reformen, sanitäre 86, 89 f., 98 Religion, Religiosität s. Konfession Roma und Sinti, „Zigeuner“ 14, 69 Rückwanderer, -wanderung 11, 30 f., 80 Ruhr 41 Ruthenen 30 Saisonarbeit, -arbeiter 30, 82 Säuberung, ethnische 12, 15 Säuglingsbetreuung, -fürsorge, -pflege 98 Säuglingssterblichkeit 35, 37 f., 40, 42, 53, 60, 91–98, 101, 115, 118, 133 Scheidung s. Ehescheidung Seelenbeschreibungen 4 Seuchen s. Epidemien Sexualität, Sexualverhalten, sexuelle Beziehungen 51 f., 70, 100, 108, 110 f., 113, 115, 117 – Sexualberatung 68, 110 – sexuelle Kulturen 110 Siedlungstypen 83 Slawen, slawische Minderheiten 69 Slowenen 12 Staatsinterventionismus s. Bevölkerungspolitik Stadtassanierung 90 Städtewachstum 83 Sterberate, -ziffer s. Sterblichkeit Sterblichkeit, Sterbefälle 3 f., 9 ff.,
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13, 16, 18, 34 ff., 39 f., 53, 60, 66 f., 86–91, 97, 99, 119–127, 131, 133 f. Sterblichkeitsrückgang 34 f., 38 f., 41, 119 f., 124 f. Stillen, Stillverhalten, -gewohnheiten, praktiken 40, 94–98, 101 f., 105 Todesursachen 39, 41, 86 f., 90 Transition, demographische 36, 118– 127 – Zweite demographische Transition 124, 138 Tschechen 30 Tuberkulose, Tbc 41, 86, 90 f. Türken 32, 78 Typhus 41, 90 Überbevölkerung, Übervölkerung, Übervölkerungsdiskurs 58, 63 ff., 66 ff., 72, 76 f. Ukrainer 30 Unehelichkeit, uneheliche Geburten, Illegitimität 46, 52 f., 65, 97, 106, 114, 115–118, 138 Ungleichheit, geschlechtsspezifische, soziale 136 Unterschichten, untere Schichten 63 f., 66, 91, 96, 100, 103 – unterbäuerliche Schichten, ländliche Unterschichten 66, 103 Urbanisierung 109, 115, 121, 125 f. Urban Penalty 91 Verhütungsmittel, Kontrazeptivum 139 Vernichtungspolitik, -krieg 6, 14, 62, 73 – Vernichtungslager 13 f., 72 Verstädterung, Verstädterungsprozess 19, 23 ff., 82 f. Vertreibung, Vertriebene 12, 15, 28, 30 ff., 79 Vietnamesen 78 Volksgeschichte, Volksforschung 58, 61 f., 72 „Volkskörper“, Volkskörperforschung 58 f., 71 Volkszählung, Volkszählungslisten 3– 6, 15, 19, 31, 73 f., 106, 130 Wanderung s. Migration – Gesellenwanderung 82 – Wanderarbeiter s. Arbeitsmigration
178
Register
– Wanderhandel 82 Wanderungseffektivität, -gewinne, -verluste, -volumen 16, 20, 34, 81– 84, 132–133 Wanderungstheorie 76 Wissenschaftsgeschichte 58 Wohnverhältnisse, -baupolitik 39, 85, 90 f. Zeugen Jehovas 14
„Zigeuner“ s. Roma und Sinti Zivilstandsregister 3 Zuwanderer, Zuwanderung 9 f., 16 f., 20–23, 29–34, 79–84, 100 – Beschränkung der Zuwanderung 34 Zwangsarbeit, -arbeiter 12, 14 Zwangsmigration 12 Zweiter Weltkrieg 2, 5, 10, 12, 14, 22, 25 f., 28, 33, 44, 48, 50, 52, 54, 98, 108, 111, 116
Themen und Autoren
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Enzyklopädie deutscher Geschichte Themen und Autoren Mittelalter Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter (Werner Rösener) 1992. EdG 13 Adel, Rittertum und Ministerialität im Mittelalter (Werner Hechberger) 2. Aufl. 2010. EdG 72 Die Stadt im Mittelalter (Frank Hirschmann) 2009. EdG 84 Die Armen im Mittelalter (Otto Gerhard Oexle) Frauen- und Geschlechtergeschichte des Mittelalters (N. N.) Die Juden im mittelalterlichen Reich (Michael Toch) 3., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2013. EdG 44
Gesellschaft
Wirtschaftlicher Wandel und Wirtschaftspolitik im Mittelalter (Michael Rothmann)
Wirtschaft
Wissen als soziales System im Frühen und Hochmittelalter (Johannes Fried) Die geistige Kultur im späteren Mittelalter (Johannes Helmrath) Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters (Werner Paravicini) 3., um einen Nachtrag erw. Auflage 2011. EdG 32
Kultur, Alltag, Mentalitäten
Die mittelalterliche Kirche (Michael Borgolte) 2. Aufl. 2004. EdG 17 Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter (Arnold Angenendt) 2. Aufl. 2004. EdG 68
Religion und Kirche
Politik, Staat, Die Germanen (Walter Pohl) 2. Aufl. 2004. EdG 57 Verfassung Das römische Erbe und das Merowingerreich (Reinhold Kaiser) 3., überarb. u. erw. Aufl. 2004. EdG 26 Die Herrschaften der Karolinger 714–911 (Jörg W. Busch) 2011 EdG 88 Die Entstehung des Deutschen Reiches (Joachim Ehlers) 4. Aufl. 2012. EdG 31 Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert (Egon Boshof) 3., aktual. und um einen Nachtrag erw. Aufl. 2010. EdG 27 Der Investiturstreit (Wilfried Hartmann) 3., überarb. u. erw. Aufl. 2007. EdG 21 Könige und Fürsten, Kaiser und Papst im 12. Jahrhundert (Bernhard Schimmelpfennig) 2. Aufl. 2010. EdG 37 Deutschland und seine Nachbarn 1200–1500 (Dieter Berg) 1996. EdG 40 Die kirchliche Krise des Spätmittelalters (Heribert Müller) 2012. EdG 90 König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter (Karl-Friedrich Krieger) 2., durchges. Aufl. 2005. EdG 14 Fürstliche Herrschaft und Territorien im späten Mittelalter (Ernst Schubert) 2. Aufl. 2006. EdG 35
Frühe Neuzeit Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800 (Christian Pfister) 2. Aufl. 2007. EdG 28 Migration in der Frühen Neuzeit (Matthias Asche)
Gesellschaft
180
Themen und Autoren
Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit (Reinhold Reith) 2011 EdG 89 Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg (André Holenstein) 1996. EdG 38 Bauern 1648–1806 (Werner Troßbach) 1992. EdG 19 Adel in der Frühen Neuzeit (Rudolf Endres) 1993. EdG 18 Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit (Rainer A. Müller) 2. Aufl. 2004. EdG 33 Die Stadt in der Frühen Neuzeit (Heinz Schilling) 2. Aufl. 2004. EdG 24 Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Wolfgang von Hippel) 1995. EdG 34 Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800 (Peter Blickle) 3., aktual. und erw. Aufl. 2012. EdG 1 Frauen- und Geschlechtergeschichte 1500–1800 (Andreas Rutz) Die deutschen Juden vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (J. Friedrich Battenberg) 2001. EdG 60 Wirtschaft
Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert (Franz Mathis) 1992. EdG 11 Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800 (Rainer Gömmel) 1998. EdG 46 Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit (Walter Achilles) 1991. EdG 10 Gewerbe in der Frühen Neuzeit (Wilfried Reininghaus) 1990. EdG 3 Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit (Michael North) 2000. EdG 59
Kultur, Alltag, Mentalitäten
Renaissance und Humanismus (Ulrich Muhlack) Medien in der Frühen Neuzeit (Andreas Würgler) 2., durchgesehene Aufl. 2013. EdG 85 Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (Notker Hammerstein) 2003. EdG 64 Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650–1800 (Anton Schindling) 2. Aufl. 1999. EdG 30 Die Aufklärung (Winfried Müller) 2002. EdG 61 Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der Frühen Neuzeit (Bernd Roeck) 2., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2011. EdG 9 Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit (Robert von Friedeburg) 2002. EdG 62
Religion und Kirche
Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung (Olaf Mörke) 2., aktualisierte Aufl. 2011. EdG 74 Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (Heinrich Richard Schmidt) 1992. EdG 12 Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert (Michael Maurer) 1999. EdG 51 Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit (Hans-Jürgen Goertz) 1993. EdG 20
Politik, Staat, Verfassung
Das Reich in der Frühen Neuzeit (Helmut Neuhaus) 2. Aufl. 2003. EdG 42 Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit (Joachim Bahlcke). 2012. EDG 91 Die Landständische Verfassung (Kersten Krüger) 2003. EdG 67 Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus (Walter Demel) 2., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2010. EdG 23 Kriegswesen, Herrschaft und Gesellschaft 1300–1800 (Bernhard R. Kroener) 2013. EdG 92
Themen und Autoren
181
Das Reich im Kampf um die Hegemonie in Europa 1521–1648 (Alfred Kohler) 1990. EdG 6 Altes Reich und europäische Staatenwelt 1648–1806 (Heinz Duchhardt) 1990. EdG 4
Staatensystem, internationale Beziehungen
19. und 20. Jahrhundert Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2010 (Josef Ehmer) 2., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2013. EdG 71 Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert (Jochen Oltmer) 2. Aufl. 2013. EdG 86 Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Frank Uekötter) 2007. EdG 81 Adel im 19. und 20. Jahrhundert (Heinz Reif) 2., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2012. EdG 55 Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert (Andreas Gestrich) 3., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2013. EdG 50 Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert (Christoph Bernhardt) Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (Lothar Gall) 2., aktual. Aufl. 2012. EdG 25 Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert (Günter Schulz) 2000. EdG 54 Die Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Gerhard Schildt) 1996. EdG 36 Frauen- und Geschlechtergeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Gisela Mettele) Die Juden in Deutschland 1780–1918 (Shulamit Volkov) 2. Aufl. 2000. EdG 16 Die deutschen Juden 1914–1945 (Moshe Zimmermann) 1997. EdG 43 Pazifismus im 19. und 20. Jahrhundert (Benjamin Ziemann)
Gesellschaft
Wirtschaft Die Industrielle Revolution in Deutschland (Hans-Werner Hahn) 3., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2011. EdG 49 Die deutsche Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Wilfried Feldenkirchen) 1998. EdG 47 Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. Jahrhundert (Clemens Zimmermann) Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Ulrich Kluge) 2005. EdG 73 Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (Toni Pierenkemper) 2., um einen Nachtrag erw. Auflage 2007. EdG 29 Handel und Verkehr im 19. Jahrhundert (Karl Heinrich Kaufhold) Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert (Christopher Kopper) 2002. EdG 63 Banken und Versicherungen im 19. und 20. Jahrhundert (Eckhard Wandel) 1998. EdG 45 Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Christian Kleinschmidt) 2007. EdG 79 Unternehmensgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Werner Plumpe) Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Rudolf Boch) 2004. EdG 70 Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Gerold Ambrosius) 1990. EdG 7
182 Kultur, Alltag und Mentalitäten
Themen und Autoren
Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (Hans-Christof Kraus) 2008. EdG 82 Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert (Frank-Lothar Kroll) 2003. EdG 65 Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (Andreas Schulz) 2005. EdG 75 Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert (Wolfgang Kaschuba) 1990. EdG 5
Religion und Kirche
Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Gerhard Besier) 1998. EdG 48 Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Gerhard Besier) 2000. EdG 56
Politik, Staat, Verfassung
Der Deutsche Bund 1815–1866 (Jürgen Müller) 2006. EdG 78 Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815–1871 (Elisabeth Fehrenbach) 2., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2007. EdG 22 Politik im deutschen Kaiserreich (Hans-Peter Ullmann) 2., durchges. Aufl. 2005. EdG 52 Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft (Andreas Wirsching) 2., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2008. EdG 58 Nationalsozialistische Herrschaft (Ulrich von Hehl) 2. Aufl. 2001. EdG 39 Die Bundesrepublik Deutschland. Verfassung, Parlament und Parteien (Adolf M. Birke) 2. Aufl. mit Ergänzungen von Udo Wengst 2010. EdG 41 Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Ralf Pröve) 2006. EdG 77 Militär, Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Bernhard R. Kroener) 2011. EdG 87 Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90 (Axel Schildt) 2007. EdG 80 Die Sozialgeschichte der DDR (Arnd Bauerkämper) 2005. EdG 76 Die Innenpolitik der DDR (Günther Heydemann) 2003. EdG 66
Staatensystem, internationale Beziehungen
Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871 (Anselm Doering-Manteuffel) 3., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2010. EdG 15 Deutsche Außenpolitik 1871–1918 (Klaus Hildebrand) 2. Aufl. 1994. EdG 2 Die Außenpolitik der Weimarer Republik (Gottfried Niedhart) 3., aktualisierte und um einen Nachtrag erw. Aufl. 2013. EdG 53 Die Außenpolitik des Dritten Reiches (Marie-Luise Recker) 2., um einen Nachtrag erw. Aufl. 2009. EdG 8 Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990 (Ulrich Lappenküper) 2008. EdG 83 Die Außenpolitik der DDR (Joachim Scholtyseck) 2003. EDG 69 Hervorgehobene Titel sind bereits erschienen. Stand: September 2013