Vom Anfang Und Ende: Leben Zwischen Geburt Und Tod (Klostermann Rotereihe) (German Edition) [2020 ed.] 3465044304, 9783465044307

Wir wurden geboren, und wir werden sterben. Geburt und Tod gehoren zu unserem Leben. In ganz unterschiedlichen Formen un

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German Pages 234 [235] Year 2020

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Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Das Leben zwischen Geburt und Tod
1. Das Leben von seinen Fluchtpunkten her verstehen
1.1 Zwei Eckpunkte
1.2 Das methodische Dilemma
1.3 Selbstbezug und Sozialität
1.4 Lebensstufen
1.5 Der Spannungsbogen des Lebens
1.6 Historischer Wandel und conditio humana
II. Geburt
2. Die Gebürtigkeit des Menschen
2.1 Geburtsvergessenheit
2.2 Sich von der Geburt her verstehen
2.3 Entzug und Erschließung der Geburt
3. Der Anfang des Lebens
3.1 Das Urereignis der Geburt
3.2 Das Anfangen im Handeln und Sprechen
3.3 Jenseits des Tuns und Könnens – Anfang der Geschichte
4. Die nachträgliche Aneignung und Sinnstiftung der Geburt
4.1 Der uneinholbare Anfang – Anfangen und Angefangenhaben
4.2 Die Geburt als Last und Geschenk
4.3 Sinnhafte Anverwandlung des Anfangs
5. Die Geburt und die Anderen
5.1 Sozialität der Geburt
5.2 Elternschaft
5.3 Die Kette der Generationen
6. Die Kindheit und der Weg ins Leben
6.1 Anfang und Entwicklung
6.2 Kindheitserinnerung und Glücksversprechen
6.3 Das Bild der Kindheit
6.4 Der zweifache Übergang
III. Alter(n)
7. Sich vom Ende her verstehen – Alter und Tod
8. Lebensphase Alter
8.1 Das Alter als Teil des Lebens
8.2 Erfahrung des Alters
8.3 Vom Zwiespalt des Alters
9. Das Alter als Verlust und Leiden
9.1 Zeitknappheit und Zukunftsschwund
9.2 Verlust und Trennung
9.3 Leiden und Krankheit
9.4 Vergessen und Vergessenwerden
10. Die Kunst des Alterns
10.1 Das ambivalente Bild des Alters
10.2 Jenseits des Verlusts
10.3 Sinngestalt des Lebens und Erinnerung
10.4 Identität und Selbstgegenwart
10.5 Abschied und Ausblick
IV. Sterben und Tod
11. Die Anwesenheit des Todes im Leben
11.1 Das Ineinander von Leben und Tod
11.2 Die Sterblichkeit der Menschen und der eigene, nahe Tod
12. Das Wissen vom Tod
12.1 Bewusstsein des Todes – Grenzen der Erkenntnis und Beschreibung
12.2 Todesbilder
13. Der Tod als Übel
13.1 Die Gegnerschaft des Todes zum Leben
13.2 Verlust der Zeit, der Zukunft, der Möglichkeiten
13.3 Verlust des Sinns
13.4 Verlust des Selbst, Angst vor dem Nichts
13.5 Wandel der Todesbilder
14. Die Kunst des Sterbens
14.1 Der eigene Tod
14.2 Selbstgegenwart angesichts des Todes
14.3 Sterben lernen
14.4 Das unvertretbare Sein zum Tode
14.5 Ganzheit und Selbstgegenwart
14.6 Gutes Sterben
15. Der Tod und die Anderen
15.1 Der eigene und der fremde Tod
15.2 Die Einsamkeit des Sterbens
15.3 Der Tod des Anderen
15.4 Die Trauer um den Verlust des Anderen
15.5 Sterben und das Sein mit Anderen
16. Schluss
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Vom Anfang Und Ende: Leben Zwischen Geburt Und Tod (Klostermann Rotereihe) (German Edition) [2020 ed.]
 3465044304, 9783465044307

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Emil Angehrn Vom Anfang und Ende

RoteReihe Klostermann

Leben zwischen Geburt und Tod

Emil Angehrn  ·  Vom Anfang und Ende

Emil Angehrn

Vom Anfang und Ende Leben zwischen Geburt und Tod

KlostermannRoteReihe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar. Originalausgabe © 2020 · Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder s­ onstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer ­Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf Eos Werkdruck der Firma Salzer, alterungsbeständig  ISO 9706. Satz:  mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim Druck und Bindung:  docupoint, Barleben Printed in Germany ISSN  1865-7095 ISBN  978-3-465-04430-7

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I.

Das Leben zwischen Geburt und Tod

1.

Das Leben von den Fluchtpunkten her verstehen . . . . . . . . . . 15

1.1 Zwei Eckpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Das methodische Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Selbstbezug und Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4 Lebensstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.5 Der Spannungsbogen des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.6 Historischer Wandel und conditio humana . . . . . . . . . . . 23

II.

Geburt

2.

Die Gebürtigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

2.1 Geburtsvergessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2 Sich von der Geburt her verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.3 Entzug und Erschließung der Geburt . . . . . . . . . . . . . . . 31

3.

Der Anfang des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

3.1 Das Urereignis der Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.2 Das Anfangen im Handeln und Sprechen . . . . . . . . . . . . . 39 3.3 Jenseits des Tuns und Könnens – Anfang der Geschichte . 42

Inhalt

6

4.

Die nachträgliche Aneignung und Sinnstiftung der Geburt . . 47

4.1 Der uneinholbare Anfang – Anfangen und Angefangenhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.2 Die Geburt als Last und Geschenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.3 Sinnhafte Anverwandlung des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . 55

5.

Die Geburt und die Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

5.1 Sozialität der Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.2 Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 5.3 Die Kette der Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

6.

Die Kindheit und der Weg ins Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

6.1 Anfang und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 6.2 Kindheitserinnerung und Glücksversprechen . . . . . . . . . 80 6.3 Das Bild der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6.4 Der zweifache Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

III. Alter(n) 7.

Sich vom Ende her verstehen – Alter und Tod . . . . . . . . . . . . 93

8.

Lebensphase Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

8.1 Das Alter als Teil des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 8.2 Erfahrung des Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 8.3 Vom Zwiespalt des Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

9.

Das Alter als Verlust und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

9.1 Zeitknappheit und Zukunftsschwund . . . . . . . . . . . . . . . . 105 9.2 Verlust und Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 9.3 Leiden und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 9.4 Vergessen und Vergessenwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Inhalt

7

10. Die Kunst des Alterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 10.1 Das ambivalente Bild des Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 10.2 Jenseits des Verlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 10.3 Sinngestalt des Lebens und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . 125 10.4 Identität und Selbstgegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 10.5 Abschied und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

IV. Sterben und Tod 11. Die Anwesenheit des Todes im Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 11.1 Das Ineinander von Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 11.2 Die Sterblichkeit der Menschen und der eigene, nahe Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

12. Das Wissen vom Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 12.1 Bewusstsein des Todes – Grenzen der Erkenntnis und Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 12.2 Todesbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

13. Der Tod als Übel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 13.1 Die Gegnerschaft des Todes zum Leben . . . . . . . . . . . . . . 159 13.2 Verlust der Zeit, der Zukunft, der Möglichkeiten . . . . . . 160 13.3 Verlust des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 13.4 Verlust des Selbst, Angst vor dem Nichts . . . . . . . . . . . . . 164 13.5 Wandel der Todesbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

14. Die Kunst des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 14.1 Der eigene Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 14.2 Selbstgegenwart angesichts des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . 173 14.3 Sterben lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 14.4 Das unvertretbare Sein zum Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

8

Inhalt

14.5 Ganzheit und Selbstgegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 14.6 Gutes Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (a) Gelassenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (b) Loslassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (c) Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (d) Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (e) Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (f)  Ästhetisierung des Sterbens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

15. Der Tod und die Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 15.1 Der eigene und der fremde Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 15.2 Die Einsamkeit des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 15.3 Der Tod des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 15.4 Die Trauer um den Verlust des Anderen . . . . . . . . . . . . . . 207 15.5 Sterben und das Sein mit Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

16. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Einleitung Wir wurden geboren, und wir werden sterben. Mit der Geburt hat unser Leben begonnen, mit dem Tod wird es zu Ende gehen. Geburt und Tod umgrenzen unser Sein auf der Welt. Doch sind sie mehr als Anfang und Ende eines zeitlichen Verlaufs. Sie sind ein Teil unseres Lebens, ein Teil dessen, was wir sind. Zu unserem Leben gehört, dass wir von einem Anfang herkommen und auf ein Ende zugehen, dass wir in das Leben hineingekommen sind und dass wir es schließlich verlassen. Geburt und Tod sind nicht nur äußerste Eckpunkte, gleichsam Grenzwerte, sondern wesentliche Bestandteile, die unser Dasein in dem, was es für uns ist und uns bedeutet, mit ausmachen. Sie bilden den Spannungsbogen unseres Lebens, das sich zwischen ihnen entfaltet. Wir verstehen uns von beiden her, unser Leben steht im Zeichen des Geborenseins und des Sterbenmüssens – auch wenn beide in unserem Alltag zumeist kein Thema sind. Unser Leben ist nicht einfach ein vitales Geschehen oder praktisches Tätigsein, sondern in einem wesentlichen Sinne ein selbst­ bezüglicher, reflexiver Vollzug: Wir vollziehen unser Leben so, dass wir uns immer auch über uns und über unser Leben verständigen. Wir fragen danach, wer wir sind und was wir sein wollen, woher wir kommen und wohin wir gehen, was der Sinn unseres Lebens ist. Wir blicken auf unser Leben zurück und voraus in die Zukunft, und wir führen unser Leben im Horizont des Bildes, das wir uns von uns und von unserem Leben machen. Solche Selbstverständigung geschieht einerseits in der Besinnung auf das, was uns wesentlich ist und unser Selbst ausmacht, auf die Selbstdefinitionen, unter die wir uns stellen, die Ziele, die wir verfolgen, und die Werte, die wir vertreten. Und sie geschieht andererseits im Blick auf den faktischen Lebenslauf, der uns geprägt hat, auf unsere Herkunft und unsere Geschichte, aus der uns die bestimmte Identität, die uns von

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Einleitung

anderen unterscheidet, zugewachsen ist. Solche Besinnung auf den Lebensverlauf vollzieht sich typischerweise in biographischen und autobiographischen Lebensbeschreibungen, in denen allerdings jene zwei äußersten Eckpunkte des Lebens, Geburt und Sterben, normalerweise nicht in herausgehobener Weise zum Gegenstand werden. Man mag darin einen Reflex dessen sehen, dass sie auch im aktuellen Leben, aus verschiedenen Gründen, weithin abwesend, nicht von sich aus thematisch sind. Während das Thema Geburt nicht in den Blick einer nach vorne gerichteten Lebensdynamik kommt, sind Sterben und Tod nicht einfach als entfernte Zukunft noch abwesend, sondern zugleich durch ihre Widerstrebigkeit gegen das Leben, das den Tod flieht, ihn nicht wahrhaben will, aus der Wahrnehmung des Lebenden verdrängt. Wenn wir also diese Eckpunkte in eine Reflexion auf unser Leben integrieren wollen, so müssen wir die gewohnte Lebensbesinnung nach beiden Zeitrichtungen, retrospektiv wie prospektiv, ausweiten und zusätzlich fokussieren, indem wir über die Erinnerung an vergangene Taten und Erlebnisse hinaus zum allerersten Anfang, durch den wir in die Welt gekommen sind, zurückkehren, und indem wir über die bevorstehende, mit unserer Gegenwart verschränkte Zukunft hinaus auf jene ferne, letzte Zeit ausgreifen, in welcher ­unser Leben an sein Ende gelangt. Indessen bedeutet dieser zweifache Ausgriff nicht einfach eine äußere Erweiterung unseres alltäglichen Zeithorizonts, sondern er schließt nach beiden Seiten an durchaus signifikante Formen an, in denen sowohl der Anfang wie das Ende, in je eigener Weise, in der gelebten Gegenwart wie in Zeugnissen biographischer Lebensbeschreibung anwesend und bedeutsam sein können. Geburt und Tod sind einzigartige, überwältigende Ereignisse, in denen es um das Leben als ganzes geht. Geborensein und Sterbenmüssen sind in unserem Alltag nicht ausgeblendet, sondern in prägnanten Konstellationen gegenwärtig. Sie zu verdeutlichen, gehört zu einer Verständigung des Menschen über sein Leben. Die Perspektive, in welcher der Ausgriff auf den Anfang und auf das Ende im Folgenden interessiert, ist nicht die der temporalen Ausweitung, sondern der Verständigung des Menschen über sich selbst. Geburt und Tod sind nicht nur Fluchtpunkte im Spannungsbogen des Lebens, sondern Referenzpunkte des Selbst und der Selbstverständigung. Es ist sein Geborensein, sein Sterben und sein Tod, die dem Einzelnen gegenwärtig werden und zu denen er sich erkenntnismäßig, emotional und praktisch in ein Verhältnis setzt.

Einleitung

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Es geht um sein Leben, auf dessen Anfang und Ende er sich bezieht und darin sein Selbst findet und gestaltet. Das Nachdenken über Geburt und Tod in dieser reflexiven Einstellung unterscheidet sich von einer Betrachtung aus der Außensicht, wie sie für Anthropologie, Soziologie, Pädagogik, Theologie oder Medizin theoretisch oder praktisch im Vordergrund steht. Diese Außensicht ist der reflexiven Beschäftigung mit Geburt und Tod nicht einfach fremd und äußerlich; sie kann in sie hineinspielen und sich mit ihr durchdringen, und sie wird als thematischer Aspekt oder wissenschaftlicher Zugang innerhalb der im Grundzug reflexiven Betrachtung mit zur Sprache kommen. Im Ganzen aber geht es dieser um eine Erörterung aus der Subjektperpektive, der Perspektive des erlebenden und sich im Verhältnis zu Geburt und Tod auf sich selbst beziehenden und sich zu seinem Leben verhaltenden Subjekts. Leitend ist eine im Grundzug phänomenologisch-hermeneutische Zugangsweise, die das Leben im Horizont eines lebensweltlichen Verstehens und Sichselbst-Verstehens erschließt. Im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung wird auf die beiden Extreme des Lebens, das Geborenwerden und das Lebensende, je für sich einzugehen sein. Sie bilden den primären materialen Gegenstand der folgenden Darstellung; in ihrem Horizont wird zusätzlich ein Blick auf die zweite und auf die vorletzte Lebensphase, auf Kindheit und Alter, zu werfen sein. Umspannt ist die Betrachtung von Geburt und Tod durch die zweifache Rahmenfrage, in welchem Sinne beide zum menschlichen Selbstsein gehören, gegebenenfalls auch biographisch vergegenwärtigt werden, und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, inwiefern das Leben durch die gleichzeitige Anwesenheit beider im Jetzt und durch das Spannungsverhältnis zwischen ihnen gekennzeichnet ist. Die Verständigung über Geburt und Tod fragt nach dem, was beide je für sich existentiell bedeuten und in welcher Weise sie im menschlichen Leben, im ­Ganzen des Lebens wie im Hier und Jetzt, anwesend sind. * Die Beschäftigung mit dem Thema hat für den Autor eine zweifache lebensgeschichtliche Bedeutung. Sie liegt einerseits in der Erfahrung des Alterns, die stufenweise mit dem Abschiednehmen, dem selbst vollzogenen wie dem passiv erlebten Abschied von vielem, was zum Leben gehört hat, vertraut macht. Dazu kommt das Altern der Ge-

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Einleitung

neration, die Erfahrung von Verlust, Krankheit und Leiden bei Menschen, die zum Kreis des eigenen Lebens gehört haben, zuletzt die Begegnung mit Sterben und Tod. Das Bewusstsein des ›Seins zum Tode‹, lange Zeit ein abstraktes Thema philosophischer Reflexion, dringt in das Leben ein. Zu solchen Erfahrungen steht auf der Gegenseite die Begegnung mit Geburt und Kindheit in eigentümlichem, bewegendem Kontrast. Das Weitergehen, Neubeginnen des Lebens ist eine Quelle von tiefer Freude und Faszination über das Erwachen des neuen, in die Welt hineinwachsenden Lebens. In beiden Erfahrungen widerspiegelt sich, wie Tod und Geburt zum eigenen Leben gehören.

I. Das Leben zwischen Geburt und Tod

1. Das Leben von den Fluchtpunkten her verstehen 1.1  Zwei Eckpunkte Dass wir das Leben nicht nur aus seiner Mitte heraus, sondern von seinen äußersten Fluchtpunkten, seinem Anfang und seinem Ende her verstehen, entspricht in gewisser Weise einer klassischen philosophischen Betrachtungsweise. Etwas von seinen ersten Prinzipien her verstehen, war das Programm, unter welches Aristoteles die Idee der Philosophie stellte, wobei als erste Ursprünge nicht nur die zeitlich ältesten, sondern ebenso die in der Sache grundlegenden und nicht zuletzt die abschließenden End- und Zielbestimmungen galten. Auch für das alltägliche Verstehen ist es eine naheliegende Orientierung, nach der Herkunft und dem Ausgang einer Sache, nach ihrem Ursprung und Anfang einerseits, ihrem Ende und Ziel andererseits zu fragen. Im Leben des Menschen bilden Geburt und Tod die fundamentalen, außerordentlichen Ereignisse, die das Leben nicht nur äußerlich begrenzen, sondern ihm seine Gestalt und sinnhafte Gerichtetheit verleihen und die gleichzeitig mit existentiellen Grundproblemen des Menschseins verknüpft sind. Sie bilden nicht zufällig zentrale Themen der Lebensreflexion, in der persönlichen Besinnung ebenso wie in der kulturellen Praxis, die sich von der Medizin über die Religion bis zur Philosophie mit ihnen beschäftigt, zumal bevorzugterweise mit dem einen Pol: dem Sterben und dem Tod. Von alters her bildet das Verhältnis zum Tod, der Umgang mit Sterbenden und das eigene Sicheinstellen auf das Lebensende einen Gegenstand vielfältiger Sorge und theoretischer Reflexion. Doch auch der Gegenpol, das Bewusstsein des Lebensanfangs, ist in der Verständigung über menschliche Existenz seit je präsent gewesen und in den letzten Jahrzehnten, neben der wachsenden medizinischpflegerischen Beschäftigung, vermehrt in den Vordergrund gerückt.

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I.  Das Leben zwischen Geburt und Tod

Geburt und Tod sind zwei Eckpunkte, die in das Leben des Einzelnen hineinstrahlen und über es hinausweisen. Das Leben ist ausgespannt zwischen zwei Übergängen, die in es hinein- und aus ihm hinausführen. Der Mensch ist auf die Welt gekommen und hat angefangen, die Dinge und die anderen Menschen wahrzunehmen, sich selbst zu erkennen und sein Leben zu führen, und er wird dereinst aus dem Leben scheiden, in das Nichtsein zurückkehren oder in ein anderes Leben weitergehen. Dass das Leben ein Übergang sei, ist ein den meisten Kulturen und Religionen vertrauter, oft zentraler Gedanke. Er findet seine vorrangige Ausprägung mit Bezug auf das Lebensende, in Vorstellungen einer Befreiung der Seele vom Körper, der Reinkarnation in einem anderen Lebewesen, des Hinüber­ gehens aus der Zeit in die Ewigkeit, zum Teil aber ebenso in analogen Vorstellungen vom Lebensbeginn als einem Übergang aus der Präexistenz in das Leben, einem Auf-die-Welt-Kommen des Ungeborenen. Das Ausgespanntsein zwischen zwei Übergängen bestimmt das Leben nicht nur im Verhältnis der Zeiten, zwischen dem Sein und dem Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Sein, zwischen Lebenszeit und Ewigkeit, sondern ebenso im Verhältnis zu den früher und später Lebenden im Kreislauf der Generationen. Gerade im über­ individuell-intergenerationellen Zusammenhang werden Tod und Geburt gleichermaßen zu Scharnieren eines umfassenden Prozesses des Lebens. Das Verhältnis zu Eltern und Kindern, zu Vorfahren und Nachkommen tangiert den Umgang mit Geburt und Tod, ohne sich mit ihm zu decken. Im Fokus der vorliegenden Fragestellung interessiert das individuelle Leben für sich, in seinem zweifachen Bezug zu seinem Anfang und seinem Ende.

1.2  Das methodische Dilemma In welchem Licht Geburt und Tod auch erscheinen, wichtig ist, dass sie hier nicht als äußerste Stationen eines biologischen Verlaufs zur Diskussion stehen, sondern als Bezugspunkte einer Verständigung des Lebens über sich selbst. Geborensein und Sterbenmüssen sind zentrale Orientierungspunkte im Leben, die in ihrer existentiellen Bedeutsamkeit zu erkunden sind. Allerdings ist mit dieser Fragerichtung ein Problem eigener Art verbunden. Es liegt zunächst darin, dass Geburt und Tod für den Menschen nicht einfach im Horizont seines aktuellen Lebens anwesend, als Thema einer Lebens­reflexion

1. Das Leben von den Fluchtpunkten her verstehen

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gegeben sind. Die Gerichtetheit des Lebens belässt dessen Anfang im Dunkel und sträubt sich gegen das Bewusstsein des Endes. Auch die kulturelle und theoretische Beschäftigung mit Geburt und Tod scheint nicht selbstverständlich und keineswegs gleichgewichtig. Während die meditatio mortis von alters her in Religion, Literatur und Philosophie vielfältig gepflegt wird, scheint das Thema der Geburt eher eine Leerstelle zu markieren; nicht wenige sehen philosophisches Denken geradezu durch eine Geburtsvergessenheit gezeichnet. Umgekehrt kontrastiert die begriffliche Artikulation des Todesproblems mit der verbreitet diagnostizierten Unsichtbar­ machung von Sterben und Tod in der sozialen Lebenspraxis. Zu dieser Zurückdrängung des Themas kommt eine spezifische Schwierigkeit der hermeneutisch-phänomenologischen Beschreibung hinzu. Diese will etwas aus der Binnenperspektive des erlebenden oder handelnden Subjekts erfassen (etwa eine Krankheit nicht als organische oder psychische Dysfunktion, sondern als erlebtes Leiden beschreiben). Offenkundig begegnet ein solches Vorhaben mit Bezug auf Geburt und Tod einem basalen methodischen Pro­ blem. Die äußersten Pole der Existenz in einer erlebensmäßigen Perspektive erkunden zu wollen, stellt vor ein Dilemma. Als ­äußerste Grenzpunkte fehlt ihnen ein Horizont des Davor und Danach, der Erwartung und der Erinnerung, innerhalb dessen normalerweise Lebensepisoden in ihrem Sinn erforscht und ausgelegt werden. Ja, sie sind an ihnen selbst jenseits dessen, was in aktueller Gegenwart dem Subjekt präsent und verstehbar werden kann. Keiner erlebt seine Geburt, keiner erfährt seinen Tod – jedenfalls nicht in der Weise, dass er davon Rechenschaft abzulegen vermöchte oder dass andere sein Erleben registrieren und sinnhaft nachvollziehen könnten. Geburt und Tod als eigene Erfahrungen zu thematisieren, würde nach Merleau-Ponty bedeuten, sich selbst als präexistierend oder über­ lebend vorauszusetzen und damit die eigene Geburt, den eigenen Tod gerade nicht wirklich zu erleben; in Wahrheit können wir uns nur immer als »schon geboren« und »noch lebend« erfassen.1 Wir kommen immer zu spät; »wo wir anfangen, ist nicht der Anfang«.2 Wir sind nicht Zeitgenossen unseres Anfangens und unseres AbMaurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, S.  249 f. 2 Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern, Stuttgart: Reclam 2013, S.  43 f.

1

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I.  Das Leben zwischen Geburt und Tod

lebens; nur in der nachträglichen Übernahme können wir unseres Geborenseins innewerden, wie wir uns zum Tod nur im Vorgriff oder in unbestimmter Erwartung verhalten können.3 Der Beginn bleibt uns so uneinholbar wie uns der Abschluss entgleitet. Allerdings besteht zwischen beiden Polen eine grundlegende Asymmetrie. Während uns die Geburt nur aus der – temporalen oder personalen – Außenperspektive zugänglich ist, besitzt der Tod eine eindringliche Präsenz inmitten des Lebens, ist uns seine existentielle Bedeutsamkeit im Jetzt und hier erfahrbar. Dennoch wird uns sein Ereignis am Ende ebensowenig zum Gegenstand aktueller Erkenntnis wie der Anfang – ein Sachverhalt, den Emmanuel Levinas zur Feststellung radikalisiert, dass Geburt und Tod jenseits unseres intentionalen Wirklichkeitsbezugs überhaupt sind.4 Die Frage ist, ob wir hier in eine unlösbare Aporie geraten – ­Jacques Derrida hat seine Reflexionen über den Tod unter den bündigen Titel Apories gestellt5 – und am Ende doch auf die Außenperspektive einer objektivierenden Beschreibung verwiesen sind. In lebens­weltlicher Optik mag es in der Tat als Paradox erscheinen, dass existential so grundlegende Sachverhalte ohne Selbsterfahrung und phänomenale Selbstbeschreibung verbleiben. Es wird im Einzelnen zu prüfen sein, inwiefern Geburt und Tod in je eigener Weise der Selbstwahrnehmung entzogen sind und wie sich dies im Dasein der Menschen niederschlägt. Gleichzeitig bleibt zu zeigen, in welcher Weise sie gleichwohl, ungeachtet dieses Entzugs, aus einer subjektiven sowohl wie intersubjektiven Perspektive zu Phänomenen einer originär hermeneutischen Erkundung werden können.

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Françoise Dastur, »Zur Phänomenologie des Ereignisses: Die Erwartung und das Unerwartete«, in: Eliane Escoubas / Bernhard Waldenfels (Hg.), Phénoménologie française et phénoménologie allemande. Deutsche und Französische Phänomenologie, Paris: L’Harmattan 2000 / Offenburg: Dokumente Verlag, S.  217–234, hier S.  231. 4 Emmanuel Levinas, Le temps et l’autre, Paris: Presses universitaires de France 1983, S.  59 ff.; Hans Saner, Geburt und Phantasie. Von der natürli­ chen Dissidenz des Kindes, Basel: Lenos 1979, S.  17 ff. 5 Jacques Derrida, Apories, Paris: Galilée 1996.

1. Das Leben von den Fluchtpunkten her verstehen

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1.3  Selbstbezug und Sozialität In der Tat ist das methodische Problem einer Beschreibung von Geburt und Tod aus der hermeneutischen Perspektive des erlebenden Subjekts kein rein zeitlogisches. Es geht nicht nur um ein Zu-früh oder Zu-spät, nicht allein darum, dass das Kommen ins Dasein wie das Scheiden aus ihm den Zeitraum reflexiver Selbstbeschreibung transzendieren. In Frage steht darüber hinaus, wieweit der originäre, sachhaltige Zugang zu Phänomenen des Geborenseins und des Sterbens der selbstbezüglichen Wahrnehmung vorbehalten ist – oder ebenso, vielleicht ursprünglicher, im gelebten Verhältnis zu anderen Menschen wurzelt. Offenkundig gibt es mit Bezug auf die Geburt wie den Tod signifikante Verhaltensweisen anderer zu mir und e­ igene Wahrnehmungen fremden Erlebens. Die Geburt ist nicht nur eine Sache des zur Welt kommenden Kindes, sondern auch der Gebä­renden, des Erzeugers, der Geburtshelfer und Betreuer, der Fami­lie und der Mitmenschen, die das Neugeborene aufnehmen. Mit ihnen allen verbinden sich je verschiedene, originäre Perspektiven auf das Ereignis der Geburt und auf das neue Leben. Es ist nicht von vornherein klar, wie diese Perspektiven ineinandergreifen und wessen Optik die nächste Berührung mit dem Ereignis der Geburt, die reichste Erkenntnis von ihm gewährt. Nicht anders verhält es sich mit dem zeitlichen Gegenpol, dem Umgang mit Sterben und Tod. Hier stellt sich das Problem dadurch noch pointierter, dass wir uns im Leben unausweichlich und in besonderer Gestimmtheit auf dessen Ende einstellen, dass wir wissen, dass wir sterben müssen, dass wir den Tod spontan fürchten oder das Wissen um ihn wegdrängen – und gleichzeitig von einer vielseitigen, elaborierten Kultur des richtigen Umgangs mit ihm umgeben sind. Immer ist das Phänomen, dem die existentielle Sorge wie die ars moriendi sich zuwenden, das eigene Sterben, der Ausblick auf den eigenen Tod. In neueren Theorien ist die Unvertretbarkeit angesichts des bevorstehenden Endes, die Je-Meinigkeit des Sterbens – wie des Tuns und Lebens überhaupt – zum Wesensmerkmal menschlicher Existenz erhoben worden. Indessen wird in anderen Ansätzen dagegen nicht nur die Begegnung mit dem Tod der anderen, die Teilnahme am fremden Sterben als komplementäre Sicht auf das Lebensende unterstrichen. Prinzipieller wird die Zentralität des eigenen Todes hinterfragt, teils gerade das Sterben des Anderen als die primäre Erfahrung des Todes beschrieben. Gegen Heideggers

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Solipsismus betont Levinas die ursprüngliche Sozialität des Todesproblems. Auch dies ist eine Konstellation, die genauer zu analysieren sein wird und die indirekt in die methodische Frage des Sichverstehens im Angesicht des Todes hineinspielt. Dabei überkreuzen sich im Ausblick auf den Tod wie in der Begegnung mit der Geburt die Dichotomie von Innen- und Außensicht, von Selbstbezug und Sozialität mit der Dualität von erkennendem und praktischem Verhalten. Die sorgende Hilfe und solidarische Begleitung transzendiert die Grenzen der Kognition. Im Ganzen ist festzuhalten, dass die scheinbare Aporie einer phänomenologisch-hermeneutischen Beschreibung von Tod und Geburt nicht nur deren zeitlicher Verfassung, sondern ebenso der monologischen Betrachtung geschuldet ist und im Raum intersubjektiven Erlebens und Teilnehmens in den Hintergrund tritt.

1.4 Lebensstufen Nach einer anderen Hinsicht ist die Fokussierung auf die Extreme des Lebens, Geburt und Tod, nicht das letzte Wort. Das Anfangen und das Zu-Ende-Gehen des Lebens tangieren nicht nur dessen äußerste Stationen, das ursprünglich Erste und das abschließend Letzte, sondern auch das Zweite und das Vorletzte, nicht nur Geburt und Tod, sondern auch Kindheit und Jugend auf der einen Seite, Altern und Sterben auf der anderen. Um das Ausgespanntsein des Lebens zwischen Herkunft und Abschied zu erkunden, sind auch diese zweiten und vorletzten Lebensphasen in den Blick zu nehmen. Dadurch verliert das erkenntnismäßige Dilemma etwas von seiner Härte, wird die Aporie einer phänomenologischen Beschreibung von Anfang und Ende in gewisser Weise unterlaufen. Man könnte weitergehen und das Ausgespanntsein des Lebens zwischen Herkunft und Zukunft in den einzelnen Phasen und Zeitabschnitten aufspüren, wie sie in traditionellen Bildern der Lebensalter – ›von der Wiege bis zur Bahre‹ – gezeichnet werden. Ineins mit den Haupt­etappen des Lebens werden darin die Übergänge vorstellig, welche die einzelnen Stadien und das Leben als ganzes strukturieren, die Bewegtheit des Lebens, die das Ganze umspannt und seine einzelnen Phasen, zuletzt die einzelnen Tage durchdringt, sich im Jetzt und Heute vollzieht, im Morgen und Abend, die zu Sinnbildern von Ankunft und Abschied, Erwachen und Einschlafen, Geburt und

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Sterben werden. In verschiedenem Ausmaß sind die Lebensphasen von der Kindheit über das Erwachsenendasein bis ins hohe Alter zum Gegenstand entwicklungspsychologischer Untersuchungen und lebensbiographischer Darstellungen geworden; namentlich die frühen Phasen sind, im Gegensatz zum eher stabilen mittleren Erwachsenenalter, entwicklungstheoretisch erforscht worden, während die biographischen und psychoanalytischen Diskussionen je nach Interesse und Themenfokus alle Abschnitte des Lebenswegs betreffen. Immer wird in diesen die Frage nach Wandel und Kontinuität neu verhandelt, kommen genuine Neuanfänge, Veränderungen, Synthesen und Formbildungen in den Blick, die das Leben in seinem Fortgang strukturieren. Wieweit ich in diesen Übergängen mit mir eins werde, mich in meiner Besonderheit ausbilde und als dieselbe Person bewahre, Identität im Sinne der Unterschiedenheit von anderen wie des inneren Zusammenhalts und der integrierenden Ganzheit erlange, ist eine Frage, die das Leben im Ganzen wie in seinen iterierten Umbrüchen und Neuanfängen durchzieht.6 In gewisser Weise sind diese verschiedenen Konfigurationen des Anfangens und des Endens in die Reflexion über Geburt und Tod miteinzubeziehen. Doch sind sie für unsere Themenstellung von unter­schiedlichem Belang. Unmittelbar einschlägig sind Kindheit und Alter, die gleichsam als Nachstadien und Präfigurationen des initialen und des finalen Übergangs, des In-das-Leben-Hineinkommens und des Vom-Leben-Abschiednehmens erfahren werden. In ihnen treten Motive in spezifischer Färbung, teils zusätzlicher Profilierung hervor, die das Charakteristikum des Anfangs und des Endes ausmachen. Das zunehmende Alter wird auch als Phase des stufenweisen Rückzugs aus dem Leben und der Vorbereitung des letzten Abschieds wahrgenommen, die Kindheit als weitergeführtes Anfangen und fortschreitendes Hineintreten in das Leben. Insofern fällt vom Alter her ein Licht auf das Sterben – und nicht nur umgekehrt – , von der Kindheit auf die Geburt, und es kann hilfreich sein, die zweiten und vorletzten Stationen zu beleuchten, um uns über das Erste und das Letzte zu verständigen. Weniger direkt involviert in die Leitfrage sind die dazwischen liegenden Stufen und Übergänge – Adoleszenz, persönliche Reifung, Berufslaufbahn, 6 Vgl. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966; Manfred Sommer, Identität im Übergang: Kant, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.

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I.  Das Leben zwischen Geburt und Tod

Familien­gründung, Midlife Crisis etc. – , die für Veränderungen oder Entwicklungsschritte im Gang des Lebens stehen und in gewisser Weise von dessen Endpunkten her mit beleuchtet werden, doch ihr Profil durch sich selbst, nicht vom Anfang und vom Ende her erhalten; auf sie wird allenfalls punktuell zu verweisen sein. Die primäre Stoßrichtung der Untersuchung gilt dem Anfang und dem Ende an ihnen selbst, der Geburt und dem Sterben, in denen die anthropologische Konstellation des Beginnens und Vergehens in ihrer Absolutheit hervortritt.

1.5  Der Spannungsbogen des Lebens Man kann die Frage stellen, wie es um die Einheit der Thematik im Ausgespanntsein zwischen den Extremen des Lebens bestellt ist. Inwieweit bilden Geburt und Tod ein zusammenhängendes Thema, im Lebensvollzug sowohl wie in der Reflexion? Auf den ersten Blick scheint unklar, inwiefern ihre Erörterung unter einer Fragestellung mehr als eine äußerliche, artifizielle Zusammenführung sein soll. Sie bilden nicht nur temporal einen extremen Gegensatz; zu fremd, inkommensurabel stehen sie sich auch phänomenal-erlebensmäßig gegen­über. Gleichwohl scheint unstrittig, dass Geburt und Tod gerade als entgegengesetzte, äußerste Pole des Lebensverlaufs in einem wesentlichen Bezug zueinander stehen, in eigentümlicher Spiegelung aufeinander verweisen. Dies ist nicht nur in mythischen Bildern vom Kreislauf der Sonne der Fall, in denen die Lebenslinie sich zum Kreis formt und der Tod als Rückgang zum Ursprung und Wiedergeburt vollzogen, das Grab zum Ort der Geburt wird.7 Es trifft auch den inneren Bogen des Lebens, der ihre Zusammengehörigkeit in der Divergenz vor Augen stellt. Sie sind nicht nur statische Eckpunkte, ein Erstes und ein Letztes, sondern Pole einer Bewegung, eines gespannten »Sicherstreckens«, in welchem sich das »Geschehen des Daseins« vollzieht, worin die Geburt nicht einfach vergangen, der Tod nicht einfach noch-nicht-seiend ist, sondern beide in bestimmter Weise in der konkreten Aktualität des Lebens anwesend sind.8 An ihnen selbst manifestieren die Extreme ihre Zusammengehörigkeit 7 Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S.  40. 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 101963, S.  374 f.

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in der Spiegelung zwischen Erlebensformen des Frühen und des Späten, in der Intensität und Helligkeit des ersten Sehens und des letzten Blicks, die beide in die Tiefe dringen, das Ganze ergreifen9, in der eigentümlichen Verwandtschaft zwischen der frohen Erwartung der Geburt und der Trauer des Abschieds, die beide den Menschen in der Tiefe des Erlebens berühren, ihn sensibler, hellhörig für das Drama des Lebens machen.10 Im Spiegel der Geburt wie des Todes erfährt der Mensch eine Wahrheit über sich und über sein Leben, gewinnt er einen Blick in den Grund und die Ganzheit seines Seins. Angesichts des Anfangs wie des Endes ist er, in je anderer Weise, mit sich selbst konfrontiert; das ursprüngliche Anfangen wie das Zum-Ende-Kommen, als abschließende Integration wie als Enden ohne Vollendung, stellen den Menschen vor sein Leben, lassen ihn in seinem Dasein sich gegenwärtig werden. Konstitutiv für die Identität der Person sind nicht nur die Fluchtpunkte des Anfangens und Zu-Ende-Gehens, sondern der Bogen und die Bewegtheit zwischen ­ihnen. Zusammengehörig sind die Extreme in ihrer Zugehörigkeit zu dem einen Leben, dadurch, dass sie gleichermaßen die Zugehörigkeit des Lebens zum Individuum, seine Präsenz im Leben markieren. Gerade die Unterschiedlichkeit dieser Selbstgegenwart in den Phasen des Lebens macht den Reichtum und Spannungsbogen des Daseins zwischen Geburt und Tod aus.

1.6  Historischer Wandel und conditio humana Bevor wir uns dem einen und dem anderen Pol der Lebensspanne zuwenden, ist eine methodische Vorbemerkung am Platz. In der Sache haben wir es mit einer anthropologischen Grundgegebenheit, einem konstitutiven Merkmal des menschlichen Daseins zu tun. Menschliches Leben erstreckt sich zwischen Geburt und Tod, und Menschen verständigen sich über ihr Leben, indem sie diesen zweifachen Bezug in ihren Lebensvollzug und ihr Verständnis von sich aufnehmen. Gleichzeitig ist die konkrete Art und Weise, wie sie diesen zweifachen Bezug erfahren, wie sie über ihn nachdenken 9 Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod. Mit einer Totenrede von Max Frisch, Zürich: pendo 1984, S.  83. 10 Maxie Wander, Leben wär eine prima Alternative, Darmstadt  /  Neuwied: Luchterhand 1980, S.  45.

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I.  Das Leben zwischen Geburt und Tod

und ihre Vorstellung vom Leben artikulieren, nicht von Natur vorgegeben, sondern historisch variierend und kulturell codiert. Wie wir die Geburt und den Tod auffassen, welche Bedeutung wir ihnen beimessen, als was wir sie beschreiben und wie wir sie in ein umfassendes Bild von Gott, Mensch und Welt einzeichnen, ist durch vielfältige Traditionen und Glaubensformen bedingt.11 Auch im Versuch einer voraussetzungslosen, phänomenologischen Beschreibung können wir uns von solchen Prämissen, die unser Vokabular und unsere Denkform prägen, nie zur Gänze freimachen. Historische und kulturanthropologische Forschung belehrt uns über die Entstehung und Veränderung der Vorstellungen von Geburt und Kindheit wie der Bilder von Alter und Tod; in sozialpsychologischer Sicht kann man geradezu von einer Erfindung der Kindheit, wie uns diese in der Neuzeit selbstverständlich geworden ist, sprechen.12 Sogar scheinbar abstrakte, allgemeingültige Strukturen des Zeitbewusstseins, wie sie das sprachliche Temporalsystem regulieren, erweisen sich als partikulare, historisch entstandene und kulturell bedingte Erlebens- und Sprachformen.13 Sie zu erforschen kann im Folgenden nicht unser Thema sein. Auf sie zu verweisen heißt, sich der historischen Situiertheit eines Denkens bewusst zu sein, die für ein Philosophieren in der Zeit unhintergehbar ist.

11 Vgl. Rainer Walz, Seelenvorstellungen. Theorien über Geburt, Tod und Jenseits in einfachen Gesellschaften und in Hochkulturen, Münster: Aschendorff 2019. 12 Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München  /  Wien: Hanser 1976; Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München: dtv 1978; Arthur E. Imhof, Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute, Wien  /  Köln: Böhlau 1991. 13 Vgl. mit Bezug auf die Zukunftsdimension: Lucian Hölscher, Die Ent­ deckung der Zukunft, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999.

II. Geburt

2. Die Gebürtigkeit des Menschen 2.1 Geburtsvergessenheit Philosophieren heißt sterben lernen – so lautet einer der berühmtesten Sätze aus den Essais von Michel de Montaigne.1 Der Satz widerspiegelt ein klassisches Diktum der Antike, das sich durch die Ideengeschichte hindurchzieht und dessen frühestes Zeugnis dem Gespräch entstammt, das Sokrates vor seinem Tod mit seinen Schülern führt. Sokrates will der Angst vor dem Tod ihren Stachel nehmen, indem er daran erinnert, dass die wahrhaft Philosophierenden nach der Befreiung von den Beschwernissen des irdischen Lebens streben, dass somit das philosophische Leben nichts anderes als eine vorweggenommene Ablösung der Seele vom Körper, eine Einübung in das Sterben sei.2 Sich auf den Tod einzustellen, gehört zum wahren Leben; den Tod zu bedenken, ist eine eminente Aufgabe der Philosophie. Auch wenn dieser Fokussierung durch Sokrates’ Gesprächspartner spontan widersprochen wird, hat sich der Tod unstrittig als ein vorrangiger Gegenstand philosophischen Denkens etabliert. Im Diskurs der Philosophie wie in den Schöpfungen der Mythen, Religionen und Künste ist die Beschäftigung mit dem Tod, die Sorge um das Sterben zu einem Gravitationszentrum par excellence geworden. Dies ist der Hintergrund, mit dem die Feststellung kontrastiert, dass der Gegenpol der Geburt nicht nur keine vergleichbare Prominenz erlangt hat, sondern im tätigen Leben wie in der theoretischen Reflexion weithin zurückgedrängt, eigentümlich abwesend scheint. Dies mag im Alltag des nach vorne strebenden Lebens selbstverständlich sein, welches außer bei Geburtstagen normalerweise kei1

Michel de Montaigne, Essais [1580/1588], Livre I, chap. XX . Phaidon, 64 a–67 d.

2 Platon,

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II. Geburt

nen Anlass für die Besinnung auf den Anfang kennt. Erstaunlich, teils irritierend jedoch bleibt es für die reflexive Zuwendung zur menschlichen Existenz in Philosophie und Religion. Nicht wenige Autoren haben die Leerstelle moniert, auf das Missverhältnis zwischen den beiden Eckpunkten des Daseins hingewiesen und die Geburtsvergessenheit, ja, Geburtsblindheit der Philosophie angeprangert, ihre vorrangige Zentrierung auf Tod und Sterben als ein proton pseudos, einen Grundirrtum ausgemacht.3 Allenfalls in metaphorischer oder metaphysischer Perspektive komme die Geburt in der philosophischen Spekulation zur Sprache, nicht in ihrer originären, physiologischen Bedeutung und ihrer lebensweltlichen Relevanz für das Individuum und seine Umgebung.4 Immerhin ist daran zu er­innern, dass die Geburtshilfe, die Maieutik, seit ­Sokrates zu den privilegierten Chiffren für die Tätigkeit der Philosophie zählt, welche dazu verhilft, das den Menschen innewohnende, noch verborgene, ungeborene Wissen ans Licht kommen zu lassen.5 Das hohe An­sehen der Hebammenkunst strahlt aus auf die sokratische Fragekunst, die dem Gesprächspartner zu Hilfe kommt und ihm zu seinem eigensten Wissen, zur Verwirklichung seiner innersten Vermögen verhilft. Im Eröffnen von Möglichkeiten, im Entdecken der Welt und Schaffen von Neuem unterhält philosophische Arbeit eine intime Affinität zu Prozessen des Gebärens und des Zur-Welt-Kommens. In deren Licht lassen sich originäre Potentiale der Philosophie wie der kulturellen Praxis überhaupt erschließen. Indessen verbleiben solche Verweisungen der Philosophie auf das Geburtsphänomen im Rahmen der metaphorischen Strukturverwandtschaft. Sie tangieren nicht die inkriminierte Geburtsvergessenheit und die dagegen geforderte, in verschiedenen Ansätzen der letzten Jahrzehnte aktualisierte Neuorientierung der Philosophie, die ihren Kern in der Zuwendung zum genuinen Ereignis der per-

Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, Freiburg  /  München: Alber 2016, S.  222; Hans Saner, Geburt und Phantasie. Von der natürlicher Dissidenz des Kindes, Basel: Lenos 1979, S.  12 f.; Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S.  142 f.; Ludger Lütkehaus, Natalität. Philosophie der Geburt, Kusterdingen: Die Graue Edition 2006. 4 Hans Saner, Geburt und Phantasie, a. a. O., S.  17. 5 Platon, Theaitetos 149 a ff.; vgl. Ludger Lütkehaus, Natalität, a. a. O., S.  17; Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen, a. a. O., S.  167. 3

2. Die Gebürtigkeit des Menschen

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sonalen Geburt hat.6 Von diesem Ereignis her gewinnt eine Philosophie der Geburt ihre Prägnanz und theoretische Bedeutung.

2.2  Sich von der Geburt her verstehen Dass im Leben Geburt und Tod aufs engste ineinander verschränkt sind, ist vielfach bedacht worden. Es bildet geradezu einen Topos der Betrachtungen über das Leben, die Geburt nicht nur als Initial­ punkt des Lebens, sondern ebenso des Sterbens zu fassen: »Mit dem ersten Schrei des Neugeborenen, wir wissen es und müssen es verdrängen, beginnt das Sterben.«7 Indessen verfehlt die gängige Figur, auch wenn sie in der unlöslichen Verknüpfung von Leben und Sterben einen Rückhalt zu haben scheint, den spezifischen Gehalt dessen, was mit der Geburt in Frage steht. Wir werden nicht geboren, um zu sterben.8 Jede authentische Begegnung mit einem Neugeborenen – wie später mit dem Kleinkind – ist vor allem eingenommen durch das überwältigende Ereignis des Eintritts in das Leben, durch die Lebensbejahung und den ursprünglichen Lebenswillen, der sich im neuen Dasein manifestiert – und wird allenfalls in äußerlicher Reflexion dessen gewahr, dass vom ersten Moment an einzelne Zellen im Organismus absterben. Die Zusammengehörigkeit von Geburt und Tod ist nicht in einseitiger Finalisierung auf den Endpunkt, sondern in emphatischer Akzentuierung von beiden Seiten her wahrzunehmen. Es ist das Zusammengespanntsein des anfänglichen In-das-Leben-Geworfenseins mit dem unentrinnbaren Fortgang zum Ende, die Komplementarität zwischen der initialen Unbestimmtheit und Offenheit und der progredierenden Bestimmtheit und sich schließenden Ganzheit, die den Spannungsbogen der Existenz ausmacht. Wir leben durchgehend und ebenso ursprünglich von der Geburt her wie auf den Tod hin, beide Ausrichtungen durchdringen sich im Ganzen unseres Seins, wir sind »sterblich von 6 Vgl. Artur R. Boelderl, Von Geburts wegen. Unterwegs zu einer philo­ sophischen Natologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S.  9 ff. 7 Roland Berbig / Richard Faber / H. Christof Müller-Busch (Hg.), Krank­ heit, Sterben und Tod im Leben und Schreiben europäischer Schriftsteller. Band 2: Das 20. und 21. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S.  7. 8 Burkhard Liebsch, Geschichte im Zeichen des Abschieds, München: Fink 1996, S.  207.

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II. Geburt

Anfang und geburtlich bis in den Tod«.9 Geburt und Tod sind nicht nur äußere Endpunkte, an der Schwelle, gleichsam außerhalb des Lebens situiert, sondern essentiell zum Leben gehörig, gegensätzliche Kristallisationspunkte des Lebens selbst. Zum Leben gehörig, sind sie nicht zuletzt darin unter sich verbunden, dass beide an der Naturalität und Leibhaftigkeit der Existenz teilhaben.10 Das Leben des Organismus erstreckt sich zwischen dem Geborenwerden und dem Sterben. Mit Nachdruck betont Martin Heidegger die »spezifische Bewegtheit« des Daseins im »Zwischen« von Geburt und Tod.11 Auch wenn man Heideggers Philosophie üblicherweise mit dem privilegierten Motiv des Seins zum Tode verbindet und gegen die Dominanz seiner Thanatologie die Ausformulierung einer komplementären Natologie einklagt12, ist die Feststellung wichtig, dass Sein und Zeit den Lebenszusammenhang durchaus in diesem zweifachen Ausgespanntsein verortet und in diesem die Zeitlichkeit und Dynamik des Daseins verankert. Nicht nur das Vorlaufen zum Ende, sondern auch das Herkommen aus einem je schon vorausliegenden, uneinholbaren Anfang, der als nicht-präsenter nicht schlechthin entzogen, sondern im Jetzt verborgen da und wirksam ist, bilden den Fundus des Lebensvollzugs.13 Sich und sein Leben von der Geburt her zu verstehen bedeutet, einen Gegenakzent gegen die normale Fluchtlinie des Sich-Verstehens zu setzen, das primär der Zukunft zugewandt und auf die Vorhaben und Pläne gerichtet ist, die unserem Leben seine Form geben, auf die Hoffnungen und Befürchtungen, die seine Gestimmtheit ausmachen, zuletzt auf das nahe bevorstehende oder das in unbestimmter Ferne ausstehende Ende. Die Existenzphilosophie bekräftigt diese Stoßrichtung, indem sie das existentielle Verstehen wesentlich vom Entwurf und vom Wozu des Daseins her expliziert. Dagegen steht das Gewicht der Herkunft, die vitale Bedeutung des Anfangs, der ungeachtet des lebensweltlichen Vergessenseins auf das Dasein ausstrahlt – die Tatsache, dass wir uns immer schon vorfinden, in unverfügbarer Weise in das Leben geworfen sind und von Hans Saner, Geburt und Phantasie, a. a. O., S.  31. Burkhard Liebsch, Geschichte im Zeichen des Abschieds, München: Fink 1996, S.  13. 11 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 101963, S.  373 ff. 12 Ludger Lütkehaus, Vom Anfang und vom Ende. Zwei Essays, Frankfurt am Main: Insel 2008, S.  9. 13 Vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  213. 9

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2. Die Gebürtigkeit des Menschen

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einem uneinholbaren Grund her existieren. Auch dies gehört, komplementär zu unserem Wollen und Vorausblicken, zur Sinnhaftigkeit des Lebens, von welcher eine Besinnung auf den Anfang jenseits der medizinischen oder sozialen Befassung mit der Geburt Rechenschaft abzulegen hat. Sich vom Anfang her verstehen heißt sich der Bedeutsamkeit des Anfangens und des Vom-Ursprung-her-Seins bewusst werden. Dazu gehört die Doppelgleisigkeit des Zuspätseins und Sich-Entzogenseins auf der einen Seite, des Sich-Zurückwendens, Anschließens und Weiterführens auf der anderen, wie sie von der Dekonstruktion mit Bezug auf Sinnprozesse überhaupt herausgestellt wird.14 Wir sind in der Teilnahme am sozialen Sinngeschehen immer schon unterwegs, nie am absoluten Anfang, und wir kommen auf Früheres zurück, das wir neu interpretieren und weiterspinnen. Im Spannungsverhältnis zwischen Selbst-Vorgängigkeit und Nachträglichkeit haben wir die Geburt als Urgegebenheit und Grenze des Lebens anzueignen. Dieser Bezug ist nach zwei Hinsichten zu vertiefen: im Blick auf die Grenzen und Wege des Verstehens (2.3) und auf den Gedanken des radikalen Anfangens (3.).

2.3  Entzug und Erschließung der Geburt Wenn wir uns dem so konturierten Lebensanfang zuwenden, stoßen wir auf das einleitend genannte methodische Problem. Es ist das Problem einer phänomenologisch-hermeneutischen Erfassung der Geburt, d. h. einer Beschreibung aus der Perspektive des Erlebens und im Blick auf die Sinnhaftigkeit für das Subjekt. Schon rein zeitlich situiert sich ein solcher Zugang an der Grenze einer möglichen Beschreibung. Aus Sicht der transzendentalen Phänomenologie sieht Edmund Husserl in der Geburt wie im Tod einen Limes-Fall, da ihre Beschreibung verlangte, das Phänomen des Übergangs zwischen Nicht-Bewusstsein und Bewusstsein aus der eigenen Perspektive des Bewusstseins, von innen her nachzuzeichnen, d. h. gleichsam analog zu den phänomenal vertrauten, doch begrifflich schwer zu fassenden Erfahrungen des Aufwachens und des Einschlafens deren äußerste Momente selbst intentional zu rekonstruieren. Ein solches Vorhaben tendiert zum performativen Widerspruch, da das Bewusstsein sein eigenes Nichtsein – sein Kommen aus dem Nicht14

Vgl. Artur R. Boelderl, Von Geburts wegen, a. a. O., S.  103 ff.

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II. Geburt

sein und sein Übergehen in das Nichtsein – nicht selbst konsistent zum Gegenstand machen kann. Es kann nur sich gegeben sein oder nicht-sein; »Bewusstsein kann nicht anfangen und Bewusstsein kann nicht aufhören«.15 Was logisch als widersprüchliches Unterfangen erscheint, bedeutet in der lebensweltlichen Rückschau das Entzogensein der Geburt, von der uns kein bewusstes Erleben und keine Erinnerung zugänglich sind.16 Man hat in diesem Sinne von einer konstitutiven Geburtsvergessenheit gesprochen, einem nie restlos aufhellbaren Dunkel oder auch einem unhintergehbaren Erlöschen des allerersten Erlebens, aus welchem erst später die Helligkeit des bewussten Fürsichseins auftaucht. Allerdings regt sich, bei aller Bewusstlosigkeit des ersten Anfangens, zugleich mit der stufenweisen Bewusstwerdung des Subjekts das Bedürfnis der Reflexion, der rückblickenden Selbsterfassung des Anfangs. Jean-François Lyotard beschreibt den analogen Sachverhalt mit Bezug auf die Kindheit, die für den Erwachsenen gerade auch als entschwundene für das Leben prägend und zum Gegenstand der Sehnsucht werden kann. Die Kindheit als in-fantia, als dasjenige, was ohne Sprache ist, sucht gleichwohl unser Reden heim (elle hante le discours), das »nicht ablässt, sie auszugrenzen, und eben darin darauf beharrt, sie als verlorene zu konstituieren«.17 Der entschwundene Anfang ist nicht einfach inexistent und abwesend, sondern im Innersten des aktuellen Seins verborgen anwesend, vom Sprechen, das ihn verschweigt, zugleich unwissentlich geborgen.18 Die Gebürtigkeit19 des Menschen bleibt, uneinholbar zurückliegend, im Ganzen seines Lebens seinsmäßig anwesend. 15 Edmund Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie. Texte aus dem Nachlass (1908–1937), Dordrecht: Springer 2014, S.  151, vgl. S.  1–25; vgl. Rudolf Ruzicka, Wachsein. Ein phänomenologischer Versuch, Freiburg / München: Alber 2015. 16 Vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  175; Olivier Abel, »Une philosophie de la naissance«, in: Dókos. Revista Filosófica, Madrid, Vols 19–20, 2017, S.  7–36; Tatiana Shchyttsova, Jenseits der Unbezüglichkeit. Geborensein und intergenerative Erfahrung, Würzburg: Königs­hausen & Neumann 2016, S.  118. 17 Jean-François Lyotard, Lectures d’enfance, Paris: Galilée 1991, S.  9. 18 Ebd. 19 Das ungewohnte Wort findet sich in verschiedenen Abwandlungen: als Geburtlichkeit (Hans Saner, Karin Ulrich-Eschemann), Gebürtigkeit (­Martin Heidegger, Hannah Arendt, Ludger Lütkehaus), Gebürtlichkeit (Christina Schües).

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Allerdings wird dadurch die paradoxe Aporetik einer reflexiven Beschreibung des Anfangs nicht gemildert. Der erste Anfang kann nicht in den Blick der Selbstwahrnehmung oder eines aus der Innen­ perspektive operierenden Erzählens kommen. Die uneinholbare zeitliche Vorgängigkeit geht einher mit dem bewusstseinsmäßigen Entzogensein. Von der Geburt gibt es keine bewusste Erfahrung, keine Eigenerinnerung und keine Selbsterzählung. In mehrfacher Hinsicht driften die Perspektiven auf das Geburts­ phänomen auseinander. Die basalste Divergenz ist die temporale zwischen simultaner und nachträglicher Wahrnehmung, zwischen dem aktuellen, bewussten oder bewusstlosen Erleben und dem reflexiven Zurückkommen auf das Erlebte, sei es in zeitlicher Nähe, sei es aus der Ferne der späten Besinnung und Erinnerung. Dazu kommt, zweitens, die Divergenz zwischen Innen- und Außensicht, zwischen dem Erleben in erster Person und Erinnern an Selbst­erlebtes und der Erfassung und Erforschung aus der Be­obachter­posi­tion, zwischen Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Eine dritte Differenz betrifft die Logik der Beschreibung zwischen Registrierung, Erklärung, Rechtfertigung und Deutung, zwischen den unterschiedlichen Fragen, unter denen wir ein Phänomen auffassen, den verschiedenen Einstellungen, mit denen wir ihm begegnen, zwischen sinnlichemotionalem Involviertsein, theoretisch-kognitiver Erkundung, wertend-normativer Beurteilung, sinnerschließender und sinnkonstituierender Auslegung. Diese Multiperspektivität ist gerade mit Bezug auf die Geburt – und, wie sich zeigen wird, unter modifizierten Aspekten ebenso für den Tod – von Belang. Sie breitet nicht nur das Raster aus, in welchem sich die erkenntnistheoretische Problematik eines SichVerstehens mit Bezug auf den Anfang artikulieren lässt, sondern eröffnet zugleich Möglichkeiten, jenseits der genannten Aporetik ein hermeneutisches Verständnis der Geburt zu erlangen. Es ist nicht so, dass ein solches Verständnis allein der Innensicht und der selbstbezüglichen Verständigung vorbehalten wäre. Auch wenn für ein hermeneutisches Verstehen der Lebensphänomene deren Subjektbezug, d. h. ihre Bedeutsamkeit für das – agierende, erleidende, bewusst oder unbewusst erlebende – Subjekt unabdingbar ist, heißt das nicht, dass solche Bedeutsamkeit nur aus dem Erlebens- und Verstehenshorizont des Subjekts heraus fassbar wäre. Über diesen hat eine Phänomenologie der Geburt nach mehrfacher Hinsicht hinaus­zugehen.

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II. Geburt

Sie kann sich einerseits nicht in die temporale Immanenz des Erlebens einschließen, dem das Geburtsphänomen manifesterweise entzogen ist. Jeder Mensch ist geboren worden, doch kann er seines Geborenseins erst im Nachhinein gewahr werden, die Bedeutung seiner Gebürtigkeit erst nachträglich erfassen und zu verstehen suchen. Wie das Individuum seine Geschichte grundsätzlich retrospektiv konstituiert, sie im Nachhinein in ihrer bestimmten Gestalt konfiguriert und sich selbst in seinem historischen Gewordensein erfasst, so erscheint ihm sein Geborensein nachträglich in einem bestimmten Licht. Was zunächst ein schicksalhaftes In-die-Welt-Geworfensein, ein ungefragtes Geborenwerden ist, kann im Nachhinein als Geschenk erfahren oder gedeutet werden. Der Mensch kann und muss sich nachträglich zu seiner Herkunft und seinem Anfang verhalten, sein Geborensein in einer bestimmten Weise als Teil seines Lebens aneignen, wobei diese Aneignung im ganzen Interpretationsraum zwischen bloßer Feststellung, Bedauern, Schmähung und freudiger Bejahung spielen kann. Sein Geborensein in sein Selbstverständnis zu integrieren, sich von seiner Geburt her zu verstehen, ist ein vielgestaltiger, nachträglicher Vollzug des Lebens. Desgleichen übersteigt das Verstehen der Geburt die Binnenperspektive der Selbstwahrnehmung. Schon die zeitliche Nachträglichkeit bringt eine bestimmte Außensicht in mein Verhältnis zu meinem Anfang und meinem Gewordensein. Darüber hinaus und in grundlegenderer Weise ist der Außenblick anderer Menschen relevant, die sich auf die Geburt und das Neugeborene beziehen, und dies in mehrfacher temporaler Brechung: antizipierend, hoffend und fürchtend, begleitend und sorgend, aufnehmend und entgegenkommend, Verantwortung übernehmend, nachträglich erinnernd und erzählend. Die Außensicht ist nicht nur, im Gegensatz zur intro­ spekti­ven Selbstbeobachtung, die des fremden Betrachters, etwa des medizinisch-objektivierenden Blicks, sondern vor allem die der Bezugspersonen – der Eltern, der Betreuer, der Umwelt, in die ein Kind hineingeboren wird. Sie alle haben ein je spezifisches Verhältnis zum Neugeborenen, gegebenenfalls auch zum Vorgang der Geburt. Die Geburt ist nicht nur ein Ereignis, welches das Leben des Einzelnen zuinnerst betrifft, sondern zugleich ein soziales, weltliches Geschehen, das in einer Familie, einer Zeit, einer Gemeinschaft stattfindet, in welcher es seine Resonanz findet und durch welche es in seinem Status und in seiner Bedeutung bestimmt wird. Diese Außendimension ist kein bloß Fremdes gegenüber dem eigenen Erleben, son-

2. Die Gebürtigkeit des Menschen

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dern mit diesem vielfach verflochten, und sie steht dementsprechend nicht einfach für ein Anderes gegenüber der hermeneutisch-phänomenologischen Beschreibung, sondern öffnet den Umweg einer indirekten sinnhaften Erschließung, die das Geborenwerden in seiner Bedeutung für das neue Leben erkundet. Es ist eine gedoppelte Perspektive, die sich in analoger Weise für das Problem des Todes geltend machen wird, und es kann aufschlussreich sein, den zwiefältigen Zugang zu beiden Endpunkten des Lebens in ihrem Verhältnis zu beleuchten. Schließlich kommt, neben der temporalen Nachträglichkeit und der sozialen Außenperspektive, die strukturelle Diversität der theoretischen und praktischen Bezugnahme ins Spiel. Infrage steht nicht allein die Zugänglichkeit oder Verschlossenheit für das Bewusstsein, sondern die vielfältige Art und Weise, wie wir uns auf die Geburt beziehen, wie wir sie beschreiben, sie verstehen und auslegen, uns emotional, helfend und handelnd zu ihr verhalten. Diese Haltungen variieren mit den Zeiten und mit den Personen und ihrem Verhältnis zum Neugeborenen, und auch hier ist es eine offene Frage, aus welcher Optik sich der lebensweltliche Gehalt der Geburt und des Gebürtigseins in ursprünglichster Weise erschließen lässt. Im Ganzen bringt diese Vielfalt der Perspektiven, die sich im Konkreten verschränken und überlagern, das komplexe Gesamtphänomen der Geburt in den Blick.20 Es umgreift die drei Grundbedeutungen der ›Geburt‹: das Gebären, den Geburtsvorgang und das Geborenwerden bzw. Geborensein. In das Gesamtphänomen sind verschiedene Subjekte – die Gebärende, die Eltern, das Neu­ geborene, die Betreuungspersonen, das familiäre und soziale Umfeld – involviert, mit denen sich je eigene Zeithorizonte, lebensweltliche Betroffenheiten und praktische Beziehungen verbinden. Eine Philosophie der Natalität kann versuchen, das Gesamtgeschehen der Geburt von der Vielfalt seiner Facetten her zu erfassen, und es steht außer Frage, dass diese sich nicht nur extern ergänzen, sondern auch intern wechselseitig erhellen können. Die folgenden Über­legun­gen folgen nicht einer solchen komprehensiv-integrativen Lektüre, sondern setzen bei der hermeneutisch-phänomenologischen Fokussierung an. Im Zentrum steht die Frage, welches die existentielle Bedeutung von Geburt und Tod im Leben des Individuums ist. Auch Vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  13  f.; Hans Saner, Geburt und Phantasie, a. a. O., S.  18.

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II. Geburt

der Blick von außen und die Partizipation anderer stehen im Dienste der indirekten Erschließung der Bedeutung des Geborenseins und Sterbens für das betroffene Subjekt selbst. Sie dienen der Erkundung seines Selbstseins und Sichverstehens im Bezug zu seiner Geburt und seinem Tod.

3. Der Anfang des Lebens 3.1  Das Urereignis der Geburt Die Geburt ist der Anfang des Lebens. Sie ist das Urereignis, in welchem ein neues Leben in die Welt kommt, das Dasein einer Person beginnt. Auch wenn die Geburt organisch einen Übergang, den Wechsel von einer Existenzform in eine andere – vom ungetrennten zum getrennten, vom naturalen zum intentionalen Sein – darstellt, markiert sie im Personalen einen Sprung, den Beginn eines absolut Neuen. Sie steht, so Hegels Beschreibung, jenseits des stufenweisen Wachstums und der quantitativen Veränderung für den »qualitativen«, »ungeheuren« Sprung, in dem ein Anderes, radikal Neues entsteht.1 Sie ist das Ereignis, in welchem, so Hannah Arendt, etwas »aus dem Nichts ins Sein« kommt, ein »Neuankömmling« unter uns auftritt, etwas »einzigartig Neues in der Welt« erscheint.2 Äußerlich ist sie Teil eines Prozesses und Mündungspunkt einer Entwicklung, einer Zeugung und Empfängnis, Zielpunkt einer in die Zukunft gerichteten Erwartung (die Schwangere ist ›in Erwartung‹, ›guter Hoffnung‹); im Blick auf das neue personale Dasein verkörpert sie in einem radikalen Sinn ein Unerwartetes und Unerwartbares, ­einen Neubeginn, den niemand antizipieren, niemand eigenmächtig hervorbringen konnte. Arendt vergleicht das Ereignis der Geburt in G. W.  F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S.  18; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke in zwanzig Bänden 10, § 396 Zusatz, S.  78; cf. Hans Saner, Geburt und Phantasie, a. a. O., S.  24. 2 Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philo­ sophischen Interpretation [1929], hg. von Frauke A. Kurbacher, Hamburg: Meiner 1996, S.  60; dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München  /  Zürich: Piper 1981, S.  166 f. 1

II. Geburt

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dieser Hinsicht geradezu mit der Weltschöpfung und definiert den Menschen als das anfangende Wesen, durch welches das Neue, der Anfang in die Welt gekommen ist, gemäß dem Wort von Augustinus: »Initium ut esset, creatus est homo – Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen«.3 Das neugeborene Kind ist nicht nur ein Anderes gegenüber früher Geborenen, sondern an ihm selbst ein Neues, ein Anfangendes. Unter verschiedenen Beschreibungen wird diese Neuheit gefasst. Das Neugeborene erblickt das ›Licht der Welt‹, es tritt ein in die mit anderen geteilte Welt, die ›Entbindung‹ bringt es aus dem verschlossenen Insichsein ins Offene, in den sozialen Raum, in dem es erwartet wurde und den es nun bewohnt, in die Zeit, an der es teilhat und die zugleich mit ihm neu beginnt. Aus der Retrospektive ist ihm die Geburt, deren Geschehen im Urvergessen entgleitet, wie eine absolute Schöpfung aus dem Nichts, ein unhintergehbarer Anfang des individuellen und zeitlichen Seins. Wieweit sich in den Tiefen der Seele ein Residuum des vorgeburtlichen, bewusstlos-formlosen Seins, sei es als ursprüngliche Geborgenheit, sei es als bedrohliche Form- und Grenzenlosigkeit, erhält, wird möglicherweise der nachträglichen Reminiszenz erschließbar und kann auf die affektiv-wertende Wahrnehmung der Geburt als Schrecken oder Befreiung, Last oder Geschenk abfärben. Für das Kind, das sich immer schon in seinem Leben vorfindet, ist der Anfang ein absoluter, auch ein unverfügbarer, ungefragter Anfang. Kein Mensch ist um Zustimmung zu seiner Existenz gefragt worden, und ebensowenig bestimmt er über die Bedingungen seiner Geburt, die Umstände seines Hier- und Jetztseins. Geboren zu sein heißt in die Existenz geworfen zu sein, ohne Kenntnis des Woher und des Wohin, mit der unabänderlichen Faktizität seines Daseins, der unergründlichen Kontingenz seines Soseins konfrontiert zu sein. Der Anfang eines Lebens ist nicht nur das nackte Dass des Existierens, sondern der Beginn dieses konkreten, individuellen Lebens. Dieser Anfang, auch wenn er mir uneinholbar vorgegeben ist, gehört im Innersten zu mir. Er ist Teil meiner Identität, auch wenn er meiner Erinnerung verhüllt und meinem Erzählen entzogen bleibt. Dass er konstitutiv zum je individuellen Leben gehört, macht die Gebürtigkeit als Wesensmerkmal des Menschseins aus. Das Dasein, so formuliert es Heidegger, »existiert gebürtig«; zur Zeitlichkeit der 3

Ebd. S.  166, Augustinus, De Civitate Dei XII, 20.

3. Der Anfang des Lebens

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menschlichen Existenz gehört nicht nur das Verhalten zum Tode, sondern ebenso das »Sein zum Anfang«.4 In diesem kommt gleichursprünglich die Doppelvalenz des Geborenseins, die Vorgegebenheit und der Neuanfang, zum Tragen. Das Geborensein steht einerseits für das uneinholbare Gegebensein und Sich-Gegebensein, die konkrete Bedingtheit des Individuums in seinem faktischen Dasein, andererseits für die Tatsache des ursprünglichen Neubeginns, die unableitbare Offenheit des Neuen. Nach dieser zweiten Seite zeigt sich die Gebürtigkeit im Zeichen der Lebensbejahung und der Zukunft. Hannah Arendt betont das Versprechen, das im Ereignis des Geborenwerdens liegt, das für die Zukunftsgerichtetheit und Hoffnungsfähigkeit der Menschheit steht und dessen eminentes Zeugnis sie im Weihnachtshymnus puer natus est nobis – ›Ein Kind ist uns geboren‹ – sieht. Dass Menschen ins Leben kommen, dass das Leben neu beginnt, sich dem Kreislauf des Gleichen und der Herrschaft des Todes entzieht, ist das überwältigende Ereignis, von dem die frohe Botschaft der Geburt kündet.5

3.2  Das Anfangen im Handeln und Sprechen Die Tiefe dieses Ereignisses aber enthüllt sich nach Arendt darin, dass nicht einfach ein neues Leben in der Welt erscheint, sondern dass der Mensch selbst Neues hervorbringen kann: dass nicht einfach ein neuer Anfang gesetzt wird, sondern ein neues Anfangenkönnen in die Welt kommt. Der Mensch, so Arendt, ist das Wesen, das die Initiative ergreifen, Neues in Bewegung setzen kann, das die Fähigkeit hat, anzufangen – er ist »der Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst«.6 Er ist dies, so Arendts These, als handelndes und sprechendes Lebewesen, als welches er über sein biologisches Leben hinaus an der Schöpfung, Erhaltung und Änderung der menschlichen Welt partizipiert, neue Anfänge in der Welt setzt, die ebensowenig aus deren Vorgeschichte ableitbar sind wie die Freiheit Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  373. Hannah Arendt, Denktagebuch 1950–1973. Erster Band, München  /  Zürich: Piper 2002, S.  334, 342; Jean-François Lyotard, Lectures d’enfance, a. a. O., S.  70 ff.; vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  464 ff.; Karin Ulrich-Eschemann, Vom Geborenwerden des Menschen. Theologische und philosophische Erkundungen, Münster: LIT 2000, S.  243 ff. 6 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., S.  166. 4

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II. Geburt

des Subjekts aus der Herkunft von seinen Eltern und Vorfahren. Der Mensch ist in seinem Hervorbringen von Neuem nicht Schöpfer aus dem Nichts; er nimmt die Welt auf, in die er hineingeboren wird, rezipiert ihren Sinn, den er aber gleichzeitig neu interpretiert und transformiert und innerhalb dessen er selbst neuen Sinn stiftet. Hannah Arendt akzentuiert diese Macht der Schöpfung pointiert im Sozialen und Politischen: Ihr Buch Über die Revolution7 lebt vom Impuls der radikalen Neuerung, die dem menschlichen Handeln innewohnt. Freiheit und Schöpferkraft zeichnen das Dasein als ursprüngliche Potenz des Anfangens aus. In der Rekonstruktion dieser zweistufigen Anfänglichkeit, die dem Menschen als Neu­ ankömm­ling in der Welt und als Stifter von Neuem innewohnt, enthält das Werk Hannah Arendts eine der eindringlichsten Beschreibungen sowohl der menschlichen Natalität wie des Phänomens kulturell-geschichtlicher Innovation. Mit Nachdruck macht sie deutlich, wie mit dem Geborensein des Menschen eine Geschichte der Freiheit beginnt, in welcher der Mensch seine Welt gestaltet und sich selbst in seinem konkreten Sein hervorbringt. Arendt verleiht dieser Gestaltung signifikante Züge darin, dass sie das Handeln mit dem Sprechen koppelt. Allgemeiner können wir diese Verbindung dahingehend explizieren, dass nicht nur die tätige äußere Formgebung, sondern die Sinnrezeption und aktive Sinnstiftung als kreatives Potential des Menschseins ins Spiel kommt. Das tiefste Ereignis des Anfangens, das mit einem Neugeborenen stattfindet, liegt zunächst darin, dass ein neues Individuum da ist, für welches die Welt gegeben ist, das die Welt wahrnimmt, sie in seiner eigenen Weise erfasst und wiedergibt. Es ist ein Neubeginn, der nicht für andere antizipierbar oder durch sie regulierbar ist, ein Sichöffnen und Sichzeigen der Welt, das für den neuen Weltbewohner, in gewisser Weise aus ihm heraus geschieht. Die Eltern wissen nicht wirklich und verfügen nicht darüber, wie ihr Kind sie und die Dinge erlebt. Jeder neu geborene Mensch ist rein durch sein Dasein ein neuer Bezugspunkt der Welt, ein neuer Referenzpunkt der Beleuchtung, der Selbstmanifestation und des Zur-Sprache-Kommens der Dinge. Indem das Kind zu sehen lernt, gewinnen die Dinge ihre Sichtbarkeit; indem es das Licht der Welt erblickt, erscheint die Welt

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Hannah Arendt, Über die Revolution, München  /  Zürich: Piper 41994.

3. Der Anfang des Lebens

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in einem neuen Licht.8 Indem der Mensch in die Sprache hineinwächst, kommt die Welt neu zur Sprache.9 Solcher Anfang des Sinns ist gleichursprünglich eine passive und aktive, rezeptive und konstruktive Potenz, die mit dem Neugeborenen in die Welt kommt. Sie ist ihm mit der Geburt als Naturanlage mitgegeben, noch nicht als aktuales Vermögen verfügbar, als welches es erst in einem komplexen, langwierigen Lernvorgang angeeignet und entfaltet wird, in dessen Verlauf sich rezeptive, expressive und produktive Vollzüge verbinden und wechselseitig fördern. Der Säugling öffnet die Augen, er muss lernen zu sehen, er vernimmt Klänge und Stimmen, er muss lernen, sie zu hören, das Gesagte zu verstehen. Im Medium aller Sinne einschließlich ihrer synästhetischen Verflechtungen konkretisiert sich das Selbst- und Weltverhältnis des Kindes, lernt es, sich auf Dinge zu beziehen, Eindrücke und Gegenstände zu identifizieren, zu differenzieren und zwischen ihnen Relationen herzustellen. Das Faszinierende beim Miterleben der Entwicklung eines Kleinkindes ist das Mitvollziehen seines SichÖffnens auf die Welt und des Sich-Öffnens der Welt für es. Es ist die stufenweise Bewusst- und Selbstwerdung, die sich im Blick und im Verhalten des Kindes spiegelt und ganz offensichtlich von diesem selbst in intensivster Weise erlebt und von einem vitalen Interesse getragen, von Erlebnissen der Lust, der Freude oder der Enttäuschung begleitet ist. Sie ist der Nukleus dessen, was sich in der Selbstartikulation und Selbstbejahung des neuen, anfangenden Lebens vollzieht. Die Sprache, eminentes Merkmal der humanen Lebensform, ist ein paradigmatisches Medium, in dem sich die Macht der Sinnstiftung in ihrem rezeptiv-produktiven Potential und zugleich ihrer innovatorischen Kraft manifestiert. Eine Sprache erlernen heißt eine Sprache verstehen und sie sprechen lernen. Dies gilt für die Sprachfähigkeit allgemein wie für das Hineinwachsen in eine bestimmte Sprache. Wie in kulturelle Lebenszusammenhänge überhaupt, so wächst das Individuum in das Medium des Sinns, der Verständigung par excellence hinein, indem es Äußerungen in ihrer Bedeutung, in dem, was sie ›sagen wollen‹, aufzufassen lernt und gleichzeitig fähig wird, am Sinngeschehen aktiv teilzunehmen, selbst Eindrücke sinnhaft zu artikulieren und anderen mitzuteilen. Dabei erschöpft sich das eigene Sprechenkönnen nicht in der Assimilation der Technik des 8

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Vgl. Karin Ulrich-Eschemann, a. a. O., S.  196, 202, 205. Vgl. Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, a. a. O.

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II. Geburt

verbalen Ausdrucks, im Wiederholen des Gesagten oder Antworten auf Gesagtes. Sprechen können heißt fähig sein, noch nie Gesagtes zu sagen: neue Beschreibungen zu geben, andere Interpretationen zu entwerfen, neue Geschichten zu erzählen. Mit jedem Menschen wird das Universum des Sinns neu konturiert, von Neuem eröffnet, neu geschaffen. Die innovatorische Macht der Sprache ist im Innersten mit dem Ereignis der Geburt verbunden. Sie gründet darin, dass ein neuer Mensch in die Welt gekommen ist, der an der Sichtbarkeit, der Lesbarkeit und der Sagbarkeit der Welt partizipiert. Seine Selbstkonstitution als Subjekt und die Entdeckung der Welt gehen miteinander einher. Die ursprüngliche Verschränkung zwischen dem Zusich-Kommen und dem Zur-Sprache-Kommen des Menschen, das sich gleichzeitig als ein Zur-Sprache-Bringen der Welt realisiert, lässt sich tentativ bis in die Herkunft aus der vorsprachlichen Tiefe, die »sprachlose Kinderanfangsnacht«10 hinein verfolgen. Der radikale, uneinholbare Anfang, für welchen die Geburt steht, ist zugleich der unhintergehbare, je neu ansetzende Anfang des Sinns, der Stiftung und verstehenden Durchdringung der Welt.

3.3  Jenseits des Tuns und Könnens – Anfang der Geschichte Indessen können gegen dieses Bild des Neuanfangs, dessen Angelpunkt nach Arendt im Handeln und Sprechen des Subjekts liegt, Bedenken formuliert werden. Sie richten sich gegen das idealisierte Bild freien Handelns und absoluter Selbstsetzung. Sie wenden sich gegen die Tendenz zur Hypostasierung subjektiver Souveränität, gegen welche mit gleicher Plausibilität die Geworfenheit und soziale, kulturelle, körperliche Bedingtheit betont werden, die ihrerseits mit der Gebürtigkeit verknüpft sind: damit, dass ich unter diesen Zeitumständen, in diesem Milieu, in dieser Familie geboren worden bin, die mich geprägt haben und von denen ich mich vielleicht zeitlebens nicht freimachen kann.11 Der Mensch ist kein allmächtiger Schöpfer seiner Existenz und seiner Geschichte. Nun setzt gerade eine Philosophie der Natalität, die das Faktum der Geburt in seiner wesentlichen Sozialität und seiner Gebundenheit an die Elemente des Leibes und des Weiblichen ernst nimmt, einen Gegenakzent gegen 10

11

Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, a. a. O., S.  50. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., 195 ff.

3. Der Anfang des Lebens

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ein cartesisch-autonomes Subjekt ebenso wie gegen ein existenzphilosophisches Eigentlichkeitsideal, dessen Kern die Entschlossenheit und der freie Lebensentwurf des Einzelnen bilden.12 Arendts Theorie der Gebürtigkeit definiert nicht nur im zeitlichen Schwerpunkt eine Gegenposition zu Heideggers Konzept des Seins zum Tode und der darin zentrierten Eigentlichkeit des Subjekts – auch wenn in der Literatur kontrovers beurteilt wird, wieweit es sich hier um einen wirklichen Gegensatz oder allenfalls eine partielle Differenz handelt (oder das »natale Denken Arendts« gar als »Derivat« der Daseinsanalytik Heideggers anzusehen ist)13; dies kann im Besonderen mit Bezug auf die an späterer Stelle zu diskutierende solipsistische Verfassung des Selbstseins in Frage stehen. Ungeachtet dessen ist zunächst festzuhalten, dass die Fundierung des Anfangenkönnens in einem subjektiven Tun und Können nicht die einzige, auch nicht die konsequenteste Perspektive auf die mit der Natalität begründete Neuheit ist. In radikalerer Weise kommt die Mächtigkeit des Anfangs nicht mit dem Tun, sondern mit dem Sein des Neugeborenen, jenseits des subjektiven Leistens und Könnens, zum Tragen. Sie realisiert sich darin, dass mit dem Neugeborenen eine neue Sichtweise der Welt sich auftut, dass mit ihm die Welt selbst in gewisser Weise neu geöffnet, neu erschaffen wird. Mit dem Neugeborenen setzt ein anderes, unableitbares Erleben ein, mit ihm beginnt eine einzigartige, neue Geschichte. Eine neue Geschichte zu stiften ist ein innerster Kern der Macht des Anfangs. Auch er kommt bei Arendt im Horizont des Natalitätsgedankens in den Blick, wobei sie darin einen signifikanten Gegenakzent zum Ideal eines ›Machens‹ von Geschichte setzt, wie sie es exemplarisch beim jungen Marx und anderen Protagonisten einer emphatischen Emanzipationsgeschichte formuliert findet. Es geht nicht darum, dass der Mensch als Herr der Geschichte auftritt, die er in seinen Händen hält und vernünftig lenkt, sondern zunächst nur darum, dass aus seinem Handeln, das immer mit dem Tätigsein anderer verflochten ist und in unüberschaubaren Verhältnissen agiert, eine Geschichte hervorgeht. Es ist eine Geschichte, die nicht als intendiertes Handlungsziel erzeugt wird, sondern als indirektes Resultat sich überkreuzender Handlungsstränge und sozialer Bedingungen 12

A. a. O., S.  29 Tatiana Shchyttsova, Jenseits der Unbezüglichkeit. Geborensein und inter­generative Erfahrung, a. a. O., S.  72, vgl. 62 ff., 69 ff.

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II. Geburt

sich ereignet, das nichtsdestoweniger als eigene Geschichte nachträglich konstituiert, erzählt und sinnhaft gestaltet werden kann. In einem gewissen Sinne noch radikaler, enger an der Wurzel der Gebürtigkeit vor allem Handeln, setzt die anfangende Geschichte am bloßen Faktum des Geborenseins an. Sie gründet im Zur-WeltKommen eines neuen Menschenwesens, das allein durch sein Dasein eine neue Bedeutungsschicht, eine neue Sinnkette in der Welt initiiert. Mit der Geburt beginnt eine neue Geschichte, die dem Neugeborenen zunächst widerfährt und die es nachträglich in seinem Erleben, seinem Sprechen und Tun mit seiner Signatur versieht und als originäre Geschichte begründet. Nicht zuletzt ist die radikale Neuheit eine für die anderen. Dass mit der Geburt ein neues Wesen da ist, mit dem sich eine neue Perspektive auf die Welt auftut, die nicht auf unseren Zugang zur Welt rückführbar und in keiner Weise von uns vorwegnehmbar ist – dies gehört zu den tiefen Erfahrungen, die Eltern bei der Geburt ihres Kindes machen. Auch wenn das Kind von ihnen erzeugt und geboren, erwartet und mit Wünschen und Zukunftsbildern begleitet worden ist, bleibt es für sie ein Anderes und Nichtantizipierbares, ein sie Überraschendes, ein Geheimnis, das sich ihnen erst nach und nach offenbart. Olivier Abel, der diesen Gedanken mit Nachdruck ausformuliert, spricht von der »Unmöglichkeit, sich ein Bild zu machen, bis zur Geburt, von diesem Wesen, das so nah und gleichwohl unbekannt ist«; ja, es gibt wie eine Grenze, die den Eltern »untersagt, das neue Wesen zu früh zu identifizieren«, und sie erkennen lässt, »dass sie nicht wissen, wer dieses Kind ist, dass es nicht die Verwirklichung ihres Entwurfs, sondern ein Anderes, von anderswo Gekommenes ist«.14 Ruth Schweikert berichtet, dass es ihr während der Schwangerschaft widerstrebte, Ultraschallbilder des Ungeborenen in ihr anzuschauen, wie aus einer Scheu davor, »einen Blick zu werfen auf ein menschliches Wesen, bevor es selbst das Licht der Welt erblickte; bevor es zurückschauen, bevor es jenen in die Augen schauen konnte, die sich bereits ein Bild von ihm gemacht hatten.«15 Olivier Abel, »Le courage et la fragilité. Impensable naissance«, in: Ré­ forme no 3185 du 20 juillet 2006 (zitiert nach: http://olivierabel.fr/nuitethique-le-courage-et-la-fragilite/impensable-naissance.php); cf. O. Abel, »Une philosophie de la naissance«, in: Dókos. Revista Filosófica, Madrid, vols. 19–20 2017, S.  7–36. 15 Ruth Schweikert, Tage wie Hunde, Frankfurt am Main: Fischer 2019, S.  70. 14

3. Der Anfang des Lebens

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Dem steht die Faszination gegenüber, wenn ein Neugeborenes die Augen öffnet, die Welt in sich aufnimmt und sich anderen mitteilt, zum ersten Mal die Mutter anschaut und lächelt. Die Wendung Das Licht der Welt erblicken verliert ihren bloß meta­phorischen Sinn, wenn in den Augen des Kindes die Welt neu beleuchtet wird und die Dinge auch für die Anderen in einem neuen Licht erscheinen. Das radikalste Erschaffen, das sich mit der Geburt ereignet, ist das Öffnen und Sich-Öffnen der Welt, das mit dem Sich-Zeigen des Kindes einhergeht. In alledem birgt der Anfang auch für die Anderen ein Geheimnis, die Begegnung mit einem Unbekannten. Noch im Nachhinein, meint Sloterdijk, verraten Fotos nur, »wie das Kind von einst aussah, aber geben nicht das Geheimnis preis, das darin bestand, dieses Kind zu sein«.16 Allerdings bleibt diese Offenheit des Anfangs so wenig das letzte Wort wie das fremde Bedingtsein durch Andere. Wie das Individuum die Kontingenz seines Geborenseins gleichsam im nachhinein zu assimilieren hat, indem es dem nackten Dasein seine Einwilligung gibt und sein So-oder-so-Bestimmtsein interpretierend selbst formt, so kommt das Neugeborene, auch wenn es nicht im Voraus identifizierend festgelegt werden darf, im eigenen Tun und Sprechen dazu, seiner Identität Gestalt zu geben und sie anderen zu offenbaren. Das Anfangen perpetuiert sich als ein Wesens- und Grundzug des Geborenseins und der Lebensführung im Ganzen. Auf die erste Geburt folgt die zweite, die soziale und kulturelle Geburt, die das ungefragte, ursprüngliche Sich-Gegebensein intentional assimiliert und sinnhaft durchformt. Die Identität des Neugeborenen, die sowenig wie seine Geschichte ein Gemachtes ist, bildet sich in dem Maße aus, wie es sein Leben führt und am Leben seiner Umwelt teilhat. Die zunächst offen bleibende Frage, wer dieses Individuum sei, findet ihre stufenweise Antwort im Agieren, Sichentwerfen und Sichoffenbaren des Menschen im Laufe seines Lebens17, schließlich in der retrospektiven Rückschau und erinnernden Lebenskonstruktion, die im Prinzip erst mit dem Ende des Lebens ihre endgültige Gestalt gewinnt: Wie wir erst im Nachhinein wissen, ob ein Leben wahrhaft glücklich war, so liegt erst dann wirklich vor Augen, wer jemand war. Das menschliche Leben ist der sich fortsetzende, unabgeschlossene Prozess der Welterschließung und Weltgestaltung, der 16 17

Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen, a. a. O., S.  74. Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S.  164–180.

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II. Geburt

Selbsthervorbringung, Selbstoffenbarung und Selbstfindung. Diese umfassende kreative Dynamik des Lebens zehrt von der Ressource des Anfangens, die zuletzt in der Gebürtigkeit, der Tatsache des Geborenwerdens, im Hervorkommen neuen Lebens beschlossen ist.

4. Die nachträgliche Aneignung und Sinnstiftung der Geburt 4.1  Der uneinholbare Anfang – Anfangen und Angefangenhaben Die vorausgehenden Beschreibungen zehren vom Pathos des Anfangs. Sie insistieren auf der Neuheit und Unableitbarkeit des Ersten. Was neu beginnt, ist in gewisser Weise absolut, nicht rückführbar auf ein Früheres, nicht herleitbar aus einem Ursprung. Das neue Leben, das mit der Geburt in die Welt kommt, ist gegenüber dem Leben der Eltern, gegenüber allem früheren Leben ein irreduzibel Anderes. Daran ändert seine mannigfache Bedingtheit durch Vorgeschichte und Umwelt nichts. Und doch hat sich bereits angedeutet, dass die emphatische These vom absoluten Neubeginn das Ereignis der Geburt nur unzulänglich kennzeichnet. Das neue Leben, das mit der Geburt in die Welt tritt, ist ein radikaler Anfang, doch es ist dies nicht in jeder Hinsicht. Es ist, so hat sich gezeigt, in seiner Anfänglichkeit dem Anfangenden selbst entzogen. Das Leben erlebt sein Anfangen nicht, es kann erst im Nachhinein dessen gewahr werden, dass es irgendwann, irgendwo angefangen hat. Es erfährt sich als immer schon angefangen habend, ja, so kann man radikaler formulieren, als etwas, das immer schon angefangen worden ist.1 Es gibt nicht nur das Selber-Anfangen und das Vom-Anfang-Anfangen. Es gibt das Initiiertwerden durch Anderes, und es gibt das Anfangen, das sich in einer Bewegung vollzieht, die immer schon angefangen hat und an der es teilhat. Strömungen der neueren Philosophie wie Phänomenologie und Dekonstruktion haben die Uneinholbarkeit des Anfangs als generelHans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S.  11; Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, a. a. O., S.  44; Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  414 f.

1

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II. Geburt

les Kennzeichen menschlicher Existenz herausgestellt, exemplarisch im Kontext individueller wie kultureller Sinnstiftung, die an vorausgehende Initiativen anschließt und von späteren weitergeführt, erneuert und abgelöst wird. Auch im Horizont biographischer und historischer Reflexion zeigt sich ein Analogon zur Geburtsvergessenheit in der Schwierigkeit, den Anfang einer Geschichte zu fixieren. Wir können von einem Anfangsdatum zu einem älteren, vom Ausgangspunkt einer historischen Entwicklung zu einem früheren zurückgehen, nach der Herkunft des vermeintlich Ersten forschen, ohne notwendig auf einen unhintergehbaren Initialpunkt zu stoßen, wenn nicht eine bestimmte Geschichte durch ein explizites Gründungsereignis, einen ausdrücklichen Stiftungsakt auf den Weg gebracht ist. Im komplexen, teils undurchschaubaren Geflecht historischen Werdens hat das Individuum mit Bezug auf seine individuelle Geschichte wie seine Teilhabe am umfassenden Geschehen mit der Unabsehbarkeit des Kommenden wie der Uneindeutigkeit des Gewesenen, der Nichtfestgelegtheit des Ersten wie des Letzten zu tun. Darin zeigt sich etwas von der allgemeinen Problematik des Anfangs. Sie tritt uns in der begrifflichen Erörterung zum Teil in der terminologischen Differenzierung von Ursprung und Anfang, origo und initium, entgegen.2 Die beiden Termini stehen in der Begründung der Philosophie für denselben Leitbegriff der arche, mittels dessen Aristoteles die Idee der höchsten Wissenschaft als Erforschung der ersten Ursachen definierte.3 Sie haben einen je spezifischen Bedeutungs- und Assoziationshof, mit dem sich genuine Fragen und Interessenrichtungen verbinden. Der Anfang ist ein Erstes, von dem etwas ausgeht, mit dem etwas beginnt; der Ursprung ist ein Erstes, zu dem wir zurückgehen, das Späterem voraus- und zugrundeliegt. Der Anfang ist prospektiv, als Initialpunkt des von ihm Gesetzten oder aus ihm Entstehenden, der Ursprung retrospektiv als Grund und Herkunft eines Gewordenen bestimmt. Im Rückblick bildet der Anfang einen Ausgangspunkt, der in der Vergangenheit zurücksinkt und von dem sich die Gegenwart entfernt, der Ursprung einen 2 Vgl. Emil Angehrn (Hg.), Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin: De Gruyter 2007; id., Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, München: Fink 2007; vgl. Massimo Cacciari, Dell’Inizio, Milano: Adelphi 1990. 3 Aristoteles, Metaphysik I.1–2.

4. Die nachträgliche Aneignung und Sinnstiftung der Geburt

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Wesensgrund, der im Jetzt erhalten, fundierend bleibt. Der Anfang betont das Neue und Andere, der Ursprung das Alte und Vorausliegende; dem Pathos des Neubeginns auf der einen Seite steht die Sehnsucht nach dem Ursprung, die Suche nach der Herkunft auf der anderen gegenüber. Mit der divergierenden temporalen Stoßrichtung geht eine unterschiedliche Tiefe im Zurückgehen einher. In radikaler Fassung gilt die Ursprungsbesinnung einem Ersten, das der bestimmten Form als das Ungeformt-Unbestimmte vorausliegt, wie es die Vorgängerformation der Metaphysik, die mythische Ursprungserzählung, im Übergang vom Chaos zum Kosmos nachzeichnet – eine Konstellation, die ihren ontologisch-begrifflichen Reflex im Gegensatz von Unendlichkeit und Bestimmtheit, Materie und Form findet. Es ist eine Frage der Fundamentalphilosophie, wieweit die metaphysische Ursachenforschung zu einem absolut Ersten, einem radikalen Anfang zurückfindet oder auf ein je Vorausliegendes, ein Bodenloses und uneinholbar Vergangenes verwiesen bleibt. Schelling hat die Uneinholbarkeit des Ersten, des dunklen Urgrunds hinter aller Formgenese mit dem Begriff des ›Unvordenklichen‹ versehen, und neuere Autoren wie Ricœur, Derrida und Levinas haben die Idee des unvordenklichen Vergangenen – le passé immémorial – als Chiffre des uneinholbaren Ursprungs im Horizont des Geschichtsdenkens herausgearbeitet. Jeder Anfang kommt aus einem Grund, der sich nie zur Gänze aufhellen, nie in das Licht der Präsenz überführen lässt. In radikaler Version haben wir es mit einem Vergangenen zu tun, »das nie gegenwärtig gewesen ist«, einem Vergangenen, das sich nicht nur der späteren Erinnerung entzieht, sondern an ihm selbst nie in aktualer Gegenwärtigkeit entfaltet, real geworden ist.4 Es geht um einen Grund als Abgrund oder, so Schellings Wort, ›Ungrund‹, einen Ursprung diesseits des identifizierbaren Ersten. Mit Bezug auf die Geburt kommt damit ein zweifacher Entzug des Anfangs ins Spiel. Die eine »Anfangslücke«5 liegt darin, dass wir nie vom wirklichen Anfang ausgehen, zum Initialpunkt unseres Seins zurückgehen können, sondern immer schon unterwegs sind, 4

Vgl. Emil Angehrn, »Das Vergangene, das nie gegenwärtig war. Zwischen Leidenserinnerung und Glücksversprechen«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff (Hg.), Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der Erinnerung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015, S.  175–205. 5 Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, a. a. O., S.  41.

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schon angefangen haben. Die konstitutive Anfangsvergessenheit liegt in der Nichtbewusstheit der Geburt für das Neugeborene, das erst schrittweise zur Wahrnehmung der Welt und zum Gewahren seiner selbst kommt. Dahinter zurück liegt eine andere, tiefere Unbewusstheit der Herkunft an ihr selbst, der pränatalen Existenz, die nicht ohne Empfindung und Selbstaffektion, doch ohne bewusste Selbstgegenwart und Apperzeption der Welt ist. Man kann die Frage stellen, ob sich dieses Fehlen nur einem genetisch-strukturellen Sachverhalt, einem entwicklungsmäßigen Noch-nicht-Bewusstsein verdankt, wie es Husserl in der vorthematischen, ›fungierenden‹ Intentionalität als Basis des expliziten Bewusstseins ausmacht, oder ob es auf eine motivierte Zurückdrängung und Ausgrenzung aus dem bewussten Sein und Erleben verweist. In Frage steht, ob es sich um die sprach- und zeichenlosen Anfangsräume des Bewusstseins oder, wie Peter Sloterdijk erwägt, um eine »fötale Negativität« handelt, die sich als solche gegen das Bewusstwerden sperrt6 – die aber ebenso als Ort der ursprünglichen, vorgeburtlichen Geborgenheit wahrgenommen werden kann, wie nach Adorno das Glück »nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter« ist.7 Man darf daran erinnern, dass auch in der metaphysischen wie mythischen Ausmalung jenes Unfassbar-Unvordenkliche in eigentümlicher Ambivalenz auftritt, als Ort tiefen Schreckens ebenso wie als Fluchtpunkt innerster Sehnsucht, als Erfahrung der absoluten Auflösung und Zerrissenheit wie der umfassenden Geborgenheit. François Lyotard spricht von »l’indétermination misérable et admirable«, aus welcher die Geburt hervorgeht.8 In den Blick kommt eine Spannweite im Urerleben, die sich spiegelbildlich in der nachträglichen Aneignung des Anfangs, der rückprojizierten Erfahrung des Geborenwerdens reproduziert – wobei die Projektion auch in der Gegenrichtung stattfinden kann, vom nachträglich konstruierten Bild der Geburt zurück auf das supponierte Erleben des Geburtsereignisses und des pränatalen Seins selbst. Schließlich ist neben solchen konträren Figurationen des vorgeburtlichen Urzustandes ein Davor ins Auge zu fassen, das weder 6

A. a. O., S.  91. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S.  143 f. 8 François Lyotard, L’inhumain. Causeries sur le temps, Paris: Galilée 1988, S.  50. 7

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positiv noch negativ besetzt, sondern rein als Davor, als Vor-Anfänglichkeit bestimmt ist. Auch das Urereignis hat ein Davor, einen Raum des Noch-Nicht, der Leere und spannungsvollen Erwartung, in den es einbricht. Anschaulich ist dies im Musikalischen nachgezeichnet worden, im Übergang von der Stille zum Klang, im Kompositorischen wie im Hörerlebnis, wenn etwa in Haydns Schöpfung der Durchbruch zum Licht nach einer ›auskomponierten Stille‹ erfolgt, die wir allerdings erst nach jenem »überwältigenden Moment« als »Stille davor« empfinden.9 Das Dunkel, das dem Licht vorausgeht, das Schweigen vor der Rede10 sind nicht einfach Instanzen des Fehlens, sondern des gerichteten Noch-Nicht, das einem Anderen voraus-geht, einen Raum des Anfangens vor dem Anfang eröffnet. Es ist ein Davor, das dem Anfang nicht einfach äußerlich ist, sondern ihm als solches zugehört, ihm im Tun wie im Erleben, im Hervorbringen wie im Rezipieren des Anfangs zugeschlagen wird. Es sind Temporalverhältnisse, die in bezeichnender Weise im Assoziationshof der Gebürtigkeit virulent werden, evidenterweise im Erlebensraum der Anderen, die dem Ereignis in bangem Warten, in Hoffnung und Furcht entgegensehen11, in erweiterter, auch metaphorischer Anwendung auch mit Bezug auf das ›Warten‹ des Nasciturus selbst. Immer geht es darum, dass der Anfang nicht schlechthin das Erste ist, sondern einem ›Früheren‹12 folgt, auf dessen Hintergrund er sich als Neues und Initiales ereignet. Betont wird in alledem erneut der Charakter des Ereignisses und des Neuen, der die Geburt als Anfang des Lebens auszeichnet. 9 Roland Moser, »Stillreden«, in: Rainer Schmusch / Jakob Ullmann (Hg.), stille  /  musik, Büdingen: Pfau-Verlag 2018, S.  11–20, hier S.  15. 10 Vgl. Emil Angehrn, »Vom Sinn des Schweigens«, in: R. Schmusch / J. Ullmann (Hg.), stille  /  musik, a. a. O., S.  73–84. 11 Vgl. Emil Angehrn, »Warten und Erwartung. Von der Zeitlichkeit der Existenz«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff (Hg.), Erwartung. Zu­ kunft zwischen Furcht und Hoffnung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2019, S.  113–132; vgl. Erika Kittler, »Die Erwartbarkeit der Welt, die Verstoffwechselung der Zeit«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff (Hg.), Erwartung, a. a. O., S.  245–265. 12 Das Intrikate dieser Relation unterstreicht Augustinus mit Bezug auf die göttliche Schöpfung, die zugleich mit der Welt die Zeit hervorbringt und deshalb sich nicht selbst in der Zeit vollzieht, also kein ›Früher‹ kennt (De civi­ tate dei, XI.5). Dies ändert nichts daran, dass in mythischen und poetischen Bildern auch der Zustand vor der Schöpfung in vielfacher Weise exploriert und beschrieben wird.

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4.2  Die Geburt als Last und Geschenk Der uneinholbare Anfang wird in anderer Weise doch eingeholt – nicht im aufdeckenden Zurückgehen zum ersten Beginn, sondern in der nachträglichen Assimilation und sinnhaften Deutung. Die Assimilation macht sich zu eigen, was zunächst ein Fremdes und Anderes war. Das Geborensein als Teil des Lebens anzueignen heißt, das ungefragte In-das-Leben-Geworfensein als Anfang seines Lebens zu übernehmen, die Kontingenz seines Gewordenseins durch den Lebensentwurf zu überformen. In negativer Wahrnehmung kann das allem Wollen und Tun vorausliegende »nackte Dass«13 der eige­ nen Existenz als Moment von Fremdbestimmtheit, ja, als Zwang und »gewalttätige Zumutung« erfahren werden14; in bestimmten Beschreibungen wird das Faktum des Geborenseins geradezu mit einer Rechtfertigungsfrage verknüpft, welche die Einwilligung zum eigenen Dasein betrifft und in welcher die Eltern sich unausweichlich ›schuldig‹ machen. Das unfreiwillige Geborenwerden und die zunächst verbleibende Abhängigkeit des Neugeborenen widerstreben danach seinem Verlangen nach Selbständigkeit, wie auch Kant aus dem Schrei des Säuglings nach der Geburt den spontanen Ausdruck der Ohnmacht und des Protests gegen das Unrecht der Natur, den unterdrückten »Anspruch auf Freiheit« heraushört.15 Als erstes zu ›bewältigen‹ ist in dieser Sicht die pure Passivität des Geborenseins – einer Sicht, die offenkundig mit konträren Wahrnehmungen kontrastiert, welche die Geburt als Geschenk, den Geburtsvorgang aus der Sicht des Neugeborenen als Befreiung, sein Eintreten in das Leben als triumphalen Beginn des Neuen feiern. In einem weiteren Horizont wird die primordiale Passivität nicht mit dem bloßen Faktum des Geborenseins korreliert, sondern mit den Konnotationen der vielfachen initialen Bedingtheit versehen, der körperlichen, sozialen, kulturellen Unselbständigkeit, die dem Kind anhaftet und an der es sich stufenweise abzuarbeiten hat, um sein Selbst zu gewinnen. Es ist bemerkenswert, in welcher Spannweite entgegengesetzter Wertungen die Geburt in literarischen und philosophischen TexLudger Lütkehaus, Natalität. Philosophie der Geburt, Kusterdingen: Die Graue Edition 2006, S.  33. 14 Manfred Sommer, Identität im Übergang, a. a. O., S.  9, 29. 15 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 230, § 79; vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  30. 13

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ten, teils auch in tiefenpsychologischen Theorien beschrieben wird. Der Übergang vom intra-uterinen zum extra-uterinen Dasein ist ein Geschehen von fundamentaler Bedeutung, das zum Teil mit einem ersten Angsterlebnis oder gar einem ursprünglichen Trauma assoziiert wird.16 In Platons Mythos ist die Geburt gleichbedeutend mit dem Vergessen der ursprünglichen Gemeinschaft mit den Ideen, als zwangsweise Rückkehr der Seele in den Kerker des Leibes, aus dem sie erst die finale Aufsprengung des Kreislaufs der Wiedergeburten erlöst17; in religiösen Bildern wird sie im Glanz der Inkarnation, der rettenden Menschwerdung verherrlicht. Zu unterscheiden sind im Negativspektrum einerseits ontologische oder konstitutive Aspekte des Geborenseins, wie das ungefragte Zur-Welt-Kommen, dessen kritische Infragestellung im Normalverständnis eher künstlich anmutet, die Unfreiwilligkeit und Zufälligkeit des Daseins überhaupt, andererseits die konkrete Bedingtheit durch die Umstände der Geburt, der Zufall des Hier- und Jetzt-Geborenseins mit seinen Belastungen und Begünstigungen, die soziale Zugehörigkeit und körperliche Verfassung, durch die so vieles im konkreten Lebenslauf vorentschieden ist. Existenzphilosophisch-fundamental fasst Heidegger den »Lastcharakter« des Daseins, das mit seiner »Geworfenheit« und der »Faktizität der Überantwortung«, d. h. der nackten Tatsache konfrontiert ist, »dass es ist und zu sein hat«.18 Geht es hier um unabänderliche Grundvoraussetzungen des Lebens, so verbinden sich die existentiell belangvolleren Konsequenzen mit den konkreten Bedingungen nicht der Gebürtigkeit als solcher, sondern des Jetzt-oder-Damals-, Hier-oder-Dort-Geborenseins. Ob ein Kind in Friedens- oder Kriegszeiten, in sozialem Elend oder häuslicher Geborgenheit geboren wird und aufwächst, gehört zu den Hypotheken, die seinem Leben mitgegeben sind und mit denen es sich auseinanderzusetzen hat. Die erste Herausforderung im Hineinwachsen in das Leben und Auf-sich-Nehmen seiner Existenz besteht in der Tat in der Assimilation und Durchdringung der unhintergehbaren ›Geworfenheit‹, der Vorgegebenheit und Fremdbestimmtheit seiOtto Rank, Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psycho­ analyse, Frankfurt am Main: S.  Fischer 1988; Sigmund Freud, Hemmung, Symptom, Angst, in: Gesammelte Werke, Bd.  X IV , Frankfurt am Main: S.  Fischer 1926, S.  111–205, hier S.  194 f. 17 Platon, Phaidon 114 b–c. 18 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., §  29, S.  134 f. 16

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nes Daseins. Ihr begegnen das ursprüngliche Verlangen des Kindes nach Selbstwerdung und Eigenständigkeit, die das Gegebene übersteigende, aufsprengende Kraft der Phantasie, die »natürliche Dissidenz des Kindes«.19 In bestimmten Ausprägungen begegnet diese strukturelle Negativität in gleichsam metaphysischer Vertiefung. So wird etwa die existentielle Last der Gebürtigkeit mit einer angeborenen Schuld verknüpft, die mythisch einem Verhängnis, einem göttlichen Fluch, einem Vergehen der Vorfahren zugeschrieben wird, religiös in einer Erbsünde wurzelt. Sie bedeutet eine existentielle Not, die über die Ohnmacht und die partikularen Leiden der Endlichkeit hinausgeht. Noch fundamentaler kann das Geborenwerden im Zeichen eines unheilbaren Unglücks, eines unentrinnbaren Verurteiltseins erscheinen, dessen berühmtestes Zeugnis der von Nietzsche zitierte Spruch des Silen darstellt, der dem König Midas auf die Frage, was für den Menschen das Beste sei, »unter gellem Lachen« die Antwort gibt: »Das Allerbeste ist für Dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben«.20 Andere Autoren haben den metaphysischen Negativismus in verschiedenen Varianten ausformuliert, so etwa Schopenhauers metaphysischer Pessimismus, demzufolge Mangel, Schmerz und Leiden das Jammertal des menschlichen Daseins erfüllen, aus dem nur die Verneinung des Willens zum Leben eine Erlösung ermöglicht, oder Emil M. Ciorans These einer ursprünglichen »Demütigung des Geborenwerdens«, die er unter dem markanten Titel Vom Nachteil, geboren zu sein ausführt.21 Cioran sieht in der Geburt nicht nur einen puren »Zufall, ein lachhaftes Akzidens«, das der stolzen Selbstschätzung des menschlichen Daseins ins Gesicht schlägt, sondern eine reale Katastrophe, vor der wir lebenslang fliehen, so dass sogar die »Angst vor dem Tod« nichts ist als eine Projektion der Angst, »die mit unserem ersten Augenblick anhebt, in die Zukunft«; auch Buddha, so meint er, sehe noch vor dem Tod »das Geborenwerden als Quelle aller Gebresten und aller Katastrophen« an.22 In Hans Saner, Geburt und Phantasie, a. a. O. Friedrich Nietzsche, Geburt der Tragödie, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, München  /  Berlin: dtv / de Gruyter 1980, Band 1, S.  9–156, Kap. 3, S.  35. 21 E. M. Cioran, Vom Nachteil, geboren zu sein, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. 22 Ebd., S.  5 ff. 19 20

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frontaler Opposition zur Selbstaffirmation des Lebens und zu gängigen Wertschätzungen der Geburt wird diese als eine Kette und ein Verlust wahrgenommen, und wie als Echo des Spruchs des Silen wird der Gedanke, nicht geboren zu sein, als hohes Glück gepriesen.23 Nun sind solche fatalistischen oder nihilistischen Diskreditierungen des Lebens intern ebenso schwer zu widerlegen wie zu begründen. Sie markieren Stellungnahmen, die neben anderen stehen, welche die Geburt emphatisch begrüßen, sie als Befreiung aus der Verschlossenheit und Unbewusstheit, als Aufgehen und Hellwerden der Welt, als Anfang des Selbstseins preisen. Beide Stellungnahmen sind Eckpunkte einer Polarität, die nicht diskursiv nach der einen oder anderen Seite aufzulösen ist und die sich analog mit Bezug auf die Wahrnehmung des Todes einstellen wird. Auch wenn im Einzelnen die Abwägung zwischen Last und Freude nach beiden Seiten oszillieren und die Übernahme des Daseins der einen oder der anderen Tendenz folgen kann, bleibt im Ganzen die von der Existenzphilosophie gezeichnete Integration der Geworfenheit in den eigenen Entwurf, die Affirmation der Freiheit, die sich an der conditio humana abarbeitet und sich in Auseinandersetzung mit der Endlichkeit behauptet, eine nicht nur kulturell dominante, sondern auch anthropologisch primäre, grundlegende Leitlinie des menschlichen Natalität.

4.3  Sinnhafte Anverwandlung des Anfangs Unabhängig von dieser polaren Wertung ist die Bedeutung der nachträglichen sinnhaften Anverwandlung der Geburt als solche festzuhalten. Die Anverwandlung hat einen zweifachen Bezugspunkt: den Geburtsvorgang als solchen und das Geburtsereignis als Beginn personalen Daseins. Der Geburtsvorgang selbst, auch wenn er, aus der Sicht der Gebärenden wie des Geboren-Werdenden, in der philosophischen Reflexion meist nur marginal thematisch wird, ist ein überaus dramatisches, existentiell überwältigendes Ereignis. Es ist mit Anstrengungen und Schmerzen verbunden, von denen noch die philosophische Maieutik indirektes Zeugnis ablegt. Schon Sokrates steht deutlich vor Augen, dass es, so Sloterdijk, »kein glückliches Geborensein 23

Ebd., S.  22, 48, 166.

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und keine sanfte Geburt« gibt; wie der Leib »nur unter großen Mühen ans Licht« kommt, so bleibt die Seele »fast immer im Dunkeln stecken«.24 Es ist eine langwierige, mühsame Arbeit, die Seele auf den Weg zur Erinnerung an ihr vorgeburtliches Wissen zu führen, wie es generell der Anstrengung und des Kampfes gegen Widerstände bedarf, die Selbsttäuschungen und Verhüllungen aufzubrechen, die dem unaufgeklärten Wissen anhaften und es gegen Verunsicherung immunisieren. Drastisch schildet Platon die Widerständigkeit im Höhlengleichnis der Politeia, wo die im Dunkel Gefangenen nur gegen ihren Willen ihrer Ketten entledigt und mit Gewalt ans Licht geführt werden.25 Auch wenn die aus dem Dunkel Befreiten sich im nachhinein glücklich preisen, leisten die im Unwissen Befangenen Widerstand, und es bedarf einer beharrlichen Arbeit der philosophischen Maieutik, jene »Kunst der Umlenkung«26 zu praktizieren, welche die Vermögen der Seele gegen ihre Schwerkraft in Fähigkeiten des Guten und Wahren verwandelt. Die Schilderung der Aufgaben der philosophischen Hebammenkunst vermittelt ein indirektes Bild von der Beschwerlichkeit der natürlichen Geburt, von den Anstrengungen und Schmerzen der Gebärenden, je nach Lesart auch vom Widerstand des entstehenden Lebens selbst gegen das Verlassen des geborgenen Urraumes und die Kälte des blendenden Lichts.27 Das Bild der befreienden, ent-kettenden Ent-bindung, oszillierend zwischen Verlangen und Angst, ist eine prägende Metapher des zwiefachen Prozesses des Gebärens und Geborenwerdens. Der andere Bezugspunkt ist das Geburtsereignis als Lebens­ beginn, nicht in seiner internen Prozessualität, sondern aus der nachträglichen Perspektive des beginnenden Lebens betrachtet. Die inter­pretative Assimilation des Anfangs ist zunächst eine Transposition des puren Faktums in das Reich des Sinns. Dem nackten Dass des Ins-Leben-Gekommenseins seine Einwilligung zu geben und seine Geburt in einen bestimmten Lebenslauf zu integrieren heißt Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, a. a. O., S.  80. Der Staat, 515 c–e, 517 a. 26 Ebd. 518 d. 27 In speziellen Versionen kommt auch der Widerstand der Gebärenden selbst gegen das Freilassen zur Sprache; analog wären Vorstellungen zu nennen, die den Vorbehalt gegen das Zeugen und Aus-sich-Herausgehen beziehungsweise das An-sich-Halten der Potenz als höhere Freiheitsform (so eine Antithese Schellings gegen Hegel) thematisieren. Vgl. Ludger Lütkehaus, Natalität. Philosophie der Geburt, a. a. O., S.  102. 24

25 Platon,

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die Grundlosigkeit des eigenen Seins und Soseins durch die »Nachstiftung« eines Lebenssinns28 zu überformen, den »Schrecken« und »Taumel des reinen Zufalls«29 durch Einfügung in den erzählbaren Bedeutungszusammenhang eines Lebens erträglich zu machen. Wenn jede Erinnerung und narrative Synthesis eine sinnbezogene Strukturbildung beinhaltet, die bestimmte Ereignisse und Erfahrungen unter Bedeutungsaspekten – als Anfang einer Geschichte, Pro­ blem, glückliche Fügung – miteinander verknüpft, so steht hier eine Interpretationsaufgabe besonderer Art zur Diskussion. Im Spiel ist die basale Herausforderung, aus seinem Sein Sinn zu machen, seine Welt bewohnbar, seine Geschichte erzählbar zu machen. In der Erfahrung der Welt, der Begegnung mit anderen Menschen und der Entdeckung seiner selbst empfindet das Individuum zugleich ein fundamentales Sinnbedürfnis, nicht notwendig als Bedürfnis nach einem ›höheren‹ Sinn oder einer letzten Rechtfertigung, sondern zunächst als bloßer Wunsch, die Welt und sein Leben verstehend zu durchdringen, sie als seine Welt, sein Leben gestalten und sich zu eigen machen zu können. Es ist das Bedürfnis, in der ungeordneten Mannigfaltigkeit Strukturen und Zusammenhänge auszumachen, um sich zu orientieren und seinem Leben eine erkennbare, erzählbare Form zu geben. Es gehört zu den anthropologischen Auszeichnungen des Menschen, sowohl die Macht als auch den inneren Drang, gewissermaßen die Pflicht zur interpretierenden Aufnahme und Erschaffung seiner Welt zu haben. Die Dinge und Geschehnisse des menschlichen Lebens sind interpretationsbedürftig wie interpretationsfähig. In einem herausragenden Sinne trifft dies auf den Lebensbeginn, die Geburt, zu, die zunächst als nackte Tatsache, als sinnfreies biologisches Faktum einen Eckpfeiler unseres Seins in der Welt bildet. Nicht nur im Verhältnis zu unseren Kindern besteht ein manifestes Bedürfnis, diese Sinnlosigkeit zu überwinden, die Geburt mit einem Sinn zu bekleiden, sie als Beginn eines neuen individuellen Lebens wahrzunehmen, als Neuanfang mit Hoffnungen und Befürchtungen zu versehen. Es sind Sinnstiftungen, die teils bei den anderen liegen, teils nachträglich selbst vollzogen werden, sei es als

28 Burkhard Liebsch, Geschichte im Zeichen des Abschieds, a. a. O., S.  218, vgl. S.  210 ff. 29 Olivier Abel, Une philosophie de la naissance, a. a. O., S.  11; vgl. Manfred Sommer, Identität im Übergang, a. a. O., S.  20 ff., 70 f.

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eigene, rückblickende Deutungen, sei es als Reformulierung dessen, was mir andere von meinem Lebensanfang erzählen.30 Zusammenfassend lassen sich zwei Aspekte festhalten, denen in der nachträglichen, sinnhaften Aneignung des Geborenseins besonderes Gewicht zukommt: die Tatsache des Anfangens und die Affirmativität des Lebensbeginns. Das eine ist die Leitidee des Anfangs beziehungsweise der Neuheit als solche. Es ist wichtig festzustellen, dass die Verschränkung von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit, von uneinholbarem Ursprung und retrospektiver Formgebung nicht nur die inhaltliche und wertende Qualifizierung der Herkunft und Entstehungsgeschichte, sondern die Konstitution des Anfangs selbst betrifft. Die »Erstmaligkeit« und »radikale Neuheit« verschränkt sich mit der »Nachträglichkeit« im »Proto-Ereignis« der Geburt.31 Im Nachhinein wird der Anfang, welcher der bewussten Erinnerung entgleitet, als Anfang gesetzt; im Nachhinein wird ein Anfang des Lebens konstituiert und intentional vergegenwärtigt. Dass mit dem Neugeborenen ein neuer Blick auf die Welt fällt, ein neues Licht in den Dingen aufgeht, dass ein neuer Mensch unter uns ist und mit ihm eine neue Geschichte anfängt – all dies gehört zur eminenten lebensweltlichen Bedeutung, die eine Geburt, zunächst für die anderen, im Nachhinein für das Neugeborene selbst besitzt und unter der wir sie als Anfang erfassen. Zwar ist diese vitale Bedeutsamkeit im Alltagsleben oft verhüllt, werden Geburten als medizinische Vorgänge und sozialstatistische Daten klassifiziert, bleibt die Geburt nicht nur dem bewussten Erleben als Ereignis entzogen, sondern auch ihre existentielle Bedeutung weithin verdeckt. Nichtsdestoweniger drängt sich diese der biographischen Besinnung wie der theoretischen und kulturellen Reflexion auf. Der von Arendt betonte zweifache Gedanke der Geburt als des Ereignisses, mit dem neues Leben in die Welt kommt, und des Menschen als des Lebewesens, das selbst anfangen, die Initiative ergreifen und Neues schaffen kann, behält seine emphatische Stellung für eine Philosophie der Natalität.

Vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  388. Françoise Dastur, »Zur Phänomenologie des Ereignisses«, in: Eliane Escoubas / Bernhard Waldenfels (Hg.), Phénoménologie française et phéno­ ménologie allemande / Deutsche und Französische Phänomenologie, a. a. O., S.  217–234, hier S.  231. 30

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Mit der Emphase des Neuen geht die wesenhafte Affirmativität der Geburt einher. Im Lichte des Anfangens manifestiert sich die Geburt als Lebensbejahung, als Bekräftigung des Lebenswillens und Neuschaffung des Lebens gegen die Wiederkehr des Gleichen und die Schwerkraft des Todes. Das Leben als solches behauptet sich durch seine Erneuerung, durch die Erzeugung neuen Lebens und das Gerichtetsein auf eine offene Zukunft. Mit jedem Kind, das zur Welt kommt, wiederholt sich der Gründungsakt des Lebens, jede Geburt ist ein Plädoyer für die Weiterführung des Lebens, für das Weiterbestehen, die Zukünftigkeit der Welt. Die Geburt setzt nicht einfach einen zeitlichen Null- und Ausgangspunkt des Daseins, sie ist an ihr selbst ein Ausgriff, ja, ein Versprechen, eine Quelle der Hoffnung. Sie birgt in nuce das Leben, das in die Welt kommt und das sich entwickeln, sich verwirklichen will. Die Geburt von ihrem Wesen her verstehen heißt auch, ihre Gerichtetheit und die sie tragende Bejahung, die ihr innewohnende Verheißung erkennen. Sie steht für ein Versprechen, das zwar ohne Verwirklichung, eine Hoffnung, die ohne Erfüllung bleiben kann, die aber auch als unerfüllte den existentiellen Sinn der Gebürtigkeit mit ausmachen. Auf dem Boden dieser prinzipiell affirmativen Grundhaltung kann die Geburt im Gegenlicht zur genannten negativistischen Sicht erscheinen – nicht als Verhängnis, sondern als lichter Weg ins Offene, als Gnade und als Geschenk. Es ist ein Geschenk unabhängig von dem, was der Eintritt ins Dasein für das Neugeborene an Glück und Leiden bringen wird. Es ist eine Gabe, die den Menschen entgegengebracht wird, ein Geschenk des Lebens, dem Menschen mit Dankbarkeit antworten – als Eltern, als Mitmenschen, als neue Erdenbewohner. Für sein Leben dankbar zu sein, um sein Leben froh zu sein, ist eine Grundoption der Lebenseinstellung, die nicht alternativelos und nicht erzwingbar ist, deren Erfüllung nicht zuletzt von äußeren Umständen abhängig und nicht zur Gänze in die eigenen Hände gelegt ist. Die Lebensbejahung, die in Frage steht, ist nicht nur ein Jasagen zum ungefragten Faktum des Geborenseins, sondern Ausdruck des umfassenderen Verlangens, in seinem Leben mit sich eins zu werden, sich in seinem Leben zu finden. Es wird an späterer Stelle zu betrachten sein, wie sich diese Haltung am anderen Extrem des Lebens, im Angesicht des Todes spiegeln und der Wunsch, sich in seinem Leben gegenwärtig zu werden, das Verhältnis zur Geburt wie zum Lebensende prägen kann.

5. Die Geburt und die Anderen Die Geburt wurde im Vorausgehenden aus der Perspektive des anfangenden Lebens in den Blick genommen. Dies entspricht der phänomenologisch-hermeneutischen Lektüre, welche Sachverhalte des menschlichen Lebens unter dem Aspekt ihres Erlebtwerdens und ihrer Bedeutung für die involvierten Subjekte erkundet. Dabei war der konstitutive Sinn- und Subjektbezug nicht zur Gänze aus dem immanenten Erlebenshorizont zu eruieren, sondern teils in der nachträglichen Reflexion, teils in der Wahrnehmung anderer und dem Verhältnis anderer zur Geburt und zum Neugeborenen auszumachen, wobei dieser Weg gleichsam als indirekter Zugang zur Bedeutsamkeit der Geburt für das Neugeborene fungierte. Andere machen in ihren Erwartungen, ihren Erzählungen und ihrem Verhalten deutlich, worin der Sinn der Gebürtigkeit für den Menschen besteht. Von diesem vermittelten Zugang zum Selbstverhältnis ist nun eine Außenperspektive zu unterscheiden, in deren Fokus die Relevanz für andere steht. Es geht um die originäre Beziehung anderer zur Geburt und zum Lebensbeginn eines Menschen. Auch diese Beziehung steht nicht berührungslos neben dem Selbstverhältnis des Neugeborenen, sondern geht in die Sinnhaftigkeit seiner Geburt mit ein.

5.1  Sozialität der Geburt Das Geschehen der Geburt ist nicht nur ein individueller Lebensbeginn, sondern von vornherein ein sozialer Sachverhalt. Das Leben des Einzelnen wird von anderen erzeugt, zur Welt gebracht, betreut und begleitet. Der Neuankömmling ist je schon Teil einer Gemeinschaft, er wird von anderen anerkannt, aufgenommen und willkommen geheißen. Er wird in soziale Erwartungen, Projek­tio­nen, affektive Beziehungen und Vertrauensverhältnisse integriert, die seinem

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Eintreten in die Welt vorausgehen. Die konstitutive Vorgängigkeit des Lebensbeginns ist nicht nur die des Je-schon-selbst-Angefangenhabens, sondern ebenso die des Eingebettetseins in eine soziale, kulturelle und historische Umwelt. Das Individuum wird in Beziehungen hineingeboren, sein Anfangen ist gleichermaßen ein Empfangen und Antworten, seine Initiative ein Anschließen und Reagie­ ren. Auch Hannah Arendt, die das Anfangenkönnen in eindringlichster Weise als humane Auszeichnung im Lichte der Natalität beschreibt, insistiert auf der Pluralität als Rahmen der menschlichen Neuerung und Schöpfungskraft. Das Neugeborene schuldet nicht nur sein Dasein anderen, es ist auch in der Ursprünglichkeit seines eigenen Anfangens auf andere bezogen, auf eine Gemeinschaft, die es von seiner Gebürtigkeit her als Sohn und Tochter, Bruder und Schwester aufnimmt und in seinem Neuanfang trägt. Es ist einerseits die natürliche Gemeinschaft, die das Kind mit Vater und Mutter, mit seiner Familie und seinem gesellschaftlichen Umkreis verbindet, andererseits die kulturelle und geschichtliche Zugehörigkeit, die seine zweite, soziale Geburt umfängt. In beidem ist das neue Leben in der Tiefe in das Leben anderer eingebunden, das ihm vorausgeht und über es hinausgeht, das ihm aber zugleich sein eigenstes Zu-sichKommen und sein Aus-sich-Anfangen ermöglicht. Die Geburt ist für das Individuum das Urereignis, aus dem heraus es in die Welt hinein kommt, sich selbst findet und sein einzigartiges Leben führt. Zugleich wird mit der Geburt eines neuen Menschen das Leben der Gemeinschaft selbst erneuert, die Welt neu geschaffen, Geschichte neu gestiftet. Die Geburt ist ebenso fundamental ein persönliches wie ein soziales Geschehen. Die Geburt verstehen heißt sie in ihrer Individualität wie ihrer Sozialität gleichermaßen bedenken.

5.2 Elternschaft Die nächste Gestalt, in der sich die Sozialität der Geburt kristallisiert, ist die Elternschaft. Sie ist die Urbeziehung, in welcher die Gebürtigkeit verwurzelt ist, die engste Beziehung, in der das Kind normalerweise aufwächst und mit seiner Umwelt in Kontakt tritt, die intimste Verbundenheit, die es gegenüber anderen empfindet und die ihm von anderen entgegenkommt. Vonseiten der Eltern ist sie, noch vor der affektiven Bindung und elterlichen Verantwortung, eine fundamentale, ontologische Bejahung. Sie ist ein Jasagen zum

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Sein des Kindes, verwandt der Haltung, über welche Heidegger mit der Augustinus zugeschriebenen Formel volo ut sis (ich will, dass du seist) die Liebe definiert.1 Der Elternschaft, die für das neue Leben einsteht, liegt zutiefst ein Seinswille, eine Lebensbejahung zugrunde; eines der stärksten Motive der Elternschaft liegt darin, das Neugeborene, wenn es ans Licht kommt, zu begrüßen und willkommen zu heißen.2 In der Elternschaft manifestiert sich der Wille zum Weitergeben, zum Neuschaffen des Lebens, der sich mit der Faszination über das Hervorkommen und Von-sich-aus-Anfangen des neuen Lebens verschränkt. Die erste, innerste Grundhaltung ist die, Leben zu schenken und weiterzugeben. Sie verbindet sich unmittelbar mit der irreduziblen Dualität der Geschlechter und den ihnen korrespondierenden Dispositionen und Vollzügen. Erzeugen und Gebären sind gleichermaßen zu kulturgeschichtlichen Figuren der Fruchtbarkeit und der Weitergabe des Lebens geworden. Beide fungieren etwa in mythischen Schöpfungserzählungen als Metaphern für die Genealogien von Urmächten und Göttersukzessionen, die zwischen eingeschlechtlichen männlichen oder weiblichen und zweigeschlechtlichen Genesen variieren. Im Kontext der menschlichen Gebürtigkeit sind Mutterschaft und Vaterschaft mit durchaus divergierendem Status und unterschiedlichen Charakteristika versehen, deren tendenzielle Ausblendung einen Teil der philosophischen Unterbestimmung oder Vernachlässigung des Geburtsthemas ausmacht. Zuweilen oszillieren die Perspektiven, bei Platon etwa zwischen der am Geburtsprozess anknüpfenden sokratischen Hebammenkunst als Weg zur Erkenntnis und dem am männlichen Eros orientierten Aufstieg zum Wahren über die Zeugung im Schönen.3 In anderen Fällen werden die uneindeutigen Geschlechterbezüge in der philosophischen Reflexion der Elternschaft kritisch hinterfragt, etwa im Blick auf Levinas’ emphatische Theorie der Fruchtbarkeit, die mit dem Pathos des Bezugs zum Anderen und der für beide Geschlechter relevanten elterlichen Verantwortung verknüpft ist, doch primär im Konnotationsraum des Männ­ 1 In Briefen an Hannah Arendt: Hannah Arendt / Martin Heidegger, Briefe 1925–1975 und andere Zeugnisse, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1998, S.  31, 59. 2 Ludger Lütkehaus, Vom Anfang und vom Ende. Zwei Essays, a. a. O., S.  46. 3 Platon, Symposion 206 b–e; vgl. Christina Schües, Philosophie des Gebo­ renseins, a. a. O., S.  48, 67.

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lichen verbleibt.4 Man mag darin ein Indiz der männlichen Signatur des vorherrschenden philosophischen Diskurses sehen, und es ist kein Zufall, dass Gegenakzente namentlich von weiblichen Autorinnen gesetzt werden.5 Es steht außer Frage, dass vieles von dem, was zur vollen Phänomenalität der Geburt gehört, nur aus weiblicher Perspektive erfahren und unverkürzt beschrieben werden kann, von der Dauer, den Beschwerlichkeiten, dem Glück der Schwangerschaft bis zum eigent­lichen Geburtsvorgang, dem existentiell extremen Erlebnis des Gebärens, zwischen äußerstem Schmerz, Glück, Triumph, begleitet durch die Vorbereitung, Sorge und Unterstützung in klassischen Frauenaufgaben von Hebammen, Pflegerinnen, Ammen. Die Geburt, deren Bedeutung in allen Kulturen in unzähligen Bildern und Beschreibungen gegenwärtig ist, ist kein geschlechtsneutrales Ur­ereignis des Lebens. Eine integrale phänomenologische Beschreibung der Geburt, die neben dem Ereignischarakter der Geburt, dem Erlebens- und Erinnerungshorizont des Neugeborenen sowie der Perspektive der Eltern und der Umwelt auch dem Geburtsvorgang als solchem gerecht werden wollte, hätte dieser geschlechtsbedingten Asymmetrie Rechnung zu tragen. Davon ist in der vorliegenden hermeneutischen Erkundung abgesehen, die der lebensweltlichen Sinndimension des Geborenseins aus der Perspektive des neuen ­Lebens und seiner Umwelt gilt. Auch unter Einklammerung der Geschlechterdifferenz lassen sich für die Gebürtigkeit durchaus signi­ fikante, grundlegende Züge der Elternschaft herausstellen. Zu ihnen gehört neben der fundamentalen Seinsbejahung das Bewusstsein der Andersheit und Pluralität. Das Erlebnis der Geburt ist für die Eltern, gerade auch als Verhältnis zu ihrem Eigensten, ihrem Kind, eine Begegnung mit dem Anderen. Das Neugeborene kommt ihnen entgegen als das neue, von ihnen nicht antizipierbare Leben, als der andere, in seiner Eigenständigkeit und autonomen Würde begegnende Mensch. Der Geburt wohnt das Moment der irreduziblen Faktizität, des nicht von Menschen Gemachten inne, wie es die Formel aus dem Credo genitum, non factum – erzeugt, nicht geschaffen – artikuliert, wobei dem theologischen Akzent (ConsubstantiaVgl. Tatiana Shchyttsova, Jenseits der Unbezüglichkeit, a. a. O., 130–134. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O.; Tatiana Shchyttsova, Jenseits der Unbezüglichkeit, a. a. O.; aber auch: Hans Saner, Geburt und Phantasie, a. a. O.

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lität von Vater und Sohn) im Anthropologischen die Absage an die Machbarkeit korrespondiert, die nicht zuletzt angesichts der medizinischen und gentechnologischen Möglichkeiten ihre Virulenz besitzt. Erlebensmäßig geht es um das bewegende Gewahrwerden des Unbekannten und Neuen, das sich manifestiert und sich in e­ inem neuen Weltverhältnis, einer neuen Geschichte eröffnet, zuletzt um die personale Begegnung mit einem anderen Menschen, der sich an mich wendet und sich mir offenbart. Mit großer Eindringlichkeit hat Emmanuel Levinas die radikale Andersheit beschrieben, die sich uns in der Begegnung mit dem anderen Menschen auftut und die wir, so können wir ergänzen, als Mitmenschen, aber auch und in hervorgehobenem Sinne als Eltern im Phänomen der Geburt erfahren, wenn das neugeborene Kind da ist und unserem Blick begegnet, wenn es uns anblickt. Es ist wie eine Erschütterung des normalen Selbst- und Weltbezugs, wenn nicht wir es sind, von denen her sich der Blick auf die Welt richtet und wir die Menschen und Dinge verstehen, sondern wenn uns der Sinn unserer Welt vom Anderen her aufgeht, wir das Verständnis der Dinge aus dem Blick und dem Wort des Anderen erschließen. Levinas entwickelt seine hermeneutische These vom Ursprung des Sinns im Anderen vor dem Hintergrund einer allgemeineren Umkehrung der husserlschen Intentionalitätslehre, deren Fundierung in der Herrschaft des monologischen Subjekts er als Urfehler der Phänomenologie anprangert. Verloren geht in ihr jene fundamentale Vorgängigkeit des Anderen, die nicht nur in der basalen Sozialität unserer Existenz, im Zusammenleben mit anderen Menschen, sondern ebenso in unserem Erfassen der Welt und Erschließen ihrer Bedeutung grundlegend ist. Wenn Sinn und Verstehen ihren Wesenskern in der Sprachlichkeit des Daseins haben, so führt deren eigener Ursprung nach Levinas auf die Begegnung mit dem Anderen, zuletzt auf die Erfahrung des Antlitzes zurück: Sie ist die Quelle der allgemeinen Bedeutungs­ dimension, der signifiance, in deren Raum partikulare Sinngestalten und Bedeutungen hervorgebracht und vernommen werden können.6 Die reine Begegnung, das Anschauen und Angeblicktwerden als solches ist diesseits aller gegenständlichen Wahrnehmung (etwa der Augenfarbe) eine Eröffnung des Sinnraums, was Levinas auch 6 Vgl. Emil Angehrn, »Dialogische Hermeneutik. Vom Ursprung des Sinns im Anderen«, in: Burkhard Liebsch, Dialog. Ein kooperativer Kommentar, Freiburg: Alber 2020.

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so formuliert, dass »das Antlitz spricht«, dass seine Manifestation »die erste Rede« ist.7 Es ist dies ein Wesenskern der Andersheit, der auch in der Begegnung mit dem Neugeborenen zentral wird. Wir nehmen nicht nur das Neugeborene selbst in seinem Sichzeigen und seinem Sich-auf-die-Welt-Öffnen wahr, wir erfahren auch die Welt von ihm her, im Lichte seines Erlebens und seiner Sinngebung. Die Eltern sind die ersten, die das Kind in seiner radikalen Eigenständigkeit, als Subjekt eines eigenen Weltverhältnisses und eines einzig­ artigen Lebens begreifen. Gleichzeitig sind eben sie es, die es auch in unmittelbarster Weise in seiner vorbehaltlosen Abhängigkeit erfahren. Auch dies ist ein Aspekt der ursprünglichen Begegnung mit dem Anderen, wie sie Levinas auslotet. Ohne dass es zum Thema werden muss, haben Eltern mannigfachen Anlass, ihr Kind in seiner Hilflosigkeit und tiefen Hilfsbedürftigkeit wahrzunehmen, und je nach Verfassung der Umwelt auch in seinem Ausgeliefertsein, seiner Wehrlosigkeit und Verletzbarkeit. Es sind Aspekte, unter denen das Verhältnis zum Anderen mit einer fundamentalen Nicht-Indifferenz, einem Nichtgleichgültig-sein-Können verkettet ist, das als irreduzible Verpflichtung erlebt wird. Eltern sind in die Pflicht genommen, dem Kind beizustehen, es vor Gefahren und Aggression zu schützen, es in seinem Lebenswillen, in seinem Entwicklungsstreben, seinem Wunsch nach Wohlbefinden zu unterstützen, ihm Geborgenheit zu bieten, für es zu sorgen – eine Pflicht, die im Normalfall nicht als äußeres Gebot erlebt wird, doch angesichts der mit ihr verbundenen Aufgaben, bei besonderen Belastungen, teils auch in Konfliktsituationen sehr wohl in ihrem Pflichtcharakter hervortritt. Es ist eine naheliegende Verknüpfung, wenn Levinas in diesem Sinne die Begegnung mit dem Anderen, das Erblicken des fremden Antlitzes und das Angerufenwerden durch den Anderen als Ursprung und Kern des Ethischen ausmacht, wobei er das Erkennen der Nacktheit und Schutzlosigkeit noch auf die besondere Situation der Konfrontation mit erlittener Gewalt und dem Tod des Anderen hin vertieft, aus der heraus die Pflicht schlechthin, das Tötungs­ verbot Tu ne tueras point, ihre Unabweisbarkeit erhält.8 Es ist das Emmanuel Lévinas, »La signification et le sens«, in: Humanisme de l’autre homme, Saint-Clément-de-Rivière 1972, S.  15–70, hier S.  51. 8 Emmanuel Levinas, Éthique et infini, Paris: Fayard 1982, S.  83; »La signification et le sens«, in: Humanisme de l’autre homme, a. a. O., S.  48–57; De

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absolute Gebot der zwischenmenschlichen Solidarität, das im Antlitz des Opfers von Unrecht und Gewalt mit besonderer Direktheit entgegentritt, in anderer Gestalt aber auch im Hintergrund der elterlichen Fürsorgepflicht steht. Auch wenn die Begegnung mit dem Neugeborenen nur in besonderen Fällen eine Konfrontation mit manifestem Leiden einschließt, bildet diese doch eine Tiefenschicht des In-Anspruch-Genommenwerdens, des rückhaltlosen Appells, der vom Anderen ausgeht. Wenn man hier auch eine verborgene Affinität, einen gemeinsamen Fluchtpunkt ausmachen mag, ist es doch wichtig, die Differenz festzuhalten, welche das normale elterliche Involviertsein von der besonderen Betroffenheit durch fremdes Leiden trennt, und damit auch das eigene, spezifische Poten­tial herauszustellen, das der Begegnung mit dem Neugeborenen und dem Leben mit einem Kind innewohnt. Die vollständige Abhängigkeit, Wehrlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit, die das Gleichgültig-Bleiben nicht nur moralisch verbietet, sondern unter normalen Bedingungen emotionaler Verbundenheit geradezu verunmöglicht, geht mit weiteren Dispositionen, Verhaltens- und Ausdrucksweisen einher, in denen das Kind sich an die Eltern und Bezugspersonen richtet, an sie appelliert und sie in die Pflicht nimmt, aber auch ihnen ein Angebot macht, ihnen etwas schenkt. Es sind Dispositionen und Verhaltensformen, die einerseits in intersubjektiv-kommunikativen Bezügen, andererseits in der Selbstwerdung und Entwicklung des Kindes ihren Schwerpunkt ­haben. Das Kind zeigt nicht nur seine Abhängigkeit von anderen, sondern ebenso sein Vertrauen in andere. Es öffnet sich anderen, gibt sich ihnen zu erkennen, verlässt sich auf andere. Es manifestiert sein Interesse an der Kommunikation, sein grundlegendes Bedürfnis, von anderen angesprochen zu werden und sie seinerseits anzusprechen. Das Neugeborene hat ein Verlangen danach, die Wärme, den Herzschlag der Mutter, des Vaters zu spüren, die Stimme zu hören, die zu ihm spricht. Es hat den Wunsch, von ihnen aufgenommen zu werden, ein Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, nach Unter­ l’unicité, Paris: Payot & Rivages 2018, S.  49; »Notes sur le sens«, in: De Dieu qui vient à l’idée, Paris: Vrin 1982, S.  246. Eine besondere Abgründigkeit der Begegnung berührt Levinas dort, wo er in der Nacktheit und Wehrlosigkeit des Antlitzes »gleichzeitig die Versuchung zu töten und das ›du sollst nicht töten‹« erweckt sieht: »Notes sur le sens«, a. a. O., S.  246.

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stützung bei seinen tastenden Versuchen, zu gehen, mit den Dingen zurechtzukommen, Laute und Worte zu bilden, zu sprechen. Es wendet sich den Eltern in seiner ganzen Bedürftigkeit zu, in seiner körperlichen, emotionalen und kommunikativen Angewiesenheit auf andere, mit seinen affektiven und kognitiven Bedürfnissen, die nach Anerkennung, nach einer Antwort verlangen. Es zeigt sich ihnen in seiner offenen Neugier, seinem Ausdrucksbedürfnis, seiner zärtlichen Zuwendung. Es öffnet sich anderen und bedarf des Entgegenkommens der anderen, um in seinem Umfeld heimisch zu werden und seine Welt kennenzulernen. Ein wesentlicher Schritt ist das Hineinkommen in die Sprache, die es nicht allein, sondern nur im leben­digen Austausch mit anderen lernen und gestalten kann. Im Negativen wird der eminente Stellenwert dieses Austauschs in dessen Fehlen spürbar, in der unfreiwilligen Trennung und Vereinsamung, in der Grausamkeit des Sprachentzugs, die das Kind gefühls- und erkenntnismäßig beschneidet, nicht nur in seinem Liebesbedürfnis, sondern ebenso fundamental in seinem Selbst- und Weltverhältnis. Das Kind, dem man sich selbst verschließt, dem man keine Fragen stellt, dem man keine Geschichten erzählt, erleidet einen Mangel, der es in seinem Innersten einengt und verwundet. In Frage steht ein zwischenmenschlicher Bezug, in welchem die Vorgängigkeit eines jeden, als Appell wie als Zuwendung und Gabe, ebenso grundlegend ist wie das Antworten und Entgegenkommen des Anderen. Was sich im Verhältnis zwischen Kind und Eltern ereignet, lässt sich analog in zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt, exemplarisch in Freundschaften, als Spiel von Geben und Empfangen, Ansprechen und Antworten erkennen. Es ist offensichtlich, wie eng in solchen Konstellationen das Sozialverhältnis mit dem Selbstwerdungs- und Entwicklungsprozess des Kindes verflochten ist. Seine natürliche Bedürftigkeit verlangt nicht bloß nach irgendwelcher partikularen Befriedigung, wie ein Hungergefühl durch die Sättigung stillgestellt wird, sondern nach der Erfüllung eines Strebens, in welchem das Subjekt zu sich selbst kommt und sich verwirklicht. Das Bedürfnis nach Sprache erschöpft sich nicht darin, in einer festgelegten Klaviatur mitspielen, Laute erkennen und auf Stimuli richtig reagieren zu können. Das Kind will darüber hinaus an den offenen Möglichkeiten des Sprechens teilhaben, Mitteilungen vernehmen und Geschichten erzählen können, die Beziehungen zu Mitmenschen im Reden und Verstehen erkunden und gestalten, die Welt im Fragen, Lesen und Beschreiben ent-

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decken und selbst darstellen. Es will im Erwerb seiner Fähigkeiten Selbständigkeit gewinnen, Hindernisse überwinden und Probleme lösen, zu Forderungen und Angeboten Ja und Nein sagen können. Es will seine Abhängigkeit und Hilflosigkeit überwinden, seinen Eigenwillen demonstrieren und seine Phantasie entfalten. Im Innersten der genuin menschlichen Bedürftigkeit meldet sich das Verlangen nach Selbstwerdung, das Kant im ersten Schrei des Säuglings zu vernehmen glaubte und das sich im Wunsch manifestiert, an den Tätigkeiten der Großen teilzunehmen, sie nachzuahmen, selbst groß und erwachsen zu werden. Dies ist eine Seite der kindlichen Bedürftigkeit, die dem Anspruch an die Eltern ein spezifisches Profil verleiht. Die Verantwortung, die ihnen zufällt, ob sie es wollen oder nicht, ist nicht nur die des rückhaltlosen Beistands angesichts der Hilflosigkeit und Verletzbarkeit des Neugeborenen. Es ist eine Beistandspflicht zur Emanzipation, eine Erziehungspflicht zur Mündigkeit. Das Kind hat ein natürliches Verlangen nach – und Recht auf – Selbständigkeit, und es hat einen legitimen Anspruch darauf, in diesem Streben, dessen Verwirklichung nicht in seinen Händen liegt, geschützt und gefördert zu werden. Die Verbindlichkeit, die den Eltern mit der Geburt zuwächst, erweitert sich zur Verantwortung für die zweite, soziale und kulturelle Geburt, die weithin, nicht immer, erneut den Eltern, doch ebenso anderen Personen, dem sozialen Umfeld und gesellschaftlichen Institutionen zufällt. Wer immer die nächsten Kontaktpersonen des heranwachsenden, sich entwickelnden Kindes auch seien, entscheidend ist, dass sie dieses in der Weiterführung jenes initialen, mit der Geburt eröffneten Impulses erfahren können: im NeuAnfangen des Lebens, im Entdecken und Erschaffen der Welt. Die einzigartige Geschichte, die mit der Geburt beginnt, setzt weiterhin neu ein, schafft neue Sinnräume, Lebensformen und zeitliche Synthesen. Die Faszination angesichts der Neuheit des unableitbaren Anfangs überträgt sich auf das Miterleben der anhaltenden, vielfach überraschenden Kreativität und Formgebung, in der schrittweisen Durchdringung und Aneignung des Sinnuniversums im Verstehen und eigenen Reden. Für das Ereignis der Geburt wie für die frühe Kindheit gilt, dass das begleitende Miterleben eine wesentliche, innerste Dimension des Lebensanfangs erschließt. Es wird zu sehen sein, in welcher Weise Ähnliches für die Beschreibung des Lebensendes geltend zu machen ist, unabhängig von der unvertretbaren Individualität beider Eckpunkte im menschlichen Leben.

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5.3  Die Kette der Generationen Die Sozialität der Geburt geht über den Kreis der Elternschaft und der Familie hinaus. Vorausgreifend und zurückblickend weist sie auf frühere und spätere Geburten, auf die Generationenfolge, in welche die Geburt des neuen Menschen sich einfügt, aus der sie kommt und in die sie eingeht. Wenn der einzelne Mensch für die Phänomenologie generell im Horizont des Miteinanderseins mit anderen in seinem Sein zu begreifen ist, so geht es hier darum, diese ›transzendentale‹ Intersubjektivität vom Synchronen in die Diachronie zu transponieren. Nicht nur der Nächste wie der Fremde und anderswo Lebende gehören zum Raum, in dem sich das Menschliche für mich entwickelt, sondern auch die früher und später Lebenden, zumal jene, die mit meiner Herkunft und meiner Zukunft, der Kette meiner Vorfahren und derer, die mir nachfolgen, zu tun haben. Nach beiden Richtungen wird darin das Motiv der Gebürtigkeit, das sich mit meinem Herkommen wie meinem Anfangen und meiner Zukunftsgerichtetheit durchdringt, vertieft und ausgeweitet. Die intergenerative Zeiterfahrung ist eine Erweiterung der lebens­ geschichtlichen Spanne zwischen Geburt und Tod, in welcher sich das Individuum der Ganzheit seines Daseins vergewissert. Im Ausgriff hinter die eigene Kindheit zurück und über das eigene Altern hinaus kommen frühere und spätere Generationen in den Blick, die in einem weiten Sinn an meinem Leben beteiligt sind, die zu mir und zu meinem Leben gehören.9 Die Generationenfolge bedeutet eine Ausweitung nicht nur des Zeitrahmens, sondern des Geflechts von Eltern und Kindern, der familiären Zugehörigkeit, in deren Mitte die Geburt sich ereignet. Einige der angeführten Motive der Gebürtigkeit gewinnen im Horizont der Generativität ein besonderes Profil. Das eine, nächstliegende ist das von Hannah Arendt betonte Motiv des Anfangs. Dass mit der Geburt ein neues Leben beginnt, dass das neue Leben an ihm selbst ein anfangendes ist, welches Anfänge setzt und neue Sinngestalten hervorbringt, bekommt in der Generationenfolge zusätzliches Gewicht. Es ist die Erfahrung, dass das Leben weitergeht, dass es sich auch über das eigene Wirken hinaus erneuert und fortsetzt, immer wieder von Neuem beginnt. Es ist 9 Vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, a. a. O., S.  336 f., 358, 418 f., 438 f.

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ein tiefgreifendes Erlebnis, mit dem eine auf die Zukunft ausgreifende Erwartung einhergeht, gegebenenfalls auch eine Hoffnung, ein Versprechen. Die innovatorische, kreative Macht, die dem menschlichen Leben innewohnt, erschöpft sich nicht im eigenen Können und Schaffen, und sie kommt gerade als transzendierendes Potential dem eigenen Sein und Wirken zugute. Mit ihrer Geburt sind Menschen in ein Leben hineingeworfen, das sich vor ihnen öffnet und in dem sie fortan unterwegs sind, und sie sind in diesem Unterwegssein von einer Bewegung getragen, die über ihr eigenes Leben hinausgeht. Auch wenn der Ausblick auf kommende Generationen unbestimmter ist als die Erinnerung an vergangene Geschlechter, ist er von spezifischer Prägnanz und hat eine eigene Tragweite in der Gerichtetheit des menschlichen Lebens. Wieweit er in diese eingeht und die Dynamik des Lebens mit bestimmt – oder vielmehr zurückgedrängt wird, verschlossen bleibt – , hängt, neben äußeren Umständen, wesentlich von der inneren Offenheit der Person und ihrer Lebensführung ab. In einer affirmativen Grundhaltung liegt es nahe, die Lebensbejahung, die in der Freude über die eigenen Kinder, über das Unbekannte und Überraschende in der Beziehung zu ihnen steckt, auf die Kinder der Kinder, auf das spätere Leben und kommende Geburten zu übertragen. Wenn es zu den innersten Anliegen der Kultur gehört, das menschliche Leben weiterzuschreiben und das geschichtliche Erbe späteren Generationen zu überliefern – wie Rorty die höchste Aufgabe der Philosophie darin sieht, das Gespräch der Menschheit nicht abbrechen zu lassen10 – , so findet sich dieser Impuls im Wechsel der Generationen zum Bestreben gesteigert, Leben nicht nur zu bewahren und weiterzugeben, sondern es neu zu schaffen, neu entstehen zu lassen. Unverkennbar wird d ­ arin eine innerste Motivation des Jasagens zum Kind bekräftigt und in die Zukunft hinein weitergeführt. Der Ausblick auf eine offene Zeit und einen künftigen Neuanfang, der im Verhältnis zum Kind in unmittelbarster, intensivster Weise erlebt wird, weitet sich aus auf spätere, kommende Generationen. Die Zugehörigkeit zum Generationenzusammenhang bekräftigt desgleichen die Impulse der kulturellen Sozialisation und elterlichen Erziehung. Der geschichtlich-gesellschaftliche Raum, innerhalb dessen sich die ›zweite‹ Geburt ereignet, greift über den Kreis Richard Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S.  427.

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der Familie hinaus. Die Teilhabe am Sinn, die das Erwachen des Bewusstseins in seinem Welt- und Selbstverhältnis trägt, ist von sich aus ebenso Partizipation an einer Herkunft und Öffnung auf ein Weitergeben und Erneuern. Kultureller Sinn ist nicht eine feststehende Ressource, ein statischer Bestand, sondern ein Geschehen, zu dessen Bewegungsform das Rezipieren und Tradieren ebenso gehört wie das Kritisieren, Korrigieren und Neuerfinden11, und diese Bewegung vollzieht sich für das Individuum wie selbstverständlich in den weiteren Horizonten der sozialen Milieus und der sich ablösenden Generationen. Nicht nur der Dialog der Kulturen bildet das umfassendere Gefäß von Sinn und Verstehen, sondern ebenso die Dialektik der Generationen, in welcher kollektive Deutungen sich nicht nur kumulativ fortpflanzen, sondern dem Kreislauf von Geburt und Tod, von Erfindung und Untergang, Trauer und Neuerschaffung unterliegen.12 Je nachdem kann auch der Fluchtpunkt der individuellen Entwicklung, die Erziehung zur Mündigkeit, die generative Sinngeschichte anleiten. Doch auch wo diese nicht wie in klassischen geschichtsphilosophischen Konzepten einem emphatischen emanzipatorischen Ideal unterstellt (oder gar auf ein Fortschrittsgesetz oder eine Heilsgewissheit abgestützt) wird, verkörpert sie in der Sequenz der Geburten etwas von der Affirmativität der Lebenshaltung, die im elterlichen Verhältnis zur Geburt aufgeschienen ist. Die Elemente der Hoffnung und des Versprechens, die sowohl die kindliche Einstellung zum Leben wie den Bezug der Eltern zum Kind tragen, können sich sowohl in das Verhältnis der Generationen hinein ausweiten wie auch von diesem her Nahrung beziehen. Sie zehren von einem Vertrauen, das einzelne gar nicht für sich stiften können, sondern gewissermaßen in Anleihe beim übergreifenden Sinn, beim gemeinsamen Logos aufnehmen, der menschliches Leben ermöglicht und dem zu vertrauen nach Sokrates den letzten Rückhalt im Leben angesichts des Vergehens bietet.13 Vertrauen und Versprechen sind Grundlagen der Bewegtheit des Lebens und Ermöglichung der Zukunft, Kristallisationen eines Plädoyers für das 11

Vgl. Emil Angehrn, »Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung. Eine hermeneutische Perspektive«, in: Stefan Deines / Daniel Martin Feige / Martin Seel (Hg.), Formen kulturellen Wandels, Bielefeld: transcript 2012, S.  87– 102. 12 Vgl. Olivier Abel, »Une philosophie de la naissance«, a. a. O., S.  29 f. 13 Platon, Phaidon 89 c–91c.

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Leben und Erneuerung eines »Weltversprechens«, das der Natalität entstammt und durch alle Weltsprachen hindurch das Leben der Menschheit beseelt.14

Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, a. a. O., S.  173 ff.

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6. Die Kindheit und der Weg ins Leben Gleichsam spiegelbildlich zum Topos von der Geburt als Beginn eines lebenslangen Sterbens1 bezeichnet Erich Fromm das Leben als einen »Prozess fortwährender Geburt«. Leben, so seine These, bedeutet, »jede Minute geboren zu werden«, womit nicht nur der unablässige physiologische Prozess gemeint ist, demzufolge mit dem Ende der Geburt der Tod eintritt, sondern desgleichen der psychologische Entwicklungsgang, in welchem viele nach Fromm nie an das Ende gelangen und die Nabelschnur der Herkunft zerreißen, so dass sie niemals »ganz sie selbst« werden und »niemals ganz geboren« sind.2 Die pointierte These erweitert den Fokus der Gebürtigkeit über die Punktualität des Urereignisses hinaus, in welchem ein menschliches Wesen zur Welt kommt. Sie soll im Folgenden nicht in dieser maximalen Extension des Lebens als ganzem, wohl aber im engeren Horizont jener Lebensphase bedacht werden, die an die Geburt anschließt und darin markante Züge der Natalität weiterzeichnet: Die Kindheit, die einen heuristischen Zugang zum Verständnis der Geburt eröffnet, manifestiert sich ihrerseits im Lichte der Geburt. Kindheit interessiert nicht einfach als ein bestimmtes Lebensstadium neben anderen – Jugend, Adoleszenz, Reife, Alter, hohes Alter –, sondern in ihrer Nähe zum Anfang, als frühe Lebenszeit und Weg ins Leben. Sehen wir zu, inwiefern sie sich in dieser Nähe in ihrem Eigensten zeigt.

Vgl. oben 2.2; Artur R. Boelderl, Von Geburts wegen, a. a. O., S.  9 ff. Erich Fromm, Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S.  114.

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6.1  Anfang und Entwicklung Kindheit steht als erstes im Zeichen der Schöpfung, in der Kontinuität des Anfangens. Was bei der Geburt als Urereignis und Erschaffung aus dem Nichts erscheint, das unvermittelte Da-Sein ­einer neuen Person, das Aufgehen eines neuen Lichts und das Einsetzen einer neuen Geschichte, durchzieht desgleichen das Dasein des Kleinkindes, das sich regt, das die Dinge, Menschen und Tiere wahrnimmt, sich äußert, andere anblickt und sich anderen zu erkennen gibt. Das Begeisternde des Sich-Öffnens einer neuen Welt setzt sich fort in den stufenweisen Entdeckungen und Lernschritten des Neugeborenen und analog in den Erfahrungen und Äußerungen des Kindes. Diese Entwicklung ist ein bewegendes Erlebnis für die Begleitpersonen, allen voran die Eltern, aber evidenterweise auch für das heranwachsende und die Welt entdeckende Kind selbst, angefangen mit den ersten Phasen des Erblickens und In-sich-Aufnehmens, des Sich-Aufrichtens und Gehens, des Kommunizierens mit Menschen, mit Tieren und mit Sachen. Das Offensein für das Neue bezeugt sich im Bewegungsdrang, in der ungestillten Neugier, im unablässigen Reden und Plappern, in der Lust am Spielen und Nachahmen, am Zuhören und Zuschauen. In einer besonderen, prägnanten Form manifestiert sich das umfassende Anfangen und Zur-Welt-Kommen in der Entstehung und Entwicklung der Sprache. Generell hat sich die Konkordanz zwischen dem Zur-Welt-Kommen und dem Zur-Sprache-Kommen3 als Grundlage der Sinnkonstitution und des darin wurzelnden verstehenden Selbst- und Weltverhältnisses gezeigt. Zu den aufregenden Entwicklungsschritten in diesem Verhältnis gehört die stufenweise Ausbildung der Formen der Sprachlichkeit. Es sind Formen, die im elementaren, mit anderen Lebewesen geteilten expressiven Verhalten gründen und zuletzt spezifisch menschliche Weisen der Kommunikation mit anderen und des Umgangs mit Dingen und Sachverhalten ermöglichen. Schon Aristoteles ist von dieser Differenz ausgegangen, wenn er den Menschen als das über Sprache (logos) verfügende Lebewesen definiert und es darin von den nur die Stimme (phone) besitzenden Tieren unterscheidet. Mittels dieser können Tiere ihre Empfindungen, etwa ihr Unwohlsein, ausdrücken, auch anderen etwas mitteilen, sie etwa auf eine Gefahr hinweisen, doch nicht am 3

Vgl. Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen. Zur Sprache kommen, a. a. O.

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Gespräch über Recht und Unrecht teilnehmen und sich über die Welt und über sich selbst verständigen, wie es die genuin menschlich-gemeinschaftliche Lebensform ausmacht. 4 Die rudimentäre Distinktion ist in sprachwissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Untersuchungen durch differenzierte Struktur- und Funktionsanalysen abgelöst worden, die hier nicht als solche zu verhandeln sind.5 Als Hintergrund relevant im vorliegenden Kontext sind zum einen Sprachursprungstheorien, die der allgemeinen Frage nachgehen, wie die Sprache gattungsgeschichtlich zusammen mit der menschlichen Lebensform entstanden ist, zum anderen entwicklungspsychologische Ansätze, welche die Ebenen der Konstitution und Aneignung der Sprachlichkeit beim Individuum entfalten, schließlich sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische Konzepte, die die Hauptfunktionen und Dimensionen des Sprachverhaltens spezifizieren. Die in solchen Untersuchungen herausgestellten Elemente interessieren hier im Blick auf das, was mit dem Lebensanfang und in der Entwicklung des Kindes unterwegs ist. Wichtig ist die Mehrdimensionalität, in welcher sich der Erwerb und der Gebrauch der Sprache realisieren: im kommunikativen Verhalten zu anderen Menschen, im Bezug zu den Dingen und im Verhältnis zu sich selbst. Mittels der Sprache lernt das Kind zum einen, mit seiner Umwelt zu kommunizieren, in einer anderen, differenzierteren Weise, als es dies schon vor- und außersprachlich im Ausdrucks- und Körperverhalten, in Gestik und Interaktion praktiziert. Sprache ist das privilegierte Medium, in dem wir uns mit anderen verständigen, ihnen Gemeintes mitteilen und von ihnen Botschaften empfangen; den Großteil der Sprechakte – Behaupten, Fragen, Befehlen, Versprechen etc. – vollziehen wir im intersubjektiven Raum der Kommunikation. Vom ersten Tag an wächst das Kleinkind in diesen gemeinsamen Raum und diese Interaktion hinein, und die Schritte seiner Entwicklung markieren Schwellen des Weiterkommens und Konkretisierens der für seine Selbstwerdung fundamentalen Vernetzung mit anderen.

Politik 1253 a 10–18. Stellvertretend sei verwiesen auf: Charles Taylor, Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017; Jerome Bruner, Child’s Talk. Learning to Use Language, New York  /  London: Norton & Company 1983. 4 Aristoteles, 5

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Ebenso fundamental ist zum anderen das darin sich öffnende Verhältnis zur Welt: die Möglichkeit, mittels der Sprache sich auf Dinge zu beziehen, sie zu identifizieren, zu unterscheiden und zu erkennen, zwischen ihnen Beziehungen herzustellen und die Strukturen und Gefüge in der Welt sinnhaft zu erschließen. Aktualisiert wird im Sprechen ein zugleich konstruktiver wie rezeptiver Bezug; Sprache ist ein Organ, sowohl Welten zu erschaffen und Geschichten zu erfinden wie in die gegebene, uns entgegenkommende Sache einzudringen und sie darzustellen. Eine alte philosophische Doktrin geht von der Konvergenz zwischen Erkenntnis-, Sprach- und Seinsformen aus und bekräftigt darin die Überzeugung, dass sich der menschliche Seinsbezug in ursprünglichster Weise im Gefäß der Sprache bildet. Im kindlichen Verhalten und Lernen wird der Konnex in direktester Weise fassbar: Die Schritte des Sprechenlernens sind ebensoviele Weisen, die Wirklichkeit zu erfassen und sie mitzugestalten. Schließlich, drittens, öffnet sich in der Sprache das Subjekt für sich selbst, wird es sich selbst gegenwärtig, für sich ansprechbar, benennbar, beschreibbar. Das Erwachen des Selbstbewusstseins, das im Vorsprachlichen und Sinnlich-Emotionalen einsetzt, kommt zu einer neuen Explizitheit und Selbstklarheit im Mit-sich-Reden und Übersich-Sprechen. Auch die Genese des Selbstbezugs ist ein essentieller Bestandteil der frühen Subjektwerdung, der von den Verhältnissen zur Welt und zu anderen Menschen nicht ablösbar ist, sondern sich im Wechselspiel mit ihnen entfaltet und konkretisiert. Im Prozess der Entwicklung finden Interferenzen zwischen Weltwahrnehmung, Sozialverhalten und Sprachpraxis statt, ja, er baut wesentlich auf ihrer Verflechtung auf. Das Erlernen von Semantik und Grammatik ist nicht ohne gemeinsame Sprachpraxis, ohne Rollenverhalten und kollektive Sprachspiele, ohne das Wechselspiel von Frage und Antwort und ohne geteilte Aufmerksamkeit im Umgang mit Gegenständen oder im Betrachten und Kommentieren von Bildern möglich. Darin konsolidieren sich die Modalitäten der identifizierenden Bezugnahme und prädikativen Qualifizierung, die mit Entwicklungsschritten des Sprachgebrauchs einhergehen, von rudi­mentären Ein-und-Zwei-Wort-Äußerungen bis zu ausgebildeten Satzgefügen. Ein weiter Zeitraum und ein weites kognitives und kommunikatives Spektrum spannt sich auf zwischen basalen deiktischen Bezugnahmen, ersten Namens- und Wortverwendungen und  -kombinationen und der komplexen Propositionalität sprachlicher

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Verständigung. Wenn in phänomenologischen Ansätzen, unter anderem im Blick auf die Sprachgenese, nicht selten und zu Recht dem vorsprachlichen Ausdrucks- und Zeigeverhalten eine fundierende Rolle im menschlichen Zur-Sprache-Bringen beigemessen wird, so darf darob nicht die Eigenlogik und das spezifische Potential der Propositionalität übersehen werden. Sie konstituiert die genuin menschliche Sprache, in welcher es beispielsweise möglich ist, sich in unterschiedlichen Einstellungen – des Befürchtens, Vorhersagens, Bedauerns etc. – auf identische Sachverhalte zu beziehen und ­darin über bildliche oder gestische Darstellungen hinauszugehen. Die im Laufe der Entwicklung wie selbstverständlich erfolgende Aneignung der logisch-grammatischen Struktur der Sprache transzendiert die semantische Kompetenz des Gebrauchs von Worten und ihrer Bezug­nahme. Die Sprachkompetenz ist hier als exemplarische Entwicklungsdimension im Blick, in welcher das Neugeborene nach und nach zu einem verstehenden, genuin menschlichen Verhältnis zu seinem Leben und zu seiner Umwelt gelangt. Exemplarisch ist sie desgleichen für den affirmativen Grundzug des Anfangs, der in der Gebürtigkeit des Menschen angelegt ist. Es ist eine Affirmativität, die, wie gesagt, von der Umwelt erfasst und geteilt wird, wenn etwa Eltern das zunehmende Sprechen ihres Kindes begleiten, die aber auch vom Kind selbst erlebt werden kann. Zwei beispielhafte Szenen mögen dies illustrieren. Die eine liegt im ›jubilatorischen‹ Verhalten, mit dem Kleinkinder reagieren, wenn sie sich zum ersten Mal im Spiegel selbst erkennen. Es ist das tiefe, neue Erlebnis des Bewusstwerdens seiner selbst, das hier symptomhaft zum Ausdruck kommt; Jacques Lacan hat das ›Spiegelstadium‹ als zentrale Entwicklungsphase in der Genese des Ich herausgearbeitet.6 Die andere Szene vergegenwärtigt den analogen Enthusiasmus bei der Entdeckung der Worte. Die Lehrerin der seit ihrem zweiten Lebensjahr blinden und taubstummen Helen Keller berichtet vom überwältigenden Erlebnis, als das Kind entdeckt, »dass jedes Ding einen Namen hat«, und voll Begeisterung anfängt, die Bedeutung und Funktion der menschlichen Sprache zu begreifen, und nach der Bezeichnung jedes Dinges fragt.7 Es ist wie 6 Jacques Lacan, »Le Stade du miroir comme formateur de la fonction du Je: telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique«, in: E ­ crits I, Paris: Éditions du seuil 1966, S.  89–97, hier S.  90. 7 Helen Keller, Die Geschichte meines Lebens. Mit einem Vorwort von

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ein Spiegelbild des von Kant evozierten Schreis des Säuglings, der unter seinem In-sich-Gefangensein und seiner Unmündigkeit leidet. Das Hineinkommen in das menschliche Dasein, das Sichbewegenund Sichäußernkönnen, das Entdecken und Begreifen der Welt und Sichverständigenkönnen mit anderen sind Fluchtlinien des Geborenwerdens und Anfangens, die nicht einfach strukturelle Linien der Kindheitsentwicklung ausziehen, sondern das Zusichkommen des Menschen affirmieren, das die Existenz von ihrem Anfang her und in ihrem Anfangen bestimmt.

6.2  Kindheitserinnerung und Glücksversprechen Die Perspektivenverschiebung von der Geburt hin zur Kindheit tangiert die eingangs thematisierte epistemische Aporie im Umgang mit dem Anfang. Dass wir nicht eigentlich dabei, erlebensmäßig beteiligt waren, sondern uns erst nachträglich den Anfang und das Angefangenhaben zu eigen machen, ist die zugespitzte Formulierung einer kognitiven Grenze, die nie absolut, immer eine graduelle war und die mit zunehmendem Hineinkommen in das Leben verblasst. Die infantile Amnesie überdeckt Erlebnisse der ersten Monate und Jahre, die wir dem Kleinkind als zu ihrer Zeit fraglos präsente mentale Zustände zuschreiben, die mit zunehmendem Alter in gesteigerter Wachheit und Selbst-Bewusstheit erfahren werden. Dennoch bleibt die retrospektive Aneignung ein spezifischer Zugang zur Frühzeit, der das Verhältnis zu Geburt und Kindheit mit dem Verhältnis zu Sterben und Tod kontrastiert. Auch wenn wir offenlassen, wieweit in beiden Fällen das äußerste, das allererste beziehungsweise allerletzte Stadium dem bewussten Erleben entzogen ist – oder das Ende sich vielmehr in höchster Bewusstheit ereignet – , so bilden sie entgegengesetzte Endpunkte eines Erwachens und Erlöschens, eines ZuSich-Kommens und Zur-Welt-Kommens auf der einen Seite, eines Rückzugs und Abschiednehmens von sich und von der Welt auf der anderen. Was den Lebensanfang angeht, so haben wir zunächst die zweifache Sicht ernst zu nehmen, die sich mit dem Übergang von der F. Holländer, übers. von P. Seliger (Mit Briefen der Autorin 1887–1901 und Berichten von A. M. Sullivan), Stuttgart: Lutz 1905, S.  224; vgl. Emil Angehrn, Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, S.  130.

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Geburt zur Kindheit in zunehmender Prägnanz ausbildet und die Kindheit zum Gegenstand psychologischer Forschung ebenso wie eigener Reminiszenz werden lässt. Wenn erstere für unser Verständnis der frühen Lebensphase und ihrer Entwicklungsschritte von großer Fruchtbarkeit ist, so ist die selbstbezügliche Erinnerung für ein hermeneutisches Verständnis des Lebensanfangs gleichermaßen bedeutsam. Wir haben ein spezifisches Verhältnis zu unserer Kindheit, das affektiv und erlebensmäßig konkreter ist als das Verhältnis zu unserem Geborensein als solchem. Über die Kindheit besitzen wir einen spezifischen Zugang zur frühen Zeit unseres Lebens. Er beinhaltet zum einen die kognitive Vergegenwärtigung vergangener Episoden und Erlebnisse. Wir können uns an vieles, mit wechselnder Zuverlässigkeit, erinnern, wobei die Lücken ebenso groß, meist umfangreicher sind als das Bewahrte; die Kindheitsbesinnung teilt das Ineinander von Erinnern und Vergessen mit der biographischen Rückschau auf die Lebensphasen überhaupt. Wie diese ist die Kindheitserinnerung zum anderen kein rein konstatierendes Vergegenwärtigen, sondern von Emotionen getragen und von wertenden Stellungnahmen begleitet. Es ist eine besondere Gestimmtheit, welche die Kindheitserinnerung umgibt und in literarischen Zeugnissen wie in lebensweltlichen Erzählungen anklingt. Sie kann durch die rückblickende Sehnsucht, die Suche nach der verlorenen Zeit, aber auch die einstige Lebensatmosphäre geprägt sein, durch die heitere oder gedrückte Stimmung der damaligen Zeit, die schwankende Erwartung des Kommenden. Kindheitserinnerung kann zwischen Leidenserinnerung und Glücksversprechen oszillieren, zwischen der weihnachtlichen Vorfreude und der beklemmenden Ahnung des hereinbrechenden Unheils8, zwischen eigentümlicher Traurigkeit und dem Vorschein der Hoffnung. Dass beides dem Rückblick auf vergangene Zeiten seinen Stempel aufdrücken kann, ist gegen den Vorwurf der Idealisierung festzuhalten, der die Idylle der heilen Kindheit hinterfragt. Wie schon die Geburt in zwiefältiger Wahrnehmung, als Gut oder Übel, Last oder Geschenk reflektiert wird, so kann auch das Gedenken der frühen Jahre sowohl im Zeichen der ursprünglichen Geborgenheit und seligen Unschuld stehen wie der Verlassenheit und Entbehrung.

8 Vgl. die eindringlichen Schilderungen der Vorahnung des Kriegs bei Aharon Appelfeld, Meine Eltern, Berlin: Rowohlt 2017.

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Dennoch scheint es vielfach wie ein struktureller Zug der Kindheitserinnerung als solcher, der diese mit einer bejahenden, hoffnungsvollen Sicht der frühen Jahre verbindet. Die »Erinnerung des fernsten und ältesten Glücks«9 ist nicht nur eine Ressource der Sozialkritik, auf welche sich diese auch in Zeiten der Verfinsterung stützen kann, sondern ebenso ein eigenster Impuls der Lebensbeschreibung in der Suche nach den »verlorenen Paradiesen« der vergangenen Zeit.10 Doch ist es eine Erinnerung von besonderer Art. Sie meint nicht notwendig und nicht in erster Linie eine Rückkehr zu bestimmten, positiven Zuständen erlebter Erfüllung, wie sie Glücksutopien ausmalen mögen. Sie ist in der Tiefe nicht eine Erinnerung an Fakten, sondern an Möglichkeiten, an unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte, die auch als nicht-realisierte die Lebenswirklichkeit wie die Erinnerung durchdringen. Kindheitliche Glückserinnerung ist im genuinen Sinn Erinnerung an ein Glücksversprechen. Sie hat um sich einen Hof des Unbestimmten, ähnlich wie in den Wünschen des Märchens der Beschenkte nicht zu sagen vermag, was er genau begehrt, um glücklich zu sein, oder wie emphatische Glücksvorstellungen das Glück mit Konnotationen der Überfülle und des Unermesslichen versehen, die nicht nur für seinen Reichtum, sondern auch seine Unfassbarkeit stehen. Im erinnernden Rückblick bedeutet die Unfassbarkeit ein Zurückweichen in das einst ersehnte und versprochene, doch nie in Bestimmtheit vergegenwärtigte oder gar real gewordene Glück. Es ist ein Glück, das den genauen Status dessen teilt, was Ernst Bloch als Erfüllung im Bild der Heimat ins Auge fasste – als »etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«.11 Es ist bemerkenswert, dass Augustinus eine analoge Struktur, unabhängig von Inhalten, mit dem Gedächtnis als solchen verknüpfte, dessen Tiefe nach ihm von der Suche nach etwas geleitet ist, das hinter das Erlebte und Erkannte zurückreicht, wie von der Sehnsucht »nach einem Unbekannten« bewegt, »das ich nie erfahren oder so völlig vergessen habe, dass ich nicht einmal mich erinnere, es verMax Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Phi­ losophische Fragmente, Frankfurt am Main: S.  Fischer 1969, S.  71. 10 Marcel Proust. À la recherche du temps perdu, Tome III, Bibliothèque de la Pléiade, Paris: Galllimard, S.  870. 11 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1959, 3. Bd., S.  1628. 9

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gessen zu haben«.12 In ihrer Zeitform konvergiert die Figur mit der früher genannten eigentümlichen Idee eines ›Vergangenen, das nie gegenwärtig war‹, die in herausgehobener Stellung bei Autoren wie Merleau-Ponty, Derrida, Levinas und Ricœur wiederkehrt und für den je zurückliegenden, nie in Gegenwärtigkeit zu überführenden Ursprung steht, der sowohl für die historische Erinnerung wie für die lebensweltliche Prozessualität des Sinns relevant ist.13 Sie lässt einen Zug der historischen Wahrnehmung hervortreten, die im Gewesenen nicht nur das Realisierte, sondern die offenen Möglichkeiten und den unabgeschlossenen Prozess, im Vergangenen das Unerledigte und nach vorne Treibende erkennt. Wenn diese Dynamik im Horizont der Leidenserinnerung darauf zielt, das Unabgegoltene einzuholen und das Beschädigte zurechtzurücken, so verkörpert sie im Horizont der Glückserinnerung die Artikulation einer Sehnsucht und eines Versprechens. Exemplarisch hat Adorno ein solches Glücksversprechen mit der Erinnerung an Orte und Namen verbunden, wie er sie bei Proust geschildert sieht, aber auch, in den Odenwald verlegt, mit eigenen Kindheitserinnerungen assoziiert und mit der Chiffre der Heimat verknüpft14 – wie er auch seine Rückkehr aus dem Exil mit dem Wunsch verbindet, dorthin zurückzukehren, wo er seine Kindheit hatte, »am Ende aus dem Gefühl, dass, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen«.15 Leitend ist nicht das Bild eines initialen Paradieses, sondern ein aufscheinendes Glück, das gleich danach vermisst wird, doch als vermisstes im Gedächtnis bleibt. »Nur wer dieses Gedächtnis hat«, meint Adorno, »hat die Sehnsucht nach dem Glück in sich«, nach einem Glück, dessen Ahnung er nicht haben könnte, wenn er Confessiones X, 20. – Vgl. Paul Ricœur, der die Erinnerung an die ›unvordenkliche‹, unerinnerbare Vergangenheit (le passé immémorial) mit dem ›tiefen Vergessen‹ zusammenbringt: La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris: Seuil 2000, S.  570–574. 13 Siehe oben 4.1. 14 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S.  364; vgl. Brief an die Mutter vom 24. September 1950 (Briefe und Briefwechsel, Bd. 5: Briefe an die Eltern 1939–1951, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S.  535 f.); »Rede über Lyrik und Gesellschaft«, in: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften 11, a. a. O., S.  48–68, hier S.  61. 15 Theodor W. Adorno, »Auf die Frage: Warum sind Sie zurückgekehrt?«, in: Vermischte Schriften I, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, Band 20.1, S.  394–395, hier S.  395. 12 Augustinus,

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»nicht irgendeine Spur davon kennengelernt hätte.«16 Es sind Erinnerungen nicht an Fakten, sondern an ein Versprechen, dessen Gegenstand der Anschauung entzogen bleibt. Anschaulich beschreibt Adorno diesen Entzug in der Ahnung des Glücks, das »Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen.«17 In solchen Umschreibungen deutet sich an, inwiefern die Glücksvorstellung nicht nur eine mögliche affektive Besetzung des Erinnerns ist, sondern mit diesem, sofern es das Unerledigte offenhält, in bestimmter struktureller Affinität steht. Sie ist nicht die alternativlose, aber die eindringlichste, affirmativste Ausführung jenes Pathos des Anfangs, das eine Philosophie der Natalität mit der Idee der Gebürtigkeit verbindet. Sich im Zeichen des Geborenseins über sich zu verständigen bedeutet nicht nur eine Reflexion auf die Herkunft, sondern ebenso auf das Offene, das Verlangen, die Zukunftsbezogenheit des Anfangs. Die Bilder der Kindheit sind Ausführungen jenes Jasagens zum neuen Leben, das sich als ein Leitmotiv unseres Verhaltens zum Ereignis der Geburt gezeigt hat.

6.3  Das Bild der Kindheit Geburt und Kindheit stehen im Zeichen des Anfangs – im Zeichen des Lebensanfangs und des Anfangens im Leben. Sie stehen für das Offensein und für das Neue, das sich mit dem Eintreten ins Leben ereignet, für die Zukunftsgerichtetheit, für die Lebensbejahung und das Jasagen zum neuen Dasein. In vielen Fällen drückt sich die affirmative Grundhaltung in spezifischen Erlebensformen und Einstellungen aus, im Erleben der Geburt als Geschenk, im Vertrauen des beginnenden Lebens in die Welt und in die kommende Zeit, im Drang des Kennenlernens und Wachsens, in den Hoffnungen, welche Eltern mit der Geburt verknüpfen, im Glücksversprechen, »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«. Theodor W. Adorno. Philo­ soph, Soziologe und Kritiker, Film von Henning Burk und Martin Lüdke, Hessischer Rundfunk / Westdeutscher Rundfunks 1989: https://www.youtube.com/watch?v=OMrtcGBFdMA. 17 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S.  364. 16

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dessen Licht die Kindheit erhellt. All dies sind Insignien einer Lebensbejahung, die beim Perspektivenwechsel von der Geburt zur Kindheit zusätzliches Profil gewinnen und die entsprechend in der Literatur mit Bezug auf die Kindheit anders, deutlicher hervortreten als im Rückblick auf die Geburt. Der Erlebensraum der Kindheit, gezeichnet durch das nach vorne strebende, sich auf die Welt öffnende und die Welt aufnehmende Leben, das auch das Jugendalter durchziehen kann18, durch das neugierig experimentierende, lernende Verhalten und das Versprechen des Kommenden, ist wie ein heuristisches Vergrößerungsglas auf die Zukunftsgerichtetheit der Gebürtigkeit. Dass die Kindheit in alledem phänomenal fassbarer und der Reflexion näherliegend ist als die Geburt, hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass ihr Reichtum nicht nur aus der Außenperspektive der Eltern oder in der retrospektiven Selbstzuschreibung artikulierbar ist, sondern im Erleben des Kindes selbst zunehmend präsent und von daher der eigenen, rückblickenden Erinnerung zugänglich ist. Wir haben eine Erinnerung an die eigenen Kindheitsjahre, nicht an die Geburt. Dabei kann die Gestimmtheit der Erinnerung – als Sehnsucht, Trauer, Zuneigung, Abwehr – , die teils dem Erinnerten, teils der aktuellen Lebensrealität entstammt, auf ihren Gegenstand abfärben, die Vergangenheit als hoffnungsvoll oder hoffnungslos, als verlorenes Paradies oder unbewältigte Krise erscheinen lassen. Wenn die Kindheit in einer idealtypischen Wahrnehmung vornehmlich im Lichte des kindheitlichen Glücks und der Zukunftsverheißung erscheint, so ist darin auch umgekehrt ein Widerschein des lebensbejahenden geburtlichen Anfangs auf die frühen Jahre des Lebens zu erkennen. Gleichwohl ist dieses Bild der Kindheit, wie gesagt, nicht alternativelos. Es steht in Spannung zu entgegengesetzten Wahrnehmungen, in denen die Kindheit als Zeit der Unbehaustheit und des Verlusts, wenn nicht gar der Gewalt und des Leidens erfahren und erinnert wird. Was Kinder in Situationen des Kriegs und des sozialen Elends erleiden, was ihnen an äußerem Leid und intimer Verletzung angetan wird, spricht jeder Kindheitsidylle Hohn. Auch diesseits von 18 So charakterisiert Maria Stepanova rückblickend die Jugendzeit ihrer Urgroßmutter: »Sarras junge Jahre, bis zu Lolas Geburt, atmen Anfang – ­alles scheint noch vor ihr zu liegen, soviel Verschiedenes könnte geschehen«: M ­ aria Stepanova, Nach dem Gedächtnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018, S.  414.

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direkter Gewalt und physischem Leiden, mit Bezug auf soziale Zurückweisung und seelische Unterdrückung hält Édouard Louis in seinem Rückblick fest: »An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.«19 In gewisser Weise bildet das unschuldige Leiden von Kindern den eigentlichen Paroxysmus der Negativität, in welcher menschliches Vertrauen und philosophischer Vernunftglaube ihre radikale Herausforderung finden. Dieser Kontrast ist zu bedenken, wenn Geburt und Kindheit in der Helligkeit des erwachenden, zu sich kommenden Lebens vergegenwärtigt werden. Und dennoch wäre es künstlich, hier eine Balance gleichgewichtiger Optionen zu statuieren und darüber hinwegzusehen, dass die Phänomene des Geborenwerdens, der elterlichen Beziehung zum Kind, des Erlebens und Erinnerns eigener Kindheit von sich aus affirmative, lebensbejahende Konstellationen, Stimmen des Lebens verkörpern, die gleichsam nur gegen ihre Natur negativistisch verformt und unter negativen Vorzeichen erfahren werden – so sehr solche Verformung ihren Rückhalt in der sozialen und historischen Realität haben mag. Hannah Arendts Erinnerung an den Freudenhymnus Puer natus est nobis bleibt im Negativen wie im Positiven ein Fluchtpunkt, ein unhintergehbarer Referenzpunkt in der Besinnung auf Geburt und Kindheit. Unser Bild der Kindheit ist, wie das der Geburt, weder schlechthin feststehend noch reines Konstrukt. Es ist nicht unabhängig von realen Erfahrungen wie gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingungen des Geborenwerdens und Heranwachsens. Dabei verändert es sich nicht nur für die Individuen mit den äußeren Umständen, gegebenenfalls auch den Phasen und Situationen der Kindheit. Darüber hinaus variiert es kulturgeschichtlich in der schematischen Beschreibung des kindlichen Verhaltens wie der ethischen und affektiven Qualifizierung des Kindseins. Familienbilder, Erziehungsnormen, Geschlechterrollen, Entwicklungsvorstellungen interferieren in der Art und Weise, wie eine Epoche, eine Gesellschaft, ein soziales Milieu das Normal- und Idealbild des Kindes, seines Heranwachsens und Erwachsenwerdens zeichnen. Gesellschaftskonzepte prägen die Vorstellung davon, wieweit kindliche Geborgenheit und individuelle Selbständigkeit, familiäre Bindung und Emanzipation das Sein des 19

Édouard Louis, En finir avec Eddy Bellegueule, Paris: Seuil 2014, S.  13.

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Kindes und seine Stellung in der Gemeinschaft definieren. Ein Blick auf ferne Zeiten und fremde Kulturen macht deutlich, wie tiefgreifend die typologischen Differenzen und historischen Veränderungen sind, denen die realen Bedingungen wie die Wunsch- und Idealbilder des kindlichen Lebens unterliegen. In gewisser Weise noch tiefergreifend sind die Differenzen hinsichtlich der Frage, wieweit in den Vorstellungen der Lebensalter überhaupt ein eigenständiger Lebensabschnitt der Kindheit vorkommt oder, wie zuweilen in alten Bildern, Kinder gewissermaßen als kleine Erwachsene figurieren. Nach Philippe Ariès hatte die traditionale europäische Gesellschaft nur sehr schwach entwickelte Vorstellungen vom Kind und vom heranwachsenden Jugendlichen. Sie beschränkte die Kindheit auf das zarteste Kindesalter des physisch abhängigen Kleinkindes, das bald übergangslos zu den Erwachsenen gezählt wurde, deren Arbeit und Spiele es teilte; damit geht einher, dass die alte Familie durch Funktionen des Besitzes und des Berufs geprägt war, doch nicht einen Hort affektiver Bindung darstellte.20 Im Lichte der oben exponierten elterlichen Beziehungen zur Kindheit – der Liebe, der Fürsorge, der Erziehungspflicht – ist es naheliegend, dass sich mit der Familienform auch der Status der Kindheit fundamental verändert. Offensichtlich zeichnen sich die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte dadurch aus, dass sie die Kindheit nicht nur anders charakterisieren als frühere Epochen, sondern dass sie überhaupt das Kindsein in seiner Eigenständigkeit zur Geltung bringen, dass sie der Erziehung und Bildung einen hohen Stellenwert beimessen und Fragen nach der Würde und den Rechten von Kindern (bis zurück zur Würde und zum Lebensrecht des Ungeborenen) als Fragen ernst nehmen. Im Ganzen können solche historisch-kulturvergleichenden Analysen, als Vertiefung oder Kontrastfolie, zur phänomenologisch-hermeneutischen Diskussion von Geburt und Kindheit beitragen. Sich heute im Blick auf die eigene Herkunft über sich selbst und sein Leben zu verständigen steht im Horizont dessen, wie Menschen überhaupt ihr Geborensein und Aufwachsen auffassen und als Grundlagen ihres Daseins wahrnehmen.

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Vgl. Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München: dtv 1978, S.  45 f.

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6.4  Der zweifache Übergang Das Leben der Menschen hat einen Anfang. Menschen kommen auf die Welt und in das Leben hinein. Der Anfang des Lebens markiert nicht nur den Grenzpunkt einer zeitlichen Ausdehnung. Er ist ein Übergang, der wesentlich zur Seinsweise des Menschen gehört und der sich über den ersten Initialpunkt hinaus auf das beginnende, sich Gestalt gebende, zu sich kommende Leben des Kindes erstreckt. Er hat sein Pendant in dem anderen großen Übergang, als den die meisten Kulturen und Religionen das Zu-Ende-Gehen des Lebens, das Sterben und den Tod auffassen. Neben dem Hineinkommen in das Leben gibt es das Aus-dem-Leben-Scheiden, das je nachdem als Ablösung der Seele vom Körper, als Verwandlung in eine ­andere Seinsform, als Beginn eines neuen Lebens gedacht wird. Das Leben als ganzes ist ein Übergang, ein In-das-Leben-Kommen und ein Verlassen des Lebens. An ihnen selbst stehen sich Geburt und Tod, Kindheit und A ­ lter spiegelbildlich, als das ganz Andere gegenüber. Zwischen ihnen herrscht eine fundamentale Asymmetrie. Die Geburt ist das Ur­ ereignis, das mich ins Leben bringt, mir das Leben schenkt, sie ist wie eine Gabe, von der ich zeitlebens zehre. Der Tod ist ein Geschehen, das mich bedroht und schließlich überwältigt, die Begegnung mit ihm eine Grenzsituation, der ich mich zu stellen, mit der ich mich auseinanderzusetzen habe. Geburt und Tod sind Gegenstand der ältesten Erinnerung und der weitesten Vorschau, deren affektive Besetzung in typischen Fällen grundlegend divergiert, als Suche nach dem verlorenen Ursprung und Sehnsucht nach dem kindlichen Glück, als Furcht vor dem Altern und Sterben, als Angst vor dem Nichts. Für den Einzelnen wie für Gesellschaften und Kulturen vari­ iert ihre Präsenz im Leben. Anfang und Ende sind in diesem mehr oder weniger gegenwärtig oder abwesend, zentral oder an den Rand gedrängt, lebensbestimmend oder nebensächlich. Neben der Geburtsvergessenheit in der Theorie, der Vernachlässigung der Kindheit in bestimmten Kulturen gibt es die Verhüllung des Alters, die Verdrängung des Todes in der sozialen Öffentlichkeit oder im individuellen Leben. Doch ungeachtet solcher Verdeckung bleiben Geburt und Kindheit, Alter, Sterben und Tod fundamentale Angelpunkte der Existenz, von denen eine unverkürzte Verständigung über die conditio humana nicht absehen kann. Um zu erkennen, inwiefern beide Pole in das Verstehen des Menschen eingehen, ist nun der

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zweite Übergang, das Aus-dem-Leben-Scheiden in seiner Gestalt und existentiellen Bedeutsamkeit näher zu betrachten. Bestimmend bleibt bei aller Divergenz das Gemeinsame, dass Geburt und Tod unhintergehbar zu mir gehören, dass sie mein Leben ausmachen. Sie sind das von allen Menschen Geteilte, die einzige Erfahrung, die sie alle gemeinsam haben, die aber ein jeder in höchst subjektiver, individueller Weise macht. Von beiden habe ich Rechenschaft abzulegen, wenn ich mich über mich selbst verständigen und mir in meinem Leben als Ganzem gegenwärtig werden will.

III. Alter(n)

7. Sich vom Ende her verstehen – Alter und Tod Sich über sich und über sein Leben zu verständigen gehört zum Wesen des Menschen. Wir schreiben ihm diese Verständigung als spezifische Auszeichnung und unverzichtbares Merkmal seiner Existenz zu. Der Mensch macht sich ein Bild von sich selbst, er konstruiert, interpretiert, korrigiert dieses Selbstbild, er macht sich Vorstellungen von seinem Leben, von seiner Vergangenheit, von seinen Möglichkeiten, seinen Plänen und Wünschen. Er verständigt sich über sich selbst aus seinem Leben heraus – aus der Mitte des Lebens, vom Lebensanfang her, auf das Lebensende hin. Spiegelbildlich zur Reflexion auf Geburt und Kindheit bildet der Ausblick auf Alter, Sterben und Tod einen Angelpunkt seines Seins und seines Selbstverständnisses. Das Leben, aus dem heraus wir ­unser Bild von uns gewinnen, ist ein Leben, das von einem Ursprung herkommt und auf ein Ende zugeht, schließlich zu Ende geht. Wie wir im Rückblick nicht nur das Urereignis der Geburt, sondern das Hineinkommen in das Leben, die Kindheit, vor Augen haben, so im Ausblick nicht nur den Tod, sondern die Annäherung an das Lebensende, das Alter, und den Prozess des Sterbens. Nicht nur das Erste und das Letzte, sondern auch das Zweite und das Vorletzte umspannen den Rahmen, in dem sich unser Leben vollzieht und aus dem heraus wir uns gegenwärtig werden. Dieser Rahmen ist nicht nur ein zeitlicher Horizont unseres Daseins. Er ist ein Sinnraum, in dem wir uns bewegen, ein Bedeutungshorizont, innerhalb dessen wir unser Leben gestalten und interpretieren. Den Kern solcher Selbstverständigung bilden die Fragen ­danach, wer ich bin, was ich sein will, wie ich leben soll. Doch geht ihr Interesse über die normativ-voluntative Selbstvergewisserung hinaus. Mich-Verstehen beinhaltet auch das Interesse an dem, was ich faktisch bin und geworden bin, woher ich komme, wie ich lebe, wohin ich gehe. Selbstverständigung ist in die Prozessualität unse-

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res Lebenslaufs eingelassen, sie entfaltet sich in einem Zeitraster, das zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgespannt ist. Ein Schwerpunkt der Selbstfindung liegt zunächst im Vergangenen; historische Selbstvergewisserung bildet einen Angelpunkt persön­ licher wie sozialer Identitätsbildung.1 Meine Geschichte sagt mir, wer ich bin; auch mit anderen Menschen werde ich vertraut, indem ich nicht nur ihre Eigenschaften und sozialen Rollen kennenlerne, sondern etwas darüber erfahre, woher sie kommen und was sie erlebt haben. Doch ist neben dem Vergangenheitsbezug die Zukunftsdimension von gleichem Gewicht für das Bild, das sich der Mensch von sich selbst macht. Er definiert sich ebenso, oft vorrangig, über seine Absichten, seine Wünsche und Lebensentwürfe. Für die Existenzphilosophie ist der selbsttätige, selbst verantwortete Entwurf, Pendant zur passiven Geworfenheit des Geboren- und Situiertseins, das eigentliche Zentrum des existentiellen Verstehens. Geschichtliche Erinnerung und Zukunftsentwurf sind die beiden Seiten der Orientierung des Menschen über sich und sein Leben. Nun wird durch die hier verfolgte Fragestellung ein Gegen­akzent zu dieser zweifachen Orientierung gesetzt, der nach beiden Zeitrichtungen komplementäre Aspekte ins Spiel bringt. Auf der einen Seite stellt die Besinnung auf Geburt und Kindheit gegenüber der historischen Rekonstruktion vergangener Zeiten eine andere, in gewisser Weise basalere Auseinandersetzung mit dem Anfang und den Grundlagen des Daseins dar. Sie überschreitet den Rahmen der üblicherweise – zumal durch das Subjekt selbst – erzählten Lebensgeschichte. Auf der Gegenseite geht es um einen Ausblick auf die Zukunft unabhängig von teleologischen Ziel- und Zweckvorstellungen: um einen Ausblick, der nicht auf ein Strebensziel, sondern auf das Ende geht, auf welches wir zulaufen, das uns bevorsteht und das uns bedroht. Auch dieser Endpunkt, der nicht Gegenstand eines Wollens oder einer Güterabwägung ist, ist für die Existenz und ihre sinnhafte Interpretation von zentraler Bedeutung. Das Zurechtkommen mit der Endlichkeit, das Sterbenlernen sind Herausforderungen, die uns in ursprünglichster Weise, vorgängig zur willensmäßig-moralischen Orientierung, in unserem Leben betreffen. Geburt und Tod sind Grenz- und Angelpunkte im Verstehen des menschlichen Lebens. Vgl. Emil Angehrn, Geschichte und Identität, Berlin / New York: de Gruyter 1985.

1

7. Sich vom Ende her verstehen – Alter und Tod

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Der Ausblick auf das Ende steht für eine Dimension der Existenz, die ihrerseits von Anfang an zum Leben gehört, das Leben als ganzes umfasst. Gemeint ist nicht der mit der Geburt einsetzende Prozess des biologischen Verfalls des Organismus, sondern der antizipierende Vollzug des lebensweltlichen Zu-Ende-Gehens: das Erleben von Trennungen, das mehrfach in der Entwicklung vollzogene Sich-Ablösen und Abschiednehmen, das auf jeder Stufe wie eine Einübung in das abschließende Loslassen ist und ein Aushalten von Verlust und Trennung verlangt. Wie die Gebürtigkeit, so ist die Sterblichkeit koextensiv mit dem Lebensganzen, in dessen Verlauf das Sich-Trennen und Verlassenwerden unterschiedliche Gestalt annimmt, bis es sich schließlich zum letzten, umfassenden Abschied vom Leben vertieft. Wenn das Zu-Ende-Gehen und das Sich-Verhalten zum Ende gleich konstitutiv zum Ganzen gehören wie das Anfangen und die Reflexion auf den Anfang, so ist dies für beide Seiten nicht gleichbedeutend mit ihrer Präsenz im Leben. Wie von einer Geburtsvergessenheit zu sprechen war, so bleiben Alter, Sterben und Tod dem Menschen vielfach verhüllt, wobei zwischen beiden Abwesenheiten signifikante Differenzen bestehen. Betrifft die erste vornehmlich die Theorie, so die zweite den realen Lebensvollzug, innerhalb dessen auch der Grund der Verhüllung ein spezifischer ist: Abgedrängt ist das Bewusstsein eines Endes, das uns beunruhigt und uns ängstigt, das wir aber im Normalfall nie zur Gänze aus unserem Lebenshorizont verbannen können. Ein Gutteil der literarischen Kultur des memento mori gilt dem Widerstand gegen dieses Vergessen des Todes, das nach Seneca mit einem Verfehlen des Lebens einhergeht, mit dem die rastlos Beschäftigten, denen es immer an Zeit mangelt, erst dann wirklich beginnen wollen, wenn es zu spät ist und das Leben an sein Ende kommt.2 Das Verdrängen des Endes überlagert sich mit einem Aufschieben der erfüllten Gegenwart und resultiert in einer Verarmung, Aushöhlung des Lebens selbst. Umgekehrt, so ein Leitgedanke von Platon bis Kierkegaard, bedeutet das Offensein für das Ende und Eingedenken des Todes, sein Leben selbst ernst zu nehmen. Es sind unterschiedliche Konstellationen, in denen das Ende des Lebens und die Konfrontation mit dem Nichtsein dem Ein2 Seneca, De brevitate vitae / Von der Kürze des Lebens, lat.-dt., Stuttgart: Reclam 1977, S.  13.

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III. Alter(n)

zelnen vor Augen treten: Situationen der aktuellen oder virtuellen Bedrohung, Erkrankungen, Erfahrungen der Gebrechlichkeit und des Lebens­schwunds im Alter, das Nahen des Todes und Erleben des beginnenden Sterbens. In je anderer Gestalt und Gestimmtheit wird das Ende dem Menschen erfahrbar, wobei es nicht notwendig ein Gegenstand der Angst und des Leidens sein muss, dem er nur passiv ausgeliefert ist. Zu den Formen der Begegnung mit dem Tode gehören ebenso Weisen der Assimilation und der Versöhnung, der Lebensaneignung und des befriedeten Ausblicks. Wieweit sich das Spektrum der vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Lebensende unter einem leitenden Gedanken, in einer umfassenden Figur zusammenführen lässt, bleibt zu sehen. Die folgende Darstellung orientiert sich an der chronologischen Folge, indem sie die Konstellationen des Menschseins angesichts des Lebensendes unter den Leitbegriffen des Alters, des Sterbens und des Todes zu erhellen sucht. Dabei begegnet uns das Thema des Alters, auch wenn es in der Fluchtlinie der Annäherung an das Lebensende, in gewisser Weise als Vorstadium der Finalphasen von Sterben und Tod in den Blick kommt, als durchaus eigenständiges Thema mit eigenen Fragestellungen. Mit ihm verbinden sich biographische, soziale, politische und medizinische Aspekte, die in der Lebensrealität wie in der philosophischen Reflexion und wissenschaftlichen Forschung einen spezifischen Themenkreis umreißen. Auch wenn das Erleben des Alters, teils in schwächerer Form, analoge Erfahrungen und Herausforderungen mit sich bringen kann wie die Konfrontation mit Sterben und Tod, sind zwischen ihnen nicht nur graduelle, sondern auch grundsätzliche Differenzen von Belang. Von beidem ist Rechen­schaft abzulegen, wenn wir die Lebensform des Alters im Horizont einer Untersuchung erkunden, die sich über das menschliche Leben im Blick auf seinen Anfang und sein Ende verständigt.

8. Lebensphase Alter 8.1  Das Alter als Teil des Lebens Was zur Lebensphase des Alters gehört, steht nicht von sich aus fest. Junge Menschen können sich alt fühlen, ältere Menschen können sich jung fühlen und sich wie Jugendliche verhalten, und immer können das spontane Selbstgefühl, die bewusste Selbstinszenierung und die Fremdwahrnehmung konvergieren oder auseinanderfallen. Zusätzlich sind Stufen und Phasen des Alterns auseinanderzuhalten, zwischen dem unauffälligen Älterwerden im Stadium der Lebensreife bis zum hohen und zum letzten Alter, das an das Lebensende rührt; gerade die neuere Wahrnehmung (und Selbstwahrnehmung) der ›älteren Generation‹ unterscheidet sich darin von früheren Zeiten, in denen Personen, die aus dem Arbeitsleben und aus tragenden Sozialfunktionen ausgeschieden waren, vielfach pauschal dem ›dritten Alter‹ zugeordnet wurden, in welchem nichts wirklich Neues mehr zu erwarten war. Diese historische Veränderung ist nicht nur ein Effekt der gesteigerten Lebenserwartung, sondern vor allem der veränderten Lebensformen, die durch medizinischen Fortschritt, konsolidierten Sozialstatus und höheres Bildungsniveau ermöglicht worden sind. Ungeachtet solcher Verschiebungen und Differenzierungen indes bleibt das Alter, das Älter- und Altwerden, ein biographisch bestimmter Abschnitt und ein soziales und praktisches Problem, das den Bogen unseres Lebens mit bestimmt.1 Es steht im 1

Zur Diskussion steht in alledem das ›Alter‹ als fortgeschrittener Lebensabschnitt, nicht der ›neutrale‹ Begriff des im Personalausweis vermerkten Alters einer Person oder des historischen oder biographischen Zeitabschnitts (Zeitalter, Lebensalter, Weltalter). Diese auch das Adjektiv (›alt‹) tangierende sprachliche Mehrdeutigkeit findet sich ähnlich, neben distinkten Termini (aetas  / senectus, âge  / vieillesse etc.), in mehreren europäischen Sprachen.

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Folgenden in seiner ganzen Spannweite vom Älterwerden bis zur Annäherung an den Tod zur Diskussion. Dabei ist als erstes festzuhalten, dass das Alter nicht einfach ein Zeitabschnitt ›nach‹ einem anderen oder ›zwischen‹ anderen (zwischen Erwachsenenalter und Tod), sondern ein integraler Teil des Lebens ist. Altern ist ein lebenslanger Prozess, der sich vom Anfang bis zum Ende erstreckt.2 Er ist koextensiv mit dem Ganzen des Lebens und durch das Ineinander zweier Prozesse definiert, der gerichteten, irreversiblen Bewegung des Älterwerdens, die sich schrittweise dem Lebensende nähert und zuletzt im Sterben mündet, und der Selbsterhaltung des Organismus, der sich als derselbe erhält und in seiner Identität die Voraussetzung des Alterns und des ZuEnde-Gehens bildet. Alter und Altern sind Phasen und Formen des Lebens, weshalb auch umgekehrt die Verständigung über das Leben eine Verständigung über das Altwerden einschließt. »Das Altern ist das Leben selbst«, lautet die bündige Feststellung von Thomas Rentsch, der daraus folgert, dass eine Verständigung über das Alter von den »grundlegenden Einsichten über unser Leben« auszugehen habe.3 Altern ist ein vielschichtiger Prozess, in welchem das biologische Altern, das psychologische und soziale Altern und das biographische Altwerden weder getrennt noch einfach parallel verlaufen oder gar identisch sind, sondern sich im Wechselverhältnis ständig neu konstellieren und austarieren.4 Der Lebensprozess, der sich in der Gegenläufigkeit von Veränderung und Selbsterhaltung, Zu-EndeGehen und Selbstkontinuierung vollzieht, artikuliert sich unter ­einem ganz bestimmten Aspekt, dem Aspekt der Endlichkeit, als ein Prozess des Alterns. Menschliches Leben ist im Ganzen mit der existentiellen Endlichkeit konfrontiert. Es wird herausgefordert durch die mit der Geburt gesetzte Endlichkeit, das ungefragte Geworfensein in die Existenz, die vielfache Bedingtheit der Lebensumstände, Vgl. Anne Karpf, How to Age, London: Macmillan 2014, S.  8. Thomas Rentsch, »Kultur humanen Alterns – Ethische Perspektiven«, in: Harm-Peer Zimmermann / Andreas Kruse / Thomas Rentsch (Hg.), Kultu­ ren des Alterns. Plädoyers für ein gutes Leben bis ins hohe Alter, Frankfurt  / New York: Campus 2016, S.  257–268, hier S.  257. 4 Ortrud Gutjahr, »Radikales Altern in Nahaufnahme (zu Haneke, Amour), in: Joachim Küchenhoff / Carl Pietzcker (Hg.), Altern (Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd.  36), Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S.  71. 2

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die Begrenztheit der körperlichen und seelischen, praktischen und theoretischen Vermögen, zuletzt aber die Endlichkeit der Zeit, unter deren Bedingungen sich das menschliche Leben abspielt. Der Mensch ist nicht Herr der Zeit. Er verfügt nicht über den Lauf der Dinge, kennt nicht die Wege der Zukunft, erfährt das Vergehen a­ ller Dinge, erleidet das Zu-Ende-Gehen seiner selbst. Der Ausblick auf das Lebensende, der in spezifischer Weise den Prozess des Alterns mit seinen Erfahrungen von Trennung, Verlust und Abschied begleitet, ist eine besondere Kristallisation der »sinnkonstitutiven Endlichkeit«, die das gesamte Leben durchdringt, so dass sich die späte Lebenszeit als »Radikalisierung der menschlichen Grundsituation« überhaupt erweist.5 Dies widerspiegelt sich nicht zuletzt in der ambivalenten, auch historisch variierenden Beurteilung des Alters, die das Spektrum der Wahrnehmung des Lebens in seinen Vor- und Nachteilen, seinen Freuden und Leiden reflektiert. Die in früheren Gesellschaften oder fremden Kulturen tradierte Hochachtung vor dem Alter, die sich im sozialen, teils politischen Status der Alten dokumentiert, kon­ trastiert mit der Geringschätzung und Verdrängung, teils durch die älteren Menschen selbst, in neueren Zeiten, die bis zum eigentümlichen Wandel der Vorstellung des Todes führen kann, der nur noch aufgrund von Krankheiten, nicht von Alter ›zugelassen‹ wird.6 Ein Schwerpunkt in der Erkundung der lebensweltlichen Bedeutung des Alters wird, noch prononcierter als bei Geburt und Kindheit, Sterben und Tod, der Spannweite dieser entgegengesetzten Valenzen zwischen Verlust und Gewinn, lebensbejahender und resignativer Alterserfahrung zu gelten haben.

8.2  Erfahrung des Alters Zu den bemerkenswerten Eigenheiten der Erfahrung des Alters gehört, dass sie erst im Alter ernsthaft gemacht wird. Auch mit Bezug auf das Alter lässt sich, wie für Geburt, Kindheit, Sterben und Tod, ein Erkenntnisproblem sui generis benennen, wobei dem Alter darin ein privilegierter Status zukommt, sofern es, neben der Außensicht, eine differenzierte Binnenwahrnehmung zulässt, die es in spezifi5

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Vgl. Thomas Rentsch, »Kultur humanen Alterns«, a. a. O., S.  261 f. Vgl. Anne Karpf, How to age, a. a. O., S.  115.

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scher Weise auch einer hermeneutischen und humanwissenschaftlichen Erörterung zugänglich macht. Es geht dabei um mehr als um die Möglichkeit der bewussten Selbst-Wahrnehmung und Selbstverständigung, wie sie einer phänomenologisch-hermeneutischen Sichtweise als Bezugspunkt innewohnt. Diese reflektiert die Bedeutung des Alters für das Leben und für das alternde Individuum und öffnet darin einen eigenen Blickwinkel, der die medizinische, soziologische, psychologische und therapeutische Beschäftigung mit der späten Lebenszeit in einer wesentlichen Hinsicht ergänzt. In Frage steht nicht der reflexive Zugang als solcher, sondern das besondere existentielle Involviertsein, das den alternden Menschen dazu bringt, ihn dazu motiviert und befähigt, das Problem des Alters wie das des Todes in seiner Besonderheit und Tragweite zu erfassen. Erst die »grausame Entdeckung« des eigenen Alters, schreibt Marcel Proust, macht deutlich, dass das Alter »von allen Wirklichkeiten vielleicht diejenige ist, von der wir im Leben am längsten eine rein abstrakte Vorstellung haben«.7 Zwar findet schon lange davor das »tägliche, langsame Altern und Absterben, das Müdewerden« statt, das sich unmerklich ereignet und uns weithin verdeckt bleibt8 – wie dem jugendlichen Helden im Bildungsroman die »Kränkungen und Enttäuschungen, die das schiere Verstreichen der Zeit bereitet«, weithin erspart bleiben, weil ein »wohlmeinender Erzähler ihre Geschicke meist rechtzeitig ausblendet«, vor dem »sichtbare Spuren hinterlassenden Wirken der Zeit«.9 Aufdringlich wird das Bewusstsein des Alterns im Erleben des körperlichen Verfalls wie anderer negativer, teils auch positiver Begleiterscheinungen des Alters. Dabei sind nicht nur die Veränderungen in der eigenen körperlichen und psychischen Verfassung bedeutsam, die Einschränkungen, Gebrechen und Leiden, vielleicht auch die neu erschlossenen Fähigkeiten und Bedürfnisse, die das Leben im Alter auszeichnen. Zugleich 7 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Tome III: La prisonnière; La fugitive; Le temps retrouvé, Bibliothèque de la Pléiade, Paris: Gallimard 1954, S.  932 (dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd.  7: Die wieder­ gefundene Zeit, übers. von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S.  354 f.). 8 Ruth Schweikert, Tage wie Hunde, Frankfurt am Main: Fischer 2019, S.  147. 9 Alexander Honold, »Verlorene Generation«, in: Sigrid Weigel u. a. (Hg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München: Fink 2005, S.  31–56, hier S.  31.

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verändern sich die Perspektiven, unter denen uns die Welt und die anderen Menschen, auch das eigene Leben erscheinen, wenn wir älter werden. Odo Marquard zählt dazu das Ende der Illusionen über die offenstehende Zukunft und über das eigene Können, die aufrechtzuerhalten und neu zu entwickeln dem alternden Menschen immer schwerer fällt.10 Bekannt ist das Gefühl der Beschleunigung, der Eindruck, dass die Zeit immer schneller vergeht, der sich mit der wachsenden Zeitnot, dem Schwund der Zukunft, aber auch dem Nachlassen eigener Kräfte und Lebensenergien überlagern kann. Da die Zeit selbst, meint Arthur Schopenhauer, in der Jugend »einen viel langsameren Schritt« hat, hinterlässt das erste Lebensviertel viel mehr Erinnerungen und erscheint es uns als das längste, so dass man selbst alt geworden sein muss, »um zu erkennen, wie kurz das Leben ist«.11 Man mag eine Bestätigung dieser Erfahrung auf der Gegenseite, im Nicht-Verständnis des Kindes sehen, für welches der Prozess des eigenen Altwerdens nicht wirklich vorstellbar, eher wie ein »Gerücht aus der Erwachsenenwelt« ist, dem »letztlich nicht geglaubt werden kann«.12 Die Feststellung erinnert an das Diktum von Freud, dass im Grunde »niemand an seinen eigenen Tod« glaube, »oder, was dasselbe ist: im Unbewussten« jeder »von seiner Unsterblichkeit überzeugt« sei.13 Es ist ein Hinausschieben des Gewahrwerdens der eigenen Endlichkeit, dem wir in der Analyse des vom Gesunden verdrängten Sterblichkeitsbewusstseins begegnen und das auch den Hintergrund des Bewusstwerdens des Alters bildet. Solange der Mensch jung und gesund ist, sind Alter und das Sterben kein Thema. Der Lebensabschnitt des Alters erschließt sich bevorzugterweise im Alter, nicht aufgrund der temporalen Nähe, sondern der lebensweltlichen Betroffenheit. In diesem Sinne hat sich die folgende SondieOdo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern, Stuttgart: Reclam 2013, S.  71. 11 Arthur Schopenhauer, »Vom Unterschiede der Lebensalter«, in: Par­erga et Paralipomena I. Aphorismen zur Lebensweisheit, Kapitel VI, Zürich: Dio­genes 1977, S.  526. 12 Dominic Angeloch: »Psychological Impossibilities«. Über Wilfred R. Bions The Long Week-End und George Orwells Such, such were the joys, in: Joachim Küchenhoff / Carl Pietzcker (Hg.), Altern, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S.  123. 13 Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Gesammelte Werke, Bd.  X, Frankfurt am Main: S.  Fischer 61973, S.  323–355, hier S.  341. 10

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rung des Umgangs mit dem Alter auf die Doppelperspektive und das Zwiegespräch zwischen Innen- und Außensicht abzustützen, das im Prinzip auch die Erörterung von Geburt und Kindheit umrahmte – und die Diskussion von Sterben und Tod begleiten wird – , doch mit Bezug auf das Alter in einer besonderen Weise zum Tragen kommt.

8.3  Vom Zwiespalt des Alters Die Menschen wollen lange leben, doch nicht alt werden. So lautet ein gängiges Urteil, in dem das zwiespältige Verhältnis zum Alter zum Ausdruck kommt. Urteile und Diskurse über das Alter oszil­ oher lieren individuell, sozial und historisch in großer Breite und h Ambivalenz. Kulturgeschichtlich begegnen wir auf der einen Seite dem Respekt vor dem Alter, der Anerkennung der Tradition und der Vorfahren, dem Kult der Ahnen und der Autorität des Erfahrungswissens, auf der anderen Seite deren Entwertung in einer geschichtslos-technischen Kultur, der Konjunktur des Neuen und der Verherrlichung der Jugend. In der individuellen Wahrnehmung schwankt die Typisierung des Alters zwischen Verfall und Weisheit, zwischen Lähmung und Muße, Verarmung und Erfüllung. Noch basaler ist das Schwanken zwischen dem neutral-chronologischen Verständnis des ›Alters‹ als eines späten Zeitabschnitts im Leben und dem biologischen Verständnis des Alters (der Seneszenz), mit dem sich der normale Prozess der Abschwächung und Verschlechterung organischer Funktionen verbindet. Es ist ein Abbau, der als solcher keine Krankheit ist, sondern einen normalen Vorgang im fortschreitenden Leben darstellt und als solcher Gegenstand medizinischer, soziologischer, fürsorgerischer und psychologischer Unter­ suchung und Betreuung ist – und zugleich, mit Bezug auf das eigene wie das fremde Altern, wertend wahrgenommen wird, sowohl in der Verlust- wie der Gewinnbilanz verbucht werden kann, wobei die negative Optik des Rückgangs und des Defizitären zunächst als die näherliegende, ›normale‹ erscheint. Eine positivwertige Schätzung des ­Alters hat sich gleichsam aus der Defensive, gegen das vorherrschende Bild vom Alter als Stadium des Verlusts und der Gebrechlichkeit zu artikulieren. Theoretische Abhandlungen und Ratgeber, welche die Würde, das Glück und die genuinen Potentiale des Altwerdens stark machen wollen, haben sich zuallererst von der »Defizienzorientierung, welche den Altersdiskurs beherrscht«,

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freizumachen.14 Die polare Verfassung, die als solche auch in den anderen Lebens­abschnitten und im Leben als Ganzem zur Geltung kommen kann, bildet ein eigenes, spezifisches Charakteristikum des Alters. Es ist unter dem einen wie anderen Aspekt, als (Er-)Leiden des Alters und als Kunst des Alterns, zu verdeutlichen.

Andreas Brenner, Altern als Lebenskunst, Zug  /  Schweiz: Die Graue Edition 2019, S.  44.

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9. Das Alter als Verlust und Leiden 9.1  Zeitknappheit und Zukunftsschwund Wenn wir das Alter unter dem Negativaspekt des Verlusts ins Auge fassen, so kommt eine Seite vor allen anderen in den Blick: die voran­schreitende, vergehende, entschwindende Zeit. Nicht nur ist das Leben als Ganzes kurz, ist den Menschen nur eine geringe Lebens­spanne zugeteilt – worüber sich nach Seneca die Mehrheit der Menschen, der Gebildeten wie des Pöbels, als Missgunst der Natur beklagt.1 Zusätzlich verkürzt sich diese Spanne durch ihren stürmischen Verlauf, durch das Enteilen der Zeit. Je weiter wir im Leben vorrücken, desto mehr schrumpft die verbleibende Lebenszeit. Wenn wir die Probleme des Alters mit Rentsch als eine Radikalisierung der Herausforderungen des normalen Lebens verstehen, so liegt ein erster Aspekt dieser Herausforderung in der Auseinandersetzung mit der Zeit. Die Endlichkeit, die sich auch in den körperlichen und seelischen Gebrechen äußert, welche im Alter vermehrt hervortreten, liegt in grundlegendster, einschneidendster Weise in der Endlichkeit des zeitlichen Seins. Der Mensch steht unter der Herrschaft der Zeit, die den Rahmen seiner Existenz definiert und deren Verlauf durchdringt. Unter verschiedenen Hinsichten leidet der Mensch unter der Zeit – unter der enteilenden, entgleitenden Zeit, die er nicht festzuhalten vermag, unter der leeren Zeit, die ihn bedrückt, unter der stillstehenden, nicht vergehen wollenden Zeit,

De brevitate vitae, a. a. O., S.  5. Dagegen das literarische Gedankenexperiment von Dag Solstad, dass das Leben in unserer Zeit »eigentlich zu lang geworden« sei: Professor Andersens Nacht, Dörlemann: Zürich 2005, S.  118.

1 Seneca,

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die ihn lähmt, unter der desintegrierten, zerfallenden Zeit, die er nicht zusammenzuhalten und zu gestalten vermag.2 Ein Grundzug der Zeit liegt in ihrem unablässigen, unerbittlichen Weitergehen, ihrem unumkehrbaren Vergehen, im Zunichtewerden alles Zeitlichen. Die Flüchtigkeit, Sinnbild der Vergeblichkeit ­alles Werdenden und Vergehenden, die den Menschen in schlafloser Nacht als »Grauen« vor der »schlechten Unendlichkeit« und »Hohn der Lichtjahre auf die Spanne des eigenen Daseins« überkommen kann3, ist ein Grundzug, der den Prozess des Lebens im Innersten durchherrscht und in der existentiellen Selbstwahrnehmung ebenso aufdringlich sein kann, wie er in der kulturellen Reflexion vielfältig beschrieben wird. Die Klagen des Mythos über die Vergänglichkeit aller Dinge, das Leiden unter der Nichtigkeit des irdischen Lebens, der tragische Konflikt zwischen den unsterblichen Göttern und der Hinfälligkeit der ›Sterblichen‹, die Sehnsucht nach dem Brunnen der ewigen Jugend, das Verlangen nach Unsterblichkeit, der Glaube an die Wiedergeburt der Seelen in anderen Lebewesen, die Vision einer ewigen Wiederkunft des Gleichen – all dies sind Figuren der Aus­ einan­dersetzung mit der Herrschaft der Zeit und der Negativität des Vergehens. Die Vergänglichkeit widerstreitet dem Drang des Lebens, das sich fortsetzen, das weiterleben will. Dieser Widerstreit ist ein Grundzug der Existenz, der nicht im Ganzen unseres Daseins spürbar sein muss, der zumeist nicht bemerkt wird, doch gerade im Alter in besonderer Weise hervortreten kann. Dass die Zeit vergeht, dass sie schnell, zu schnell vorübergeht, wird in unterschiedlichen Situationen erfahren, sei es, dass es nur staunend festgestellt oder dass es erlitten und beklagt, je nachdem aber auch begrüßt, erhofft wird. Der Fluss der Zeit, der alles mit sich reißt, bildet seit je einen Irritationspunkt des Denkens, welches die Dinge identifizieren und festhalten, sie in ihrer Bestimmtheit wiedererkennen will. Die Festigkeit der Dinge und die Stabilität der Verhältnisse sind eine Stütze des Lebens und der Orientierung, ihre flüchtige Haltlosigkeit eine Bedrohung. Erst recht bedrohlich wird die Flüchtigkeit, wo sie nicht die Umwelt, sondern das eigene Leben, 2

Vor dem Hintergrund der anthropologischen Grundthese einer entfremdenden Herrschaft der Zeit über den Menschen thematisiert Michael Theunissen verschiedene pathologische Formen des Leidens an der Zeit: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S.  37–86, 218–281. 3 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, a. a. O., S.  217.

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die eigene Person betrifft. Dass das eigene Leben vergeht, zwischen unseren Händen zerrinnt, sich unserem Wollen und Planen entzieht, ist die innerste Erfahrung der Vergänglichkeit. Sie kann mit einem eigentümlichen Schmerz versehen sein, begleitet von der Erinnerung an glückliche Zeiten, der Sehnsucht nach vergangenem, nicht wiederkehrendem Glück und dem Bewusstsein des Sich-Zusammenziehens und Zu-Ende-Gehens der noch verbleibenden Zeit – vergleichbar dem »kindlich stillen Schmerz, wenn sich die Sommerferien dem Ende zugeneigt hatten«.4 Es ist ein Schmerz, der den Menschen in Stimmungen der Niedergeschlagenheit jederzeit überkommen kann, in besonderer Weise aber im Alter, im Erkennen der knappen Frist und des nahenden Endes. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit beinhaltet mehr als eine Verlagerung der Scheidelinie zwischen der sich anhäufenden Vergangenheit und der schrumpfenden Zukunft. Es ist mehr als das abstrakte Gefühl, dass immer weniger aussteht, immer weniger Zeit übrig bleibt, dass die Zeit immer mehr drängt. Damit verbunden ist eine Einengung des Lebens, eine Schrumpfung des Möglichkeitsraums. Immer mehr verfestigt sich das Leben, wird es endgültig, fällt es zusammen mit der faktisch durchlaufenen Kette dessen, was wir getan haben und was uns widerfahren ist, bis am Ende nichts ­außer dem faktisch Gewordenen mehr bleibt. Das Erleben dieser Ein­ engung ist wie eine antizipierte Wahrnehmung des Endes, in einer Art vorlaufender Trauer nicht allein über das irreversible Vergangenund Entschwundensein des einst Erlebten, sondern ebenso über das Nicht-real-Gewordensein des Möglichen, über die Verflüchtigung des Ungelebten und Nicht-Verwirklichten. Das Bedauern gehört zur Signatur des Alterns, das Bedauern darüber, dass so vieles wahrscheinlich nicht mehr sein wird, möglicherweise definitiv entzogen bleibt. Es ist das Bedauern über die verpassten Gelegenheiten, die nicht unternommenen Reisen, die nicht geschriebenen Bücher, die nicht gewagten oder misslungenen Begegnungen. In alledem bedeutet die Verknappung der Zeit nicht nur ein SichZusammenziehen des objektiven Spielraums künftiger Möglichkeiten, sondern ebenso ein Versiegen subjektiver Lebensressourcen. So Bodo Kirchhoff, Widerfahrnis. Eine Novelle, München: dtv 2018, S.  199; er vergleicht damit das Lektüreerlebnis gegen Ende eines Buches, wenn die Kapitel abnehmen, »wie die am Ende eines Lebens, das keine langen ruhigen Zeiten mehr hat …« (S.  201). 4

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Es ist wie eine Verlangsamung des lebendigen Unterwegsseins, ein Nachlassen der Initiativkraft, ein Absterben der eigenen Phantasien und Wünsche. Neben dem Erschrecken darüber, dass immer weniger Zeit da ist, gibt es das Erleben, dass ich mit der Zeit nichts mehr anzufangen weiß, dass ich nicht mehr die Kraft habe, die Zeit zu nutzen und kreativ zu gestalten. Es ist ein Bewusstsein der Einengung, das sich gerade angesichts der Verknappung der Zeit aufdrängen kann, mit der wir davor ein Leben lang verschwenderisch umgegangen sind.5 Zu den Illusionsverlusten im Alter gehört neben dem Verblassen der »Zukunftsillusionen« das Schwinden der »Endlosigkeits­ illusion«, die uns vormacht, »die Zeit gehe endlos weiter, und wenn Zeit verstreiche, gebe es immer wieder neue«.6 Zuweilen überlagert sich die Verknappung der Zeit mit einer eigentümlichen Hast, welche den Alltag älterer Menschen, die eigentlich im Stande der Muße wären, kennzeichnet. Sie wird spürbar im Gefühl, Nichtrealisiertes nachholen zu müssen, Vorhaben, die man bisher aufschieben musste, doch bald nicht mehr wird realisieren können, endlich an die Hand zu nehmen, prägende Erfahrungen noch einmal zu machen – noch einmal Rom zu besuchen, Chinesisch zu lernen, endlich Krieg und Frieden zu lesen, das Haus aufzuräumen, Freundschaften zu pflegen. Einiges davon wird Realität werden, anderes nicht – wie schon in früheren Lebensphasen, doch nun unter den neuen Rahmenbedingungen der letzten Gelegenheit, der fliehenden Zeit, des nahenden Endes. Empirische Untersuchungen zeigen, wie die wechselnden Zeit- und Zukunftsperspektiven mit Veränderungen der geistigen Rüstigkeit im Alter, mit Schwankungen der subjektiven Befindlichkeit, des Erlebens von Sinn und Erfüllung – beziehungsweise von Leere und depressiver Verstimmung – einhergehen.7 Die Weitung und Kontraktion des Zeithorizonts, die Modifikationen des Zeit­ erlebens sind kein nur äußerer Rahmen, sondern ein integratives, spezifizierendes Moment des erlebten Alterns. Was in solchen ›normalen‹ Zeiterfahrungen auf dem Spiel steht, kann in pathologischen Erlebensweisen oder in literarischen GeVgl. Seneca, De brevitate vitae, a. a. O., S.  5. Odo Marquard, »Theoriefähigkeit des Alters«, in: Philosophie des Statt­ dessen, Stuttgart: Reclam 2000, S.  135–139, hier S.  135 f. 7 F. J. Mönks / L. Bouffard, »Zeitperspektive im Alter«, in: Andreas Kruse / Reinhard Schmitz-Scherzer (Hg.), Psychologie der Lebensalter, Darmstadt: Steinkopff 1995, S.  271–281. 5

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staltungen in pointierter, überzeichneter Form sichtbar werden. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit als Entleerung der Zeit, als leeres Weitergehen, als vergebliches, sinn- und ergebnisloses Warten ist zu einem literarischen Topos geworden. Samuel Becketts Warten auf Godot ist Sinnbild eines Verharrens im Unbestimmten, worin sich der Sinn des Erlebens, der Gegenstand des Erwartens und die Zeitordnung des Verweilens gleichermaßen verflüchtigen.8 Dino ­Buzzatis Tartarenwüste und Franz Kafkas Vor dem Gesetz lassen das Bedrückende und Verstörende, auch das seelische Leiden in der lähmend-destruktiven Leere des vergeblichen Wartens hervortreten. Es sind Extremfiguren einer Verlusterfahrung, welche dem normalen Zeiterleben als Gefahr und Verfallstendenz nicht fremd ist und die Erschöpfung des Alterns begleiten kann: die Erfahrung des Leerwerdens einer Zeit, die nicht mehr sinnhaft gestaltet wird und das Leben in seiner Dynamik trägt. Es ist eine Leere, die dem lastenden Gefühl der Kürze zugrunde liegen kann, das nach Seneca nicht auf einer objektiven Verknappung, sondern einem subjektiven Verlieren und Entgleitenlassen der Zeit beruht, deren konkrete Nutzung und Ausfüllung die Menschen hinausschieben und in eine unbestimmte Zukunft verlagern. Wer darauf wartet, ›später‹ wirklich zu leben, nach dem Umzug, nach der Prüfung, der Berufsarbeit, den Familienpflichten mit dem zu beginnen, was einen wirklich interessiert, und dann seine tiefsten Wünsche zu erfüllen und seine eigentlichen Lebenspläne zu verwirklichen, der läuft Gefahr, im iterierten Aufschub die Gegenwart des Lebens zu verfehlen. Jetzt, ruft Seneca den hastenden Menschen zu, die erst danach mit dem ›besser Leben‹ beginnen wollen, »jetzt sofort sollst du leben!«9 Das Leben, das zählt, ist dasjenige, das heute beginnt.10 Leben heißt Wirklichsein in einer Gegenwart, die jeden Tag aufs Neue beginnt, die im Jetzt und Heute da ist. Die Erfahrung der 8 Samuel Beckett, Warten auf Godot, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, S. 19: »Warten wir ab, was er uns sagen wird … Worum haben wir ihn eigent­ lich gebeten … Eigentlich nichts Bestimmtes.« – Bemerkenswert ist, dass die erste Titelfassung von »En attendant Godot« nur »En attendant« lautete (Valentin Temkine, »Von Beckett zu Godot«, in: Pierre Temkine u. a. (Hg.), Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte, Berlin: Matthes & Seitz 2009, S.  109–122, hier S.  109). 9 Seneca, De brevitate vitae, a. a. O., S.  27. 10 Danielle Quinodoz, in Anknüpfung an Ricœur: Viellir: une découverte, Paris: Presses universitaires de France 2008, S.  60.

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Leere ist Kehrseite eines hohlen Zukunftsversprechens, das in eine unbestimmte, grenzenlose Zeit weist, verwandt der von Hegel so genannten schlechten Unendlichkeit, die in sich rotiert und nirgendwo ankommt, zu keiner Gestalt und Erfüllung findet. Sie konvergiert in der Unheimlichkeit des Vakuums mit dem, was die Existenzphilosophie unter dem Titel der Langeweile erörtert hat, mit dem Entgleiten der Grenzen und Formen, dem absorbierenden, lähmenden Nichts, das uns umgreifen und als Angst erfassen kann. Es sind Projektionen dessen, was dem Leben als Schwäche innewohnen kann, wenn die schwindende Lebenskraft keine sinnstiftende, temporale Synthesis mehr zu vollziehen vermag. Darin widerspiegeln sich Negativbilder eines Alterns, in dem die Sinnentleerung mit der Desintegration des zeitlichen Lebensbogens einhergeht. Das Alter wird in der Fluchtlinie der Auflösung erfahren, als ein Kampf mit der entgleitenden Zeit, den am Ende keiner gewinnen kann.

9.2  Verlust und Trennung Ein zweiter Aspekt, unter dem das Alter als Verlust erfahren wird, betrifft, neben der generellen Verknappung der Zeit, die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensbereiche, die uns stufenweise entgleiten. In Frage stehen einerseits körperliche und mentale Fähigkeiten, ­deren wir verlustig gehen, Dimensionen des Tuns und Erlebens, die nicht mehr in gleicher Weise unser Leben ausmachen wie in früheren Jahren. Auf der anderen Seite sind es konkrete Trennungen und Verluste, die wir erleiden, Lebensräume, die wir nicht mehr bewohnen, Menschen, die nicht mehr zu unserem Leben – oder zu deren Leben wir nicht mehr – gehören. Beides verändert unser Leben nicht nur äußerlich, in seinen Inhalten und gegenständlichen Bezügen, sondern in seinem Innersten und seiner Lebensform. Gewissermaßen das Nächste, am unmittelbarsten Spürbare sind die Defizite, die unsere körperlichen und mentalen Fähigkeiten beeinträchtigen. Als erstes klagen alternde Menschen über die Beschwerden, die sie in ihren Bewegungen und Tätigkeiten einschränken, die ihnen Schmerzen verursachen, ihre Teilnahme am gemeinsamen Leben mit anderen erschweren. Gebrechlichkeit, Langsamkeit, Vergesslichkeit werden als initiale Alterssymptome bei anderen wie bei sich selbst registriert. Sie können körperliche, intellektuelle, künstlerische, soziale Aktivitäten betreffen, deren Einschränkung

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als schmerzlicher Verlust erfahren wird. Zum Älterwerden gehört, dass wir nicht mehr alles können, was uns wichtig war und was zu unserem Berufs-, Familien- und Freizeitleben gehörte. Sport treiben, Wandern in den Bergen, selbst normales Spazierengehen fallen auf einmal schwer, verlieren ihre Selbstverständlichkeit, auch Autofahren, Klavierspielen, Reisen, Gartenarbeiten werden zu Herausforderungen. Gestaltende und kreative ebenso wie rezeptive Tätigkeiten können mit Hindernissen verbunden sein, ein Buch schreiben, Zeitung lesen, einer Theateraufführung oder einem Gespräch folgen, soziale Kontakte knüpfen, am Vereinsleben teilnehmen – all dies kann mühsam, unzugänglich werden, an Interesse verlieren. Auch was zunächst am dauerhaftesten scheint, die Freude am Musikhören, am Lachen eines Kindes, am Betrachten einer Landschaft, kann fad werden, kann dem Individuum als erfüllender Lebensvollzug entgleiten. Zunächst können sich solche Entzugserscheinungen mit der genannten Verknappung der Lebenszeit überlagern, mit dem Gefühl, dass es für vieles schon zu spät ist, dass manches unwiederbringlich verloren ist. Sie können sich mit dem Bewusstsein der schwindenden Frist, der Antizipation des Zu-Ende-Gehens durchdringen und durch sie verstärkt werden. Doch auch unabhängig von der Zeitperspektive kann das Verlorengehen von Kräften und Lebensbereichen als Verarmung und Erstarrung erfahren werden. Altwerden hat wesentlich mit solchen unausweichlichen Verlusterfahrungen zu tun, und die Kunst des Alterns ist zentral durch die Frage nach dem richtigen Umgang mit den unausweichlichen Frustrationen des Alters bestimmt.11 Über den Verlust spezifischer Fähigkeiten, Aktivitäten und Er­ lebens­weisen hinaus kann die Negativerfahrung des Alters im allgemeinen Brüchigwerden der Lebenskraft, im Verlieren der Lebensenergie und Lebensfreude liegen. Die Tendenz zur Schwermut, die Versuchung der Trägheit, die Müdigkeit des Alters und die Neigung zum Verstummen sind Insignien einer inneren Lähmung, die das Individuum unfähig werden lässt, den Tag zu genießen und aktiv zu gestalten. Es verliert die Fähigkeit, Freude an neuen Begegnungen und Erlebnissen zu empfinden, anderen gegenüber Interesse und Zuwendung zu bekunden, Kommendes zu planen oder sich einer 11

Vgl. Ernst Tugendhat, »Das Alter – Die Herausforderung der Frustrationen«, Gespräch mit Jochen Rack, in: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 11/2006, S.  68–77.

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überraschenden Zukunft zu öffnen. Es ist ein Prozess der zunehmenden Unempfänglichkeit, des Stillwerdens, Sichzurückziehens und Sichverschließens, gleichsam als negative, privative Seite des Zusichkommens im Alter. In solcher Haltung wiederspiegelt sich ein Ausscheiden aus der Welt und aus dem mit anderen geteilten Lebensraum. Das Individuum gerät in eine über es kommende und von ihm selbst vollzogene Vereinsamung, und es ist kein Zufall, dass dieser Rückzug oft genug durch andere nicht nur festgestellt, möglicherweise von ihnen bedauert, sondern bestätigt und bekräftigt wird, was für den alternden Menschen eine zusätzliche Isolation und Verarmung bedeutet. Greifbar wird darin ein Aspekt dessen, was man als soziales oder kulturelles Altern beschreiben kann. Es besteht im Ausscheren aus gemeinsamen Lebensformen, im Nicht-mehr-Teilen etablierter Praktiken, im Fremdwerden, Nicht-mehr-Verstehen und Nicht-Beherrschen neuer Komunikationsmedien und Techniken, ungeachtet dessen, dass der alternde Mensch gleichwohl genötigt ist, sich, ohne Hoffnung auf wirkliche Partizipation, auf sie einzulassen. Das hilflose Hantieren mit Instrumenten, in denen die digital natives sich wie in einer natürlichen Welt bewegen, potenziert jene Fremdheit und Uneleganz, durch welche die Alten in Fragen der Mode, des Körperhabitus, des sozialen Verkehrs ohnehin schon gebrandmarkt sind. Es sind Erlebnisse der Dissoziation von einer Welt, die nicht mehr die eigene ist und zu der wir zunehmend nicht mehr gehören werden. Jean Améry beschreibt eindrucksvoll, wie selbst die respektvollen jungen Zuhörer dem gealterten Sartre, dessen Vortrag sie mit Aufmerksamkeit gefolgt sind, »seine letzten Lebensjahre rauben – durch die bloße Tatsache ihres Jungseins und ihres Hinausschreitens in eine Welt, die ihnen und nur ihnen gehört«.12 Jeder Mensch ist Teil einer Welt, die ihm in der Generationenfolge nicht nur vorausliegt, sondern auch über ihn hinausgeht und im Maße seines Älterwerdens immer offenkundiger, eindringlicher über sein Leben hinausweist. Die Entsynchronisierung gegenüber der jüngeren Generation ist eine konkrete Art und Weise, wie der Zukunftsschwund für die Älteren lebensweltlich real wird. Was viele beim Ausscheiden aus dem Beruf – oder ähnlich schon beim Wegziehen aus einem langjährigen Wohnort – erleben, nämlich dass das Leben ohne sie weiJean Améry, Über das Altern. Revolte und Resignation, Klett-Cotta: Stuttgart 1968, S.  81.

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tergeht, dass es nicht auf sie wartet, um mit neuen Initiativen sich fortzusetzen, wird im Alter mit zunehmender Härte erfahren. Je mehr wir uns dem endgültigen Ausscheiden aus dem Leben nähern, desto empfindlicher können wir uns schon aus der bestehenden Welt ausgeschlossen, gleichsam vorausgreifend von der Gesellschaft verabschiedet fühlen – ein Schicksal, das nach Améry den trifft, der »die Zeichen des Nichts schon auf der Stirn trägt«.13 Das soziale Altern und Ausgeschlossensein, das aus der Unfähigkeit kommt, am Neuen und Zukunftsfähigen teilzunehmen, ist in elementarer Weise durch das nackte Faktum des Alterns, das Fortschreiten und Zu-EndeGehen des Lebens bedingt. Dazu kommen reale Trennungen, die sich im Alter vermehren, der Abschied von Menschen, die zu unserem Leben, zu unserer Familie, unserem Freundes- und Bekanntenkreis gehört haben und die nicht mehr mit uns sind. Hermann Hesse beschreibt das »Verlieren der Nächsten, der Jugendgenossen vor allem«, als eine der einschneidendsten Erfahrungen des Alterns – »wie da so allmählich alle hinweg schwinden und man am Ende weit mehr Nahe und Nächste ›drüben‹ hat als hier«.14 Dass sich meine Umgebung verändert, ist eine eigentümliche Lebenserfahrung, die in mein Verhältnis zu vergangenen Zeiten, in meine Kindheits- und Jugenderinnerungen eindringt, wenn das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, der Wald, in dem ich gespielt habe, die Straße, an der meine Großeltern gewohnt haben, nicht mehr da sind. Gleichsam komplementär zum altersbedingten Schwinden der Zukunft entgleitet vieles aus der Vergangenheit, wenn die vertraute Welt, die den Hintergrund so vieler Erinnerungen bildet, tiefgreifende Veränderungen durchläuft, ihre Physiognomie verliert oder sich ganz auflöst. Doch ist es nicht nur die Vergangenheit für sich, die sich in solchen Transformationen stückweise entzieht, es ist eine Veränderung, die zugleich nach vorne ausstrahlt und in gewisser Weise auch dem Zukunftsbezug den Boden entzieht, das Hineinschreiten in die Zukunft einsam, haltlos werden lässt. Dies wird dem Alternden schmerzlich dort spürbar, wo nicht nur Orte und Landschaften, sondern Menschen aus seinem Leben ausscheiden, am intensivsten beim Verlust nahestehender, geliebter Menschen, die zum eigenen Leben gehört und dessen ErJean Améry, Über das Altern, a. a. O., S.  77. Brief an Thomas Mann vom 17. 3. 1950, in: Thomas Mann, Tagebücher 1949–50, Frankfurt am Main: S.  Fischer 1991, S.  538 f. 13

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wartungen, Enttäuschungen und Erinnerungen mit getragen, seine Freuden und Schmerzen geteilt haben. Die Trennung von ihnen ist gleichermaßen Abschied von einem Vergangenen und Sichentziehen des Kommenden. Es sind Prozesse der Ablösung von der Welt, von anderen Menschen und vom Vergangenen, die sich im Schwund der Zukunft und eigenen Lebenskraft auswirken.

9.3  Leiden und Krankheit Von nicht unerheblichem Gewicht in der Negativbilanz des Alters sind die Erfahrungen von Krankheit und Leiden. Wenn Seneca im Alter generell eine Krankheit sieht, die unheilbar ist und mit dem Tode endet15, so sind es vielfach konkrete Krankheiten und Leidensgeschichten, die das elementare Erlebnis des Altwerdens prägen. Sie tragen dazu bei, dass das Leben im Alter schmerzhaft und belastend wird und sich weit vom Ideal der zufriedenen Gelassenheit entfernt, die mit Bildern des erfüllten Alters verbunden wird. Es ist die Negativseite, angesichts deren Norberto Bobbio die klassischen »Rechtfertigungsschriften« des Alters geradezu ärgerlich findet, umso mehr, wenn man zu den natürlich-altersbedingten Entbehrungen die ungelösten sozialen, ökonomischen und medizinischen Probleme des Umgangs mit dem Alter hinzunimmt.16 Groß ist die Zahl der Alters­ krankheiten, die zum Teil altersspezifische Gebrechen, zum Teil alters­bedingte Häufungen und Intensivierungen von Krankheiten sind, die zu jedem Zeitpunkt des Lebens ausbrechen können, und es gehört zum Altwerden, sich auf das Schicksal des Getroffenwerdens durch sie einstellen zu müssen – wobei die Ungerechtigkeit der Natur, dass Krankheiten die einen treffen und die anderen verschonen, sich im Alter nicht ausgleicht, sondern in dramatischer Weise vertiefen kann. Die Spannung zwischen einem glücklichen, gesunden Leben im Alter und dem Erleiden unerträglicher Schmerzen ist ein Skandalon für die menschliche Vernunft, welches das Leiden der Betroffenen noch steigern kann. Wie für Nietzsche nicht das Leiden als solches, sondern dessen Sinnlosigkeit das eigentlich Briefe an Lucilius, CVIII/108.28. Norberto Bobbio, Vom Alter – De senectute, in: Thomas Rentsch / Morris Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen, Stuttgart: Reclam 2012, S.  180.

15 Seneca, 16

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Unerträgliche war, von dessen Fluch die Menschheit sich durch die Erfindung von Religion und Moral befreite17, so können Menschen an der Frage, wieso gerade sie durch eine tödliche Erkrankung oder einen Schicksalsschlag getroffen sind, verzweifeln. Anders als bei den im Vorigen benannten Frustrationen sind wir hier mit Negativitäten konfrontiert, die zwar nicht als menschengemachte und -ver­ schuldete – damit moralisch kritisierbare – Übel über den Einzelnen hereinbrechen, sondern mit seinem natürlichen Altersschicksal verwoben sind, doch diesem nicht notwendig anhaften, sondern ihn kontingenterweise treffen oder verschonen, zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt, in abgemilderter oder verschärfter Form über ihn kommen. Mit seiner grundsätzlichen Verletzbarkeit, seinem Krankseinkönnen zurechtzukommen, ist eine Herausforderung, die sich, wie die Sterblichkeit, dem Menschen als solchen stellt, die aber nicht jeden Einzelnen in gleicher Härte trifft. Jeder Mensch hat, wie sein eigenes Leben zu führen, so auch mit seiner Krankheit, seiner Leidensgeschichte, seinem Altwerden zurechtzukommen. Es ist an dieser Stelle nicht die Palette der Leiden und gesundheitlichen Beschwerden auszubreiten, die mit dem Altwerden verbunden sind. Sie sind Thema spezialisierter Forschung und praktischer Behandlung in differenzierten Feldern der Medizin, Therapie, Pflege und Altersbetreuung bis hin zur Fürsorge, Versicherungs- und Rentenpolitik. Ein Großteil der Publikationen und Tagungen zum Thema des Alters ist diesen Problemfeldern gewidmet. Im Kontext der hier verfolgten Fragestellung interessieren Krankheiten, sofern sie das Verhältnis des Menschen zum Gang seines Lebens und des Näheren zu dessen Spätphase, seinem Zu-Ende-Gehen betreffen. In Frage stehen Formen des Leidens, in denen wir mit der Last und der Not des Alters konfrontiert werden. Wenn sie darin gleichsam in der Fluchtlinie des Lebensendes stehen, so geht es nicht allein um die temporale Annäherung an das Ende, wie sie bei tödlichen Krankheiten im Vordergrund steht, sondern allgemeiner um Präfigurationen der Auflösung und des Abschieds, in deren Zeichen wir auf das Lebensende vorausblicken. In eindringlicher Form ist diese Präfiguration in Leiden und Verlusterfahrungen gegeben, denen Menschen in bestimmten psychischen Krankheiten, in anderer Weise auch in der Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden: München / Berlin / New York: de Gruyter / dtv, Bd.  5, S.  411 f.

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Demenz ausgesetzt sind. Die personale Desintegration steht exemplarisch für die Bedrohung, die dem Leben aus seinem Ende erwächst, der die eigentliche Angst gilt und die auf das Alt- und Schwachwerden zurückschlagen kann. Nicht nur der Zeit- und Lebensverlust, sondern der Selbstverlust, die Selbstabwesenheit und die Auflösung des Selbst, dem es einst um sein Leben und seine Zukunft ging, ist die Bedrohung, mit der uns die Krankheit zuletzt konfrontiert. Es ist kein Zufall, dass Demenzerkrankungen, die mit der gestiegenen Alterung der Gesellschaft zugenommen haben, nicht nur als medizinisches und soziales Problem vordringlich geworden sind, sondern auch für den Einzelnen in seinem Ausblick auf Alter und Krankheit zu einer Sorge sui generis geworden sind. Sie stehen für eine Bedrohung, die, auch wenn sie nicht in gleicher Weise wie manche Krebskrankheiten mit physischem Leiden verbunden ist, den Menschen in seiner Tiefe, seinem Innersten trifft. Sie trifft ihn im Abgrund des Bewusstloswerdens und Sich-Verlierens, der gewissermaßen den entgegengesetzten Fluchtpunkt zum Initium des Geborenwerdens, zum Anfang des Bewusstwerdens und Zusichkommens verkörpert. Im Selbstentzug wird erschüttert, was das Wesen des Selbstseins ausmacht, das sein Leben zugleich im Medium der Verständigung über sich vollzieht. Im Zerfallen des reflexiven Lebensvollzugs geht das Subjekt selbst seiner Auflösung, seiner Auslöschung entgegen.

9.4  Vergessen und Vergessenwerden In verschiedenem Licht tritt das ›traurige Alter‹ vor Augen – im Zeichen der entfliehenden Zeit, der schwindenden Kräfte und Möglichkeiten, im Verlust der vertrauten Menschen und Lebensorte, in der Konfrontation mit Gebrechen, Krankheiten und Leiden, in der drohenden Auflösung des Selbst. Ein besonderer Fokus im Erleben dieses Verlierens und Sichentgleitens ist das Vergessen und Vergessenwerden. Zwar bleibt bekanntlich vieles gerade bei älteren Menschen unverrückbar im Gedächtnis haften, und auch bei Demenzkranken sind es oft älteste Erlebnisse und Erinnerungen, die in der Gegenwart präsent sind, gegebenenfalls auch therapeutisch nutzbar gemacht werden können. Dennoch ist das Sichentziehen, Entgleiten des eigenen Lebens eine durchgehende Linie des Alterns. Die Vergesslichkeit, über die sich ältere Menschen als erstes beklagen, ist nur wie ein Vorbote, eine Parzelle jenes umfassenderen Vergessens,

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in welchem die Vergangenheit und das eigene Leben sich von uns ablösen und uns fremd werden, in welchem wir uns selbst fremd werden und uns verloren gehen, wir schließlich auch der Welt und unseren Nachkommen fremd werden. In eindringlicher Weise beschreibt Annie Ernaux die Furcht, die nicht unmittelbar dem künftigen Nicht-mehr-Sein, sondern dem künftigen Vergessen gilt, wenn es ihr nicht mehr möglich sein wird, ihre Zeit und ihre Vergangenheit festzuhalten, wenn mit fortschreitendem Alter das Gedächtnis zunehmend trüb und stumm sein wird, und es ist ein eigenes Gefühl der Dringlichkeit, das sie dazu anhält, die Zeit festzuhalten, die sie auf der Erde in dieser bestimmten Epoche verbracht hat, die Zeit, die sie miterlebt und durch ihr eigenes Leben in sich aufgenommen hat.18 Was an früherer Stelle als die Zeitnot sichtbar wurde, die alternde Menschen empfinden, wenn sie verpasste Gelegenheiten nachholen, längst Geplantes oder Ersehntes endlich doch noch verwirklichen wollen, trifft in anderer Weise für die Arbeit des Gedächtnisses selbst zu, für das oft aufgeschobene Zurückkommen auf früher Erlebtes und das Bemühen, Vergangenes in der Erinnerung festzuhalten, sein Leben gegenwärtig werden zu lassen. Es kann sein, dass solche Erinnerung nicht mehr gelingt, nicht nur infolge des langen Zeitabstands, sondern des inneren Zerfalls des Gedächtnisses, in verhärteter Form in der Demenz; möglicherweise sind wir dann auf die Hilfe anderer angewiesen, die unserem Gedächtnis Beistand leisten, sich gleichsam stellvertretend für uns erinnern.19 Nicht nur dass uns heute das Vergangene, sondern dass uns künftig die Erinnerung entgleitet, ist das Leiden am schwindenden Gedächtnis. Dass wir die Flucht der Zeit erinnernd zu überwinden vermögen, ist uns nicht immer vergönnt und versteht sich im Alter am allerwenigsten von selbst. Dabei steht nicht nur das eigene, aktuelle Erinnerungsvermögen in Frage. Ernaux beginnt ihre Lebensbeschreibung mit der Reflexion auf die eigenartige Tatsache, dass alle unsere Gedanken, die Gefühle und inneren Bilder, die unser Bewusstsein erfüllen und unser aktuelles Erleben ausmachen, dereinst verflüchtigt, verloren, keinem mehr bekannt sein werden.20 Wie unsere Erinnerung an die, die vor uns waren, lückenhaft und flüchtig ist, wir uns nur mit Mühe an den Klang einer Stimme, nur diffus an eine Körperhaltung und Annie Ernaux, Les années, Paris: Gallimard 2008, S.  248 ff. Andreas Brenner, Altern als Lebenskunst, a. a. O., S.  116. 20 Ebd., S.  11–14.

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Gestik erinnern können, so werden die, die nach uns kommen, von unserem Tun und Fühlen, von unseren Gedanken, Wünschen und Plänen nur fragmentarische Eindrücke während einer bestimmten, begrenzten Zeit bewahren. Das Gefühl der Vergänglichkeit, das seit je mit dem Gewahrwerden des Alterns bei anderen wie bei sich selbst verbunden war, übersteigt den je eigenen Lebenshorizont, die ­einem jeden zugeteilten Lebensjahre. Der Blick in den Abgrund der Selbstauflösung, in das Sichverlorengehen und Sichvergessen weist über das Selbstverhältnis hinaus. Jenseits meines Vergessens – des Vergessens meines Erlebens und meiner selbst – ist das Vergessenwerden durch andere, das Verlorengehen in der Welt der anderen. Darin liegt nicht eine abgemilderte, zusätzliche Modalität, sondern eine Vertiefung des Sichverlierens. Wie nach verbreiteter Auffassung das individuelle Lebewesen, das dem Sterben geweiht ist, eine Art Nachleben und Quasi-Ewigkeit im Fortleben und Gedenken der Anderen besitzt, so ist deren Nichtgedenken – das sich zum Gedächtnisverbot, zum Fluch der damnatio memoriae steigern kann – die härteste Preisgabe an das Nichtsein. Der Ausblick auf das eigene Nichtmehrsein weitet sich in eine Nach-Zeit, in der ich nicht mehr da sein, zu der ich nicht mehr gehören werde. Den Fluchtpunkt meiner Vergänglichkeit bildet eine zweifache Linie, in der ich mich selbst verliere, meine Geschichte vergesse und in der andere, Spätere, mich vergessen, mich vergessen haben werden. Was im sozialen Altern als antizipierte Verabschiedung erfahren wird, wird real und absolut geworden sein. Es bleibt nun zu sehen, wieweit die mannigfaltigen Erfahrungen des Verlusts und des Leidens im Gegenlicht eines zufriedenen, glücklichen Alters ein Gegengewicht erhalten, in ein anderes Bild des geführten und seinem Ende entgegengehenden Lebens integriert werden können.

10. Die Kunst des Alterns 10.1  Das ambivalente Bild des Alters Wie der idealisierenden Rechtfertigung, so wird der karikierenden Negativierung des Alters widersprochen.1 Der Einspruch gilt der Wertung ebenso wie der deskriptiven Charakterisierung. Zahlreiche Autoren plädieren für eine Revision verzerrter Bilder des Alters als eines Verfallsstadiums und betonen die hohe Bedeutung positiver Vorstellungen und Einstellungen sowohl für die eigene Lebensführung wie für die soziale Wahrnehmung und den gesellschaftlichen Umgang mit dem Alter. Die Zentrierung auf die Seite der Defizite verstellt den Blick auf das Phänomen des Alters. Nicht nur geht die späte Lebensphase nicht in den Verlust- und Leidensaspekten auf, die in den Klagen über die Trostlosigkeit des Alters anklingen und gegen welche andere Beschreibungen die Lebenskraft und eigenen Freuden älterer Menschen herausstreichen. Zu erinnern ist ebenso an das hohe Ansehen, das in vielen Zeiten und Kulturen dem Alter entgegengebracht wurde und wird. Nicht immer ist dieses vorrangig als soziales und biomedizinisches ›Problem‹ gesehen und behandelt worden. Ebenso bedeutsam ist die Autorität und Würde, die schon Cicero dem reifen und älteren Menschen zuschreibt und die in traditionalen Gesellschaften vielfach mit Insignien des sozialen und politischen Rangs einhergeht. Zwischen 1400 und 1600 waren die Dogen von Venedig durchschnittlich 72 Jahre alt. Die von Rom bis in die neuzeitlichen Staaten mit variierenden Aufgaben tradierte Institution des Senats enthält schon im Wort den Verweis auf das fortgeschrittene Lebensalter seiner Mitglieder. Entscheidend für eine Norberto Bobbio, Vom Alter, a. a. O., S.  180; Anne Karpf, How to Age, a. a. O., S.  32; Andreas Brenner, Altern als Lebenskunst, S.  44; s. oben 8.3.

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Neufokussierung des Themas ist die Ablösung von einer funktionalen Betrachtung, die das Alter in erster Linie von seinen Leistungen und Kosten her zum Thema macht und gegenüber den ökonomisch, beruflich und physisch uneingeschränkt aktiven Erwachsenen unausweichlich zu einer Negativbilanz führt.2 Dabei steht ein zweifacher, externer und interner, Perspektivenwechsel zur Diskussion. Extern ermöglicht die Suspendierung des funktional vereinseitigten, defizitbezogenen Blicks auf das Alter die Wahrnehmung seiner originären Potentiale und Lebensweisen, damit verbunden die Aufwertung sozialer Einstellungen zum Alter wie Achtung und Anerkennung. Intern geht es darum, die Lebensphase und die Vollzugsformen des Alters aus der Perspektive der Betroffenen, der alternden und alten Menschen zur Sprache zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass die externe und die interne Perspektivierung nicht unabhänging voneinander sind. Ein affirmatives Verhältnis zu den Vorzügen und Schönheiten des Alters ist kaum denkbar, wo dieses von den Betroffenen selbst als Qual und Leere erlebt wird, wie sich umgekehrt deren eigenes Bild vom Alter nicht losgelöst von objektiven Unwägbarkeiten und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Vorurteilen artikulieren kann. Die Verständigung über das Alter ist eine aus dem realen Leben und der Erfahrung des ­Alterns heraus, und sie wird nicht für jeden, unabhängig von körperlicher Verfassung und äußerem Schicksal, dieselbe sein. Im Gegenzug zu den vielfach sich aufdrängenden Negativbildern gilt es die Züge eines erfüllenden Lebensabschnitts sichtbar werden zu lassen, indem in einem ersten Schritt die im Vorigen herausgestellten defizitären Merkmale gleichsam intern relativiert und in affirmative Weisen des Umgehens mit Mangel und Leiden integriert werden (10.2). In einem zweiten Schritt sollen darüber hinaus genuin positive Attribute der Lebensform des Alters in den Blick kommen, die unter Aspekten des Sinns, der Identität und der Ganzheit zu explizieren sind (10.3–4). Die Herausforderung dieser gegenläufigen, lebensbejahenden Beleuchtung liegt nicht zuletzt darin, der intrinsischen affirmativen Potenz des Alters Geltung zu verschaffen, ohne

2 Vgl. Otfried Höffe, »In Würde altern«, in: Thomas Rentsch / Harm-Peer Zimmermann / Andreas Kruse (Hg.), Altern in unserer Zeit. Späte Lebens­ phasen zwischen Vitalität und Endlichkeit, Frankfurt am Main / New York: Campus 2013, S.  10–28, S.  15 f.

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etwas von dem rückgängig zu machen, was sich objektiv in ihm als Einschränkung und Leiden spürbar macht.

10.2  Jenseits des Verlusts Als erstes gilt es der Selbstverständlichkeit zu widersprechen, mit welcher das Alter weithin im Lichte der Minderung und des Verlusts wahrgenommen wird. Dass mit den fortschreitenden Jahren die Kräfte der Gestaltung und Neuerung sich abschwächen, darf nicht dazu führen, diese als ausschließliches Privileg der Jugend oder des reifen Erwachsenenalters zu behandeln. Die Kulturgeschichte ist voller Zeugnisse herausragender Schöpfungskraft im hohen Alter. Sophokles, Goethe, Picasso, Casals, Kant, Verdi und viele andere zeugen von der lebenslangen Fähigkeit, Interesse am Neuen zu bewahren und auch im fortgeschrittenen Lebensalter kreativ tätig zu sein. Doch auch im Horizont ›normaler‹ Lebenskreise ist es wichtig, die Lern- und Entwicklungspotentiale älterer Menschen aufzuzeigen und zu fördern. Dabei kommt ganz Unterschiedliches in den Blick: künstlerische und intellektuelle Fähigkeiten, die im Alter kultiviert werden, körperliche und geistige Tätigkeiten, deren sich Menschen in früheren Jahren erfreut haben und die sie später weiterführen, zum Teil neu entdecken, die Freude an unbekannten Erfahrungen, das Kennenlernen von Orten und Menschen, das Pflegen von Kontakten und Schließen neuer Freundschaften.3 Es gilt, sich auch im Alter auf neue Situationen einzustellen, Fragen nach dem Sinn zu stellen, Möglichkeiten des Erlebens zu erkunden und den Gang seines Lebens zu gestalten. Es gehört zur Aufgabe gesellschaftlicher Alterspolitik wie der individuellen Selbstsorge, die Potentiale und Möglichkeiten, die im Alter bewahrt sind oder sich in originärer Weise neu ausbilden, auszuloten, um die Wege eines guten Lebens im Alter zu erschließen. Die Weiterentwicklungen und Neuentdeckungen, die Anregungen durch Arbeit und Bildung sind auf die spätere Lebenszeit auszuweiten, in der sie zugleich von neuen Freiräumen, 3 Vgl. Thomas Rentsch u. a. (Hg.), Altern in unserer Zeit, a. a. O.; Otfried Höffe, Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens, München: Beck 2018; Martha Nussbaum / Saul Levmore, Älter werden. Gesprä­che über die Liebe, das Leben und das Loslassen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellshaft 2018.

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teils verbesserten Lebensverhältnissen profitieren. Natürlich darf ein optimistisches Altersbild nicht illusionistisch sein oder sich ­einem artifiziellen Jugendkult im Alter hingeben; es darf nicht über das Schwinden von Lebenskraft und Fähigkeiten, über reale Gebrechen und Leiden hinwegsehen, sondern hat sich auf altersgerechte Lebens­formen und Möglichkeiten einzustellen. Doch ist es wichtig, diese in einer lebens- und altersbejahenden Weise zur Geltung zu bringen. Eine affirmative Einstellung zu den Entfaltungsmöglichkeiten des Alters ist Bedingung für ein befriedetes Zurechtkommen mit seinen Schwächen und Grenzen. Beides ist für das Leben im Alter gleichermaßen von Bedeutung: die Bekräftigung der erhaltenen und neu sich entwickelnden Poten­ tiale und die Anerkennung der unwiderruflichen Grenzen und Defizite. Wie in allen Lebensphasen, so sind wir im Alter, und dies in besonderer Weise, mit Entbehrungen und Enttäuschungen konfrontiert. Zu ihnen zählen echte Verluste, die wir nicht überspielen oder durch andere Leistungen oder Vorteile kompensieren können. Wir verlieren Menschen aus unserem Lebenskreis, von denen wir uns verabschieden müssen, wir verlieren Lebensmöglichkeiten und eigene Fähigkeiten, die wir nicht zurückholen oder wiederherstellen können.4 Was uns in dieser Situation übrigbleibt und wozu wir gezwungen sind, ist der Versuch, solche Frustrationen auszuhalten und sie in unsere Lebensführung und unser Verständnis des Lebens zu integrieren. Wir können nicht anders als unsere Endlichkeit, auch unsere Verletzbarkeit, unsere Unfähigkeiten und zunehmenden Schwächen anzuerkennen, uns von der Selbstlüge, der mauvaise foi eines ungetrübt-souveränen Jungbleibens ebenso freizumachen versuchen wie von den Illusionen des endlosen Weitermachens und Vorankommens.5 Schon das soziale Altern, das Nicht-mehr-Mitkommen, das den älteren Menschen von der Jugend unwillentlich und in aller Deutlichkeit vor Augen gestellt wird, sollte vor Selbsttäuschung bewahren.6 Von der Selbstentfremdung des Alters, meint 4

Vgl. Ernst Tugendhat, »Das Alter – Die Herausforderung der Frustrationen«, a. a. O.; Harm-Peer Zimmermann, »Altern als Balanceakt. Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz zwischen Frustration und Freude«, in: ders. u. a. (Hg.), Kulturen des Alterns. Plädoyers für ein gutes Leben bis ins hohe Alter, a. a. O., S.  387–399. 5 Jean Améry, Über das Altern, a. a. O., S.  85 f. 6 Nach Améry nimmt die Gesellschaft »das Vernichtungsurteil der jungen und jüngsten« an, das »nach dem Gesetz der Jugend und ihres Grauens vor

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Odo Marquard, befreit sich nur, wer vom »senilen Ehrgeiz« des Immer-weiter-Schaffens und Weiter-Kommens, von der »ausufernden To-do-Liste«7 des Lebens ablassen und es »irgendwann einmal genug sein lassen kann«.8 Voraussetzung solchen Loslassens ist eine grundlegende Einstellungsänderung zu sich selbst und zu seinem Tun. Gefordert ist, so Ernst Tugendhat, eine Haltung des Sich-Zurücknehmens, der Distanzierung von sich, seinen Strebungen und Ansprüchen, die er in idealtypischer Pointierung als »mystische« Einstellung beschreibt. Der Mensch ist das Lebewesen, das die Fähigkeit hat, sein Selbstverständnis in einer Weise auszuweiten, dass er als Individuum nicht mehr notwendig im Zentrum steht; er kann sich selbst und sein Tun relativieren und von der »Egozentrizität« des selbstbezogenen und sich selbst behauptenden Subjekts Abstand nehmen.9 Es ist eine Einstellung, die dem Menschen durch das Verlusterlebnis des Alterns in gewisser Weise nahegelegt, auch erleichtert wird und die nach Tugend­hat womöglich »das einzige« ist, »was einem im hohen Alter übrigbleibt«.10 Auch unabhängig von ethischer Fundamentalisierung oder quasi-religiöser Überhöhung können wir diese Haltung als Element eines offenen, realitätsgerechten Bewusstseins angesichts der Endlichkeit pflegen. Sie bedeutet für den Einzelnen die Demut, der eigenen Entbehrlichkeit bewusst zu werden und das Schwinden der Lebensressourcen mit der Selbstzurücknahme des Ich zu vereinen.11 Dem objektiven Verlust korrespondiert ein Verzicht, in welchem der Mensch über die Passivität des bloßen Erleidens hinauskommt und in der Auseinandersetzung mit Begrenzung und Frustration bei sich sein und mit sich eins sein kann. In der Fluchtlinie solchen Einstellungswandels kommen positive Attribute des Alters in den Blick. Es sind positive Gegenbilder auf dem Hintergrund des Verlusts und der Zurücknahme, Bilder jenseits der aktivistischen Leitideen, deren Nichtrealisierung die Negativität des Alters mit ausmacht: jenseits der Machbarkeitsideologien, der dem Verfall« gesprochen wird und gegen das es »keinen Appell« gibt: Über das Altern, a. a. O., S.  154 f. 7 So eine Formulierung von Hartmut Rosa in verschiedenen Interviews. 8 Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches, a. a. O., S.  71. 9 Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Stu­ die, München: Beck 2006. 10 Ernst Tugendhat, »Das Alter«, a. a. O., S.  73. 11 Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches, a. a. O., S.  90.

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Ausrichtung auf Steigerung und Perfektionierung, auf das ImmerMehr, Immer-Schneller, Immer-Besser.12 Indem wir im Alter vieles gar nicht mehr können, werden wir darüber belehrt, dass wir vieles gar nicht müssen, dass viele Ziele und Leistungen nicht per se wertvoll und erstrebenswert sind.13 Nicht mehr streben und wollen zu müssen, kann in der Schlussphase des Lebens als befreiend erlebt werden. Das positive Pendant solcher Zurücknahme jenseits von Bescheidung und Resignation heißt Gelassenheit. Sie steht für eine seit der Antike beschriebene Tugend des Alters, die sich im Kreis verwandter Einstellungen wie Ruhe, Muße oder Heiterkeit situiert, welche sich von den aktivistischen Tendenzen des Übersich-Hinausseins losgesagt haben und idealiter ein Mit-sich-im-Einklang-Sein ohne die negativen Konnotationen der Entsagung und des Verzichts anzeigen.14 Es ist eine Art Befriedet- und Erfülltsein, das mit der Spät- und Endphase des Lebens, mit dem Zur-RuheKommen und Zu-Ende-Gehen der Lebensbewegung im Einklang steht, ohne dadurch, als Letztes, ein dynamisches Strebensziel des Lebens anzuzeigen. In Frage steht eine Lebensweise, die einen Gegenpol zur Geschäftigkeit und Selbstflucht des Alltags darstellt und entsprechend als existentielle Grundhaltung kultiviert und theoretisch reflektiert wird.15 Sie wird als eine allgemeine Lebenshaltung gepriesen, die zugleich in besonderer Weise mit dem Älterwerden verknüpft ist, eine Haltung, die durch das Alter ermöglicht, aber auch nahegelegt und als Heilmittel gegen Entbehrung und Verzweiflung erstrebt wird. Es ist die Linie, in deren Fortsetzung Altersbeschreibungen mit Lebensidealen wie Besonnenheit, Weisheit und Gerechtigkeit zusammentreffen und die späte Lebenszeit, weit entfernt von e­ inem Stadium bloßen Verfalls und Mangels, als genuine Dimension menschlicher Entfaltung erscheint. Gelassenheit, Ruhe, Muße versammeln sich im Idealbild eines Lebens jenseits der Betriebsamkeit, fähig, 12 Thomas Rentsch, »Alt werden, alt sein – Philosophische Ethik der späten Lebenszeit«, in: Thomas Rentsch u. a. (Hg.), Altern in unserer Zeit, a. a. O., S.  163–187, hier S.  173, 186. 13 Harm-Peer Zimmermann u. a. (Hg.), Kulturen des Alterns, a. a. O., S.  10. 14 Vgl. Thomas Rentsch, »Kultur humanen Alterns«, a. a. O., S.  264 f.; Andreas Brenner verweist auf Bilder von Albert Anker, welche alte Menschen im Tätigsein wie im Nichtstun, in innerer Freiheit jenseits von Hetze und Einsamkeit darstellen: Altern als Lebenskunst, a. a. O., S.  196 f. 15 Vgl. Martin Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen: Neske 1959.

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»das Wichtige zu sehen, das Unwichtige zu vergessen«: dergleichen, meint Bloch, ist »eigentliches Leben im Alter«.16 Am Gegenextrem zu den Klagen über Verlust und Gebrechen erscheint ein Bild des Alterns als Vollendung und Glück. Wo sich das reale Lebensende im Spannungsfeld zwischen beiden Extremen konkret einpendelt und vollzieht, hängt von eigenen Dispositionen wie von äußeren Bedingungen ab.

10.3  Sinngestalt des Lebens und Erinnerung Ob im Zeichen der schwindenden Lebenskraft oder des gelassenen Beisichseins – das Alter ist die Zeit, in welcher der Mensch sich bewusst zu seinem Leben als Ganzem verhält. Er verhält sich zum bisherigen Verlauf seines Lebens und zur noch ausstehenden Lebenszeit; er interpretiert das bisher Erlebte, das noch Mögliche und für die Zukunft Geplante, er gibt seinem Leben eine bestimmte Sinn­ gestalt.17 Dies ist etwas, was er schon während seines ganzen Lebens tut18, und das am Lebensende angesichts des Endgültigwerdens des Zeitverlaufs eine neue Bedeutung gewinnt. Bewegt sich menschliche Selbstverständigung – als Selbsterkundung, Selbstbestimmung, Selbstfindung – im Laufe des Lebens im prospektiven Raum offener Möglichkeiten und alternativer Optionen, so verengt sich deren Spielraum mit fortschreitender Lebenszeit, um sich immer mehr zu der einen Gestalt des faktischen Lebenslaufs zu verfestigen. Mit Bezug auf die Weite der erlebten Jahre und die sich zusammenziehende Zukunft gilt es für den alternden Menschen, die Sinnfrage mit Bezug auf sein Leben zu stellen, sein Leben als gewordene, irreversible Ganzheit in einem bestimmten Licht wahrzunehmen, in einer bestimmten Weise auszulegen und als sein Leben anzueignen. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 31976, Band 1, S.  44. 17 Vgl. Thomas Rentsch, »Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit«, in: Thomas Rentsch / Morris Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter, a. a. O., S.  189–205. 18 Charles Taylor, »Self-interpreting animals«, in: Philosophical Papers, Vol. i, Cambridge: Cambridge University Press 1985, S.  45–76; vgl. Emil Angehrn, »Selbstsein und Selbstverständigung. Zur Hermeneutik des Selbst«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff (Hg.), Die Vermessung der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2009, S.  163–183. 16

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Es ist einem bestimmten Verlauf gefolgt, hat eine einmalige Gestalt angenommen, auf welche der Mensch je nachdem mit Stolz und Genugtuung, mit Scham und Bedauern oder einfach äußerlich-konstatierend, verständnislos, in Verwirrung zurückblickt. Im Alter tritt ihm sein Leben vor Augen; die fortgeschrittene Lebenszeit ist die Zeit der Selbstvergegenwärtigung, in welcher der Mensch sich Rechenschaft über das Getane und Erlebte ablegt. Solche Reflexion findet in variierender Explizitheit und unterschiedlichen Formen statt. Ob sie überhaupt stattfindet oder ausbleibt, steht als erstes in Frage. Lebensumstände können sie erschweren oder behindern. Der Mensch kann im Alter verstummen, seiner Vergangenheit taub und blind gegenüberstehen. Er kann unangenehme Erlebnisse verdrängen, die belastende, schmerzliche oder beschämende Vergangenheit kann sich seinem Gedächtnis entziehen. Umgekehrt kann sie sich ihm auch öffnen, sie kann seiner Sehnsucht nach der verlorenen Zeit, seinem Wunsch nach Erinnerung entgegenkommen, aber auch ihn bedrängen, sich seinem Gedächtnis als ungelöstes Problem oder unerledigte Aufgabe aufnötigen, sein Gewissen als unabgegoltene Schuld heimsuchen. Naturgemäß gilt die vorrangige Lebensreflexion im Alter der Rückschau; es geht ihr mehr darum, mit dem geführten Leben zurechtzukommen als Zukunftspläne zu schmieden. Die Frage nach dem Sinn oder NichtSinn des Lebens weist schwerpunktmäßig zurück, auch wenn die Vorstellung, ältere Menschen lebten vorwiegend in vergangenen Zeiten, ein empirisch unbegründetes »Altersstereotyp« ist19 und die Zuwendung der Lebensbesinnung zum Vergangenen überdies nicht bedeutet, dass sie sich der Zukunftsdimension verschließt. Es liegt dem älteren Menschen näher, eine Bilanz über das Erreichte und Verfehlte zu ziehen als sein Leben einer nach vorne gerichteten Zielreflexion zu unterstellen.20 In dieser Ausrichtung konvergiert die Lebensbesinnung im Alter mit einem Urbedürfnis des Menschen, dem Verlangen nach Erinnerung. Der Wunsch, vergangene Zeiten festzuhalten, Entschwundenes und Vergessenes neu aufleben zu lassen, ist ein Kern der mensch19

H.-J. Fisseni, »Zeiterleben und Lebensalter«, in: Andreas Kruse / Reinhard Schmitz-Scherzer (Hg.), Psychologie der Lebensalter, Darmstadt: Steinkopff 1995, S.  148. 20 Charlotte Bühler, »Erfüllung und Versagen im Leben«, in: Charlotte Bühler / Fred Massarik (Hg.), Lebenslauf und Lebensziele. Studien in humanis­ tisch-psychologischer Sicht, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1969, S.  343 ff.

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lichen Auseinandersetzung mit dem Vergehen. Er gründet in der fundamentalen Zeitlichkeit der conditio humana, die neben der Flüchtigkeit aller Erlebnisse zuletzt die Vergänglichkeit der Existenz selbst betrifft. Es gehört zur Erfahrung des Älterwerdens, dass die Zeit immer schneller zu vergehen scheint. Immer mehr werden wir auch der Unumkehrbarkeit allen Geschehens, der Unkorrigierbarkeit alles Erlebten inne. Was bleibt, ist die Möglichkeit, das Gewesene zu ver-gegenwärtigen, in einer Gedächtnisarbeit, die nicht in der reproduzierenden Spiegelung aufgeht, sondern sich in einer Verlebendigung und aneignenden Formgebung vollzieht. Explizit geschieht solche Erinnerung über die Artikulation seines Lebens in Bild und Sprache, idealtypisch im Medium der Erzählung und der Niederschrift. Ein Tagebuch schreiben oder retrospektiv seine Taten und Erlebnisse aufzeichnen sind Modelle der Selbstvergegenwärtigung des Lebens über die Zeit. Annie Ernaux hat die Zeugnisse ihrer über Jahrzehnte fortgeführten Schreibtätigkeit unter dem Titel Écrire la vie zusammengeführt.21 Sein Leben zu schreiben ist die paradigmatische Verwirklichung des Wunsches, seine Vergangenheit einzuholen und sich selbst in seinem Leben gegenwärtig zu werden.22 Das Leben, betont Ernaux, diktiert selbst nichts und schreibt sich nicht selbst nieder; es ist stumm und gestaltlos. Sein Leben zu schreiben heißt es in eine bestimmte Form zu bringen, in Sätze und Worte zu fassen, in einer mühsamen Arbeit an der Sprache und e­ iner beharrlichen Auseinandersetzung mit den Verwicklungen des Er­ lebens.23 Es ist die herausfordernde, vielschichtige Arbeit der Erinnerung, die sich zum Teil entlang bekannter Fakten und sichtbarer Spuren bewegt, zum Teil auf unsicherem Boden und in verworrenen Gefilden vorangeht, verschüttete Residuen und verhüllte Zonen freilegt, um die eigene Welt und sein Leben zu erkunden. Solche Erinnerungsarbeit ist in der historischen Forschung wie der biographischen Reflexion nie abgeschlossen. Sie wird immer aufs Neue aufgenommen, unter veränderten Perspektiven weitergeführt. Wie es kein definitives Geschichtsbild einer Epoche oder einer Nation gibt, sondern jede Generation ihr Verständnis der Herkunft neu finden und kritisch reflektieren, ihre Geschichte neu schreiben muss, Annie Ernaux, Écrire la vie, Paris: Gallimard 2011, S.  7. Vgl. Emil Angehrn, Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung, Frankfurt am Main: Klostermann 2017. 23 Annie Ernaux, Écrire la vie, a. a. O., S.  8. 21

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so ist die Selbstvergegenwärtigung des Lebens eine periodisch erneuerte, iterierte Formgebung, die durch das fortschreitende Leben wie die sich ändernden Umstände je neu herausgefordert wird. Erst im Nachhinein, idealiter am Ende des Lebens kann sich die biographische Selbstbesinnung ihrer Wahrheit vergewissern. Der Sinn des Lebens bleibt offen, die Niederschrift des Lebens vorläufig, solange das Spiel des Lebens weitergespielt wird. Dies ändert nichts daran, dass die Selbstvergewisserung unablässig stattfindet und stattfinden muss, dass der Sinn des Lebens fortwährend gesucht, neu entworfen, umgebildet und erprobt wird. Die reflexive Verständigung über sein Leben findet statt, solange das Leben weitergeht. Dass sie sich im Alter bevorzugt im Modus der Erinnerung vollzieht, bedeutet auch, dass der alternde Mensch in ihr ein Gegengewicht gegen den Fluss der Zeit und die Flüchtigkeit allen Erlebens findet, in gewisser Weise aber auch gegen die Unvorhersehbarkeit des Künftigen, das ihn ängstigt und um das er sich sorgt. So nennt Seneca die Vergangenheit einen »heiligen und geweihten Teil unserer Zeit«, den uns niemand entreißen kann, einen »dauernden und unangefochtenen Besitz« jenseits drohender Schicksalsschläge.24 Doch vorgängig zur prospektiven Sicherung gilt das Interesse des Er­innerns dem Zurückgehen selbst, dem Wiederfinden des Verlorenen, der Wiederkunft des Vergangenen. Einen besonderen Fokus, neben dem »Durchlaufen aller Phasen seines Lebens«25, stellt darin das Gedächtnis der Kindheit dar. Der Rückkehrwunsch zur Kindheit und zur Blüte der Jugend ist ein signifikanter Teil dessen, was nach Bloch »im Alter zu wünschen übrigbleibt«.26 Wir haben an früherer Stelle gesehen, dass die Kindheitssehnsucht, die das Alter vielfach begleitet, nicht einfach den ältesten Ereignissen, sondern tiefer noch den Versprechen gilt, welche den frühesten Zeiten innewohnen, dem »Zauber der langen Hintergründe«, den das Leben damals noch besaß.27 Dabei geht es der elaborierten Gedächtniskultur nicht nur um ein Sich-Versenken in jenes frühe Erleben, sondern ebenso um ein Zur-Sprache-Bringen dessen, was in der Kindheit angelegt war. Es geht darum, einer Schicht und Phase unseres Lebens Sprache zu verleihen, die damals ohne Sprache war. In diesem Sinne beschreibt 24 Seneca, 25 Ebd. 26 27

De brevitate vitae, a. a. O., S.  31.

Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S.  37 ff. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S.  40.

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Dominic Angeloch die von Wilfred R. Bion in The Long Week-End praktizierte Erinnerungsarbeit als Arbeit eines alten Mannes, der »wie das Kind spricht, das er einmal gewesen ist«, und »das, was es empfand und für das es keine Sprache hatte, mithilfe der Erfahrungen, der Theorie und der Sprache des alten Mannes, der es einmal werden sollte, zum Ausdruck« bringt.28 Dass jeder selbst einst Kind gewesen ist, öffnet ihm den Zugang zum eigenen wie fremden kindlichen Erleben, das der bewussten Reflexion zunächst fern und undurchdringlich ist. Der Zugang zum Kindsein ist ein Zugang zum Leben als solchem, wie die Geburt das Sich-Öffnen des Lebens überhaupt markiert. Indessen erschöpft sich die Reflexion auf das Leben, zu welcher das Alter einlädt, nicht in der Rückschau auf die Kindheit und die darin geborgenen Versprechen. Sie umfasst ebenso die frühen Entbehrungen und Leidenserfahrungen, und sie erstreckt sich über die Kindheit hinaus auf den gesamten Lebensverlauf, auf die Summe des Lebens. Sie ist ein Ausgriff auf das Ganze, der trotz der teleologischen Substruktur der Lebenserzählung keine Vollendung meint, sondern gerade als wiederkehrende, explorierende Selbstvergegenwärtigung ohne abschließende Synthese bleibt. Gleichwohl bleibt sie als Lebensbesinnung auf das Ganze bezogen. Es gehört zu den Charakteristika des Alters, sich schrittweise aus den Verwicklungen des Lebens mit seinen Konflikten und Leidenschaften herauszulösen, Abstand zu gewinnen und eben damit auch einen Blick auf das Ganze des Daseins zu erlangen. Das Leben wird dem alternden Individuum zwar noch nicht zur geschlossenen Ganzheit wie im Anblick des bevorstehenden Todes, doch geht sein Blick über die aktuellen Verstrickungen ebenso hinaus wie über das unmittelbar Zurück­ liegende und Anstehende, berührt er das Leben als ganzes. Ob in einer kontinuierlichen autobiographischen Entfaltung, in episodischen Rückblicken auf Ereignisse und Erlebnisse, in periodischen Gesprächen und verweilenden Reminiszenzen beim Betrachten von Bildern und gemeinsamen Erzählungen – in ganz unterschiedlichen Formen realisiert sich der reflektierende Rückblick als Privileg und als eigenes Bedürfnis des Alterns. Sich in seinem Leben gegenwärtig zu werden gehört zu den positiven Möglichkeiten, die einen Gegenakzent zu jenen unausweichlichen Belastungen und Verlusten setzen, in denen das Alter zunächst vielfach begegnet. Wiederum gilt, dass 28

Dominic Angeloch, »Psychological Impossibilities«, a. a. O., S.  122

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die Frage, wieweit solche Möglichkeiten dem einzelnen real offen stehen, ja, wieweit sie im individuellen Lebenslauf die Oberhand gewinnen können, von der körperlich-seelischen Verfassung und den eigenen Haltungen und Fähigkeiten ebenso abhängig ist wie von unverfügbaren äußeren Lebensumständen.

10.4  Identität und Selbstgegenwart Erneut bestätigt sich auch, dass die Probleme des Alters keine anderen sind als die Probleme des Lebens überhaupt. So sind auch die positiven Auszeichnungen des Alters, die Aspekte des guten Alterns Momente des gelingenden Lebens. Das Lob des Alters ist ein Lob des Lebens. Lebensfreude und Kreativität, Loslassenkönnen und Freiwerden, Zufriedenheit und Gelassenheit, Sinngestaltung und Selbstfindung in seinem Leben – all dies sind Momente eines erfüllten Lebens, die keine exklusiven Attribute des Alters sind, doch womöglich in ihm einen privilegierten Ort haben, von ihm in besonderer Weise herausgefordert, vielleicht auch begünstigt werden. Die zuletzt genannten Aspekte der rückblickenden Selbstbesinnung situieren sich im Horizont dessen, was für den Menschen in seinem Leben überhaupt wichtig und bedeutsam ist: Identität und Selbstsein, Kohärenz und Erfüllung sind Chiffren dessen, worum es dem Menschen in seinem Tun und Erleben geht. Älter werden heißt nicht ein anderer werden. Es ist dasselbe Ich, das den Lebensbogen von der Kindheit bis ins Alter durchschreitet und dessen frühe Sorgen und Ängste, Hoffnungen und Erfolge dem alternden Menschen als seine eigenen zum Gegenstand der Er­ inne­rung, vielleicht auch der Scham, des Stolzes, der Freude werden. Gerade im Rückblick gewinnt die Kontinuität, das Bewusstsein der Selbigkeit ein Eigengewicht, das uns in den Phasen unseres Lebens verankert. Mit sich identisch zu sein, seine Identität im Laufe des Lebens auszubilden und zu bewahren, ist ein zentrales Motiv historischer Lebensbesinnung. Indessen geht es dabei nicht nur um die formelle Selbigkeit, die ›numerische Identität‹ ein und desselben Subjekts, dessen Geschichte in Frage steht. Es interessiert nicht die unter normalen Umständen künstlich anmutende, abstrakte Frage, ob es dasselbe Subjekt ist, dem wir frühe und späte Eigenschaften und Erlebnisse zuschreiben (wie wir aus der Außenperspektive ­einen Gegenstand darauf hin befragen können, wieweit es sich, nach

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grundlegenden Veränderungen, noch um denselben Staat, dasselbe Gebäude handelt). Im Zentrum steht vielmehr, dass ich selbst es bin, der sich zu seiner Vergangenheit verhält, der sich seine Geschichte als eigene zuspricht – nicht primär im Sinne einer durch mich bewirkten und gelenkten, wohl aber einer mich betreffenden und mich involvierenden Geschichte, einer Geschichte, in der es um mich geht. Es ist meine Geschichte, meine einzige Geschichte, und ich bin ihr unvertretbares Subjekt. Ich bin dies nicht nur im Durchlaufen der Geschehnisse, sondern gerade auch im Nachhinein, als das Subjekt, das sich für seine Geschichte interessiert, das sie erkundet und sinnhaft gestaltet, für sie Verantwortung übernimmt und sie als Teil seiner selbst aneignet. Jenseits der vorgegebenen Selbigkeit des Geschichtsträgers ist hier eine originäre, selbstbezügliche Subjektfunktion der Person von Belang, die sich auf ihr Leben und ihre Geschichte bezieht. Wieweit sie sich darin als ein selbständiges Subjekt, als ein Ich-selbst konstituiert, mag mit den Entwicklungsphasen und Lebensumständen variieren; auch in diesem Wandel ist es dasselbe Subjekt, das in der Geschichte sein Selbst ausbildet. Paul Ricœur hat die Aspekte der Selbigkeit und der Selbstheit (mêmeté  /  ipséité, idem  / ipse, same  / self) als zwei unterschiedliche, komplementäre Angelpunkte der narrativen Identität analysiert.29 In diesem komplexen Sinn, der beide Aspekte umschließt, geht es dem alternden Menschen im Rückblick auf sein Leben um seine Identität: um die Stellung des Subjekts, das seine Geschichte erlebt, gestaltend hervorbringt, verstehend erfasst und narrativ konstituiert, das in seiner Geschichte mit sich eins bleibt und sich in der Reflexion auf sein Leben über sich selbst verständigt. Geschichtliche Identität meint nicht Starrheit. Sie realisiert sich im Wechselspiel zwischen der sich durchhaltenden Selbigkeit des Subjekts und der sich ändernden inhaltlichen Bestimmtheit seines Tuns und Erlebens. In der Geschichte verändern wir uns und bleiben wir dieselben. Ohne durchgehaltene Identität des Subjekts zerfiele die Paul Ricœur, Temps et récit, Tome III: Le temps raconté, Paris: Seuil 1985, S.  355 f. – Ricœur hat die Unterscheidung in mehreren späteren Publikationen aufgenommen und weiter ausgeführt (Soi-même comme un autre, Paris: Seuil 1990, S.  167–193; Parcours de la reconnaissance. Trois études, Paris: Éditions Stock 2004, S.  163–170). Vgl. Emil Angehrn, »Der Mensch in der Geschichte – Konstellationen historischer Identität«, in: Emil Angehrn / Gerd Jüttemann, Identität und Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, S.  7–52, hier S.  22 f. 29

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Geschichte in disparate Teile, ohne wechselnde sinnhafte Ausfüllung bliebe sie leer und würde nicht zur zeitlichen Gestalt des konkreten Selbst. Die Verknüpfung beider Momente manifestiert sich in Identitätskrisen und Formen des Selbstverlusts, in denen die eine wie die andere Seite verloren gehen kann: die Permanenz des Selbst in der Ichspaltung, die interne Verflechtung der Geschichte in deren Fragmentierung und Desintegration. Eine gelingende Identitätsbildung umfasst die Selbstvergewisserung des Selbst im Medium einer sinnhaft angeeigneten Geschichte. Ein nicht unerheblicher Aspekt biographischer Identität liegt, ­neben der Selbigkeit und Selbstheit des Subjekts, in der inneren Zusammengehörigkeit der erinnerten Geschichte. Nicht nur dass die Geschichte die unsere ist, dass wir sie verantworten, sondern dass sie in sich selbst kohärent ist, eine lesbare und interpretierbare Gestalt annimmt, macht sie für unsere Lebensaneignung bedeutsam. Die Selbstzusprache des Vergangenen ist, jenseits der Zuschreibung an ein durchgehaltenes Subjekt, ein inhaltlicher Integrationsakt, in welchem wir Episoden, Geschehnisse und Lebensbereiche in ihrer strukturellen Verflechtung mit anderen Teilen des Lebens und mit dessen Ganzem wahrnehmen. Dies bedeutet nicht, den Gang des Lebens als eine harmonisch-einheitliche Entwicklung zu sehen, wohl aber ihn als einen strukturellen Verweisungszusammenhang aufzufassen, in welchem Einzelnes in seiner Bedeutung mit Bezug auf anderes – gegebenenfalls auch seiner Sperrigkeit gegen anderes, seinem Kontrast, gegebenenfalls seiner Beziehungslosigkeit – sichtbar wird. Die Krise einer Berufslaufbahn, der Anfang einer Liebesbeziehung, der Tod eines Kindes sind Ereignisse, die auf Phasen oder das Ganze des Lebens ausstrahlen und in ihrer Verflechtung mit anderen Lebens­daten für unser Selbst bedeutsam sind. Es geht der Lebenserinnerung um eine Besinnung auf das Vergangene, die das manifest-lesbare wie das verschlossene und verzerrte, das gelebte wie das ungelebte Leben zu jenem Ganzen zusammenfügt, das unsere Geschichte ausmacht und unserem Sosein zugrundeliegt. Es geht um eine integrative Verflechtung, die wir im Laufe des Lebens vollziehen, revidieren und weiterführen, die sich phasenweise neu konstelliert, öffnet und verfestigt und die vielleicht bis zum Ende unabgeschlossen ist.30 Nicht eine teleologische ÜberDanielle Quinodoz, Vieillir: une découverte, Paris: Presses universitaires de France 2008, S.  35 f.

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formung oder wertmäßige Überhöhung ist die Richtschnur solcher Integration, sondern dies, dass nichts verloren geht und in seiner Zugehörigkeit zu unserem Leben und zu unserem Selbst sich auflöst. Ihr Regulativ ist eine Ganzheitsvorstellung, die sich auf das Gesamt des Lebens bezieht und darauf abhebt, dass der Mensch mit Bezug auf sein Leben mit sich eins sein kann, dass er den einmaligen Lebenszyklus mit seinen Entbehrungen und Erfüllungen, seinem Gelingen und Scheitern akzeptiert und in das Verständnis seiner selbst aufnimmt. Erik H. Erikson hat eine solche Identitätsform unter dem Titel der ›Ich-Integrität‹ als abschließende Stufe der psychosozialen Entwicklung ausgeführt.31 Nicht Selbstbehauptung und Autonomie als solche, sondern ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Leben als Ganzem wird zum Orientierungspunkt des Selbstseins im Alter. In alledem nähert sich die Vorstellung biographischer Identität der Idee eines gelingenden Lebens im Alter an – ›gelingen‹ nicht im Sinne der erfolgreichen Durchführung eines Vorhabens, sondern eines In-sein-Ziel-Kommens, eines Ankommens bei sich selbst, im Zeichen der Erfüllung und der Selbstpräsenz. Im Alter bei sich sein ist eine Weise, wie die Lebenszeit sich rundet, die Zeit sich erfüllt. Es ist das Gegenbild zu jener Entleerung, die als Negativerlebnis des Alters sichtbar wurde: dem Leerwerden einer Zeit ohne Lebenskraft und Formgebung, der Zukunftsschrumpfung nicht als Kontraktion, sondern innerer Aushöhlung der Zeit. Gegen die tote Wiederholung, das leere Warten enthält ein erfülltes Alter das Geschehen von Neuem, das Erleben einer Gegenwart, die jeden Morgen neu anfängt, lebendig da ist. Die noch verbleibende Lebenszeit ist nicht ein bloßer Rest, Anhängsel zum aktiv geführten Leben, sondern selbst eine erfüllte, einmalige Zeit des Lebens, mit Überraschungen und Enttäuschungen, eine Phase des Lebens als Ernstfall. Dass dem Alter eine spezifische Erfüllungsqualität zukommen kann, hat mit seinem Ort im Leben zu tun, damit, dass der alternde Mensch auf sein – harmonisches oder verworrenes, von Erfolg oder Misslingen gezeichnetes – Leben zurückblickt und in diesem Rückblick sich selbst gegenwärtig wird. Im idealen Fall ist es eine Gegenwärtigkeit, die nicht von der Vergangenheit bedrückt, von der Zukunft verängstigt ist, sondern in sich ruht, in gewisser Weise jenseits des Zeitflusses und des Vergehens, wie ein entfernter Vorschein jenes ruhenden Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966.

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Jetzt (nunc stans), als welches die Scholastik die Ewigkeit dachte, die Boethius als »ganzen und vollendeten Besitz unbegrenzten Lebens« definiert hatte.32 Allerdings steht das Alter, im Gegensatz zu solcher zeittranszendendierender Vollendung, im Zeichen der Vergänglichkeit, als ein Vorstadium auf dem Weg des unumkehrbaren Zu-Ende-Gehens. Auch wenn es, als befriedetes Zusichkommen, in sich erfüllt sein und gleichsam im Lichte einer höheren Gegenwart erscheinen kann, ist sein originärer Ort im Gang des Lebens derjenige des Abschließens, des Abschieds und des Zu-Ende-Gehens, zuletzt des Übergehens vom Leben zum Sterben.

10.5  Abschied und Ausblick Das Alter ist nicht nur Reife und Abschluss, sondern Übergang. In ihm kommt das Leben an seine Grenze und geht über sich hinaus. Es tut dies in einem zweifachen Sinn – indem es sich von sich und seiner Geschichte ablöst und Abschied nimmt, und indem es sich in das weitergehende, über es hinausgehende Leben hinein entlässt. Das erste Moment ist im Vorigen angeklungen, als es darum ging, dass der Mensch im Alter sich von vielem trennen, von vielem Abschied nehmen muss – von eigenen Tätigkeiten und Gewohnheiten, die wir nicht mehr pflegen können, von geliebten Orten, die wir nicht mehr besuchen können, von Menschen, die nicht mehr mit uns sind. Der tiefe Abschied ist derjenige, der nicht nur die uneinholbaren Fakten und Erlebnisse, sondern die verlorenen Fähigkeiten, entschwundenen Möglichkeiten, unerfüllten Hoffnungen betrifft. Es ist zuletzt ein Abschied jenseits der partikularen Abschiede, des Hintersichlassens einzelner Lebenssphären und Lebensstufen, deren Überschreitung sich im Binnenraum des Lebens mit Bewegungen des Aufbruchs und Neubeginns verbinden kann.33 Demgegenüber steht im Ausblick auf das Lebensende ein endgültiger, irreversibler Abschied an. Zum Erleben des Alters gehört die Trauer um das unTrost der Philosophie, Frankfurt am Main: Insel 1997, S.  310 f. Einen bekannten emphatischen Ausdruck findet die Verschränkung von Abschied und Neubeginn in Hermann Hesses Gedicht Stufen, das den Gedanken allerdings hypothetisch auch auf das Ende ausweitet: Hermann Hesse, Stufen. Ausgewählte Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972; vgl. unten 14.6 (d). 32 Boethius, 33

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einholbar Vergangene wie das sich entziehende Künftige. Norberto Bobbio spricht von der Melancholie des Alters, welches »um das Unerreichte und das nicht mehr Erreichbare« weiß und sich dessen bewusst wird, dass der Weg, auf dem wir unterwegs waren, nicht nur »nicht vollendet ist«, sondern dass »auch keine Zeit mehr verbleibt, ihn zu vollenden«.34 Es ist der Abschied, der uns nicht nur von vergangenen Lebensphasen, von den Träumen der Jugend und den Wünschen der Kindheit trennt, sondern uns von der Zukunft Abschied nehmen lässt. Es ist zuletzt der Abschied nicht von einzelnen Begegnungen und Ereignissen, sondern vom Leben, der ein Abschied vom gelebten und ungelebten Leben zugleich ist. Der Abschied hat seine Gegenseite in einem Leben, das nicht nur das eigene ist. Die im Laufe des Lebens von vielen übernommene Mitverantwortung für die kommenden Generationen bedeutet auch für das Alter eine neue Qualität des Zusichkommens. Man kann darin einen Aspekt des Von-sich-Abstandnehmens, der Ausweitung des Lebenskreises über den Egozentrismus hinaus sehen, die sich als eine positive Gegenreaktion auf die Verlust- und Negativitätserfahrungen des Alters gezeigt hatte. Man kann diese Ausweitung auch als ein spätes Stadium der biographischen Identitätsentwicklung s­ ehen, die nach Erikson nicht nur die ›Ich-Integrität‹, sondern auch die ›Generativität‹ beinhaltet, welche die Bereitschaft und das Bedürfnis meint, etwas von seinem Sein an die nächste Generation weiterzugeben, ein Vermächtnis zu stiften, eine Spur in der Geschichte zu hinterlassen.35 Nicht zuletzt weist dieser Zug des Alters zurück auf das früher genannte Motiv der Gebürtigkeit, das über das Neugeborene hinaus den Lebenshorizont der Eltern und die Kette der Genera­ tio­nen tangiert. Dass das Leben weitergeht, dass der eigene Lebens­ zyklus über sich hinausweist, gehört zu den Erfahrungen e­ ines erfüllten, lebensbejahenden Alters. Solches Hinausgehen kann in der Weiterführung der Elternschaft, im Verhältnis zu Enkelkindern eine besondere, affektive und fürsorgende Erfüllung finden. Doch muss es sein Zentrum nicht im Verhältnis zu eigenen Nachkommen haben, auch nicht in eigenen Werken und individuellen Hinterlassenschaften, sondern kann sich in der Partizipation am Leben verwirklichen, die eine Teilnahme am Leben der anderen, am vergangenen Leben, aber ebenso am Leben der kommenden Generationen ist. Die 34 35

Norberto Bobbio, Vom Alter, a. a. O., S.  186. Vgl. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, a. a. O., S.  117 f.

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III. Alter(n)

spontane Zuneigung vieler alter Menschen zu Kindern ist nicht nur eine nostalgische Anhänglichkeit an Vergangenes, sondern auch ein Sichöffnen für das Kommende, ein gelebtes Teilnehmen am neuen Leben. Generell reihen sich diese Lebensformen, wie gesagt, in jene affirmativen Modalitäten des Altwerdens ein, die jenseits der Akzeptanz der konstitutiven Defizite die eigenen positiven, beglückenden Potentiale des Alters zum Tragen bringen, welche den Individuen je nach Umständen und eigenen Möglichkeiten offenstehen. Zu ihnen gehört wesentlich die Sozialität, die das Leben im ganzen durchzieht, aber in spezifischer Form sowohl den Lebensanfang wie das Lebensende mit prägt, das Hinein-Geborenwerden in eine Gemeinschaft wie die Partizipation am Weitergeben des Lebens über den eigenen Lebensverlauf hinaus. Es ist ein Teilnehmen, in dem sich die Verwandtschaft zwischen den beiden Eckpunkten des Lebens manifestiert, die beide mit dem sich reproduzierenden Leben zu tun haben, das über das Sterben des Einzelnen hinaus neu anfängt. Dass der alternde Mensch in der Lage ist, die Freude am neuen Leben zu erfahren, versteht sich nicht von selbst. Es ist Teil des Glücks, das ihm, als eigenste Erfüllung des Alters, geschenkt sein kann. Es ist eine Erfüllung, die dem Alter als originärem, eigenem Teil des Lebens zukommt und es darin von den anderen Stationen auf dem Weg zum Lebensende, vom Sterben und Sein zum Tode, abhebt. Es bleibt zu sehen, in welchem Verhältnis die Teilnahme am sich weitergebenden Leben zu anderen Weisen der Transzendierung des Endes, etwa im Zeichen der Mystik oder der Überwindung der Zeit, steht.

IV. Sterben und Tod

11. Die Anwesenheit des Todes im Leben 11.1  Das Ineinander von Leben und Tod Der Tod ist Teil des Lebens. Leben ist untrennbar vom Sterben. Wer lebt, wird dereinst sterben. Der Tod ist nicht einfach das Andere des Lebens. Er ist nicht einfach das Ende jenseits des Lebens. Er ist konstitutiv zu diesem gehörig, als das Ende, auf welches das ­Leben zuläuft, das dem Leben bevorsteht und zu dem es in einem grund­ legenden Spannungsverhältnis steht. Dass dieses das Leben als Ganzes durchzieht, dass der Tod im Leben als Ganzem anwesend ist, meint nicht, dass er in ihm gegenwärtig sei wie das durch­gehende Sichabschwächen, Sichauflösen der Lebensprozesse. Es bedeutet nicht, dem problematischen Diktum zuzustimmen, dass mit der Geburt das Sterben beginne, da jeder Tag das Neugeborene dem Tod näher bringe – eine abstrakt-äußerliche Betrachtung, die das Primärphänomen des Anfangens und In-das-Leben-Hineinkommens, das den Lebensbeginn in seinem Eigensten kennzeichnet, überblendet und auf partikulare Prozesse wie das Absterben von Zellen und Erlöschen einzelner Funktionen, gerade nicht auf das Sterben des Individuums abhebt. Die Anwesenheit des Todes im Leben meint vielmehr den Ausgriff auf den eigenen, kommenden Tod, den angstvollen – oder auch gelassenen, tröstlichen – Bezug auf den in der Zukunft wartenden, drohenden, erlösenden Tod. Es ist ein Bezug aus der reflexiven Perspektive des Lebendigen, das sich zu seinem Leben als Ganzem und zu dessen Ende verhält. Die Reflexivität zeichnet das Sterblichkeitsbewusstsein des Menschen gegenüber anderen Lebewesen aus; die Menschen, meint Voltaire, sind die einzige Spezies, die weiß, dass sie sterben muss.1 Auch Dictionnaire philosophique, Art. »Homme«, in: Œuvres Complètes, Paris: Firmin-Didot 1876, Bd.  7, S.  693.

1 Voltaire,

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IV. Sterben und Tod

wenn man diese These mit Bezug auf das Spüren des bevorstehenden Endes und generell im Blick auf neuere Diskussionen zu mentalen Phänomenen bei Tieren relativieren mag, bleibt sie grundlegend hinsichtlich des bewussten Zeit- und Zukunftsbewusstseins. Die menschliche Existenz zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass sie sich im Zeitlichen, ausgespannt zwischen Vergangenem und Kommendem vollzieht; dabei ist im Horizont des Zukunftsbewusstseins das Gewahrwerden des Endes und des eigenen Sterbenmüssens für ein nichtverhülltes Bewusstsein unabwendbar.2 Die Reflexivität charakterisiert nicht nur den Ausblick, sondern, wie noch näher auszuführen sein wird, den Prozess des Sterbens selbst. Sie macht einen wesentlichen Aspekt dessen aus, was menschliches Sterben vom bloßen Auslaufen eines mechanischen oder organischen Prozesses oder vom tierischen ›Ableben‹ und ›Verenden‹ unterscheidet.3 Sterben ist ein eminent personaler Vollzug, der das Individuum im Ganzen seines Seins involviert. Die Anwesenheit des Todes im Leben spezifiziert sich nach den unterschiedlichen Modalitäten, in denen der Mensch sich auf den Tod als auf ein Kommendes, ihn Heimsuchendes bezieht, in denen der Tod als ein unausweichlich Bevorstehendes das Leben im Heute und im Ganzen durchdringt. Nicht nur das antizipierende Bewusstsein des bevorstehenden Endes, sondern das aktuale Erleben machen die personale Qualität von Tod und Sterben aus. Sie liegt zuallererst in der radikalen Unvertretbarkeit. Sei es, dass wir das Sterben als ein Geschehen, dem wir ausgesetzt sind, oder als eigensten Akt, den wir vollziehen, auffassen, immer ist er ein Ereignis, das uns in unserem Selbst und unserer irreduziblen Individualität involviert. Niemand kann an unserer Stelle sterben, wie uns niemand im Geborenwerden und im Leben, in unseren Begegnungen und Erlebnissen, unseren Leiden und Freuden ersetzen kann. In gewisser Weise kann man sagen, dass der Tod in ­einem noch stringenteren Sinn als andere Lebensvollzüge eine Instanz der absoluten Unvertretbarkeit ist, da er ohne Resultat und objektivierbare Funktion ist, die durch andere erlebt und erbracht werden könnten, sondern allein für das sterbliche Individuum bedeutsam ist, das Ende seines Lebens bedeutet. Der Tod ist ein Ereignis, das dem Individuum in seinem Innersten zugehört und es in sei2 Vgl. Bernhard Schumacher, Der Tod in der Philosophie der Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S.  17 f., 58–62. 3 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  246–249.

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nem Innersten in Anspruch nimmt. Er ist eine unausweichliche, aber auch unüberbietbare Perspektive seines Lebens, die zuletzt von allen anderen sachlichen und sozialen Bezügen abgelöst ist und, rein für sich, das Individuum mit sich selbst konfrontiert. In diesem Sinne nennt ihn Martin Heidegger die »eigenste, unbezügliche, unüberhol­ bare Möglichkeit« des Menschen.4 Das Bewusstsein von diesem bevorstehenden, letzten Ereignis ist nicht einfach eine Ausweitung unseres Seins über das Hier und Jetzt hinaus, nicht einfach eine komplementäre Dimension, die zu unserem Leben dazugehört. Die Zusammengehörigkeit von Leben und Tod meint ein Ineinander, in welchem das Bewusstsein des Todes das Leben bis in die Tiefe durchdringt. Das Wissen, sterben zu müssen, ist ein Wissen, welches das Leben auf sich zurückwirft, es zu sich selbst bringt und seiner selbst bewusst werden lässt. Der Tod öffnet den Blick auf das Leben. Von alters her ist diese Einsicht in vielfältiger Weise in philosophischen, religiösen und literarischen Texten entfaltet worden. Besonders eindringlich kommt sie dort zum Tragen, wo sie nicht einem allgemeinen Sterblichkeitsbewusstsein entstammt, sondern wo das Gewahrwerden eines nahe bevorstehenden, drohenden Todes in das gewohnte Leben einbricht und das Selbstsein erschüttert. Ein eindringliches Zeugnis haben solche Erfahrungen in autobiographischen Berichten über die Auseinandersetzung mit Krebserkrankungen gefunden, die in den letzten Jahrzehnten geradezu zu einem literarischen Genre geworden sind. »Wie bewusst ich auf einmal das Leben liebe«, schreibt Maxie Wander, »es ist alles kristallklar um mich herum […]. Erst wenn die Wände zittern und der Boden unter unseren Füßen wankt, wenn diese Welt einzustürzen droht, ahnen wir, was Leben bedeutet.«5 Der Ernstfall des Sterbens gibt uns dem Ernst des Lebens zurück, er öffnet uns die Augen, macht uns, noch vor allen existentiellen Entscheidungen, hellsichtig für unser eigenstes Leben und für uns selbst. Im Angesicht des Todes begegnen wir, in noch nicht gekannter Helligkeit, uns selbst.

4

Ebd., S.  250. Maxie Wander, Leben wär eine prima Alternative, Darmstadt  /  Neuwied: Luchterhand 1980, S.  21, 41. 5

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11.2  Die Sterblichkeit der Menschen und der eigene, nahe Tod Die Differenz zwischen allgemeinem Sterblichkeitsbewusstsein und konkreter Todesdrohung nötigt uns, genereller nachzufragen, womit wir es genau zu tun haben, wenn wir mit dem Tod zu tun haben. Was ist es, das uns im Angesicht des Todes begegnet? Wovor haben wir Angst, wenn wir uns vor dem Tod fürchten? Mit welchem Tod haben wir zu tun? Nicht selten wird die Meinung vertreten, dass die gängige Rede von der Todesangst nicht eigentlich dem Tod, sondern dem Sterben gelte. Zum Teil wird sie mit dem vielzitierten Satz des Epikur in Verbindung gebracht, wonach es eigentlich gar keine Angst vor dem Tod geben könne, da ja, solange wir leben, der Tod nicht da ist, und umgekehrt, wenn der Tod da ist, wir selbst nicht mehr sind, d. h. kein Subjekt da ist, das von ihm bedroht wird und sich ängstigen kann. Indessen ist nicht zu leugnen, dass das scheinbar schlüssige Argument nicht verhindert hat, dass Menschen sich seit je vor dem Tod gefürchtet haben und dies weithin bis heute tun. Gegenstand der Furcht ist ja nicht, dass die Toten unter dem Totsein leiden, sondern die Erschütterung, die uns als Lebende angesichts des bevorstehenden Verlusts unseres Selbstseins, des drohenden Sturzes ins Nichts erfasst. Es gibt, neben der Furcht vor den Leiden und Umständen des Sterbens, die originäre, existentielle Angst vor dem Tod. Der Mensch hat an der Seinsweise alles Lebendigen, »alles Sterblichen« teil, das in der »Angst des Todes« lebt und in »Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel« wartet.6 Der Tod ist weder ein bloßer Endpunkt noch ein Danach, er ist Teil des Lebens als eine Grenzerfahrung, die auf das Leben zurückstrahlt, im Leben anwesend ist.7 Zwar kann man zu Recht darauf hinweisen, dass für die heutige Gesellschaft weithin nicht mehr der Tod als solcher, sondern das Sterben – als soziales, ökonomisches, medizinisches Problem – eine zentrale, wachsende Bedeutung besitzt und dass auch die primäre Sorge vieler Menschen mehr den Umständen des Ster6 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Heidelberg: Lambert Schneider 31954, S.  7. 7 Jean-Pierre Wils, »Ist eine Anthropologie des Todes möglich?«, in: An­ drea M. Esser / Daniel Kersting / Christoph G. W. Schäfer (Hg.), Welchen Tod stirbt der Mensch? Philosophische Kontroversen zur Definition und Bedeu­ tung des Todes, Frankfurt / New York: Campus 2012, S.  121–121, hier S.  124.

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bens, dem Umgang mit dem Leiden, dem progredierenden Zerfall des Selbst und der medizinischen und sozialen Betreuung als dem Tod selber oder dem Leben nach dem Tode gilt.8 Gleichwohl bleibt in existentieller Sicht für den Einzelnen die Konfrontation mit dem Tod selber, mit der realen, zum Dasein gehörigen Möglichkeit, nicht sein zu können, und der konkreten Gewissheit, dereinst nicht mehr zu sein, eine tiefgreifende Herausforderung im Leben; in zugespitzter Form kann die Angst auch dem eigentlichen Eintritt des Todes, dem plötzlichen Bewusstsein des Endes gelten, der »Sekunde, in der du ganz sicher weißt, dass jetzt der Augenblick gekommen ist, vor dem du dich immer gefürchtet hast«.9 Die Zurückdrängung des Todes­problems in der öffentlichen Wahrnehmung und seine tentative begriffliche Neutralisierung machen die existentielle Konstellation von Sterben und Tod für den einzelnen Menschen nicht weniger fundamental und dramatisch. Um ihren Ernst zu erfassen, sind zwei Perspektiven zurechtzurücken. Die Begegnung mit dem Tod ist zum einen die Erfahrung des eigenen, nicht des allgemeinen Todes, und sie ist zum anderen eine Begegnung mit dem nahe bevorstehenden, nicht dem in unbestimmter Ferne wartenden Tod. Beide Optionen sind nicht alternativlos. Auch die Auseinandersetzung mit der allgemeinen menschlichen Sterblichkeit und dem Tode der Anderen wie auch das Ausgespanntsein auf das irgendwann in unbestimmter Zukunft bevorstehende Ende stehen für Dimensionen existentieller Betroffenheit und können den Gang unseres alltäglichen Daseins durchbrechen, unser Selbst erschüttern. Gleichwohl ist es eine Erfahrungstatsache, dass konkrete Situationen, in denen uns Kriegsereignisse, der Tod naher Bekannter oder ­eigene akute Krankheiten in direkte Berührung mit dem Sterben bringen, uns in einer ganz anderen Weise mit der Fragilität des Daseins, dem Ausblick auf das Nicht-mehr-Sein, dem Abgrund des Nichts konfrontieren. Der Skandal des Todes betrifft Individuen, zuletzt uns selbst. Doch scheint es ein psychisches Gesetz zu sein, zwar das Sterben der anderen als Faktum zur Kenntnis zu nehmen und in seiner Relevanz für das menschliche Leben zu reflektieren, 8 Vgl. Petra Gehring, »Altern mit und ohne Lebensende«, in Thomas Rentsch u. a. (Hg.), Altern in unserer Zeit, a. a. O., S.  188–203, hier S.  188 f. 9 Per Petterson, Ich verfluche den Fluss der Zeit, Frankfurt am Main: S.  Fischer 2011, S.  237.

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doch das analoge Bedrohtsein für die eigene Person auszublenden, das eigene Sterbenmüssen nicht wirklich ernst zu nehmen, ja, es in gewisser Weise nicht zuzulassen oder gar nicht wirklich vergegenwärtigen zu können. Es wurde oben auf Freuds Bemerkung verwiesen, dass jeder zwar um seine Sterblichkeit weiß, doch im Unbewussten diese Tatsache nicht anerkennt, ja, von ihrem Gegenteil überzeugt ist, so dass »in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt« werden konnte, »im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: Im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.«10 Noch in direkter Begegnung mit seiner Krebsdiagnose stellt Péter Esterházy fest: »Vom Tod anderer, vom Tod meines Vaters, meiner Mutter, hatte ich noch dies und das gedacht, doch von meinem, glaube ich, nichts. […] Nicht dass ich gedacht hätte, ich würde nicht sterben. Mein möglicher Tod hatte mich nie berührt. Jetzt scheint es, diese Möglichkeit sei näher gerückt, sie berührt mich aber auch jetzt nicht.«11 Nicht nur der eigene, auch der Tod uns naher Menschen kann in solcher Weise aus dem allgemeinen Los der Sterblichkeit herausstechen. »Ich wusste schon, dass man sterben kann«, zitiert Maria Stepanova aus dem hinterlassenen Brief einer Verwandten, »dass Leute an Altersschwäche oder im Krieg umkommen. Aber dass meine achtzehnjährige Schwester, die mir so lieb war, so warm und innig vertraut, auf einmal nicht mehr da ist! Damit konnte ich mich nicht abfinden.«12 Man kann sogar darauf hinweisen, dass die Beschäftigung mit dem Tod anderer oft dazu beitragen kann, das »existentielle, persönliche Todesproblem« auszuklammern, ja, dass auch die verbreitete mediale Auseinandersetzung um den Tod in der Regel den Blick auf das eigene Sterbenmüssen ausspart und »in gewisser Weise epikureisch« unterstellt, jener »gehe uns als Lebende nichts an«.13 Wenn vielfach von einer Verdrängung des Todes im Alltag die Rede ist, so gilt dies vornehmlich für die eigene Sterblichkeit, nicht für den Tod als solchen, und man mag in dem unreflektierten Dahinleben, wie wenn 10

Sigmund Freud, »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« [1915], in: Gesammelte Werke, Band 10, Frankfurt am Main: S.  Fischer 61973, S.  323–355, hier S.  341. 11 Péter Esterházy, Bauchspeicheldrüsentagebuch, Berlin: Hanser 2017, S.  62. 12 Maria Stepanova, Nach dem Gedächtnis, a. a. O., S.  274. 13 Alexander Batthyány, Zur Psychologie einer Grundangst. Über abweh­ rende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod, Freiburg  /  München: ­Alber 2019, S.  15.

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es »immer ein Morgen und gar keinen eigenen Tod« gäbe, geradezu eine »positive Illusion« sehen, deren das Alltagsleben zur Stabilisierung bedarf.14 Es ist ein Unterschied ums Ganze, der das allgemeine Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes abhebt von der Erschütterung durch das plötzlich über uns hereinbrechende Bewusstsein, dass wir sterben müssen, dass es für unser Ich, unser Leben zu Ende geht.15 Seinen ersten Anhaltspunkt hat unser alltägliches Wissen vom Tod beim Tod der Anderen, nicht bei uns selbst. Die Differenz korrespondiert einem historischen Wandel, wie ihn Philippe Ariès beschreibt. Während die »älteste, dauerhafteste und verbreitetste« Haltung zum Tod die »mit dem Schicksal der Gattung vertraute Resigna­tion« artikuliert, »die sich in der Formel zusammenfassen lässt: Et moriemur – wir sterben alle«, kommt seit dem 12. Jahrhundert die für die Neuzeit charakteristische Bedeutung der »eigenen Existenz« zum Tragen, die zugleich den »eigenen Tod« ins Zentrum rückt.16 So ist auch die traditionelle Kultur des Todes, die in Figurationen des memento mori oder des Totentanzes mannigfache literarische und bildliche Zeugnisse hinterlassen hat, nicht notwendig mit einer Angst vor dem Tod, einem Schauer vor dem persönlichen Nicht-mehr-Sein und der Sorge um das eigene Sterben verbunden. Sie ist dem Tod der Anderen zugewandt, die etwa im Totentanz in unterschiedlichen sozialen Rollen und eindringlichen Begegnungen mit dem Sensenmann auftreten, deren eigenes Sterben wir allerdings gar nicht im genuinen Sinne erfahren können, sondern bei dem wir nach Heideggers Wort »höchstens immer nur ›dabei‹« sind.17 Demgegenüber ist die existentielle Begegnung mit dem eigenen Tod, die dessen Verhülltsein im alltäglichen Dasein abstreift, eine radikale Begegnung mit sich selbst, in der ich »gewissermaßen absolut sagen kann ›ich bin‹«.18 Nur hier haben wir das Phänomen vor Augen, das 14

Ebd. S.  24. Vgl. John Cowper Powys, Die Kunst des Älterwerdens, Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2002 (zit. nach: Thomas Rentsch / Morris Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter: die philosophischen Grundlagen, a. a. O., S.  114– 131). 16 Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München  /  Wien: Hanser 1976, S.  43. 17 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  239. 18 Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, Gesamtausgabe, Bd.  20, Frankfurt am Main: Klostermann 1994, S.  440. 15

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eine hermeneutische Erkundung des Todes im Leben in seiner existentiellen Bedeutung zu erschließen hat. Das Leben vom Lebensende her verstehen, die Endlichkeit des Menschen und seine conditio mortalis ernst nehmen heißt den Tod zu bedenken, der dem einzelnen Menschen in seinem Leben als sein je eigener Tod bevorsteht. Die von Freud betonte Divergenz in der Todeswahrnehmung lässt sich vom Sozialen ins Temporale transponieren. Nicht nur der Tod der anderen, auch der ferne, in eine unbestimmte Zukunft entrückte Tod bleibt auf Distanz zu uns selbst. In gewisser Weise gehört dieser Aufschub zur conditio humana. Vladmir Jankélévitch spricht von der »extremen Zukunft des Todes« als einem »Übermorgen«, das sich unablässig ereignet und näher kommt, doch »nie heute«, »nie Gegenwart« sein wird.19 Indessen ist die temporale Entrückung keine rein zeitliche; zugleich hat sie an der Verhüllung und Verdrängung teil. Man hat gesagt, dass nur derjenige den Tod ernst nimmt, der davon überzeugt ist und sich der Tatsache stellt, dass der Tod ihn bald, noch heute ereilen kann. Umgekehrt gilt, wie Odo Marquard formuliert, dass »irgendwann zu sterben heißt, niemals zu sterben«.20 Dabei ist es nicht nur die »Ungewissheit der Todesstunde«, die uns in dieser Illusion wiegt (so dass »wohl die meisten überrascht« sind, wenn ihnen wirklich die Stunde schlägt).21 Sondern es ist eine abgründigere Abwehr, die den Tod unsichtbar macht, indem sie ihn ins Offene und Unbestimmte hinausschiebt. Die »unverkennbare Tendenz«, den Tod aus dem Leben zu eliminieren22, gründet nach Freud ebensosehr im affektiven Unwillen, ihn im eigenen Leben zuzulassen, wie in der kognitiven Unfähigkeit, sich ihn real, als Wirklichkeit des eigenen Lebens vorzustellen. Freud verknüpft diese Schwelle mit dem Unbewussten als jener tiefsten, ältesten Schicht der Psyche, die ganz dem Lebensdrang verbunden ist und dem Realitätsprinzip des Todes noch keinen Zugang gewährt hat und die zuletzt dafür verantwortlich ist, dass zutiefst, unbewusst, niemand an den Tod als etwas »unwiderruflich Bevorstehendes und Unabänderliches« glaubt.23 Es mag eine offene Frage sein, wieweit wir emotional und Vladimir Jankélévitch, La Mort, Paris: Flammarion 31977, S.  18. Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches, a. a. O., S.  93. 21 Ebd. 22 Sigmund Freud, »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, a. a. O., S.  341. 23 Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer in philosophischen, geschicht­ lichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, S.  130.

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kognitiv tatsächlich in der Lage sind, das unleugbare Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes in seiner existentiellen Dringlichkeit erlebensmäßig zu vergegenwärtigen (oder ob wir sie nur als objektiven Sachverhalt zur Kenntnis nehmen). Tatsache bleibt, dass die erlebte Angst vor dem Tod nicht dem Umstand gilt, »dass das Leben irgendwann ein Ende findet«, sondern darin gründet, »dass man glaubt, dass man bald sterben wird«.24 Unstrittig ist ebenso, dass es Erlebnisse des plötzlichen Realisierens des drohenden Nichts, Überwältigungen durch die unabweisbare Evidenz des bevorstehenden Sterbens gibt, in denen nicht nur ein abstraktes Wissen, sondern eine reale Begegnung mit dem Tode stattfindet. Solche Erlebnisse lassen die unbestimmte Frist, als welche unsere Zukunft normalerweise vor uns liegt, den offen-diffusen Zeithorizont, in dem wir leben und der den Hintergrund unserer Pläne und Tätigkeiten bildet, im Hier und Jetzt des akuten Ereignisses zusammenstürzen. Der Ernst des Augenblicks durchschlägt den Trug des Aufschubs, der unser alltägliches Leben umfängt und der mit zunehmendem Alter brüchig wird, um sich im Anblick des bevorstehenden Endes zu verflüchtigen. Unterbrochen wird das Entgleitenlassen des Lebens, in welchem jemand fortwährend darauf wartet, ›später‹ – nach Abschluss des aktuellen Projekts, des anstehenden Berufswechsels – wirklich zu leben, bis schließlich keine Zeit mehr bleibt, um auf die Zukunft zu warten, und mit einem Male die Frage nach dem Sinn des Lebens mit aller Gewalt einbricht.25 Das Schwinden der von Marquard gebrandmarkten Endlosigkeitsillusionen im fortschreitenden Alter mündet hier nicht nur in Desillusionierung.26 Vielmehr bricht eine ganz andere Zeitordnung in den allmählich fortschreitenden Fluss des Lebens ein. Die plötzliche Nachricht vom Tode einer nahen Bekannten, der Schock einer uns eröffneten Krankheitsdiagnose, der Todeskampf eines geliebten Menschen, das Miterleben des Sterbens eines Kindes – dies sind Erschütterungen, die wir weder als Ereignis noch als Erlebnis irgendwie antizipieren können. Sie treffen uns unvorbereitet, auch wenn wir mit ihnen rechnen mussten, sie bringen unser Tagesgeschäft, unsere laufenden Unternehmungen und Orientierungen durcheinander. Sie werfen uns aus dem unreflektierten Unterwegssein heraus, um uns ins tagErnst Tugendhat, Über den Tod, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S.  11 f. Vgl. Danielle Quinodoz, Vieillir: une découverte, a. a. O., S.  65. 26 Odo Marquard, »Theoriefähigkeit des Alters«, a. a. O., S.  135 f. 24

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helle Jetzt-Bewusstsein des Lebens zu versetzen. Abrupt setzt ein anderes Zeiterleben, aber auch ein anderes Wirklichkeitsbewusstsein, eine andere Art des Denkens ein, die nicht zuletzt die Kommunikation mit der Umwelt affiziert. In seinen Diktaten über Sterben und Tod macht Peter Noll die nüchterne Feststellung: »Das Gespräch zwischen einem, der weiß, dass seine Zeit bald abläuft, und einem, der noch eine unbestimmte Zeit vor sich hat, ist sehr schwierig. Das Gespräch bricht nicht erst mit dem Tod ab, sondern schon vorher.«27 Man könnte sagen, der Todgeweihte habe einen gemeinsamen Raum des Lebens und Sprechens verlassen. Was ihm umgekehrt positiv zuteil wird, ist in theoretischen und literarischen Reflexionen über das Sterben vielfältig entfaltet worden. Es ist der Ernst des Lebens, der im Angesicht des Todes erfahren wird. Søren Kierkegaard illustriert den existentiellen Rückschlag solcher Erfahrung in der Rede »An einem Grabe« am Beispiel eines Jünglings, der davon träumt, ein Greis zu sein, der auf sein vergeudetes Leben zurückschaut, um am Morgen aus seinen Ängsten zu einem neuen Leben zu erwachen: So kann die Antizipation des ­Endes ein Bewusstwerden und Neuausrichten des Lebens bewirken, ähnlich wie eine Nahtoderfahrung das Leben in verändertem Licht gegenwärtig werden lässt.28 Das Leben ernst nehmen heißt über die aktuelle Orientierung hinaus die Frage nach dem Wozu des Lebens stellen. Die Sinnfrage bildet den Horizont sowohl für die Vergewisserung über Optionen in der noch ausstehenden Lebenszeit wie für die kritische und interpretierende Anverwandlung vergangener Zeiten und für die Einstellung zum Ende, gegebenenfalls zum Jenseits des Lebens. Es ist ein grundlegend anderer, prinzipiellerer Modus der sinnhaften Orientierung, als wir sie im normalen Gang des Lebens, im Ausgespanntsein zwischen Erinnerung und Erwartung praktizieren; ja, man kann fragen, wieweit im Ausblick auf das Ende nicht sogar »ein besonderes kreatives Potential« beschlossen liegt.29 Nach Peter Noll eröffnet »das Bewusstsein des nahen und nicht zu nahen Todes die Möglichkeit, weise zu werden«, worunter er vorrangig die »Konzentration auf das Wesentliche« versteht; Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  10. Søren Kierkegaard, »An einem Grabe«, in: Gesammelte Werke, Düsseldorf / Köln: Diederichs 1952, 13. und 14. Abteilung: Vier erbauliche Reden 1844 / Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, S.  173–205. 29 Roland Berbig u. a. (Hg.), Krankheit, Sterben und Tod im Leben und Schreiben europäischer Schriftsteller, a. a. O., S.  11. 27

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wenn wir das Leben vom Tode her sehen, so meint er, »werden wir freier, das Leben wird leichter, manches intensiver«, etwa indem wir ­etwas bewusst »zum letztenmal« tun oder erleben.30 Generell ist die Annäherung an das Ende nicht ein Weitergehen auf dem Weg der Abschwächung, welche die Bewegung des Älterwerdens charakterisiert, sondern in privilegierten Augenblicken ein Hellwerden und ein gesteigertes Leben. Die Frage ist, wieweit dieses herausgehobene Erleben generalisierbar ist als Bewusstsein des bevorstehenden Sterbens und Modell unseres Verhaltens zum Tode. Offenkundig benennt jenes Erleben nicht nur in sich ein außergewöhnliches Ereignis, von dem nicht sicher ist, wieweit es allen Sterblichen irgendwann zuteil wird, geschweige denn wieweit es auf ihr Leben und ihr Verhältnis zum Sterben ausstrahlt. Zudem scheint seine Kraft auch dort, wo es unstrittig stattfindet, normalerweise begrenzt gegenüber der Eigen­ dynamik des Lebens und ihrer immanenten Verhüllungstendenz. Das Heraus­gerissenwerden aus der Normalität des Lebens, das Aufgerütteltwerden angesichts des ganz Anderen stellt uns schlagartig vor Augen, wie es um unsere Endlichkeit bestellt ist. Es kann einschneidende Folgen für unser Selbstverständnis und unser künftiges Leben haben, zu einer radikalen Umkehr führen, einen Neuanfang motivieren. Es kann aber auch, je nach zeitlicher Entfernung, nach Verlauf einer Krankheit, nach persönlicher Belastung dazu führen, dass die Helligkeit wieder verdunkelt wird, dass der Aufbruch der Kraftlosigkeit und Depression weicht, dass die Konzentration auf das Wesentliche in sich zerfällt und die guten Vorsätze (»weniger fernsehen und mehr lesen«)31 verblassen, dass die Angst sich auflöst und der Blick in den Abgrund verschleiert wird. Darüber, wieweit die Einsicht in die Sterblichkeit, die Begegnung mit dem nahen Tod das Dasein in seinem Innersten zu prägen vermag, wieweit das Leben von einem Sterbenlernen begleitet, durch es getragen wird, wie es die philosophische Besinnung auf Sterben und Tod nahelegt, ist nicht abstrakt zu befinden. Es hängt, wie schon das Gelingen des Alterns, von subjektiven Dispositionen und äußeren Faktoren ab. Um dies zu verdeutlichen, ist zunächst die Konstellation von Sterben und Tod in ihrer theoretischen und praktischen Erfahrung näher ins Auge zu fassen. 30 31

Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  35, 83. Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  35, 85.

12. Das Wissen vom Tod 12.1  Bewusstsein des Todes – Grenzen der Erkenntnis und Beschreibung Der Mensch weiß, dass er sterben muss. Dieses Wissen zeichnet ihn vor anderen Lebewesen aus. Die anthropologische Bedeutung dieses Wissens liegt darin, dass der Mensch um seine Endlichkeit weiß, dass er vorausgreifend mit seinem Ende, seinem Nicht-mehr-sein konfrontiert wird und dass dieses Wissen in sein Bewusstsein von sich und in sein Leben eingeht. Sie liegt in einem weiteren Horizont darin, dass das Bewusstsein der Endlichkeit mit dem menschlichen Sinnbedürfnis verschränkt ist, welches, so Jan Assmann, nach der Möglichkeit verlangt, die Linien des Erfahrens und Planens über den individuellen Lebenshorizont hinaus auszuweiten: Kultur insgesamt, die den Sinnraum des Lebens konstituiert, entspringt »dem Wissen um den Tod und die Sterblichkeit«.1 Die Erfahrung der Vergänglichkeit ist zuinnerst mit dem Bewusstsein vom Wert des Lebens und dem Bedürfnis nach Sinn verbunden. Mit der fundamentalen Bedeutung und existentiellen Nähe des Wissens vom Tod kontrastiert die Schwierigkeit seiner kognitiven Erschließung. Die Schwierigkeit ist zunächst durch die Grenzlage des Todes bedingt, welche verunmöglicht, ihn im Augenblick seines Eintretens im Horizont seines Davor und Danach zu erfassen. Der Augenblick des Übergangs ist nicht fixierbar, der »letzte Atemzug« des Sterbenden »erst im Nachhinein als solcher erkennbar«.2 Wir haben an früherer Stelle die epistemologische Aporie thematisiert, 1 Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Toten­riten im Alten Ägypten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S.  13 f. 2 Ruth Schweikert, Tage wie Hunde, a. a. O., S.  205.

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IV. Sterben und Tod

vor die uns der Versuch einer phänomenologischen Beschreibung von Geburt und Tod stellt, jener beiden Grundtatsachen des Lebens, die unsere Existenz nicht nur einrahmen, sondern ihr sinnhafte Gestalt geben und für das Selbstverständnis des Menschen grundlegend sind – und sich doch in eigentümlicher Weise seiner Erfahrung entziehen. Wenn eine hermeneutische Besinnung verlangt, etwas aus der Perspektive des erlebenden Subjekts zu erfassen, so stoßen wir bei Geburt und Tod auf das Problem, dass sie Grenzwerte subjektiven Erlebens sind, die zwar möglicherweise dem Subjekt in einer gewissen Weise erlebensmäßig präsent sind oder durch es vollzogen werden, doch nicht so, dass sie ihm reflexiv bewusst und damit auch darstellbar und kommunikativ vermittelbar wären.3 Wittgensteins bündiges Verdikt »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.«4 nimmt eine Verortung des Todesphänomens vor, die zugleich eine Grenze des Erkennens und eine Schranke der Kommunikation definiert. Auch Karl Jaspers hält fest, dass ich den Tod »nur als den des Anderen«, nicht als eigenen erfahren kann: »sterbend erleide ich den Tod, aber ich erfahre ihn nie.«5 Zumal ist es eine Erfahrung, die schlechthin nicht mitteilbar ist. »Der Verstorbene«, notiert Frisch zu seiner Totenrede für Peter Noll, »hat inzwischen eine Erfahrung gemacht ohne uns, die Erfahrung, die mir erst noch bevorsteht und die sich nicht vermitteln lässt«6, und er erinnert an die Aussage des 90-jährigen Ernst Bloch, »er sei nur noch neugierig auf das Sterben […] als die Erfahrung, die er noch nicht gemacht habe und die nicht aus Büchern zu beziehen sei«.7 Die Unvertretbarkeit im Sterben meint nicht nur das existentielle Auf-sich-Gestelltsein in der Stunde des Todes, sondern eine tiefere

Vgl. Thomas Nagel, Letzte Fragen, Bodenheim b. Mainz: Philo Verlagsgesellschaft 1996, S.  17–28. 4 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.4311. 5 Karl Jaspers, Philosophie II: Existenzerhellung, Berlin / Heidelberg / New York: Springer 41973, S.  222. 6 Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter von Matt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S.  123; vgl. Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang. Ein Va­ ter, ein Sohn und die große Reise des Lebens, München: Penguin 2017, S.  14: »Der Tod ist … das einzig Neue, was mir noch passieren kann, er ist etwas, was ich noch nie gesehen, nie erlebt habe. Nur bei den anderen.« 7 Aus der Totenrede für Peter Noll, in: Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  290. 3

12. Das Wissen vom Tod

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Einsamkeit, die uns verunmöglicht, ein bestimmtes Erlebnis, die Erfahrung des Sterbens mit anderen zu teilen. Indessen geht es bei der Darstellungsschwierigkeit mit Bezug auf Sterben und Tod zunächst nicht um die spekulative Frage der Bewusstheit im Ereignis des Todes selbst. Es geht um das besondere Wissen, das die Todgeweihten, die mit dem Tod Konfrontierten oder dem Tod Entronnenen auszeichnet und sie von anderen Menschen abhebt. In Frage steht eine Grenze der Verständigung zwischen denen, die mit dem Sterben vertraut sind, die eine bestimmte existentielle Erfahrung machen oder gemacht haben, und den anderen, die davon nur äußere, indirekte Kenntnis haben. Es ist eine Differenz, die im klinischen Umgang mit Sterbenden einerseits und Schwerkranken andererseits, die vielleicht eine ähnliche oder gleiche Betreuung erhalten, spürbar werden kann, das heißt im Kontakt mit Menschen, deren Selbstwahrnehmung und Selbstgefühl von grundlegend verschiedener Art ist. Nachzuvollziehen, »how it feels do be a dying person«, ist einem Nicht-Sterbenden oder einer Betreuungsperson allenfalls partiell, andeutungsweise möglich, auch wenn zwischen den Zuständen von Schwerkranken und Sterbenden fließende Übergänge bestehen; nicht zuletzt wird der Unterschied im Gefühl der Gemeinschaft mit anderen beziehungsweise des Getrenntseins von ihnen erfahren, wobei beides vom realen Zustand wie vom Verhalten und der Persönlichkeit eines Kranken oder Sterbenden abhängig sein kann.8 Trotz der manifesten Differenz im Umgang, trotz der Kluft, die sich zwischen Sterbenden und uns auftun kann, besteht die Herausforderung darin, mit ihnen in Verbindung zu treten, eine Sprache zu finden, in der wir uns über sie und über ihr Sterben verständigen können. Paul Ricœur hat betont, dass hier nicht eine rein erkenntnismäßige Schwelle zur Diskussion steht. Entscheidend ist die Divergenz zwischen einer deskriptiv-theoretischen und einer handelndteilnehmenden Einstellung zum Tod, idealiter der Übergang von der äußeren Beobachtung und technisch-medizinischen Betreuung zu einer solidarischen Begleitung des Sterbenden, welche trotz der kogni­tiven Grenze sehr wohl einen authentischen Zugang zu ihm als Person wie zu seinem Zustand und Erleben öffnen kann. Ricœur verweist auf Beschreibungen von Jorge Semprun, der im Blick auf 8 Mira Menzfeld, Anthropology of Dying. A Participant Observation with Dying Persons in Germany, Wiesbaden: Springer 2018, S.  159.

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eigene Erfahrungen im Konzentrationslager Wittgensteins Verdikt mit Entschiedenheit verwirft und auf der Möglichkeit beharrt, den fremden Tod erleben zu können.9 Das Anteilnehmen an der Grenz­ erfahrung des Anderen, an seinem Leiden und Sterben, kommuniziert mit dem Sichverhalten zum eigenen Sterben und bedeutet eine genuine Vertiefung des erkenntnis- und gefühlsmäßigen Zugangs zum Lebensende. Auch wenn man dem Tod nach La Rochefoucaults Maxime sowenig wie der Sonne »in die Augen schauen« kann, so kann man ihm doch in anderer Weise begegnen und der »eigenen Sterblichkeit innewerden«.10 Die Antithese zu Wittgenstein ist gleichermaßen eine zu Heidegger, eine Gegenposition zum Solipsismus seiner wirkungsmächtigen Konzeption der Unvertretbarkeit im Sterben, die mit einer radikalen kognitiven Selbstabschließung einhergeht. Die Dichotomie zwischen Selbstbezug und Sozialität korrespondiert einer erkenntnismäßigen Divergenz, die ähnlich mit Bezug auf das Phänomen der Geburt sichtbar geworden ist. Wir werden an späterer Stelle auf die Frage nach der epistemologischen wie ethischen Priorität des eigenen oder fremden Todes zurückzukommen haben. Festzuhalten ist zunächst der besondere Zugang, den wir im Horizont eines praktischen und zwischenmenschlichen Verhältnisses zum Thema des Todes gewinnen. Bei alledem bleibt unübersehbar, dass die Darstellungsaporie mit Bezug auf den Tod nicht nur den kognitiven Zugang betrifft. Es geht nicht nur darum, dass das Bewusstsein der Sterbenden von ganz eige­ner, nicht vermittelbarer Art ist, dass die Realität des Todes jenseits dessen ist, was wir uns vorstellen können.11 Die Unbekanntheit des Todes rührt nicht nur von der Unfähigkeit, sondern ebenso vom Unwillen zur Repräsentation des Anderen. Das Leben »kann nicht nur«, es »will auch nicht den Tod kennen«, weil es ihn nicht wol9 Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, suivi de Fragments, Préface d’Olivier Abel, Postface de Catherine Goldenstein, Paris: Seuil 2007, S.  45 ff; Jorge Semprun, Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S.  230. 10 Ruth Schweikert, Tage wie Hunde, a. a. O., S.  182 (»Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement«). 11 Vgl. John Cowper Powys, Die Kunst des Älterwerdens, a. a. O., S.  130 f. – Eine andere, prinzipielle Grenze des Wissens vom Tod sieht Emmanuel Levinas in der grundlegenden Passivität, der wir im Sterben ausgesetzt sind und die mit der aktivistischen Grundeinstellung des intentionalen Bewusstseins, das auf seinen Gegenstand ausgreift, kontrastiert: E. Levinas, Le temps et l’autre, Paris: Presses universitaires de France 1983, S.  59 ff.

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len kann, nur leben will. Das von der Philosophie geforderte Sterbenlernen, das lebenslange Denken an den Tod ist eine psychische Überforderung; »wir müssen so leben, als wären wir unsterblich«.12 Es scheint, als hätten wir die ars moriendi, die »simple und doch so schwere Kunst unserer Vorfahren«, gut zu sterben, verlernt.13 Auch wer in untrüglicher Weise das eigene Sterben vor Augen hat, muss erst damit zurechtkommen, muss das ungeschmälerte Bewusstsein des Todes auf sich einwirken lassen und in sich aufnehmen; auch wer sich in redlicher Besinnung mit dem Unausweichlichen befasst, tut sich schwer damit, den Gedanken an das Ende in seinem Alltag gegenwärtig zu halten. Die existenzphilosophisch oder sozialkritisch verhandelte Abdrängung des Todes, die »ständige Beruhigung« des ›Man‹ über den Tod14, die medizinische Überblendung des Sterbensdurch den Krankheitsprozess, die Zurückdrängung des Todesbewusstseins im öffentlichen Raum, die Tabuisierung des Sterbens und die Verbannung der Trauer, die Scheu vor der Nachbarschaft mit den Toten und Verlagerung der Friedhöfe außerhalb der Städte15 – all dies sind Verkörperungen einer Grenzziehung, die nicht nur die Erkenntnis, sondern vorab die individuelle und soziale Lebenswelt betrifft. Auch die Kommunikationsschranke zwischen Todgeweihten und Gesunden ist eine, die, zumal vonseiten der Kranken und Sterbenden, durchaus als eine der Abwehr wahrgenommen werden kann. Peter Noll realisiert das »Ärgernis«, das er für andere darstellt, denen er zeigt, »dass der Tod mitten unter uns ist«16; ähnlich konstatiert Maxie Wander den »Graben, der mich von den Menschen trennt, die lieber auf der anderen Seite bleiben wollen. Die nicht wissen wollen!« (wobei sie nachdenklich anfügt: »Aber vielleicht bin ich ungerecht.«).17 Es ist ein Nichtwollen, das zum Teil aus der verborgenen Angst erwächst, vom gleichen Schicksal getroffen zu werden18, zum Teil aber der basaleren, unhintergehbaren Abwehr des eigenen Nichtseins entstammt. Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  13, 34 Arthur E. Imhof, Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute, Wien  /  Köln: Böhlau 1993, S.  18. 14 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  253. 15 Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, a. a. O., S.  25 f. 16 Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  57. 17 Maxie Wander, Leben wär eine prima Alternative, a. a. O., S.  43. 18 Ebd., S.  44. 12

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IV. Sterben und Tod

12.2 Todesbilder Im Ganzen wird deutlich, dass sich im Wissen vom Tod theoretische und praktische Perspektiven, Erkenntnis und Gefühl, Selbstverhältnis und Intersubjektivität, Innen- und Außenperspektiven in vielfältiger Weise durchdringen. Es ist aufschlussreich, Zeugnisse dieses Wissens zu sichten, die nicht nur Artikulationen des individuellen Bewusstseins, sondern Ausdruck kollektiver Haltungen sind. In jeder Gesellschaft, in jeder Zeit gibt es Bilder vom Tod, die für das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Leben und Sterben, aber auch für das Zusammenleben der Gemeinschaft im Umgang mit dem Lebensende und mit den Toten einen Rahmen bilden. Die Bilder variieren in einem weiten Spektrum in deskriptiver wie evaluativer Hinsicht, in der Zeichnung wie der Wertung des Sterbeprozesses und des Zustandes der Toten. Es ist ein Variationsspielraum, der synchron und diachron aufgespannt ist; er umfasst eine typologische Vielfalt von Todesbildern, die sich in signifikanter Weise im historischen Wandel auseinanderlegt. In extremer Divergenz stehen sich Todesbilder gegenüber, die den Tod entweder als Ende und Abschluss, als Zerstörung und Auf­ lösung, oder als neuen Anfang und Übergang zu einem anderen Leben auffassen. Schematisch lassen sich drei Figuren vom Lebensende auseinanderhalten. Zum einen kann das Lebensende im Zeichen der Vollendung stehen. Es entspricht einem Ideal der Lebensführung, mit dem Ende unserer Lebenszeit zur Vollendung des Lebens zu gelangen. Gemeint ist damit nicht die Erfüllung aller Wünsche oder Verwirklichung aller Pläne, sondern ein Ende, in welchem der Mensch mit sich und seinem Leben eins wird, worin sein Leben ein Ganzes wird und er in einem befriedeten Sterben von seinem Leben Abschied nehmen kann. Dem steht als zweites die Figur des offenen, sich auf ein Anderes hin öffnenden Endes gegenüber: Es ist der Gedanke des Todes als Übergang und Hinübergehen in ein anderes Sein, wie er weltweit in Glaubenssystemen, Mythen und Religionen ausformuliert wird. Von beiden unterscheidet sich, drittens, die Figur eines ›bloßen‹ Endens als eines Zu-Ende-Gehens, das nichts außer dem bloßen Ende, keine höhere Zusatzdimension als Vollendung, Trost oder Versprechen in sich enthält. Sie kann im Zeichen der Auflösung ins Nichts stehen, aber auch ihrerseits mit einer positiven Einstellung zum Lebensende verbunden sein, sei es als Akzeptanz der einen, begrenzten Lebensspanne, sei es als stoischer Abschied

12. Das Wissen vom Tod

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vom Leben oder als mystisches Loslassen von sich selbst. Die drei Figuren der immanenten Vollendung, des Übergangs in Anderes und des bloßen Endens sind nicht von sich aus begrifflich und ethisch geordnet: Es ist nicht von Vornherein klar, welcher ­Typus das wahre Ende des menschlichen Lebens ausmacht, als idealer Fluchtpunkt eines gelingenden Lebens fungiert. Die strukturell divergierenden Figuren überlagern sich mit unter­ schiedlichen affektiven, ethischen und wertmäßigen Besetzungen. Es gibt das Lebensende als Erfüllung und als Zerstörung, als Befreiung und als Untergang, als Zu-sich-Kommen und als Selbstverlust. Die Auflösung kann Gegenstand der Urangst, aber auch der tiefen Sehnsucht sein. Freud verbindet den Todestrieb mit dem Begehren nach dem Immergleichen jenseits aller Spannungen, Heidegger sieht im Vorlaufen zum Tod den Weg zur Eigentlichkeit und Ganzheit der Existenz, das spontane Empfinden nimmt den Tod als die Bedrohung schlechthin wahr. In literarischen und bildlichen Figurationen tritt der Tod als bedrohlicher Feind ebenso wie als vertrauter Freund auf. Wir werden im Folgenden die entgegengesetzten Wertungen und praktisch-emotionalen Einstellungen zum Tod für sich näher zu betrachten haben, um die existentielle Dimension der Sterblichkeit auszumessen. Komplementär zum deskriptiven und normativen Variationsspektrum sind die kulturelle Vielfalt und der geschichtliche Wandel erhellend, in denen uns Todesbilder begegnen. Auf sie wird im Folgenden nur punktuell und exemplarisch verwiesen, gleichsam als Hintergrund der in unserem Kulturkreis verwurzelten Reflexion auf den Tod. In deren Horizont ist eine bestimmte Linie bedeutsam, nach der sich das Verständnis von Sterben und Tod im neuzeitlichen Denken verändert. Schematisch gesehen, führt sie zunächst zur Indi­ vidualisierung und existentiellen Vertiefung, später zur Entpersonalisierung und Abdrängung des Todes. Es ist bemerkenswert, dass sich die Leitidee eines richtigen Sterbens, eines guten Todes durch die verschiedenen Zeiten und Kulturen hindurchzieht, in denen sie je nach Weltbild und Lebensform unterschiedlich ausgestaltet, mit Bildern einer Heimkehr in den Mutterschoß, eines Aufgenommenwerdens in die Gemeinschaft, mit einer religiösen Vergewisserung des ewigen Seelenheils, einem letzten Abschied oder einer romantischen Idee der Selbstwerdung verbunden wird.19 Zur kontroversen Vgl. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, a. a. O.; Arthur E. Imhof, Ars moriendi, a. a. O.

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Hintergrundfolie heutiger Todesreflexion gehören die Prozesse der Anonymisierung des Sterbens, der medizinischen und verwaltungsmäßigen Durchdringung der Sterbekultur, der lebensweltlichen und sozialen Ausgrenzung des Todes, aber auch der Tabuisierung und bewusstseinsmäßigen Verdrängung, die mit einer gesteigerten (Selbst-)Kontrollerwartung und einem Verlust der Trauerkultur einhergehen.20 Im Ganzen spricht es für die Fundamentalität unseres Verhältnisses zum Tod, dass dieses ungeachtet der epistemologischen Schwierigkeit, vom Ersten und Letzten Rechenschaft abzulegen, und durch die ganze Vielfalt und Varianz der Vorstellungen vom Ende hindurch für das menschliche Leben eine unleugbare, überwältigende Evidenz und existentielle Eindringlichkeit besitzt. Von ihr ist auszugehen, um die hermeneutische Besinnung auf Sterben und Tod inhaltlich und begrifflich durchzuführen. Die Hauptdifferenz, die diese Erkundung strukturiert, liegt in der hochgradigen Zweiwertigkeit des Todes, in der kulturell wie lebensweltlich prägenden Divergenz zwischen einem negativen und einem affirmativen Verständnis vom Lebensende.

20 Vgl. Burkhart Liebsch, Revisionen der Trauer, a. a. O., S.  27 f.; Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: S.  Fischer 1969, S.  225 f.; Petra Gehring, Theorien des Todes zur Einführung, Hamburg: Junius 2010, S.  185 ff.; Peter B. Coleman, »Demenz, Personsein und Lebensende«, in: Thomas Fuchs / Andreas Kruse / Grit Schwarzkopf (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, Heidelberg: Winter Universitätsverlag, 22012, S.  251–266, hier S.  278.

13. Der Tod als Übel 13.1  Die Gegnerschaft des Todes zum Leben Dass der Tod ein Übel sei, darauf beharrt Augustinus gegen die epikureische Leugnung des Todes als des schrecklichsten aller Übel wie gegen die platonische Würdigung des Todes als Befreiung der ­Seele.1 Wir können uns dem Tod weder mit der ruhigen Gelassenheit, wie sie Epikur fordert, noch in der freudigen Erwartung, die Platon verspricht, nähern, sondern sind angesichts seiner einer radi­kalen, haltlosen Angst ausgesetzt. Denn der Tod, Augustinus zufolge eine Strafe für die vererbte Sündhaftigkeit der menschlichen Natur, ist nichts anderes als die drohende Vernichtung, die uns im Innersten unseres Seins trifft. Er ist eine Gewaltsamkeit gegen die Natur des Lebenden, indem er die in diesem waltende Vereinigung von Leib und Seele auflöst.2 Auch unabhängig von den religiös-meta­ physischen Prämissen des Gedankens stellt die Gegenstrebigkeit zum natürlichen Lebenswillen die zentrale Erfahrung in der Gewärtigung des Todes dar. Der Tod ist für das Leben das Negative schlechthin. Er ist das, was wir als Lebende schlechthin nicht wollen können, die zerstörende Macht, die uns mitleidlos und rücksichtslos zunichte macht; er ist dasjenige, zu dem wir in einer unerbittlichen Feindschaft stehen, zu dem wir spontan und notwendigerweise Nein sagen.3 Das Leben verlangt nach dem Leben, es ist durch den 1 Augustinus, De civitate dei, XIII, 1–16; Epikur, Brief an Menoikeus, 124 f.; Platon, Phaidon, 64 a–67 b; vgl. Johannes Brachtendorf, »Sterben – ein anthropologischer Konflikt sui generis?«, in: Franz-Josef Bormann / Gian Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin  /  Boston: De Gruyter 2012, S.  257–270. 2 Augustinus, De civitate dei, XIII, 6. 3 Vgl. Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München: Hanser 2014.

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Tod, der es nicht von außen ereilt, sondern seiner eigensten Natur innewohnt, in einen unauflöslichen Widerspruch verwickelt. Diesen Widerspruch verspürt es einerseits in der grundsätzlichen Erfahrung der Endlichkeit, im Ausgeliefertsein an die Mächte der Zerstörung, der Auflösung in ihm selbst. Es ist die Hinfälligkeit in ihm selbst, die den Menschen dem Tode weiht. Und er begegnet dem Widerspruch in der äußeren Wirklichkeit, in extremer Gestalt in Erfahrungen des Kriegs, im Erleiden unvorstellbarer Gewalt und der Ungeheuerlichkeit massenhaften Sterbens. Es sind weltweit über die Jahrhunderte sich ausbreitende Erfahrungen, die das diametrale Gegenbild zu den in Religionen und Traditionen hochgehaltenen Idealen des guten Sterbens und des humanen Umgang mit den Toten verkörpern.4 In diesem unnachgiebigen Widerspruch zum Leben gründet die unhintergehbare, nicht zu bewältigende Angst, die das Lebendige vor dem Tode ergreift. Die Frage aber ist, worin genau die Negativität des Todes, sein unüberwindlicher Gegensatz zum Leben besteht. Es ist die Frage, wieso wir den Tod als Übel betrachten, ihn als Gegenmacht fürchten.5 In Weiterführung der Reflexionen zu den Verlusterfahrungen des Alters können wir dasjenige, was wir im Tod fürchten und wovor wir zurückschrecken, in stufenweiser Vertiefung als Verlust der Zeit, des Sinns und des Selbst beschreiben.

13.2  Verlust der Zeit, der Zukunft, der Möglichkeiten Mit dem Tod geht die Zeit des Lebens zu Ende. Der erste, basalste Verlust, den das Individuum in seinem Lebensbezug angesichts des Endes zu gewärtigen hat, ist das Schwinden der Zeit. Im Sein zum Tode radikalisiert sich der im Altern erfahrene Zeit- und Zukunftsschwund, jenem Endpunkt entgegen, an welchem die Verknappung der Frist, die Schrumpfung des Möglichkeitsraums in Auflösung und Vernichtung mündet. Das ursprünglichste Leiden an der Unvollkommenheit des Daseins ist das Leiden an seiner Flüchtigkeit, Vgl. Martin Clauss / Ansgar Reiß / Stefanie Rüther (Hg.), Vom Umgang mit den Toten. Sterben im Krieg von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009. 5 Vgl. Tilo Wesche, »Das gute Leben und der Tod. Ethische Reflexionen über das Lebensende«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff (Hg.), Er­ wartung, a. a. O., S.  162–185.

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am Nahen des Todes, der immer zu früh kommt. Konkret ist es das Zunichtewerden der Zukunft, in welchem der Verlust der Lebendigkeit konkrete Gestalt annimmt. Lebendig zu sein, heißt sich in einem nach vorne geöffneten Erwartungshorizont zu bewegen, sich auf Ziele hin zu entwerfen, Entgegenkommendes zu erhoffen oder zu befürchten, im Netz zwischen Erinnerungen, Erwartungen und Entwürfen das aktuelle Tun und Erleben sinnhaft zu gestalten. Das angesichts des Todes sich aufdrängende Bewusstsein, keine Zukunft mehr zu haben, das nach Marquard zugleich das Absterben der Endlosigkeits- und Vollendungsillusionen, den unfreiwilligen Abschied von den Vorstellungen eines offenen Weitergehens und Zum-Abschluss-Bringens der Pläne und Wünsche bedeutet6, untergräbt die Dynamik des Lebens. Dabei geht es nicht um die abstrakte Verknappung des Zeitraums, eine Verkürzung der verbleibenden Frist. Es geht um ein inneres Hohl- und Leerwerden der Zeit. Der sterbende Mensch ist nicht mehr in der Lage, die Zeit auszufüllen, sie mit Inhalten, die seinem Leben einen Sinn geben, zu gestalten. Sie kann ihm vor dem Ablaufen der letzten Frist zur toten Zeit werden, mit der er nichts mehr anzufangen weiß, wie ihn schon lange vor dem Ende das »Grauen vor der öden Zeit«, dem »bloßen Trott« der letzten Jahre ergreifen kann.7 Nicht das Leben als solches, sondern das erfüllte, sinnhaft erlebte und geführte Leben ist es, das in Frage steht. Dass dieses vom Schwinden der Zukunft bedroht wird, ist die Kehrseite dessen, dass das Sichentwerfen und Ausgreifen auf Möglichkeiten die Grundform der sinnhaften Orientierung und aktiven Lebensführung bildet. Der Mensch, so eine Leitidee der Existenzphilosophie, versteht sich von seinem Können, seinen Zielen und Möglichkeiten her; nach Heidegger ist das menschliche Dasein »primär Möglichsein«, »je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist«.8 Insofern bedeutet das Sichzusammenziehen und letztliche Verschwinden der Zukunftsdimension ineins mit dem Verlust der Möglichkeiten eine Auflösung des subjektiven Selbstseins. Der Tod ist dann, paradox formuliert, die letzte, unüberbietbare »Seinsmöglichkeit« des Menschen als »Möglichkeit der Unmöglichkeit«,

Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches, a. a. O., S.  71 f. Peter von Matt, Nachwort zu: Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, a. a. O., S.  193. 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  142. 6

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sich sinnvoll zu seiner Zukunft zu verhalten.9 Zwar muss man den aktivischen Grundzug der Existenz so nicht teilen und ihn nicht notwendig zum springenden Punkt der Todeserfahrung machen. Auch für Emmanuel Levinas bedeutet der Tod ein Schwinden der subjektiven Initiative und des selbst gestalteten Möglichkeitsraums; der Tod ist nicht mehr eine Möglichkeit meiner selbst, in die hinein ich mich entwerfen kann, sondern das Zurückgeworfensein in die wehrlose, rückhaltlose Passivität, wie »das kindliche Schütteln des Schluchzens«.10 Es ist ein Ausgeliefertsein an ein Geschehen, an dem menschliches Leben teilhat, das aber seiner Verfügung am Beginn wie am Ende vorausliegt. Allerdings ist diese Passivität nach Levinas kein reines Negativum. Sich vorbehaltlos dieser Erfahrung auszusetzen ist für ihn Vorbedingung eines authentischen Umgangs mit dem Tod, wie sie auch im Leben in ein anderes Bild eigentlichen Existierens, jenseits herrschaftlicher Selbstbestimmung eingeht.11 Empfänglichkeit, Hingabe, Offenheit für das Andere sind nach ihm gleichermaßen wesentliche, grundlegende Aspekte der Existenz in der Lebensführung wie in der Begegnung mit dem Tode. Indessen bleibt der letzte Zukunftsbezug unabhängig von der Option zwischen aktiv-produktiver und passiv-rezeptiver Haltung essentiell mit der Erfahrung des nahenden Todes verschränkt. Das Verblassen der Möglichkeiten tangiert nicht nur das eigene Tun und Hervorbringen, sondern ebenso das Aufnehmen entgegenkommender, sich öffnender Möglichkeiten. Ihr zeitbedingtes Schwinden bedeutet eine fundamentale Verarmung und Erosion des personalen Seins.

13.3  Verlust des Sinns Der Verlust der Zeit ist Verlust des Sinns. Mit dem Versagen der temporalen, zukunftsbezogenen Synthesis geht die Unfähigkeit zur rezeptiven wie konstruktiven Sinnbildung einher. Sich sinnhaft zu seinem Leben verhalten, in seinem Leben Bedeutungen schaffen und Sinn finden heißt sich in einem Zeithorizont bewegen, in 9

Ebd., S.  239, 250, 262. Emmanuel Levinas, Le temps et l’autre, Paris: Presses universitaires de France 1983, S.  60. 11 Vgl. Eilert Herms: »Hingabe. Sterben als wesentliche Phase des menschlichen Lebens und sein Vollzug in christlicher Lebensgewissheit«, in: FranzJosef Bormann u. a. (Hg.), Sterben, a. a. O., S.  539–562. 10

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welchem gegenwärtige Pläne und Wünsche in späteren Ereignissen ihre Realisierung und Erfüllung – oder auch ihre Enttäuschung, ihr Scheitern – finden, in einem Zeitraum, in welchem Initiativen und Anfänge auf Weiterführungen, Abbrüche und Korrekturen vorausweisen und spätere Geschehnisse auf frühere zurückstrahlen, die Vorgeschichte in ihrer Bedeutung hervortreten lassen oder ihr ein neues Profil verleihen. Der Sinn unseres Lebens kommt prospektiv wie retrospektiv in einer bestimmten Zeitgestalt, im Entwurf wie in der nachträglichen Interpretation und Aneignung zustande. Ohne das Geflecht der Vorgriffe und Rückblenden, Erwartungen und Bestätigungen bliebe die Sinndimension im Tun und Erleben flüchtig und in der Schwebe. Erst die bestimmte Weiterführung wie der bestimmte Rückblick geben ihr die konkrete Prägung, in der sie zur Formbestimmung des Lebens werden kann. Insofern ist der Tod, der diese Verweisungen suspendiert, indem er die Zukunft ins Nichts verflüchtigt, der vernichtende Abgrund der Sinnbezüge. Darin liegt nach Jean-Paul Sartre der »absurde Charakter des Todes«, der, anders als ein »Auflösungsakkord am Ende einer Melodie«, die schiere Auslöschung der Sinnhaftigkeit des Daseins bewirkt.12 Wenn das Leben »fortwährend in seine Zukunft verflochten« ist, von der es seine Bestätigung erwartet, so ist der Tod nicht jenes abschließende Letzte, das ihm seinen letzten Sinn verleiht, sondern im Gegenteil jenes Ende, das es jeder Bedeutung beraubt.13 Das menschliche Dasein, dem es »in seinem Sein um sein Sein geht«14, »verlangt immer nach einem Danach«, so dass es kein wirkliches, lebendiges Verhalten zum Tod, der jedes Danach auslöscht, geben kann.15 Der Tod ist das Andere, das nicht erst nach dem Leben kommt, sondern gleichsam von vorne auf das Leben zurückschlägt, im Entgegenkommen des Endes die Sinnhaftigkeit des Daseins auflöst. Die mit dem Tod bevorstehende Annihilation, die neben der zeitlichen Beständigkeit den Sinn und inneren Gehalt des lebendigen Seins zersetzt, ist eine Spitze in der ›negativen‹ Zeichnung unseres Verhältnisses zu Sterben und Tod. Im Spiel ist Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, Paris: Gallimard 1943, S.  617 Ebd., S.  624. 14 So die von Heidegger übernommene Figur (»pour lequel il est dans son être question de son être«: ebd., S.  27), vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  12. 15 Ebd., S.  624. 12 13

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nicht einfach das Schwinden der Zeit als solcher, sondern die Unter­ grabung der gestalteten Zeit, die das Medium der Sinnstiftung und Sinnwahrnehmung bildet, damit die Auflösung allen sinnhaften Seins und Sichverstehens. Ohne Sinn ist kein menschliches Leben. Dabei kann sich die Drohung der Sinnlosigkeit auch von der Todes­angst ablösen und gerade mit der Vision der Todlosigkeit, der leeren Unsterblichkeit verbinden. Das Szenario der Abwesenheit des Todes kann einen »ebenso großen existentiellen Terror« wie die Drohung des Nichts an uns herantragen.16 Die Vision einer Unsterblichkeit jenseits der temporal-sinnhaften Gestaltung kann zur Quelle von Angst und Verzweiflung werden; nicht sterben zu können heißt auch die strukturelle Verschränkung zwischen dem Tod und der inneren Formgebung des irreversiblen, endlichen Lebens aufzulösen.17 Eines der eindrücklichsten Zeugnisse dieses »Unglücks der Todlosigkeit«18 stellt die Erzählung »El Immortal« von Jorge Luis Borges dar.19 Das verstörende Zusammenschließen von Endlosigkeit und Sinnlosigkeit lässt ex negativo den Wert des End­ lichen, Einmaligen und Unwiederbringlichen erfassen. Im endlichen Leben kann jede Handlung die letzte, jedes Erlebnis das einzige sein.20 Aus seiner Sicht ist das Zunichtewerden des Lebens im Zukunfts­verlust zuletzt ununterscheidbar von seiner Auflösung in der Leere der endlosen Zeit.

13.4  Verlust des Selbst, Angst vor dem Nichts So mündet der Verlust der Zeit und des Sinns in den Verlust des Selbst. Der Mensch, dem die Zukunft abhanden kommt, entfremdet sich von seinem Sein, kann seinem Leben nicht mehr selbst eine Bedeutung geben, muss sein Schicksal anderen überantworten. Das Leben des Menschen geht nicht mit dem Ableben des Organismus zu Ende, sondern mit der Auflösung des subjektiven Selbstverhältnisses: mit dem Ende des Selbstbewusstseins und der interpretieAlexander Batthyány, Zur Psychologie einer Grundangst, a. a. O., S.  168. Ebd. S.  174 f., 187. 18 Ebd. S.  170. 19 Jorge Luis Borges, »Der Unsterbliche«, in: Blaue Tiger und andere Ge­ schichten, hg. v. Gisbert Haefs, Hanser: München  /  Wien 1988, S.  141–158. 20 Ebd. S.  148, 154. 16 17

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renden Verständigung über sich, mit dem Erlöschen der Erinnerungen, Phantasien und Bilder vom eigenen Leben. Der Mensch wird sich selbst fremd, wie seine Welt ihm fremd wird; er gelangt an die Grenze des Daseins, in das er ohne sein Zutun gekommen ist, um als Fremder wieder auszuziehen.21 In dieser Entfernung von sich kann die antizipierende Angst vor dem Tod in pointierter Weise als Furcht vor dem Selbstverlust, vor dem Sich-Abhandenkommen in seinen Gedanken und Wünschen, aber auch vor dem Verlust seiner Vergangenheit, dem Entschwinden seiner Geschichte erlebt werden – nicht als einem zusätzlichem Verlust, sondern als dem eigentlichen Kern im Sichauflösen des Selbst.22 Sein bisheriges Leben verlieren heißt seiner selbst als Person verlustig gehen, gleichsam spiegelbildlich zum Entschwinden der Zukunft und des künftigen Seins. Annie Ernaux verlängert den Schauder des Entschwindens über die eigene Existenz hinaus: Verschwinden werden mit einem Schlag die in das Licht meiner Erlebnisse getauchten, tausendfältigen Bilder aus meinem Leben – wie schon die Millionen von Bildern, die einst im Geist der verstorbenen Eltern und Großeltern lebendig waren, wie ihre unzähligen Worte, Erzählungen und Erlebnisse untergegangen sind und wie wir dereinst in der Erinnerung unserer Kinder und ungeborenen Enkel während einer begrenzten Zeitspanne gegenwärtig sein werden, um dann im Nichts zu vergehen.23 Die Auslöschung des reflexiven Verhältnisses zu sich und zu seinem Leben bedeutet die Auflösung der Person in ihrer Individualität und biographischen Identität; sie unterminiert die Festigkeit und Verlässlichkeit des Ich, die unser Zusammenleben mit anderen ermöglicht und unserem Verhältnis zur eigenen Geschichte ihren Rückhalt gibt. Wenn wir im hohen Alter, im Anblick des nahenden Todes jene Dissoziation vorwegnehmen und sie schrittweise erleiden, so werden wir mit der unerbittlichen Gewissheit konfrontiert, dass es mit uns, unserem je eigenen Ich zu Ende geht, dass wir am Ende nichts mehr, niemand mehr sind. Im Fluchtpunkt dieser Gewissheit begegnet uns die Urangst vor dem Tod: die Angst vor dem Ende des Lebens, vor der Zerstörung Walter Matthias Diggelmann, Schatten. Tagebuch einer Krankheit, Zürich  /  Köln: Benziger 1979, S.  11, 52 f. 22 Vgl. Leszek Kolakowski, »Über die Rationalisierung des Todes«, in: Hans Ebeling (Hg.), Der Tod in der Moderne, Königstein / Ts.: Hain 1979, S.  98–101. 23 Annie Ernaux, Les années, a. a. O., S.  11, 14. 21

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des Selbst, vor dem Nichts. Hegel hat sie im Kampf auf Leben und Tod als die plötzliche Angst des Individuums »um sein ganzes Wesen« beschrieben, in der es »in sich selbst erzittert« und »das absolute Flüssigwerden alles Bestehens« erlebt.24 Es ist die Erfahrung der Negativität schlechthin, des Zunichtewerdens, gegen das sich das Leben im Innersten sträubt und zur Wehr setzt. Dies zumal ist die Reaktion, die sich im bewussten Erleben und Verhalten als erste einstellt. Indessen ist sie nicht die einzige Weise, in der sich das Leben zum Tode verhalten kann. Das Gegenmodell skizziert Sigmund Freud in seiner Figur des Todestriebs, der nach dem Ausgleich der Spannungen, nach der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes strebt.25 Hier wird die Auflösung als Reduktion der Reizspannung, die Rückkehr in den Ursprung zum Gegenstand einer eigenen, gegenläufigen Sehnsucht. Doch ist auch diese ›regressive‹ Option nicht die einzige Alternative zur Aversion vor dem Abgrund des Nichtseins. Dessen Grauen ist bedingt durch eine Grundhaltung, von der sich das Subjekt soll freimachen können: von der Zentrierung auf das irreduzible Ich als strukturellem Mittelpunkt und substantiellem Wert der Existenz. Gegen dieses Festhalten am Nukleus des Individuums hat Ernst Tugendhat die Bedeutung des Loslassens und der Dezentrierung als Voraussetzung nicht nur des gelingenden Alterns, sondern eines freien, befriedeten Verhaltens zum Tod beschrieben.26 Nicht uns selbst über alles stellen und wichtig nehmen, erkennen, dass es im Leben und Sterben nicht allein und nicht vorrangig um unser individuelles Selbst geht, öffnet nach Tugendhat den Zugang zu einem anderen Bewusstsein der Sterblichkeit, ermöglicht eine andere Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, eine andere Begegnung mit dem Tod. Nur solange das Ich alles ist, liegt in seiner Auflösung die Drohung des Nichts. Zur Diskussion steht eine Einstellungsänderung, die sich nicht nur dem entfremdeten, anonymen ›Man‹ des Alltagslebens, sondern auch dem kulturell herrschenden Todesbewusstsein, der existentiellen Selbstsorge wie dem religiösen memento mori entgegenstellt. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner 61952, S.  148. 25 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt am Main: S.  Fischer 51967, S.  1–69. 26 Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, a. a. O.; Über den Tod, a. a. O.; siehe oben 10.2.

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Diesen Konzepten gegenüber zeichnet die ›mystische‹ Distanzierung vom individuellen Selbst eine nicht unkontroverse Option. Gemeinsam indes weisen sie in eine Richtung, die über die Angst als primäre, fundamentale Äußerung des Todesbewusstseins hinausführt. Im weiteren Horizont kommen damit positivwertige, affirmative Weisen des Sichverhaltens zu Tod und Sterben in den Blick. Bevor auf sie einzugehen ist, ist die Negativität der Todesvorstellung durch einen kurzen Blick auf ihren geschichtlichen Wandel zu ergänzen.

13.5  Wandel der Todesbilder Wie die Todesbilder generell, so ändern sich die Negativvorstellungen vom Sterben im Laufe der Geschichte. Aus dem komplexen, vielgestaltigen Prozess seien nur zwei Aspekte hervorgehoben. Das eine ist die neuzeitliche Individualisierung des Todes. Vom Schicksal der sterblichen Gattung wird der Tod zunehmend zu einer Angelegenheit des Einzelnen, zu einem existentiellen Geschehnis, das auf das Leben des Menschen ausstrahlt und von ihm als der eigene Tod anzunehmen und zu vollziehen ist. Zum Teil intensiviert sich dieser Bezug durch den religiösen Glauben und die Sorge um das ewige Seelenheil, zum Teil auch durch die existentielle Aufwertung des eige­nen Lebenslaufs und das unvertretbare Sichverhalten zu seinem Ende. In einer gewissen Weise kann die neuzeitliche Säkularisierung mit einer Entdramatisierung des Sterbens einhergehen, sofern der Sterbende nicht mehr der Angst vor dem letzten Gericht und der Drohung der Verdammnis ausgesetzt ist. Gleichzeitig aber kann der Verlust der Heilsdimension auch die Negativität des Todes bestärken. Ohne Aussicht auf Erlösung kann sich das Leben im Zirkel des vergeblichen Strebens und Scheiterns verstricken und der Verzweiflung verfallen, kann das Leben ohne Sinn, das Sterben ohne Trost verbleiben. Das Erschrecken vor dem nackten Tod, wie es Dostojewski angesichts des Toten Christus im Gemälde von Hans Holbein im Basler Kunstmuseum erfahren (und in einer Episode seines Romans Der Idiot wiedergegeben) hat27, kann das Bewusstsein des nahen Sterbens überwältigen. Im nicht-verklärten Leichnam, diesseits der Andreas Guski, Dostojewskij. Eine Biographie, München: Beck 2018, S.  286–290.

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Auferstehung, begegnet der Tod in schonungsloser Härte, die Vernichtung des Lebens als Ende ohne Ziel und Erfüllung. In einer noch abgründigeren Weise durchdringt die Negativität das Sterben, wenn nicht die Auflösung von Sinn und Transzendenz, sondern der Verlust des Todes selbst zum Bedrohlichen wird. In extremer Gestalt ist dies nach Adorno in den Vernichtungslagern Realität geworden: »Seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.«28 Schlimmer als der Tod ist die pure Vernichtung, in welcher Menschen der Möglichkeit beraubt werden, einen eigenen, individuellen – geschweige denn einen in Gemeinschaft vollzogenen, von anderen begleiteten – Tod zu erleben. Unterdrückt, zerstört wird etwas, was zum traditionellen Verständnis des Todes, zum menschlichen Umgang mit dem Sterben als Teil des Lebens gehörte. Die grenzenlose Entmenschlichung, welche die geschundenen Individuen noch vor ihrem physischen Ableben ­aller Würde beraubt und aus der humanen Lebensform ausschließt, durchdringt am Ende die Vernichtung selbst. Indessen findet ein ähnlicher Verlust des menschlichen Sterbens nicht nur in den äußersten Formen von Terror und Gewalt statt. Er droht auch in Formen zivilisatorischer Verwaltung, im mechanischen, massenhaften Tod, der, gegenläufig zur neuzeitlichen Individualisierung, in die Anonymisierung und Entpersonalisierung des Sterbens mündet. Nicht nur das seinem Tod entgegensehende Individuum selbst verliert den Raum, in dem es sich mit seinem Lebensende auseinandersetzen, sich auf den letzten Abschied und das eigene Sterben einstellen kann. »Im Zeichen des seriellen Todes«, so Burkhard Liebsch, geht auch »der Verlust verloren, den der Tod des Einzelnen zumindest für die ihm Nahestehenden stets bedeutet hatte.«29 Als subjektives wie soziales Geschehen verliert der Tod seine Bedeutung und seinen Rückhalt im Leben. In der modernen Welt und der »hoffnungslosen Unkraft des Diesseitigen«, so Adorno, verliert der Tod die »Würde« seiner Absolutheit, wird er zu einem »Widerruflichen« im gleichen Maße, wie der Einzelne radikal ersetzbar wird.30 Zuletzt wird die Negativität noch darin generalisiert, dass in der Entsubjektivierung und Veräußerlichung des Todes selbst das Leiden verloren geht, das für eine existentielle AuseinandersetTheodor W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S.  362. Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer, a. a. O., S.  119. 30 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Aph. 148, a. a. O., S.  311 f. 28 29

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zung in der Sinnlosigkeit und Unversöhntheit des Endes, der Trost­ losig­keit des Sterbens lag. Unter all diesen idealtypisch zugespitzten Aspekten zeichnet sich die Negativchiffre eines Todes im Zeichen der Vernichtung, des Nichtseins ab. Es sind Elemente der absoluten Negativität, des Nichtseinsollenden, vor dem wir zurückschrecken, das zum Gegenstand des Grauens, der ursprünglichsten Angst wird. Dieses Bild aber ist nicht die einzige Chiffre vom Ende. Die Angst soll nicht das abschließende Verhältnis zum Tode sein. Menschliche Kultur, die dem Bewusstsein des Todes und der Auseinandersetzung mit dem Negativen entspringt, entwickelt sich als Bemühen um ein Leben, in welchem der Mensch jenseits von Angst und Verzweiflung der Ungesichertheit seines Seins ins Auge zu schauen und seinem Ende entgegenzugehen vermag. Die Kultur des Menschen ist einem menschengerechten Leben wie einem humanen Umgang mit dem Tode gewidmet. Was dieser beinhalten kann, bleibt im Einzelnen zu erkunden, wie auch die Frage, in welches Verhältnis die versöhnte, befriedete Aussicht auf das Lebensende zu dem offenen, schonungslosen Gewahrwerden des Nichtmehrseins zu stehen kommt.

14. Die Kunst des Sterbens 14.1  Der eigene Tod Der Tod ist nicht nur der Einbruch des Nichts. Er ist nicht nur der letzte, absolute Verlust im menschlichen Leben – als Verlust der Zeit, des Sinns, des Selbst. Emphatische Bilder vom Sterben zeichnen die Gegenvision des Todes als eines Augenblicks höchster Klarheit und vollendeter Selbstpräsenz. Die Vision ist zugleich eine des bewussten Sterbens. Es ist ein Sterben, in welchem der Tod sich nicht nur als erlittener Verlust und Überwältigung durch das Nichts, sondern als eigener Akt, als bewusster Abschied ereignet. Solches Sterben konvergiert mit dem, was Rilkes Gebet um den eigenen Tod meint.1 Der eigene Tod ist das ganz Andere zu jener absoluten Selbstenteignung, die Adorno als etwas Schlimmeres als den Tod beschrieben und in der gewaltsamen Vernichtung der Lager wie in der mechanischen Absorption der Massengesellschaft verortet hatte – wobei es zur Radikalität seiner rückhaltlosen Negativdiagnose gehört, in Rilkes Gedanken an den eigenen Tod nur noch den »kläglichen Betrug darüber, dass die Menschen nur noch krepieren«, zu erkennen.2 Der Wunsch nach dem eigenen Tod ist der Wunsch, sich bewusst auf den Tod einstellen und auf das Sterben vorbereiten zu können, zuletzt den Abschied von der Welt und den Mitmenschen, den Abschied aus dem Leben selbst und bewusst vollziehen zu können. ­Tiziano Terzani schreibt vom Wunsch, dem Tod offen, mit »Neu1 »O Herr, gibt jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not …«: Rainer Maria Rilke, Das Stundenbuch, Drittes Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode, Frankfurt am Main: Insel 1972. 2 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, a. a. O., S.  313.

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gier« zu begegnen, die »Verabredung« mit ihm, für die er sich »sozusagen schon festlich gekleidet« hat, »nicht zu verpassen«.3 Der plötzliche Tod, der uns unversehens, vielleicht im Schlafzustand ereilt und der vielen – namentlich im Gegensatz zu schmerzvollen Leidensphasen oder zu seelischen und sozialen Belastungen – als ein wünschenswertes Ideal erscheint, ist in dieser Hinsicht eine Entbehrung und ein Gegenstand der Furcht, da er »den Menschen seines je eigenen Todes beraubt«.4 Seinen eigenen Tod sterben zu können ist wie die Ergänzung und Zu-Ende-Führung der Sorge um das eigene Leben, zu welcher konsequenterweise auch der Umgang mit dem Ende des Lebens, das gelingende Sterben gehört. Wie wir das eigene Leben zu führen haben und führen wollen, so steht uns der je eigene Tod bevor und liegt uns am eigenen Tod – wie umgekehrt die von Adorno genannte Auslöschung des Individuums mit der Aushöhlung des humanen Todes einhergeht. In alledem bestätigt sich, inwiefern der Tod nicht einfach das Jenseits und Andere, sondern ein eigenes Moment des Lebens ist. Der eigene Tod, das bewusste Sterben sind nicht jedem vergönnt. Sie können uns versagt sein, sei es durch äußere Umstände wie die von Adorno benannten, sei es durch Krankheit, Bewusstseinsstörung, Selbstentfremdung. Es kann auch sein, dass sie dem Einzelnen nicht als Ideal vor Augen stehen, von ihm nicht als Form des Lebensendes, als seine Weise, aus dem Leben zu scheiden, erstrebt werden. Gleichwohl stellen sie eine weithin geteilte Leitvorstellung dar, an der sich die existentielle Verständigung über das menschliche Leben und menschliche Sterben ausrichtet. Was aber zum eigenen Tod, zum bewussten Sterben gehört, was sie ausmacht und welches ihre Bedingungen sind, bleibt zu klären. Neben äußeren Voraussetzungen sind interne Bedingungen und konstitutive Momente von Belang. Eine erste Bedingung ist die bewusste Selbstpräsenz angesichts des Lebensendes.

Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang, a. a. O., S.  16. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, a. a. O., S.  160.

3

4

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14.2  Selbstgegenwart angesichts des Todes Die Selbstpräsenz vor dem Tod wird oft in besonderen Situationen und herausgehobenen Bewusstseinsformen beschrieben. Unfall­ opfer und Schwerkranke berichten von Nahtoderlebnissen, in denen sie wie in einem momentanen Abriss ihr gesamtes Leben noch einmal an sich vorbeiziehen sehen. Allgemeiner verbinden viele Todes­bilder den Augenblick des Lebensendes mit einer einzigartigen Gegenwärtigkeit, in welcher der Mensch sein Leben vor sich ausgebreitet sieht und sich selbst in unmittelbarster Weise, jenseits der Trübungen des Erinnerns und der Zerstreuungen des Alltags, gegen­wärtig wird. Nicht erst im Augenblick des Sterbens stehe ich »gewissermaßen absolut« mir selbst gegenüber5, schon im Kommen des Todes, im Erblicken des nahenden, unausweichlichen ­Endes, in der Erschütterung durch einen Schicksalsschlag oder eine Krankheitsdiagnose kann sich jene gesteigerte Wachheit einstellen, in welcher der Tod in die Mitte des Lebens einbricht und der Mensch auf sein Leben zurückgeworfen wird – auf sein einziges und endgültiges Leben, sein unwiderbringlich vergangenes wie sein noch verbleibendes, befristetes Leben, dessen letzte Stunde ungewiss ist. Man kann sich über den eigenartigen Umstand wundern, dass das Leben »erst fast vorbei sein« muss, bevor man auf es aufmerksam wird, »so etwas wie ein Leben« vor sich sieht.6 Zahlreiche Autoren haben vom Leben in Auseinandersetzung mit tödlichen Erkrankungen Rechenschaft abgelegt, von der plötzlich in das Leben einfallenden, das Leben durchdringenden Einsicht des nahenden Endes, von den vielfältigen Weisen, sein Leben im Schatten der unabweisbaren Gewissheit zu führen, seine letzten Monate und Tage zu gestalten, mit Freunden und Angehörigen über sein Leben und den bevorstehenden Tod zu sprechen, zuletzt von den Menschen und der Welt Abschied zu nehmen.7 Gemeinsam ist solchen Erlebnissen, noch vorgängig zur 5 Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, a. a. O., S.  440. 6 David Wagner, Leben, Reinbek: Rowohlt 2014, S.  60. 7 Harold Brodkey, Die Geschichte meines Todes, Reinbek: Rowohlt 1996; Walter Matthias Diggelmann, Schatten, a. a. O.; Péter Esterházy, Bauch­ speicheldrüsentagebuch, a. a. O.; Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Reinbek: Rowohlt 2013; Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod, a. a. O.; Christoph Schlingensief, So schön wir hier kanns im Himmel gar nicht sein! Köln: Kiepenheuer und Witsch 2009; Ruth Schweikert, Tage wie Hunde,

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Todesangst, eine Helligkeit der Selbstgegenwart, ein Blick auf das eigene Leben, der dieses in seiner Einmaligkeit und seiner Bedeutung, vielleicht auch in seiner verdeckten Schönheit und Herrlichkeit8 offenbart und dem Sterbenden bewusst machen kann, wie sehr er das Leben liebt9 und wie schön das Leben ist – wie Christoph Schlingensief im Titel des Tagebuchs seiner Krebserkrankung ausruft: »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!«10 Es ist ein Bewusstwerden, das auf unser ganzes Sein ausstrahlt und das gesamte Spektrum des emotionalen Erlebens zwischen Erschrecken, Liebe und Trauer öffnet. Im Angesicht des Todes werde ich sowohl mit mir selbst in meiner unvertretbaren Einzelheit, meiner Ungeschütztheit und Unverhülltheit konfrontiert wie mit meinem Leben als solchem, das nicht in bestimmten Inhalten und Absichten, Sorgen und Hoffnungen aufgeht. Der Tod erinnert mich daran, »dass ich nicht nur dies und jenes verfolge und befürchte, sondern – in all dem – lebe. Im Verhalten zum Tod – dem Ende meines Lebens – werde ich meines Lebens ansichtig.«11 Es geht nicht darum, meinen Lebenslauf mit all seinen Erlebnissen und Verwicklungen vor mich zu bringen, sondern der Tatsache des Lebens als solchen innezuwerden, das mein eigenstes ist, mit dem ich selbst in meinem Sein in Frage stehe. Auch wenn nicht in all seinen Episoden, werde ich mir im Anblick des Todes meines zum Ende kommenden Lebens als Ganzem gegenwärtig, in meiner unaustauschbaren Identität, zu der eine bestimmte Herkunft und sich schließende Geschichte gehört, die zugleich die Frage Wozu? Wohin? Wie lange noch? aufdrängt. Das Sterben, Ereignis des absoluten Selbstverlusts, ist der Ort einer unvergleichlichen, kognitiven und existentiellen Selbstgegenwart.

a. a. O.; David Wagner, Leben, a. a. O.; Maxie Wander, Leben wär eine prima Alternative, a. a. O.; Fritz Zorn, Mars, München: Kindler 1977; vgl. Corina Caduff / Ulrike Vedder, »Schreiben über Sterben und Tod«, in: dies., (Hg.) Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2005, Paderborn: Fink 2017, S.  115–124. 8 Vgl. Franz Kafka, Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch u. a., Frankfurt am Main: S.  Fischer 1990, S.  866. 9 Maxie Wander, Leben wär eine prima Alternative, a. a. O., S.  21. 10 Christoph Schlingensief, So schön wir hier kanns im Himmel gar nicht sein! a. a. O. 11 Ernst Tugendhat, Über den Tod, a. a. O., S.  165.

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Solche Bewusstwerdung ist nicht auf herausgehobene Erlebnisse beschränkt, in denen wir schockartig das bevorstehende Ende vor Augen haben. Sie gehört im Prinzip zur lebensweltlichen Reflexion auf die Sterblichkeit überhaupt und gilt der Existenzphilosophie als Teil eines authentischen Verhaltens zum eigenen Leben. Leben heißt sich auf den Tod einstellen.

14.3  Sterben lernen Dieses Verhalten ist in der Tradition unter einem klassischen T ­ opos verhandelt worden, der besagt: Leben heißt sterben lernen. Dieser eigenartige, das Normalverständnis irritierende Leitsatz unterstellt offenkundig eine ganz bestimmte, spezifische Vorstellung vom menschlichen Leben. Es ist das richtige, das philosophische Leben, das sich nach Platon, auf welchen der Topos zurückführt, in solcher Weise auf das Sterben vorbereitet: Es sind die »richtig Philosophierenden«, die »nach nichts anderem streben, als zu sterben und tot zu sein«12, wie denn auch Montaigne in seinem Essai Que philosopher c’est apprendre à mourir das richtige Verhalten zum Tode als eigentliche Herausforderung an die Philosophie richtet.13 Dabei geht es nicht nur um eine privilegierte theoretische Einsicht, sondern um einen praktischen Lernprozess, der dazu verhilft, mit der unerbittlichen Gewissheit des Sterbens im Leben zurechtzukommen, sofern das Philosophieren als Abwendung der Seele von irdischen und körperlichen Belangen zu einer Art Einübung in das Sterben wird und zuletzt dem Ziel dient, auf welches alle Weisheit gerichtet ist, den Menschen die Furcht vor dem Tod zu nehmen.14 Die Befreiung von der Todesangst, die Widerlegung der Meinung, der Tod sei das schlimmste aller Übel, sind existentielle Anliegen, denen sich viele antike Denker verpflichtet haben. Die Unerschütterlichkeit und Furchtlosigkeit, die innere Seelenruhe und Gelassenheit angesichts des bevorstehenden Endes, die Einwilligung oder gar der eigene Entschluss zum Sterben sind Motive, die in unterschiedlichen Abwandlungen durch griechische und römische DenPhaidon, 64 c, vgl. 67 e. Essais, Livre I, Chapitre XX, in: Œuvres complètes, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 1962, S.  79–95. 14 Ebd. 12 Platon,

13 Montaigne,

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ker ausformuliert worden sind. Eine hervorragende Sache sei es, zitiert Seneca einen Ausspruch Epikurs, den Tod langsam und zusammen mit anderen zu lernen.15 Meditare mortem bedeutet nicht nur, das eigene Sterbenmüssen passiv zu akzeptieren, sondern die Sterblichkeit in einer Weise anzuverwandeln, dass der Mensch darin, indem er die Todesfurcht ineins mit den Ketten des Lebens ablegt, seine Freiheit erlangt. In einer exemplarischen Zusammenschau16 versammelt Montaignes Essai all die Argumente und Ermahnungen der alten Schriftsteller, in denen er gleichzeitig »die guten Unterweisungen unserer Mutter Natur«17 erkennt, die uns dazu verhelfen, in vernünftiger Weise mit der Endlichkeit des Lebens umzugehen. Sterben lernen heißt ­leben lernen, lautet sein Fazit, das im Kern auf die Einsicht rekurriert, dass wir ein Teil der Ordnung des Alls sind und dass unser Leben, sei es kurz oder lang, mit dem Tod immer vollendet ist.18 Es ist nicht zu leugnen, dass manche Reflexionen, die im Horizont des stoisch-epikureischen Denkens mit großer Überzeugungskraft auftreten, unter veränderten Zeitumständen, vor dem Hintergrund des christlichen Lebensgefühls und am Anbruch der Moderne von geringerer Stringenz sind und, neben sachhaltigen Motiven, zur rationalisierenden Überredung tendieren. Wenn wir die Einsicht ernst nehmen, dass alles, was eines Tages geschehen kann, auch heute geschehen kann19, ist es nach Montaigne nur vernünftig, sich auf das jederzeitige Ende einzustellen und »beständig gestiefelt und zum Abschied gerüstet zu sein«.20 Jede Furcht verliert, so meint er, wer »recht begriffen hat, dass der Verlust des Lebens kein Übel ist«, was er durch die Überlegung zu plausibilisieren sucht, dass es ebenso töricht wäre, »darüber zu klagen, dass wir in hundert Jahren nicht mehr leben werden, wie darüber, dass wir vor hundert Jahren noch

15 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, 26, 8–10; Christine Walde, »Selbst-

bildnis des Philosophen als eines alten Mannes: Senecas Briefe an Lucilius«, in: Joachim Küchenhoff / Carl Pietzcker (Hg.), Altern, a. a. O., S.  133–167, hier S.  151. 16 Montaigne verweist selbst auf die Überfülle seiner Beispiele: Essais, a. a. O., S.  88. 17 Ebd., S.  94. 18 Ebd., S.  89, 90 f., 93. 19 Ebd., S.  86. 20 Ebd., S.  86.

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nicht lebten«21, um schließlich den bekannten epikureischen Einwand gegen die Todesfurcht anzufügen, dass diese schon deshalb obsolet sei, weil der Tod uns »weder als Tote noch als Lebende betreffe«: als Lebende, weil wir sind, als Tote, weil wir nicht mehr sind.22 Der Gedanke steht stellvertretend für eine das moderne Denken kaum mehr überzeugende Beschwichtigung23, auch wenn die Angst vor dem Tod für das moderne Individuum aus anderen Gründen zurückgegangen oder verschwunden sein kann. Indessen ändert dies nichts daran, dass sich das Motiv eines SichEinübens in das Sterben mit dem Brüchigwerden des idealistischleibfernen Vernunftglaubens nicht einfach aufgelöst hat. Doch überrascht nicht, dass es unter anderen Prämissen in verändertem Licht erscheint. Die Empfehlung, sich bewusst auf die Begrenztheit des Irdischen einzustellen und ein Leben zu führen, das der Endlichkeit alles Menschlichen Rechnung trägt, kann sich mit religiösen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tode ebenso verbinden wie mit neuen Akzenten individueller Autonomie oder kultivierter Lebenskunst. Sie kann sich um eine reflektierte Selbstbescheidung bemühen, um eine Umlenkung des natürlichen Lebenswillens, der nicht um jeden Preis ein möglichst langes Leben erstrebt, und eine Einwilligung in das Zu-Ende-Gehen – bis hin zum freiwilligen Scheiden aus einem Leben ohne Sinn oder voller Leiden. Sterbenlernen kann sich auch unabhängig von stoischem Gleichmut und philosophischer Heilsvergewisserung um die richtige Gelassenheit angesichts des Endes und einen angstlosen Abschied bemühen. Den eigenen Tod anzunehmen, ihn als Gast einzulassen in sein Zuhause, ist eine erste, grundlegende Weise des befriedeten Sterbens.24 Im Besonderen hat sich die meditatio mortis im Rahmen der christlichen Religion dem Heil der individuellen, unsterblichen Seele zugewandt und um die Ermöglichung eines ›guten Todes‹ bemüht, als Läuterung der Existenz und Vorbereitung auf das Gericht und die letzte Stunde,

21

Ebd., S.  85, 90; mit der von Lukrez diskutierten Asymmetrie zwischen pränataler und postmortaler Nichtexistenz setzt sich Thomas Nagel auseinander: Letzte Fragen, a. a. O. 22 Ebd., S.  93. 23 Ernst Tugendhat nennt das Argument einen Sophismus: Über den Tod, a. a. O., S.  8. 24 Vgl. Walther Matthias Diggelmann, Schatten, a. a. O., S.  20 f.; vgl. Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang, a. a. O., S.  364.

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die über den Wert des ganzen Lebens entscheidet.25 In vielfältigen, über die Jahrhunderte wechselnden Konstellationen hat sich die ars moriendi der psychischen, sozialen und religiösen Voraussetzungen eines versöhnten Aus-dem-Leben-Scheidens vergewissert.26 Auch die öffentliche Kultur des Umgangs mit Tod und Sterben, die Begleitung der Sterbenden in ihrer letzten Stunde, die Todesriten und Bestattungszeremonien, die Anlage der Friedhöfe und die Pflege der Gräber – all dies trägt dazu bei, dass Menschen mit dem Tod vertraut werden, indem sie das Sterben anderer erleben, der Toten gedenken und sich auf das eigene Lebensende vorbereiten können.27 Auch unabhängig von der philosophischen Bewältigung der Todesangst, von Vorstellungen eines letzten Gerichts und der Sorge um das Seelenheil bleibt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, das ›Sterbenlernen‹, ein Wesensmoment der endlichen Existenz. In alledem bestätigt sich die Verschränkung des Todes mit dem Leben. Die existentielle Vorwegnahme des Todes und das Sich-Einüben in das Sterben bilden nicht komplementäre, externe Zonen des Lebendigen, sondern eine eigenste Herausforderung an das Leben; sie stehen im Dienste nicht nur des guten Sterbens, sondern des ­gelingenden Lebens.

14.4  Das unvertretbare Sein zum Tode Das Sterbenlernen erschöpft sich nicht in der Bannung der Todesfurcht. Der Vorblick auf den Tod strahlt aus auf das Leben hier und heute. Er ermöglicht und fordert dazu auf, das Leben vom Tode her wahrzunehmen, es im Blick auf den Tod zu führen. Die begrenzte Frist macht die noch verbleibende Zeit kostbar, das Leben wird im Anblick des Endes intensiver und bewusster, je nach Umständen und eigener Gestimmtheit freier und gelassener, bedrückter, entschiedener und ernsthafter. Simon Peng-Keller spricht von einer »Verwesentlichung« des Lebens und der Gespräche im Angesicht Vgl. Friedo Ricken, »Ars moriendi – zu Ursprung und Wirkungsgeschichte der Rede von der Sterbekunst«, in: Franz-Josef Bormann u. a. (Hg.), Sterben, a. a. O., S.  309–324. 26 Arthur E. Imhof, Ars moriendi, a. a. O. 27 Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, a. a. O.; vgl. Petra Gehring, »Altern mit und ohne Lebensende«, in: Thomas Rentsch u. a. (Hg.), Altern in unserer Zeit, a. a. O., S.  188–203, hier S.  200. 25

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des Todes.28 Jeden Tag so leben, als wäre es der letzte, als würde er die Reihe der Tage beschließen und das Leben vollenden, so lautet die klassische Devise Senecas.29 Die Bewusstheit des nahen Todes bedeutet nicht nur eine gesteigerte Wachheit, sie durchdringt die Lebensbefindlichkeit und betrifft den Menschen in seiner praktisch-moralischen Identität. Sie kann seine Alltagsroutine und sein Selbstverständnis erschüttern, ihn zur Neuorientierung, zum Neuanfang bewegen – aber auch in Depression und Verzweiflung werfen. Kierkegaard hat in seiner literarischen Grabesrede den existentiellen Rückschlag des Todesbewusstseins im Leben des Einzelnen beschrieben30; Heidegger hat als zentrale Figur unserer Konfrontation mit der Sterblichkeit das ›Vorlaufen‹ in den Tod ausgeführt, das er näherhin als Doppelbewegung eines Vorausgehens und Zurückkommens, eines Sich-vom-Ende-her-Verstehens spezifiziert. Es ist ein anderer Zukunftsbezug als der prospektive Entwurf in seine Möglichkeiten, von denen her sich das tätige Selbst definiert. Das Sein zum Tode ist der Bezug zu einer Zukunft, derer der Mensch nicht mächtig ist, einer Zukunft, die ihm entgegenkommt und ihn überwältigt – und die ihm doch kein Fremdes und Anderes, sondern Teil seines Lebens, sein eigenstes Ende ist. Sich auf diesen äußersten Schritt des Nicht-mehr-Seins und Nicht-mehr-Könnens einzustellen bildet nach Heidegger den Kern der ›eigentlichen‹ Existenz. Es geht ihr darum, sich offen zur Möglichkeit des Nicht-mehr-Seins als eigenster und letzter Möglichkeit zu verhalten und die Verdeckungstendenzen abzuwehren, die in der uneigentlichen Seinsweise des ›Man‹ liegen und dessen Verhüllung des Todes bewirken.31 Dagegen gilt es den »Mut« zur authentischen »Angst vor dem Tod« aufzubringen, in welcher das Dasein erst »eigentlich es selbst« ist.32 Umrissen ist in alledem ein Begriff der Eigent­lichkeit, dessen Zentrum darin liegt, dass der Mensch sich ganz von sich her, ungestützt durch andere und unverhüllt vor sich selbst, als Subjekt seines Lebens, als »Wer des Daseins«33 erSimon Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe. Traum- und Wach­visio­ nen Sterbender und Nahtoderfahrungen im Horizont von Spiritual Care, Berlin  /  Boston: Walter de Gruyter 2017, S.  156. 29 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, 12. Brief. 30 Siehe oben 11.2. 31 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  253. 32 Ebd., S.  263. 33 Ebd., S.  267. 28

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kennt und verwirklicht. In solcher unvertretbarer Singularität ist er nicht nur in sein tätiges Leben, sondern ebenso in das »Sein zu seinem Ende«34 geworfen. Es ist ein formales Konzept von Eigentlichkeit, wie es bei Heidegger auch den emphatischen Begriff des Selbstseins als Entschlossenheit kennzeichnet und in der ethischen Debatte ob seiner Inhaltsleere und normativen Unterbestimmtheit kritisiert worden ist. Es bleibt, außer der Fokussierung auf die irreduzible Subjektfunktion, ohne Kriterien des Richtigen, die auch dem Rückschlag des Todesbewusstseins auf das Leben konkretere Bestimmtheit verleihen würden, wie es einem Vorlaufen in den Tod etwa im Horizont religiöser Vorstellungen wie bei Kierkegaard entspricht. Wesentlich bleibt der Nachdruck auf der ungeschützten Begegnung mit dem Ende, das den Menschen in seinem innersten Sein angeht. Es ist der unvertretbare Einzelne, der seinem Tod ins Auge zu schauen und sich mit seinem singulären, unersetzbaren Leben und dessen Ende auseinanderzusetzen hat. Auch unabhängig von existenzphilosophischen Prämissen ist die Konfrontation mit dem Ende in ihrer Bedeutung für das Leben und das Selbstverständnis des Menschen diskutiert worden. Sie führt nicht nur zum Bewusstsein der radikalen Bedrohtheit der endlichen Existenz, in die bodenlose Angst vor dem Nichtsein. Sie wird ebenso zum Impuls des Zu-sich-Kommens und Sich-neu-Verortens in seinem Leben. Indem sie den Menschen aus dem Lauf seiner Gewohnheiten herausreißt, drängt sie ihm die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Welt auf. Die in sein Leben einbrechende Gewissheit vom baldigen Sterben nötigt den Menschen, das Wozu seines Tuns und Wollens, den Wert und Unwert seines bisherigen wie des noch ausstehenden Lebens zu hinterfragen. Es ist wie eine Schwelle, an der die Sinnhaftigkeit der Existenz, die Grundsätze, die uns leiten, und die Inhalte, die uns beschäftigen, prinzipiell in Frage stehen und neu geprüft werden. Vielleicht erleichtert die kurze, drängende Frist wichtige Entscheidungen, vielleicht erschwert sie sie, vielleicht verhilft sie uns dazu, uns für den Abschied vom Leben und von der Welt zu öffnen, vielleicht bedrückt und lähmt sie uns. Auf jeden Fall schafft sie eine Situation, in welcher die konstitutive Selbstbezüglichkeit des menschlichen Daseins, die Verständigung über das, was dem Menschen wichtig ist und worum es ihm in seinem Leben geht, unausweichlich zum Thema wird. Wer nur noch kurze Zeit zu 34

Ebd., S.  251.

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leben hat, kann der Frage, wozu er lebt und was das Leben und die Welt ihm bedeuten, nur schwerlich ausweichen. Die Virulenz der Sinnfrage angesichts des Todes ist keine erbauliche Zusatzdimension, sondern ein Wesensmoment und ein Stachel des Seins zum Tode.

14.5  Ganzheit und Selbstgegenwart Wenn in Heideggers Konzept der Eigentlichkeit die ethische Unterbestimmtheit moniert wird, so gewinnt seine Zeichnung des Vorlaufens zum Tode nach anderer Hinsicht bestimmtere Konturen. Sie liegen im Bezug zur Ganzheit des Lebens. Das offene, ungedeckte Sich-Verhalten zum Nicht-mehr-sein-Können hat sein positives Pendant im Ausgriff auf die Selbstgegenwart des Menschen im Ganzen seines Lebens. Allerdings besteht zwischen diesem Ausgriff und der Sterblichkeit eine eigentümliche Spannung. Die Aussicht auf den nahenden Tod ist ja nicht nur mit einer Verknappung der verbleibenden Zeit verbunden, sondern scheint einem grundsätzlichen Verlangen des Lebens zuwiderzulaufen: dem Wunsch, in der Vollendung seines Lebenslaufs zur Erfüllung und Ganzheit seines Lebens zu gelangen. Solche Ganzheit aber ist, streng genommen, erst mit dem Ende erreicht; solange wir unterwegs sind, ist unser Sein immer unvollendet, bleibt vieles in unseren Projekten unrealisiert, vieles in unseren Wünschen unerfüllt. In diesem Sinne meinte Aristoteles, dass wir von einem Menschen erst nach dem Tode wirklich sagen können, ob er glücklich war, da wir davor nie sicher sein können, ob nicht ein letztes Unglück auf sein Leben zurückschlägt und diesem eine andere, unheilvolle Prägung gibt.35 Auf das wirkliche Ende zu warten aber würde bedeuten, das Leben von einem Standpunkt aus zu fassen, in dem es zugleich zunichte wird. Vollendet, ganz geworden ist das Leben, wenn es nicht mehr ist. Zur Seinsform des menschlichen Daseins, so Heidegger, gehört seine wesensmäßige »Unganzheit«, ein nie eingeholter »Ausstand«36, welcher Teil der Dynamik ist, ohne die das Leben nicht lebendig ist; nur ein mechanisch-gegenständlicher, nicht-lebendiger Prozess kann als abgeschlossener ganz und mit sich identisch sein. Indessen liegt die Pointe der Heideggerschen Figur eben darin, dieses Sich-Voraussein Nikomachische Ethik I.11. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.  242.

35 Aristoteles, 36

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des Lebens, auch als Vorlaufen zu seinem Ende, als die konkrete Art und Weise zu denken, wie menschliches Leben sich zu seiner Ganzheit verhält, wie es selbst »als Dasein ganz sein kann«.37 Das endliche, sterbliche Leben als Ganzes zu erfassen heißt, es in dieser spannungsvollen Gerichtetheit zu seinem Ende hin, von seinem Ende her zu begreifen. Konkret artikuliert sich das Bedürfnis, in seinem Leben mit sich eins zu werden, in Formen der bewussten Vergegenwärtigung seines Lebens. Sich an vergangene Taten und Erlebnisse zu erinnern, Zukunftsprojekte und Erwartungen auszubreiten sind Modi, das eigene Leben vor sich zu bringen und es als Teil seiner selbst anzueignen. Der privilegierte Modus solcher Selbstvergegenwärtigung ist die erinnernde Erzählung. Sein vergangenes Leben mündlich oder schriftlich festzuhalten ist eine Urform, gegen das Verschwinden und Vergessen Widerstand zu leisten. Dieses Streben kann über die eigene Lebenszeit hinausgreifen. Es kann ihm darum gehen, Bilder und Spuren des Lebens in eine Zeit hinein zu retten, in der man selber nicht mehr sein wird. Das Bewusstsein der schwindenden Lebenszeit setzt sich in das Bewusstsein hinein fort, dass so vieles von dem, was unser Leben ausgemacht hat, was wir gewünscht, getan, in unserer Welt bewirkt und hinterlassen haben, schon bald nach unserem Sterben mehr oder weniger vergessen und ausgelöscht sein wird, und es ist eine naheliegende Sehnsucht, auch diesem nachträglichen Erlöschen in irgendeiner Weise widerstehen, in Zeugnissen und Spuren überleben zu können. Davor aber gilt der Widerstand dem Sichentgleiten im Binnenraum des Lebens, zielt der ursprüngliche Wunsch darauf, seinen Lebenslauf im Erreichen der abschließenden Lebensgestalt zu vollenden und darin zu sich selbst zu kommen. In einer besonderen Gestalt kommt die Paradoxie des Versuchs, sein Leben im Ganzen einzuholen, in jenen autobiographischen Lebensberichten zum Tragen, die sich bemühen, das eigene Leben bis zum Schluss, bis zum letzten Tag zur Sprache zu bringen. Sie verkörpern gewissermaßen den widersprüchlichen Versuch, vom eigenen Sterben zu berichten, das eigene Lebensende zu erzählen. Wenn sich die narrative Konstruktion ihrem Grundzug nach als retrospektiver Vorgriff, als teleologische Erzählung vom Ende her entfaltet38, so 37

Ebd., S.  259. Vgl. Arthur C. Danto, Analytical Philosophy of History, Cambridge: Cambridge University Press 1968, Chap. VIII. 38

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ist damit die Unmöglichkeit einer integralen Erzählung vom Ende seiner selber statuiert. Dieses müsste gleichsam nachträglich, aus einer rückblickenden Synthese beschrieben werden, die aber notwendig ortlos bleibt. Wir können (bis zu einem bestimmten Punkt) das eigene Leben, doch nicht das eigene Sterben erzählen; Berichte vom Sterben und Tod sind typischerweise Beschreibungen aus der Außen­perspektive, Erzählungen vom Tod anderer. Die genannte Text­sorte der autobiographischen Auseinandersetzungen mit Krebs oder Aids stellt sich dieser Herausforderung und sucht den Mündungspunkt der Lebensnarration zuweilen ins Äußerste zu schieben und dem »Sterben ein Werk abzutrotzen«39; wie staunend stellt ­Harold Brodkey fest, dass er »immer noch« schreibt und in seinen Tagebuchaufzeichnungen den eigenen »Übergang in die Nicht­exis­ tenz« verfolgt.40 Es sind Texte, welche die Aporie der selbstbezüglichen Ganzheitserfassung exemplarisch vor Augen stellen und zugleich mit dieser Spannung umgehen, gleichsam über ihren Widerspruch hinauskommen und eine bestimmte Weise praktizieren, wie Menschen in gesteigerter Wachheit und aktiver Selbstbeschreibung ihr Sein zum Tode vollziehen. Doch nicht nur in der Erschütterung durch eine lebensbedrohliche Krankheit, auch in ›normalen‹ Formen der Lebensbesinnung manifestiert sich im Anblick des nahenden Endes das Bedürfnis, vom Ganzen seines Daseins Rechenschaft abzulegen und sich im Ganzen seines Lebens zu finden. Den integrativen Lebensbogen aufzuspannen ist wie eine Idealvorstellung des Lebenslaufs, die auch ermöglicht, sein Leben hinter sich zu lassen, es auf Anderes hin zu öffnen. Dabei bedeutet die Ausrichtung auf Ganzheit nicht das sinnlose Absehen auf materiale Vollständigkeit. Vielmehr zielt sie darauf, dass ich mir im Ganzen dessen, worum es mir geht, was mir im Leben bedeutsam war und was die Eckpfeiler meines Tuns und Erlebens bildete, präsent werde. Und sie zielt in irgendeiner Weise 39 Ruth Schweikert (mit Bezug auf das Werk von Péter Esterházy), Tage wie Hunde, a. a. O., S.  140; vgl. Emil Angehrn, »Sich zu Ende erzählen? Möglichkeiten und Grenzen einer erzählerischen Annäherung an das eigene Lebens­ ende«, in: Simon Peng-Keller / Andreas Mauz (Hg.), Sterbenarrative. Her­ meneutische Erkundungen des Erzählens am und vom Lebensende, Berlin  / Boston: De Gruyter 2018, S.  61–78; E. Angehrn, Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung, Frankfurt am Main: Klostermann 2017, S.  123–130; siehe oben 12.1. 40 Harold Brodkey, Die Geschichte meines Todes, a. a. O., S.  181.

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darauf, dass mir dieses Ganze fassbar werde, idealiter in einer überschaubaren, sinnhaft lesbaren Gestalt. Solche Form- und Ganzheitsbildung, die dem Erkennen und Verstehen zugrunde liegt, bildet ein Regulativ lebensweltlicher Selbstwahrnehmung und biographischer Reminiszenz. Es ist eine Formbildung, der eine gewisse Spannung zwischen der Adäquatheit der Einzelfakten und der Stimmigkeit des Ganzen innewohnt. Die Orientierung am Zusammenhang und an der Kohärenz des Ganzen steht nicht nur für ein intrinsisch-theoretisches oder ästhetisches Interesse, sondern zugleich im Dienste der subjektiven Geschichtsaneignung. Wir verlangen danach, in unserem Lebensvollzug bei uns und für uns zu sein, uns in dem zu finden, was wir geworden sind, was wir geschaffen, aber auch unterlassen haben, zusammen zu bleiben mit dem, was zu uns gehört.41 Es ist ein Bedürfnis, das sich in der Prospektive wie der Retrospektive, im Erinnern wie im Sich-Öffnen auf das Kommende konkretisieren und angesichts des nahenden Endes besondere Dringlichkeit gewinnen kann. Dabei können die temporalen Ekstasen ins Vergangene und ins Kommende ineinander greifen und sich wechselseitig verstärken. Gerade der Ausblick auf das Ende kann den Wert der verfließenden Lebenszeit intensivieren und die Motivation verstärken, Gewesenes festzuhalten und neu zu gestalten. Wenn das Leben zu Ende geht, verspüren wir umso mehr das Bedürfnis, das Leben im Ganzen, auch das vergangene Leben und seine nicht-verwirklichten Potentiale lebendig zu halten, das ungelebte Leben zu erwecken, es nachholend auszubreiten. In alledem bleiben Ganzheit und Gegenwärtigkeit eher ideelle Fluchtpunkte als eingeholte, realisierte Ziele. Wir sind in unserem Leben nie schlechthin bei uns, wir sind uns nie restlos gegeben und offenbar. Auch die versammelnde Bilanzierung des Vergangenen ist je nur tentativ und partiell, nie vollständig durchgeführt. Gerade vor diesem Hintergrund zeigt sich die Pointe der von Heidegger skizzierten Figur eines Vorlaufens zum Tode, die einen Weg benennt, wie wir uns im vergehenden Leben gleichwohl auf das Lebensganze beziehen, uns vom Ganzen her gegenwärtig werden können. Wie nach Jean Améry erst der alternde Mensch den Prozess des Altwerdens und unerbittlichen Zu-Ende-Gehens realisiert42, so offenbart sich dem Sterbenden das Leben als dasjenige, um das es ihm in sei41 42

Walther Matthias Diggelmann, Schatten, a. a. O., S.  120 f. Jean Améry, Über das Altern, a. a. O., S.  28; vgl. oben 8.2.

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nem Leben geht. Im Angesicht des Todes können wir nicht anders als zum Ganzen unseres Lebens Stellung beziehen, zu unserem eigens­ten, einzigen, unersetzbaren Leben, das nicht eine Variante und eine Möglichkeit, sondern der Ernstfall – das Leben, für das es, wie für den Tod, keine Generalprobe gibt43 – ist.

14.6  Gutes Sterben Das positive Komplementärbild zur Erfahrung der schwindenden Zeit und der ängstigenden Todesnähe sind Figuren des guten Sterbens. Es sind Bilder, in denen die verschiedenen Verlusterfahrungen – Verlust der Zeit und Lebensressourcen, des Lebenssinns, der sozialen Teilhabe, des Selbst – in gewisser Weise in Formen eines befriedeten Zu-Ende-Gehens und Hinübergehens aufgehoben werden. Es ist ein tiefer, menschlicher Wunsch, den wir für uns hegen und anderen mitgeben, einen »guten Tod« zu haben.44 Es ist die Vorstellung eines authentischen, gelingenden Zu-Ende-Gehens, eines zufriedenen, versöhnten Sterbens jenseits von Angst und Verzweiflung, von Aufruhr und Leiden. Es ist das Bild eines friedlichen, sanften Todes, das uns im Anblick des nahenden Endes als Ideal- und Wunschbild vor Augen stehen kann – aber auch angesichts politischer Gewalt, sozialen Elends oder individueller Krankheit vielen als leere Utopie, ja, zynischer Hohn vorkommen mag. Gut zu sterben ist wie der erfüllende Abschluss eines guten Lebens. Das gelingende Leben, Chiffre des Glücks in der antiken Ethik, umgreift das Ganze des Daseins bis zu seiner Vollendung und zu seinem Ende. Das gute Sterben, das dem Gewahrwerden des bevorstehenden Todes folgt und in das Sich-Schließen des Lebens mündet, kristallisiert sich in verschiedenen Erlebens- und Vollzugsformen – in Haltungen der Gelassenheit und inneren Freiheit, in Akten des Abschließens, Loslassens und Abschiednehmens, in Dispositionen des Vertrauens, der Hingabe und des Aufgehens in Anderem.

43 Danielle Quinodoz, Vieillir: une découverte, a. a. O., S.  264; vgl. Søren Kierkegaard, Journal JJ 167, in: Deutsche Søren Kierkegaard Edition, Bd. 2, Berlin / New York: Walter de Gruyter 2008, S.  200. 44 Vgl. Otfried Höffe, Die hohe Kunst des Alterns, a. a. O., S.  140.

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(a) Gelassenheit Gleichmut und Gelassenheit sind die klassische Gegenfolie zur einengenden, lähmenden Todesfurcht. Sie stehen in der stoisch-epikureischen Tradition für ein innerlich befreites Verhältnis zur Endlichkeit des Lebens. Sie definieren nicht nur eine bestimmte Haltung zum Nicht-mehr-Sein, sondern zuvor einen bestimmten Umgang mit der Furcht, namentlich der Todesfurcht, die vielfach selbst ein zu fürchtendes und zu bewältigendes Übel, ein akutes Problem der Lebensführung ist.45 »Den Tod ohne Furcht und mit Gelassenheit zu erwarten«, gilt dem Stoiker Gaius Musonius Rufus als exemplarische Befreiung von den die Menschen quälenden, in Wahrheit nur scheinbaren Übeln, die den Weg zum naturgemäßen, glücklichen Leben im Alter versperren.46 Auch moderne Konzepte und literarische Zeugnisse entfalten Bilder vom ruhigen Sterben des mit sich in Einklang kommenden Menschen. Theodor Fontane hat in der Figur des alten Stechlin, welcher fühlt, »dass es zu Ende gehe«, und sich in der Freude, »alle Furcht überwunden zu haben«, ruhig in den Vollzug des »ewig Gesetzlichen« schickt, ein Idealbild solchen Abschiednehmens vom Leben gezeichnet.47 Auch für Franz Kafka hat der Tod, so Ulrich Stadler, »nichts Schreckenerregendes«; namentlich im Blick auf die eigenen Werke, die ihm gelungen schienen, habe er »gefasst, ja, mit einem Gefühl der Befriedigung« an seinen Tod gedacht, verbunden mit der Überzeugung, dass sein Werk ein längeres Leben als er selbst haben werde.48 Im Tagebuch äußert Kafka selbst die Zuversicht, dereinst »auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können«, und meint gar, dass das Beste, was er je geschrieben habe, »in dieser Fähigkeit zufrieden sterben zu können, seinen Grund« habe.49 Ganz generell hat sich, nicht zuletzt aufgrund der neueren Sterbe­ forschung, die Überzeugung verbreitet, dass Gelassenheit für die 45 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, Brief 18; vgl. Christine Walde, »Selbstbildnis des Philosophen als eines alten Mannes«, a. a. O., S.  159. 46 Gaius Musonius Rufus, »Was die beste Wegzehrung des Alters ist«, in: Thomas Rentsch / Morris Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter, a. a. O., S.  56–60, hier S.  59. 47 Theodor Fontane, Der Stechlin, in: ders., Werke, Berlin  /  Weimar: Aufbau 5 1979, S.  400. 48 Ulrich Stadler, Kafkas Poetik (Edition Voldemeer Zürich), Berlin  /  Boston: Walter de Gruyter 2019, S.  306, 314 f. 49 Ebd. S.  307 f.; Franz Kafka, Tagebücher, a. a. O., S.  708.

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meisten Sterbenden die letzte Phase des Sterbevorgangs kennzeichnet. Die Sterbeforschung hat typische Stadien des zu Ende gehenden Lebens analysiert und als ihren Mündungspunkt, nach den Phasen der Verleugnung, Auflehnung und Depression, ein Stadium der Zustimmung ausgemacht, in welchem die meisten Sterbenden zu einer harmonischen Einwilligung in das Ende ihres Lebens finden und friedlich sterben können.50 Die Überwindung der Rebellion gegen das Unausweichliche erlaubt dem Individuum, über die ursprüngliche Angst vor dem Nichts hinauszukommen, und konvergiert in ihrem Effekt mit der antiken Seelenruhe, doch ohne auf deren ratio­ nalistische Prämissen zu rekurrieren. Nicht primär eine vernünftige Einsicht, sondern ein richtiger Umgang mit seinen Affekten erlaubt es dem Individuum, mit seiner Ungesichertheit, dem Los der Sterblichen und der Übermacht des Schicksals zurechtzukommen und darin in Übereinstimmung mit sich und der Welt zu leben und zu sterben. (b) Loslassen Einen Schritt weiter geht jene Einstellung, die im expliziten Loslassen, im Loskommen von seinen Alltagsgeschäften und Besorgnissen, von seinen Plänen, Sorgen und Lasten, letztlich von sich selbst gründet. Es ist eine Vertiefung jener inneren Freiheit, deren nach Seneca das menschengerechte Altern bedarf, fern der Rastlosigkeit jener occupati, die in der Hast ihrer Vielbeschäftigung das Leben verfehlen.51 In radikalerer Form steht nicht mehr das Zusichkommen und In-sich-zur-Ruhe-Kommen im Vordergrund, sondern das Von-sich-Freiwerden, das Lockern der Fixierung auf das irreduzible Ich als bleibendem Referenzpunkt des Lebens, eine Selbstdistanzierung, in welcher die von Marquard empfohlene Distanzierung vom 50 Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Gütersloh: Verlagshaus Gerd Mohn 1971; Raymond A. Moody, Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärlichen Erfahrung, Reinbek: Rowohlt 342002. – ­Gegen das verbreitete Stadienmodell der Nahtoderfahrung meldet Simon Peng-Keller aus Sicht der empirischen Forschung Vorbehalte an; Nahtod­ erfahrungen sind danach nicht nur häufiger als zumeist angenommen, sondern weisen auch eine größere »formale und inhaltliche Vielfalt« auf (Sinn­ ereignisse in Todesnähe, a. a. O., S.  36). 51 Siehe oben 7, 9.1.

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Leistungszwang im Alter zum Loslassen vom Selbst vertieft wird.52 Im Blick ist eine Selbstzurücknahme des Subjekts, wie sie Ernst Tugendhat unter dem Titel der Mystik in Opposition zur Egozentrik des tätigen Menschen beschrieben hat53 und wie sie je nachdem eine Facette oder ein Vorstadium des Aufgehens in einem größeren Ganzen meint. Es ist eine Verhaltens- und Erlebensweise, die in die Nähe buddhistischer Erlösungsvisionen rückt, welche eine Befreiung vom Ich beinhalten und in entsprechender Wahrnehmung durchaus im Erfahrungsraum des eigenen Sterbenmüssens auftauchen kann.54 Mit seiner Endlichkeit zurechtzukommen bedeutet einen Zugewinn an Freiheit, in gewisser Weise an Souveränität, der nicht in einer subjektiven Machtsteigerung gründet, sondern im Ablassen vom heroischen Gestus dessen, der dem Tode trotzig ins Auge schaut und sich selbstbewusst der Auseinandersetzung mit ihm stellt. Den Tod nicht zu fürchten, im Angesicht des Todes frei zu werden, heißt sich aus den Ketten zu lösen, die der blinde Lebenswille und die Selbstsorge dem Individuum anlegen und die uns an die Dinge, die Gesetze der Welt und die Menschen binden. Es heißt von den Prioritäten loskommen, die unser normales Leben regulieren, vom Streben nach Reichtum und Ruhm, von familiären Bindungen und gesellschaftlichen Pflichten, von herrschenden Meinungen, gesetzten Zielen und dominierenden Prinzipien, zuletzt von der Fixierung auf die eigene, begrenzte Lebenszeit. Solches Freiwerden verbindet sich mit Verzicht, mit dem Abschiednehmen von Orten, Dingen und Menschen, die uns wichtig waren. Es heißt Loslassen ohne Angst, den Rückhalt in der vertrauten Umwelt zu verlieren.55 Der Gewinn solchen Freiwerdens ist die Ruhe und Gelassenheit, in welcher der Mensch nicht mehr von seinen Sorgen und seinem Begehren umgetrieben ist und in der er zugleich fähig wird, ohne Furcht und Bedrückung, idealiter in Würde und Heiterkeit dem Ende seines Lebens entgegenzugehen.56 52 Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches, a. a. O., S.  15; siehe oben S.  9.3 (b). 53 Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, a. a. O., siehe oben 13.4; vgl. Byung-Chul Han, Tod und Alterität, Wien: Fink 2002, S.  8. 54 In literarischer Form ist diese Verknüpfung im Roman von Irving David Yalom thematisch: Die Schopenhauer-Kur, München: Goldmann 2005. 55 Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang, a. a. O., S.  370. 56 Würde, Autonomie und Heiterkeit bilden nach Mira Menzfeld drei regulative Ideen für das gute Sterben, die je nachdem alternieren oder in

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(c) Abschied Das Loslassenkönnen vollendet sich im Abschiednehmen. Es ist eine Gegenbewegung zum Festhalten, das dem erinnernden Ganzseinkönnen innewohnte. Abschied nehmen zu können ist eine Auszeichnung der menschlichen Lebensform, die darin über die mit den Tieren geteilte Endlichkeit, das Los des Endens und Sterbenmüssens hinausgeht. Der Abschied markiert einen Zielpunkt der Kultur des Sterbenlernens; die ars moriendi steht im Dienste der Fähigkeit, »dereinst leichter Abschied von dieser Welt zu nehmen«.57 Für ­Michael Theunissen strahlt dieses Verhältnis zum Sterben auf das Leben im Ganzen aus, das als solches im Zeichen des Abschieds steht, grundlegend »abschiedlich« ist: »Menschlich leben wir dann und nur dann, wenn wir abschiedlich leben, und das heißt: wenn wir uns ständig von der Welt und von uns selbst abscheiden.«58 Ähnlich hat Rilke die Grundhaltung des menschlichen Lebens als Haltung »von einem, welcher fortgeht«, gezeichnet – »wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –, so leben wir und nehmen immer Abschied«.59 Abschied nehmen heißt zunächst, dass wir uns von anderen und von anderem trennen, uns von unserer Mitwelt und von unserer Umwelt zurückziehen, sie ›gehen lassen‹. Und es heißt zuletzt, uns von uns selbst, von unserem Leben und von der Zukunft, in die wir uns als Tätige immer hinein entwerfen, zu lösen. Unsere Welt wird uns zunehmend fremd, wie auch unser Leben, unsere einstigen Taten wie offenen Vorhaben von uns wegrücken, wir uns von ihnen zurückziehen. Solcher Abschied aber ist nicht nur ein Verlassen und Verlieren. Er ist nach Theunissen eine Bewegung des Lebens, in der dieses über sich selbst hinausgeht, nicht im Sinne einer vitalistischen Selbststeigerung auf ein Mehr-Leben hin, sondern als eine Selbsttranszendierung, in welcher das menschliche Leben sich auf ein Mehr-als-Leben, ein anderes Leben hin übersteigt. Nicht unmittelbar der Übergang in ein geistiges, jenseitiges Sein steht im Konkurrenz zu einander stehen können: Anthropology of Dying, a. a. O., S.  246 f. 57 Arthur E. Imhof, Ars moriendi, a. a. O., S.  39. 58 Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S.  213. 59 Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, in: Werke in drei Bänden, Band I, Frankfurt am Main: Insel 1966, S.  472.

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Blick, sondern zunächst die Ermöglichung eines wahrhaft menschlichen Lebens, wie es in Vorwegnahme des letzten Abschieds, als abschiedliches geführt wird. Die Einübung in das Sterben wird zu einer Initiation, welche den Tod im Leben anwesend sein, das Leben im Lichte des Todes führen lässt. Der Ausblick auf das Ende verschränkt sich mit dem Ausgriff auf die innere Vollendung eines Lebens, welches die Sterblichkeit in sich aufgenommen hat, sich vom Ende her versteht. Der Abschied vom Leben vollzieht sich, wie die Abschiede im Leben, in einer eigenen, teils eigentümlich gemischten Befindlichkeit.60 Auch wenn das Ausscheiden aus dem Leben im Zeichen der versöhnten Einwilligung, des ruhigen Weggangs stehen kann, ist sein erstes, nächstliegendes Empfinden das Gefühl von Trauer und Schmerz. Abschiednehmen heißt etwas aufgeben oder verlassen, das zu uns gehörte, das uns wichtig war, das unser Leben erfüllte, das wir selbst waren. Sich davon zu trennen heißt etwas verlieren, eines Teils unserer selbst verlustig gehen. Bekannt ist der Affekt der Trauer zunächst und vor allem in der Trauer um andere, aus dem einfachen Grund, dass wir hier den Tod als eingetretenen, den Verlust als Tatsache erfahren. Mit Bezug auf das noch ausstehende, eigene Sterben scheint demgegenüber der spontane Affekt eher derjenige der Angst zu sein, der Sorge um das Leiden und die Vereinsamung, der Furcht vor dem Ende, vielleicht auch des Schreckens vor dem Nichts. Indessen lässt sich durchaus ein Analogon der Trauer, eine Form des Trauerns um das schwindende, dem Untergang geweihte Leben, ein antizipierter Schmerz des Vergehens ausmachen. Die unerbittliche ärztliche Prognose des schwierigen Todes macht Harold Brodkey »wahnsinnig vor Trauer um mich selbst«.61 Wie die vergangenheitsbezogene Trauerarbeit dazu verhelfen kann, mit dem erlittenen Verlust vertrauter Menschen umzugehen, so unterstützt uns das Sterbenlernen darin, die Trauer um das künftige Vergehen unseres Lebens zu akzeptieren und zu bewältigen. Zu bewältigen ist der Verlustschmerz um das kommende wie um das gegenwärtige und das vergangene Leben. Die Trauer um das unwiederbringlich Vergangene ist eine Trauer um das Entschwundensein der Welt, aus 60 Schon Platon berichtet vom »befremdlichen Zustand« und der »ungewohnten Mischung« der Affekte unter den Anwesenden bei Sokrates’ letztem Gespräch vor seinem Tode: Phaidon 59 a. 61 Harold Brodkey, Die Geschichte meines Todes, a. a. O., S.  87.

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der wir kamen, eine Trauer um das gelebte, aber auch das ungelebte Leben, die unerfüllten Wünsche, die nicht realisierten Projekte und unterlassenen Antworten. Es ist auch die Trauer um das Schwinden der Erinnerungen, das Ortloswerden der Bilder der Kindheit, die wir mit immer weniger Menschen, zuletzt mit niemandem mehr teilen und die sich nach unserem Ableben haltlos verflüchtigen werden. Es ist die Trauer um all das Schöne, das wir vielleicht zum letzten Mal erleben und das uns künftig verschlossen sein wird, um die gegebenen und empfangenen Zeichen der Freundschaft und Zuneigung, das uns noch geschenkte Leben, dessen Frist abläuft. Von all dem Abschied zu nehmen ist ein überaus schmerzliches Erlebnis, und keine Beschwichtigung, keine Rationalisierung kann über den tiefen Verlust, in dem die Welt uns verloren geht und wir selbst uns abhanden kommen, hinwegtrösten oder hinwegtäuschen. Dennoch steht auch dieses Erleben im Horizont anderer Haltungen und Befindlichkeiten, die sich der zuvor genannten Gelassenheit annähern. Es kann ein beruhigter Abschied sein, der den unausweichlichen Verlust nicht nur stoisch erträgt, sondern sich mit dem Zu-Ende-Gehen und Entschwinden versöhnt. Ob der einzelne angesichts des Endes zur harmonischen Einwilligung, ja, zur heiteren Offenheit gelangt, ist keine Sache des Arguments, sondern der eigenen und der mit anderen geteilten Lebensform – und selbstredend in hohem Maße von äußeren Umständen, der körperlich-seelischen Verfassung wie den sozialen und historischen Lebensbedingungen abhängig. Wie man niemanden diskursiv von der Verfehlung seines Lebens überzeugen und ihm das wahre Glück aufnötigen kann, so bleibt der Umgang mit Sterben und Tod zuletzt dem Erleben und Vermögen des Einzelnen anheimgegeben. Bei alledem gehört es zu den Bildern des ›guten Sterbens‹, dass der versöhnte Abschied auf die späte Lebensphase zurückstrahlen, das letzte Erleben in sein Licht und seinen Resonanzraum aufnehmen kann. Das ›abschied­liche‹ Erleben, wenn eine Reise ein letztes Mal unternommen, ein Musikstück noch einmal gehört, die aufgehende Sonne über dem Meer noch einmal erwartet wird, kann selbst im Zeichen des versöhnten Zum-Ende-Kommens stehen. Es nähert sich der Voll­endung an, die im Ausgriff des Seins zum Tode auf die Lebensganzheit in den Blick kam, die hier aber nicht in einem temporalen Ausgriff, sondern in der inneren Erfüllung, dem Zusichkommen des Lebens liegt.

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(d) Übergang Die negative Figur des Loslassens hat ihr positives Pendant nicht nur im versöhnten Abschied. In profilierten Konzepten findet sie ihre bestimmtere Gegenseite im Übergang: im Übergehen in Anderes, im Aufgehen in einem Anderen, Umfassenderen. Abschiednehmen bedeutet oftmals auf eine Reise gehen, Neues kennenlernen, Neues anfangen; auf jeder Lebensstufe, so heißt es in Hermann Hesses Gedicht, soll der Mensch »bereit zum Abschied sein und Neubeginne«, in den uns »vielleicht auch noch die Todesstunde« entlassen wird.62 Den Tod als Übergang zu verstehen, als Wanderung in ein anderes Land, als Übergang in eine andere Seinssphäre, ist eine weit verbreitete Chiffre vom Lebensende in den Mythen und Denkformen der Völker; kulturgeschichtlich erst spät ist der Gedanke vom unwiederbringlichen Ende der Existenz entstanden.63 Der Übergang wird zum Teil in der Sterbensphase selbst erlebt, in Veränderungen und Grenzüberschreitungen, wie sie in Nahtoderlebnissen begegnen, die sich in der liminalen Sphäre zwischen Leben und Tod aufhalten, doch die letzte Schwelle nicht überschreiten, sondern aus der Grenzzone zurückkehren64, zum Teil als Übergang aus dem Leben in das Jenseits antizipierend wahrgenommen. Nach seiner negativen Seite bedeutet der Übergang eine Befreiung aus Leiden und Bedrängnis, aus der Not des endlichen Lebens. Nach seiner positiven Seite vollendet sich das Abschiednehmen typischerweise in der Partizipation an einem Höheren und Umgreifenden, in der Transzendierung des Selbst und des individuellen Lebens, seinem Eingehen in ein anderes Leben. Diese Übersteigung wird in Religionen, Philosophien und Lebenspraktiken in unterschiedlicher Weise, als Aufgehen in verschiedenen Seinssphären gefasst. Schematisch können wir drei Versionen des Übergangs auseinanderhalten: als Aufgehobensein im Sein jenseits des individuellen Selbst, als Zurückgehen in das Reich der Natur, als Teilhabe an der Gemeinsamkeit des mitmenschlichen Lebens. Der erste Typus kommt mit der von Tugendhat fokussierten Polarität von Egozentrität und Mystik in den Blick. Die radikalste Form Hermann Hesse, Stufen, in: Lebensstufen, a. a. O. Anton Hügli, »Tod«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel: Schwabe 1998, Sp. 1227–1242, hier Sp. 1227 f. 64 Simon Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe, a. a. O., S.  99 f. 62 63

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des Loslassens ist nicht das Ablassen von diesem und jenem, von bestimmten Interessen, Inhalten und Zwecken, sondern das Abstandnehmen vom singulären Ich als Subjekt allen Strebens und Wollens – bis hin zur Auflösung des individuellen Selbst, zur Vision, nichts mehr zu sein, niemand mehr zu sein.65 Indes bedeutet die Dezentrierung des Weltverhältnisses nicht nur ein In-die-Schwebe-Kommen des festen Subjektbezugs. Mit der Entindividualisierung kann eine Partizipation an der umfassenden Wirklichkeit einhergehen, ein Zurückgehen – oder Hinausgehen – in das vor- und überindividuelle Sein, das uns hält und von dem wir ein Teil sind. Was in mystischen Visionen vom All-Einen als ein Jenseits der alltäglichen Welt mit ihren vielfältigen Unterscheidungen und Trennungen erscheint, nähert sich, gerade in Bezug auf die menschliche Todeserfahrung, Tran­szen­ denz­formen der religiös-metaphysischen Tradition an. Für diese bedeutet Sterben, das irdische Dasein zu verlassen und seine wahre Heimat jenseits der Mängel und Verwirrungen des Lebens, jenseits der menschlichen Entzweiungen und Leiden, im Anderen der Zeit zu finden. Es ist ein Sieg über den Tod, wie er in Bildern der Auf­ erstehung gefeiert wird, eine Überwindung der Sterblichkeit, wie sie Peter Noll im triumphalen »Resurrexit« in Bachs h-moll-Messe vernimmt, die er für seine Beerdigung bestimmt hat und deren Musik für ihn wie eine Stütze ist, das Sterben und den Tod nicht zu fürchten.66 Es ist eine andere Form der Überwindung der Todesfurcht, die hier stattfindet und die mit der Intuition eines Weitergehens und Übergehens in ein Anderes verbunden ist. Es ist zugleich ein Sterben jenseits der finalen Vereinsamung, die der existentenzphilosophischen Unvertretbarkeit des Sterbenden anhaften kann, ein Sichzurückziehen und Entschwinden im Bewusstsein des Aufgehobenseins, des Gehaltenseins in seinem letzten Gang. Seine emphatische affirmative Ausprägung findet dieses Bewusstsein in der christlichen Heils­ gewissheit, die den Abgrund der Todeserfahrung im Innersten mit der Gewissheit der Rettung, den Verlust des irdischen Lebens mit dem Gewinn eines anderen, neuen Lebens verknüpft. Eine zweite idealtypische Version der positiven Überformung des Loslassens durch das Eingehen in ein Anderes wird im Verhältnis zur Natur formuliert. Es ist eine naheliegende Vorstellung, bildet doch der Naturprozess von jeher ein Urmodell des Wechselspiels von 65 66

Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang, a. a. O., S.  405. Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  58.

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Entstehen und Vergehen, damit auch der Integration des Vergehens in ein Weitergehen und Neuentstehen, der Aufnahme des Sterbens in die Erneuerung des umfassenden Lebensprozesses. Die Idee eines Kreislaufs des Lebens ist seit den ältesten Philosophen thematisch, die einen Urgrund – im Wasser, im Grenzenlosen, im Urstoff – statuieren, aus welchem alles hervorgeht und in den alles wieder eingeht. Es ist die Idee eines ewigen Grundes, aus dem das Einzelne geboren wird, von dem es lebt und in dessen Einheit es am Ende zurückkehrt, um neue Lebewesen hervorgehen zu lassen. Arthur Schopenhauer hat die Figur mit der buddhistischen Dualität von Einzelnem und Ganzem wie mit der metaphysischen Ebenendifferenz von Wesen und Erscheinung verknüpft und den Sterbensprozess des Individuums als einen gefasst, in welchem »zwar das Bewusstsein verloren [geht], nicht aber das, was das Bewusstsein hervorbrachte und erhielt«, nämlich das »Prinzip des Lebens, welches in ihm sich manifestierte«, so dass jedem ein untrügliches Gefühl innewohnt, »dass in ihm etwas schlechthin Unvergängliches und Unzerstörbares sei«.67 Hier ist es nicht in erster Linie eine Auflösung des distinkten Selbst in einem entdifferenzierten Ganzen, sondern die Partizipation an einem Prozess alles Lebendigen, der dem Subjekt als Eigenstes innewohnt. Je nach eigener Erfahrung und kultureller Prägung liegt das Bild solcher Transzendenz den Menschen näher als die mystische All-Einheit oder das religiöse Heil, um sie angesichts des nahenden Endes zu stützen und im Vollzug des Sterbens zu begleiten. Eine davon nochmals unterschiedene, dritte Vorstellung ist die Rückkehr des Sterbenden in die Gemeinschaft und das Aufgenommenwerden durch andere. Nicht das umfassende All-Eine, nicht die bergende Natur, sondern die soziale Zugehörigkeit bildet hier das positive Komplement zur Trennung und Abscheidung. Auch dies ist eine Intuition, die für viele Traditionen das Selbstverständlichste ist und den unbefragten Hintergrund des Sterbens als eines Zurückgehens zu den Ahnen, eines Wiederfindens der Verstorbenen, eines Aufgenommenwerdens durch seine Familie oder seine Stammesgemeinschaft bildet. Auch hier fügt sich der Abschied in eine zyklische Bewegung ein, schließt sich ein Kreis, der die Herkunft mit der Zukunft, das Geborenwerden mit dem Sterben verbindet. Beides 67 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Viertes Buch, Kapitel 41, in: Sämtliche Werke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, Bd.  II, S.  634.

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sind nicht bloße Extrempunkte, Initial- und Finalmarkierungen des Lebenslaufs, sondern je für sich in genuiner Form durch die fundamentale Sozialität des Menschseins gekennzeichnet. Eben darin verweisen sie auch aufeinander. Das Vergehen und Abschiednehmen ist nicht nur die äußerliche Gegenfigur zum Hervorgehen und Aufgenommenwerden im Kreis der Lebenden, sondern in gewisser Weise mit diesem verwandt, wie ein eigenes, neues Werden und Eintreten  – oder Zurückkommen – in die Gemeinschaft. Auch hier gilt: Wieweit eine solche Vorstellung dem Einzelnen auf seinem letzten Weg Halt und Geborgenheit vermitteln kann, hängt von den Praktiken und Überzeugungen ab, die sein Leben geprägt haben. (e) Vertrauen Zusammenfassend zeigen sich die Modalitäten des ›guten Sterbens‹, des Loslassens, Abschiednehmens und Übergehens, als verschiedene Weisen, die Furcht vor dem Tod zu bannen und das Sein zum Tode in einen gelingenden Lebensvollzug aufzunehmen. Sie verleihen dem Menschen, der den Tod auf sich zukommen sieht, Sicherheit und Gelassenheit, unter bestimmten Voraussetzungen auch Geborgenheit und Hoffnung, bewahren ihn vor Verlassenheit und Verzweiflung. Sie leisten, worauf die antike Seelenruhe angesichts des Todes hinauswollte, den Menschen frei von den Erschütterungen zu halten, die seiner Natur und der Sache nicht angemessen sind. Indessen stützen sie sich nicht notwendig auf dieselben rationalen Überzeugungen von der Nichtigkeit des Todes und auch nicht auf gleiche Leitbilder der Autarkie und inneren Unerschütterlichkeit, wie sie in stoischen Konzepten der Selbstherrschaft und des seelischen Gleichmuts hochgehalten werden. Sie können ihre Stärke anderen Grundhaltungen verdanken, Einstellungen des Glaubens und des Vertrauens, dem Glauben an das Heil und die gegebene Verheißung, dem Vertrauen auf andere Menschen, dem Sich-Verlassen auf ihren Beistand und ihren Trost. Georg Simmel beschreibt die eigentümliche Kraft des Tröstens, die nicht den erlittenen Verlust rückgängig zu machen, doch »sozusagen das Leiden am Leiden« zu mildern oder aufzuheben vermag.68 Das eigene Vermögen, mit dem 68 Georg Simmel, Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlass, München: Drei Masken Verlag 1923, S.  17.

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Ende zurechtzukommen und friedlich zu sterben, kann seine Kraft gleichzeitig aus der Gunst der Umstände und der entgegenkommenden Hilfe Anderer beziehen, im Vertrauen auf Andere gründen. Wie Vertrauen ein Wesenselement des humanen Lebens bildet69, so kann es zu einer Grundlage des guten Sterbens werden. Wenn die Bannung der Todesfurcht sich wie ein Leitfaden durch die Kulturgeschichte hindurchzieht, so nimmt sie bei verschiedenen Autoren, in verschiedenen Zeiten und Kulturräumen ganz unterschiedliche Gestalt an, wobei sich ihre Überzeugungskraft nur zum Teil intrinsisch-argumentativ erhärten lässt; ebensosehr zehrt sie von der sozialen und ideellen Einbettung und von der psychischen Stabilität und praktizierten Lebensform der Individuen. Sie ist Teil des Selbstbildes der Menschen und ihres Verständnisses vom Leben. Nur schwerlich lässt sich jemandem aus der Außenperspektive die Inkonsistenz erlebter Todesangst nachweisen oder umgekehrt die authentische Weise des Umgangs mit dem Sterben andemonstrieren. Den richtigen Weg zum Lebensende zu finden ist Teil der eigenen, selbstverantworteten Lebenskunst, nicht dem Arzt und Erzieher überantwortet. Im vertrauensvollen, selbstbestimmten Sterben kommt das mit sich einige Leben zum Abschluss. Der Tod ist nicht in die Hand des Sterbenden gelegt, weder im Zeitpunkt seines Eintretens noch in der Weise seines Erlebens und Erleidens. Doch ist er, wie das Leben selbst, von der Vorstellung des Gelingens, vom Wunsch eines guten Sterbens geleitet. Im positiven, begünstigten Fall kann dieses mit Vorstellungen des Glücklichseins im Sterben einhergehen, wie es Harold Brodkey mit dem Bild des strahlenden Lichts assoziiert und bis zur Hoffnung eines Genießens des eigenen Todes steigert, den er als Reise auf einem dahintreibenden Floß unter freiem Himmel, lachend und staunend, imaginiert.70 Doch auch diesseits solcher Übersteigerung bleibt der Wunsch eines sanften, beruhigten Hinüber­gehens eine weithin geteilte Leitidee des erfüllten Lebensendes.

69 Vgl. Emil Angehrn, »Grundvertrauen zwischen Metaphysik und Hermeneutik. Vom Seinsvertrauen zum Vertrauen in den Menschen«, in: Ingolf U. Dalferth / Simon Peng-Keller (Hg.), Grundvertrauen: Hermeneutik eines Grenzphänomens, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013, S.  161–185. 70 Harold Brodkey, Die Geschichte meines Todes, a. a. O., S.  34, 187 ff.

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(f)  Ästhetisierung des Sterbens? Nicht zu übersehen ist, dass Bilder vom guten Sterben wie die genannten dem Verdacht der Idealisierung ausgesetzt sind. Gerade lite­ rarische Schilderungen können die Frage aufdrängen, wieweit eine intern stimmige Darstellung zur ästhetisierenden Überhöhung eines zumeist doch ganz anders verlaufenden, schmerzlich-trostlosen oder gar verzweifelten Geschehens tendiert. Fontanes Beschreibung des ruhigen Lebensabschieds des alten Stechlin, Rilkes Bild des eigenen, das Leben abrundenden und das Wesen der Person zur Erscheinung bringenden Todes in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind Beispiele solcher Literarisierung, denen sich viele weitere zur Seite stellen ließen.71 Doch stehen neben ­ihnen nicht nur andere, welche die Begegnung mit dem eigenen wie dem fremden Tod in ihrer ganzen Härte und Unversöhntheit vor Augen stellen. Vor allem stehen sie in Spannung zur lebensweltlichen Erfahrung und historischen Realität, in welcher oft genug die schonungslose Negativität des Sterbens vorherrschend ist, sei es in der Sinn- und Ausweg­losigkeit des individuellen Schicksals, sei es im unerträglichen Leiden kollektiver Unrechts- und Gewalterfahrungen. Indessen ist trotz dieser Evidenzen auch an der gegenteiligen Einsicht festzuhalten, dass es vielfältige Konstellationen des versöhnten, guten Sterbens gibt. Erneut gilt, dass die Frage, welchen Tod die Menschen erleiden und welches Sterben uns selbst bevorsteht, nicht ­allein von der Stringenz und inneren Wahrheit der Todesbilder, sondern ebenso von unverfügbaren Rahmenbedingungen und persönlichen Dispositionen abhängt. Nun bleibt in alledem eine Dimension in der Sichtung der divergierenden Konzepte und Bilder vom Sterben nachzutragen: Es gilt, die idealtypische Selbstbezogenheit des Seins zum Ende aufzuheben und den tendenziellen Solipsismus der philosophischen Todes­reflexion durch die für das menschliche Leben wie Sterben gleichermaßen grundlegende soziale Dimension zu überwinden.

71

Helmuth Kiesel, »Sterben in der Schönen Literatur«, in: Thomas Fuchs u. a. (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, a. a. O., S.  202 f.

15. Der Tod und die Anderen 15.1  Der eigene und der fremde Tod Wir sind an früherer Stelle auf die Aporie einer phänomenologischen Darstellung des Todes gestoßen. Wenn diese als hermeneutische Besinnung auf eine Beschreibung aus der Perspektive des erlebenden Subjekts angewiesen ist, so scheint ein solcher Zugang für das Phänomen des Todes grundsätzlich in Frage gestellt. Im Sterben vollzieht sich der Übergang vom Erleben zum Geschehen. In einer genuin phänomenologischen Perspektive lässt sich zwar das vorausgreifende theoretische wie praktische ›Sein zum Tode‹ erschließen – das generelle Bewusstsein der Sterblichkeit wie das allmähliche oder plötzliche Gewahrwerden des nahenden Endes, auch das praktische Sich-Einstellen auf den Tod, das Sich-Einüben in das Sterben. Doch ist es ein Vorgriff, der den Sterbensprozess selbst immer nur partiell in den Blick zu bringen vermag, als ein Geschehen, das dem Subjekt zunächst zugänglich ist und von ihm erfahren und vollzogen wird, doch ihm am Ende erlebens- und handlungsmäßig entgleitet. Eine integrale Beschreibung verschiebt sich notwendig von der Innenzur Außenperspektive, ganz abgesehen davon, dass der Sterbende selbst nur in beschränktem Maße von seinem Erleben Rechenschaft ablegen, vom Zu-Ende-Gehen seines Lebens erzählen kann. Sterbeberichte sind, von den oben genannten Ausnahmen abgesehen, typischerweise nicht autobiographische Zeugnisse, sondern biographische Schilderungen durch andere. Wir sind der Frage nachgegangen, inwiefern gleichwohl eine genuin hermeneutische Betrachtung von Tod und Sterben, eine sinnhafte Erschließung des Lebensendes im Horizont des Lebens- und Selbstverständnisses des Individuums möglich ist. Dabei hat es sich als wesentlich erwiesen, von der formalen er-

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kenntnismäßigen Aporie zur inhaltlichen Frage nach dem, worum es in der Erfahrung des Todes geht, und gleichzeitig zur Verflechtung zwischen eigenem und fremdem Erleben, zwischen eigenem und fremdem Tod überzugehen. Dieser Schritt ist nun zu vertiefen, um zu verdeutlichen, inwiefern die Verschränkung zwischen Selbstbezug und Fremdverhältnis die Grundlage des Lebensvollzugs wie des Seins zum Tode bildet. Genauer ist es eine mehrfache Verflechtung, die hier im Spiel ist. Es ist neben der allgemeinen Verbindung zwischen Selbstsein und zwischenmenschlicher Existenz die zweifache darin eröffnete Perspektive auf Sterben und Tod, in der Erfahrung des fremden Todes ebenso wie im Verhältnis zum eigenen Sterben, in welchem ich nicht auf mich selbst abgeschlossen bin. Gegenüber der vorherrschenden selbstreferentiellen Analyse findet eine doppelte Akzentverlagerung statt. Der Tod des Anderen liegt der ursprünglichen, ersten Begegnung mit dem Sterben zugrunde, und er eröffnet eine Dimension, in die sich das eigene Sterben zuletzt einzeichnet. Wir haben in unserem Leben nicht nur mit dem eigenen Tod zu tun, und wir sterben nicht für uns allein.

15.2  Die Einsamkeit des Sterbens Den idealtypischen Ausgangspunkt bildet, ungeachtet dieser Verflechtung, das eigene Sterben, in welchem ich ganz für mich mit dem Lebensende konfrontiert, im Anblick des Todes auf mich zurückgeworfen bin. Es ist der strukturelle Grundzug, der in der phänomenologischen Beschreibung, so bei Heidegger, prominent hervortritt, die auf die individuelle Ich-Bezogenheit, die Je-Meinigkeit und Unvertretbarkeit meines Sterbens abhebt. Das Bewusstsein des kommenden, vielleicht nahe bevorstehenden Todes trifft mich in meiner irreduziblen Singularität. Die elementare, überwältigende Angst vor dem Tod ist eine, die mich angesichts der Tatsache ergreift, dass ich selbst sterben muss – nicht angesichts des Todes einer anderen Person oder aufgrund des allgemeinen Bewusstseins von der Sterblichkeit der Spezies und der Endlichkeit der vita humana. Es ist mein individuelles, eigenstes Leben, das seinem Ende entgegengeht, es ist die mir zugeteilte Lebenszeit, die schwindet, mein persönliches Sein, das zerbrechen, sich auflösen wird. Nichts gibt mir Halt beim Sturz ins Nichts. Keiner kann mir die Last abnehmen, mit dem Ende zurechtzukommen, mit niemandem kann ich das Hin-

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durchgehen durch die Zone des Todes teilen. Niemand kann mich vertreten in meiner abschließenden Selbstvergewisserung, in meinen letzten Entscheidungen, beim letzten Abschied. Das radikale Zurückgeworfensein auf mich, das mir im Anblick des Todes das Privileg ›eigentlichen‹ Existierens verleiht, ist zugleich Erfahrung des äußersten Ausgesetztseins, Anlass des Schreckens und der boden­ losen Angst. Im Sterben steht mir mein unersetzbares Sein, mein eigenster Tod vor Augen. Konkret erlebt wird die Je-Meinigkeit des Sterbens nicht nur als personale Unvertretbarkeit in einer existentiellen Grenzsituation, sondern als soziale Vereinzelung und Einsamkeit. Diese ist nach Peter Noll teils Resultat des eigenen Rückzugs – wie »das sterbende Tier, zum Beispiel der Elephant, sich ins Dickicht zurückzieht« und »allein sein will« – , teils Folge des Ausschlusses durch die Anderen.1 Für Norbert Elias gehört die »stillschweigende Aussonderung der Alternden und der Sterbenden aus der Gemeinschaft der Lebenden, das allmähliche Erkalten der Beziehung zu Menschen«, die den Sterbenden zuvor »Sinn und Geborgenheit« gegeben hatten, zum Schwierigsten im Sterbeprozess. Es ist ein Vorgang, der unmerklich beginnt und sich im »Rückzug der Lebenden von den Todgeweihten«, im »Schweigen, das sich allmählich um sie verbreitet«, bis in ihr Ende hinein fortsetzt.2 Wenn ein Mensch »im Sterben fühlen muss, dass er – obwohl noch am Leben – kaum noch Bedeutung für die umgebenden Menschen besitzt, dann ist er wirklich einsam«.3 Die elementare Angst vor dem Ende überlagert sich mit dem Schmerz des Verlassenseins und der tiefen Einsamkeit.4 Elias untersucht solche Vereinsamung als Symptom moderner, individualistischer Gesellschaften und anonymer Institutionen, in denen die Unfähigkeit der Überlebenden, Zuneigung zu manifestieren und Trost zu spenden, sich in der Selbstisolierung derer spiegelt, deren Erleben sich zunehmend in den Raum der mit niemandem geteilten Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen zurückzieht und zuletzt in der Vorstellung, allein sterben zu müssen, verfestigt.5 Wenn die Vereinsamung Peter Noll, Diktate über Sterben & Tod, a. a. O., S.  43. Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S.  8, 47. 3 Ebd., S.  97. 4 Walther Matthias Diggelmann, Schatten, a. a. O., S.  103. 5 Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, a. a. O., S.  89 f.

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in viele Räume des Lebens eindringen kann, in denen der Einzelne auf sich gestellt ist und die Brücken zwischen ihm und den Mitmenschen abbrechen, so tritt sie vielleicht in ihren schärfsten Zügen, meint Eugen Fink, »in der einsamen Situation des Sterbens« hervor.6 Das Ausscheiden aus der Gemeinsamkeit mit anderen gehört zu den schmerzlichen Erlebnissen des Alterns und der Annäherung an das Ende, wenn das lebendige Gespräch und gegenseitige Anteilnehmen schwindet und die Kommunikationsbereitschaft der Anderen wie die eigene Kommunikationsfähigkeit auf unerwartete Grenzen stößt. Der Tod trifft den Menschen in seiner unhintergehbaren Einzigkeit. Die prinzipielle Unvertretbarkeit in der Auseinandersetzung mit dem Tod wird durch keine soziale Einbettung relativiert. Oft genug wird die reale Vereinsamung im Alter, die tiefe Einsamkeit im Sterben zu einem Kennzeichen des Lebensendes. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Selbstabgeschlossenheit nicht die einzige Perspektive auf das Lebensende und nicht die abschließende Wahrheit über das Sterben ist. Wie der Mensch nicht als losgelöstes Individuum fern von den Mitmenschen leben kann, so vollzieht sich sein Sterben, auch als eigenstes und singuläres Erleben, nicht in Abgeschiedenheit von der Menschheit. Seit ihrem Erscheinen sind Heideggers Reflexionen zur eigentlichen Existenz im Sein zum Tode ob ihres Solipsismus kritisiert worden.7 In den Augen ihrer Kritiker erweist sich die ›Jemeinigkeit‹ als ein verfälschender Zugang zum Phänomen des Todes, wie sie darüber hinaus die Existenzanalyse als solche vereinseitigt. Nach Karl Jaspers verschüttet das Pathos der Eigent­lichkeit das existentiell Bedeutsame der zwischenmenschlichen Kommunikation8, und ähnlich paraphrasiert Hans Ebeling die These Karl Löwiths, dass »nicht die Einzigkeit des Einen für sich, sondern das Verhältnis des Einen zum Anderen und des Anderen 6 Eugen Fink, »Eigentod und Fremdtod«, in: Hans Ebeling (Hg.), Der Tod in der Moderne, Königstein / Ts.: Hain 1979, S.  146–151, hier S.  150. 7 Karl Löwith, Das Individum in der Rolle des Mitmenschen [1928], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969; Dolf Sternberger, Der ver­ standene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial­onto­ logie [1934], in: Schriften I: Über den Tod, Frankfurt am Main: Insel 1977, S.  69–264; Emmanuel Levinas, Le temps et l’autre, a. a. O.; vgl. Byung-Chul Han, Todesarten. Philosophische Untersuchungen zum Tod, München: Fink 1999; Burkard Liebsch, Revisionen der Trauer, a. a. O. 8 Karl Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, hg. von Hans Saner, München  /  Zürich: Piper 1978, Notiz 8.

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zum Einen« die eigentliche Existenz des Individuums ausmache.9 Dolf Sternberger moniert die Unfähigkeit zur Teilhabe am Sterben anderer, das im Horizont des Heideggerschen ›Mitseins‹ nicht aufscheinen kann.10 Die Emphase des Selbst bedingt nicht nur eine kognitive Grenze des Verständnisses von Lebensende, sondern einen lebensweltlichen Verlust geteilter Erfahrungen, die auch die Sterblichkeit einschließen11; sie paktiert mit einer Selbstermächtigung, gegen welche Levinas die basale Passivität des Ausgeliefertseins an den Tod geltend macht.12 Entschieden hat der Heidegger-Schüler Eugen Fink die Konsequenz gezogen und ein Denken des Todes gefordert, das diese Verengung aufsprengt und seinen Angelpunkt in der Dia­lek­tik von Eigentod und Fremdtod hat.13 Ein unverkürztes Verständnis des Todes hat die Sozialität des Menschen zu bedenken, der in seinem Leben und Sterben sowohl in seiner Einzigkeit wie seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ernst zu nehmen ist. Dabei sind beide Seiten der Sozialität des Sterbens in ihrem Wechselverhältnis zu reflektieren: der ursprüngliche Bezug zum Tod der anderen und das ursprüngliche Verhältnis zu den anderen im eigenen Sterben.

15.3  Der Tod des Anderen Die Erfahrung des Todes der anderen ist die erste, ursprüngliche Begegnung mit dem Tod. Nicht die Vorwegnahme des eigenen Nichtmehr-Seins, sondern der Verlust anderer Menschen ist der erste Einbruch des Todes ins Leben und die Wurzel des Bewusstseins der Sterblichkeit.14 Dabei geht es nicht nur um ein äußerliches ZurKenntnis-Nehmen, um eine kognitive Verflechtung zwischen der Erfahrung des Fremdtodes und dem Bewusstsein des Eigentodes, sondern um ein eigenes Betroffensein und Involviertsein. Der Verlust von Angehörigen, das Miterleben des Sterbens von Großeltern 9 Hans Ebeling, »Einleitung: Philosophische Thanatologie seit Heidegger«, in: ders. (Hg.), Der Tod in der Moderne, Königstein / Ts.: Hain 1979, S.  11–31, hier S.  21. 10 Dolf Sternberger, Der verstandene Tod, a. a. O., S.  122. 11 Vgl. Byung-Chul Han, Todesarten, a. a. O., S.  42. 12 Emmanuel Levinas, Le temps et l’autre, a. a. O., S.  60; siehe oben 12.2. 13 Eugen Fink, »Eigentod und Fremdtod«, in: Hans Ebeling (Hg.), Der Tod in der Moderne, a. a. O., S.  146–151. 14 Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer, a. a. O., S.  82 f.

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oder Eltern ist für viele die erste Bekanntschaft mit dem Tod im nahen Lebensbereich. Im weiteren Umkreis sind alle von früh an mit Todesfällen aller Art vertraut, sei es im normalen sozialen Rhythmus des Alterns und Sterbens, sei es in besonderen Situationen des gehäuften oder gewaltsamen Todes in Kriegen oder bei Naturkatastrophen. In einem allgemeinen Sinn ist die Erfahrung und das Wissen davon, dass Andere sterben, schon früh mit dem Bewusstsein verflochten, dass man selbst sterben wird. Das Bewusstsein, dass ich selbst sterben werde, hat seinen Gehalt und seine Notwendigkeit aus einer allgemeinen Vertrautheit mit dem menschlichen Leben, in welchem Geburt und Tod sich ablösen. Alle philosophischen Bemühungen zur Befreiung von der Todesfurcht, alle Ermahnungen zur Einübung in das Sterben gründen von alters her in der unerbittlichen Gewissheit, dass wir alle ganz persönlich, jeder für sich, dazu verurteilt sind, dereinst zu sterben. Dass diese Evidenz in der Erfahrung des Sterbens anderer wurzelt, meint mehr als eine äußere Bedingung und zeitliche Vorgängigkeit. Sie verweist auf die fundamentale Sozialität unseres Daseins, in welchem wir der Anderen bedürfen, wie wir von ihnen in Anspruch genommen werden. Dem Appell des Anderen korrespondiert die Sorge um den Anderen, um sein Leben, nicht zuletzt auch um sein Sterben und seinen Tod; Emmanuel Levinas hat das Angesprochenwerden durch das Antlitz des Anderen zum Angelpunkt des menschlichen Lebens und Zusammenlebens gemacht. Wie uns das Neugeborene in seiner absoluten Hilfsbedürftigkeit zur rückhaltlosen Verantwortung nötigt, so wird uns durch die Verletzbarkeit des sterblichen Anderen ein eindringliches ethisches Gebot auferlegt.15 Zwar besteht erlebensmäßig eine grundlegende Differenz im Umgang mit diesen beiden Extremen des Lebens. Die emphatische Beziehung zum Anderen, ihre affektive Macht und Tiefe werden im Falle der Geburt sowohl auf seiten der Eltern unmittelbarer erfahren wie sie auch für das Sein des Neugeborenen und die Herausbildung seines Selbst in direkterer Weise lebensnotwendig sind. Beides ist im Falle des Ablebens nicht in gleicher Weise gegeben. Der Tod des Anderen kann sich unabhängig von sozialen Bindungen als Naturverlauf ereignen und uns als Mitmenschen indifferent lassen. Gleichwohl ist die emotionale und praktische Anteilnahme am fremden Sterben im Blick auf die Humanität der Existenz von gleicher, 15

Vgl. Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer, a. a. O., S.  286.

15. Der Tod und die Anderen

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fundamentaler Bedeutung. Sie verwirklicht sich in Haltungen der Sorge und Solidarität, in denen wir uns durch die Hinfälligkeit des Anderen berühren lassen, seine Erschütterung und Angst miterleben, an seinem Sich-Einstellen auf den Tod, zuletzt seinem Sterbeprozess Anteil nehmen. Viele Autoren haben die praktische wie theoretische Relevanz des intersubjektiven Zugangs zum Todesproblem unterstrichen. Den Sterbenden nicht seiner Vereinsamung zu überlassen, sich ihm zu öffnen, ihm seine Freundschaft zu bezeugen, Trost zu spenden und ihn auf seinem letzten Gang zu begleiten, ist wie ein »letztes Geschenk«, das wir ihm geben.16 Es kommt dem Bedürfnis entgegen, im Sterben nicht allein und einsam zu sein, das sich zum Wunsch vertiefen kann, auch als Toter nicht einfach verlassen, fern von vertrauten Menschen zu sein. Wenn Landsknechte im 16. Jahrhundert, die ihrem möglichen Tod ohne Beschönigung ins Auge schauen, den Wunsch haben, bei ihrem Begräbnis »den Klang des ›Pummerleinpumms‹«, der Landsknechttrommel zu hören und dem anonymen Schicksal der auf dem Schlachtfeld Liegengebliebenen oder durch Hunger Umgekommenen zu entgehen, so artikuliert sich darin ein zutiefst menschliches Bedürfnis des Zusammenseins mit anderen, das sich vom geteilten Leben auf das Sterben und Beerdigtwerden ausdehnt.17 Von Seiten der Begleitenden, die dem Sterbenden Beistand leisten, wird eine anspruchsvolle, vielseitige Tätigkeit verlangt, die von materieller und körperlicher Unterstützung bis hin zu spiritueller Begleitung reicht und wesentlich beinhaltet, sich am reflexiven Bemühen des Sterbenden um ein ganzheitliches Verständnis seines Lebens und Sterbens zu beteiligen.18 In extremen Situationen kann sie ihre Herausforderung darin haben, dem Leiden und Sterben dort Sprache zu verleihen, wo diese den Sterbenden selbst – wie bei den Opfern der Vernichtungslager – versagt bleibt.19 Die ›anamJean-Pierre Wils, ars moriendi. Über das Sterben, Frankfurt am Main: Insel 2007, S.  279 f. 17 Reinhard Baumann, »›So schlägt man mir den Pummerleinpumm‹ – Sterben und Tod bei Kriegsleuten des 16. Jahrhunderts«, in: Martin Clauss u. a. (Hg.), Vom Umgang mit den Toten, a. a. O., S.  103–128, hier S.  125. 18 Simon Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe, a. a. O., S.  125 f., 147 f. 19 Christiane Solte-Gresser, »Das Sterben der Anderen: Zur Traum-Sprache des ›Muselmanns‹ bei Delbo und Vercors«, in: Mauro Fosco Bertola / Christiane Sollte-Gresser (Hg.), An den Rändern des Lebens. Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten, München: Fink 2019, S.  263–283. 16

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IV. Sterben und Tod

netische Solidarität‹20, welche dem stellvertretenden Erinnern und Erzählen zugrundeliegt, ist eine nachträgliche Begleitung derer, die ohne Beistand untergegangen sind. Die Überwindung der Isolation und Einsamkeit des Sterbenden geht einher mit einer Aufsprengung der erkenntnismäßigen Schranke in der Auseinandersetzung mit dem Tod. Schon Seneca hat die sokratische Idee des individuellen Sterbenlernens auf ein gemeinschaftliches Lernen, ein Mit-Lernen des Sterbens (mortem con­ discere) hin ausgeweitet.21 Mit Nachdruck hat Paul Ricœur in seinen späten Reflexionen Vivant jusqu’à la mort den entscheidenden Wechsel vom äußerlichen Beobachten zum teilnehmenden Begleiten betont, in welchem wir einen authentischen Zugang zum Erleben des Anderen gewinnen und sein Sterben sich uns in ursprünglicher Weise erschließt.22 Nicht in äußerlicher Beobachtung, sondern in emotionaler Nähe und praktisch-handelnder Anteilnahme teilen wir gewissermaßen die Grenzerfahrung anderer, nehmen wir an ihren Ängsten und Leiden, an ihrem Sterben teil. Nicht nur um den je-meinigen Tod bin ich in der meditatio mortis besorgt. Nicht nur mein Sterben macht die Anwesenheit des Todes in meinem Leben aus. Dabei ist es, wie Ricœur unterstreicht, wesentlich, den sterbenden Mitmenschen bis zum letzten Augenblick als noch-lebenden – nicht im medizinischen Außenblick als moriturus, als künftigen Toten – wahrzunehmen, sich ihm von den eigensten Ressourcen seines Lebens her zuzuwenden.23 Es gilt, ihn auch in seiner letzten Phase als ein Subjekt, das sich zu seinem Leben und zu seinem Tod verhält, ernst zu nehmen. Die von anderen geleistete Sterbebegleitung, bis hin zur solidarischen Sterbehilfe, löst die im Selbstverhältnis des Sterbenden zentrierte ars moriendi ab.

Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamen­ tale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Begriffsbildung, Düsseldorf: Patmos 1976, S.  280 ff. 21 Seneca, Briefe an Lucilius 26, 8–10; Christine Walde, »Selbstbildnis des Philosophen als eines alten Mannes«, a. a. O., S.  151. 22 Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, a. a. O.; s. o. 12.1. 23 Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, a. a. O., S.  46. 20

15. Der Tod und die Anderen

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15.4  Die Trauer um den Verlust des Anderen Nicht zuletzt im Phänomen der Trauer manifestiert sich der Umgang mit dem Tod in seiner unhintergehbaren Bezogenheit auf andere. Zwar gibt es, wie schon erwähnt, auch die antizipierende Trauer um das Schwinden des eigenen Lebens, um die verfehlten, nicht wiederkehrenden Möglichkeiten, um den bevorstehenden Verlust seiner Fähigkeiten und das Entschwinden seiner Zukunft. Die Ur­ erfah­rung des Trauerns jedoch gilt einem erlittenen, nicht wiedergutzumachenden Verlust. Es ist die Trauer um den Verlust eines nahen Menschen, um die entschwundene Jugend, um die verlorene Heimat. Solche Trauer ist verflochten mit Erinnerung und mit dem Gefühl des Verlorenhabens von jemandem oder von etwas, das ­einem wichtig, wertvoll war. In typischer Form ist es die Trauer um den Verlust einer geliebten Person, in einer besonderen, herausgehobenen Weise nicht als Leiden unter dem, was wir verloren haben, sondern dem Verlust für die Person selbst, wie er vielleicht in intensivster, ergreifendster Weise beim Tod eines Kindes erfahren wird. Gustav Mahlers Kinder­totenlieder sind ein Ausdruck tiefsten Schmerzes, der nicht nur ein affektives Leiden der trauernden Eltern widerspiegelt, sondern gewissermaßen die unerträgliche Negativität des Nicht-mehr-Seins, des Gestorbenseins der Kinder selbst zur Sprache bringt. Die Trauer von Eltern um ihr Kind verkörpert exemplarisch den Schmerz darüber, dass jemand sein Leben verloren hat. Etwas davon überträgt sich auf die Konfrontation mit dem Tod überhaupt, auch wenn das Sterben anderer unter bestimmten Umständen ebenso positiv, als Erlösung von einem Leiden oder friedliches ZurRuhe-Kommen und erfüllender Abschluss wahrgenommen werden kann; etwas vom Protest und Neinsagen zum Tod24 kann der Trauer als solcher inne­wohnen. In reiner Gestalt aber tritt uns die Trauer dort entgegen, wo sie mit der Anerkennung des unwiederbringlichen Verlusts, der Akzeptanz des unumkehrbaren Endes einhergeht. Trauer verbindet den Schmerz mit dem endgültigen, nicht zu besänftigenden Abschied. Sie nimmt ihre konkreteste, direkteste Gestalt im Trauern um den einen, unersetzbaren Menschen an, dessen Tod unser Leben im Innersten zerreißt, uns in gewisser Weise mit-sterben lässt. Das Leid, das der Tod einer geliebten Person mit sich bringt, gilt, wie Julian 24

Vgl. Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, a. a. O.

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IV. Sterben und Tod

Barnes in der Trauer um seine Frau schreibt, »zum Teil mir« und meinem Verlust, viel mehr aber ihr selbst und dem, »was sie verloren hat, da sie jetzt das Leben verloren hat. Ihren Körper, ihren Geist, ihre strahlende Neugier auf das Leben.«25 Es ist zugleich ein Trauern um das geteilte Leben, um das »gemeinsame Vokabular« einschließlich der geteilten »Metaphern, Neckereien, Abkürzungen«, um das gemeinsam erlebte Glück mit seinen Sehnsüchten und Erinnerungen.26 Solche Trauer ist Bekundung einer Treue, ein »Nichtpreisgebenwollen« des Erlebten und Nichtabreißenlassen des Gesprächs, zuletzt ein Einspruch gegen das Tot- und Vergangensein, ja, eine Liebeserklärung, welche besagt: »du wirst – für mich – niemals sterben.«27 Dass jemand tot ist, schreibt Barnes, heißt zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber nicht, dass es ihn nicht mehr gibt.28 In diesem Sinne ist Trauer eine exemplarische Bekräftigung der Bindung noch im Abschied. Sie steht nach Burkhard Liebsch für eine konsequentere Auseinandersetzung mit dem Sterben als ihre »Depotenzierung« zum »abschiedlichen« Leben, das als solches »keinen erkennbaren Bezug zum Anderen mehr hat«.29 Der konkrete Verlust des Anderen, der Schmerz um sein Nicht-mehr-Sein und das Vergangensein der geteilten Welt ist die in der Sozialität verankerte, ursprüngliche Erfahrung des Todes. Diesen Verlust und seinen Schmerz zu erfahren, berührt eine anthropologisch basale Schicht des menschlichen Seins und Zusammenseins. Wieweit sie den einzelnen in seinem Selbstverständnis prägt und in seiner Lebensführung bewegt, bleibt dabei eine offene Frage und kann von den Individuen ebenso abhängig sein wie von äußeren Umständen. Trauer ist ein universales Element der sterblichen Existenz, doch keine historische und kulturelle Konstante. In der modernen Lebensform scheint sie sogar vielfach zurückgedrängt, teils im Selbstverständnis des autarken, selbstmächtigen Subjekts unterdrückt und tabuisiert, teils im Funktionsgefüge der Gesellschaft objektiv ortlos geworden. Es mag geradezu scheinen, dass wir vor einer »trauervergessenen Fortsetzung der Geschichte« stehen, die Julian Barnes, Lebensstufen, München: btb 2016, S.  96. Ebd., S.  107 f. 27 Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer, a. a. O., S.  93, 123; vgl. Julian Barnes, Lebensstufen, a. a. O., S.  123 f. 28 Julian Barnes, Lebensstufen, a. a. O., S.  124. 29 So Liebschs Einwand gegen Michael Theunissen: Revisionen der Trauer, a. a. O., S.  64. 25 26

15. Der Tod und die Anderen

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kein Bewusstsein »von der Bedeutung der Sterblichkeit Anderer« mehr hat und allenfalls eine zivilisationsgeschichtliche »Trauer um die verlorene Trauer« anklingen lässt.30 Sie wäre Teil einer Verlustgeschichte, in welcher Wesensmerkmale des Humanen verloren gehen. Verloren ginge mit der Trauer das Bewusstsein vom unersetzlichen Wert des Lebens wie von der Unersetzbarkeit des anderen Menschen. Solange die Erinnerung an beides wach bleibt, ist an der Fundamentalität der Trauer und der darin bekundeten Zwischenmenschlichkeit festzuhalten, die das Leben wie das Sterben durchdringt und für die Einzelnen wie die Gesellschaft gleichermaßen unverzichtbar ist.

15.5  Sterben und das Sein mit Anderen Nach einer letzten Hinsicht ist die wesentliche Verbundenheit mit Anderen im eigenen Sterben bedeutsam. Nicht nur im Trauern um Andere, auch im eigenen Sein zum Tode – im Erkennen des kommenden Todes, in der Vorbereitung auf das Ende, im letzten Loslassen und Abschiednehmen – sind wir jenseits der solipsistischen Selbstabschließung. Keiner stirbt nur für sich allein. Anders als es eine individualistische Thanatologie meint, macht es keinen Wesenszug menschlichen Sterbens aus, in unvertretbarer Singularität mit sich allein zu sein – auch wenn die konkrete, schonungslose Realität des Todes für den Einzelnen bedeuten kann, der absoluten Verlassenheit und tiefsten Einsamkeit ausgeliefert zu sein. Der in Eis und Schnee vor Stalingrad erstarrte Soldat hat sein Schicksal jenseits aller Gemeinschaft erlitten. Und dennoch hat vielleicht aus der Ferne jemand an ihn gedacht. Vielleicht hat jemand mit ihm gelitten, hat jemand sich im Nachhinein an ihn erinnert. Tod und Sterben sind Vollzüge des menschlichen Lebens, in denen der Mensch, soweit sein Leben an der Humanität teilhat, im Tiefsten mit Anderen verbunden ist. Konkret findet diese Verbindung in unterschiedlichen Sozialund Zeitverhältnissen statt. Sie kann sich in engeren und weiteren Sozialbezügen, im Verhältnis zu nahen oder fernen, vertrauten oder anonymen Mitmenschen artikulieren, und sie kann in der Gleichzeitigkeit der Gegenwart, aber auch im Horizont der Vergangenheit oder der Zukunft stattfinden. 30

Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer, a. a. O., S.  28 f.

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IV. Sterben und Tod

Die nächstliegende Verbundenheit liegt darin, angesichts des Todes die Gemeinschaft mit Anderen, ihre Hilfe und Unterstützung, Zuwendung und Freundschaft zu erfahren. Das Gespräch, der Trost, die Aufmerksamkeit, die Andere mir schenken, entreißen mich der Einsamkeit, lassen mich noch im Sterben am gemeinsamen Leben teilhaben. Wie ich selbst einen ursprünglichen Zugang zum Mitmenschen in der Begleitung seines Sterbens finde, so erfahre ich die besondere Nähe des Anderen, der mich in meinem Abschied vom Leben begleitet. Im Sterben nicht allein gelassen zu werden ist die wertvollste Stütze, die Andere mir in meinem eigenen, unvertretbaren Sein zum Tode gewähren, und eines der authentischsten Zeugnisse zwischenmenschlicher Solidarität. Der Wunsch eines guten Sterbens bedeutet für viele, den letzten Weg zusammen mit anderen, mit e­ inem engsten Vertrauten, mit der langjährigen Lebensgefährtin gehen zu können, bis hin zu jener letzten Schwelle, die jeder nur noch für sich überschreiten kann.31 Eine zweite, weiter ausgreifende Dimension der Sozialität liegt im gemeinsamen Leben, auf das hin das Sterben sich öffnet. Als eine kulturell weit verbreitete Figur des Todes hat sich die des Übergangs gezeigt, idealtypisch als Hinübergehen in das Reich der Toten und Rückkehr in eine Gemeinschaft, der man ursprünglich zugehörig war. Der Wunsch, den Weg bis zur letzten Trennung gemeinsam mit seinen Nächsten zu gehen, kann über die Schwelle hinaus, auf das Wiederfinden ausgreifen, wie Theodor W. Adorno in einem anschaulichen Traumprotokoll notiert: »dass ich von der metaphysischen Hoffnung nicht ablassen mag, ist gar nicht, weil ich so sehr am Leben hinge, sondern weil ich mit G. erwachen möchte.«32 Allgemein ist es das Bild des Aufgenommenwerdens durch Verstorbene, die uns vorausgegangen sind, das Wiederfinden von Eltern, Verwandten und Ahnen, die uns – wie einst bei unserem Eintritt ins Leben – begrüßen und willkommen heißen. Gerade sofern das Eingehen in die Gemeinschaft der Lebenden und Toten im Zeichen der Rückkehr und des Wiederfindens steht, zeigt sich der Übergang in ein anderes Leben in engster Weise in die fundamentale Zwischenmenschlichkeit der Existenz verflochten.

Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang, a. a. O., S.  391. Theodor W. Adorno, Traumprotokolle, hg. von Chr. Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S.  72 f. 31

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15. Der Tod und die Anderen

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Eine gewissermaßen gegenläufige Perspektive eröffnet ein Sterben, das nicht zu den Ahnen zurückkehrt, sondern auf die Späteren, nach uns Kommenden verweist. Sterben heißt sich seinen Kindern anvertrauen, sich der Trauer, der Pietät und dem Gedächtnis seiner Nachkommen, auch ihrem Vergessen, ihrem Neuschreiben der Geschichte anheimgeben. Wenn Vertrauen eine unverzichtbare, innerste Macht des Lebens mit anderen ausmacht, so kommt sie hier in ihrer generationenübergreifenden, den Tod überwindenden Kraft zum Tragen. Sterben bedeutet dann, sich in ein Leben und Weiterleben hinein zu öffnen, das wir anderen überantworten, ihnen anheimstellen und verdanken, jenen, denen wir einst selbst das Leben geschenkt haben, denen wir auch Erfahrungen und Vorstellungen weitergegeben, in denen wir Erinnerungen gesät haben.33 Sterben fügt sich ein in den Kreis des Lebens, des Spendens und Empfangens des Lebens und kann darin, weit entfernt von einem vereinzeltisolierten Schicksal, zum Erlebnis engster, intensivster Gemeinschaft werden. Eine letzte, hyperbolische Figuration solcher zukunftsgerichteter Gemeinschaft nach dem Tod liegt in der Vorstellung, dereinst selbst seine Nachkommen nach ihrem Sterben aufnehmen, im Leben begrüßen zu können. Sterben heißt eintreten in einen Zustand des Wartens, des Sichbereithaltens für das Wiederfinden Anderer, analog der ›guten Erwartung‹ des neuen Lebens. Wieweit solche Figuren tragende Vorstellungen im Sich-zu-seinem-Tod-Verhalten von Individuen oder Gruppen sein können, hängt, wie bei früher genannten Optionen, von persönlichen Lebenshaltungen ebenso wie von äußeren Umständen ab. Sie sind weder allgemeingültige noch diskursiv beweisbare, einklagbare Modelle des guten Sterbens. Was sie aber, wie die zuvor genannten Bilder, mit Kraft geltend machen, ist die Zwischenmenschlichkeit als Wesenselement eines versöhnten, gelingenden Lebensendes. Sie zeichnen sozusagen eine Komplementärdimension zur internen Erfül­lung und Vollendung, wie sie als existenzielle Leitideen des Zu-sich-Kommens und Sich-Gegenwärtig-Werdens in dem zu Ende gehen­den Leben fungieren. Das Ideal der Selbstpräsenz und erfüllten Gegenwart wird durch das Sein der Anderen und Sein mit Anderen gewissermaßen erweitert, in seiner Gegenwärtigkeit überhöht. Bedeutsam ist, dass darin nicht einfach eine Potenzierung des Ideals eigentlicher Existenz stattfindet, sondern eine herausgehobene 33

Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang, a. a. O., S.  377.

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IV. Sterben und Tod

Grenzsituation des Lebens markiert wird, eine Erfahrung des Endes, das über uns kommt und das wir vollziehen. Es wird, wie die Geburt, als ein Äußerstes gegenwärtig, von dem her wir sind, von dem her wir unser Leben führen und von dem her wir uns selbst verstehen.

16. Schluss Vom Anfang zum Ende – der Bogen des Lebens markiert mehr als die Grenzen eines Zeitraums. Er überspannt Extreme des Lebens, äußerste Pole menschlichen Erlebens. Es ist der Spannungsbogen zwischen höchster Freude und tiefer Trauer, zwischen dem Jubel der Ankunft und dem Schmerz des Abschieds. Geburt und Tod stehen für den umfassenden Gegensatz von Entstehen und Vergehen, Schöpfung und Zerstörung, sie bedeuten dem Menschen das Geschenk des Daseins, das Empfangenwerden in der Welt auf der einen Seite, das unerbittliche Vergehen und den Verlust seiner selbst auf der anderen. Der Gang des Lebens ist der gerichtete Prozess zwischen Anfangen und Zunichtewerden, zwischen dem Kommen ins Licht und dem Verschwinden im Dunkel. Indessen hat sich gezeigt, dass die einseitige Zuordnung der Wertungen und Affekte nicht das letzte Wort ist. Sie ist es nicht für das Sterben und den Tod, und sie ist es, in anderer Weise, auch nicht für die Geburt. Menschen können ihr Geborensein und In-diesesLeben-Geworfensein verfluchen, und sie können umgekehrt zufrieden und versöhnt ihrem Ende entgegengehen. In großer Vielfalt sind im Vorausgehenden die Varianten und Abschattungen sichtbar geworden, unter denen Geburt und Tod im Leben der Menschen wahrgenommen, von den Betroffenen und Angehörigen erfahren, in kulturellen Traditionen gedeutet werden. Dies ist hier nicht zu rekapitulieren oder zu synthetisieren. Abschließend zu reflektieren ist die Gesamtlinie, die sich im Durchgang durch die lebenswelt­lichen und interpretativen Bilder von Geburt und Tod herausgestellt hat: die Linie, die der Idee eines im Ganzen bejahenden Lebensbezugs folgt und zuletzt auch die Erfahrung von Tod und Sterben jenseits von Angst und Leiden in ein affirmatives, befriedetes Verhältnis zum Ende eingehen lässt. Die Frage ist, wieweit diese Linie in sich stringent ist und eine abschließende Wahrheit über unser Leben ausspricht, wieweit sie uns in unserem Verhältnis zum Leben und zu

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Schluss

unserem Tod zu orientieren vermag. Es ist offenkundig, dass durch den Fluchtpunkt eines befriedeten Sterbens die Erfahrungen von Todesfurcht und Abschiedsschmerz nicht einfach absorbiert oder verdrängt werden, dass die Leitidee eines versöhnten Todes die vielfach mit dem Lebensende einhergehenden Erlebnisse von Leid und Verlust nicht einfach überformt. Es gilt jene positive Leitidee in ihrer Bedeutung und ihrer lebensweltlichen Ausstrahlung ernst zu nehmen, ohne die abgründige Negativität von Vereinsamung und Angst zu verleugnen. Im Blick auf das Ganze des Lebens stellt sich die Frage, wieweit dem Versprechen des Anfangs eine Hoffnung des guten Endes antwortet. Die Figur des guten Todes ist selbst eine facettenreiche Idee, die nicht auf einen Begriff, ein Bild vom Ende zu bringen ist. Sie oszilliert zwischen Vorstellungen der Vollendung und inneren Erfüllung, des Zum-Abschluss-Kommens und Mit-sich-Einswerdens, des befriedeten Loslassens und versöhnten Abschiednehmens, des Sichöffnens für Anderes und des Weitergehens in Anderes. Es sind affirmative, lebensbejahende Chiffren, die dem menschlichen Sein in seinem Lebenswillen innewohnen und der zu Ende gehenden Existenz als Leitbild, als Stütze, als Trost dienen können. Es sind Chiffren des Hoffens und Vertrauens, an denen das Leben ungeachtet ihrer Fragilität und der Massivität der Gegenzeugnisse, von denen die Menschheitsgeschichte voll ist, festhält, Bilder, die trotz ihrer Ungesichertheit Instanzen des Humanen im Leben und im Sterben sind. Sie bilden darin einen komplementären Orientierungspunkt zur Gebürtigkeit, die für die bejahende, zukunftsfrohe Begründung des Lebens steht, auch wenn sie ihrerseits, zwar weniger schroff, im Zwielicht zwischen Freiheit und Schicksal, Freude und Leiden ­erscheinen kann. In dieser internen wie wechselseitigen Gespanntheit bilden Geburt und Tod die Angelpunkte der Existenz und des Verstehens des Menschen. Der Mensch ist von der Geburt her, und er ist auf den Tod hin. Gebürtigkeit und Sterblichkeit sind die beiden Merkmale, die er mit allen teilt, universelle Merkmale der menschlichen Gattung und zugleich Wesensmerkmale, die ihn in zweifacher Weise in seinem Sein auszeichnen: Beide strahlen auf sein Leben als Ganzes aus, und beide betreffen ihn in seiner individuellen, eigensten Existenz, sind Merkmale nicht nur des Lebens, sondern seines Lebens. Sie sind unter sich verbunden, stehen für eine gemeinsame Themenstellung, sofern sie beide wesenhaft zum Menschen und zu seinem

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Leben gehören, das sie nicht nur äußerlich umspannen, sondern existentiell durchdringen. Geburt und Tod markieren zwei Übergänge, die das Leben begrenzen, in es hinein- und aus ihm hinausführen, und die zugleich ihren Ort in der Mitte des Lebens haben, als Angelpunkte des Selbstseins, von denen her menschliches Leben sich versteht und sich vollzieht. Sie sind gleichermaßen fundamental, Grundlagen des Ernstes, der Herausforderung und des Gelingens des Lebens. Wir müssen beides in unser Verständnis des Lebens integrieren, das Wunder des Geborenseins und Anfangens und das Schicksal des Vergehens und Zunichtewerdens, die Offenbarung der Macht und Würde im entstehenden Leben und das Erleiden der Verletzbarkeit und Schwäche. Um die existentielle Bedeutung von Geburt und Tod zu erschließen, gilt es ihren Gegensatz und ihre Zusammengehörigkeit zusammenzudenken, ihren radikalen Antagonismus im Lichte ihrer ebenso grundlegenden Komplementarität zu erkennen. Es gilt, in der Helligkeit der Geburt ein Gegenlicht zur Dunkelheit des Todes zu gewinnen. Gleichsam gegenläufig zum Gang des Lebens vom Anfang zum Ende geht der Blick zuletzt vom Ende zurück zum Anfang. Wenn sich oben gezeigt hat, dass die Alternative zwischen der negativen Erfahrung des Todes, dem Erleben von Verlust und Zerstörung einerseits und dem Ausblick auf ein befriedetes, versöhntes Sterben andererseits nicht durch rationale Gründe zu entscheiden und die Ausrichtung auf einen ›guten Tod‹ nicht argumentativ zu ›beweisen‹ ist, so kommen für diese andere Impulse in den Blick. Die Zusammengehörigkeit von Geburt und Tod in ihrer geteilten Zugehörigkeit zum Leben bedeutet auch, dass die Erfahrung der Schöpfung des Neuen selbst zu einer Kraft in der Konfrontation mit Auflösung und Zerstörung wird. Die Erfahrung des weitergehenden, neu entstehenden Lebens wird zu einer Quelle von Kraft und Vertrauen im Anblick des Zu-Ende-Gehens. Die eigentliche Gegenevidenz gegen die übermächtigen Zeugnisse der Zerstörung, gegen die Trostlosigkeit des Endes liegt im neuen Anfang. Das stärkste Argument gegen den Tod ist das Ereignis der Geburt. Als Horizont des Selbstseins sind Geburt und Tod anwesend in der Mitte des Lebens. Der Mensch kommt zu sich im Ganzen seines Lebens, indem er sich von der Geburt her versteht, sein Dasein auf den Tod hin erfasst, sich auf das weiter gehende, neue Leben hin öffnet. Geburt und Tod schließen sich in dem einen Vollzug des Lebens, in der Gegenwärtigkeit des einen, einzigen Lebens des Menschen zusammen.

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Namenregister Abel  32, 44, 57, 72 Adorno  50, 82 ff., 106, 158, 168, 171 f. Améry  112 f., 122, 184 Angeloch  101, 129 Anker 124 Appelfeld 81 Arendt  32, 38 ff., 43, 45, 62 f., 70, 86 Ariès  24, 87, 145, 155, 157, 172, 178 Aristoteles  15, 48, 76 f., 181 Assmann  22, 151 Augustinus  38, 51, 63, 82 f., 159 Barnes 208 Batthyány  144 f., 164 Baumann 205 Beckett 109 Berbig  29, 148 Bion 129 Bloch  82, 125, 128, 152 Blumenberg 47 Bobbio  114, 119, 135 Boelderl  29, 31, 75 Boethiuas 134 Borges 164 Bouffard 108 Brachtendorf 159 Brenner  103, 117, 119, 124

Brodkey  173, 183, 190, 196 Bruner 77 Buddha 54 Bühler 126 Buzzati 109 Cacciari 48 Caduff 174 Canetti  159, 207 Casals 121 Cicero 119 Cioran 54 Clauss 160 Coleman 158 Danto 182 Dastur  18, 58 Derrida  18, 49, 83 Diggelmann  165, 173, 177, 184, 201 Dostojewski 167 Ebeling  202 f. Elias 201 Epikur  142, 159, 176 f., 186 Erikson  21, 133, 135 Ernaux  117, 127, 165 Esterházy  144, 173, 183 Faber 29 Fink  202 f.

Namenregister

232

Fisseni 126 Fontane  186, 197 Freud  53, 101, 144, 146, 157, 166 Frisch 152 Fromm 75 Gehring  143, 158, 178 Goethe 121 Guski 167 Gutjahr 98 Han  188, 202 f. Hegel  38, 56, 110, 166 Heidegger  19, 22, 30, 32, 38 f., 43, 53, 63, 124, 140 f., 145, 154 f., 157, 161 ff., 173, 179, 184, 200, 202 f. Herms 162 Herrndorf 173 Hesse  113, 134, 192 Höffe  120 f., 185 Holbein 167 Hölscher 24 Honold 100 Horkheimer  82, 158 Hügli 192 Husserl  31 f., 50

Kirchhoff 107 Kittler 51 Kolakowski 165 Kübler-Ross 187 Lacan 79 La Rochefoucault  154 Levinas  18, 20, 49, 63, 65 ff., 83, 154, 161, 202 ff. Levmore 121 Liebsch  29 f., 57, 146, 158, 168, 202 ff., 208 f. Löwith 202 Louis 86 Lyotard  32, 39, 50 Lütkehaus  28, 30, 32, 52, 56, 63 Mahler 207 Mann 113 Marquard  17, 101, 108, 123, 146 f., 161, 187 f. Marx 43 Menzfeld  153, 188 f. Merleau-Ponty  17, 83 Mönks 108 Montaigne  27, 175 f. Moody 187 Moser 51 Müller-Busch 29

Imhof  24, 155, 157, 178, 189 Jankélévitch 146 Jaspers  152, 202 Kafka  109, 174, 186 Kant  52, 69, 80, 121 Karpf  98 f., 119 Keller 79 Kierkegaard  95, 148, 179, 185 Kiesel 197

Nagel 152 Nietzsche  54, 114 f. Noll  23, 148 f., 152, 155, 173, 193, 201 Nussbaum 121 Peng-Keller  178 f., 187, 192, 205 Petterson 143 Peukert 206

Namenregister

Picasso 121 Platon  27 ff., 53, 56, 63, 72, 95, 159, 175, 190 Powys  145, 154 Proust  82 f., 100 Quinodoz  109, 132, 147, 185 Rank 53 Reiß 160 Rentsch  98 f., 105, 121, 124 f. Ricken 178 Ricœur  49, 83, 109, 131, 153 f., 206 Rilke  171, 189, 197 Rorty 71 Rosa 123 Rosenzweig 142 Rufus 186 Rüther 160 Ruzicka 32 Saner  18, 28, 30, 32, 35, 38, 54, 64 Sartre  112, 163 Schelling  49, 56 Schlingensief  173 f. Schopenhauer  54, 101, 194 Schües  28, 30, 32, 35, 39, 42, 47, 52, 58, 63 f., 70 Schumacher 140 Schweikert  44 f., 100, 151, 154, 173, 183 Semprun  153 f. Seneca  95, 105, 108 f., 114, 128, 176, 179, 186 f., 206 Shchyttsova  32, 43, 64 Simmel 195

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Sloterdijk  28, 41 f., 45, 47, 49 f., 55, 73, 76 Solstad 105 Sokrates  27, 55, 63, 72, 190 Solte-Gresser 205 Sommer  21, 52, 57 Sophokles 121 Stadler 186 Stepanova  85, 144 Sternberger  202 f. Taylor  77, 125 Terzani  152, 171, 177, 188, 193, 209, 211 Temkine 109 Theunissen  106, 189, 208 Tugendhat  111, 122 f., 147, 166, 174, 177, 188, 192 Ulrich-Eschemann  32, 39, 41 Vedder 174 Verdi 121 Voltaire 139 von Matt  161 Wagner  173 f. Walde  176, 186, 206 Walz 24 Wander  23, 141, 155, 174 Wesche 160 Wils  142, 205 Wittgenstein  152, 154 Yalom 188 Zimmermann  122, 124 Zorn 174