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German Pages [192] Year 2012
FTS 68
ISBN 978-3-402-16056-5
FRANKFURTER THEOLOGISCHE STUDIEN Band 68
Koenen/Schuster (Hg.) • Seele oder Hirn?
Die leibliche Auferstehung der Toten gehört zum Zeugnis der Heiligen Schrift wie zum Glaubensbekenntnis der Kirche. Wie aber werden Tote auferstehen? Selbst Gott kann ein Lebewesen, das einmal gestorben ist, nicht neu schaffen. Eine qualitativ-identische Kopie der Person, die gelebt hat, ist nicht die ursprüngliche Person. Was sichert die numerische Identität von irdischer und auferstandener Person? Die Tradition spricht in diesem Zusammenhang von der „Seele“. Doch die Annahme eines immateriellen Kerns der Person scheint naturwissenschaftlichen Annahmen zu widersprechen. Stehen sich also ein naturwissenschaftliches Menschenbild und christliche Auferstehungshoffnung unversöhnlich gegenüber?
Karl-Ludwig Koenen & Josef Schuster SJ (Hg.)
Seele oder Hirn? Vom Leben und Überleben der Personen nach dem Tod
Kolumnentitel Verfassername
Karl-Ludwig Koenen & Josef Schuster SJ (Hg.) Seele oder Hirn?
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Kolumnentitel Verfassername
FRANKFURTER THEOLOGISCHE STUDIEN Im Auftrag der Professoren der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen Theologische Fakultät, Frankfurt am Main herausgegeben von JOHANNES ARNOLD, MICHAEL SCHNEIDER SJ, ANSGAR WUCHERPFENNIG SJ
68. Band
KARL-LUDWIG KOENEN & JOSEF SCHUSTER SJ (HG.) SEELE ODER HIRN?
Kolumnentitel Verfassername
KARL-LUDWIG KOENEN & JOSEF SCHUSTER SJ (HG.)
SEELE ODER HIRN? VOM LEBEN UND ÜBERLEBEN DER PERSONEN NACH DEM TOD
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© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster, 2011 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-16056-5
Vorwort Die Symposien der Stiftung Hochschule Sankt Georgen greifen Themen auf, die sich im Umkreis von Theologie, Philosophie, Wirtschaft und Humanwissenschaften bewegen. Je nach thematischem Schwerpunkt sollen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und Positionen miteinander ins Gespräch kommen, durch ihre Beiträge das interessierte Publikum nicht nur informieren, sondern auch zum Diskurs einladen. Unter dem Titel Seele oder Hirn? Vom Leben und Überleben der Personen nach dem Tod fand das achte Symposion von Freitag, 15. April, bis Samstag, 16. April 2011, in der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main statt. Vor dem Hintergrund jeweils einschlägiger Publikationen und wissenschaftlicher Dispute könnte man vermuten, ein naturwissenschaftliches Menschenbild und christliche Auferstehungshoffnung stünden unversöhnlich und damit auch unvereinbar gerade in dieser Frage gegeneinander. Denn wenn es keine Alternative zu den derzeit vielfach vertretenen körperlichen Kriterien für personale Identität gibt, dann scheint es für ein Überleben der Person nach dem Tod kein denkerisches Mittel zu geben, um das Dogma von der Auferstehung der Toten in einem von den Naturwissenschaften geprägten Weltbild verständlich zu machen. Dieser anspruchsvollen Aufgabe haben sich die Referenten mit ihren Beiträgen wie auch die sehr zahlreich erschienenen interessierten Teilnehmer an beiden Tagen unterzogen. Herzlich gedankt sei den Referenten, deren Beiträge in diesem Band zugänglich sind. Prof. Dr. Hermann Josef Sieben SJ hat dankenswerter Weise zusätzlich einen Artikel über die Genese der Auffassung des hl. Augustinus zum Auferstehungsleib verfasst, der am Ende dieses Bandes plaziert ist, weil der Text nicht mündlich vorgetragen wurde. Die übrigen Beiträge sind jeweils in der Reihenfolge des zeitlichen Ablaufs angeordnet. Besonderer Dank gilt der wissenschaftlichen und praktischen Vorbereitung und umsichtigen Durchführung von Prof. Dr. Heinrich Watzka SJ und Dipl.-Theol. Silke Lechtenböhmer, MA. Für die sorgfältige redaktionelle Bearbeitung und Vorbereitung der Drucklegung der Artikel ist Prof. Dr. Johannes Arnold und Dipl.-Religionspädagoge
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(FH) Markus Patenge zu danken. Dank gebührt nicht zuletzt den Kollegen, die die jeweilige Diskussionsleitung übernommen, und den vielen, die im Hintergrund wesentlich zum Gelingen des Symposions beitragen haben. Frankfurt am Main, im Dezember 2011 Dr. Karl-Ludwig Koenen
Prof. Dr. Josef Schuster SJ
Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Hochschule Sankt Georgen
Stellvertretender Vorsitzender
Inhalt Seele oder Hirn? Vom ontischen Substrat unserer Hoffnung auf das ewige Leben HEINRICH WATZKA SJ 1 Glaube und Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur christlichen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod MEDARD KEHL SJ
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Der Mensch als Tier und biologische Maschine. Anmerkungen eines Naturalisten zu den Aussichten, den biologischen Tod zu überleben ANSGAR BECKERMANN
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Out-of-body. Anmerkungen eines Mediziners zur Relevanz der Nahtoderfahrung für die Klärung des Leib-Seele-Verhältnisses WILFRIED KUHN
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Leib-Seele-Dualismus und Auferstehungshoffnung UWE MEIXNER
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Unsterblichkeitshoffnung und die hylemorphische Einheit von Leib und Seele EDMUND RUNGGALDIER SJ
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Seele und Tod ROBERT SPAEMANN
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Augustins Entwicklung in der Frage der Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib HERMANN JOSEF SIEBEN SJ
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Autorenverzeichnis
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HEINRICH WATZKA SJ
Seele oder Hirn? Vom ontischen Substrat unserer Hoffnung auf das ewige Leben 1. IDENTITÄT UND ÜBERLEBEN Der Begriff der diachronen personalen Identität, d. h. der Identität einer Person durch die Zeit, ist mit den Begriffen der Urheberschaft von Handlungen und der Verantwortung für Taten, die in der Vergangenheit liegen, intern verwoben. Ich kann für meine früheren Taten nur dann nachträglich zur Verantwortung gezogen werden, wenn der Urheber jener Taten und ich, der ich später Rechenschaft ablegen soll, numerisch dieselbe Person sind. Der Begriff der diachronen personalen Identität steht aber auch im Zentrum unserer Hoffnung, dass wir unseren leiblichen Tod überleben werden. Dass Tote leiblich auferstehen, wird von der Heiligen Schrift und dem Dogma der Kirche bezeugt. Wie aber werden Tote auferstehen? Selbst Gott kann ein Lebewesen, das einmal gestorben ist, nicht neu schaffen. Es mag in seiner Macht liegen, eine qualitativ-identische Kopie der Person, die einmal lebte, zu erzeugen, aber das Resultat ist nicht die ursprüngliche Person. Es muss etwas geben, das die numerische Identität von irdischer und jenseitiger Person sicherstellt. In Gestalt der Lehre von der Seele als des immateriellen Kerns menschlicher Personen stand über mehr als zwei Jahrtausende hinweg ein Modell zur Verfügung, das geeignet war, die biblisch bezeugte Auferstehungshoffnung in philosophisch verständliche Kategorien hinein zu übersetzen. Die Postulierung eines immateriellen Personkerns widerstreitet aber allen naturwissenschaftlich gesicherten Annahmen über den Zusammenhang von mentalem Leben und Gehirntätigkeit. Neurobiologen und Philosophen gehen heute wie selbstverständlich davon aus, dass die für den Menschen charakteristischen Fähigkeiten wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, frei und verantwortlich zu handeln und sich dabei von Gründen leiten zu lassen, in den Fähigkeiten des menschlichen Gehirns realisiert sind, wenn sie nicht sogar mit
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ihnen identisch sind. Die diachrone Identität der menschlichen Person ist allem Anschein nach von der diachronen Identität des menschlichen Körpers und seines Zentralorgans, des Gehirns, überhaupt nicht ablösbar. Wenn die Persistenzbedingungen der Person sich nicht von den Persistenzbedingungen ihres Körpers unterscheiden, wird es zum vollkommenen Rätsel, wie die Person ihr biologisches Ende überleben kann. Wir gehen davon aus, dass sich für jedes Individuum artspezifische Persistenzbedingungen angeben lassen, die umschreiben, welches Maß an Veränderung ein Individuum erleiden kann, bis es aufhört, ein Individuum seiner Art zu sein. 2. METAPHYSISCHE VERTIEFUNG Folgende drei Fragen hängen auf verschlungene Weise miteinander zusammen: (1) Wie bleibe ich in der Zeit mit mir identisch? (2) Was für ein Ding bin ich? (3) In welcher Beziehung stehe ich zu meinem Körper? Es handelt sich um typisch metaphysische Fragen, deren Relevanz für unser Thema sich auf den ersten Blick nicht zeigt. Frage (1) fragt nach den Bedingungen der diachronen Identität von Personen, d. h. nach dem, was dafür verantwortlich ist, dass Person P2 zum Zeitpunkt t2 numerisch dieselbe Person ist wie Person P1 zum Zeitpunkt t1. Die semantische und metaphysische Frage nach der diachronen Identität von Personen ist zu unterscheiden von der epistemischen Frage nach der diachronen Identität, d. h. der Frage, woran sich erkennen lässt, dass Person P2 zum Zeitpunkt t2 numerisch dieselbe Person ist wie Person P1 zum Zeitpunkt t1. Die semantische-plus-metaphysische Frage fragt nach den konstitutiven Kriterien der diachronen Identität – worin personale Identität besteht –, die epistemische Frage nach den evidentiellen Kriterien personaler Identität – wie sich herausfinden lässt, dass P2 und P1 numerisch dieselbe Person sind. Beide Fragen werden nicht immer auseinandergehalten. Die Beantwortung der semantisch-plus-metaphysischen Frage nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen der diachronen Identität von Personen (Frage 1) impliziert bereits die Antwort auf die Frage (2): Was für ein Ding bin ich? Wenn Metaphysiker sich eine Vorstellung davon gebildet haben, wie menschliche Personen in der Zeit mit sich identisch bleiben können, haben sie implizit die Frage beantwortet, welche Kategorie von Ding oder Objekt eine menschliche Person exemplifiziert. Metaphysiker kommen nicht umhin, die
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ontologische Frage nach den grundlegenden Kategorien der Wirklichkeit – Ding, Ereignis, Eigenschaft, Substanz – im Horizont von Veränderung und Zeit zu thematisieren. Was für ein Ding etwas ist, entscheidet sich an der Frage, wie es persistiert, d. h. zu mehr als einem Zeitpunkt numerisch identisch sein kann. Aristoteles bestimmte die Substanz als dasjenige Seiende, das zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz als ganzes präsent ist und nur akzidentelle Veränderungen durchläuft. Die moderne Ontologie spricht von Substanzen als Kontinuanten, “continuants”. 1 Alternative Ontologien werden diskutiert, wonach raum-zeitliche Dinge persistieren, nicht indem sie als ganze zu verschiedenen Zeitpunkten existieren, sondern indem sie analog zu ihrer räumlichen Ausdehnung auch zeitlich ausgedehnt existieren. Gemäß der einen Auffassung, die der Ontologie des Aristoteles nahe kommt und in der heutigen Debatte „Endurantismus“ genannt wird, haben Dinge schlechterdings keine zeitlichen Teile, sondern sind zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz als ganze präsent, was nicht ausschließt, dass sie früher einmal nicht existierten oder zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr existieren werden. Gemäß der anderen Auffassung, die mit David Lewis „Perdurantismus“ genannt wird, ist das, was wir ein Ding nennen, die mereologische Summe oder das Aggregat seiner räumlichen und zeitlichen Teile in der vierdimensionalen Raum-Zeit. 2 Für den Perdurantisten existieren streng genommen keine einzelnen Objekte, sondern nur zeitliche Abschnitte (“time slices”) oder Stadien (“stages”) sogenannter Objekte relativ zu vorgegebenen Raum-Zeit-Punkten. Objekte sind diesem Vorschlag gemäß nicht wesentlich verschieden von Ereignissen oder Prozessen. Objekt ist alles, was beliebig herausgegriffene Raum-Zeit-Intervalle ausfüllt, vorausgesetzt, die zeitlichen Teile weisen eine starke Ähnlichkeit auf und stehen in einer Art kausaler Vorläufer- oder Nachfolgebeziehung zueinander. Ein Objekt ist entweder ein vierdimensionaler Raum-Zeit-Wurm oder Tunnel, der alle einzelnen Stadien umfasst und dem man zu keinem Zeitpunkt ganz begegnen kann, oder eine Abfolge von einzelnen kausal miteinander verbundenen Stadien, ohne dass es darüber hinaus noch eine Einheit gäbe. Von 1 2
E. J. LOWE, Subjects of Experience, Cambridge 1996, 2. D. LEWIS, On the Plurality of Worlds, Malden (MASS) 1986, 202. Die Formulierung, die sich dort findet, ist gleichsam kanonisch geworden: “[S]omething persists iff, somehow or other, it exists at various times; this is the neutral world. Something perdures iff it persists by having different temporal parts, or stages, at different times, though no part of it is wholly present at more than one time; whereas it endures iff it persists by being wholly present at more than one time.”
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strikter numerischer Identität durch die Zeit kann dann nicht mehr die Rede sein. 3 Der Gegensatz von Perdurantismus und Endurantismus färbt auch auf das Verständnis der Zeit ab. Perdurantistische Metaphysiker vertreten in der Regel ein eternalistisches Verständnis der Zeit, wonach Vergangenheit und Zukunft nicht weniger real sind als die Gegenwart. Die Zeit ist eine Dimension der Realität, in der Art und Weise, in der es räumliche Dimensionen sind. Physische Objekte existieren aus eternalistischer Sicht zeitlos in der Raum-Zeit. Wir, die wir heute leben, sind in gewissem Sinn noch ungeboren oder schon tot. Eternalisten müssen davon ausgehen, dass sämtliche Personen, die je gelebt haben, koexistieren, wenngleich in Abständen, die sich über alle vier Dimensionen hinweg erstrecken. So wie mir ein Bewohner Neuseelands räumlich fern ist, obwohl er mit mir ko-existiert, so ist mir eine Person, die vor 100 Jahren starb, in der zeitlichen Dimension ferngerückt, obgleich sie weiter existiert. Ferne Zeiten sind wie ferne Kontinente – eine Auffassung, die endurantistische Metaphysiker für absurd halten, weil sie davon ausgehen, dass physische Objekte nur räumliche, keine zeitlichen Teile haben. Endurantisten gehen davon aus, dass Objekte entstehen und vergehen und dem Wandel unterworfen sind. Von daher legt sich die Sichtweise nahe, dass nur der gegenwärtige Zeitpunkt bzw. das, was gegenwärtig existiert, real ist. Diese Sichtweise wird in der Literatur auch „Präsentismus“ genannt. Die Frage (3), in welcher Beziehung die Person zu ihrem Körper steht, wird von der Mehrzahl analytischer Metaphysiker, die sich einem naturwissenschaftlich aufgeklärten Weltbild verpflichtet wissen, nicht-dualistisch beantwortet. Das Spektrum der als zulässig angesehenen nicht-dualistischen Antworten ist durch die Diskussion um die Lösung sogenannter Leib-Seele- bzw. Gehirn-Geist-Probleme abgesteckt. Dem Dualismus kommt in dieser Diskussion die Rolle des Sündenbocks zu, weil er an der Wiege des klassischen Leib-Seele-Problems stand. 4 Wie jedes philosophische Problem entstehen auch Leib-Seele3
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Zur Möglichkeit des Überlebens von Personen bei Verzicht auf numerische Identität siehe G. BRÜNTRUP, 3,5-Dimensionalismus und Überleben, in: Ders./M. Rugel/M. Schwartz (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 245-268. Die meines Erachtens zutreffendste Charakterisierung des Cartesischen Dualismus gibt Uwe Meixner: „Descartes glaubte in der Tat, dass es eine mögliche Welt gibt (um es in moderner Weise zu sagen), in welcher seine (tatsächlichen) cogitationes (und er zusammen mit ihnen) existieren, ohne dass irgendein physisches Ereignis, ja ohne dass irgendetwas Physisches existiert. […] Nichts in seinen Schriften legt nahe, dass er [diese Möglichkeit] als eine Möglichkeit ansah, die sich im normalen Ablauf der Natur hätte
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Probleme nicht im luftleeren Raum, sondern treten in einer Konstellation von Annahmen oder Voraussetzungen auf, die isoliert betrachtet höchst plausibel sind, in ihrer Gesamtheit aber zu Widersprüchen führen. Das klassische Seele-Leib-Problem entsteht, wenn man wie Descartes mentale Verursachung interaktionistisch als Einwirkung von Zuständen der mentalen Substanz (Seele) auf Zustände der physischen Substanz (Körper) und umgekehrt deutet und gleichzeitig versucht, die psycho-physische Wechselwirkung in das Weltbild der Physik zu integrieren. 5 Zur Lösung des klassischen Leib-Seele-Problems wurde vorgeschlagen, das Mentale so nahe wie möglich an das Physische zu rücken – bis hin zur Annahme einer psycho-physischen Identität. Wenn mentale Phänomene im kausal geschlossenen Bereich physischer Phänomene eine kausale Wirksamkeit haben sollen, dann müssen sie physische Phänomene sein. Jeder wird aber zugeben, dass Phänomene wie Schmerzen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Absichten, Überzeugungen und Wünsche nicht gänzlich physischer Natur sein können, auch wenn es naturgesetzlich unmöglich ist, dass sie ohne die entsprechenden physischen Korrelate im Gehirn und im zentralen Nervensystem ihrer Träger auftreten. Aber auch die Träger mentaler Vorkommnisse – Subjekte oder Personen – können nicht gänzlich physischer Natur sein, weil es für eine Person, die beispielsweise Schmerzen hat, irgendwie ist, diesen Schmerz zu haben; weil es für die Person irgendwie ist, diese Person zu sein. 6 Keinem physischen System können wir guten Gewissens eine Erste-Person-Perspektive zuschreiben. ergeben können oder die wenigstens mit den Naturgesetzen verträglich ist“ (U. MEIXDas Elend des Physikalismus in der Philosophie des Geistes, in: M. Knaup/T. Müller/P. Spät [Hg.], Post-Physikalismus, Freiburg 2011, 25-59, 40). Peter Bieri hat das klassische Leib-Seele-Problem als Trilemma rekonstruiert, das durch folgende drei Sätze charakterisiert werden kann: (1) Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene. (2) Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam. (3) Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen. Satz (1) ist die These des ontologischen Dualismus. Satz (2) drückt die Überzeugung aus, dass es mentale Verursachung gibt. Satz (3) enthält den für die Physik zentralen methodologischen Grundsatz, dass die physische Welt in sich kausal geschlossen ist und dass es für physische Ereignisse nur physische Ursachen gibt. Alle drei Sätze können nicht gleichzeitig wahr sein. Um die Sätze (2) und (3) zu retten, negiert die Mehrzahl der heutigen Philosophen Satz (1), die These des ontologischen Dualismus (P. BIERI, Generelle Einführung, in: Ders. [Hg.], Analytische Philosophie des Geistes, Weinheim 31997, 1-28, 5). Vgl. T. NAGEL, Wie es ist, eine Fledermaus zu sein?, in: P. Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, 261-275, 262. NER,
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In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden in der analytischen Metaphysik und Philosophie des Geistes erhebliche Anstrengungen unternommen, um zwischen der Skylla des psycho-physischen Dualismus und der Charybdis des reduktiven Physikalismus hindurchzusegeln. Diese Ansätze werden meist unter dem Titel des nichtreduktiven Physikalismus diskutiert. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass sie als Träger mentaler Eigenschaften physische Substanzen ansetzen, z. B. konkrete Lebewesen, Gehirne, computationale Netze auf Silicon-Basis, auf der Ebene der Eigenschaften aber Kompromisse eingehen, der Art, dass sie zugeben, dass Typen mentaler Eigenschaften zwar nicht mit Typen physischer Eigenschaften identisch sind, aber in einer Beziehung der kausalen Abhängigkeit, Determination und Konstitution zueinander stehen, wobei klar sein dürfte, in welcher Richtung die Abhängigkeitsrelation verläuft. Die Zauberworte heißen „Supervenienz“ und „Emergenz“. Anhänger der Supervenienz gehen davon aus, dass Vorkommnisse mentaler Eigenschaften über Vorkommnissen physischer Eigenschaften supervenieren, der Art, dass es naturgesetzlich oder metaphysisch unmöglich ist, dass Vorkommnisse des einen Typs auftreten, ohne Vorkommnisse des anderen Typs hervorzurufen. Ein charakteristisches Feuern von Neuronen ist die hinreichende Bedingung dafür, dass der Organismus Schmerz empfindet, eine bestimmte Wahrnehmung macht, eine Überzeugung ausbildet etc. Anhänger der Emergenz teilen zwar dieses Verständnis der Supervenienz, betonen jedoch die Neuartigkeit und Unableitbarkeit mentaler Eigenschaften gegenüber ihrer physischen Basis. Sie sind bereit, den emergenten mentalen Phänomenen kausale Kräfte zuzugestehen, die nicht mit den kausalen Kräften ihrer subvenienten Basis identisch sind, was einschließt, dass Verursachung in beiden Richtungen, „aufwärts“ und „abwärts“, erfolgt. Die Frage (3) – in welcher Beziehung die Person zu ihrem Körper steht – lässt sich nun wie folgt beantworten: eine menschliche Person ist mit ihrem funktionierenden Organismus, d. h. einem Lebewesen der biologischen Art Mensch, identisch, was nicht besagt, dass ihre Erlebnisse, Gefühle und Gedanken, auch solche selbstbezüglicher Art, biologische oder physische Phänomene wären. Die mentalen Zustände der Person supervenieren über bzw. emergieren aus Zuständen ihres Körpers oder Gehirns. Die Person hingegen ist nicht vom lebenden Organismus verschieden. Die Persistenzbedingungen der Person sind keine anderen als die Persistenzbedingungen des
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menschlichen Lebewesens. Diese Position heißt in der Literatur „Animalismus“, ihr bedeutendster Vertreter ist Aristoteles. 7 3. ARISTOTELES UND SEINE MODERNEN ADEPTEN Die diachrone Identität eines lebendigen Organismus O hat nicht zur Voraussetzung, dass O zum Zeitpunkt t1 dieselben Materiepartikel enthält bzw. aus derselben Menge von Materiepartikeln zusammengesetzt ist wie zum Zeitpunkt t2. Infolge des Stoffwechsels mit seiner natürlichen Umwelt tauscht der Organismus fortwährend Materiepartikel aus. Entscheidend für die diachrone Identität des Organismus ist vielmehr, dass die Materie in einer für den Organismus charakteristischen Weise organisiert ist und dass der Austausch von Materie und Energie allmählich erfolgt. Ein Organismus ist mehr als die mereologische Summe seiner Teile. Für Aristoteles unterscheiden sich die Persistenzbedingungen menschlicher Personen nicht wesentlich von den Persistenzbedingungen anderer belebter und unbelebter Substanzen, Artefakte eingeschlossen. Eine menschliche Person ist der Spezialfall einer Substanz, wobei er unter „Substanz“ sowohl die individuelle Substanz, z. B. das einzelne konkrete Lebewesen, das zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Eigenschaften instantiieren kann, als auch Gattung und Art, z. B. Lebewesen und biologische Art Mensch, versteht. 8 Eine Substanz ist für Aristoteles die individuelle, in Raum und Zeit lokalisierbare Substanz, weil sie aus Stoff (Materie) und Form – und – zusammengesetzt ist. Stoff und Form sind keine unabhängig voneinander vorkommenden Ingredienzien eines Dings, sondern komplementäre und unselbständige Prinzipien konkreter Substanzen. Die Form umfasst die wesentlichen Eigenschaften der Substanz, die sie nicht verlieren kann, ohne aufzuhören, diese Substanz zu sein. Die Form ist mit Blick auf die individuelle Substanz immer Artform – – Allgemeines. Die Form als Universale vermag das Lebewesen oder Ding nicht zu individuieren. Principium individuationis ist der Stoff (Materie), freilich nicht die prima materia als reine Unbestimmtheit oder Potentialität, sondern die raum7
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Der wichtigste moderne Vertreter ist Eric T. Olson, vgl. DERS., What Are We? A Study in Personal Ontology, Oxford 2007, Kap. 2. In der Kategorienschrift spricht Aristoteles von „erster“ und „zweiter“ Ousia (Kategorien 2a, 11-19). „Ousia“ wurde in der Schulphilosophie mit „Substanz“ übersetzt. Erste Ousia ist das konkrete Lebewesen, zweite Ousia Gattung und Art, die von dem Lebewesen instantiiert werden.
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zeitlich abgegrenzte und von einer bestimmten Artform durchformte und damit quantifizierbare Materie – materia quantitate signata. Die Selbigkeit der Materie im Fall des konkreten Lebewesens ist mit der Tatsache vereinbar, dass das Lebewesen mit seiner Umwelt permanent Materiepartikel austauscht und zu keinen zwei Zeitpunkten seiner Existenz auf der Ebene seiner Materieteilchen mereologisch identisch ist. Sofern die Philosophie des Aristoteles einen Dualismus kennt, handelt es sich um keinen Leib-Seele-Dualismus, sondern um einen Materie-Form-Dualismus mit Blick auf eine raum-zeitlich abgrenzbare konkrete Materie. Die aristotelische Version des Dualismus wird auch Hylemorphismus genannt. Das Verhältnis der Seele zum belebten Körper ist für ihn ein Spezialfall des Verhältnisses des formgebenden Prinzips zur Materie. Die Seele als forma corporis ist für Aristoteles nicht nur Bauplan oder genetischer Kode, sondern die „erste Vollendung eines natürlichen Körpers, der der Möglichkeit nach Leben hat“ 9. „Zweite Vollendung“ ist das wirkliche Leben des natürlichen Körpers, die Ausübung seiner Lebensfunktionen, die beim Menschen die Ausübung des Intellekts einschließt. Eine vom menschlichen Körper abtrennbare Seele kennt Aristoteles nicht. Der allein abtrennbare Seelenteil ist der Intellekt, doch dieser ist überindividuell und göttlich. Der konkrete Mensch beendet seine Existenz mit dem Erlöschen seiner Körperfunktionen. Die christlichen Aristoteliker des Hochmittelalters, allen voran Thomas von Aquin, haben versucht, dieser Konsequenz zu entgehen, indem sie den Intellekt mit dem Formprinzip des individuellen Körpers verschmolzen und zu einer „intellektualen Substanz“10 hypostasierten, die als forma separata vom Körper abtrennbar ist. Die Seele überdauert die Trennung vom Körper, doch ist sie in ihrem Überdauern nicht die menschliche Person, sondern nur ein Teil von ihr, der überdies in naturwidrigem Zustand fortexistiert und auf die Wiedervereinigung mit dem Körper angewiesen ist, was ihrer „vollkommenen Seligkeit“ bei Gott keinen Abbruch tut.11 Die Identität der Person ist bei alledem nichts Geistiges, sondern die Identität ihrer Materie, da auch die vernunftbegabte Seele ihr Telos darin findet, die Form einer konkreten raum-zeitlich abgrenzbaren Materie zu sein. Die Individualität der Person wird unbeschadet ihrer Gottesebenbildlichkeit und Intellektualität durch die quantitative Verschiedenheit 9
De anima II, 1, 412a 27f. Summa contra gentiles II, Kap. 49. 11 Summa theologiae I/II, 4,5. 10
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ihrer Materie konstituiert. Der christliche Aristotelismus ist trotz lehramtlicher Bestätigung nicht frei von auffälligen Ungereimtheiten.12 Der Hylemorphismus des Aristoteles hat die missliebige Konsequenz, dass die Persistenzbedingungen der menschlichen Person keine anderen sind als die Persistenzbedingungen des menschlichen Lebewesens. Mit dem Ende des menschlichen Lebewesens endet die Existenz der menschlichen Person. Christliche Philosophen unserer Tage haben sich Modelle ausgedacht, wonach die Identität der Person von der numerischen Identität ihres Körpers unabhängig ist, ohne dass der Idee Raum gegeben wird, dass Personen unverkörpert existieren. Die von Lynne Baker vorgeschlagene Modifikation des Aristotelismus besteht darin, das Verhältnis der Person zu ihrem Körper als ein Verhältnis der Konstitution zu bestimmen.1 3 Beispiele für Konstitution im nicht-menschlichen Bereich sind das Verhältnis des Klumpen Erzes zur Statue, des bedruckten Papierstücks zur 10 Euro-Banknote, des DNAStrangs zum Gen. Der Klumpen Erz kann in einer Welt existieren, in der es nie zur Fertigung einer Statue gekommen ist. Das bedruckte Papierstück kann in einer Welt ohne Bargeldverkehr existieren, das DNA-Molekül in einer Welt ohne Lebewesen. Konstitution ist nicht Identität. Dennoch sind die Statue, die Banknote und das Gen etwas durch und durch Physisches. Die menschliche Person wird durch das menschliche Lebewesen konstituiert, ohne mit diesem identisch zu sein, indem Gehirn und Nervensystem des Lebewesens eine ErstePerson-Perspektive emergieren lassen. Dass die Person diesen und keinen anderen Körper hat, ist mit Blick auf ihre Erste-Person-Perspektive ein kontingentes Faktum. Die Person ist zu ihrer Konstitution auf einen funktionsfähigen Körper angewiesen, aber dieser Körper muss nicht einmal ein Körper der biologischen Art homo sapiens oder Mensch sein. Baker weist darauf hin, dass unsere organischen Körper im Abstand einiger Jahre einem vollständigen Austausch ihrer Atome unter12
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Vgl. G. GRESHAKE, Das Verhältnis ‚Unsterblichkeit der Seele‘ und ‚Auferstehung des Leibes‘ in problemgeschichtlicher Sicht, in: Ders./G. Lohfink (Hg.), Naherwartung – Auferstehung – Unsterblichkeit (Quaestio disputata 71), Freiburg 1973, 82-130, 95f. Ob Thomas̕ Versuch der Umarbeitung des aristotelischen Hylemorphismus als gelungen angesehen werden darf und ob die Anima-Forma-Corporis-Lehre zum Kernbestand des christlichen Menschenbilds zählt, wird seit dem Zerfall der Scholastik in der Mitte des 20. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Vgl. J. RATZINGER, Eschatologie. Tod und ewiges Leben, Regensburg 61990, Kap. 5. L. BAKER, Personen und die Metaphysik der Auferstehung, in: G. Brüntrup/M. Rugel/M. Schwartz (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 189-208, 194f. Vgl. auch L. BAKER, Persons and Bodies. A Constitution View, Cambridge 2000.
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liegen, ohne dass sie aufhören, unsere Körper zu sein. Warum sollte es nicht möglich sein, dass wir auf die gleiche Weise einen graduellen Austausch der organischen Zellen durch bionische Zellen bis hin zum vollständigen Ersatz unseres organischen Körpers durch einen bionischen Körper überleben? Mein bionischer Körper gehört nicht der Spezies homo sapiens an, es wäre aber der Körper, der mich als Person konstituiert.14 Die allmähliche Ersetzung meines organischen Körpers durch einen bionischen Körper hat meine Existenz nicht zum Verschwinden gebracht. Wie hat man sich die postmortale Existenz der menschlichen Person vorzustellen, und was garantiert die Selbigkeit der Erste-Person-Perspektive mit Blick auf die prä- und postmortale Person? Auf die erste Frage kann die Anhängerin der Konstitutionstheorie antworten, dass Gott ein Wunder der Art wirkt, dass er einen Auferstehungsleib erschafft, der die Potenz besitzt, erneut eine ErstePerson-Perspektive emergieren zu lassen. Zur Beantwortung der zweiten Frage kann die Anhängerin der Konstitutionstheorie das „Argument aus der Vorsehung“ heranziehen.15 Gemäß traditioneller Lehre von der Vorsehung hängt das Zustandekommen jedes kontingenten Sachverhalts von Gottes freiem Beschluss ab. Ob dieser oder jener Körper eine Person konstituiert, ist ein kontingenter Sachverhalt. Es steht also in Gottes Macht, darüber zu verfügen, welcher Körper der Körper einer bestimmten Person ist und welcher nicht. Wenn Gott beschließt, dass die Person mit einem Auferstehungsleib meine ErstePerson-Perspektive besitzt, dann bin ich die Person mit diesem Auferstehungsleib. Meine postmortale Identität ist in einem fiat Gottes grundgelegt. Die Konstitutionstheorie menschlicher Personen ist mit einer Position verwandt, die von William Hasker „emergenter Dualismus“ genannt wird.1 6 Der emergente Dualist teilt mit Platon und Descartes die Auffassung, dass der Geist eine Entität sui generis ist, die nicht mit dem Körper oder dem Gehirn oder einem Aggregat von Atomen und Molekülen identisch ist. Auf der anderen Seite stimmen emergenter Dualismus und Emergenztheorie darin überein, dass Mentales nur als Resultat einer bestimmten Konfiguration von Materie in die Existenz treten kann. Im Unterschied zur Emergenztheorie, die nur eine (physische) Substanz akzeptiert und aus dieser die emergenten Eigenschaf14 15 16
BAKER, Personen und die Metaphysik der Auferstehung, 195. Ebd., 204. W. HASKER, On Behalf of Emergent Dualism, in: J. B. Green (Hg.), In Search of the Soul. Four Views of the Mind-Body-Problem, Eugene (OR) 2005, 75-100, 78f.
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ten hervortreten lässt, kennt der emergente Dualismus die Emergenz von Individuen im substanziellen Sinn. So ist der menschliche Geist ein emergentes Individuum, das nicht aus dem chemischen Stoff besteht, aus dem Körper und Gehirn bestehen. Die zentralen Eigenschaften, die wir mit dem Personsein verbinden – Bewusstsein, Intentionalität, Spontaneität, Urheberschaft von Handlungen – sind keine Eigenschaften des Gehirns, sondern des Geistes. Dennoch ist der Geist hinsichtlich seines Ursprungs und seiner Erhaltung von einem funktionierenden Gehirn abhängig. Die Persistenzbedingungen des Geistes sind keine anderen als die Persistenzbedingungen des Organismus, aus dem der Geist emergiert. Eine postmortale Existenz geistiger Individuen ist nur denkbar, wenn Gott den Verlust ihres organischen Substrats durch ein Wunder kompensiert. Baker und Hasker ist es mit ihren Modellen gelungen, die Gleichsetzung von menschlichem Lebewesen und menschlicher Person zu unterlaufen – eine Position, die ich weiter oben „Animalismus“ genannt und dem Aristoteles zugeschrieben habe –, ohne sich den dualistischen Positionen Platons oder Descartes̕ anzunähern. Beide Autoren konnten plausibel machen, dass es kein essentielles Merkmal der Person ist, einen menschlichen Körper zu haben, obgleich die Person durch einen Körper konstituiert wird bzw. aus diesem emergiert. In keiner möglichen Welt existieren Personen körperlos, doch in der einen oder anderen möglichen Welt existieren sie ohne organischen Körper. Baker und Hasker konnten zeigen, dass die Persistenzbedingungen von Personen nicht den Persistenzbedingungen organischer Körper entsprechen, mehr nicht. Es ist ihnen nicht gelungen, Bedingungen anzugeben, unter denen die Erste-Person-Perspektive einer prämortalen Person A die Erste-Person-Perspektive einer postmortalen Person Ω sein kann – Bedingungen, unter denen A und Ω ein und dieselbe Person sind. Wäre die (menschliche) Person mit ihrem Körper identisch, ließe sich die Frage, ob A und Ω dieselbe Person sind, schnell beantworten: A und Ω sind dieselbe Person dann und nur dann, wenn ihre Körper numerisch identisch sind. Nun gingen Baker und Hasker aus guten Gründen von der Wahrheit der gegenteiligen These, nämlich der Verschiedenheit von Körper und Person aus. Ein körperliches Kriterium der diachronen personalen Identität scheidet daher aus. Ein anderes Kriterium haben sie nicht. Den Dualismus lehnen sie ab. Unter Dualismus verstehe ich die Annahme, dass es eine mögliche Welt gibt, in der Subjekte und Erfahrungen existieren, ohne dass irgendein physisches Ereignis, ja ohne dass irgendetwas Physisches existiert. Dabei handelt es sich um keine Möglichkeit, die sich im norma-
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len Ablauf der Natur hätte ergeben können. Aus der naturgesetzlichen Unmöglichkeit, dass eine Erste-Person-Perspektive auftritt, ohne dass irgendetwas Physisches existiert, darf nicht geschlossen werden, dass in jeder metaphysisch möglichen Welt Erste-Person-Perspektiven nur auf der Grundlage physischer Ereignisse emergieren. Wenn zwei Dinge unabhängig voneinander existieren können, dann sind sie real verschieden. Der modallogische Schluss von der Möglichkeit auf die Wirklichkeit bildet den Hintergrund von Descartes̕ berühmtem Argument für die vom Körper unabhängige Existenz der Seele im VI. Buch der Meditationes. Prominente analytische Autoren wie Saul A. Kripke und David Chalmers haben diesen Argumentationstyp herangezogen, um die Falschheit des reduktiven Physikalismus nachzuweisen.17 Ich gehe also mit Descartes davon aus, dass die menschliche Person weder mit ihrem biologischen Körper noch überhaupt mit einem Körper identisch ist, was sie nicht davon abhält, verkörpert zu existieren und in dieser Welt für die Aufrechterhaltung ihres mentalen Lebens auf ein intaktes Gehirn angewiesen zu sein. Die Frage, wie die Erste-Person-Perspektive einer prämortalen Person A die Erste-Person-Perspektive einer postmortalen Person Ω sein kann, lässt sich nun wie folgt beantworten: A und Ω sind dieselbe Person dann und nur dann, wenn die psychologischen Substanzen, die ihr Personsein konstituieren, numerisch identisch sind – klassisch formuliert: wenn ihre Seelen numerisch identisch sind. 4. DASEINSHERMENEUTIK, ONTOLOGIE UND THEOLOGIE An dieser Stelle lässt sich der Einwand erheben, dass die Identitätsrelation, in der die Person ihren Selbstand gewinnt, überhaupt nicht ontischer, sondern projektiver Natur ist. Personen konstituieren sich durch ihr wissendes Selbstverhältnis, indem sie gleichzeitig um andere Personen und um Sachen in der Welt, um ihre Herkunft und ihre Zukunft wissen. Um personales Sein von der Seinsweise eines Dings, gleich ob Körper oder Seele, abzugrenzen, prägte Heidegger den Neologismus vom „Dasein“, das „nicht nur unter anderem Seienden vorkommt“, das vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet ist, dass es ihm „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“, dass es „in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat“, dass sein Wesen darin 17
S. A. KRIPKE, Naming and Necessity, Cambridge (MASS) 1972, 97-100; D. J. CHALMERS, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford 1996, Kap. 4.
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liegt, dass es „je sein Sein als seiniges zu sein hat“.18 Seiendes von der Seinsart des Daseins unterscheidet sich fundamental von der Seinsart des bloß Vorhandenen, indem es „sich selbst vorweg“ ist bei seinen zukünftigen Möglichkeiten, auf die hin es sich entwerfen kann, denen es sich ebenso verweigern kann. Als die „eigenste, unbezügliche, unüberholbare und gewisse[ste] Möglichkeit“ gilt Heidegger der je eigene Tod.19 Dasein ist von seinem Wesen her zukünftig, indem es in seinem Ende auf sich zukommen kann. ‚Zukunft‘ meint hier nicht ein Jetzt, das, noch nicht ‚wirklich‘ geworden, einmal erst sein wird, sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt.2 0
Unter den drei „Ekstasen“ der Zeitlichkeit – Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit – ist die Zukunft die ursprünglichere, indem sie als zukünftig gewesene „allererst die Gegenwart weckt“.2 1 Während eine Substanz einfach in der Zeit andauert, führt das Dasein eine zeitliche, projektive Existenz – es muss sich in seinem Sein um sein Selbstseinkönnen sorgen, da es „je seine Möglichkeiten selbst ist, so zwar, dass es sich in und aus ihnen versteht (auf sie sich entwirft)“.22 Mein Selbstseinkönnen ist keine Frage einer theoretisch-metaphysischen Vermittlung, sondern die Frage einer authentischen Lebensführung, einer sittlich verantworteten endgültigen Lebenswahl. Da Heidegger bei seinen Analysen nicht von der Ereigniszeit ausgeht, dergemäß Ereignisse vor dem Hintergrund der Idee eines objektiven Zeitablaufs als frühere, spätere, gleichzeitige oder so und so lange währende verknüpft werden, sondern von der Zeitform der inneren Zeit in ihrem Bezogensein auf das Ganze einer menschlichen Existenz, ist er substanzontologischen Überlegungen enthoben. Der Frage nach dem ontischen Substrat des Daseins lässt sich so leicht aus dem Weg gehen. In dieser Auslassung hat Heidegger natürlich prominente Vorgänger. Da ist zum einen Kant mit seiner These von der Idealität der Zeit und der Nichterkennbarkeit des „Dings an sich“ zu erwähnen. Da ist der große Locke, der die Identität der Person von der Vorstellung einer Substanz, die diese Identität trägt, ablöst und vollständig in das Selbstbewusstsein verlegt. Der subjekttheoretische Begriff der Person ist vom metaphysischen Begriff der Substanz und dem Begriff des 18 19 20 21 22
M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 121972, 12. Ebd., 265. Ebd., 325. Ebd., 329. Ebd., 181.
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Menschen als einer natürlichen biologischen Art zu trennen. Das Wort „Person“ bezeichnet für ihn ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfasst sich als dasselbe Ding, das sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewusstsein, das vom Denken untrennbar ist. Hierbei kommt es in diesem Fall nicht darauf an, ob dasselbe Selbst in derselben oder in verschiedenen Substanzen weiterbesteht.23
Die Identität der Person wird durch die erinnerte Vergangenheit, d. h. durch das Gedächtnis und aktuale Erinnerungen konstituiert. Dass es Locke mit der Verselbständigung des identitätstragenden Bewusstseins gegenüber einer in der Zeit persistierenden Substanz ernst ist, macht folgendes Gedankenexperiment deutlich: Wenn Sokrates und der gegenwärtige Bürgermeister von Queinsborough hierin übereinstimmen [dass sie dieselbe Person sind], so sind sie dieselbe Person. Wenn derselbe Sokrates im Wachen und im Schlafen nicht an demselben Bewusstsein teilhat, dann sind der wachende und der schlafende Sokrates nicht dieselbe Person.24
Es verbietet sich zu fragen, was geschieht, wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert. Hört er auf, die Person zu sein, die er bis zum Zeitpunkt seines Gedächtnisverlusts gewesen ist? Entsteht mit dem Gedächtnisverlust eine neue Person? In diese und ähnliche Paradoxien gerät jedes rein psychologische Kriterium der diachronen personalen Identität. Der Verzicht auf ein ontisches Substrat der biblisch bezeugten Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod kennzeichnet den mainstream protestantischer Theologie im 20. Jahrhundert, die weitestgehend zu einer Theologie „ohne Seele“ geworden ist.25 An die Stelle des durch eine geschöpfliche Qualität begründeten Selbstands der Person tritt die Idee ihres restlosen Bezogenseins auf Gott. Das von Gott her konstituierte Personsein des Menschen dispensiert die Theologie von jeglicher geschöpflich-ontologischen Vermittlung. Gott kann seinem Geschöpf eine Zukunft schenken, ohne dass es eines Identitätsträgers auf Seiten des Geschöpfs bedürfte. Die neuere pro23 24 25
J. LOCKE, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch 2, Kap. 27, Nr. 9. Ebd., Nr. 19. R. C. HENNING, Die protestantische Seele – Der Mensch vor Gott, in: G. Gasser/J. Quitterer (Hg.), Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge, Paderborn 2010, 343-360, 348f.
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testantische Sicht mündet folgerichtig in die Ganztodlehre, dergemäß der Tod nicht eine Trennung von Seele und Leib herbeiführt, sondern den vollständigen Untergang von beiden. Auf katholischer Seite betont Karl Rahner, dass „radikale Abhängigkeit und echte Wirklichkeit des von Gott herkünftigen Seienden […] im gleichen und nicht im umgekehrten Maße“ wachsen.26 Die Person ist für Rahner das „Ereignis der einer freien, ungeschuldeten und vergebenden, absoluten Selbstmitteilung Gottes“.27 Für Rahner wie für die katholische Theologie ist die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod keineswegs allein in der Unableitbarkeit der Auferstehung Jesu und der biblischen Auferstehungsbotschaft begründet, vielmehr hat sie auch einen Bezugspunkt in dem, was Menschen erfahren und von sich erkennen können.28 Die metaphysische Frage „Wie bleibe ich in der Zeit mit mir identisch?“ hat bereits eine vorläufige Antwort gefunden. Die Erste-PersonPerspektive, die zu mir gehört, konstituiert sich auf der Basis einer Substanz, die in der Zeit persistiert. Als Kandidaten für diese Substanz kamen in Betracht: das menschliche Lebewesen, ein Ersatzkörper für das menschliche Lebewesen, eine Seele, die ohne Körper existieren kann. Obgleich die zuletzt genannte Möglichkeit sicher nicht mit den Naturgesetzen übereinstimmt, handelt es sich um eine Möglichkeit, die von Gott verwirklicht werden könnte.
26
27 28
K. RAHNER, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 51976, 86. Ebd., 122. Vgl. G. GRESHAKE, Tod und Auferstehung, in: F. Böckle (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 5, Freiburg 1980, 63-130, 115.
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Literatur BAKER, LYNNE, Personen und die Metaphysik der Auferstehung, in: Godehard Brüntrup/Matthias Rugel/Maria Schwartz (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 189-208. –, Persons and Bodies. A Constitution View, Cambridge 2000. BIERI, PETER, Generelle Einführung, in: Ders. (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Weinheim 31997, 1-28. BRÜNTRUP, GODEHARD, 3,5-Dimensionalismus und Überleben, in: Ders./Matthias Rugel/Maria Schwartz (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 245-268. CHALMERS, DAVID J., The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford 1996. GRESHAKE, GISBERT, Tod und Auferstehung, in: Franz Böckle (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 5, Freiburg 1980, 63-130. –, Das Verhältnis ‚Unsterblichkeit der Seele‘ und ‚Auferstehung des Leibes‘ in problemgeschichtlicher Sicht, in: Ders./Gerhard Lohfink (Hg.), Naherwartung – Auferstehung – Unsterblichkeit (Quaestio disputata 71), Freiburg 1973, 82-130. HASKER, WILLIAM, On Behalf of Emergent Dualism, in: Joel B. Green (Hg.), In Search of the Soul. Four Views of the Mind-Body-Problem, Eugene (OR) 2005, 75-100. HEIDEGGER, MARTIN, Sein und Zeit, Tübingen 121972. HENNING, RUDOLF CHRISTIAN, Die protestantische Seele – Der Mensch vor Gott, in: Georg Gasser/Josef Quitterer (Hg.), Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge, Paderborn 2010, 343-360. KRIPKE, SAUL A., Naming and Necessity, Cambridge (MASS) 1972. LEWIS, DAVID, On the Plurality of Worlds, Malden (MASS) 1986. LOWE, ERNEST JONATHAN, Subjects of Experience, Cambridge 1996. MEIXNER, UWE, Das Elend des Physikalismus in der Philosophie des Geistes, in: Marcus Knaup/Thomas Müller/Patrick Spät (Hg.), Post-Physikalismus, Freiburg 2011, 25-59. NAGEL, THOMAS, Wie es ist, eine Fledermaus zu sein?, in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Weinheim 31997, 261-275. OLSON, ERIC T., What Are We? A Study in Personal Ontology, Oxford 2007. RAHNER, KARL, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 51976. RATZINGER, JOSEPH, Eschatologie. Tod und ewiges Leben, Regensburg 61990.
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Glaube und Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur christlichen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod Allenthalben gibt es heute die verschiedensten Versuche, den als zu vage empfundenen religiösen Glauben an ein Leben nach dem Tod abzusichern oder zu ersetzen durch empirisch gesichertes Wissen (z. B. im Umfeld von Sterbeforschung, von Wiedergeburtslehre, von Parapsychologie und Spiritismus). Diese Versuche setzen auf die Faszination, die die Naturwissenschaften und ihre exakten Beweisführungen auf viele Menschen unserer Kultur ausüben; endlich soll es auch in der Frage nach dem Jenseits von irdischem Leben und biologischem Tod so präzise zugehen. Ein Musterbeispiel bietet die (ansonsten außerordentlich verdienstvolle) Sterbeforscherin Elisabeth KüblerRoss in ihrem kleinen, aus dem Englischen übersetzten und in vielen Auflagen erschienenen, Bestseller Über den Tod und das Leben danach. Im ersten Kapitel schreibt sie etwas vollmundig: 2000 Jahre lang hatte man Sie dazu ersucht, an die jenseitigen Dinge zu ‚glauben‘. Für mich ist es nicht mehr eine Sache des Glaubens, sondern eine Sache des Wissens. Ich sage Ihnen gern, wie man zu diesem Wissen gelangt, vorausgesetzt, Sie wollen wissen. 1
Wer wird da schon nein sagen? Im Laufe des Büchleins, in dem sie von einigen Nahtod-Erfahrungen ihrer Klienten erzählt, ist sie stellenweise dann doch etwas zurückhaltender. Sie muss eben zugeben, dass diese Menschen noch nicht definitiv tot waren, sondern nur eine extreme Todesnähe erfahren haben.
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E. KÜBLER-ROSS, Über den Tod und das Leben danach, Neuwied 151993, 9.
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1. EINE ETWAS LÄNGERE EINLEITUNG ZUM VERHÄLTNIS VON GLAUBE UND VERNUNFT IM BEREICH DER CHRISTLICHEN HOFFNUNG AUF VOLLENDUNG DES LEBENS BEI GOTT Was die zitierte Aussage von Elisabeth Kübler-Ross angeht (die keineswegs heute damit allein dasteht): Ich halte solche Aussagen für eine wissenschaftstheoretische Grenzüberschreitung. „Glauben“ (im Sinn der christlichen Religion) und „Wissen“ (im Sinn der empirischen Wissenschaften) sind zwei sehr verschiedene Weisen, unsere Wirklichkeit zu erkennen und zu deuten, und man sollte sie nicht vermischen – gerade um der methodischen Klarheit willen. Ein methodisch unsauberes Vorgehen macht beide Seiten auf Dauer unglaubwürdig und unfähig zu einem intellektuell redlichen Diskurs. Ob z. B. meine verstorbenen Eltern in einer ganz anderen, von Gott verwandelten Weise leben oder nicht, das lässt sich mit keiner wissenschaftlichen oder den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebenden Methode verifizieren oder falsifizieren, ebenso nicht, was aus mir nach dem Tod wird. Es ist und bleibt eine Sache des religiösen Glaubens und Hoffens. Der Glaube an das Wort Gottes, zumal an die Botschaft von der Auferstehung Jesu und die darin implizierte Verheißung ist der eigentliche Grund unserer Hoffnung auf Vollendung unseres Lebens und unserer ganzen Welt bei Gott nach dem Ende dieser irdischen Zeit. Visionen, Nahtoderlebnisse vor dem eigentlichen Tod, also vor dem definitiven Erlöschen aller vitalen Lebensfunktionen, Rückführungstherapien im Bereich der Psychologie, spiritistische Kontakte mit Verstorbenen: Ich will keineswegs leugnen, dass es diese Phänomene gibt und dass sie für die Betroffenen oft sehr wichtige Hinweise oder beeindruckende Zeichen für ein Leben nach dem Tod sein können, die ihre religiös-weltanschauliche Überzeugung verstärken oder sie dazu erst motivieren und bewegen. Aber ich sehe darin keine empirischen Beweise oder Begründungen für die christliche Überzeugung von einem personalen Leben nach dem Tod bei Gott. In diesem ganzen Erfahrungsbereich ist eine eindeutige Unterscheidung zwischen der produktiven subjektiven Einbildungskraft zum einen, die doch starken Beeinflussungen und Übertragungsmechanismen durch andere Personen ausgesetzt ist, und zum anderen einer mit wissenschaftlichen Methoden nachweisbaren, außersubjektiven Realität kaum möglich. Ist damit aber eine vernünftige Begründung des religiösen Glaubens und Hoffens generell ausgeschlossen? Keineswegs. Eine tragfähige Brücke zwischen Glauben und Vernunft in diesem Bereich bildet m. E. eine spezielle Form der philosophischen Vernunft – im Sinn des
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klassischen Axioms von Anselm von Canterbury und der ganzen christlichen Tradition: fides quaerens intellectum – Glaube, der das vernünftige Verstehen seiner Aussagen sucht. Das gilt genauso auch für die christliche Hoffnung: spes quaerens intellectum – auch die Hoffnung versucht ja, die biblische Verheißung eines Lebens nach dem Tod so weit wie möglich zu verstehen und als vernunftgemäß aufzuweisen. Daran ist der Hoffende selbst interessiert, aber auch die, die von uns Christen „Rechenschaft über unsere Hoffnung“ einfordern. 2 Welche Art von Vernunft kann dies heute leisten? Es gibt ja inzwischen eine große, für einen armen Theologen schier unüberschaubare Vielfalt von Vernunft- und Rationalitätsbegriffen. Ich bevorzuge in unserer Frage einen Vernunftbegriff, der am ehesten im Bereich der praktischen Vernunft (im Sinne Immanuel Kants) zu verorten ist. Also eine Vernunft, die durch drei Charakteristika gekennzeichnet ist: 1. Sie traut den in unsrer normalen Lebenswelt von allen Menschen spontan geteilten und sich bewährenden Alltagsintuitionen; sie hält sie für wahr. Z. B. dass der Mensch Freiheit besitzt, dass sein Handeln zwar abhängig, aber nicht vollständig determiniert ist durch seine Gene, seine Biographie etc., so dass er sich frei für bestimmte Handlungen, Verhaltensweisen und Überzeugungen entscheiden kann und damit auch in gewissem Grad Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann. Auf dieser Voraussetzung beruhen z. B. die ganze Pädagogik und unsere Rechtsprechung. 2. Es ist eine Vernunft, die an der alten ethischen Grundfrage der praktischen Philosophie nach dem guten, gelingenden Leben des Menschen interessiert ist, sowohl im persönlichen wie im gesellschaftlichen Bereich. Es ist eine Vernunft, deren wichtigstes erkenntnisleitendes Interesse die Wahrung der Humanität menschlichen Lebens ist, gerade auch unter den geschichtlich sich ständig verändernden Lebensbedingungen. 3. Es ist zugleich eine Vernunft, die dafür offen ist, auch die Antworten des religiösen Glaubens auf solche menschlichen Grundfragen wie der nach einem jenseitigen Leben in Betracht zu ziehen und deren Argumente im Diskurs der verschiedenen weltanschaulichen Optionen unvoreingenommen zu diskutieren. Dass die Antworten des religiösen Glaubens dabei nicht mit jeden Zweifel und Widerspruch ausräumenden, logisch zwingenden Argumenten aufwarten kann, ist im Bereich philosophischer Diskurse selbstverständlich; das gilt ge2
Vgl. 1 Petr 3,15.
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nauso auch für andere ethische Positionen. Gerade hier werden wir nie dem von Paul Ricoeur treffend bezeichneten „Konflikt der Interpretationen“ entgehen – was auch gut ist; denn dieser Konflikt zwingt den Glauben, seine Hoffnung immer wieder neu vor dem Forum der verschiedenen Weltdeutungen zu verantworten. Auf der Basis dieses vorausgesetzten Vernunftverständnisses möchte ich jetzt drei klassische Argumente kurz darstellen, die bis heute – trotz aller Einsprüche – ihre Bedeutung für den Aufweis der Vernunftgemäßheit der christlichen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod bei Gott behalten haben. Die begründende Kraft dieser Argumente beruht nach John Henry Newman (wie stets in solchen Fragen, die den Sinn und das Ganze des menschlichen Lebens betreffen) auf ihrer Kombination und Konvergenz (heute spricht man von einer „kumulativen Argumentation“). Das heißt, die Argumente hängen innerlich zusammen und verleihen in ihrer Konvergenz der christlichen Hoffnung ein spezifisches Profil (Typos) eines human sinnvollen Lebensentwurfs. Noch eine Vorbemerkung zur Terminologie: Ich spreche hier – wie im Untertitel des gesamten Symposions – eher allgemein von der christlichen Hoffnung auf ein vollendetes Leben nach dem Tod bei Gott. Die v. a. theologie-geschichtlich wichtige Unterscheidung zwischen „Unsterblichkeit der Seele“ (aus der griechischen Tradition) und „Auferstehung des Leibes bzw. von den Toten“ (aus der biblischen Tradition) kann ich im Zusammenhang unserer Fragestellung hintanstellen. In der heutigen katholischen Theologie gelten die Unterschiede zwischen diesen beiden Vorstellungen als nicht mehr so gravierend. Beide Male handelt es sich jedenfalls um das, was wir heute die Person des Menschen nennen, sein Selbst, das gekennzeichnet ist durch Selbstbewusstsein und Freiheit. Die beiden genannten eschatologischen Vorstellungen heben jeweils zwei verschiedene Dimensionen der menschlichen Personalität hervor. Der theologische Begriff „Seele“ umschreibt – kurz gesagt – die „Gottoffenheit“ des Menschen, die konstitutive Bezogenheit auf Gott, seinen Ursprung und sein Ziel, also seine Befähigung, mit Gott in einen Dialog des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu treten; ein Dialog, der aufgrund der unbedingten Treue Gottes auch im Tod nicht endet. Der theologische Begriff „Leib“ dagegen betont stärker die für die menschliche Person ebenso konstitutive Verbundenheit mit der Erde, also mit der eigenen Lebensgeschichte, mit den anderen Menschen, ja mit allen Geschöpfen. Auch diese durch den Leib vermittelte „Erd-Verbundenheit“ bleibt in der Vollendung bei Gott „aufgehoben“. Beide Begriffe, Seele
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wie Leib, charakterisieren den ganzen Menschen unter einem jeweils anderen Aspekt. Beide Male wird sein Wesen als Ebenbild und geliebtes Kind Gottes angesprochen. Darum hat auch beides in der jüdischchristlichen Hoffnung seinen Platz in der Vollendung des Menschen. 3 2. DREI ARGUMENTE FÜR DIE VERNUNFTGEMÄSSHEIT DER CHRISTLICHEN HOFFNUNG 2.1 Das ethisch-metaphysische Argument von der Unsterblichkeit der Seele bei Platon (4. Jh. v. Chr.) Ich kann hier nicht die komplexe Geschichte dieses Argumentes darlegen. Ich beschränke mich auf die Einsicht Platons, die diesem Gedankengang zugrundeliegt. Sie steht im Zusammenhang mit dem Tod des Sokrates; er ist bekanntlich von den Athenern zu Unrecht zum Tod verurteilt worden. Er hat dieses Urteil in ungebrochener Würde angenommen und an seinen Grundüberzeugungen vom sittlich guten Handeln festgehalten; z. B. dass es für den Menschen besser ist, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, auch wenn es ihn sein Leben kostet. Dieses Verhalten bestärkt Platon, den Schüler des Sokrates, in der Überzeugung, dass es etwas gibt, das die sinnlich erfahrbare, vergängliche Welt und das vitale Interesse des Menschen am gesicherten Überleben prinzipiell übersteigt, eben transzendiert. Das sind für Platon zum einen die ewigen, unvergänglichen „Ideen“ (als ethische Grundprinzipien unseres Handelns und als apriorische Bedingungen unseres Erkennens), v. a. die Idee des Guten, die sich gerade auch in der Idee der Gerechtigkeit verwirklicht. Bei Platon bilden diese Ideen eine eigene geistige Welt. Weil nun zum anderen der Mensch (z. B. Sokrates) diese Ideen erkennen und sich an ihnen – in seiner Suche nach Wahrheit und in seinem Bemühen um sittlich gutes Handeln – orientieren kann, muss es auch in ihm selbst ein diesen unvergänglichen Ideen entsprechendes, ihnen verwandtes und zugewandtes Vermögen geben: eben seine zeitüberlegene, unsterbliche Seele, der das biologische Sterben nichts anhaben kann. Die einzelnen Argumente Platons für diese Lehre sind immer wieder kritisiert und infrage gestellt worden. Dennoch bleibt m. E. der Kern dieses Gedankengangs bedenkenswert: Kann ein Wesen, das sich 3
Vgl. M. KEHL, Und was kommt nach dem Ende? Von Weltuntergang und Vollendung, Wiedergeburt und Auferstehung, Kevelaer 22008, 146f.
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selbst in seiner in ihm angelegten Humanität nur so voll verwirklichen kann, dass es die Frage nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe, die Frage nach dem letzten Sinn des Lebens, ja auch schließlich die Frage nach Gott (als dem unbedingt Liebenden und Sinnverleihenden) nicht völlig verdrängen kann (v. a. dann nicht, wenn er selbst unter Ungerechtigkeit, Unwahrhaftigkeit und Lieblosigkeit anderer zu leiden hat), kann ein solches Wesen wie der Mensch wirklich nichts anderes sein als ein „vergänglicher Teil der materiellen Welt“ 4? In diesem seinem raumzeitlichen Dasein ist der Mensch notwendig an die körperlich-sinnlichen Bedingungen solchen Erkennens und Handelns gebunden (konkret also an seine Hirnzellen); faktisch kann er nicht ohne diese Verbindung denken und sittlich handeln. Weil das Faktische aber nicht einfachhin als letzte Norm des Erkennens und Handelns angesehen werden muss, wird durch dieses empirisch feststellbare Faktum (eben der Abhängigkeit unseres Erkennens und Handelns von unserem Gehirn) nicht logisch zwingend die Denkmöglichkeit ausgeschlossen, dass der Tod zwar „das Ende des geschichtlichen Lebens“ ist, „jedoch nicht die Vernichtung des Selbst, sondern dessen Verewigung“ 5. Weiter schreibt Gerd Haeffner in seiner gerade zitierten philosophischen Anthropologie: Diese Nicht-Unmöglichkeit genügt, um das ‚schöne Wagnis‘ (Platon, Phaidon, 114d) zu rechtfertigen, zu dem die Freiheit in innerer Dynamik hindrängt: so zu leben, als hätte der Tod über unser innerstes Selbst keine Macht. Denn wenn man die Werte des Über- und Wohllebens auch dann noch am höchsten schätzt, wenn sie in Konflikt mit den sittlichen Werten geraten, dann hat man dem Leben seinen bestmöglichen Sinn schon genommen. 6
2.2 Die Unsterblichkeit der Seele als Postulat der praktischen (sittlichen) Vernunft bei Immanuel Kant (18. Jh.) Auch bei einer der großen Gestalten der neuzeitlichen Philosophie, bei Immanuel Kant, spielt die Vernunftgemäßheit der religiösen Hoffnung eine wichtige Rolle. Gegen Ende seiner Kritik der reinen Ver4
5 6
G. HAEFFNER, Vom Unzerstörbaren im Menschen. Versuch einer philosophischen Annäherung an ein problematisch gewordenes Theologoumenon, in: W. Breuning (Hg.), Seele. Problembegriff christlicher Eschatologie, Freiburg i. Br. 1986, 159-191, 172. DERS., Philosophische Anthropologie, Stuttgart 32000, 233. Ebd., 234.
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nunft 7 stellt Immanuel Kant drei Fragen, in denen nach ihm das gesamte „Vernunftinteresse“ des Menschen zusammengefasst ist: 1. Was kann ich wissen? Darin spricht sich das Interesse der theoretischen Vernunft aus, das von der Metaphysik bzw. der transzendentalen Erkenntnislehre beantwortet wird. Es ist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Erkennens. 2. Was soll ich tun? Das ist die Frage der praktischen Vernunft; sie wird in der Ethik beantwortet. Also: Was soll ich tun, um sittlich gut zu handeln? Es geht Immanuel Kant v. a. um die unbedingt geltenden Forderungen des moralischen Gesetzes in uns, die unabhängig von allen zufälligen empirischen Bedingungen gelten. Sie gipfeln im sogenannten „Kategorischen Imperativ“: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ 8 (also universalisierbar ist); oder mehr inhaltlich akzentuiert: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 9 3. Was darf ich hoffen? Das ist die Frage einer Vernunft, die nach der Synthese von Erkennen und sittlichem Handeln fragt. Die Vernunft will eben auch wissen, was dem Menschen am Ende zuteilwird, wenn er den Forderungen des Sittengesetzes entsprechend handelt. Diese Frage wird nach Immanuel Kant von einer Religion beantwortet, die sich diesem Interesse der menschlichen Vernunft verpflichtet weiß, also auch und vor allem von der christlichen Religion. Sie verheißt die ewige Glückseligkeit als von Gott, dem höchsten Gut, zugeteilten Lohn für den, der dem Sittengesetz gemäß gelebt hat. Darauf darf er auch von seiner Vernunft her hoffen. Diese Hoffnung setzt aber die Existenz sowohl eines höchsten Gutes als auch die der Unsterblichkeit der menschlichen Seele voraus. Ob diese beiden Voraussetzungen wahr sind, das kann die theoretische Vernunft mit ihren Möglichkeiten nicht erkennen, also auch nicht wissen. Aber sie sind für Immanuel Kant notwendige Postulate, also unbedingt erforderliche Voraussetzungen dafür, dass es möglich und sinnvoll ist, die unbedingten Forderungen des Sittengesetzes in allen denkbaren Situationen auch zu erfüllen. Dazu ein Zitat von Gerd Haeffner:
7 8
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I. KANT, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, 804f. DERS., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademieausgabe, Bd. 4, Berlin 1911, 421. Ebd., 429.
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Erst die Doppelerfahrung der Heiligkeit des sittlichen Gesetzes und des grausamen Schicksals vieler, die sich konsequent daran halten, bringt den Gedanken eines jenseitigen Lebens als der Ermöglichung für einen Ausgleich (Lohn und Strafe) hervor. Denn hier geht es nicht mehr bloß um einen menschlichen Wunsch nach Glück und Einverstandenseinkönnen mit der Realität, der ein vermessener Wunsch sein könnte. Es geht um die Achtung vor der Unbedingtheit des sittlichen Gebots. Keiner könnte – ja dürfte – das Sittengesetz ernst nehmen, wenn es demjenigen, der sich daran hält, nur Unglück und Verderben brächte. Ohne den Gedanken einer letztendlichen Gerechtigkeit bricht die (im guten Sinn:) naive Geltung des ungeschmälerten Sittengesetzes zusammen. 10
Um Immanuel Kant nicht misszuverstehen: Er sagt nicht, dass die Hoffnung auf endgültige Gerechtigkeit durch Gott der Grund und das Motiv für das sittliche Handeln sein soll (ich handele gut, damit … bzw. weil …). Das würde gerade das sittliche Handeln in seinem Wert, v. a. in seiner Autonomie auch gegenüber der Religion nach Immanuel Kant völlig aufheben. Nein, es geht Immanuel Kant vielmehr mit dieser Hoffnung (als conditio sine qua non der Erfüllung des unbedingten Sittengesetzes) um eine umgreifende „Sinnperspektive“, in die das Streben nach wahrer Erkenntnis und nach gutem sittlichen Handeln integriert werden soll, damit beides dem Menschen (individuell wie gesellschaftlich) auf Dauer und im Ganzen möglich und sinnvoll erscheinen kann. Ich halte diesen Gedankengang Immanuel Kants auch heute noch für realistisch und einsichtig. Ich glaube nicht, dass ohne die umfassende Sinnperspektive des menschlichen Lebens in einer Kultur als ganzer die unbedingte Geltung der Würde jedes Menschen (also unabhängig von jeder konkreten Bedingung) auf Dauer einsichtig bleibt und auch faktisch-rechtlich anerkannt wird. Die Zeichen der Zeit dürften diese Skepsis eher bestätigen als zerstreuen … 2.3 Die sogenannte „Pascal’sche Wette“ (17. Jh.) – auf die eschatologische Hoffnung bezogen Der französische Philosoph Blaise Pascal hat bereits zu seiner Zeit den Versuch unternommen, einem Skeptiker bzw. Agnostiker plausibel zu machen, es sei letztlich auch – von dessen eigenem vernünftigen Standpunkt aus – gar nicht so unvernünftig, an Gott als ein Wesen „von unendlicher Unbegreiflichkeit“ zu glauben. Dessen Existenz und dessen 10
Haeffner, Vom Unzerstörbaren im Menschen, 170.
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wahre Natur können wir allein mit unserem Verstand nicht erkennen. Allerdings können wir diese Fragen aber auch nicht einfach offenlassen (wie es der Agnostiker meint); denn die Sache mit Gott ist eben nicht bloß eine Sache des Intellekts, sondern vor allem des gelebten Lebens. Und da stehen wir unausweichlich vor der Alternative: entweder unser Leben zu gestalten unter dem bestimmenden Vorzeichen „ich glaube, dass es Gott gibt“ oder es zu gestalten unter dem Vorzeichen „ich glaube nicht, dass es Gott gibt“. Wer diese Entscheidung einfach offenlassen will, lebt faktisch gemäß der zweiten Alternative (als ob es Gott nicht gäbe). Das hat für das konkrete Leben schon erhebliche Konsequenzen; vor allem weil Blaise Pascal (im Sinn der jüdisch-christlichen Tradition) mit Gott immer auch schon Gerechtigkeit und Gericht und damit ein ewiges Schicksal des Menschen nach dem Tod verbindet. Hier setzt nun seine Wette ein, die er dem Agnostiker vorschlägt: Überlege doch einmal, was du gewinnst und was du verlierst, wenn du auf die Karte „ich glaube“ setzt und dementsprechend lebst oder wenn du auf die Karte „ich glaube nicht“ setzt und dementsprechend lebst. Welche Karte letztlich gewinnt, wer also Recht hat, ist von der Vernunft her nicht zu entscheiden. Als Kriterium für unsere Wahl bleibt darum nur, das Verhältnis zwischen dem persönlichen Einsatz und dem möglichen Gewinn bzw. Verlust für das eigene Leben abzuwägen. Lohnt sich der Einsatz oder lohnt er sich nicht? Was ergibt für dein Leben ein günstigeres Verhältnis zwischen Einsatz und Gewinn? Friedo Ricken spielt diese Alternative einmal im Sinn Pascals durch: (1) Ich setze auf die Karte Gott existiert. Dann habe ich die Wette gewonnen, wenn er existiert, und sie verloren, wenn er nicht existiert. Mein Gewinn, wenn er existiert, sind die Wahrheit und das höchste Gut. Mein Verlust, wenn ich die Wette verliere, steht in keinem Verhältnis dazu. ‚Welches Übel wird euch nun aber daraus erwachsen, wenn ihr diesen Entschluss fasst? Ihr werdet getreu, redlich, demütig, dankbar, wohltätig, ein aufrichtiger, wahrer Freund sein. Freilich werdet ihr ohne vergiftete Freuden sein, ohne Ruhm und Vergnügen, doch habt ihr dafür nicht andere Freuden?‘ (2) Ich setze auf die Karte Gott existiert nicht oder, was dasselbe ist, ich setze nicht auf die Karte Gott existiert. Dann habe ich die Wette gewonnen, wenn er nicht existiert, und sie verloren, wenn er existiert. Mein Gewinn, wenn er nicht existiert, sind bestimmte Güter in diesem Leben, auf die ich verzichten müsste, wenn ich glaube, dass er existiert. Mein Verlust, wenn er existiert, sind die Wahrheit und das höchste Gut; anstatt des höchsten Gutes erwartet mich nach diesem Leben das Elend [eben die ewige Gottferne, M. K.].
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Wiederum stehen Gewinn und Verlust in keinem Verhältnis zueinander. Der Vergleich zeigt: Das Risiko ist am geringsten und die Gewinnchancen sind am größten, wenn ich auf die Karte Gott existiert setze. 11
Dass diese Argumentation nicht zur rationalen Begründung des Glaubens und der Hoffnung auf ein erfülltes Leben nach dem Tod hinreicht, ist Blaise Pascal völlig klar: „Das Herz hat seine eigenen Gründe, andere als der Verstand.“ 12 Ich möchte zwei Aspekte dieses Argumentes, das heute weiterhin viel Beachtung im religionsphilosophischen Diskurs findet, noch einmal klarer herausheben: 1. In den großen Fragen der Entscheidungen unseres Lebens (Beruf und Berufung, Partnerschaft, ethische Grundoptionen, Weltanschauung, Religion) können wir nie von vornherein rational eindeutig wissen, ob dies oder jenes das Sinnvollste und Beste ist oder ob es schlussendlich auch gelingen wird. Erst im praktischen Vollzug unseres Lebens, auch unseres Glaubens, unseres Hoffens und unseres Liebens wird uns die Wahrheit und die Sinnhaftigkeit eines solchen Lebens aufgehen. Mit den Worten von Rüdiger Safranski: Mit dem Spiel des Lebens sollte man anfangen, ohne allzu genau nach seinem Sinn zu fragen. Auch hier gilt: Der Sinn ergibt sich erst beim Spiel. Nicht vorher und nicht nachher. 13
Auf die Religion bezogen gibt Rüdiger Safranski den zweifelnden Zeitgenossen einen ähnlichen Rat wie Blaise Pascal: Spiel das Spiel des Lebens so, als ob es Gott gäbe; unterstelle es und lebe dementsprechend. Dann gewinnt er zunehmend an Realitätsgehalt für dich. 2. Blaise Pascal will seine Gesprächspartner davon überzeugen, dass der, der auf die Karte „ich glaube“ setzt, einen deutlichen Gewinn an humaner Lebensqualität erlangt. Man muss dies nicht unbedingt auf das tugendhafte Leben beschränken, das Blaise Pascal hervorhebt. Ich würde diesen Gewinn u. a. darin sehen, dass ein Mensch, der an Gott glaubt, auf ein ewiges Leben bei ihm hofft und dementsprechend lebt, wohl eher zu einem gelasseneren und zugleich ernsthafteren Umgang mit der Endlichkeit unseres Lebens befähigt wird. Gelassener: Er braucht sich nicht so ausschließlich in diesem Leben vor dem Tod einzurichten, dass er möglichst viel von diesem Leben erleben 11
12 13
F. RICKEN, Religionsphilosphie, Stuttgart 2003, 288f. Das Zitat von B. Pascal ist entnommen aus: B. PASCAL, Pensées. Hg. v. L. Lafuma, Paris 1952 (Neudruck 1962), 418. PASCAL, Pensées IV, 277. R. SAFRANSKI, Gott ist doch nicht tot, in: Cicero 5 (2004) 46-49, 49.
Glaube und Vernunft
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und genießen müsste. Wo das Motto „erlebe dein Leben“ zur dominanten Lebenseinstellung wird (und das ist es ja kulturell weithin bei uns), kommt es fast unweigerlich zu einer Überforderung der endlichen Güter; es wird eben zu viel an Glück- und Sinnerfüllung in Freundschaft und Partnerschaft, im Beruf, in der Freizeit, im sozialen oder politischen Engagement erwartet, was dann in der Regel auch zu immer neuen Enttäuschungen und biographischen Brüchen führen kann. Was den ernsthafteren Umgang mit unserer Endlichkeit angeht: Wenn alles restlos vergänglich ist, wenn nichts von uns und unserem Leben in einer endgültigen Vollendung bei Gott „aufgehoben“ sein wird, dann relativiert der Tod wirklich alles; dann kann letztlich alles gleich-gültig, austauschbar und beliebig werden. Es wird dann immer schwieriger einzusehen, dass es auch in diesem endlichen Leben Dinge gibt, die mit einem unbedingten Ernst gelebt werden wollen, die also nicht von irgendwelchen sich verändernden Bedingungen abhängen: z. B. der Gehorsam gegenüber sittlichen Grundforderungen (wie Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrung der Menschenwürde jedes Menschen usw.), die Übernahme von Verantwortung für andere, das Versprechen von lebenslanger Treue in einer Bindung und Lebensform. In der Sehnsucht vieler Menschen meldet sich dieses Unbedingte im Vergänglichen auch heute noch sehr stark. Aber es wird für viele immer schwieriger, der eigenen Sehnsucht auch einen Raum der Verwirklichung im realen Leben einzuräumen. 14 Ich komme zum Schluss: Sowohl in der Philosophie des abendländischen Kulturraums als auch in der Tradition des jüdisch-christlichen Glaubens gehört zu einer guten ars vivendi, also der Lebenskunst, untrennbar – wie die Kehrseite einer Medaille – auch die ars moriendi, die Kunst des Sterbens. Diese doppelt-eine Kunst vereint in sich (in ihrer Idealform) sowohl die dankbare Freude am Leben auf dieser Erde, das Genießen-Können der guten Gaben des Schöpfers, als auch das gelassene Annehmen der Endlichkeit dieses Lebens, das LassenKönnen dieser guten Gaben, um sie jederzeit dem Schöpfer zurückgeben zu können. Beides lebt von der starken Hoffnung auf das endgültige Aufgehobensein unserer selbst und all dessen, was dem Reich Gottes gemäß von uns auf dieser Erde getan und erlitten wurde. Grund genug, auf die Karte dieser Hoffnung zu setzen!
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Vgl. dazu M. BONGARDT, Zumutung oder Ermutigung? Von der Kraft christlicher Hoffnung, in: Pastoralblatt 54 (2002) 163–174.
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Medard Kehl SJ
Literatur BONGARDT, MICHAEL, Zumutung oder Ermutigung? Von der Kraft christlicher Hoffnung, in: Pastoralblatt 54 (2002) 163-174. HAEFFNER, GERD, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 32000. –, Vom Unzerstörbaren im Menschen. Versuch einer philosophischen Annäherung an ein problematisch gewordenes Theologoumenon, in: Wilhelm Breuning (Hg.), Seele. Problembegriff christlicher Eschatologie, Freiburg i. Br. 1986, 159-191. KANT, IMMANUEL, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademieausgabe, Band 4, Berlin 1911. –, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781. KEHL, MEDARD, Und was kommt nach dem Ende? Von Weltuntergang und Vollendung, Wiedergeburt und Auferstehung, Kevelaer 22008. KÜBLER-ROSS, ELISABETH, Über den Tod und das Leben danach, Neuwied 15 1993. PASCAL, BLAISE, Pensées. Herausgegeben von Louis Lafuma, Paris 1952 (Neudruck 1962). RICKEN, FRIEDO, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003. SAFRANSKI, RÜDIGER, Gott ist doch nicht tot, in: Cicero 5 (2004) 46-49.
ANSGAR BECKERMANN
Der Mensch als Tier und biologische Maschine. Anmerkungen eines Naturalisten zu den Aussichten, den biologischen Tod zu überleben In ihrer Einführung in die Religionsphilosophie Reason & Religious Belief beenden Michael Peterson, William Hasker, Bruce Reichenbach und David Basinger das Kapitel über das Leben nach dem Tode mit der Bemerkung: Wer Argumente für die Unsterblichkeit nicht überzeugend findet, war oft schon vorher Anhänger einer Weltsicht ohne Gott, während die, die diese Argumente überzeugend finden, oft schon vorher Anhänger einer besonderen theistischen Weltsicht waren, in der die [Annahme der Unsterblichkeit] nicht nur Sinn macht, sondern sogar in wichtiger Weise zu einer reichhaltigen und sinnvollen Existenz beiträgt […]. Das ist kein Fehler, sondern eine Anerkennung der Tatsache, dass jede Weltsicht eine kohärente Struktur und Bedeutung haben sollte. 1
Ich denke, Michael Peterson, William Hasker, Bruce Reichenbach und David Basinger haben Recht. Was man über ein Leben nach dem Tode glaubt, hängt sehr eng zusammen mit dem, was man grundsätzlich über die Welt denkt. Für jemanden, der davon überzeugt ist, dass es hinter all den empirischen Fakten ein höheres Wesen gibt, das all diesen Fakten Sinn und Ordnung verleiht, ist die Annahme, dass Menschen ihren biologischen Tod überleben, äußerst naheliegend; denn nur dann können sie ja in direkten und dauerhaften Kontakt zu diesem Wesen treten. Für einen Naturalisten, d. h., jemanden, der davon überzeugt ist, dass es hinter der natürlichen Welt nichts anderes gibt und dass in dieser Welt alles seinen natürlichen Gang geht, ist die Annahme eines Lebens nach dem Tode dagegen der völlig unplausible Versuch, die Grenzen der natürlichen Welt doch noch zu überschreiten. Bevor ich spezifischer auf das Problem eines Lebens 1
M. PETERSON/W. HASKER/B. REICHENBACH/D. BASINGER, Reason & Religious Belief, Oxford 21998, 233 (nach eigener Übersetzung).
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nach dem Tode eingehe, möchte ich deshalb zunächst einen Blick auf die Argumente werfen, die in meinen Augen generell für eine naturalistische Weltsicht sprechen. Denn erst vor dem Hintergrund dieser Weltsicht gewinnen die speziellen Argumente gegen ein Leben nach dem Tod, die danach zur Sprache kommen, ihr volles Gewicht. Wenn ich von Argumenten spreche, meine ich epistemische Gründe – Umstände, die dafür sprechen, dass die Annahme, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, wahr bzw. falsch ist. Neben epistemischen können auch nicht-epistemische Gründe dafür sprechen, sich eine bestimmte Überzeugung zu eigen zu machen. Wenn ich besser schlafe, falls ich glaube, dass ein Schutzengel über meinen Schlaf wacht, ist dieser Umstand ein Grund für mich, diese Überzeugung für wahr zu halten. Aber er ist kein epistemischer Grund; denn die Tatsache, dass mich die Überzeugung, dass ein Schutzengel über mich wacht, ruhiger schlafen lässt, macht es natürlich nicht wahrscheinlicher, dass diese Überzeugung wahr ist. Vielmehr ist es für mich nur in gewisser Weise nützlich oder hilfreich, diese Überzeugung zu haben – ganz unabhängig davon, ob sie wahr ist. Die Überzeugung, dass ich gut vorbereitet bin, mag mir helfen, die morgige Prüfung erfolgreich zu absolvieren. Auch hier gibt es also einen Grund für mich, diese Überzeugung für wahr zu halten; doch auch dieser Grund spricht nicht für ihre Wahrheit. In der Debatte um die Annahme eines Lebens nach dem Tode hört man manchmal Argumente wie: Nur wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubt, kann man vor dem Tod ein wirklich erfülltes, nicht nur an egoistischen Eigeninteressen orientiertes Leben führen; nur wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubt, kann man die großen Ungerechtigkeiten in dieser Welt überhaupt ertragen; nur wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubt, kann man motiviert sein, moralisch zu handeln. In all diesen Argumenten geht es meiner Meinung nach um nicht-epistemische Gründe – nicht um Umstände, die für oder gegen die Wahrheit der zur Debatte stehenden Annahme sprechen, sondern darum, welche Folgen es hätte, wenn man glaubt oder eben nicht glaubt, dass mit dem biologischen Tod noch nicht alles zu Ende ist. Nicht-epistemische Gründe sind sicher nicht bedeutungslos oder grundsätzlich illegitim. Aber mir geht es hier nur um epistemische Gründe; d.h., nur um die Frage: Welche uns zugänglichen Umstände sprechen für bzw. gegen die Wahrheit der Annahme, dass es ein Leben nach dem Tode gibt? Oder zunächst allgemeiner: Welche uns zugänglichen Umstände sprechen für bzw. gegen die Wahrheit einer naturalistischen Weltsicht?
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1. Historisch gesehen ist der Naturalismus sicher eine späte Weltsicht, die sich erst langsam im Laufe der Zeit entwickelt hat. Sehr viel älter ist die Annahme, dass die Welt voller Götter und Geister ist. Edward Burnett Tyler schreibt über solche Weltsichten unter dem Stichwort „Animismus“: Man findet gewöhnlich, dass die Theorie des Animismus in zwei grosse Dogmen zerfällt, welche Theile einer zusammenhängenden Lehre bilden; das erste betrifft Seelen von individuellen Geschöpfen, die nach dem Tode oder der Vernichtung des Körpers ihre Existenz fortzuführen vermögen, während das zweite andere Geister betrifft, bis zum Range von mächtigen Gottheiten hinauf. Geistige Wesen, glaubt man, beinflussen und lenken die Ereignisse der materiellen Welt und zwar sowohl dieses wie das künftige Leben des Menschen; und da man annimmt, dass sie mit Menschen verkehren und von menschlichen Handlungen angenehm oder unangenehm berührt werden, so führt der Glaube an ihre Existenz ganz naturgemäss, man könnte fast sagen unvermeidlich früher oder später zur activen Verehrung und Versöhnung. 2
Tyler spricht hier zwei wichtige Aspekte vieler älterer und neuerer Weltbilder an – den Glauben daran, dass Menschen eine Seele haben, die den Tod des Körpers überlebt und danach weiter auf das Leben der übrigen Menschen einwirkt, und den Glauben an die Existenz von nichtmenschlichen übernatürlichen Wesen und Kräften. Beide können in das normale Weltgeschehen eingreifen; sie haben sogar einen erheblichen Einfluss auf unser alltägliches Leben – Gesundheit, Krankheit und wirtschaftlicher Erfolg hängen von ihnen ebenso ab wie das Wetter mit seinem Einfluss auf die Ernte und auf den Ausgang von Reisen zu Land und zu Wasser; Naturkatastrophen und das Glück in kriegerischen Auseinandersetzung gehen auf sie zurück; eigentlich ist kein Bereich des Lebens ausgenommen. Es ist daher kein Wunder, dass Menschen, die von einem solchen Weltbild ausgehen, versuchen, mit den Göttern und Geistern, von deren Existenz sie überzeugt sind, Kontakt aufzunehmen und sie für ihre Zwecke günstig zu stimmen. Gebete, rituelle Handlungen und Opfer sind die dabei angemessenen Handlungen. Wie diese Auffassungen zu Beginn der Geschichte der Menschheit entstanden sind, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Wir wissen nur, dass sie mündlich und schriftlich tradiert wurden; dass sie aber auch immer wieder in Frage gestellt worden sind. Irgendwann – 2
E. D. TYLOR, Die Anfänge der Cultur, 117f., zitiert aus J. Schlieter (Hg.), Was ist Religion? Stuttgart 2010, 214-218.
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vielleicht vor gut 2500 Jahren – beginnt die kritische Untersuchung der im Alltag für selbstverständlich gehaltenen Überzeugungen eine systematischere Form anzunehmen. Ist es wirklich so, dass sich die Sonne um die Erde dreht? Heilt man Krankheiten tatsächlich am besten durch Geisterbeschwörung? Welche Gründe sprechen gerade für diese Antworten? Gibt es Alternativen, die vielleicht besser begründet sind? Mit dieser systematischeren Herangehensweise beginnt zugleich die systematische Entzauberung der Welt. Für immer mehr Phänomene findet sich eine natürliche Erklärung, während man auf der anderen Seite feststellt, dass es für die Annahme, die Welt würde von Göttern und Geistern gelenkt, eigentlich keine stichhaltigen Belege gibt. So entwickelt sich – zumindest in der westlichen Welt – eine Weltsicht, deren Kern die moderne Atomtheorie ist. 3 In der Antike beruhte der Atomismus noch wesentlich auf metaphysischen Spekulationen. Das änderte sich auch im 17. Jahrhundert kaum, als Gassendi und Boyle die Grundidee von Leukipp, Demokrit und Epikur wieder aufnahmen: Die gesamte materielle Welt besteht aus kleinen unsichtbaren, auf natürliche Weise nicht teilbaren Teilchen, die sich nur in Größe und Gestalt unterscheiden. 4 Hinzu kam die reduktionistische These, dass sich alle Eigenschaften materieller Gegenstände auf die Anordnung und die Bewegungen der Atome zurückführen lassen, aus denen sie bestehen. Dies soll speziell für alle Eigenschaften makroskopischer Dinge gelten – sowohl für die direkt durch die Sinne wahrnehmbaren Eigenschaften wie Farbe und Geschmack als auch für die Eigenschaften, die sich erst in der Interaktion dieser Dinge zeigen wie Elastizität und Temperatur. Alle diese Eigenschaften, so die These, lassen sich allein unter Bezug auf die Eigenschaften der entsprechenden Atome und deren Anordnung erklären. Der wissenschaftliche Status der Atomtheorie verbesserte sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als John Dalton das Atomkonzept benutzte, „um zu erklären, wieso Elemente immer in Verhältnissen kleiner ganzer Zahlen miteinander reagieren – Gesetz der multiplen Proportionen – und weshalb bestimmte Gase sich besser in Wasser lösen als andere“ 5. Kern des chemischen Atomismus John Daltons war die Annahme, dass alle chemischen Stoffe entweder Elemente oder 3
4
5
Im Folgenden stütze ich mich weitgehend auf A. CHALMERS, Atomism from the 17th to the 20th Century, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Bei Leukipp, Demokrit und Epikur galt der Atomismus allerdings nicht nur für die materielle Welt, sondern auch für die Götter und die Seele. http://de.wikipedia.org/wiki/Atom.
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Verbindungen von Elementen sind. Elemente sind aus letzten Teilchen oder Atomen zusammengesetzt, während Verbindungen aus charakteristischen Kombinationen von Atomen von Elementen bestehen. Diese Kombinationen nannte John Dalton “compound atoms”; heute sprechen wir von Molekülen. John Daltons Grundidee war also, dass alle chemischen Stoffe aus kleinsten Teilchen bestehen, die dieselben chemischen Eigenschaften besitzen. Dabei sind Elemente von Verbindungen zu unterscheiden. Die kleinsten Teile von Elementen sind Atome, so wie Wasserstoff nur aus H- und Silber nur aus AgAtomen besteht; die kleinsten Teile von Verbindungen sind dagegen Moleküle – Verbünde, die aus einer festen Anzahl verschiedener Atome 6 bestehen, wie Wasser aus H2O-Molekülen besteht, Verbünden von je zwei Wasserstoff- und einem Sauerstoffatom. Doch auch für John Daltons Theorie sprachen im Wesentlichen nur die Phänomene, zu deren Erklärung sie ersonnen worden war. Die erste Atomtheorie, die in dieser Hinsicht besser dastand, war die kinetische Gastheorie 7, die zumindest für einen Zeitraum von 20 Jahren Ideen für neue Experimente lieferte und zur Entdeckung neuer experimenteller Gesetze führte. Doch in den Augen vieler beteiligter Wissenschaftler ließ diese Fruchtbarkeit bald nach; das Potential der Theorie schien erschöpft. Immer noch fehlte der Atomtheorie eine wirklich stichhaltige empirische Begründung. Es bedurfte noch weiterer Untersuchungen, um diese Theorie zu einer wissenschaftlich unumstrittenen Theorie werden zu lassen. Diese ergaben sich schließlich aus Jean Perrins Experimenten zur Brownschen Bewegung. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangte die Atomtheorie damit den Status einer wirklich gut begründeten Theorie, die allen Alternativen deutlich überlegen ist. Die reduktionistische Teilthese des Atomismus, dass sich alle Eigenschaften makroskopischer Gegenstände allein durch Bezugnahme auf die Eigenschaften der Atome, aus denen sie zusammengesetzt sind, und deren Anordnung erklären lassen, stand allerdings auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht auf sicheren Füßen. Hier ergab sich der entscheidende Durchbruch erst mit der Entdeckung der Elektronenstruktur der Atome und der dieser Struktur zugrunde liegenden Quantenmechanik. 8 6
7 8
Den Spezialfall von Molekülen, die nur Atome desselben Elements enthalten, lasse ich hier außer Betracht. Vgl. CHALMERS, Atomism, Abschnitt 5.1. Vgl. hierzu auch B. MCLAUGHLIN, The Rise and Fall of British Emergentism, in: A. Beckermann/H. Flohr/J. Kim (Hg.), Emergence or Reduction? Prospects for Nonreductive Physicalism, Berlin-New York 1992, 49-93.
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Antworten auf diese Herausforderungen ergaben sich aus der Elektronenstruktur des Atoms und aus der Quantenmechanik, die diese Struktur bestimmt. In gewisser Weise kommt die zeitgenössische Physik mit ihrer Erklärung der Eigenschaften von Atomen und Molekülen durch Bezug auf deren Elektronenstruktur und mit ihren Erklärungen vieler makroskopischer Phänomene mit Bezug auf die diesen Phänomenen zugrunde liegenden Atom- und Molekülstrukturen dem Ideal Demokrits sehr nahe. Sie bietet eine allgemeine Erklärung der Eigenschaften der materiellen Welt nur mit Bezug auf die zugrunde liegenden Teilchen, die einige wenige gut definierte Eigenschaften besitzen, für die gut definierte Gesetze gelten. 9
Halten wir fest: Es gehört zu den Grundannahmen der auf der modernen Atomtheorie beruhenden Naturauffassung, dass alles um uns herum aus Atomen und Molekülen besteht. Und es gehört auch zu diesen Grundannahmen, dass sich die Eigenschaften makroskopischer Gegenstände allein unter Bezug auf die Eigenschaften der Atome und Moleküle, aus denen sie bestehen, und deren Anordnung erklären lassen. So langwierig und steinig der Weg war, bis die Atomtheorie sich tatsächlich etabliert hatte, so eindrucksvoll sind heute ihre Erfolge und auch die Erfolge der mit ihr verbundenen Strategie der reduktiven Erklärung. Diese Erfolge zeigten sich im Übrigen auch im Bereich der Biologie. Lebewesen, so wissen wir heute, bestehen hauptsächlich aus Zellen, und Zellen sind ebenfalls kleine chemische „Fabriken“ – Ansammlungen einer großen Anzahl von zum Teil sehr komplexen Makromolekülen, die auf vielfältige Weise interagieren. Was wir über Zellen wissen, spricht ebenfalls dafür, dass sich ihre Eigenschaften auf die Interaktion ihrer Bestandteile zurückführen lassen. Gerade bei Lebewesen stellt sich allerdings die Frage, ob auch ihre charakteristischen Eigenschaften – Selbsterhaltung, Stoffwechsel, Wahrnehmung, Bewegung und Fortpflanzung – auf dieselbe Weise reduktiv erklärbar sind. René Descartes war einer der ersten, die diese These mit Nachdruck vertreten haben. Dennoch war sie bis weit ins 20. Jahrhundert sehr umstritten. Wahrscheinlich waren es die Fortschritte in der chemischen Analyse physiologischer Prozesse sowie die Entdeckung der Doppelhelix, die diesen Streit zugunsten René Descartes’ beendeten. Schließlich musste noch die Frage geklärt werden, wie Lebewesen überhaupt entstehen können. Legt ihre komplexe, überaus funktionale Organisation nicht die Vermutung nahe, dass nur ein außerordentlich intelligenter Geist sie geschaffen haben kann? Diese Annahme war bis zu 9
CHALMERS, Atomism, Abschnitt 7 (nach eigener Übersetzung).
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Darwin so gut wie unumstritten. Aber Darwin machte eindeutig klar, dass es auch andere Wege gibt, auf denen Lebewesen entstehen und sich entwickeln können – Wege, die nicht das Eingreifen übernatürlicher Kräfte voraussetzen. Auch für alles, was mit dem Phänomen des Lebens zusammenhängt, gilt also: Der Versuch der Wissenschaften, die Eigenschaften der Dinge, die uns umgeben, reduktiv – d. h., allein durch Bezugnahme auf ihre Teile und deren Anordnung – zu erklären, war außerordentlich erfolgreich. Ich hatte René Descartes schon erwähnt; denn René Descartes – selbst keine Anhänger der Atomtheorie – war eine zentrale Figur auf dem Weg ihrer Entwicklung. In seiner Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus führte er eine ebenso interessante wie wichtige Unterscheidung ein: Es gibt in der Welt Dinge, deren Verhalten und deren (nichtrelationale) Eigenschaften sich vollständig auf ihre physischen Teile und deren Anordnung zurückführen lassen, 10 und Dinge, bei denen das nicht der Fall ist. Dinge der ersten Art nennt René Descartes „Maschinen“. Das Paradebeispiel einer Maschine ist die Uhr. Das gesamte Verhalten einer Uhr ergibt sich allein aus ihren physischen Teilen (Rädern, Gewichten) und deren Anordnung aufgrund der allgemein geltenden Naturgesetze. Wie schon gesagt, sind nach René Descartes auch Tiere in diesem Sinn Maschinen. Alle für das Phänomen des Lebens charakteristischen Eigenschaften – Atmung, Verdauung, Herzschlag, Fortpflanzung – können, so René Descartes, allein auf die physischen Teile von Lebewesen und deren Anordnung zurückgeführt werden. Zu den Dingen, deren Eigenschaften und Fähigkeiten sich nicht alle in diesem Sinn mechanisch erklären lassen, gehören in seinen Augen aber Menschen. Denn Menschen können denken und sprechen. Und genau diese beiden Fähigkeiten ergeben sich nach René Descartes nicht allein aus den Organen, aus denen sie bestehen, und deren Anordnung. Zur Erklärung dieser Eigenschaften benötigen wir seiner Meinung nach eine Seele. Allerdings: Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften ist in diesem Punkt über René Descartes hinweggegangen. Nach allem, was wir heute wissen, beruhen auch die Fähigkeiten zu denken und zu sprechen auf neuronalen Verschaltungen. Die modernen Naturwissenschaften haben René Descartes’ 10
Zur Erklärung dieser Eigenschaften müssen wir also nicht auf substantielle Formen oder Ähnliches zurückgreifen. Eigenschaften von komplexen Gegenständen, die sich vollständig auf die physischen Teile dieser Gegenstände und deren Anordnung zurückführen lassen, nennt C. D. Broad später „mechanisch erklärbar“. Vgl. C. D. BROAD, The Mind and Its Place In Nature, London 1925.
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Modell der reduktiven Erklärung auf die gesamte Welt ausgedehnt und damit die Entzauberung der Welt endgültig abgeschlossen. Auch Darwin muss hier noch einmal erwähnt werden. Während René Descartes einen prinzipiellen Unterschied zwischen Tieren und Menschen postuliert, zeigt die Evolutionstheorie, dass sich Menschen – ebenso wie die anderen Tiere – in einem evolutionären Prozess aus niederen Lebewesen entwickelt haben. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass sich im Prozess der Evolution nach und nach aus großen Makromolekülen immer komplexere Lebewesen entwickeln, dass aber Menschen erst entstehen, wenn den am höchsten entwickelten Lebewesen zusätzlich eine immaterielle Seele eingehaucht wird. 2. Ein Punkt ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Die Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaften ist ein durch und durch wissenschaftlicher Vorgang, bei dem es nur darum geht, für welche Weltsicht die besseren Argumente sprechen. Diese Auffassung wird keineswegs von allen geteilt. Denn viele Kolleginnen und Kollegen sind der Meinung, dass die Naturwissenschaften prinzipiell nicht in der Lage sind, dem Nicht- oder Übernatürlichen Rechnung zu tragen, da sie durch ein methodisches Apriori darauf festgelegt sind, nur natürliche Ursachen zuzulassen. So schreibt etwa Kurt Bayertz: Im Rahmen der naturwissenschaftlichen Forschung fungiert [das Immanenzprinzip, dem zufolge alle wirklichen Phänomene auf materielle Objekte und Prozesse zurückgeführt werden können] als eine methodologische Regel, nach der nur das in Betracht gezogen wird, was ‚natürlich erklärt werden‘ kann. Phänomene, die sich der exakten empirischen Analyse entziehen, sind einfach nicht Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung. Ob es sie ‚in Wirklichkeit‘ gibt oder nicht, ist eine Frage, die im Rahmen der Naturwissenschaften nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet werden kann. Mit Hilfe der experimentellen Methode ist über Geister und Götter nichts zu ermitteln; aber daraus folgt natürlich nicht, dass es keine Geister und Götter gibt. 11
In meinen Augen spricht nichts, aber auch wirklich gar nichts für diese Auffassung. Wenn Kurt Bayertz Recht hätte, wäre es z. B. von vornherein sinnlos, paranormale Phänomene wissenschaftlich zu untersuchen. Aber solche Untersuchungen haben tatsächlich stattgefunden; und was sollte auch dagegen sprechen, mit wissenschaftlichen 11
K. BAYERTZ, Was ist moderner Materialismus?, in: Ders./M. Gerhard/W. Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg 2007, 50-70, 57f.
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Methoden herauszufinden zu versuchen, ob es so etwas wie Gedankenlesen oder Telekinese wirklich gibt. In ähnlicher Weise ließe sich auch untersuchen, ob der Erfolg von Regenmachern signifikant über dem liegt, was als Zufallsbefund zu erwarten wäre, ob es Wunderheilern verlässlich gelingt, Krankheiten zu heilen, oder ob eine Christophorus-Plakette im Auto wirklich zu weniger Autounfällen führt. Nichts spricht gegen die Möglichkeit solcher Untersuchungen. Und tatsächlich hat man in den letzten Jahren versucht herauszufinden, ob der Krankheitsverlauf Schwerkranker durch die Gebete anderer positiv beeinflusst werden kann. Diese Untersuchung wird von Ulrich Schnabel, der ansonsten der Religion durchaus positiv gegenübersteht, in seinem Buch Die Vermessung des Glaubens ganz nüchtern dargestellt. Zunächst, so berichtet Ulrich Schnabel, erregte der Amerikanische Herzspezialist Randolph Byrd Aufsehen mit seiner These, „er habe erstmals einen medizinischen Nachweis für einen positiven Einfluss von Fürbittegebeten gefunden“ 12. Doch Byrds Untersuchungen litten unter schweren methodischen Fehlern. Unter anderem deshalb wurden am Anfang dieses Jahrhunderts zwei umfangreiche neue Untersuchungen durchgeführt. Zum einen verfolgte Michael Krucoff vom Medical Center der Duke University den Heilungsprozess von 700 Herzpatienten, wobei für die Hälfte gebetet wurde (und zwar nicht nur von Christen, sondern auch von Muslimen, Juden und Buddhisten) und für die andere Hälfte nicht. Etwa zur selben Zeit nahm Herbert Benson von der Harvard Medical School eine noch größere Studie mit 1802 Patienten in sechs Krankenhäusern in Angriff, die alle Bypassoperationen erhielten. Benson und seine Mitstreiter teilten ihre Probanden dabei nicht nur in zwei, sondern sogar in drei Gruppen ein: Die erste erfuhr, dass gläubige Christen für sie jeweils vierzehn Tage lang ein Gebet für „eine erfolgreiche Operation und eine schnelle Genesung ohne Komplikationen sprechen würden; die zweite erhielt die Auskunft, für sie würde eventuell gebetet (tatsächlich aber wurden für sie dieselben Formeln gesprochen), und nur die dritte blieb als Kontrollgruppe ohne Gebete.“ 13
Die Ergebnisse beider Untersuchungen wurden mit Spannung erwartet. Wer jedoch eine Bestätigung der These Byrds erhofft hatte, wurde enttäuscht. 12
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U. SCHNABEL, Die Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt, München 2008, 39. Ebd., 41.
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Weder Krucoffs noch Bensons Daten zeigten irgendeinen positiven Einfluss der Gebete. Schlimmer noch: In der Benson-Studie traten die meisten Komplikationen ausgerechnet bei denjenigen Patienten auf, die wussten, dass für sie gebetet wurde. 59 Prozent von ihnen hatten nach ihrer Operation mit Schwierigkeiten zu kämpfen, in der Kontrollgruppe ohne Gebete waren es dagegen nur 51 Prozent (und 52 Prozent bei jenen, die im Unklaren gelassen wurden). 14
Selbst Ulrich Schnabel hält deshalb fest: Aus solchen Studien kann man also eines schließen: Die Annahme, durch Gebete für fremde Menschen ließe sich irgendeine Art von unabhängig vorhandener, göttlicher Energie mobilisieren, ist falsch. Zumindest im Kontext wissenschaftlicher Studien lässt sich ein solch externer Einfluss auf Kranke nicht beobachten. 15
Hätte die Untersuchung auch zu einem positiven Ergebnis führen können? Wäre das mit den Standards wissenschaftlichen Arbeitens überhaupt vereinbar? Warum nicht! Wissenschaft und auch Naturwissenschaft ist nicht per se naturalistisch; es sind durchaus Szenarien denkbar, in denen es wissenschaftlich sogar geboten wäre, die Wirksamkeit übernatürlicher Einflüsse zu akzeptieren. Nehmen wir etwa an, dass Heilwasser aus Lourdes, das darüber hinaus vom Papst geweiht wurde, tatsächlich bei einer Reihe von Erkrankungen mit einer Häufigkeit zu einer Heilung führt, die deutlich über der Häufigkeit der üblichen Spontanheilungen liegt – und zwar auch dann, wenn weder die Kranken noch die Personen, die das Wasser verabreichen, wissen, dass es sich nicht um normales Wasser handelt. Nehmen wir weiter an, dass das Wasser diese Wirkung nicht zeitigt, wenn es nicht vom Papst geweiht wurde. Und nehmen wir drittens an, dass sich mit allen Methoden der chemischen Analyse keinerlei Unterschiede zwischen geweihtem und ungeweihtem Wasser feststellen lassen. Dann scheint mir klar: In diesem Fall wäre es eine wissenschaftlich sehr gut begründete Annahme, dass die Weihe durch den Papst dem Wasser eine heilsame Wirkung verleiht. Das Problem ist also nicht, dass es in den (Natur-)Wissenschaften eine „methodologische Regel [gibt], nach der nur das in Betracht gezogen wird, was ‚natürlich erklärt werden‘ kann“; das Problem ist vielmehr, dass sich immer, wenn der vermeintliche Einfluss nicht- oder 14 15
Ebd. Ebd., 42. Natürlich kann die Tatsache, dass man selbst betet oder dass man weiß, dass andere für einen beten, sozusagen subjektiv einen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben. Aber das ist eine ganz andere Frage.
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übernatürlicher Kräfte in unserer Welt wissenschaftlich untersucht wurde, keine belastbaren Belege für einen solchen Einfluss finden ließen. 16 Es ist schlicht ein empirisches Faktum, dass das Anbringen von Christophorus-Plaketten nicht zu weniger Autounfällen führt, dass man durch Beten keine Erdbeben verhindern kann, dass der Besuch eines Wallfahrtsortes die Heilungschancen von Krebs nicht signifikant erhöht und dass das Darbringen von Opfergaben nicht zu einem längeren und glücklicheren Leben führt. 17 Auf der anderen Seite haben sich Theorien, in denen die unterschiedlichsten Phänomene auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden, empirisch als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Und genau das ist der Grund dafür, dass die moderne Atomtheorie und die auf ihr aufbauende naturalistische Weltsicht so attraktiv ist. Sie ist einfach die Weltsicht, für die nach allem, was wir wissen, die weitaus besseren Belege sprechen. 3. Damit stellt sich die Ausgangsfrage jetzt so: Welche Gründe sprechen in einer rein natürlichen Welt, in die offenbar weder Götter noch Geister eingreifen, in der vielmehr alles „mit rechten Dingen“ zugeht, für die Aussicht auf ein Leben nach dem Tode? Zunächst: Auch für die Annahme, dass es eine immaterielle Seele gibt, die unser bewusstes Handeln steuert, lassen sich keine belastbaren Belege finden. Schon René Descartes – dem sicher prominentesten Vertreter des interaktionistischen Dualismus – war klar, dass meine Seele z. B. nicht unmittelbar bewirken kann, dass sich mein Arm oder mein Bein hebt. Genauso wenig, wie sie allein dadurch, dass sie das will, bewirken kann, dass ein Hut, der drei Meter vor mir am Ständer hängt, zu Boden fällt oder dass ein Glas, das am anderen Ende des Zimmers auf einem Tisch steht, umfällt und zerbricht. All dies sind empirische Tatsachen, die grundsätzlich auch anders sein könnten, die de facto aber so sind, wie sie sind. Wenn ich meinen Arm hebe und sich dementsprechend mein Arm hebt, dann liegt das primär daran, dass in meinem Arm bestimmte Muskelkontraktionen und -relaxationen stattfinden. Diese Kontraktionen und Relaxationen werden ihrerseits durch das Feuern von Motoneuronen hervorgerufen, deren Zellkörper sich im Vorderhorn im Rückenmark befinden und deren Axone 16
17
Auch wenn sich bei der Erforschung paranormaler Phänomene manchmal positive Ergebnisse anzudeuten scheinen, sind diese ja in der Regel außerordentlich elusiv. Vgl. A. BECKERMANN, Der kosmologische und der teleologische Gottesbeweis heute, in: P. Becker/U. Diewald (Hg.), Zukunftsperspektiven im theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog, Göttingen 2011, 105-122, 120.
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bis zu motorischen Endplatten direkt an den Muskelzellen reichen. Diese unteren Motoneurone können ihrerseits durch die oberen Motoneurone aktiviert werden, deren Zellkörper in der motorischen Rinde im Gehirn liegen und deren Axone bis ins Vorderhorn zu den Zellkörpern der unteren Motoneurone reichen. Wenn überhaupt, kann meine Seele also nur dadurch das Heben meines Arms bewirken, dass sie dafür sorgt, dass in der motorischen Hirnrinde bestimmte Neuronen feuern. Folgerichtig sieht René Descartes den eigentlichen Ort des Einwirkens der Seele auf den Körper ganz im Inneren des Gehirns – in der Zirbeldrüse. Die Seele kann diese Drüse, die leicht schwenkbar aufgehängt ist, ein wenig drehen, wodurch die spiritus animales, die sie umgeben, abgelenkt werden und, je nach Drehung, in jeweils andere efferente Nerven strömen. Dadurch werden schließlich in den entsprechenden Gliedmaßen die nötigen Muskelkontraktionen und -relaxationen hervorgerufen. Natürlich ist es außerordentlich schwierig, empirisch zu überprüfen, ob in zentralen Bereichen unseres Kortex tatsächlich das Feuern mancher Neuronen nur durch das Einwirken einer Seele erklärt werden kann. Dennoch gehört es zu den Grundüberzeugungen der allermeisten Neurowissenschaftler, dass es in unserem ZNS keine kausalen Lücken gibt, die durch eine Seele geschlossen werden. So schreibt etwa Wolf Singer: Wie sich feststellen läßt, ist [das Verhalten eines Organismus] durch die Organisation des Organismus und insbesondere durch sein Nervensystem determiniert. […] Folglich muß sich jede Komponente des von außen beobachtbaren, meßbaren und objektivierbaren Verhaltens als Folge von Prozessen darstellen lassen, die im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme faßbar sind. Diese, wie ich glaube, zwingende Einsicht bereitet keinerlei Schwierigkeiten, solange wir mit Verhalten nur jenes von einfach organisierten Tieren meinen. Wir haben kein Problem mit der Einsicht, daß tierisches Verhalten vollkommen determiniert ist, daß die jeweils folgende Aktion notwendig aus dem Zusammenspiel zwischen aktueller Reizkonstellation und unmittelbar vorausgehenden Gehirnzuständen resultiert. Wir haben auch keine Schwierigkeiten anzuerkennen, daß die jeweiligen Gehirnzustände determiniert sind […]. Die zunehmende Verfeinerung neurobiologischer Meßverfahren hat nunmehr die Möglichkeit eröffnet, auch die neuronalen Mechanismen zu analysieren, die höheren kognitiven Leistungen komplexer Gehirne zugrunde liegen. […] Zu diesen mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchbaren Leistungen zählen […] Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. Alle diese Verhaltensmanifestationen lassen sich operationalisieren […] und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. Somit
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erweisen sie sich als Phänomene, die in kohärenter Weise in naturwissenschaftlichen Beschreibungssystemen erfaßt werden können. 18
Meiner Meinung nach beruht diese Überzeugung auf zwei Entwicklungen, die erst zusammen ihr volles Gewicht entfalten. Zum einen haben die Fortschritte der Neurowissenschaften die Mechanismen neuronaler Prozesse weitgehend entschlüsselt. Wir wissen heute sehr genau, wie das ZNS aufgebaut ist, welche Neuronentypen beteiligt sind und wie einzelne Neuronen funktionieren. Außerdem haben insbesondere die bildgebenden Verfahren zu einer deutlich verbesserten Kenntnis darüber geführt, welche Hirnareale bei welchen mentalen Prozessen aktiv sind. Zum anderen haben uns die vom Computermodell ausgehenden Kognitionswissenschaften zumindest eine Ahnung davon vermittelt, wie Phänomene wie Wahrnehmen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden physisch realisiert sein können. Das Gehirn ist zwar sicher ganz anders aufgebaut als ein herkömmlicher Computer; aber Informationserarbeitungsprozesse können in Gehirnen vielleicht doch auf ähnlichen Prinzipien beruhen wie in künstlichen intelligenten Systemen. Hinzu kommt eine auf empirischen Befunden beruhende theoretische Überlegung. Das menschliche Gehirn unterscheidet sich in Aufbau und Komplexität noch einmal deutlich selbst vom Gehirn unserer nächsten Verwandten. Warum ist das so? Wenn René Descartes Recht hat und alle höherstufigen kognitiven Funktionen darauf beruhen, dass wir eine Seele haben, dann ist eigentlich unverständlich, warum sich das menschliche Gehirn von dem der Tiere unterscheiden sollte. René Descartes zufolge können wir bei bewusstem und intentionalem Handeln drei Phasen unterscheiden: 1. Das von den Gegenständen unserer Umgebung reflektierte Licht erzeugt auf der Netzhaut unserer Augen je ein Bild der Umgebung; diese beiden Bilder werden über den nervus opticus ins Gehirn geleitet, wo sie zu einem Bild auf der Zirbeldrüse vereinigt werden; dieses Bild wirkt unmittelbar auf die Seele ein und lässt sie die Gestalt der Gegenstände sehen. 19 2. Die Seele analysiert die wahrgenommene Situation; sie bewertet das Gesehene und entscheidet, welche Handlung – angesichts 18
19
W. SINGER, Verschaltungen legen uns fest, in: C. Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a. M. 2004, 30-65, 34f. Vgl. R. DESCARTES, Les passions de l’âme. Die Leidenschaften der Seele. FranzösischDeutsch. Hg. und übers. v. K. Hammacher, Hamburg 1984, I, 35.
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der eigenen Ziele und Bedürfnisse – situationsangemessen ist; schließlich führt sie einen entsprechenden Willensakt aus. 3. Allein dadurch, „daß sie irgendetwas will, […] bewirkt [die Seele], daß die kleine Hirndrüse, mit der sie eng verbunden ist, sich in der Art bewegt, wie erforderlich, um die Wirkung hervorzurufen, die diesem Willen entspricht“ 20. Diesem Bild zufolge ist das Gehirn an der zweiten Phase – an der Bewertung der wahrgenommenen Situation sowie an der Entscheidung, welche Handlung ausgeführt werden soll – in keiner Weise beteiligt. Es wartet, sozusagen im stand-by-Modus, auf einen Willensakt der Seele, durch den es wieder in Aktion gesetzt wird. Offenbar gibt es hier zwei Probleme. Erstens ist diesem Bild zufolge nicht verständlich, warum Menschen in der Tat ein höher entwickeltes Gehirn haben. Und zweitens widerspricht die Annahme, dass sich unser Gehirn, während wir überlegen und entscheiden, gewissermaßen im Ruhemodus befindet, einfach nicht den empirischen Befunden. Schließlich möchte ich auch noch einmal auf die sehr gut gesicherte Tatsache verweisen, dass es offenbar keine mentalen Eigenschaften und Leistungen gibt, die nicht an eine spezifische neuronale Grundlage gebunden sind. Insbesondere die Untersuchung von Verletzungen und Schädigungen zeigen eindeutig, dass unsere Fähigkeit, Sprache zu verstehen, an intakte Strukturen im Wernicke-Areal gebunden ist, so wie die Fähigkeit, sich selbst sprachlich zu äußern, von einem intakten Broca-Areal abhängt; dass Schädigungen des präfrontalen Kortex die Fähigkeit beeinträchtigen, die Zukunft zu planen, sich nach sozialen Regeln zu richten und die Handlungsabläufe zu wählen, die letztlich für das Überleben am günstigsten sind 21; dass bestimmte Gehirnverletzungen zu einer Prosopagnosie führen; usw. usw. Manche meinen, diese Befunde würden nur zeigen, dass bestimmte neuronale Strukturen für die entsprechenden mentalen und kognitiven Fähigkeiten notwendig sind; aus ihnen folge aber nicht, dass ein einwandfreies Funktionieren dieser Strukturen auch schon hinreichend sei; vielmehr bedürfe es zusätzlich einer Aktion der Seele. Diese Position scheint mir aus zwei Gründen unhaltbar. Erstens: Wozu um alles in der Welt benötigt die Seele neuronale Strukturen, um wirksam werden zu können? Zweitens: In aller Regel stellen sich die beeinträchtigten Fähigkeiten von selbst wieder ein, wenn die geschädigten Struktu20 21
Ebd., I, 41. Vgl. A. R. DAMASIO, Descartes’ Irrtum: Fühlen Denken und das menschliche Gehirn, München 31998, 63.
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ren sich erholt haben. Sollte das wirklich daran liegen, dass die Seele im Hintergrund wartet und wieder tätig wird, wenn das neuronale Substrat, das sie benötigt, wieder intakt ist? Halten wir also fest: Alle empirischen Befunde sprechen dafür, dass es keine neuronalen Prozesse gibt, die nur durch die Annahme des Wirkens einer Seele erklärt werden können. Vielmehr hat alles, was in unserem ZNS geschieht, eine physische Ursache (wenn es überhaupt eine Ursache hat). Und: Nach allem, was wir wissen, beruhen alle mentalen Eigenschaften und Fähigkeiten allein auf ihnen zugrunde liegenden neuronalen Strukturen und Prozessen. 4. Diese empirischen Befunde werden noch durch die folgende komplementäre Überlegung gestützt: Für René Descartes wie für Platon besteht das Weiterleben nach dem Tode darin, dass sich die immaterielle Seele vom Körper löst und ohne ihn weiter existiert. Aber wie haben wir uns die Existenz solcher körperloser immaterieller Wesen vorzustellen? Können solche Wesen z. B. wahrnehmen? Und was nehmen sie wahr? Auch René Descartes bestreitet nicht, dass das Bild, das sich die Seele von der Welt macht, während sie mit dem Körper verbunden ist, ganz wesentlich von den Sinnesorganen abhängt und von den herrschenden äußeren Umständen. Wenn ein Mensch einen Baum sieht, ist der visuelle Eindruck, der sich dabei einstellt, von seiner physischen Konstitution ebenso abhängig wie von der physischen Beschaffenheit seiner Umgebung – er ist abhängig davon, aus welcher Richtung er auf den Baum schaut und wie weit er von ihm entfernt ist, was sich zwischen ihm und dem Baum befindet und welche Beleuchtungsverhältnisse herrschen; er ist aber auch abhängig davon, wie seine Augen und sein Gehirn das einfallende Licht verarbeiten. Reine Geister haben aber keine physischen Eigenschaften. Was bestimmt also ihre Wahrnehmungseindrücke, wenn sie überhaupt welche haben? Aus welcher Perspektive sehen sie die Welt, und in welcher Entfernung erscheint sie ihnen? Bedeutet die Tatsache, dass sie keine Sinnesorgane haben, dass sie gar nichts wahrnehmen können? Oder können sie viel mehr wahrnehmen als wir? Können reine Geister ultraviolettes Licht sehen oder Töne von mehr als 16000 Hz hören? Gibt es Eigenschaften (Magnetismus, elektrische Ladung), die reine Geister wahrnehmen können, obwohl wir das nicht können? Ähnelt das Wahrnehmungsvermögen reiner Geister vielleicht eher dem von Fledermäusen als dem unseren? Können reine Geister vielleicht sogar alles wahrnehmen? Und was würde das heißen? Ähnliche Fragen stellen sich im Hinblick auf die Kommunikationsfähigkeit reiner Geister. Wie bringen sie es überhaupt fertig, miteinan-
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der zu kommunizieren? Sicher können sie kein physisches Medium verwenden. Könnte es also sein, dass sie sich ihre Gedanken direkt, ohne die Unterstützung durch ein Medium mitteilen? Aber wie könnte das geschehen? Vielleicht hat ein Geist einfach den Eindruck, dass ihm ein anderer Geist etwas mitteilen will. Und wie ist es, wenn ihm verschiedene Geister gleichzeitig etwas mitteilen möchten? Empfängt er ihre Botschaften gleichzeitig oder nacheinander? Wie kann er unterscheiden, wer ihm etwas mitteilt, und wie kann er den Fall, dass ihm etwas mitgeteilt wird, von dem unterscheiden, dass er nur den Eindruck hat, ihm werde etwas mitgeteilt? 22 In meinen Augen ist es alles andere als ein Zufall, dass wir uns körperlose Seelen (und andere Geister) im Allgemeinen nicht als immaterielle, sondern in irgendeiner Form als nicht ganz körperlose Schattenwesen vorstellen. Bei Nahtoderlebnissen wird z. B. berichtet, dass sich der Mensch von seinem Körper löst und über ihm schwebt, dass er hört, was um ihn herum gesprochen wird, dass er sich dann in einen Tunnel begibt, an dessen Ende ein helles Licht aufscheint. Alles dies setzt zwar nicht unbedingt einen Körper voraus, aber doch, dass die Seele nach wie vor einen Ort im Raum hat und dass sie über Wahrnehmungsvermögen verfügt, die denen eines „normalen“ Menschen zumindest ähnlich sind. Wenn wir uns Seelen aber als reine Geister vorstellen, wird all das unverständlich. Wie kann eine solche Seele sich vom Körper lösen und an die Decke schweben? Wie kann sie durch einen Tunnel gehen? Wie kann sie hören, sehen, riechen? Auf diese Fragen scheint es einfach keine Antworten zu geben, und damit wird deutlich, dass irgendetwas an der Konzeption reiner Geister grundlegend verkehrt ist. Empirisch spricht also nichts dafür, dass wir Menschen eine immaterielle Seele haben, und theoretisch ist diese Idee mehr als problematisch. Das heißt: Wir haben allen Grund, nicht davon auszugehen, dass es eine Seele gibt, die nach dem Tod des Körpers weiter existieren kann. 5. Bleibt noch die andere der beiden Möglichkeiten, die im Zusammenhang mit dem Leben nach dem Tode diskutiert werden – die Idee einer Wiederauferstehung des Fleisches. Das größte theoretische Problem, das mit dieser Idee verbunden ist, ergibt sich aus der Frage: Wenn jemand lange nach meinem Tode einen Körper herstellt, der 22
Vgl. LUKREZ, Über die Natur. Hg. und übers. v. H. Diels, Düsseldorf-Zürich 1993, III, 624-633.
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mit dem Körper vor meinem Tod weitgehend strukturidentisch ist, kann das, was da entsteht, wirklich mit mir identisch sein? Erfordert Identität nicht raum-zeitliche Kontinuität? Das zentrale logische Problem für [die Idee] der Wiederauferstehung ist das Problem der personalen Identität. Dualistischen Annahmen zufolge wird personale Identität durch das Weiterexistieren der Seele zwischen Tod und Auferstehung gewährleistet. Aber für den Materialismus gibt es nichts, was die raumzeitliche Lücke zwischen dem Körper, der [nach dem Tod] zugrunde geht, und dem auferstandenen Körper überbrückt. Wie kann die „auferstandene“ Person dann mit der Person identisch sein, die verstorben ist? 23
Doch ich will auf dieses Problem hier nicht weiter eingehen, sondern vielmehr die Frage stellen: Wie passt die Idee der Wiederauferstehung des Fleisches zu dem, was wir heute über die Welt, in der wir leben, wissen? Wie steht es mit dem biologischen Tod? Lebewesen sind auf der einen Seite hochkomplexe funktional organisierte Wesen; auf der anderen Seite unterscheiden sie sich aber von den anderen funktionalen Systemen, die wir kennen, – den von uns selbst hergestellten Maschinen – durch eine bemerkenswerte Fragilität. Wenn man ein Radio von seiner Energiezufuhr abschneidet, indem man den Stecker zieht, passiert relativ wenig. Es ist zwar temporär nicht mehr funktionsfähig; aber es erleidet keinen dauerhaften Schaden. Man kann nach vier Wochen den Stecker wieder in die Dose stecken, und das Radio funktioniert wie vorher. Bei den meisten Lebewesen ist das ganz anders. Wenn man ihnen kein Futter und keine Flüssigkeit gibt und besonders wenn man sie von der Sauerstoffzufuhr abschneidet, erleiden sie in kürzester Zeit irreparable Schäden. Ihre Struktur zerfällt rasch und zwar in einer Weise, die nicht mehr reversibel ist. Lebewesen können nur existieren, wenn sie andauernd aktiv ihre funktionale Struktur aufrechterhalten; wird dieser Prozess gestört, verlieren sie dauerhaft ihre Funktionsfähigkeit und zersetzen sich immer mehr. Die Irreversibilität dieses Vorgangs macht den Tod zu etwas Endgültigem. Dass wir hier von Irreversibilität reden, hat seinen Grund genau darin, dass es tatsächlich keinen natürlichen Prozess gibt, durch den der Strukturzerfall so rückgängig gemacht werden kann, dass ein Lebewesen, das gestorben war, wieder anfängt zu leben. Nach allem, was wir wissen, ist die Natur so eingerichtet, dass in ihr die Auferstehung des Fleisches, die funktionsrestituierende Reparatur eines einmal gestorbenen Lebewesens, nicht vorkommt. 23
W. HASKER, Afterlife, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Abschnitt 3 (nach eigener Übersetzung).
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Natürlich schließt das die Möglichkeit nicht aus, dass eine solche funktionsrestituierende Reparatur durch übernatürliche Kräfte zustande gebracht werden kann. Aber was spricht dafür, dass so etwas tatsächlich passiert? Zunächst einmal muss man sich daran erinnern, dass es ganz allgemein keine belastbaren Belege dafür gibt, dass übernatürliche Kräfte überhaupt je in das Weltgeschehen eingreifen. Hinzu kommt, dass die wenigen Berichte über angebliche Auferweckungen von den Toten mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Schon die äußerste Seltenheit dieser Vorkommnisse macht die Situation epistemisch zweifelhaft. Auch hier gilt also: Es gibt keine belastbaren Belege für die Annahme, dass zumindest in einigen Fällen Lebewesen von den Toten auferweckt wurden. 6. Alles in allem stellt sich in meinen Augen die Situation damit so dar: Während besonders in älteren Weltsichten die Annahme, es gäbe Götter und Geister, die ständig in den Lauf der Welt eingreifen, fast selbstverständlich war, müssen wir heute feststellen, dass es für diese Annahme keine stichhaltigen Belege gibt. Die Wissenschaften haben stattdessen eine Weltsicht entwickelt, der zufolge alle Dinge aus Atomen und nur aus Atomen aufgebaut sind. Alle Eigenschaften der Dinge lassen sich auf die Eigenschaften und Interaktionen dieser Atome zurückführen. Selbst für Lebewesen gilt: Die Fähigkeiten der Selbsterhaltung, der Ernährung, der Wahrnehmung, der zielgerichteten Bewegung und der Reproduktion lassen sich alle auf die Anordnung und Interaktion der Atome zurückführen, aus denen auch Lebewesen bestehen. Schließlich gilt sogar für mentale und kognitive Fähigkeiten: Sie beruhen alle auf neuronalen Verschaltungen und Prozessen. Kein Platz für Götter und Geister, nicht einmal für eine Seele. Wenn diese Weltsicht zutrifft, spricht aber nichts dafür, dass Menschen ihren natürlichen Tod überleben können. Sie haben keine immaterielle Seele, die nach dem Tod des Körpers weiter existieren könnte. Und die Irreversibilität der Zersetzungsprozesse, die unmittelbar nach dem Tod einsetzen, spricht auch gegen die Möglichkeit einer Auferstehung des Fleisches. Dies gilt umso mehr, als ja aus wissenschaftlicher Sicht auch nichts dafür spricht, dass es überhaupt übernatürliche Wesen oder Kräfte gibt. Bleibt die Frage, ob es denn überhaupt bedauerlich wäre, wenn es kein Leben nach dem Tode gäbe. Eine sachangemessene Antwort auf diese Frage kann ich hier nicht leisten. Stattdessen schließe ich mit einer Passage aus Lukrez’ Über die Natur, in der Lukrez der Natur selbst die folgenden Worte in den Mund legt:
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Sterblicher, sage, was ist dir? Was gibst du so über die Maßen Kläglichem Trauern dich hin? Was beklagst und beweinst du das Sterben? War dir dein Leben erfreulich, das hinter dir liegt und vollendet, Sind dir alle Genüsse nicht etwa kläglich zerronnen Wie durch ein leckes Gefäß und ohne Genuß dir entschwunden, Warum scheidest du nicht als gesättigter Gast von des Lebens Tafel, du Tor, und genießest die sichere Ruhe mit Gleichmut? Sind hingegen die Quellen der Freude dir gänzlich zerflossen, Ist dir das Leben zum Ekel, was willst du denn weiter hinzutun, Was doch wieder verschwindet und ohne Genuß dir zerrinnet? Warum machst du nicht lieber ein Ende der Qual und dem Leben? Denn was könnt’ ich noch weiter ersinnen dir oder erfinden, Was dich zu freuen vermöchte? Es bleibt ja doch immer beim Alten. Auch wenn die Jahre noch nicht dir den Körper völlig entnervten Oder die Glieder dir lahmten, so bleibt doch alles wie vorher, Magst du auch alle Geschlechter an Lebensdauer besiegen, Ja, selbst wenn du für immer dem Tod zu entfliehen vermöchtest. 24
Wenn das Leben gut war, soll man zufrieden sein und sich freuen, dass man ein so angenehmes Leben hatte. Wenn das Leben dagegen voller Leid und Schmerz war, soll man sich freuen, dass es jetzt endlich zu Ende geht. Und überhaupt: Wäre es wirklich erstrebenswert, immer und immer wieder dasselbe zu erleben? Eigentlich ist es doch gut, dass einmal wirklich alles vorbei ist.
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LUKREZ, Über die Natur, III, 933-943 (in der Übersetzung v. D. Diehls).
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Literatur BAYERTZ, KURT, Was ist moderner Materialismus?, in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg 2007, 50-70. BECKERMANN, ANSGAR, Der kosmologische und der teleologische Gottesbeweis heute, in: Patrick Becker/Ursula Diewald (Hg.), Zukunftsperspektiven im theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog, Göttingen 2011, 105-122. BROAD, CHARLES DUNBAR, The Mind and Its Place In Nature, London 1925. CHALMERS, ALAN, Atomism from the 17th to the 20th Century, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2010 Edition), unter http://plato.stanford.edu/archives/win2010/entries/atomism-modern/ (abgerufen am 16.02.2011). DAMASIO, ANTONIO R., Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das meschliche Gehirn, München 31998. DESCARTES, RENÉ, Les passions de l’âme. Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Klaus Hammacher, Hamburg 1984. HASKER, WILLIAM, Afterlife, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2010 Edition), unter http://plato.stanford.edu/archives/ fall2010/entries/afterlife/ (abgerufen am 08.04.2011). LUKREZ, Über die Natur. Herausgegeben und übersetzt von Hermann Diels, Düsseldorf-Zürich 1993. MCLAUGHLIN, BRIAN, The Rise and Fall of British Emergentism, in: Ansgar Beckermann/Hans Flohr/Jaegwon Kim (Hg.), Emergence or Reduction? Prospects for Nonreductive Physicalism, Berlin-New York 1992, 49-93. PETERSON, MICHAEL/HASKER, WILLIAM/REICHENBACH, BRUCE/BASINGER, DAVID, Reason & Religious Belief, Oxford 21998. SCHNABEL, ULRICH, Die Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt, München 2008. SINGER, WOLF, Verschaltungen legen uns fest, in: Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a. M. 2004, 30-65. TYLOR, EDWARD BURNETT, Die Anfänge der Cultur, in: Jens Schlieter (Hg.), Was ist Religion? Stuttgart 2010, 214-218.
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Out-of-body. Anmerkungen eines Mediziners zur Relevanz der Nahtoderfahrung für die Klärung des Leib-Seele-Verhältnisses Eine einheitliche, allgemein akzeptierte Definition von Nahtoderfahrungen (NTE) ist nicht bekannt. Normalerweise werden unter dem Begriff NTE Erfahrungen von Menschen zusammengefasst, die bewusstlos waren, während ihr Körper sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befand. Aber auch Menschen, die in lebensgefährliche Situationen geraten sind und diese unverletzt und ohne Bewusstseinsverlust überlebt haben, berichten von vergleichbaren Erlebnissen. Darüber hinaus treten NTE-Elemente auch in Phasen von Ruhe und Entspannung wie zum Beispiel in Träumen, Meditation, Yoga, Stress, Übermüdung und auch während der Einnahme von Drogen auf. 1 Erlebnisse in der Nähe des Todes waren bereits in der Antike bekannt. Berichtet werden Elemente der NTE beispielsweise im Gilgamesch-Epos (17. Jahrhundert v. Chr.), in dem eine Reise durch einen Tunnel ins Licht sowie eine Auseinandersetzung mit dem Reich des Todes geschildert wird. 2 Ein anderer Bericht findet sich bei Platon. In seinem Werk Politeia lässt Platon Sokrates von der „Erzählung des Er“ berichten, welche das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod zum Inhalt hat. 3 Carol Zaleski hat sich ausführlich mit einer Vielzahl von historischen Überlieferungen aus den letzten zwei Jahrtausenden beschäftigt und diese in ihrem Band Nahtoderlebnisse und Jenseitsvisionen zusammengefasst. 4 Interessanterweise finden sich auch in der Literatur Elemente, die den Sequenzen einer NTE ähneln. Bei1 2
3
4
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Nahtod-Erfahrung. Das Gilgamesch-Epos, zitiert nach: S. HÖGL, Transzendenzerfahrungen. Nahtod-Erlebnisse im Spiegel von Wissenschaft und Religion, Marburg 2006, 134-136. PLATON, Der Staat X, 614-621, zitiert nach: C. ZALESKI, Nahtoderlebnisse und Jenseitserfahrungen. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995, 31f. ZALESKI, Nahtoderlebnisse und Jenseitsvisionen.
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spiele dafür sind Romane wie Gullivers Reisen, Alice im Wunderland, Peter Pan oder auch Karl Mays Werk Am Jenseits. In letzterem finden sich neben einer out-of-body-Erfahrung eine Lebensrückschau und das Vorkommen von Lichtwesen. 5 In der 1912 erschienenen Erzählung Der Fuhrmann des Todes von Selma Lagerlöf werden sogar zwei Nahtoderlebnisse geschildert. 6 1. NTE UND WISSENSCHAFTLICHE STUDIEN Obwohl NTE schon in früheren Jahrhunderten sporadisch beschrieben wurden, sind derartige Erlebnisse erst seit der Veröffentlichung des Buches Life after Life von Raymond Moody im Jahr 1975 einer breiten Öffentlichkeit bekannt. 7 Seitdem rückten NTE auch zunehmend in den Blickpunkt der Naturwissenschaften, insbesondere der Neurobiologie. Allerdings hat sich die wissenschaftliche Erforschung der NTE aufgrund des spontanen Auftretens und der Subjektivität der Erlebnisse in der Folgezeit als nicht einfach erwiesen. Lange Zeit war man auf anekdotische Schilderungen einzelner Erlebnisse und retrospektive Studien angewiesen. Eine erste systematischere Untersuchung stammt von Albert Heim aus dem Jahr 1892. Im Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs stellte er 30 Fälle von Bergsteigern vor, die einen Absturz nur knapp überlebt hatten. In diese Sammlung wurden zudem auch andere Menschen aufgenommen, die bei Unfällen oder im Krieg fast gestorben wären. 8 Bis heute wurden mehr als 40 Studien über NTE in wissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften publiziert. Bis zum Jahr 2000 waren die meisten dieser Untersuchungen jedoch retrospektiv angelegt. Wegen wissenschaftlicher Mängel in der Befragung und Rekrutierung der Teilnehmer wurden diese jedoch heftig kritisiert. Erst in den letzten zehn Jahren konnten mehrere prospektive Studien durchgeführt werden, bei denen wenige Tage nach einem medizinischen Ereignis (zum Beispiel Herzinfarkt und Reanimation) nach einem vorgegebenen Protokoll persönliche und medizinische Daten exakt erfasst wurden und die erhaltenen Ergebnisse somit wissenschaftlich als zuverlässig eingeordnet werden konnten. Insgesamt 5 6 7 8
Vgl. K. MAY, Am Jenseits, Bamberg 1951, 401ff. Vgl. P. V. LOMMEL, Nahtoderlebnisse als literarisches Thema, in: a tempo 3 (2011) 27. Vgl. R. A. MOODY, Leben nach dem Tod, Reinbek 1977. Vgl. P. V. LOMMEL, Endloses Bewußtsein. Neue Medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Düsseldorf 2009.
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wurden bisher zwischen 2001 und 2006 vier prospektive Studien über NTE bei Herzpatienten mit insgesamt 572 Patienten veröffentlicht. Gemeinsame Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen sind, dass 1. bei Herzstillstand NTE auftreten, 2. in allen Studien ein vergleichbarer Prozentsatz an NTE nachzuweisen war, 3. dabei alle Gehirnfunktionen nachweisbar ausgefallen waren und 4. in allen vier Studien weder eine plausible physiologische noch eine psychologische Erklärung gefunden wurde. 9
Die bedeutendste prospektive Studie wurde 2001 in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht. 10 In dieser niederländischen Studie konnten konsekutiv 344 Patienten mit insgesamt 509 erfolgreichen Reanimationen nach Herzstillstand aufgenommen werden. Alle Patienten in dieser Studie waren zeitweise klinisch tot. Als klinisch tot wird ein Zustand bezeichnet, bei dem eine Phase der Bewusstlosigkeit bedingt durch Herzstillstand und/oder Atemstillstand aufgetreten ist. Eine dauerhafte Schädigung der Gehirnzellen ist jedoch bei rechtzeitiger Reanimation nicht zu erwarten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass bereits nach drei bis fünf Minuten Herz- und Kreislaufstillstand Gehirnschäden auftreten können. Trotz eventuell vorhandener Schäden kann jedoch das Bewusstsein wieder erlangt werden. Von diesen reversiblen klinischen Zuständen zu unterscheiden ist der Hirntod, bei dem ein irreversibler Verlust des Bewusstseins (Koma) bei gleichzeitigem Ausschluss anderer Koma-Ursachen wie zum Beispiel Narkose, Sedierung sowie dem Fehlen von Hirnstammreflexen und Spontanatmung gesichert ist. Der Nachweis der Irreversibilität wird nach genauen Untersuchungsvorschriften in einem Hirntod-Protokoll festgehalten. 2. ELEMENTE DER NTE Schätzungen gehen davon aus, dass in den vergangenen 50 Jahren ca. 25 Millionen Menschen eine NTE erlebt haben. Neuere Studien in Amerika und Deutschland geben einen Prozentsatz von 4,2 an. 11 In der prospektiven niederländischen Studie von Pim van Lommel berichteten 62 (18%) der 344 Patienten über Elemente der NTE. 41 (12%) 9
Ebd., 144ff. Vgl. P. V. LOMMEL/R. V. WEES/V. MEYERS/I. ELFFERICH, Cardiac arrest – a prospective study in the Netherlands, in: The Lancet 358 (2001) 2039-2045. 11 Vgl. V. LOMMEL, Endloses Bewußtsein, 144ff. 10
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erlebten eine ausgeprägte bis tiefe NTE. 82% der Patienten konnten sich nicht an die Phase der Bewusstlosigkeit erinnern. Die Ergebnisse dieser Studie konnten die Beobachtungen früherer retrospektiver Untersuchungen im Wesentlichen bestätigen. Bereits Raymond Moody konnte in seiner Publikation 15 Elemente der NTE charakterisieren. 12 Michael Schröter-Kunhardt fand in einer eigenen retrospektiven Befragung von 100 Betroffenen am häufigsten ein Gefühl von Ruhe, Frieden und Wohlbefinden (89%). Weitere Elemente der NTE waren das Gefühl von Freude und Glück (80%), Lichtwahrnehmung (77%), Eintritt in eine überirdische, jenseitige Welt (63%), außerkörperliche Erfahrungen (out-of-body) (61%), beschleunigte Zeitabläufe, Zeitlosigkeit (59%), Tunnelphänomen (47%), Einheitserleben (38%), Begegnung mit mystischen Wesen (32%), Lebensrückblicke (30%), Begegnungen von Verstorbenen/religiösen Figuren (27%) und anderen. 13 Neben diesen positiv gefärbten NTE werden vereinzelt auch negative Erlebnisse geschildert. Diese wie auch die klassischen NTE führen letztlich jedoch in den meisten Fällen zu einer Veränderung der Lebensführung mit zum Beispiel vermehrter Wertschätzung des Lebens, Verlust oder Verringerung von Angst vor dem Tod, Glaube an Gott, neuem Lebenssinn, paranormaler Sensibilisierung etc. 14 Interessanterweise konnten in der niederländischen Studie keine negativen NTE beobachtet werden. 15 NTE sind jedoch nicht nur an lebensbedrohliche Zustände gebunden. Sie können auch bei Menschen auftreten, deren Leben nicht vital bedroht wurde. Justine Owens et al. untersuchten 28 Menschen nach einer lebensbedrohlichen Situation und verglichen diese mit Nahtodschilderungen von 30 Menschen, die sich subjektiv akut bedroht fühlten, objektiv jedoch keiner Gefahr ausgesetzt waren. Es fanden sich in beiden Gruppen keine Unterschiede in der Häufigkeit von Tunnelphänomenen, positiven Gefühlen und out-of-body-Erfahrungen. Einzig die Häufigkeit des Lebensrückblicks war in der nicht-vital bedrohten Gruppe signifikant erniedrigt. 16
12 13
14
15 16
MOODY, Leben nach dem Tod, 27ff. M. SCHRÖTER-KUNHARDT, Nah-Todeserfahrungen, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 11 (2005) 56-65. Vgl. B. R. ROMMER, Der verkleidete Segen. Erschreckende Nah-Todeserfahrungen und ihre Verwandlung, Goch 2004, 191ff. Vgl. V. LOMMEL/V. WEES/MEYERS/ELFFERICH, Cardiac arrest. J. E. OWENS/E. W. COOK/I. STEVENSON, Features of “near-death-experience” in relation to whether or not patients were near death, in: The Lancet 336 (1990) 1175-1177.
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3. NEUROBIOLOGIE DER NTE Kenneth Ring unterteilt die NTE in ein Kontinuum von sechs Stufen (Kernelemente): 1. Gefühle von Frieden und Bedeutung, 2. Trennung des Bewusstseins vom Körper, 3. Rasche Bewegung durch einen dunklen Tunnel, 4. Aufstieg in das Licht verbunden mit mystischen Gefühlen der Liebe und Einheit, 5. Begegnung mit Verstorbenen und höheren Wesen in einer paradiesischen Landschaft, 6. Lebensrückblick. 17 Trotz der Vielfalt und unterschiedlichen Häufigkeit einzelner Elemente der NTE handelt es sich um ein einheitliches Phänomen. Dafür sprechen sowohl die zeitgenössische Invarianz wie auch kulturelle Vergleiche. 18 In einer Studie wurden NTE bei weißen Amerikanern (n = 442) und Amerikanern indianischer Abstammung (n = 435) untersucht. Im Vergleich ergaben sich lediglich Unterschiede bei der Identifizierung der Erscheinungen von Personen sowie der Benennung religiöser Gestalten. 19 Aufgrund der bisherigen Untersuchungen ist davon auszugehen, dass die Elemente der NTE universell sind, die kulturelle Ausgestaltung sich jedoch unterscheiden kann. Die einzelnen Bausteine einer NTE treten in variabler Zusammenstellung auf, jedoch in den meisten Fällen in der genannten Reihenfolge. Alle Stufen der typischen NTE werden von einer gesteigerten Klarheit und Intensität der Erlebnisse begleitet. Die Denkprozesse verlaufen ungewöhnlich schnell und sind erfüllt von einem Gefühl der Transzendenz von Raum und Zeit. Das Erlebte wird häufig als wirklicher als die Wirklichkeit beschrieben. 20 Die Umstände der Begegnung mit dem Tod sind nur von minimaler Bedeutung für das Auftreten der NTE. 21 Diese Invarianz spricht aus neurobiologischer Sicht für das Vorliegen spezifischer physiologischer Mechanismen im Gehirn. Da die Induktion echter NTE experimentellen Zugriffen aus ethischen Gründen weitgehend verschlossen bleibt, beruhen die neurobiologischen Erklärungsmodelle hauptsächlich auf Vermutungen, Beobachtungen und experimentellen Studien von partiellen Elementen der NTE. Ausgehend vom wissenschaftli17 18 19
20 21
K. RING /E. ELSÄSSER-VALERINO, Im Angesicht des Todes, München 1999, 25ff. Vgl. HÖGL, Transzendenzerfahrungen, 388f. Vgl. K. OSIS/E. HARALDSSON, Deathbed observations by physicians and nurses. A cross-cultural survey, in: Journal of the American Society for Psychical Research 71 (1977) 231-258. Vgl. HÖGL, Transzendenzerfahrungen, 278f. Vgl. B. GREYSON, Incidence and correlates of near-death experiences in a cardiac care unit, in: General Hospital Psychiatry 25 (2003) 269-276.
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chen Paradigma, dass die neuronalen Repräsentationen bei Menschen die biologischen Grundlagen seiner subjektiven psychischen Erscheinungen sind, 22 ergibt sich als Konsequenz, dass die Phänomene der NTE an materielle Vorgänge gebunden sein müssen und organische Ursachen haben. Vor diesem Hintergrund sind die vielfältigen Erklärungsversuche von Naturwissenschaftlern und Medizinern zu verstehen, welche bereits 1983, als noch kaum wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema vorlagen, über mögliche Ursachen wie gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit, Ausschüttung von Endorphinen, cerebrale Veränderungen, biochemisch-elektrische Entladungen oder Veränderung des Gehörs, traumartige Zustände, Halluzinationen, Sauerstoffmangel oder Sauerstoffüberschuss, geschädigtes Kreislaufsystem, Einbildungen, Angst vor dem Tod, Traumata, induzierte Phantasien etc. spekulierten. 23 Sind die bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert geäußerten Spekulationen inzwischen bestätigt oder sogar widerlegt worden? Kann die Neurobiologie heute NTE oder Elemente davon vollständig und überzeugend erklären? Diese Fragen sollen in den folgenden Abschnitten diskutiert werden. 4. ENDOGENE UND EXOGENE SUBSTANZEN Zu Beginn, häufig aber auch während der gesamten NTE treten angenehme Gefühle von Freude und Glück, ein Gefühl von Ruhe, Frieden und Wohlbefinden auf. Auffallend ist die Abwesenheit von Schmerzen und körperlichen Missempfindungen. Deshalb wird von Neurobiologen als möglicher Auslöser von NTE die Ausschüttung körpereigener Substanzen diskutiert. Es ist bekannt, dass unter Stress vermehrt endogene Opiate wie zum Beispiel Beta-Endorphin, Enkephaline oder Substanz P ausgeschüttet werden. Diese Substanzen können neuronale Entladungen im Gehirn unterdrücken und das Schmerzempfinden hemmen. Andererseits ist die Ausschüttung dieser Hormone sehr unspezifisch und tritt bei vielen alltäglichen Begebenheiten wie zum Beispiel Joggen etc. auf. Es liegen auch keine experimentellen Daten über diese Substanzen beim Auftreten von NTE oder Teilelementen vor, so dass deren Beteiligung spekulativ bleiben muss. Es ist sicherlich 22
23
Vgl. H. HANSER (Hg.), Lexikon der Neurowissenschaften, Band 2, Berlin-Heidelberg 2000, 478. Vgl. G. GALLUP/W. PROCTOR, Begegnungen mit der Unsterblichkeit, München 1983, 192f.
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vorstellbar, dass einzelne oder mehrere dieser Hormone vermehrt produziert werden. Ein ursächlicher Zusammenhang ist aufgrund der relativ eingeschränkten psychotropen Wirkung dieser Substanzen jedoch sehr unwahrscheinlich. Außerdem hält die Wirkung dieser Substanzen aufgrund der Halbwertszeit mindestens etliche Minuten oder länger an und die Wirkung lässt nur langsam nach. Dies steht jedoch im Widerspruch zu der fast immer abrupten Beendigung einer NTE mit unmittelbar damit verbundenen plötzlich wieder auftretenden Schmerzen. Problematisch bleibt auch die Vermutung, dass endogene Halluzinogene von Bedeutung sein könnten. Es ist bekannt, dass nach Einnahme von Ayahuasca, einer halluzinogenen Pflanze, Elemente der NTE auftreten können. Hauptwirkstoff von Ayahuasca ist Dimethyltryptamin (DMT). DMT kommt auch in geringen Spuren im Körper vor. Experimentell appliziert, induziert DMT die visionäre Kommunikation mit intelligenten Wesenheiten nicht-irdischer Herkunft, wie zum Beispiel außerirdischen Lebensformen oder elfenartigen Wesen, aber auch diverse Elemente von NTE. 24 Quantitative Messungen zu dieser körpereigenen Substanz in Grenzsituationen liegen jedoch nicht vor. Studien konnten zeigen, dass bestimmte Neurotransmittersysteme wie zum Beispiel serotonerge und dopaminerge Neuronen mit religiösen Erfahrungen, einem wesentlichen Element der NTE korrelieren.25 Darüber hinaus gibt es auch eindeutige Hinweise auf die Beteiligung anderer Neurotransmittersysteme. Dies belegen zumindest Studien mit exogen applizierten Hemmern des Glutamatrezeptors NMDA (N-MethylD-Aspartat), wie z. B. Ketamin und Phencyclidin, welche zu visionären Begegnungen mit höheren Wesen, Loslösung des Bewusstseins vom Körper und Stimmungsaufhellung führen können. 26 Ketamin ist ein Arzneimittel, das in der Anästhesie zu Narkosezwecken und bei der Schmerzbehandlung (Analgesie) in der Notfallmedizin Anwendung findet. Das wirksamere Molekül ist das S-Ketamin (Enantiomer), das sowohl für die narkotische, analgetische aber auch 24 25
26
Vgl. R. STRASSMAN, DMT – Das Molekül des Bewußtseins, Baden 2004, 298f. J. BORG/B. ANDRÉE/H. SODERSTROM/L. FARDE, The Serotonin System and Spiritual Experiences, in: American Journal of Psychiatry 160 (2003) 1965-1969; M. DOBKIN DE RIOS/O. JANIGER, LSD – spirituality and the creative process, Rochester 2003, 159f.; P. BRUGGER, Das gläubige Gehirn – Der Glaube an das Außersinnliche aus neuropsychologischer Sicht, in: S. Matthiesen/R. Rosenzweig (Hg.), Von Sinnen – Traum, Trance, Rausch und Rage aus der Sicht der Hirnforschung, Paderborn 2007, 113-133. Vgl. K. L. R. JANSEN, The Ketamin Model of Near-death Experience: A central role for the NMDA receptor, in: Journal for Near-Death Studies 16 (1997) 5-26.
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für die halluzinogene Wirkung verantwortlich ist. Nach der KetaminHypothese von Jansen kann eine Blockade des NMDA-Rezeptors dazu führen, dass in Stresssituationen körpereigene Substanzen wie z. B. Agmantine (Amino-butyl-guanidin) die Zellen des Körpers vor toxischen Stoffen schützen. Dieser Effekt soll letztlich die NTE auslösen. Die genauen physiologischen Mechanismen für diesen möglichen Ablauf sind jedoch nicht bekannt. 27 Eine Bestätigung der Bedeutung des NMDA-Rezeptors sind die Erfahrungen beim rituellen Einsatz von Ibogaine, einem Glutamat-Antagonisten, welcher aus der afrikanischen Apocinacea-Pflanze gewonnen wird. Nach Einnahme der Substanz werden sowohl Autoskopie-Erleben wie auch Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen und religiöse Lichterfahrungen beobachtet. 28 Grundsätzlich bleibt das KetaminModell aufgrund der Vielzahl von möglichen Auslösern ohne den Nachweis einer Induktion toxischer neuronaler Prozesse umstritten. Es ist jedoch zweifelsfrei, dass Ketamin Elemente der NTE induzieren kann. Ausgeschlossen werden muss jedoch die Vermutung, dass Ketamin über hypoxische Prozesse wirkt. Im Gegenteil wirkt Ketamin als Glutamatantagonist neuroprotektiv (zellschützend). Dieser Wirkmechanismus widerspricht jedoch den neurobiologischen Vorstellungen über eine hypoxische Zellschädigung als Auslöser von NTE. 5. SAUERSTOFFMANGEL UND SYNKOPEN Bereits sehr früh nach der Erstbeschreibung wurde ein Sauerstoffmangel (Hypoxie) als mögliche Ursache diskutiert. Insbesondere bei schweren kardialen Erkrankungen mit nachfolgender cerebraler Beteiligung (z. B. Koma) sind Durchblutungsstörungen des Gehirns mit begleitender Sauerstoffminderversorgung wahrscheinlich. In einem sehr interessanten Ansatz wurde 1994 versucht, experimentell eine cerebrale Hypoxie zu induzieren. 59 freiwillige Probanden praktizierten eine Kombination von Hyperventilation (schnelle Atmung) und konsekutivem Verschluss der Nase und des Mundes bei gleichzeitiger Anspannung der Atem- und Bauchmuskulatur (ValsalvaManöver). Als Folge reagierten die meisten Studienteilnehmer mit Stürzen, Bewusstseinsverlust und Myoklonien (Synkopen). Etwa die Hälfte 27 28
Vgl. ebd. Vgl. A. BIANCHI, Comments on “The Ketamin Model of the Near-Death Experience: A central role for the NMDA-receptor”, in: Journal for Near-Death Sudies 16 (1997) 71-78.
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der Probanden berichtete nach dem Wiedererwachen über das Auftreten von visuellen Halluzinationen, out-of-body -Erfahrungen und anderen Elementen der NTE. In keinem Fall fanden sich jedoch Hinweise auf einen Lebensrückblick oder eine Begegnung mit Verstorbenen. 29 Insgesamt dauerten die Synkopen maximal 22 Sekunden. Bewusst wurde von den Autoren der Studie eine Kombination von zwei Methoden gewählt, welche beide Synkopen induzieren können. Hyperventilation ist charakterisiert durch Senkung des Kohlenstoffdioxidpartialdrucks im Blut (Hypokapnie). Dadurch kommt es zu einer Verengung der Hirngefäße. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass eine vermehrte Atemtätigkeit trotz maximaler Sauerstoffsättigung zu einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff führt. Verstärkt wird dieser Effekt durch das Valsava-Manöver, bei dem eine Druckerhöhung im Brustbereich eine Hemmung des Blutflusses zum Herzen bedingt und dadurch letztlich zu einem Blutdruckabfall mit verminderter Durchblutung führt. 30 Die Ergebnisse dieser Studie sind für die NTE aus zweierlei Gründen von Bedeutung. Zum einen konnte belegt werden, dass mittels einer Kombination von zwei Hypoxie-induzierenden Methoden Elemente von NTE experimentell erzeugt werden können. Zum anderen fanden sich bei sehr vielen Patienten myokloniforme Zuckungen am Körper und an allen Extremitäten. Dabei handelt es sich um unwillkürliche, plötzlich auftretende kurzzeitige Muskelzuckungen mit sichtbarem Bewegungseffekt insbesondere der Extremitäten. Ähnliche motorische Entäußerungen finden sich häufig auch bei Gesunden während der REM-Schlaf-Phase. Bei neun Probanden konnte ein EEG abgeleitet werden. 31 Während des Bewusstseinsverlustes kam es zu einer deutlichen Verlangsamung der Aktivität. In drei Fällen wurde ein Nulllinien-EEG gemessen. Interessanterweise traten die Myoklonien während der Verlangsamung und auch während der Nulllinien-Ableitung auf. In keinem Fall fanden sich corticale myokloniforme Entladungen im EEG. Diese Beobachtung ebenso wie die bilateral (beidseitig) aufgetretenen Myoklonien sprechen für eine Entstehung in der Formatio reticularis des Hirnstamms und gegen eine Ursache im Großhirn. 32 Die 29
30 31
32
T. LEMPERT/M. BAUER/D. SCHMIDT, Syncope and near-death experience, in: The Lancet 344 (1994) 829f. http://de.wikipedia.org/wiki/Valsalva-Versuch. T. LEMPERT/M. BAUER/D. SCHMIDT, Syncope: a videometric analysis of 56 episodes of transient cerebral hypoxia, in: Annals of Neurology 36 (1994) 233-237. Vgl. R. NAQUET/A. FERNANDEZ-GUARDIOLA, Effect of various types of anoxia on spontaneous and evoked cerebral activity in cat, in: H. Gastant/J. S. Meyer (Hg.), Cerebral anoxia and the electroencephalogram, Springfield 1961, 144-163.
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Befunde sind im Einklang mit neurophysiologischen Erkenntnissen, welche primär einen Zusammenhang zwischen der Änderung des Sauerstoffgehaltes im Blut und den Aktivitäten kreislaufregulierender Zentren im Hirnstamm belegen konnten. 33 Somit ist letztlich davon auszugehen, dass NTE oder Elemente davon primär im Hirnstamm und nicht in der Großhirnrinde beginnen. Inzwischen gilt jedoch als gesichert, dass nur ein Teil der NTE durch Sauerstoffmangel erklärt werden kann. So hat Sam Parnia in einer prospektiven Ein-Jahres-Studie kontinuierlich den Sauerstoffund Kohlendioxidgehalt im Blut von Patienten mit NTE gemessen. Dabei fand sich kein signifikanter Unterschied im Vergleich zu einer Gruppe Nicht-NTE. 34 Im Gegenteil konnte sogar in einer anderen Studie gezeigt werden, dass ein Gasgemisch mit erhöhtem Sauerstoffgehalt (70% Sauerstoff, 30% Kohlendioxid) ebenfalls NTE auslösen kann. 35 Auch die bereits erwähnten pharmakologisch ausgelösten Phänomene, wie auch bestimmte schreckinduzierte NTE (z. B. bei abstürzenden Bergsteigern, die gesichert waren), sprechen dafür, dass Sauerstoffmangel nur einer von vielen Auslösern von NTE ist. 6. OUT-OF-BODY-ERFAHRUNGEN Bei außerkörperlichen Erfahrungen (OBE) hat der Betroffene das Gefühl, sich außerhalb des Körpers zu befinden und sich selbst zu betrachten. 10-20% der Bevölkerung sollen schon einmal im Leben eine entsprechende Erfahrung gemacht haben. 36 Das Phänomen tritt nicht nur in der Nähe des Todes auf, sondern beispielsweise bei verschiedenen Erkrankungen insbesondere des Temporallappens oder nach Einnahme von Halluzinogenen wie z. B. LSD oder DMT. Es kann jedoch auch spontan bei Gesunden entstehen oder willentlich herbeigeführt werden. Der amerikanische Ingenieur Robert A. Monroe führte aufgrund eigener Erlebnisse 1971 den Begriff out-of-body-Erfahrung ein. Er beobachtete, dass er durch Induktion von Schaukelbewegungen seinen Körper willentlich verlassen konnte. In der Folge entwickelte er eine Technik (Hemi-Sync-Methode), bei der er auch durch Stimulation beider Hörorgane mittels unterschiedlicher Tonfrequenzen (binaural) 33 34 35 36
Vgl. B. K. SIESJÖ, Brain Energy Metabolism, Chichester 1978. S. PARNIA, What happens when we die, Carlsbad (CALIF) 2006, 84ff. G. EWALD, Ich war tot, Augsburg 1999, 146f. Vgl. GALLUP/PROCTOR, Begegnungen mit der Unsterblichkeit, 190f.
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eine niederfrequente Schwebung im Gehirn erzeugen konnte. In bestimmten Frequenzbereichen konnten damit OBE induziert werden. 37 Historisch betrachtet werden OBE den religiös-mystischen Bereichen zugeordnet, da diese bevorzugt bei spirituellen Übungen und Mystikern auftreten. Es wird berichtet, dass fortgeschrittene Qi-Gongund Yoga-Meister spontan oder durch Anwendung spezifischer meditativer Techniken die Fähigkeit entwickelt haben, den Körper zu verlassen. 38 Die OBE gilt als Kern-Element der NTE und tritt meistens noch vor der Tunnelerfahrung am Anfang der sequentiellen Abläufe auf. Typischerweise berichten die Patienten über ein plötzliches Verlassen des Körpers, ein Schweben, verbunden mit der Fähigkeit, den eigenen Körper sowie z. B. Ärzte und Krankenschwestern aus der Vogelperspektive zu hören und zu sehen. Dabei werden häufig nach der NTE Gesprächsinhalte wiedergegeben und vorher unbekannte Personen wieder erkannt. Nicht selten bewegen sich die Betroffenen im Rahmen dieser Erfahrung in andere Räume und auch Regionen. Erste Hinweise auf ein neuronales Substrat dieser Erfahrung lieferte der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield in den 40-er Jahren des letzten Jahrhunderts. Durch Stimulation des Schläfenlappens mit Elektroden konnten Halluzinationen von bewegten farbigen Bildern und geometrischen Formen ausgelöst werden. Eine Reizung der Sylvischen Fissur im Temporallappen induzierte bei einem Patienten das Gefühl, seinen Körper zu verlassen und in einen Tunnel hinaufgezogen zu werden. 39 Einen anderen Versuchsansatz wählte Anfang der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts der kanadische Neuropsychologe Michael Persinger. Sein Ziel war es, durch Stimulation des Temporallappens unter physiologischen Bedingungen ähnliche Erfahrungen zu induzieren, wie sie Epileptiker erleben. Unter Verwendung eines technisch veränderten Motorradhelms wurde insbesondere der rechte Temporallappen schnellfluktuierenden Magnetfeldern ausgesetzt. Damit konnte Michael Persinger religiöse und spirtuelle Erfahrungen erzeugen. Einige Probanden berichteten über die Wahrnehmung einer eigentümlichen Präsenz, dass sie „ihren Schutzengel oder Gott oder so etwas ähnliches spürten“. Manchmal wurden Stimmen wahrgenommen, die Instruktionen erteilten, oder es entstand das Gefühl, außerhalb des Körpers zu schweben. 40 37 38 39
40
R. A. MONROE, Der Mann mit den zwei Leben, Interlaken 1971. Vgl. P. YOGANANDA, Autobiographie, Freiburg 2006. W. PENFIELD, The role of temporal cortex in certain psychic phenomena, in: Journal of Mental Science 101 (1955) 451-456. M. A. PERSINGER/K. MAKAREC, Complex partial epileptic signs as a continuum from normal to epileptics, in: Journal of Clinic Psychiatry (1993) 33-45.
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Olaf Blanke konnte nachweisen, dass es möglich ist, autoskopische Erfahrungen, also die Fähigkeit, sich selbst zu sehen, durch elektrische Stimulation des rechten Gyrus angularis im Winkel zwischen Temporalund Parietallappen zu induzieren. Er schlussfolgerte, dass die rechte temporoparietale Region bedeutsam ist für die Wahrnehmung der räumlichen Lokalisation des Selbst. Kommt es zu einer Störung dieser Region, können autoskopische Phänomene entstehen. 41 Neurobiologisch werden autoskopische Phänomene als illusionäre ReduplikationsErscheinungen von Körper und Selbst eingeordnet. In diese Reihe gehören vornehmlich autoskopische Halluzinationen, die Heautoskopie und die OBE. Die Autoskopie ist ein visuelles Erlebnis, das das Sehen der eigenen Gestalt (Spiegelbildhalluzination) ermöglicht. Ein besonderes Phänomen ist zudem die Heautoskopie (sich selbst sehen), bei der sich zwei Selbstbilder gegenüberstehen und das Ich-Bewusstsein auf den Doppelgänger übergehen kann. Damit sind Veränderungen der Wahrnehmung des Körperschemas verbunden, welche häufig bei Schädigung des temporo-parietalen Bereichs auftreten. 42 Das beobachtende Selbst identifiziert sich dabei mehrheitlich noch mit dem Körper. Im Unterschied dazu ist das Hauptmerkmal einer OBE das von außen Herabblicken auf den Körper. Nach neurobiologischer Vorstellung bilden Autoskopie, Heautoskopie und OBE eine Steigerungsreihe des Erlebens von visueller Halluzination mit körperzentrierter Wahrnehmung. Dies soll durch eine pathologische Verarbeitung verschiedener Sinnesmodalitäten mit dadurch getriggerter Verdopplung und unsicherer Lokalisation des Ichs hervorgerufen werden. Am Ende der Reihe wäre das Gefühl der vollständigen Dissoziation vom eigenen Körper (OBE) einzuordnen. 43 In neueren Experimenten (2007) wurde versucht, mit Mitteln der virtuellen Realität die körperliche Selbstwahrnehmung zu manipulieren. Die Versuchspersonen erhielten dabei in einer Cyberspace-Umgebung nicht übereinstimmende sensorische und optische Informationen. Die Teilnehmer schauten auf einen Bildschirm, der wie eine Brille direkt über dem Auge platziert war. Damit konnten sie eine Videoaufnahme des eigenen Körpers von hinten beobachten, gleichzeitig sahen sie jedoch auch, wie der eigene Körper mit einem Stäbchen in einem 41
42 43
O. BLANKE/T. LANDIS/L. SPINELLI/M. SEECK, Out of body experience and autoscopy of neurological origin, in: Brain 127 (2004) 243-258. Vgl. D. ARENZ, Heautoskopie, in: Nervenarzt 72 (2001) 376-379. Vgl. P. BRUGGER, Neuropsychiatrie und Parapsychologie autoskopischer Phänomene, in: Nervenarzt 74 (2003) 293-295.
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Synchron-Rhythmus gestreichelt wurde. Zum Teil konnten die Versuchsteilnehmer ihr Selbst außerhalb des Körpers wahrnehmen. Sie dachten, die vor ihnen stehende und am Rücken gestreichelte virtuelle Projektion sei ihr eigener Körper. 44 Diese Experimente bestätigen die neurobiologische Vorstellung von der Entstehung von Autoskopie und Heautoskopie, weichen jedoch erheblich von der Phänomenologie einer OBE ab. Einerseits verbleiben im Gegensatz dazu der Gleichgewichtssinn und das Bewegungsgefühl beim wirklichen Körper. Zum anderen sind diese Experimente strikt an eine intakte Sehfunktion gekoppelt und nur dadurch möglich. Bei OBE im Rahmen von NTE ist der Patient jedoch bewusstlos oder die visuelle Wahrnehmung ist wegen der geschlossenen Augen nicht möglich. Zudem sind die gleichzeitig auftretenden religiösmystischen und auch sinngebenden Erfahrungen bei diesem experimentellen Ansatz nicht nachweisbar. Andere Argumente sprechen ebenfalls gegen die von neurobiologischer Seite postulierte Sequenz autoskopischer Phänomene. Autoskopie und Heautoskopie sind letztlich Halluzinationen eines Doppelgängers und bilden den Körper oft fragmentarisch und seitenverkehrt (Autoskopie) ab. Nicht erklärt werden können damit das Gefühl der schwebenden Bewegung und die in bewusstlosem Zustand auftretenden akustischen und visuellen Wahrnehmungen (z. B. Beobachten der Szene im Operationssaal von oben), welche letztlich als außersinnlich charakterisiert werden müssen. Etliche Einzelbeobachtungen sprechen für die Realität dieser Wahrnehmung und gegen eine halluzinatorische Ursache. Wissenschaftliche Belege im Sinne von kontrollierten prospektiven Untersuchungen fehlen jedoch fast völlig, sodass das Vorhandensein dieser als paranormal zu bezeichnenden Phänomene von neurobiologischer Seite als bloße Einbildung abgestempelt oder negiert wird, insbesondere mit dem Hinweis, dass die Existenz von Para-Phänomenen widerlegt sei. 45 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Störungen der multisensorischen Integration im temporoparietalen Bereich, welche auf verschiedene Art und Weise erzeugt werden können, Auslöser von autoskopischen Phänomenen sein können. Nicht gesichert ist jedoch die Verbindung einer stufenweisen Sequenz von Autoskopie, Heautoskopie und OBE. 44
45
B. LENGGENHAGER/T. TADI/T. METZINGER/O. BLANKE, Video Ergo Sum. Manipulating Bodily Self-Consciousness, in: Science 317 (2007) 1096-1099; H. H. EHRSSON, The Experimental Induction of Out-of-Body Experiences, in: Science 317 (2007) 1048. Vgl. BRUGGER, Neuropsychiatrie und Parapsychologie.
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7. DAS TUNNELPHÄNOMEN Ein weiteres typisches Element der NTE ist das Tunnelphänomen. Die Patienten filtern die rasende Bewegung durch einen meist dunklen, nicht immer leeren Tunnel, der sich zunehmend zu einem hellen Licht von mystischer Qualität erweitert. In der Medizin versteht man unter einem Tunnelphänomen eine Einschränkung des Gesichtsfelds. Nur Gegenstände in direkter Blickrichtung werden noch wahrgenommen, seitlich bzw. darüber oder darunter liegende Objekte nicht mehr. Ursachen hierfür finden sich z. B. bei vermehrtem Alkoholkonsum, aber auch bei Erkrankungen des Sehapparates wie z. B. Retinitis pigmentosa. Eine Schädigung des suprachiasmatischen Teils der Sehbahn zu beiden Teilen des Gehirns führt zu einem Gesichtsfeldausfall (bilaterale homonyme Hemianopsie) mit einem hochgradig konzentrisch eingeschränkten Gesichtsfeld-„Tunnel“. Auch bei bestimmten Formen der Migräne können Sehstörungen mit gelegentlich auftretendem Tunnelblick auftreten. Diese Formen sind den bei NTE auftretenden Phänomenen zwar ähnlich, unterscheiden sich jedoch in drei wesentlichen Punkten. Zum einen tritt die krankheitsbedingte Tunnelblick-Symptomatik nur beim Sehen mit offenen Augen auf. Zum anderen findet sich hier eine negative emotionale Komponente (z. B. Angst). Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Tunnelphänomen bei NTE unter geschlossenen Augen (z. B. im Koma) und ist meistens mit Glücksgefühlen verbunden. Ein weiterer Unterschied ist das von den betreffenden Personen geschilderte Gefühl, sich in einem Tunnel in Richtung eines hellen Lichts zu bewegen. Das Lichterlebnis am Ende des Tunnels ist meistens weiß, gelb oder goldfarben und beglückend. Von neurobiologischer Seite wird einerseits vermutet, dass die Zellen der occipitalen Sehrinde, die das Zentrum des Gesichtsfelds repräsentieren, aufgrund einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber Sauerstoff, vermehrt feuern. Dies führe zu einer zentralen Gesichtsfeldeinengung mit Wahrnehmung von Helligkeit am Ende eines Tunnels. Es wird spekuliert, dass die berichtete Eigenbewegung („schwebend“) dabei durch eine hypoxisch bedingte Veränderung der Sehrinde entstehe. 46 46
Vgl. S. J. BLACKMORE/T. S. TROSCIANKO, The Physiology of the Tunnel, in: Journal for Near-Death Studies 8 (1989) 15-28; J. E. WHINNERY/A. M. WHINNERY, Acceleration-induced loss of Consciousness: A review of 500 Episodes, in: Archives of Neurology 47 (1990) 746-776.
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Eine andere Hypothese wird ebenfalls häufig vertreten. Susan Blackmore et al. vermuten den Ursprung der Tunnelerfahrung in der Struktur der Sehzellen des Auges (Retina). Auch hier wird ein Sauerstoffmangel vermutet, der zu einem vermehrten ziellosen Feuern der untergehenden Zellen führt. Die bekannte erhöhte Vulnerabilität der Retinazellen im Zentrum des Gesichtsfeldes soll dadurch einen Tunneleffekt erzeugen. 47 Diese Vorstellung ist jedoch aus mehreren Gründen unwahrscheinlich. Einerseits müsste mit zunehmender Hypoxie die Aktivität der Sehrindenneurone wie auch der retinalen Zellen im Auge und somit die reaktiv auftretende zentrale Helligkeit bei weiter voranschreitender Gewebsschädigung wieder abnehmen. Dieses Phänomen müsste dann auch bei Patienten auftreten, die einen Schlaganfall im Bereich der Sehrinde erlitten haben. Im zeitlichen Verlauf müssten zudem Fluktuationen von initialer Helligkeit und anschließender Inversion mit Verdunkelung und evtl. sogar eine zunehmende Helligkeit perizentral um die Sehstörung herum auftreten. Dies ist bisher jedoch noch nie beobachtet worden. Auch steht die von neurobiologischer Seite vermutete vermehrte Aktivität der occipitalen Neurone im Widerspruch zu den im EEG nachgewiesenen Veränderungen wie zunehmender Verlangsamung und Nulllinien-Aktivität. Nicht erklärt werden kann dadurch auch die mystische Qualität des Lichts. Desweiteren spricht gegen die Sehrindentheorie wie auch gegen die Retina-Theorie die Tatsache, dass bei elektrischer Aktivierung des Temporallappens, aber auch bei NTE nichthypoxischer Ursache wie z. B. Induktion durch Ketamin oder Halluzinogene, ebenfalls Tunnelphänomene beschrieben sind, bei denen ein Sauerstoffeinfluss auszuschließen ist. 48 Eine primäre Beteiligung der Sehrinde oder auch der Retina, wie sie von neurobiologischer Seite sehr häufig vorgebracht wird, ist somit unwahrscheinlich. 8. NTE UND VERÄNDERTE BEWUSSTSEINSZUSTÄNDE Bewusstsein kann in unterschiedlichen Zuständen auftreten. Neben dem Zustand der Wachheit können im alltäglichen Leben häufig auch Phasen verringerten Bewusstseins beobachtet werden. Zur Beurtei47
48
Vgl. B. ENGMANN, Was passiert an der Schwelle zum Tod? Medizinische Erklärungen für Lichterscheinungen und Tunnelphänomene, in: MMW Fortschritte der Medizin 150 (2008) 42f. Vgl. HÖGL, Transzendenzerfahrungen, 233f.
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lung von pathologischen Prozessen des Gehirns ist aus neurologischer Sicht insbesondere die graduelle Einteilung in Somnolenz (allgemeine Verlangsamung), Sopor (Bewusstseinsstörung ohne Spontanaktivität) und Koma (Stadien tiefer Bewusstlosigkeit) von Bedeutung. Bei fast allen Komaformen kommt es im EEG zu einer Reduktion der Frequenz des Wachzustandes bis zum sehr langsamen Deltarhythmus von 1-3 Hz. Ein Nulllinien-EEG zeigt das Fehlen jeglicher corticaler Aktivität an und ist bei der Bestimmung des Hirntodes von Bedeutung. Ursachen dieser Bewusstseinsstörung sind meistens Schädigungen der Formatio reticularis in Hirnstamm und Mittelhirn. Diese ist beteiligt an der Kontrolle von Atem, Kreislauf, Wachen und Schlafen und wirkt bei der Regulation der Aufmerksamkeit mit. Auch die aufsteigenden reticulären Bahnen zum Großhirn sowie Läsionen des Großhirns selbst können zu Bewusstseinsstörungen führen. Neben der Beeinträchtigung des allgemeinen Bewusstseinszustandes gibt es spezifische Bewusstseinstrübungen und Veränderungen, welche im allgemeinen auf kurzzeitige und dauerhafte Veränderungen im Großhirn zurückzuführen sind. Insbesondere die Vielzahl der „veränderten Bewusstseinszustände“ (altered states of consciousness), wie z. B. Wachen und Schlafen, Tagträume, sexuelle Orgasmen, rhythmusinduzierte Trance, Meditation, Hypnose, psychotische Störungen, epileptische Störungen, Hyperventilation etc., erschwert die wissenschaftliche Beurteilung dieser Phänomene. Dieter Vaitl et al. beschreiben in einer Übersicht diverse Möglichkeiten der Entstehung. 49 So werden z. B. Epilepsien und Psychosen unter den krankheitsinduzierten Formen eingeordnet, während Meditation und Trance dagegen psychologischer Natur sind. Andererseits können veränderte Bewusstseinszustände z. B. im Yoga durch Verwendung bestimmter Atemtechniken entstehen und somit physiologisch begründet werden. Schwierigkeiten jedoch bereitet die Einordnung der NTE. In den meisten Fällen sind die Patienten dabei nicht bei Bewusstsein (komatös). Dies kann z. B. unfallbedingt, jedoch auch pharmakologisch durch Narkosemittel, induziert sein. Trotzdem erfahren die Patienten eine beeindruckende Sequenz von Phänomenen, die aufgrund des Bewusstseinszustandes nicht auftreten dürften. Deswegen werden NTE als veränderte Bewusstseinszustände charakterisiert. Aufgrund der Vielzahl von Auslösemechanismen ist jedoch eine eindeutige Zuordnung zu psychologischen oder physiologischen Ursachen zum 49
D. VAITL u. a., Psychobiology of Altered States of Consciousness, in: Psychological Bulletin 131 (2005) 98-127.
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jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, sodass NTE eher den spontan auftretenden veränderten Bewusstseinszuständen – ähnlich wie Schlaf und Traum – zugeordnet werden. Bei spontan auftretenden veränderten Bewusstseinszuständen finden sich im Wesentlichen Veränderungen der corticalen Aktivität und eine Zunahme des Arousal (siehe unten). Dieser Ablauf unterscheidet sich jedoch von den Vorgängen bei pathologisch induzierten komatösen Zuständen, bei denen eine Reduktion der corticalen Aktivität und des Arousal nachzuweisen ist. Wegen dieses nicht zu erklärenden Paradoxons argumentieren manche Neurobiologen, dass die Patienten bei einer NTE kurzfristig aus dem Koma erwachen, dies aber nicht vom ärztlichen Personal bemerkt wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass dies vielleicht in einigen seltenen Fällen vorgekommen ist, jedoch muss bei der deutlichen Mehrheit der aufgetretenen NTE diese Erklärung ausgeschlossen werden. Unter NTE sind die Betroffenen häufig unbeweglich, nehmen aber bewusst bestimmte Aspekte der Realität wahr, insbesondere die Tatsache, sich an der Grenze zum Tod zu befinden. Dieser Zustand ähnelt den Stadien des REM-Schlafs. Der REM-Schlaf wird auch als paradoxer Schlaf oder aktivierter Schlaf bezeichnet und ist gekennzeichnet durch rasche Augenbewegungen, muskuläre Atonie und vermehrte EEG-Aktivität. Im REM-Schlaf tritt zudem eine vermehrte psychische Aktivität auf, die sich in visuellen und motorisch geprägten Erlebnisprozessen (Träumen) darstellt. Dieses Stadium kann auch in das Wachbewusstsein eindringen (REM-Intrusion) und visuelle Halluzinationen beim Einschlafen (hypnagog) und beim Erwachen (hypnopomp) hervorrufen. Zudem kann REM-Intrusion zu Muskelerschlaffung (Atonie) und Schlaflähmung führen. 50 Diese Symptome treten auch bei der Narkolepsie (Schlafkrankheit) auf, welche genetisch und auch symptomatisch bedingt sein kann. Man vermutet als Ursache Störungen in Arealen des Gehirns, welche für die Steuerung des Schlaf-WachRhythmus verantwortlich sind (z. B. Hypothalamus). Visuelle Halluzinationen können durch Läsionen des Mittelhirns entstehen (pedunkuläre Halluzinationen). Die damit verbundenen Bilder betreffen Tunnelwahrnehmungen mit einem goldenen Tor am Ende, Engel sowie Gefühle des Schwebens (Levitation). 51 Ursache dafür sind Störungen in der mesopontin gelegenen Formatio reticularis, welche ver50 51
Vgl. HANSER (Hg.), Lexikon der Neurowissenschaften, Band 3, 165. Vgl. M. MANFORD,/F. ANDERMANN, Complex visual hallucinations. Clinical and neurobiological insights, in: Brain 121 (1998) 1819-1840.
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knüpft ist mit dem serotonerg innervierten nucleus raphe. Es ist zudem bekannt, dass bestimmte Bahnen im Hirnstamm (ponto-geniculo-occipital) das visuelle System aktivieren können. Desweiteren induzieren cardiorespiratorisch auftretende Veränderungen das Eindringen der REM-Phasen in das Wachbewusstsein. Diese Beobachtung wie auch die Tatsache, dass OBE gehäuft bei Patienten mit Narkolepsie auftreten können, führte zu der Vermutung, dass die physiologischen Mechanismen der REM-Intrusion eine wichtige Rolle bei NTE spielen könnten. 52 Kevin Nelson untersuchte deshalb 55 Patienten, die bereits NTE erlebten, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe und fand signifikant vermehrt schlafbezogene optische und akustische Halluzinationen bei Menschen mit NTE in der Vorgeschichte. 53 Dies könnte dafür sprechen, dass NTE bevorzugt bei Menschen auftritt, die dazu befähigt sind, in lebensbedrohlichen Situationen physiologische Mechanismen im Gehirn zu aktivieren, die in der Folge REM-Intrusionen induzieren können. Schlaf, Wachen und auch andere veränderte Bewusstseinszustände sind sehr eng mit der Funktion des Arousal-Systems verknüpft. Dabei wird durch Aktivierung der Formatio reticularis des Hirnstammes eine gesteigerte Wachheit und Aufmerksamkeit induziert. Die Formatio reticularis umfasst ein ausgedehntes Neuronen-Netzwerk im Hirnstamm, das von der Medulla oblongata (verlängertes Mark) bis zum Diencephalon (Zwischenhirn) reicht. Teile davon sind mit den serotonergen (nucleus raphe) und noradrenergen (locus coeruleus) Nervenbahnen verknüpft. Durch Verbindung von hypothalamischen Kernen und dem limbischen System ist die Formatio reticularis für die affektive Färbung von Sinneseindrücken von Bedeutung.54 Darüber hinaus führt die unspezifische Erregung von Tier und Mensch im Rahmen des Arousal zu einer allgemeinen Aktivierung der Großhirnrinde. Die Folge ist eine gesteigerte Wachheit und Aufmerksamkeit. In einer ergänzenden Analyse fand Kevin Nelson während der REM-Intrusion in der Gruppe mit NTE eine erhöhte Zahl von außerkörperlichen Erfahrungen (OBE). 55 Die erhöhte Prävalenz von REMIntrusionen wie auch OBE lässt darauf schließen, dass NTE, aber insbesondere auch OBE, durch das Arousal-System getriggert werden. Das Arousal-System kann durch mehrere Faktoren, z. B. Gefahr und nied52
53
54 55
Vgl. M. W. MAHOWALD/C. H. SCHENCK, Dissociated states of wakefulness and sleep, in: Neurology 42 (1992) 44-51. K. R. NELSON/M. MATTINGLY/F. A. SCHMITT, Out-of-Body experience and arousal, in: Neurology 68 (2007) 794f. Vgl. HANSER (Hg.), Lexikon der Neurowissenschaften, Band 2, 10. NELSON/MATTINGLY/SCHMITT, Out-of-Body experience.
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rigen Blutdruck, aktiviert werden. Auch bei den experimentell erzeugten Synkopen wurde eine Aktivierung der Formatio reticularis vermutet. Es ist somit naheliegend, dass sowohl NTE wie auch Synkopen in gleicher Weise über das Arousal-System ausgelöst werden. Gegen die von Kevin Nelson erhobenen Daten sprechen zum einen methodische Probleme. Die Beteiligten wurden via E-mail im Internet retrospektiv befragt. Zum anderen sind Schlafparalysen im Unterschied zu NTE mit Angst verbunden. Auch treten die meisten NTE unter Behandlung von Narkotika und sedierenden Medikamenten auf, welche REM-Phasen eher hemmen. Mit der Aktivierung der REM-Intrusion ist zudem eine vermehrte EEG-Aktivität verbunden. Im Gegensatz dazu ist während NTE die EEG-Aktivität stark abgeschwächt oder überhaupt nicht nachweisbar. Nicht auszuschließen ist zudem, dass die von Kevin Nelson erhobenen Befunde erst unter oder nach einer NTE entstanden sind. Dafür spricht, dass eine REM-Intrusion und die entsprechenden Symptome bei posttraumatischen Stresserkrankungen gehäuft auftreten. 9. NTE UND RELIGIOSITÄT Im Wesentlichen ist eine NTE charakterisiert durch religiös-mystische Elemente wie z. B. das Gefühl des Transzendierens von Raum und Zeit, das Gefühl der Nähe zu spirituell fortgeschrittenen Wesen wie auch durch das Einheitserlebnis. Es ist momentan die häufigste religiösmystische Erfahrung. 56 Von einer NTE wird die Person vollkommen vereinnahmt. Es entsteht das Gefühl des Abschieds von irdischen Dingen und ein Gefühl der Freude. NTE sind letztlich den Beschreibungen von Mystikern sowie Menschen mit tiefen religiösen spirituellen Erfahrungen sehr ähnlich. 57 Der Begründer der amerikanischen Psychologie William James beschrieb bereits vor 100 Jahren Kernelemente der mystischen Erfahrung wie z. B. Passivität, Unbeschreiblichkeit und eine bedeutungsvolle Qualität. 58 Er postulierte jedoch auch eine enge Verbindung zwischen Neurologie und Religion: 56 57
58
Vgl. SCHRÖTER-KUNHARDT, Nah-Todeserfahrungen. Vgl. E. UNDERHILL, Mystik. Eine Studie über die Natur und Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Menschen, Bietigheim 1928, 223f. W. JAMES, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a.M. 1997, 37f.
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diese Annahme ist sowohl vereinbar mit endogen entstehenden religiösen Erfahrungen wie auch mit der exogenen Einflußnahme einer potentiellen höheren göttlichen Macht, wie sie in vielen Religionen beschrieben wird. 59
Zweifelsfrei können pathologische Veränderungen bestimmter Hirnareale religiöse Gefühle beeinflussen. Insbesondere bei Patienten mit Temporallappen-(Schläfenlappen-)anfällen werden vermehrt religiöse Erfahrungen beschrieben. 60 Diese Sonderform der sogenannten komplexpartiellen Anfälle ist besonders durch nicht-motorische Entäußerungen wie z. B. traumartiges Erleben, Unwirklichkeitsgefühle, Entfremdungsgefühle, Déja-vu-Sensationen und eventuell Halluzinationen charakterisiert. Der amerikanische Neurologe Vilaynur Ramachandran berichtet von einem 32-jährigen Patienten, der seit dem 8. Lebensjahr unter Temporallappenanfällen litt. Diese führten zur Erfahrung eines „hellen Lichtes, Zuständen der Verzückung und Einssein mit dem Göttlichen“ 61. In Labortests zeigte Vilaynur Ramachandran seinem Patienten Bilder, die bei den meisten Menschen emotionale Reaktionen auslösen, wie z. B. Bilder mit sexuellen und aggressiven Inhalten. Die gleichzeitig gemessene Leitfähigkeit der Haut als Zeichen der Erregung änderte sich nicht. Erst als Bilder von Jesus und anderen religiösen Symbolen gezeigt wurden, wurde eine starke Erregung gemessen. 62 Die Beobachtungen decken sich mit der Hypothese, dass bei diesen Erfahrungen eine enge temporolimbische Verbindung von entscheidender Bedeutung ist. Während bei der lateralen Temporallappenepilepsie die Läsion eher neocortical vermutet wird und somit religiöse Erfahrungen bei dieser Epilepsieform nicht auftreten dürften, gehen bei der mesialen Form die Anfälle vom Amygdala-HippocampusKomplex aus, wahrscheinlich als Ursache einer Läsion des limbischen Systems. Dies erklärt auch die gefühlsbetonte religiöse Empfindung. 63 Aus medizinischer Sicht sind religiöse Erfahrungen bei Patienten mit Temporallappenepilepsie als pathologisch einzustufen. Wie sieht es jedoch bei gesunden Menschen aus? Seit dem Jahr 2000 wurden mittels moderner Untersuchungsmethoden zahlreiche Studien durchgeführt, um neuronale Korrelate zu identifizieren, die mit religiösen, spirituel59 60
61
62 63
Ebd. Vgl. K. DEWHURST/A. W. BEARD, Sudden religious conversions in temporal lobe epilepsy, in: Archives of Neurology 34 (1970) 454-467. V. S. RAMACHANDRAN/S. BLAKESLEE, Die blinde Frau, die sehen kann: Rätselhafte Phänomene unseres Bewußtseins, Reinbek 2002, 283ff. Ebd. J. L. SAVER/J. RABIN, The neural substrates of religious experience, in: Journal of Neuropsychiatry and Clinical Neuroscience 9 (1997) 498-510.
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len und transzendenten Erfahrungen einhergehen. Die bisher vorliegenden Ergebnisse sind uneinheitlich. Je nach Versuchsansatz und beteiligten Probanden (z. B. westliche Nonnen, tibetische Buddhisten, betende evangelische Christen etc.) finden sich Aktivierungen unterschiedlicher Hirnareale. Es ist davon auszugehen, dass wahrscheinlich das mesolimbische System und die zum Temporallappen beteiligten Bahnen eine Rolle spielen könnten. Es finden sich jedoch auch vermehrte Aktivitäten in anderen Hirnarealen. Somit sind die Versuche, diese Erfahrungen alleine auf ganz bestimmte neurophysiologische Prozesse („Gottesmodul“) zu reduzieren, bisher unbefriedigend geblieben. 64 Dies liegt zum großen Teil auch an methodischen Problemen, da zum Beispiel eine mystische Erfahrung nicht ohne weiteres im Labor hervorgerufen werden kann. Dies gilt umso mehr für die NTE. Die spontane Natur der NTE hat bisher keine speziellen Untersuchungen mit funktioneller Kernspintomographie oder Positronen-Emissionstomographie zugelassen. Zuverlässige und allgemein akzeptierte wissenschaftliche Daten zur Entstehung religiösen Empfindens in bestimmten Hirnregionen bei NTE fehlen deshalb fast vollständig. Es wurde deshalb spekuliert, dass im Rahmen eines traumatischen Ereignisses, verbunden mit dem Abfall der Sauerstoffversorgung speziell in temporolimbischen Strukturen, epilepsieartige Entladungen auftreten. Diese könnten letztlich die Kaskaden der NTE induzieren. 65 Für eine epileptische Aktivität bestimmter Hirnareale bei NTE spricht die gesteigerte Bewusstseinshelle und vermehrte Erinnerungsfähigkeit (Hypermnesie). Auch die anfallsartige Plötzlichkeit könnte für eine epileptische Entladung sprechen, die in der Folge Halluzinationen induziert. Gegen die Vermutung, dass Temporallappenanfälle NTE mit verursachen, spricht jedoch vor allen Dingen die unterschiedliche klinische Phänomenologie von NTE und Temporallappenanfällen. Zudem sinkt während der Anfälle – im Unterschied zu NTE – die kognitive und mnestische Leistungsfähigkeit stark ab. 66 Wesentlich mehr ist über den spirituellen und religiösen Transformationsprozess bei NTE bekannt. Es findet sich oftmals ein tiefgreifender Wandel der Lebenseinstellungen, der Glaubensauffassung, der Werte und des Verhaltens. Die niederländische Studie von 2001 ist die einzige prospektiv angelegte Langzeitstudie über Veränderungspro64
65
66
Zur Übersicht: W. KUHN, Neurobiologie spiritueller und religiöser Erfahrungen, in: A. Serwaty/J. Nicolay (Hg.), Begegnung mit Gott? Nahtoderfahrung und Mystik, Goch 2009, 53-61. Vgl. M. SCHRÖTER-KUNHARDT, Nah-Todeserfahrungen aus psychiatrisch-neurologischer Sicht, in: H. Knoblauch/H.-G. Soeffner (Hg.), Todesnähe, Konstanz 1999, 65-99. Vgl. ebd.
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zesse bei NTE. 67 Wir wissen heute, dass durch NTE das Mitgefühl für andere Menschen zunimmt und auch die Wertschätzung menschlicher Beziehungen wächst. In den meisten Fällen verringert sich die Angst vor dem Tod beträchtlich. 68 Besonders bemerkenswert ist die erhebliche Zunahme des Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Im Allgemeinen verstärken sich die religiösen Gefühle nach einer NTE, während sich das Interesse an institutionalisierter Religionsausübung deutlich abschwächt. In der niederländischen Studie findet sich acht Jahre nach der NTE eine vermehrte Einsicht in den Sinn des Lebens, das vermehrte Gefühl einer inneren Bedeutung des Lebens sowie ein zunehmendes Interesse an Spiritualität, Meditation und auch Gebet. 69 Die erhöhte Abkehr von kirchlichen Institutionen führt in evangelischen mehr als in katholischen Kirchenkreisen zu zwiespältigen Reaktionen. Hervorgehoben wird insbesondere, dass keine Person wirklich gestorben sei. Somit seien endgültige Aussagen über ein Jenseits nicht möglich. Auf keinen Fall lasse sich das christliche Gottesbild aus Nahtoderfahrungen ableiten. Andere Kirchenvertreter empfehlen, die Erlebnisse nicht als Beweis für ein Jenseits, sondern als Hinweis für menschliche Spiritualität und Transzendenz anzusehen. 70 10. NTE UND DAS LEIB-SEELE-VERHÄLTNIS Die Neurowissenschaften haben sich nach Erscheinen von Raymond Moodys Buch Leben nach dem Tod 1977 durchaus intensiv mit dem Phänomen NTE auseinandergesetzt. Ziel fast aller neurobiologischen Publikationen zum Thema ist der Nachweis einer physiologischen Ursache der Erlebnisse. Aufgrund der spontanen Natur von NTE sind experimentelle Daten rar. In den meisten Fällen wurde versucht, Einzelelemente der NTE mit bekannten Phänomenen zu vergleichen und daraus neue Erkenntnisse über biochemische und physiologische Mechanismen zu gewinnen. Die vorgeschlagenen Erklärungsmodelle sind jedoch oftmals nur auf Teilelemente anwendbar und können die Vielzahl der Phänomene nicht umfassend erklären. Einige Hypothesen gelten zudem inzwischen als widerlegt, werden jedoch immer wieder von verschiedenen Autoren aufgegriffen. 67 68 69 70
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LOMMEL, Endloses Bewußtsein, 144f. Ebd. Ebd. Vgl. F. TERHART, Jenseitswelten. Leben nach dem Tod, Bath (UK) 2004, 86f.
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Auch die Neurobiologen selbst geben gelegentlich zu, dass die durch einen vermeintlichen Sauerstoffmangel vermuteten Schädigungen in bestimmten Arealen des Gehirns als Ursache der NTE nicht ausreichen, um alle geschilderten Phänomene erklären zu können. Insbesondere gilt dies für Erfahrungen, welche in Situationen ohne Herzstillstand auftreten wie Polytraumata, Situationen einer allgemeinen Anästhesie, Phasen einer Unterzuckerung, schreckhafte Situationen ohne organische Schäden (z. B. Absturz vom Berg) oder auch stressfreie Lebensphasen (z. B. Meditation, Yoga, in Träumen, nach Einnahme von Drogen oder während einer Autofahrt). 71 Da die gesamte NTE-Sequenz neurobiologisch nicht ausreichend erklärt werden kann, hat man sich in letzter Zeit auf die Erforschung von Teilelementen wie zum Beispiel die out-of-body-Erfahrung (OBE) konzentriert. OBE können sowohl willentlich wie auch unwillkürlich ausgelöst werden. Aus neurobiologischer Sicht werden OBE als Teil eines Spektrums autoskopischer Phänomene eingeordnet (siehe oben). Nicht erwähnt wird dabei, dass sich außerkörperliche Erlebnisse während NTE phänomenologisch von Autoskopie und Heautoskopie wesentlich unterscheiden. Typische Beschreibungen während NTE berichten, dass der eigene Körper in liegender Position mit geschlossenen Augen gesehen wird, dass aber auch darüber hinaus Aktivitäten, Gespräche, emotionale Empfindungen ebenso wie eigene Bewegungen zum Beispiel in andere Räume wahrgenommen werden. Diese Beobachtungen können nicht mit der aktuellen Hypothese einer multisensorischen Desintegration von personellem und extrapersonellem Raum aufgrund widersprüchlicher sensorischer Signale im temporoparietalen Gehirn mit damit verbundener halluzinatorischer Projektion des eigenen Körperbildes erklärt werden, wie immer wieder behauptet wird. Ganz im Gegenteil können die detaillierten Informationen über das aktuelle Geschehen zum Beispiel im OP-Saal im bewusstlosen Zustand nicht mit herkömmlichen Sinnen wahrgenommen werden. Auch die Spekulation, dass schon vorhandene Informationen aus früheren Wahrnehmungen als Informationen im Gehirn gespeichert wurden und durch das aktuelle Geschehen halluzinatorisch nach außen produziert werden, muss als widerlegt angesehen werden. Die im bewusstlosen Zustand erfolgten Wahrnehmungen unterscheiden sich wesentlich von autoskopischen Erlebnissen, welche in bewussten Zuständen auftreten. Die während 71
Vgl. O. BLANKE/S. DIEGUEZ, Leaving Body and Life Behind: Out-of-body and NearDeath Experience, in: S. Laureys/G. Tononi (Hg.), The Neurology of Consciousness, Elsevier 2009, 303-325.
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NTE auftretende Abkoppelung des Bewusstseins von den natürlichen Sinnen (Sehen, Hören) führt zwingend zu der Erkenntnis, dass die gewonnenen Informationen über eine außersinnliche (paranormale) Wahrnehmung gewonnen wurden. Auch andere Teilelemente wie zum Beispiel Begegnungen mit Verstorbenen und religiös bedeutsamen Lichtwesen müssen ebenfalls als außersinnliche Wahrnehmung charakterisiert werden. Im gleichen Maße gilt dies für den in 10-20% der Fälle auftretenden panoramischen Lebensrückblick. Dieser wird meistens in Anwesenheit eines angenehmen und verschiedenfarbigen Lichtes oder von Lichtwesen wahrgenommen. Während eines Lebenspanoramas oder einer Lebensschau erlebt man nicht nur jede Handlung oder jedes Wort, sondern auch jeden Gedanken des vergangenen Lebens erneut. Man erkennt die Gefühle und Gedanken der Anderen ebenso wie die Konsequenzen, welche die eigenen Gedanken, Worte und Taten für Andere hatten. 72 Das Phänomen der Lebensrückschau kann deshalb in seiner Gesamtheit neurobiologisch ebenfalls nicht ausreichend erklärt werden. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass NTE zwar durch vielfältige physiologische Mechanismen angestoßen werden können, der Inhalt der Erfahrungen jedoch trotz der eventuell vorhandenen neuronalen Korrelate physiologisch nicht begründet werden kann. NTE sind phänomenologisch als paranormale Phänomene zu klassifizieren und somit außersinnlich im wahrsten Sinne des Wortes. Paranormale Fähigkeiten wie z. B. Telepathie und Hellsehen sind seit Jahrhunderten bekannt, haben sich aber wissenschaftlichen Beweisen bisher weitgehend entzogen. Da bestimmte Paraphänomene in einigen Studien nicht reproduzierbar waren, wurden diese als „nicht robust“ eingeordnet und somit als zufällig und nicht existent abqualifiziert. Im Gegensatz dazu müssen die außersinnlichen Wahrnehmungen bei NTE wissenschaftlich als bewiesen angesehen werden. Dies einerseits aufgrund der Vielzahl an retrospektiv erhaltenen Daten, andererseits vor allen Dingen aufgrund der Ergebnisse der bisher durchgeführten vier prospektiven Studien. Diese Studien erfüllen die wissenschaftlichen Kriterien der Reproduzierbarkeit und beweisen, dass NTE und Teilelemente davon unter bestimmten klinischen Bedingungen in einem relativ konstanten Prozentsatz auftreten und somit als Bestandteil der menschlichen Existenz akzeptiert werden müssen. Da materialistische Hypothesen und Modelle die NTE nicht ausreichend erklären können, kann die außersinnliche Natur des Phänomens deshalb nicht mehr igno72
Vgl. V. LOMMEL, Endloses Bewußtsein, 33ff.
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riert werden. NTE widerlegen das materialistisch reduktionistische Weltbild und somit die monistische Behauptung, dass Bewusstsein ohne Materie nicht existieren kann. Die vielfältigen Auslösemechanismen der NTE können zu einer Veränderung „der Pforten der Wahrnehmung“ führen, welche die Wechselwirkungen des Gehirns mit immateriellen Bewusstseinsinhalten verändern. 73 Solche Vorstellungen entsprechen der philosophischen Position des interaktionellen Dualismus, welcher insbesondere von dem Neurophysiologen John Eccles vertreten wurde. John Eccles postulierte, dass kleinste Prozesse auf Ebene der Quantenphysik hinreichend seien, um die Ausschüttung von Neurotransmittern zu beeinflussen, und schloss, dass die Wirkung eines energie- und masselosen Geistes auf das Gehirn somit durch eine Beeinflussung der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitsfelder erklärbar werde. 74 Nach neueren parapsychologischen Vorstellungen sind außersinnliche Phänomene wie z. B. Telepathie als quantenmechanische Verschränkung anzusehen, welche physikalisch nicht von Raum und Zeit abhängt. Die Zeit ist physikalisch ein Konstrukt der mentalen Repräsentationen des Gehirns. Es ist deshalb davon auszugehen, dass bei einem sterbenden Gehirn die mentale Repräsentation des Bewusstseins zusammenbricht und dadurch die häufig beschriebene Zeit- und Wortlosigkeit einer NTE entsteht. Dieses Phänomen ist typisch für paranormale Ereignisse und lässt sich quantenphysikalisch erklären. 75 Es ist deshalb – trotz der mit großer Gewissheit vorgetragenen gegenteiligen naturwissenschaftlichen Behauptungen – aufgrund der aktuellen Erkenntnisse über NTE mehr als plausibel, eine von der Materie unabhängige, unzerstörbare, zeitlose Bewusstseinseinheit („Seele“, „feinstoffliche Energie“) anzunehmen, welche den materiellen Tod des Körpers überlebt. 76
73 74 75
76
A. HUXLEY, Die Pforten der Wahrnehmung, München 2008. J. C. ECCLES, Wie das Selbst sein Gehirn steuert, München 1994, 31ff. Vgl. W. V. LUCADOU, Paranormale Erfahrungen im Umfeld des Sterbens, in: A. Serwaty/J. Nicolay (Hg.), Begegnung mit Verstorbenen, 15-60. Vgl. V. LOMMEL, Endloses Bewußtsein, 321ff.
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Leib-Seele-Dualismus und Auferstehungshoffnung Was der Dualismus sei – stets meine ich hier den psycho-physischen damit –, ist keineswegs so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die folgende Aussage formuliert den minimalen Gehalt jedes Dualismus, also diejenige These, die von jeder dualistischen Behauptung oder Theorie logisch impliziert wird, ja, von ihr logisch impliziert werden muss, um legitimerweise als dualistische Behauptung bzw. Theorie bezeichnet werden zu können: Die dualistische Minimalthese: Manche mentalen Entitäten sind mindestens teilweise nichtphysisch. Wir können definieren: Definition 1: Eine Behauptung bzw. eine Theorie ist genau dann eine dualistische, wenn sie die These logisch impliziert, dass manche mentalen Entitäten mindestens teilweise nichtphysisch sind. Definition 2: Ein Philosoph ist genau dann ein Dualist, wenn er eine Behauptung oder eine ganze Theorie vertritt, die im gerade definierten Sinn eine dualistische ist, also: eine Behauptung oder Theorie, die die These logisch impliziert, dass manche mentalen Entitäten mindestens teilweise nichtphysisch sind. Diese Definitionen sind hilfreich dafür, in der Literatur gängige Bestimmungen dessen, was der Dualismus oder die Dualisten angeblich lehren, als keineswegs selbstverständlich und keineswegs notwendig zu erkennen. Hier eine kleine Auswahl von mehr oder weniger unglaubwürdigen Thesen, die dem Dualismus oder den Dualisten in der philosophischen und paraphilosophischen Forschung und Lehre gerne zugeschrieben werden: 1) Leib und Seele, Leibliches und Seelisches haben nichts miteinander zu tun.
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2) Gehirn und Nervensystem spielen für die psychischen Vorgänge keinerlei kausale Rolle. 3) Neben der physischen Materie existiert eine seltsame nichtphysische Materie, ein Geistesstoff (im Englischen: mind stuff). 4) Leib und Seele sind Gegensätze (oder: schließen einander aus; oder: stehen einander feindlich gegenüber). 5) Es gibt genau zwei Substanzen, das ausgedehnte Ding und das denkende. Jede dieser fünf Thesen halte ich für falsch. Dennoch bin ich im Sinne der angegebenen Definition ein Dualist. Man kann also jede jener fünf Thesen verneinen, von jeder ihre Negation für richtig halten, und ist damit doch noch lange nicht ein Nichtdualist – geschweige denn ein Antidualist. Die dualistische Minimalthese und die auf sie folgenden zwei Definitionen haben nämliche ihre Gegenstücke: Die antidualistische Minimalthese: Keine mentalen Entitäten sind mindestens teilweise nichtphysisch, m. a. W.: Alle mentalen Entitäten sind vollständig physisch. Definition 3: Eine Behauptung bzw. eine Theorie ist genau dann eine antidualistische, wenn sie die These logisch impliziert, dass alle mentalen Entitäten vollständig physisch sind. Definition 4: Ein Philosoph ist genau dann ein Antidualist, wenn er eine Behauptung oder Theorie vertritt, die im gerade definierten Sinn eine antidualistische ist, also: eine Behauptung oder Theorie, die die These logisch impliziert, dass alle mentalen Entitäten vollständig physisch sind. Die wenigsten der Leser dürften die antidualistische Minimalthese unterschreiben (so nehme ich jedenfalls an); die wenigsten der Leser sind also Antidualisten. Aber auch die wenigsten der Leser, wenn ich mich nicht irre, betrachten sich als Dualisten. In Reaktion hierauf weise ich darauf hin, dass, wenn man kein Antidualist ist, es aus logischen Gründen nicht ganz leicht ist, auch kein Dualist zu sein. Hylomorphisten, beispielsweise, sehen sich gerne als Nichtdualisten, die dabei doch nicht Antidualisten sind. Sie betonen in diesem Zusammenhang gerne die Einheit von Körper und Seele, die die Dualisten angeblich leugnen. Aber mit jener Einheit meinen sie sicherlich nicht, dass Körper und Seele numerisch identisch sind; sie meinen, dass Körper und Seele zwar verschieden sind, aber untrennbar zusammengehören. Und worin gründet sich die zugestandene Verschiedenheit von Kör-
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per und Seele? Nun, in der ganzen Tradition des Hylomorphismus erscheint die Seele zwar nicht als Substanz, jedenfalls nicht als Substanz im vollen Sinn, jedoch als eine quasi-substantielle konkrete individuelle Entität (die übrigens bei Thomas von Aquin, wenn es sein muss, durchaus auch ohne Körper existieren kann), deren Verschiedenheit vom Körper nun aber primär darin besteht, dass sie eine mindestens teilweise, ja sogar ganz und gar nichtphysische Entität ist. Und schließlich kann man die Seele auch im Sinne des Hylomorphismus als mentale Entität bezeichnen, ist sie doch auch für den Hylomorphismus der hauptsächliche Träger von allem Mentalen, das der jeweiligen Person zukommt. Die logische Folgerung aus dem Gesagten ist, dass in der ganzen Tradition des Hylomorphismus jedenfalls implizit die Behauptung vertreten wurde, dass manche mentalen Entitäten (nämlich menschliche Seelen) mindestens teilweise nichtphysisch sind. Alle Hylomorphisten sind also, was sie doch keinesfalls sein wollen: Dualisten. Und also: Vielleicht ist die vehemente Abwehr, die mir als bekennendem Dualisten von christlich hylomorphistischer Seiten entgegengeschlagen ist, weniger auf die von mir behauptete Sache selbst zurückzuführen als darauf, dass man die Worte „Dualismus“, „dualistisch“, „Dualist“ nicht mag, ja geradezu verabscheut, verbinden sich doch mit ihnen ganze Komplexe von negativ empfundenen weltanschaulichen Assoziationen, die keineswegs neu, sondern viele Jahrhunderte alt sind. Leider habe ich für die fragliche Sache keine besseren Worte zur Hand und werde jene Worte also weiter gebrauchen, um über jene Sache zu reden. Der Dualismus, den ich vertrete und den ich in vielen meiner Veröffentlichungen zu begründen und zu verteidigen versucht habe, beruht auf phänomenologischer Grundlage: auf der Eigenerfahrung, die aber von jedermann jederzeit nachvollziehbar ist; und auf den Begrifflichkeiten, die die natürliche Sprache über Seelisches uns allen zur Verfügung stellt. Es ist vielleicht nicht ganz unnötig, darauf hinzuweisen, dass eine so schlichte These wie die dualistische Minimalthese doch eine echte Teilbehauptung enthält, die noch nicht für sich genommen dualistischer Natur ist: Manche Entitäten sind mental. Das ist eine Behauptung, die man als psychologischen Realismus bezeichnen könnte. Der psychologische Realismus ist logischer Teil der Aussage jedes Dualismus, und es besteht die Möglichkeit, jeden Dualismus schlicht durch Verneinung dieses Realismus, der in ihm steckt, zu verneinen, ohne dass man die Frage des Physischseins oder Nichtphysischseins des Mentalen überhaupt ansprechen müsste. Diesen Weg
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der Dualismusverneinung gehen materialistische Eliminativisten im Anschluss an Rorty und die Churchlands 1 – „Mentale Entitäten existieren nicht“ ist ja nur eine andere Weise, das zu sagen, was der Satz „Keine Entitäten sind mental“ auch sagt. Diesen selben Weg der Dualismusverneinung gehen aber auch – mit oder ohne die Vermittlung von Gilbert Ryles The Concept of Mind – die vielen von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen nachhaltig beeinflussten Philosophen, zu welchen sich in letzter Zeit auch nicht wenige christliche Philosophen zählen. Demgegenüber ist festzuhalten, dass, wenn man die reflexive Erfahrung des Eigenpsychischen in ihrem Erkenntniswert ernstnimmt, kein Weg daran vorbeiführt, anzuerkennen, dass es mentale Ereignisse gibt; anzuerkennen, m. a. W., dass manche Ereignisse mental sind, dass folglich in der Tat manche Entitäten mental sind und der psychologische Realismus richtig ist (denn Ereignisse sind ja eo ipso Entitäten, ist doch die Kategorie der Ereignisse eine ontologische Kategorie: eine die Entitäten einteilende Kategorie). Die natürliche Sprache jedenfalls widerstreitet dem psychologischen Realismus in keiner Weise, sondern lässt ihn an allen Ecken und Enden als von ihr implizit vorausgesetzt hervortreten: als Teil der von ihr geforderten Ontologie; sie tut dies durch das reichhaltige Vokabular, das sie zur Beschreibung mentaler Ereignisse (wir nennen die bewussten unter diesen im Deutschen „Erlebnisse“) zur Verfügung stellt – ein Vokabular, das sich in ihr ganz ohne die Bemühungen irgendwelcher verblendeter cartesianischer Philosophen entwickelt hat. Wir sprechen ohne jede Schwierigkeit von Schmerzen und anderen Empfindungen der verschiedensten Grundarten, Intensitäten und Qualitäten; von Episoden des Nachdenkens, der Traurigkeit, der Entschlossenheit; von Überzeugungs- und Wahrnehmungserlebnissen, und so fort. Kann es wirklich sein, dass es all dies nicht wirklich gibt, dass unsere innenpsychologische Sprache eine rein mythologische oder fiktionale Sprache ist, hinter der sich bestenfalls eine in ihr höchst inadäquat erfasste neuronale Realität verbirgt, wie beispielsweise Daniel Dennett meint? 2 Das kann wohl eher nicht sein – angesichts des Zeugnisses der jedermann gegebenen reflexiven Erfahrung des Eigenpsychischen, die jedem von uns in evidenter Weise etwas zu beschreiben gibt, mit dem wir unter Verwendung unserer Beschreibungsmittel und unter Einsatz unseres Beschreibungskönnens mehr oder minder erfolgreich ringen, um es deskriptiv zum Ausdruck zu bringen. Dem psychologischen Realismus kann man nur entgehen, 1 2
Einschlägige Texte sind im Literaturverzeichnis angegeben. Es ist dies eine zentrale Aussage seines Buches Consciousness Explained.
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wenn man die reflexive Erfahrung nicht ernstnimmt, ihren Erkenntniswert leugnet. Viele Philosophen haben keinerlei Skrupel, dies zu tun; aber ich sehe wirklich keinen guten Grund, sich ihnen anzuschließen. Der psychologische Realismus ist die halbe Miete: Manche Entitäten sind mental. Sind nun manche unter diesen Entitäten mindestens teilweise nichtphysisch, so ist man bei der dualistischen Minimalthese und damit sicherlich bei irgendeiner Form des Dualismus. Dem mindestens teilweisen Nichtphysischsein mancher mentaler Entitäten ist aber kaum zu entgehen. Betrachten wir ein mentales Ereignis: mein visuelles Erlebnis, das damit beginnt, dass ich nun die Brille absetze, und das damit aufhört, dass ich sie nun wieder aufsetze. Dieses Erlebnis – nennen wir es „L“ – hatte, solange es dauerte, wie mir die reflexive Naherinnerung sagt, intrinsisch (d. h.: schon aus sich heraus, und nicht erst im Bezug auf etwas anderes) eine gewisse sehr prominente Eigenschaft, die ich als „visuelle Undeutlichkeit“ bezeichne. Dass L diese Eigenschaft intrinsisch hatte: dies wiederum hatte gewisse rein physische Ursachen (nämlich dieselben Ursachen wie L selbst), die den Experten sehr genau bekannt sind (so der Konsens), Ursachen, die ich in Kraft setzte, als ich die Brille abnahm, und die ich wieder außer Kraft setzte, als ich die Brille wieder aufsetzte. Diese rein physische Kausalgeschichte ändert aber nichts daran, dass nichts vollständig Physisches intrinsisch die Eigenschaft der visuellen Undeutlichkeit hat, hatte oder je haben wird. Visuelle Undeutlichkeit ist keine intrinsische Eigenschaft von rein Physischem: Weder rein physische Mikro-Objekte noch rein physische Makro-Objekte noch rein physische Ereignisse sind jemals intrinsisch visuell undeutlich. Man kann gegebenenfalls sagen, dass man sie undeutlich sieht; aber was da visuell undeutlich ist (und zwar intrinsisch visuell undeutlich), sind nicht etwa sie selbst, sondern die Seherlebnisse, die man hat, während man sie sieht. 3 3
„Aber ein Vorkommnis des Buchstabens A (z. B.) kann doch visuell deutlich sein und ein anderes Vorkommnis des Buchstabens A visuell undeutlich! Solche Vorkommnisse sind doch zweifellos etwas rein Physisches!“ – Antwort: Die Konturen des einen Vorkommnisses können scharf gezogen sein, so dass es deutlich als ein Vorkommnis des Buchstabens A visuell erkennbar ist, also ein visuell deutliches A ist; die Konturen des anderen Vorkommnisses mögen nicht scharf gezogen sein, so dass es nur undeutlich als ein Vorkommnis des Buchstabens A visuell erkennbar ist, also ein visuell undeutliches A ist. Hier kommt aber ein anderer (nämlich relationaler, abgeleiteter) Sinn von „visuell deutlich“ bzw. „visuell undeutlich“ zur Anwendung, der nichts daran ändert, dass das erstere Vorkommnis von A nicht intrinsisch eine deutliche visuelle Wahrnehmung und das letztere Vorkommnis nicht intrinsisch eine undeutliche visuelle Wahrnehmung ist. Dass nichts rein Physisches intrinsisch eine undeutliche visuel-
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L ist also ein Erlebnis, folglich ein mentales Ereignis, das mindestens teilweise nichtphysisch ist, und jederzeit kann ich weitere Erlebnisse ganz wie L erzeugen, indem ich offenen Auges meine Brille abund wieder aufsetze. Womit die dualistische Minimalthese erwiesen ist (auch dann, wenn man den Plural in ihr ernstnimmt). Überhaupt ist L unter meinen Erlebnissen, was sein Nichtphysischsein angeht, alles andere als ein Einzelfall; für jedes meiner Erlebnisse lässt sich nämlich eine Eigenschaft finden, die es hat, hatte oder haben wird, die aber keine rein physische Entität hat, hatte oder je haben wird, nämlich seine intrinsische Subjektbezogenheit: den Für-mich-Charakter, der jedem meiner Erlebnisse aus sich heraus zu eigen ist; welcher Charakter vielleicht am augenfälligsten bei meinen Schmerzerlebnissen hervortritt (es ist evident, dass sie intrinsisch – und manchmal sehr dringend – an niemand anderen als an mich adressiert sind). All dies sind phänomenologische Aufweisungen aus reflexiver Erfahrung (d. h.: aus Erfahrung des Eigenpsychischen), deren Analoga jedermann bei sich selbst nachvollziehen kann. Solche Aufweisungen zeigen aber auch, wie nun schon angeklungen ist, dass durchaus nicht bloß mentale Ereignisse Entitäten sind, die mindestens teilweise nichtphysisch sind. Meine Erlebnisse kommen und gehen; in ihnen allen ist jeweils als numerisch dieselbe Entität ganz gegeben – und ist deshalb nun gerade kein Ereignis, kein Geschehen – deren Subjekt: ich – nicht ich, der ganze Mensch, sondern ich, das Bewusstseinssubjekt. Ebenso wie die Erlebnisse, deren Subjekt ich bin, bin ich unter den rein physischen Entitäten nicht zu finden – und ganz gewiss nicht als ein kleines Männchen, ein Homunculus an irgendeiner Stelle in meinem Gehirn. Wieder hat man die Option, das Zeugnis der reflexiven Erfahrung einfach wegzuwerfen, es für illusionär zu erklären. Manche meinen, die Wissenschaft ließe uns keine andere Wahl, als jenes Zeugnis zu verwerfen. Ich habe in meinen Publikationen wiederholt dafür argumentiert, dass es nicht wahr ist, dass die Wissenschaft uns keine andere Wahl lässt. 4 Unsere Erlebnisse und wir als Bewusstseinssubjekte haben eine neuronale Grundlage, die nun ganz gewiss eine naturgesetzliche conditio sine qua non ihrer und unserer Existenz ist. Inwieweit diese neuro-
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le Wahrnehmung ist – dies eben ist gemeint, wenn im Haupttext davon die Rede ist, dass nichts rein Physisches intrinsisch „visuell undeutlich“ ist. Am ausführlichsten in: The Two Sides of Being. A Reassessment of Psycho-Physical Dualism, Paderborn 2004; am knappsten in: Was ist Dualismus?, in: T. Möllenbeck (Hg.), Geist-Natur. Schöpfung zwischen Monismus und Dualismus, Münster 2009, 1534.
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nale Grundlage auch eine naturgesetzlich hinreichende Bedingung des Soseins dieser Erlebnisse und unserer selbst als Bewusstseinssubjekte ist, das sind wir gegenwärtig nach Jahrtausenden endlich dabei, en detail zu entdecken. Ein Dualist braucht vor dem Fortschritt der Neurowissenschaften nicht im mindesten die Augen zu verschließen; er braucht davon nichts zu leugnen; aber er hat das rationale Recht, diesen Fortschritt in seiner Weise zu interpretieren, und das heißt: ihn antireduktionistisch zu interpretieren, Phänomene nicht zu streichen, sondern zu integrieren. Der Materialismus hat kein Monopol auf die Wissenschaften; die Wissenschaften sind eben nicht aus sich heraus physikalistisch-reduktionistisch. Das krampfhafte bis verkrampfte Bemühen, alles und jedes ins physikalistische Korsett zu zwingen; wenn das aber bei einer Gegebenheit nicht gelingt, dann diese Gegebenheit einfach für nichtexistent zu halten – all das wird hoffentlich einmal genauso kurios erscheinen wie, heute, die verzweifelten Versuche vieler Denker des 19. Jahrhunderts, die elektromagnetischen Phänomene gemäß Modellvorstellungen der Mechanik begreifen zu wollen. Einmal wollte man alle physischen Phänomene auf mechanische Phänomene reduzieren. Die letztliche Motivation dafür war, dass man a priori der Meinung war, dass es nichtmechanische physische Phänomene eigentlich nicht gebe; dass es nur vorübergehend so scheinen kann, als gebe es sie, nämlich solange ihre mechanistische Reduktion nicht geglückt ist. Diese Apriori-Meinung war ein Irrtum, und die durch sie motivierte Reduktionsintention war eine verfehlte. Ebenso ist die Meinung, dass es nichtphysische mentale Phänomene eigentlich nicht gebe, dass es nur vorübergehend so scheinen kann, als gebe es sie, nämlich solange ihre physikalistische Reduktion nicht geglückt ist, eine Apriori-Meinung; sie ist ebenfalls ein Irrtum, und die durch sie motivierte Reduktionsintention ist ebenfalls verfehlt. Hinter dieser letzteren Apriori-Meinung – und hinter der mit ihr verbundenen Apriori-Ignorierung ganzer Erfahrungsfelder – steckt eine tief von Herzen kommende ontologische Abneigung gegen alles Übernatürliche. Man ist zutiefst überzeugt, dass es in der Welt – wie man so gerne sagt – „immer mit rechten Dingen zugeht“, und man meint, wenn man nun zugestände, dass manche mentale Entitäten mindestens teilweise nichtphysisch sind, dann würde man ja gerade zugestehen, dass es in der Welt nicht immer mit rechten Dingen zugeht! Man übersieht dabei die logische Tatsache, dass man mit dem Zugeständnis von mindestens teilweise nichtphysischen mentalen Entitäten nur die physikalistische, materialistische Position verlässt, keineswegs aber auch schon die naturalistische. Man kann Dualist sein und Naturalist.
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Ich, freilich, bin nun als Dualist gerade kein Naturalist; die Worte „Geheimnis“ und „geheimnisvoll“ sind für mich – im Unterschied zu vielen meiner Philosophenkollegen – nicht eine Art von philosophischen Schimpfworten, Pejorativa. Ich verbinde sie aber auch nicht mit spiritistischen Sitzungen, Gespenstern und dergleichen. Obwohl ich kein Naturalist bin, habe ich in mehreren meiner Veröffentlichungen versucht, darzutun, dass Dualisten zwanglos eine rein naturalistische Perspektive haben, wenn sie denn diese Perspektive einnehmen, diesen Weg gehen wollen. 5 Zu den unwahrscheinlicheren, aber doch nicht unmöglichen Wegen der Evolution der Materie zählt eben auch die Entstehung von Bewusstseinsvorgängen und Bewusstseinssubjekten – also von mindestens teilweise nichtphysischen mentalen Entitäten, die aber andererseits vom rein Physischen, insbesondere von Gehirnen, naturgesetzlich abhängig sind (wie diese Abhängigkeit genau aussieht und wie weit sie reicht – das, wie gesagt, sind wir gegenwärtig gerade dabei zu entdecken). Wie alles, was an lebenden Organismen entsteht und nicht alsbald wieder verschwindet, sondern sich sogar weiterentwickelt, müssen Bewusstseinsvorgänge und Bewusstseinssubjekte einen positiven Effekt für das Überleben ihrer Trägerorganismen und somit auch für die Fortexistenz von deren Arten haben. Auffällig ist, dass zwar nicht immer, aber im Großen und Ganzen, was Bewusstseinssubjekte spontan als positiv erleben, für die Erhaltung des Organismus und seiner Art auch tatsächlich positiv ist; und dass zwar nicht immer, aber im Großen und Ganzen, was Bewusstseinssubjekte spontan als negativ erleben, für die Erhaltung des Organismus und seiner Art auch tatsächlich negativ ist. Ist diese Bewusstseinsabspiegelung vitaler Werte in den mindestens teilweise nichtphysischen Erlebnissen der mehr oder minder großen Lust und des mehr oder minder großen Schmerzes nur eine leer mitlaufende Begleiterscheinung des Kampfes des Organismus ums Überleben? Oder hat sie eine echte Funktion für diesen Kampf? Letzteres hat die bei Weitem überwiegende Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite. Was ist aber dann jene Funktion? – Aus dem Erleben von Lust und Schmerz bezieht das Bewusstseinssubjekt die motivationalen Gesichtspunkte, die ihm im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung erlauben, einen Beitrag zur Lebenssicherung des zugehörigen Organismus und seiner 5
Siehe etwa: Die Seele als natürliche Instanz der Freiheit, in: K. Crone/R. Schnepf/J. Stolzenberg (Hg.), Über die Seele, Berlin 2010, 371-389; und: Eine dualistische Konzeption mentaler Verursachung, in: G. Gasser/J. Quitterer (Hg.), Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge, Paderborn 2010, 81-103.
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Art zu leisten: durchaus nicht den hauptsächlichen Beitrag, aber oft einen entscheidenden. Bewusstsein und Bewusstseinssubjekt sind somit nichtphysische Organe des physischen Organismus: Funktionsträger für besondere Aufgaben. Sie existieren im Rahmen der Naturgesetze nicht länger, als der Organismus selbst existiert, also lebt, und sogar nicht länger, als dessen Nervensystem hinreichend gut funktioniert. Um aber ihre lebensleitende, lebensrettende, lebensstärkende Funktion erfüllen zu können, müssen Bewusstsein und Bewusstseinssubjekt angemessene kausale Potenzen haben – daran führt kein Weg vorbei. Physikalistische Denker haken hier gerne ein und behaupten, solche kausale Potenzen könne es nicht geben. Sie übersehen dabei, dass die Physik selbst für solche kausale Potenzen viel offener ist als der Physikalismus, der, im Gegensatz zur Physik, eine besondere Form von Metaphysik ist. Diese Metaphysikform ist, entgegen ihrem Selbstbild, keineswegs die einzig vernünftige Verlängerung der Naturwissenschaften. Dass in einem energetisch geschlossenen System die Gesamtsumme der Energie weder zu- noch abnimmt – der Energieerhaltungssatz der Physik –, verhindert jedenfalls die Existenz der fraglichen kausalen Potenzen nicht; ebenso wenig tut dies der Impulserhaltungssatz. Und die so oft ins Spiel gebrachten Prinzipien der kausalen Geschlossenheit des Physischen haben nichts mit Physik zu tun, sondern alles mit dem Physikalismus. Wenn sich Physikalisten auf diese Prinzipien berufen, so handelt es sich also um einen eklatanten Fall zirkulären Argumentierens. Ich habe all dies anderswo ausführlich dargelegt 6 und werde hier nicht weiter darauf eingehen. Was ich gerade zur biologischen Rolle von Bewusstsein und Bewusstseinssubjekt umrissen habe, kann nun die ganze Geschichte von Bewusstsein und Bewusstseinssubjekt – in Umrissen – sein, und für naturalistische Dualisten ist es die ganze Geschichte. Aber auch wenn es tatsächlich nicht die ganze Geschichte ist, wie ich meine, so ist doch festzuhalten, dass dann zwar das bisher Gesagte zu ergänzen ist und dadurch manches von ihm in ein anderes Licht rückt, aber dadurch doch nichts von ihm vollständig wieder aufgehoben wird. Auch wenn das bereits Gesagte nicht die ganze Geschichte ist, so bleibt es doch dabei, dass es eine natürliche Fortexistenz des Bewusstseinssubjekts, nachdem sein Organismus zugrunde gegangen ist, nicht geben kann. Soweit der Rahmen des Natürlichen – der Rahmen, der durch die 6
Siehe dazu: The Two Sides of Being; und: Consciousness and Freedom, in: A. Corradini/S. Galvan/J. Lowe (Hg.), Analytic Philosophy Without Naturalism, London 2006, 183-196; oder: Eine dualistische Konzeption mentaler Verursachung.
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Naturgesetze abgesteckt wird – reicht, muss, um ein altes Bild zu gebrauchen, der Kapitän mit seinem Schiff untergehen. Überlebt er den Untergang dennoch, wird er gar Kapitän eines neuen Schiffs, so ist dies ein Wunder im echten Sinn – ein Bruch der Naturgesetze (welche, um hier nicht in einen Widerspruch zu geraten, klarerweise so aufgefasst werden müssen, dass sie, obwohl Naturgesetze, dennoch nicht durch die Realität unverbrüchlich sind 7). Das war den Zeugen der Auferstehung Jesu von den Toten intuitiv klar, auch ohne dass sie eine einigermaßen deutliche Ahnung von den Naturgesetzen hatten oder überhaupt einen einigermaßen klaren Begriff des Naturgesetzes kannten. Deshalb nahmen sie Jesu Auferstehung intuitiv als den wahrhaft überwältigenden letzten Beweis Seines göttlichen Ursprungs – denn nur der Herr über die Naturgesetze kann sie durch die Setzung einer ihnen widersprechenden Realität brechen – und bezogen aus dieser Apperzeption den Löwenanteil der immensen geistigen Kraft, die notwendig war, um eine neue Weltreligion zu begründen. Nun hoffen alle gläubigen Christen auf ihre eigene Auferstehung. 8 Sie hoffen also auf ein Wunder, ein Wunder größer als alle jene sogenannten Wunder, von denen man landläufig – in den Medien etwa – sagen hört, es werde auf sie gehofft. Wie ist dieses Wunder – abgesehen davon, dass es qua Wunder einen Bruch der Naturgesetze darstellt – zu denken, wenn man denn, wenn ich so sagen darf, in bescheidener Vermessenheit über diese letzten Dinge nachzudenken unternimmt? Es sind göttliche Dinge, übernatürliche, aber sie betreffen uns eben, 7
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Eine solche Auffassung liegt vor, wenn Naturgesetze in Analogie zu den durch den Staat gegebenen Gesetzen gedacht werden, welche Gesetze ja selbst dann, wenn sie gelten und in Kraft sind, durch die Realität keineswegs unverbrüchlich sind, sondern im Gegenteil nicht selten verletzt werden, und welche Gesetze auch wieder ganz aufgehoben werden können. In welchem Maße Gesetze durch die Realität verletzt werden – das freilich hängt im Falle der Naturgesetze, anders als bei den durch den Staat gegebenen Gesetzen, allein vom Gesetzgeber ab. Einstweilen kommt eine Verletzung – ein Bruch – der Naturgesetze offenbar sehr selten vor; nicht zuletzt wegen dieser Seltenheit hat eine solche Verletzung aber, sofern sie Menschen bekannt wird, einen ausgeprägten – „sensationellen“ – über die Natur hinausweisenden Zeichencharakter. Wer ist ein gläubiger Christ? Die Bezeichnung „gläubiger Christ“ verlöre jeden substantiell beschreibenden Sinn, wenn jeder ein gläubiger Christ wäre, der sich für einen solchen hält, selbst dann, wenn er, beispielsweise, nicht an seine eigene Auferstehung glaubt. Deshalb sei hier unter einem gläubigen Christen ein Mensch verstanden, der explizit oder implizit das Apostolische Glaubensbekenntnis in der ökumenischen Fassung akzeptiert. Wer ein gläubiger Christ in diesem Sinne ist, glaubt an, und hofft auf (denn Hoffnung ist von Glauben hier nicht zu unterscheiden), seine eigene Auferstehung als Teil der Auferstehung der Toten (denn er geht nicht ohne Grund davon aus, dass er zunächst einmal sterben wird).
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wenn wir glauben. Wie alle Menschen, die über diese Dinge positiv sprechen, rede ich nun – das liegt in der Natur der Sache – weniger davon, wie diese Dinge sind – wer weiß das schon? –, sondern vielmehr davon, wie mir scheint, dass sie sein müssten, wenn sie wahrhaft die Erfüllung existentieller menschlicher Hoffnungen wären und vielleicht sind. Ich nehme mich selbst als ein willkürliches Beispiel. Damit meine Auferstehung die Erfüllung meiner Hoffnung ist, muss ich selbst – numerisch dieselbe Person, die einmal verstorben ist – auferstehen, nicht irgendeine Kopie, nicht irgendein Nachfolgemodell von mir. Damit meine Auferstehung die Erfüllung meiner Hoffnung ist, muss ich zudem auferstehen zu einem Leben im vollen Sinn, nicht zu einer Existenz wie die der Schattenseelen im Hades. Auf den ersten Blick scheint dies nahezulegen, dass die Auferstehung der Toten dergestalt sein müsste, dass das, was Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht „Auferstehung“ 9 einmal dichtete, sich als eine, was das Allgemeintypische angeht, wahre Beschreibung erwiese: Der Graf vernimmt die Töne, er sieht einen lichten Riß; er weckt seine dreizehn Söhne im Erb-Begräbnis. Er grüßt seine beiden Frauen ehrerbietig von weit – ; und alle, voll Vertrauen, stehn auf zur Ewigkeit und warten nur noch auf Erich und Ulriken Dorotheen, die, sieben- und dreizehnjährig, (sechzehnhundertzehn) verstorben sind im Flandern, um heute vor den andern unbeirrt herzugehn.
So kann man sich die leibliche Auferstehung vorstellen; und das Gedicht suggeriert unwiderstehlich, dass es numerisch dieselben Leiber sind, mit denen die auferstehenden Personen gestorben sind, mit denen sie auch auferstehen. Das würde aber bedeuten, dass das Leben der Auferstandenen, obwohl es ein Leben in Ewigkeit ist, mehr oder weniger genauso wäre wie das Leben, das sie vor ihrem Tod geführt 9
Aus: R. M. RILKE, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1986, 470.
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haben (mit gewissen Abstrichen vielleicht, im Gedicht zart angedeutet durch das „Er grüßt seine beiden Frauen / ehrerbietig von weit“). Demgegenüber möchte ich festhalten: Erstens, damit meine Auferstehung die Erfüllung meiner Hoffnung ist, muss sie eine Auferstehung zu einem ewigen und aus Gottes Gnade verherrlichten Leben sein, also zu der Vollendung des Weges, den man in der Orthodoxie als Theosis bezeichnet: die gnadenweise Vergöttlichung des Menschen. Zweitens, mein gegenwärtiger Leib ist jedoch für ein ewiges, aus Gottes Gnade verherrlichtes Leben nicht nur gegenwärtig – so wie er jetzt ist – außer Stande, sondern er ist essentiell ungeeignet dafür: Es ist simpliciter unmöglich (d. h.: in allen im weitesten Sinne möglichen Welten nicht der Fall), dass ich einmal ein derartiges Leben führe und dabei diesen meinen gegenwärtigen Leib noch habe oder ihn wiederhabe. Wenn ich also dereinst leiblich auferstehe und dies die Erfüllung meiner Hoffnung ist, dann nicht mit diesem Leib, sondern mit einem neuen, von ihm verschiedenen Leib, der wesentlich andere Eigenschaften als der alte hat; welcher beispielsweise – so wie es vom Leib des Auferstandenen berichtet wird – ohne sich zu nähern auftaucht und ohne sich zu entfernen wieder verschwindet; welcher aber, während er präsent ist, alle sinnlichen Merkmale eines normalen materiellen Objekts aufweist, also die gewöhnlichen Impulswirkungen auf andere materielle Objekte ausübt und sie von anderen materiellen Objekten erleidet, sie aber doch nur in einer sehr eigenartigen Weise erleidet, nämlich in einer jedwede Verletzung ausschließenden Weise. Was wäre wohl geschehen, wenn einer versucht hätte, den Auferstandenen mit einer Lanze zu durchbohren oder zu Boden zu werfen? Was wäre wohl geschehen, wenn der Auferstandene, wie einst Sokrates, den Schierlingsbecher geleert hätte? Will man bestreiten, dass mein gegenwärtiger Leib für das ewige Leben, wie dieses Leben es bei Erfüllung meiner Hoffnung sein muss, essentiell ungeeignet ist, dann muss man davon ausgehen, dass die stete Einhaltung der Naturgesetze für meinen gegenwärtigen Leib nicht simpliciter notwendig ist. Man muss dann davon ausgehen, dass es simpliciter möglich (d. h.: in einer im weitesten Sinne möglichen Welt der Fall) ist, dass er – numerisch derselbe Körper – einmal in einer Weise existiert, die nicht den Naturgesetzen gemäß ist. Man muss das als eine Möglichkeit im weitesten Sinne ansehen, wenn auch natürlich nicht als eine naturgesetzliche Möglichkeit. Aber auch als eine Möglichkeit im weitesten Sinne genommen scheint mir die in Frage stehende Möglichkeit nicht sonderlich plausibel. Wie mir vielmehr scheinen will, werden die Naturgesetze von diesem (meinem gegenwärtigen) Körper und allen materiellen Objekten, die wir in diesem Leben
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kennen, simpliciter notwendigerweise immer, wenn sie existieren, eingehalten: weil die Naturgesetze einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, diesen Körper und alle materiellen Objekte, die wir in diesem Leben kennen, zu definieren, sie essentiell zu bestimmen. Hylomorphisten – wie z. B. Thomas von Aquin – sind hier freilich anderer Meinung; denn nach ihrer Auffassung stehen wir, wenn unsere Hoffnung sich erfüllt, mit denselben Körpern, die wir gegenwärtig haben, auf zu einem Leben in (von Naturgesetzen befreiter) Herrlichkeit. Dies eben ist ein sehr markantes Merkmal, wodurch sich diejenige Form des Dualismus, die der Hylomorphismus darstellt, von derjenigen Form des Dualismus, für die ich hier plädiere, unterscheidet. Obwohl ich die letztere Form für die plausiblere halte, liegt es mir fern, der ersteren Form des Dualismus den Status einer rational vertretbaren Alternative abzusprechen. Wenn nun aber, wenn ich auferstehe, mein gegenwärtiger Leib tatsächlich ein Ding der Vergangenheit ist, ein nicht mehr zu gebrauchendes Gewand, und ich einen neuen Körper anziehe, ein neues Gewand, das zu der neuen Erde und dem neuen Himmel passt, von dem in der Offenbarung die Rede ist, dann kann mein gegenwärtiger Leib klarerweise nicht der Träger meiner personalen Identität sein, nicht das sein, was garantiert, dass ich selbst auferstehe, ich derselbe, der einmal gestorben ist – und nicht eine Kopie oder Nachfolgemodell von mir. Dann kann mein gegenwärtiger Leib der Garant meiner personalen Identität in der Auferstehung auch dann nicht sein, wenn Gott in Seiner Allmacht tatsächlich, wie manche glauben 10, ihn oder ein Stückchen von ihm durch alle kosmischen Katastrophen hindurch – inklusive das Verschlucktwerden der Erde durch die Sonne – irgendwo ununterbrochen aufgehoben hat, so dass er tatsächlich bis zum Jüngsten Tag kontinuierlich existiert hat (wenn auch tot). Auch wenn der alte Leib noch bis dahin da sein sollte, ob nach kurzer, nach langer oder nach gar keiner Zeit, er ist für meine verherrlichte Existenz nicht der ontologisch geeignete Leib und stellt deshalb a fortiori nicht sicher, dass ich es bin, der aufersteht und in das ewige Leben eingeht. Was also garantiert meine personale Identität in der Auferstehung? Klarerweise nicht ich, der ganze Mensch, denn in der Auferstehung werde ich ja erst wieder zum ganzen Menschen: zu einem verklärten und verherrlichten ganzen Menschen; sondern meine personale Identität in der Auferstehung garantiert mit Gottes wunderbarer Hilfe ich, das einsti10
Z. B.: P. V. INWAGEN, The Possibility of Resurrection, in: International Journal of Philosophy of Religion 9 (1978) 114-121.
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ge Bewusstseinssubjekt und Agens für meinen alten Leib, m. a. W.: ich, die Seele jenes Leibes, mit meinen Erinnerungen und Dispositionen. Der neue Leib und der alte Leib sind zwar essentiell verschieden: der neue Leib existiert unter Auferstehungsbedingungen als der meine, der alte Leib kann das wesenhaft nicht, doch sind die beiden Körper alles andere als beziehungslos. Immerhin ist es ja dieselbe menschliche Seele, die sich mit ihnen jeweils verbindet, und das bringt vieles mit sich: Die Seele hat eine Geschichte, eine menschliche Geschichte mit dem alten Leib, eine Geschichte von Erfahrung, Ausdruck und Handlung, sedimentiert in ihren Erinnerungen und erworbenen Dispositionen; und wenn meine Auferstehung die Erfüllung meiner Hoffnung ist, dann findet diese Geschichte zusammen mit ihrem Zentrum, der Seele, eine wahre neue Heimat im neuen Leib, der daher ebenfalls ein menschlicher Leib sein muss, wenn auch ein verherrlichter und verklärter. Eine nicht unerhebliche Kontinuität zwischen Alt und Neu muss ja auch schon allein zu dem Zweck gewahrt werden, dass für andere Menschen ersichtlich ist, dass sie es mit derselben Person, die sie einmal kannten, zu tun haben. Das ist auch der Grund, warum der neue Leib des Auferstandenen die Wundmale seines alten Leibes trägt und überhaupt so aussieht wie der alte. Nur so konnte aus dem ungläubigen Thomas der Apostel Thomas werden. Der neue Leib steht in Kontinuität zum alten, und ist doch ein radikal neuer und anderer. Die Herrschaftsverhältnisse haben sich umgekehrt: Diente die Seele dem alten Leib als Wahrerin seiner vitalen Interessen in den Fährnissen des natürlichen materiellen Lebens – das war eine Stelle, die naturgesetzlich offen war und die die biologische Evolution mit der ihr eigenen merkwürdigen Zuverlässigkeit gefüllt hat, so wie jene Stelle eben unter den Bedingungen der Natur gefüllt werden konnte: durch Entstehung und Fortentwicklung von Zentralnervensystemen – und hatte die Seele in ihrer dem Organismus dienenden Rolle bestenfalls ein wenig Freizeit, so ist nun im Gegenteil der neue Leib das Vehikel und der Perspektivpunkt ihrer herrlichen Freiheit. Zusammenfassend ist aus dualistischer, nicht hylomorphistischer Perspektive unter besonderer Berücksichtigung der christlichen Hoffnung auf Auferstehung über das Wesen der menschlichen Person zu sagen: Die menschliche Person ist, eigentlich gesprochen, die menschliche Seele, die eben deshalb eine „menschliche“ heißt, weil es ihr essentiell ist, einen menschlichen Körper zu haben. Es ist ihr aber ebenso wenig essentiell, ihren gegenwärtigen Körper, ihren Körper in via, zu haben, wie es ihr essentiell ist, ihren kommenden Körper, ihren Körper in patria, zu haben. Lebt nun nach der Auferstehung numerisch derselbe Mensch wie vor der Auferstehung? Klar ist, dass vorher und nachher dieselbe
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menschliche Person lebt, freilich mit verschiedenen menschlichen Körpern. Ist der Mensch nun ein Ganzes aus Körper und Seele, so bleibt nur, dass nach der Auferstehung ein neuer Mensch lebt, numerisch verschieden von dem alten Menschen, der definitiv gestorben ist. Ich werde dann sagen, ich war jener Mensch, der starb, ich bin nun aber dieser Mensch, der lebt. Dabei mache ich wie schon in diesem Leben Gebrauch von der Möglichkeit, das Wörtchen „ich“ nicht nur zur Bezeichnung der menschlichen Person – des menschlichen Bewusstseinssubjekts und Agens, der menschlichen Seele – einzusetzen, sondern, analogisch, auch zur Bezeichnung des innig verbundenen Paares von menschlicher Seele und menschlichem Körper, also es einzusetzen zur Bezeichnung des ganzen Menschen. Gegeben diese mögliche (und sehr übliche) analogische Verwendungsweise von „ich“, werde ich dadurch, dass ich sage, dass ich jener Mensch war, aber nun dieser Mensch bin, vom logischen Standpunkt aus nichts Ungewöhnlicheres tun, als ich dadurch tun würde, dass ich sage, dass das Schiff des Theseus vor 200 Jahren jenes Schiff war (dabei vielleicht auf ein Schiff im Trockendock zeigend), aber nun dieses Schiff ist (auf ein Schiff im Hafenbecken zeigend). 11 Worum es in der Frage des Inhalts der christlichen Hoffnung auf Auferstehung gehen muss, hat vor etwas mehr als 350 Jahren der Dichter des volksliedhaften Kirchenliedes „Jesus, meine Zuversicht“ klar und bewegend insbesondere in den Strophen vier bis sieben jenes Liedes in Worte gefasst. Es ist vielleicht Ausdruck der schon langen Gewöhnung an eine starke Spannung, die die ganze Geschichte des christlichen Nachdenkens über die Auferstehung durchzieht, dass dem Lieddichter offenbar entgangen ist, dass manche seiner Aussagen in jenen vier Strophen nicht recht zu anderen Aussagen in ihnen passen wollen. Es ist eine Konsequenz der von mir vorgeschlagenen Lösung jener Spannung – nämlich derjenigen zwischen, einerseits, Leib11
Aus dem, was ungleich zwischen den beiden Seiten in diesem ontologischen Vergleich ist, kann übrigens ebenso viel gelernt werden wie aus dem, was zwischen den beiden Seiten in ihm gleich ist. In beiden Fällen haben wir zwei Körper: zwei Schiffskörper, bzw. zwei Menschenkörper. In beiden Fällen ist eine bestimmte Identität – die, eine bestimmte „Schiffsperson“ zu sein, bzw. die, eine bestimmte Menschenperson zu sein – vom einen Körper auf den anderen übergegangen. – Soweit das, was zwischen den beiden Vergleichsseiten gleich ist. Dafür aber, das Übrige auszuarbeiten, ist hier nicht der Ort. (Ein anzusprechender Punkt ist der folgende: Im Fall des Menschen, aber nicht im Fall des Schiffs, sagt man – oder sagt mancher –, es wäre da gegeben eine die personale Identität ausmachende und transportierende individuelle Seele. Was ist aber dann andererseits beim Schiff das Element, das seine „personale“ Identität ausmacht und transportiert?)
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lichkeit der Auferstandenen und, andererseits, Herrlichkeit –, dass manchen – ich betone: manchen – Aussagen in den Strophen vier bis sieben von „Jesus, meine Zuversicht“ nicht so, wie sie dastehen, zugestimmt werden kann. Und den Lesern dieses Aufsatzes wird nun gleich deutlich sein, welche Aussagen ich meine: [4] Ich bin Fleisch und muß daher Auch einmal zu Asche werden; Das gesteh’ ich, doch wird er Mich erwecken aus der Erden, Daß ich in der Herrlichkeit Um ihn sein mög’ allezeit. [5] Dann wird eben diese Haut Mich umgeben, wie ich gläube, Gott wird werden angeschaut Dann von mir in diesem Leibe, Und in diesem Fleisch werd’ ich Jesum sehen ewiglich. [6] Dieser meiner Augen Licht Wird ihn, meinen Heiland, kennen; Ich, ich selbst, kein Fremder nicht, 12 Werd’ in seiner Liebe brennen; Nur die Schwachheit um und an Wird von mir sein abgetan. [7] Was hier kranket, seufzt und fleht, Wird dort frisch und herrlich gehen; Irdisch werd’ ich ausgesät, Himmlisch werd’ ich auferstehen; Hier geh’ ich natürlich ein, Nachmals werd’ ich geistlich sein. 13 12
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Eine Korrektur der doppelten, emphatischen Verneinung zu „ich, ich selbst, ein Fremder nicht“ – so steht es im neuen Evangelischen Gesangbuch (Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen), 924 – scheint mir unnötig, nimmt dem Vers viel von seiner Kraft und macht ihn für mögliche Missverständnisse anfälliger: Noch mehr als „ich, ich selbst, kein Fremder nicht“ kann „ich, ich selbst, ein Fremder nicht“ im Sinne von „ich, ich selbst, mir selbst kein Fremder“ oder „ich, ich selbst, und sonst kein Fremder“ missverstanden werden. Gemeint ist aber jedenfalls: ich, ich selbst, kein anderer an meiner Stelle. Es ist der Beachtung wert, dass das neue Evangelische Gesangbuch die drastisch leibliche 5. Strophe von „Jesus, meine Zuversicht“ (Nr. 526, 923-924) weglässt (die Strophenzählung ändert sich entsprechend) und anstelle der letzten beiden Verse der 7. (im Gesangbuch: 6.) Strophe – also anstelle des deutlich unleiblichen „Hier
Leib-Seele-Dualismus und Auferstehungshoffnung
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geh’ ich natürlich ein / Nachmals werd’ ich geistlich sein“ – hat: „Alle Schwachheit, Angst und Pein / wird von mir genommen sein“ (also im Wesentlichen denselben Gedanken wiederholt, der schon in den letzten beiden Versen der 6. [im Gesangbuch: 5.] Strophe zum Ausdruck kommt). Diese – die Kraft des Liedes schwächenden – Modifikationen lösen die Spannung, von der ich gesprochen habe, allerdings nicht; sie weichen ihr nur aus. Die 9. und 10. (letzte) Strophe, in denen wir schon jetzt „der finstern Erdenkluft“ lachen und den Geist „von den Lüsten dieser Erden“ erheben sollen, wurden übrigens im Gesangbuch ebenfalls weggelassen (sie wären dort die 8. und 9. Strophe geworden): ein abermaliges Ausweichen vor dem – keineswegs bloß barocken – Gegensatz der Auferstehungskonzeptionen (und zugrundeliegenden Konzeptionen der menschlichen Person), den das Lied in seiner ursprünglichen Fassung unvermittelt, ungelöst und kommentarlos lyrisch fließend einfach ausspricht. Den folgenden zehn ausgewählten Publikationen kann Weiteres zu meiner Auffassung der menschlichen Person und des menschlichen Geistes entnommen werden; sie enthalten auch in großem Umfang die Diskussion der Auffassungen anderer (was hier nicht geboten werden konnte).
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Uwe Meixner
—, Materialism Does Not Save the Phenomena – and the Alternative Which Does, in: Robert C. Koons/George Bealer (Hg.): The Waning of Materialism, Oxford-New York 2010, 417-437. —, The Emergence of Rational Souls, in: Antonella Corradini/Timothy O’Connor (Hg.), Emergence in Science and Philosophy, New York-London 2010, 163179. —, Das Elend des Physikalismus in der Philosophie des Geistes, in: Marcus Knaup/Tobias Müller/Patrick Spät (Hg.), Post-Physikalismus, Freiburg 2011, 25-59. RILKE, RAINER MARIA, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1986. RORTY, RICHARD, In Defense of Eliminative Materialism, in: Review of Metaphysics 24 (1970) 112-121. RYLE, GILBERT, The Concept of Mind, Chicago 1949. WITTGENSTEIN, LUDWIG, Philosophische Untersuchungen/Philosophical Investigations. Deutsch und Englisch (übersetzt von G. E. M. Anscombe), New York 1953.
EDMUND RUNGGALDIER SJ
Unsterblichkeitshoffnung und die hylemorphische Einheit von Leib und Seele 1. EINLEITUNG Sollten die naturalistisch/physikalistischen Thesen über den Menschen wahr sein, kann es keine Unsterblichkeit geben. Neuerlich haben zwar auch Materialisten Auffassungen von Unsterblichkeit zu entwickeln begonnen, die eine gewissen Kompatibilität zwischen naturalistischen Deutungen des Menschen und der Unsterblichkeit zu versprechen scheinen. 1 Ich setze hier dennoch voraus, dass naturalistische Prämissen ganz allgemein ein Fortleben nach dem Tode ausschließen. Demgegenüber scheinen substanz-dualistische Deutungen des Menschen sehr wohl Möglichkeiten zu bieten, auf kohärente Weise zum Unsterblichkeitsglauben zu stehen. Schlagkräftige Argumente für den Dualismus ergeben sich aus der Analyse des Selbstbewusstseins, aus der im Alltag selbstverständlich angenommenen transtemporalen Identität des „Ich“ sowie aus der lebensweltlichen Praxis. Gravierend sind aber auch die Argumente gegen die dualistischen Deutungen. Hier kann ich weder auf die einen noch auf die anderen eingehen, sondern setze voraus, dass starke substanz-dualistische Deutungen des Menschen wegen der gravierenden Einwände aus den Errungenschaften der Neuromedizin nicht haltbar sind. Meine nun folgenden Überlegungen sind hypothetisch. Angenommen, dass weder rein naturalistische noch extrem dualistische Thesen haltbar sind, stellt sich die Frage, ob es Mittelpositionen gibt, die einerseits nicht mit wissenschaftlichen Befunden in Konflikt geraten, andererseits mit der weltanschaulichen Überzeugung kompatibel sind, dass es für uns Menschen mit unserem biologischen Tod nicht ganz aus ist. 1
Vgl. D. ZIMMERMAN, Bodily Resurrection. The Falling Elevator Model Revisited, in: G. Gasser (Hg.), Personal Identity and Resurrection. How Do We Survive Our Death?, Farnham 2010, 33-50.
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Edmund Runggaldier SJ
Als eine solche Mittelposition zwischen rein naturalistisch/physikalistischen Deutungen des Menschen einerseits und substanz-dualistischen andererseits gilt seit der Hochscholastik der aristotelische Hylemorphismus, dem zufolge die menschliche Seele die forma substantialis individualis eines Menschen ist. Diese hylemorphische Position kennt allerdings unterschiedliche Ausformulierungen und Auslegungen, die bereits im Corpus Aristotelicum grundgelegt sind. Im Umgang mit Ansprüchen, die richtige Auslegung zu vertreten, ist Vorsicht geboten. Ich schließe mich jener Auslegung an, der zufolge die forma als actus primus, d. h. als erste Verwirklichung bzw. Wirklichkeit eines Organismus, zu verstehen ist. Dass ein Mensch eine Seele hat, bedeutet demnach, dass der Organismus, aus dem er besteht, tatsächlich lebt und in der Lage ist, typisch menschliche Funktionen und Tätigkeiten zu vollziehen. Auch von diesem Verständnis gibt es allerdings unterschiedliche Ausprägungen, von denen einige zweifelsohne einem rein naturalistischen Verständnis näher stehen als einem dualistischen. Denken wir an die Averroistischen Tendenzen in der Hochscholastik, die besonders deshalb so umstritten waren, weil sie mit der Auffassung, die menschliche Seele überlebe den biologischen Tod, nicht kompatibel sind. Diese Spannung hat bereits Albertus Magnus beschäftigt, und es dürfte fraglich sein, ob Thomas damit kohärent umzugehen wusste. Die hylemorphischen Grundintuitionen wurden andererseits auch neu-platonisch gedeutet und dementsprechend verarbeitet. So gesehen können sie mit der Unsterblichkeitshoffnung kompatibel sein. Sie dürften aber auch modernen emergentistischen Theorien verwandt sein sowie downward-causation annehmen, d. h. kausale Bestimmungen von den höheren und umfassenderen Funktionen und Vermögen auf die niedrigeren und untergeordneten. Besonders Albertus legt Wert auf die These, dass die Organe mit ihren Funktionen vom Ganzen des Individuums und seinen umfassenderen causae abhängig sind. Die dem Naturalismus nahestehenden hylemorphischen Thesen schließen Unsterblichkeit aus, nicht aber die neu-platonisch geprägten. Unsterblichkeitshoffnung und Auferstehungsglaube werden neuplatonisch im Sinne einer Transformation des Leiblichen verstanden. Die erhoffte Transformation durch die Verherrlichung der Auferstehung besteht in einer Angleichung an Gott, indem zuallererst die Kategorien von Zeit und Raum überwunden werden. Die auferstandenen Erlösten (beati) rücken so in die Nähe des „alles zugleich“ Gottes (totum simul), welches ein zeitliches Nacheinander ausschließt: Ihr Leib ist zwar derselbe wie der prä-mortale, aber in seiner Verwandlung und Verherrlichung (gloria) vergeistigt.
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2. FORMA ALS ACTUS Einer gängigen Auslegung der hylemorphischen These zufolge ist der Mensch „zusammengesetzt“ aus seinem Körper als seiner materia und der Seele als seiner forma. Diese Wiedergabe der hylemorphischen Grundposition insinuiert die Vorstellung, bei der materia und forma handle es sich um „Teile“ des Ganzen. Wird also gefragt, woraus der Mensch besteht, so lautet die Antwort: aus materiell körperlichen Teilen und zusätzlich aus einem formalen, geistigen oder mentalen Teil. Diese Vorstellung führt unweigerlich zur Frage, wie diese Teile eine Einheit bilden können. Die so gestellte Frage nach der Einheit rückt aber in ein anderes Licht, wenn man die forma nicht als „Teil“ versteht, sondern als actus, d. h. als Verwirklichung oder schlichtweg als Wirklichkeit der materia. Diese Deutung war in scholastischen Kreisen weit verbreitet und nannte sich Akt-Potenz-Deutung des Hylemorphismus. Diese Akt-Potenz-Auffassung sträubt sich gegen die Rede von Teilen, zumindest von Teilen in einem gleichberechtigten Sinn. Die forma ist jedenfalls nicht wie ein Teil, der den anderen materiellen Teilen hinzugefügt würde, um ein Ganzes zu ergeben. Die hylemorphische Grundintuition besagt zwar, dass das Ganze bzw. das konkrete Individuum mehr sei als die bloße Summe seiner Teile, aber dieses Mehr ist nicht zu verwechseln mit einem zusätzlichen Teil. Wenn dem so wäre, müsste man zusätzlich zu den Organen, Nerven, Knochen und Zellen noch ein weiteres Element suchen können, aus dem das jeweilige Lebewesen besteht. Aristoteles selber meint, das sei entweder unmöglich oder führe zu einem Regress. 2 Eine Silbe wie AB oder BA – so ein aristotelisches Beispiel – besteht aus den zwei Einzelbuchstaben A und B und keinem weiteren Element (). Das schließt aber nicht aus, dass die Silbe als Ganzes doch mehr ist als die sie konstituierenden Buchstaben. Dass das Ganze nicht gleichzusetzen ist mit der Summe der Elemente, ist schon daraus ersichtlich, dass die Silbe AB nicht dieselbe ist wie BA, obwohl beide aus denselben Buchstaben bestehen. 3 Aus dem aristotelischen Beispiel wird klar, dass es für die Konstitution des Ganzen kein zusätzliches Element braucht. Ein weiterer bildlicher Zugang zum Hylemorphismus setzt bei der Herstellung von Artefakten an. Das klassische Beispiel der Statue als eines aus materia und forma zusammengesetzten Ganzen (compositum, ) 2 3
ARISTOTELES, Metaphysik Z, 1041b, 21-27. Ebd., 1041b, 11-14.
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soll von ihrer Herstellung her betrachtet werden. Der Künstler hat zunächst einen Holzblock, aus dem er eine Figur schnitzen wird. Das Holz ist materia, aus der etwas Neues gemacht werden kann. Es bietet die Möglichkeit, bearbeitet zu werden und durch die Bearbeitung zu einer Statue zu werden. Ist die Statue hergestellt, ist sie in etwa immer noch Holz, insofern sie aus Holz gemacht wurde und daraus besteht. Man wird aber nicht mehr sagen, dass sie Holz, sondern dass sie hölzern ist. So meint Aristoteles: Einiges nun, was aus etwas als seinem Stoff () wird, nennt man, wenn es geworden ist, nicht jenes (den Stoff) selbst (), sondern nach Art von jenem (), z. B. die Bildsäule nicht Stein, sondern steinern. 4
Der neue Gegenstand wird nicht mehr nach dem genannt, woher er stammt und woraus er besteht, sondern nur mehr danach charakterisiert. Indem der Handwerker ein Artefakt herstellt, bewirkt er, dass etwas Mögliches zu etwas Realem, etwas Neuem wird. Der Schreinermeister versteht es, aus Holzbrettern ein Möbelstück, beispielsweise einen Kasten, herzustellen. Stellt er einen solchen her, so ist dieses hergestellte Artefakt zwar immer noch eine Menge von Brettern, es sind aber Bretter in einer neuen Konfiguration. Durch die Bearbeitung der Bretter entsteht ein Möbelstück, das neue Funktionen ausüben und für neue Zwecke verwendet werden kann. Das Verhältnis zwischen materia und forma wird also nach dieser Deutung als ein dynamisches verstanden: Aus Potenziellem wird Wirkliches! Aus Samen entstehen neue Pflanzen, aus verschiedenen Materialien werden neue Gegenstände hergestellt. Der Neuscholastiker Josef Donat gibt diese Deutung konzise wieder: Die materia verhält sich zur forma wie das Bestimmbare zum Bestimmenden, das Verwirklichbare zum Verwirklichenden, das Aufnehmende zum Aufgenommenen, die passive Potenz zum Akt, durch den sie verwirklichet wird: Itaque materia ad formam se habet sicut determinabile ad determinans, perfectibile ad perficiens, recipiens ad receptum, sicut potentia passiva ad actum suum, quo completur. 5
So gesehen, wird die forma als actus, d. h. als Realisierung oder Aktualisierung bzw. Wirklichkeit einer Sache verstanden. Es ist zwar mühsam, eine für möglichst viele Zielsetzungen befriedigende einheitliche Deutung des Begriffs der materia () zu finden. 4 5
Ebd., 1033a, 5ff. J. DONAT, Ontologia, Oeniponte (Innsbruck) 1953, 184.
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Hier soll aber die damit gemeinte Potenzialität hervorgehoben werden, allerdings nicht die reine Potenzialität. Diese trifft nur auf die sogenannte materia prima zu. Das dynamische Akt-Potenz Verständnis des Hylemorphismus setzt bei der unmittelbar vorausgehenden materia an, also bei der materia proxima, aus der Neues wird und aus der das Neue besteht oder konstituiert ist. Die materia proxima ist nicht reine Potenzialität, sondern immer schon konkrete Realität, d. h. geformte materia. Die Holzbretter sind insofern real, als sie als Bretter geformt sind, aber sie bieten die Möglichkeit, mehr aus ihnen zu machen, und der Same ist nicht reine Potenzialität, sondern bereits geformte Erde, aus der allerdings mehr werden kann. Reine materia, die in keiner forma realisiert ist, kann es nicht geben. Aus den aristotelischen Beispielen wird ersichtlich, inwiefern durch die forma und durch den Vorgang der informatio Neues entsteht. Die Natur bringt Neues hervor, und die Menschen stellen neue Dinge her, indem sie Vermögen oder Möglichkeiten vorhandener Dinge und Materialien verwirklichen. Durch die Realisierung, durch den actus, kommt es zu zusätzlichen neuen Potenzialitäten. Die neu entstandenen bzw. neu hergestellten Dinge haben neue Dispositionen, neue Vermögen und neue Funktionen, die die materia, aus der sie entstanden sind und nun bestehen, nicht hat. Bretter als Bretter kann der Mensch nicht benützen, um seine Kleider abzulegen; die Moleküle, aus denen ein Tisch besteht, sind nicht hart wie der Tisch selbst; die Bestandteile einer Bombe haben als solche noch nicht die Zerstörungskraft der Bombe selbst. Was das neu entstandene Ganze kann, kann die reine Ansammlung seiner Bestandteile noch nicht. Erst wenn die jeweiligen Bestandteile auf eine ganz bestimmte Art und Weise kombiniert sind, sind auch die neuen Potenzialitäten gegeben. 3. ENTSPRECHUNG ZWISCHEN MATERIA UND FORMA Aus etwas Vorgegebenem kann nicht Beliebiges werden: Es braucht eine Entsprechung zwischen dem Woraus einer Sache und der Sache selbst, also auch eine bestimmte Hinordnung der materia auf die forma. Eine Säge aus Kreide ist keine wirkliche Säge, weil man mit ihr nicht sägen kann, und um zu bestimmen, was ein Haus ist, reicht die Angabe seiner Funktionen des Schutzes vor Wind, Kälte und Regen nicht, man muss auch angeben, woraus ein Haus zu bestehen hat, denn nicht jedes beliebige Material ist für die Ausübung der genannten
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Funktionen geeignet. 6 Die Funktionen und Potenzialitäten der Säge und des Hauses greifen aber ihrerseits über jene hinaus, die der materia zukommen, aus der sie bestehen. Nach der hier vertretenen Deutung des Hylemorphismus ist die Einheit von materia und forma von der Dynamik des Werdens her zu verstehen. Die materia ist insofern eins mit der forma, als aus ihr etwas Neues geworden ist, das Woraus ist noch da und konstituiert das Neue. Das Woraus ist zwar in etwa eins mit dem Neuen. Das Neue ist aber mehr als das Woraus, indem es neue Vermögen hat. So gesehen ist die Rede von Teilen, die zusammengefügt werden müssten, um eine Einheit, ein compositum, zu ergeben, irreführend. Irreführend ist bereits nach Aristoteles die Rede von einem Zusammensein (), einer Verknüpfung () sowie einer Synthese () von materia und forma.7 Die Tatsache, dass ein bestimmtes Erz dreieckig ist, besteht nicht in der Zusammensetzung von zwei Teilen, dem Erz und dem Dreieckigsein, sie besteht auch nicht in einer Teilhabe () des einen am anderen, des Konkreten an der allgemeinen Form. 8 Thomas hebt das auch in seinem De anima-Kommentar hervor und betont, dass die Rede, die forma verbinde sich mit der materia, nicht mehr und nicht weniger besage, als dass die materia verwirklicht und somit Wirklichkeit sei: […] idem est materiam uniri formae, quod materiam esse in actu. 9 Actus darf somit nicht auf „Tätigkeit“ oder „Vollzug“ eingeengt werden. Seine hier relevante Bedeutung entspricht dem griechischen technischen Terminus . legt nahe, dass es sich um eine Wirklichkeit handelt, die am Ende eines Werdegangs oder einer Entstehung steht. Sie besagt ein Zum-Ziel-GekommenSein. Was folgt aus diesen Ausführungen für die Auslegung der hylemorphischen These, dass der menschliche Leib als materia eine Einheit mit der Seele als ihrer forma bildet? Eines ist jedenfalls klar geworden: Es gibt nicht den menschlichen Körper als solchen, der unabhängig von der Seele real wäre, der aber als Teil in einer näher zu bestimmenden Beziehung zu einem anderen Teil anderer Art stünde, nämlich zur Seele, und mit ihr eine Einheit bilden würde. Es braucht eine gewisse Entsprechung zwischen der materia und der forma, somit auch zwischen dem, woraus der Mensch besteht, und 6 7 8 9
ARISTOTELES, Metaphysik Z, 1043a, 14-20. Ebd., H, 1045b, 13. Ebd., 14f. THOMAS V. AQUIN, In de anima, 234.
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dem, was er in Wirklichkeit ist. Oportet autem materiam proportionatam esse formae […]. 10 Zur menschlichen Natur kann nicht ein beliebiger Körper gehören, sondern nur ein menschlicher. Es gibt keinen menschlichen Körper, der nicht als solcher durch die anima als seine forma lebte. Ein toter Körper ist kein menschlicher Körper. Dasselbe gilt vom Auge, der Hand, dem Fleisch und auch den Knochen: getrennt von der anima sind sie nicht mehr das, was sie sind; sie sind es nur mehr in einem äquivoken Sinn: Non est autem corpus humanum nisi quod est per unionem animae rationalis vivificatum: neque enim oculus, aut manus, aut pes, vel caro et os, anima separata, dicuntur nisi aequivoce. 11
Der Mensch ist zwar eine Einheit, die nicht auf die Menge der Zellen oder Organe, auf das also, woraus er besteht, reduziert werden könnte. Die Seele ist aber nicht ein zusätzlicher Teil, der diesen Mengen hinzukäme oder hinzugefügt werden müsste, um damit eine Einheit zu bilden. In De anima betont Aristoteles ausdrücklich, dass es nicht sinnvoll ist zu fragen, wie materia und forma eine Einheit bilden: Deshalb darf man nicht fragen, ob Seele und Leib eins seien, wie man auch nicht fragt, ob das Wachs und seine Form, und überhaupt, ob der Stoff jedes Dinges und das, was aus diesem Stoff gebildet ist, eins seien. 12
Dass der Mensch eine Seele hat, besagt dieser Auslegung zufolge, dass er ein Organismus ist, der tatsächlich lebt und Potenzialitäten und Vermögen hat, die ihn von anderen konkreten Individuen unterscheiden. Nach der geschilderten Akt-Potenz-Deutung des Hylemorphismus ist die Frage nach der Einheit des Menschen als aus zwei „Teilen“ bestehend, aus Körper und Seele, deshalb missverständlich, wenn nicht gar falsch gestellt, weil sie insinuiert, dass der Körper und die Seele auch getrennt existieren könnten. Das ist aber ausgeschlossen: Silben ohne Buchstaben; Häuser ohne Material; Statuen ohne Marmor, Holz oder sonstiges Material kann es nicht geben. Die konkreten Dinge und die einzelnen Lebewesen sind zwar Einheiten, aber ihre materia ist das, woraus sie geworden sind und woraus sie nun bestehen, und ihre forma ist das, was sie geworden und nun tatsächlich sind: So sagt Aristoteles konzise, dass die materia () und 10 11 12
THOMAS V. AQUIN, ScG IV, c. 99, nr. 4. Ebd., c. 37, nr. 4. ARISTOTELES, De anima, 412b, 6f.
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forma () eines ( ) sind, das eine dem Vermögen nach (), das andere der Wirklichkeit nach (). 13 Die hier präsentierte Deutung des hylemorphischen Standpunktes dürfte mit dem zeitgenössischen Emergentismus kompatibel sein: Aus der Kombination oder dem Zusammenwirken von Elementen können neue Eigenschaften oder aber auch neue Potenzialitäten, d. h. neue Vermögen, neue powers emergieren. Das Neue ist nicht lediglich eine Neuordnung dessen, was schon vorlag, aber es ist auch nicht so wie ein neues Element, das von außen hinzugekommen wäre. Und wenn man eine hinreichende Anzahl der richtigen Art von Zellen nimmt, die auf entsprechende Weise organisiert sind, so ergibt sich das Wunder des Bewusstseins, das Sinnenhaftigkeit, Emotion und rationales Denken beinhaltet. In jedem dieser Fälle ist das, was ‚emergiert‘, etwas qualitativ Neues […]. 14
Emergentistische Deutungen des Mentalen bzw. der menschlichen Seele führen zu dualistischen Positionen, wenn auch nicht zu substanz-dualistischen. Was atmet, isst, fühlt und denkt, ist ein und dasselbe Individuum. Ähnliches gilt auch für den hier geschilderten hylemorphischen Standpunkt. Die Seele ist nicht auf den biologischen Organismus reduzierbar, ist aber kein neues Individuum. Sowohl emergentistisch als hylemorphisch gilt: Das entwickelte Individuum hat neue Vermögen, einige davon sind auf die grundlegenden weder reduzierbar noch aus ihnen vorhersehbar: Emergent properties are not predictable even from the most exhaustive information concerning their ‚basal conditions‘ […]. Emergent properties, unlike those that are merely resultant, are neither explainable in terms of, nor reducible to, their basal conditions. 15
Die neuen emergenten Potenzialitäten bleiben rückgebunden und abhängig von der Basis, aus der sie erwuchsen, und die forma als actus kann nicht real sein, wenn sie nicht Verwirklichung von einer vorausliegenden materia ist.
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ARISTOTELES, Metaphysik Z, 1045b, 19. W. HASKER, Emergenter Dualismus und Auferstehung, in: G. Brüntrup (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 165-187, 180. J. KIM, Making Sense of Downward Causation, in: P. Andersen (Hg.), Minds, Bodies and Matter, Oxord 2000, 305-321, 308.
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4. DIE SEELE ALS ACTUS CORPORIS Die hylemorphische Auffassung der Seele geht auf Aristoteles zurück, der die Seele als die forma eines natürlichen Körpers bestimmt, dem potenziell Leben zukommt. 16 Die materia ist also nicht beliebig, sondern eine, die entsprechende Potenzialitäten hat. Aristoteles umschreibt die Seele unmittelbar darauf auch als erste Aktualität oder Wirklichkeit ( , actus primus) dieses Körpers. 17 Dass Aristoteles in seiner Begriffsbestimmung der Seele offensichtlich die forma mit der ersten Verwirklichung gleichsetzt, stützt die genannte dynamische Akt-PotenzInterpretation der hylemorphischen Grundintuition, wonach die forma die Verwirklichung von Möglichkeiten und somit die Wirklichkeit von etwas Gewordenem ist. Nach dieser Deutung ist der Mensch jedenfalls nicht Ergebnis einer Zusammenfügung des Körpers und der Seele als zweier auch getrennt denkbarer Teile. Die hylemorphische Bestimmung der Seele als erster Wirklichkeit des Organismus kommt naturalistischen Verständnissen des Menschen entgegen und scheint folglich jegliche Unsterblichkeitshoffnung auszuschließen. Wer sie vertritt, muss sich jedenfalls mit der Annahme, dass es mit dem biologischen Tod für das Ich oder das personale Selbst nicht ganz aus ist, schwertun. Will er konsequenter Aristoteliker sein, wird er sie sogar ablehnen. Wenn er glaubt, dass die menschliche Person der beseelte Organismus ist, kann er die Unsterblichkeitshoffnung höchstens insoweit teilen, als er annimmt, dass die ganze menschliche Person, also auch mit ihrem Leib, zur Auferstehung kommen wird. Die Seele als actus kann nicht von dem losgelöst existieren, wovon sie actus ist. Das erwähnt bereits Albertus Magnus als ersten Einwand gegen die aristotelische Deutung der menschlichen Seele. 18 Es scheint klar, dass der genannten Interpretation zufolge die Seele vom Körper nicht trennbar ist, wie ja auch schon Aristoteles insinuiert. 19 Wie geht nun Thomas damit um? Obwohl Thomas die Seele nicht substanz-dualistisch, sondern hylemorphistisch als Akt des Körpers (actus corporis) zu bestimmen bestrebt ist, 20 nimmt er doch an, dass ein Aspekt an ihr den Tod überdauert. Was über den Tod hinaus subsistiert und somit vom Körper trennbar 16 17 18 19 20
Vgl. ARISTOTELES, De anima II, 1, 412a, 21. Vgl. ebd., 412b, 5f. Vgl. ALBERTUS MAGNUS, De homine, 48. Vgl. ARISTOTELES, De anima, 413a, 3ff. Siehe dazu besonders: THOMAS V. AQUIN, Sth. Ia, q. 75, a. 1, c.
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ist, ist zwar nicht die ganze menschliche Seele, wohl aber jene Seite an ihr, die für die rationalen Vollzüge des Menschen verantwortlich ist. Subsistenz und Trennbarkeit charakterisieren nur jenes seelische Prinzip, das Universelles erkennen und somit Raum und Zeit übersteigen kann. Dieses Prinzip ist zwar nur ein Aspekt des Ganzen und ist als solches kein Individuum, keine eigentliche Substanz, die unter eine natürliche Art fiele, wohl aber etwas Konkretes, ein hoc aliquid. 21 Ansätze für diese Auffassung gibt es nach Thomas bereits im Corpus Aristotelicum: Das aktive intellektuelle Prinzip, den so genannten , intellectus agens, bestimmt auch Aristoteles als trennbar. Für dieses Prinzip kennt Aristoteles Prädikate wie „unsterblich“ und „ewig“. 22 Es ist allerdings fraglich, inwiefern dieses Prinzip etwas jedem Menschen Eigenes ist. Thomas sucht nach Stellen in De anima, in denen das Problem der Trennbarkeit dieses Prinzips erwähnt wird, das für die geistigen Erkenntnisakte verantwortlich ist. Thomas zielt jedenfalls darauf ab, den Unterschied zwischen dem aktiven Intellekt ( ) und dem Rest der menschlichen Seele zu betonen. 23 Er gesteht zwar, dass die überwiegenden Vermögen der menschlichen Seele nicht trennbar sind, insofern sie Vermögen des ganzen Menschen sind, betont aber als Ausnahme das intellektuelle Vermögen. Dieses ist anderer Art: […] videtur quod sit alterum genus animae ab aliis partibus animae, idest alterius naturae, et alio modo se habens […]. 24 Das Hauptargument für die Besonderheit des intellektiven Vermögens, das schon vor Aristoteles verbreitet war und im thomistischen Aristotelismus detaillierte Ausformungen erfahren hat, ist in nuce folgendes: Da es dem Menschen möglich ist, im Prinzip zu allem einen erkenntnismäßigen Zugang zu haben, kann sein Erkenntnisprinzip nicht materiell oder rein körperlich sein. Wäre es nämlich körperlich und räumlich ausgedehnt, müsste es bestimmt sein und wäre somit nicht mehr offen für alles: […] quia natura determinata illius organi corporei prohiberet cognitionem omnium corporum […]. 25 Wie weit es Thomas gelingt, konsistent die These zu verteidigen, dass das intellektuelle Prinzip auch ein vom Körper trennbarer Aspekt der individuellen Seele ist, ist umstritten. Er bemüht sich aber, sowohl 21
22 23 24 25
THOMAS V. AQUIN, Sth. Ia q. 75, a. 2, ad 1; siehe auch: Quaestio unica De Anima, in: Quaest. Disp., a.1. Vgl. ARISTOTELES, De anima, 430a, 24. Vgl. THOMAS V. AQUIN, In de anima, 166. Ebd., 268. THOMAS V. AQUIN, Sth. Ia q. 75, a. 2, c.
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die These, dass das aktive intellektuelle Prinzip etwas individuell Trennbares, als auch jene, dass sie actus des Körpers ist, zu verteidigen. Die Seele ist jedenfalls jenes Moment, wodurch in erster Linie das lebendige Wesen lebt. Sie ist das, wodurch wir Menschen uns entfalten, wahrnehmen und empfinden sowie geistig erkennen, und als solches ist sie die forma des Körpers: Hoc ergo principium quo primo intelligimus, sive dicatur intellectus, sive anima intellectiva, est forma corporis. 26 Das Corpus Thomisticum ist sehr umfangreich. Man kann darin Stellen finden, in denen Thomas von den Seelen auch als substantiae separatae spricht, d. h. als individuellen, vom Leib getrennten Substanzen. In der Auslegung der relevanten Stellen gibt es unterschiedliche Auffassungen. So argumentieren z. B. Robert Pasnau und Richard Swinburne, dass für Thomas trotz allem die separierten Seelen nicht die menschlichen Personen sind, deren Seelen sie waren, wohingegen Eleonore Stump genau für diese Position eintritt. Sie betont, dass diese Seelen sowohl über sinnenhaftes wie intellektuelles Wissen verfügen, ja dass sie schließlich sogar Erfahrungen und Leidenschaften haben. 27 Darin dürfte sie allerdings übers Ziel hinausschießen, denn für Thomas haben Leidenschaften per definitionem einen wesentlichen Bezug zum Körper (transmutatio corporis). Körperlose Wesen können somit keine Leidenschaften haben. Sie können erst recht keine sinnenhaften Erfahrungen machen, weil sie keine sinnlichen Organe haben. Andererseits sollte Eleonore Stump Recht behalten, insofern Thomas den Glauben verteidigt, dass im Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung die Seelen der Verstorbenen auch gereinigt werden bzw. unter der ewigen Gottferne (damnatio) leiden. Fragt man sich, wer gereinigt werde und leide, so sind es zwar die separierten Seelen, aber diese sind auch die Wesen, die vor dem Tode auf eine bestimmte Weise gelebt haben. Wenn dem nicht so wäre, könnte man die Rede von der Bestrafung nicht verstehen. Sind das also nicht doch substanzdualistische Intuitionen, von denen sich Thomas trotz seiner hylemorphistischen Tendenzen nicht ganz entledigen konnte? Es ist zu vermuten, dass für Thomas der Zustand zwischen dem individuellen Tod und dem allgemeinen, universellen judicium mit der allgemeinen Auferstehung der Toten ein großes Problem war: Was sollte als Garant der personalen Identität diese Zwischendauer über26 27
Ebd., q. 76, a. 1, c. Vgl. E. STUMP, Auferstehung, Wiederzusammensetzung und Rekonstitution, in: G. Brüntrup (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 81-100, 85.
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brücken, wenn nicht die Seele, und zwar die Seele ohne Körper? Und wenn es die Seele ist, wie soll man sie denken, ohne in Inkonsistenzen zu fallen? Der Substanz-Dualist tut sich jedenfalls leichter: er oder sie kann die Seele als etwas Individuelles auffassen, das nicht mehr vom Körper abhängig ist. Aufgrund platonischer Prämissen wird er oder sie sogar dazu neigen, sie als etwas Vollkommeneres zu bestimmen als den Menschen, dessen Seele sie war. Obwohl Thomas den strikt platonischen Dualismus ablehnt, stellt er sich der Frage, wie der Zustand der anima separata aussehen soll: ist er vollkommener als der mit dem Körper vereinigte? Seine Antwort lautet: der Zustand der mit dem Leib vereinigten Seele ist vollkommener als der der getrennten, obwohl letzterer unter einer bestimmten Rücksicht (secundum quid) Gott ähnlicher sein mag. An sich betrachtet (per se oder simpliciter loquendo) ist jener Zustand besser, der der Natur (conditio naturae) des jeweiligen Trägers, d. h. in unserem Fall dem individuellen Menschen, am besten entspricht: nur so, nämlich seiner Natur entsprechend, imitiert etwas am besten die Vollkommenheit Gottes und kann so als vollkommener gelten. So ist auch das Herz eines Lebewesens vollkommener, wenn es bewegt ist, als wenn es ruht; seine Vollkommenheit setzt voraus, dass es in Bewegung ist; wäre es unbewegt wie Gott, würde es zugrunde gehen: […] ceteris paribus perfectior est status animae in corpore quam extra corpus, quia est pars totius compositi, et omnis pars integralis materialis est respectu totius; quamvis sit Deo conformior secundum quid. Tunc enim, simpliciter loquendo, est aliquid maxime Deo conforme quando habet quidquid suae naturae conditio requirit, quia tunc perfectionem divinam maxime imitatur; unde cor animalis magis est conforme Deo immobili quando movetur, quam quando quiescit […]. 28
Eleonore Stump bemüht sich, eine gewisse Konsistenz der Stellen über die animae separatae des Corpus Thomisticum aufzuzeigen, indem sie auf die Unterscheidung zwischen Konstitution und Identität zurückgreift. Darauf gründet auch die Konstitionstheorie von Lynn Baker: Ein Lebewesen ist nicht identisch mit dem, woraus es konstituiert ist. Demnach könne ein menschliches Wesen existieren – so Eleonore Stump –, ohne sich im Normalzustand seines Körpers zu befinden: Der Position des Aquinaten zufolge kann ein menschliches Wesen selbst den Verlust seines gesamten Körpers überleben, wenn die substantielle Form verbleibt. […] Deshalb […] ist für Thomas die Existenz der vom Kör28
THOMAS VON AQUIN, 4 Sent. d. 43, q. 1, a. 1, qc. 1, ad 4.
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per separierten substantiellen Form hinreichend für die Existenz des menschlichen Wesens, dessen substantielle Form sie ist. Sokrates kann weiterexistieren, wenn alles, was von ihm bleibt, die separierte Seele ist. 29
Da Konstitution nicht Identität ist, könne ein partikuläres Individuum mit weniger als der normalen, natürlichen Vollzahl seiner Konstituenten existieren. Trotz dieser Bemühungen von Eleonore Stump kann man beim besten Willen die zahllosen Stellen nicht außer Acht lassen, in denen Thomas die wesentliche Beziehung eines menschlichen Wesens zu seinem Körper hervorhebt. Bereits in der definitio von homo kann man nicht auf die forma substantialis allein rekurrieren, man muss auch die materia – wenn auch nur die allgemeine – angeben. Es sind dies Knochen, Sehnen, Fleisch usw. Daran hält Thomas im Sinne des Aristoteles fest. Vieles spricht dafür, dass für Thomas die anima separata nicht die menschliche Person ist. Unsterblichkeit der menschlichen Person ist somit nicht durch die Unsterblichkeit der separierten anima allein gewährleistet. Unsterblichkeit der Person ist letztlich auch für Thomas nur durch das Wunder der Auferstehung möglich, durch die der ganze Mensch mit demselben Leib zu neuem Leben erweckt wird. Nähme man an, dass der Mensch mit einem neuen numerisch verschiedenen Leib auferstehe oder dass Gott ein Duplikat seines Körpers erschaffen würde, so wäre das keine eigentliche Auferstehung. Auferstehung gibt es nur, wenn der Mensch mit seinem eigenen Leib aufersteht. Besonders die Kirchenväter und bereits Paulus betonen, dass der erste der Auferstandenen, Christus, mit seinem eigenen Leib und nicht mit einem Schein-Leib oder mit einem anderen Leib erstanden sei. Thomas schlägt unmissverständlich in diese Kerbe. 30 Wer wie Lynne Baker Auferstehung so versteht, dass Gott einen neuen Körper erschafft, widerspricht nicht nur dieser Tradition, sondern gibt auch die These der essentiellen Beziehung zwischen der menschlichen Person und ihrem Körper preis. Wie soll aber der “gap” zwischen Tod und Auferstehung verstanden werden, um die Identität des auferstandenen mit dem prä-mortalen Körper zu retten? Wenn es ein Dazwischen zwischen dem individuellen Tod und der Auferstehung gibt, so ist es nahe liegend, eine Instanz zu postulieren, die die Identität des Verstorbenen mit dem Auf29 30
STUMP, Auferstehung, 94f. Siehe dazu auch: B. NIEDERBACHER, The Same Body again? Thomas Aquinas on the Numerical Identity of the Resurrected Body, in: G. Gasser (Hg.), Personal Identity and Resurrection. How Do We Survive Our Death?, Farnham 2010, 145-159.
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erstandenen garantiert. Was garantiert die personale Identität zwischen dem jetzigen Individuum und dem Auferstandenen? Was ist ausschlaggebend dafür, dass es sich beim Auferstandenen um denselben Körper handelt? Oder soll man gar eine Unterbrechung der Existenz annehmen? Dann gäbe es zwei zeitliche Anfänge desselben Individuums bzw. eine Art interrupted existence, und das ist doch auszuschließen. Hylemorphisch gesehen, garantiert die forma substantialis die Identität eines Lebewesens. Ein Lebewesen behält denselben Leib aufgrund seiner forma, d. h. seiner Seele. Soll also der Mensch mit demselben Leib auferstehen, so braucht es als Garant dafür die Selbigkeit der Seele. Nur wenn die Seele den organischen Tod überlebt, könne sie die personale Identität des Auferstandenen garantieren. Für einen damaligen Aristoteliker konnte es zweifelsohne nicht die ganze Seele sein, die überlebt, denn die vegetativen und sensitiven sowie emotionalen seelischen Funktionen sind erwiesenermaßen vom Körper abhängig, sondern nur die intellektive Vernunftseele. Denn die Funktionen und Vermögen dieser Seele und nur dieser bzw. nur dieses „Teils“ der Seele galten als vom Körper unabhängig. Diese Lösung wird aber um einen hohen Preis erkauft. Sie muss letztlich die Einheit und Einfachheit der Seele als forma preisgeben. Die Annahme, dass ein Teil der Seele subsistiert, widerspricht – zumindest prima facie – der hier vertretenen und verteidigten Deutung der forma als actus corporis. Als actus kann sie – wie mehrmals gesehen – nicht losgelöst von einem Organismus wirklich sein. So gesehen gelingt es Thomas nicht, auf philosophisch überzeugende und innerlich kohärente Weise die aristotelisch hylemorphische Deutung der Seele mit der christlichen Unsterblichkeitshoffnung in Einklang zu bringen. So meint Wolfgang Kluxen, dass die philosophische Unsterblichkeitslehre des Thomas „einigermaßen unbefriedigend“ ist: Vielmehr ist deutlich, daß erst der Auferstehungsglaube das entscheidende Wort sagt. […] Die abgeschiedene Seele ist jenes ‚Überbleibsel‘, dessen ontologischer Sinn die Sicherung der Identität zwischen dem Verstorbenen und dem Auferstandenen ist […]. 31
Thomas habe andererseits nicht den Anspruch erhoben, die heiklen Fragen nach der Unsterblichkeit und Identität der Auferstandenen 31
W. KLUXEN, Seele und Unsterblichkeit bei Thomas von Aquin, in: K. Kremer (Hg.), Seele: Ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person, Leiden/Köln 1984, 66-83, 83.
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allein philosophisch zu lösen. Die letzten Antworten, zu denen er steht, stammten schließlich aus dem Glauben. In seiner Stellungnahme zur Vermittlungsleistung des Hl. Thomas hebt Wolfgang Kluxen allerdings auch hervor, dass Thomas seine philosophischen Thesen nicht mit religiösen Überzeugungen vermengt: „Es ist nicht Sache der Philosophie, religiöse Fragen zu beantworten.“ 32 Es sei schließlich die bessere Philosophie, in der Aporie zu bleiben und das Denken offen zu lassen. Daher sollte man Thomas nicht vorwerfen, dass er rein philosophisch nicht zu einem befriedigenden Abschluss kommt. Wie sieht allerdings das angeschnittene Problem vor neu-platonischem Hintergrund aus? Eröffnet uns diese auch für Thomas so prägende Tradition nicht neue Alternativen in der Deutung des hylemorphischen Verständnisses von Leib und Seele? 5. NEU-PLATONISCHE HYLEMORPHISCHE DEUTUNG DER SEELE Vorschnell wäre die Reaktion, die neu-platonische Auffassung und die hylemorphische Deutung der Seele seien unverträglich. Bereits Albertus Magnus war bemüht, sie unter einen Hut zu bringen. Die neu-platonisch gefärbte Unterscheidung zwischen der materiell körperlichen und der seelisch geistigen Wirklichkeit entspricht nicht der modernen Cartesianischen Dichotomie zwischen dem Physikalischen und dem Mentalen. Der moderne Begriff von der Natur und der körperlichen Wirklichkeit ist geprägt von der Physik und Chemie, wohingegen im Neu-Platonismus die Natur auch als beseeltes agens gilt. Für Albert kann jedes Werk der Natur, alles, was die Natur hervorbringt, als etwas verstanden werden, das auch Werk des Geistes, der intelligentia ist: Omne opus naturae est opus intelligentiae 33. Es gibt zwar Unterschiede zwischen den Elementen, Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen, letztlich ist aber alles beseelt. Für Albert sowie für seinen Schüler Thomas ist bereits der Körper als Körper reicher als eine Kombination oder complexio von Elementen und Mineralien. Um ihn als körperlichen Organismus verstehen zu können, muss man nach Albert zu erfassen versuchen, wie die höheren Funktionen die unteren bestimmen. Die unteren sind – bildlich 32 33
Ebd. ALBERTUS MAGNUS, De natura et origine animae, 38.
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gesprochen – Werkzeuge der höheren. Schon allein deshalb sind die animalischen Funktionen im Menschen anders zu verstehen als in den Tieren, den bruta animalia. So werden beispielsweise anstelle der Vorderfüße bei den Vierbeinern beim Menschen Hände gebildet, die als Werkzeuge für seine Vernunfttätigkeiten fungieren. Man denke auch an das menschliche Ohr, welches dem geschulten Hören dient, zu dem nur der Intellekt fähig ist. 34 Die Formen können nicht in beliebiger materia realisiert werden oder beliebig aus der materia herausgezogen werden (educuntur). Die unterschiedlichen natürlichen Arten und Formen hängen mit unterschiedlichen Potenzialitäten der Materie zusammen. Der dafür verwendete technische Ausdruck incohatio drückt diese Beziehung der Formen zu den grundlegenden oder sie ermöglichenden Potenzialitäten in der vorausliegenden materia aus. 35 Die incohatio formae ist in gewisser Weise Anfangs- oder Keimform, etwas Unvollkommenes, das danach strebt, vervollkommnet zu werden. Obwohl – wie gesehen – der neu-platonische Rahmen den Unterschied zwischen Geistigem und Lebendigem einerseits und Materiellem und Leblosem anderseits relativiert und obwohl die gesamte Natur als beseeltes agens aufgefasst wird, bleiben die Unterschiede bestehen zwischen rein körperlichen oder materiellen Elementen und ihren Komplexionen einerseits und den Lebewesen mit ihren Lebensfunktionen andererseits. Aus diesen Unterschieden kann man einiges über die eigentliche Natur der Seele erschließen und verstehen, inwiefern sich die Seele über die Natur erhebt und dem ersten Beweger gleicht, aber auch, inwiefern sie in die Materie versenkt und eingetaucht ist: Ex his igitur scitur vere natura vegetabilis animae et quantum elevatur supra naturam et quantum accedit ad intellectum primum moventem et quantum immergitur et deprimitur in materiam. 36
Wegen des Unterschieds zwischen den unteren animalischen und den höheren intellektiven Funktionen zeigt Albert Verständnis für dualistische Formulierungen. Deshalb wird auch gesagt – so Albert –, dass Gott die Vernunftseele aus nichts Vorausliegendem erschafft und dass der Intellekt von außerhalb der Materie in den Embryo kommt. Albert spezifiziert aber den Sinn dieses „von außen“. Gott als die letzte Ursache der gesamten Wirklichkeit ist nicht wie ein sonstiges von außen 34 35 36
Vgl. ebd., 88. Vgl. ebd., 46. Ebd., 68; siehe auch ANONYMUS, Liber de Causis, Prop. XVI-XXIV.
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wirkendes agens. Als der allgemein tätige Intellekt ist er von den geschaffenen Dingen und Lebewesen weder räumlich noch örtlich getrennt, sondern vielmehr innerlicher als irgendwelche Naturprinzipien. Die Naturprinzipien können zudem nur als von ihm bewegte und geformte etwas bewirken: […] hoc modo a rebus generatis intellectus universaliter agens non distat ab eis per situm et locum, cum potius sit intimior rebus naturalibus quam aliqua naturae principia […] nec principia naturae aliquid agunt vel agere possunt, nisi mota ab ipso et informata per ipsum. 37
Falsch wäre es, Albert die Ansicht zu unterstellen, der organische menschliche Körper entstehe mit seinen vegetativen und sensitiven Funktionen allein aufgrund von Naturgesetzmäßigkeiten, seine geistige Vernunftseele – weil anderer Art – werde ihm hingegen vom Schöpfer oder der causa prima eingepflanzt. Die jeweils höheren Funktionen setzen für ihre Realisierung untere voraus; der Hervorgang der höheren Vermögen braucht Anfangsgründe oder Keime (incohationes) in den grundlegenderen Vermögen. Die jeweilige Verwirklichung ist aber nur aufgrund von höheren Kräften möglich, die in allen Fällen letztlich auf den ersten Beweger zurückgehen. So sagt Albert ausdrücklich, dass auch im Menschen das Vegetative seine incohatio, seinen Keim- oder Anfangsrund im Materiellen und in der ersten Wirklichkeit des zu belebenden Substanziellen hat, und wie das Sinnenhafte seine incohatio im Vegetativen, so hat das Vernunfthafte seinerseits seine incohatio im Sinnenhaften. Die konkreten Hervorgänge sind aber nur möglich aufgrund der Einwirkung der geistigintellektuellen Kraft. Als Vorgänge allein aus der Materie heraus wären sie unverständlich. 38 Der Mensch ist mit seinen spezifischen, auch intellektiven, Fähigkeiten eingebettet in den gesamten Weltverlauf, an welchem auch die niederen Bestandteile, die Atome, die präbiotischen Moleküle oder die einfachen und zusammengesetzten Naturkörper mit ihren formae Anteil haben. So hebt Ingrid Craemer-Ruegenberg die Korrespondenz hervor, auf die Albert besonders viel Wert legt, zwischen materiellem Träger einerseits und Formgebung andererseits. Teile davon muten für Ingrid Craemer-Ruegenberger geradezu modern evolutionistisch an:
37 38
Ebd., 90. Vgl. ebd., 88.
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Für die Stufen des Lebendigen, die gemeinhin als Phasen auch der biologischen Evolution gedeutet werden, wird eine solche Koordination einhellig akzeptiert, gleichgültig, wie der Evolutionsverlauf als solcher verstanden wird. 39
Heute unterscheiden wir zwischen bottom-up-causality, den kausalen Wirkungen von unten nach oben, und der top-down-causality (downward-causation) der umgekehrten kausalen Richtung. Naturalisten neigen dazu, nur die erste Art von kausaler Beziehung anzunehmen. Es könne letztlich nur von der unteren molekular-biologischen Ebene aus echte kausale Wirkung geben. Jaegwon Kim zeigt zwar Verständnis für Redeweisen einer kausalen Wirkung von oben nach unten. Als konsequenter Physikalist lehnt er allerdings die Postulierung derartiger kausaler Einflüsse auf der ontologischen Ebene ab: Es könne nicht Wirkungen von Nachgeordnetem auf Vorgeordnetes geben, was – so gesehen – durchaus einleuchtend ist. Heuristische und erklärungsmäßige Redeweisen über Bestimmungen von oben nach unten sind andererseits für Jaegwon Kim durchaus denkbar und sogar hilfreich. 40 Heutige Kausalitätsdebatten leiden unter einem zu eingeengten Verständnis von Kausalität. Demgegenüber unterscheiden die scholastischen Zugänge zwischen verschiedenen Arten von kausalen Relationen. Man klammert folglich das Problem der Bestimmungsbeziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Teilen nicht aus. Die Funktionen und die Vermögen der Teile sind nämlich von dem abhängig, wovon sie Teile sind. Einsichtig wird das im Umgang mit Artefakten und ihrem design. Was die Funktion oder der kausale Beitrag eines Teiles für das Funktionieren des Ganzen einer Maschine ist, ist von der Art und der Funktion der Maschine abhängig. Diese Abhängigkeitsbeziehungen sind keine kausalen Beziehungen im Sinne der Ereigniskausalität, denn diese setzt ein klares zeitliches Nacheinander voraus. Sie spielen aber dennoch eine kausale Rolle als Bestimmung der Funktionen und Potenzialitäten der Teile von Seiten des Ganzen. Die in diesem Sinne postulierten Beziehungen sind unabhängig von der zeitlichen Ordnung und der Art der Entstehung des Ganzen. Versteht man top-downKausalität in diesem Sinne, erübrigen sich die gängigen Einwände, die davon ausgehen, dass kausale Bestimmungen allesamt ein zeitliches Nacheinander von Ursache und Wirkung voraussetzen. 39
40
I. CRAEMER-RUEGENBERG, Die Seele als Form einer Hierarchie von Formen, in: G. Meyer/A. Zimmermann (Hg.), Albertus Magnus, doctor universalis, Mainz 1980, 5988, 85. Vgl. KIM, Making Sense, 320.
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Nach Albert gibt es – wie für die Neu-Platoniker im allgemeinen – eindeutig kausale Wirkungen von oben nach unten, von den höheren auf die unteren Funktionen: So wie die vegetative Seele bei den Pflanzen in die ihnen zugrundeliegende Natur oder Materie einwirkt und so wie die sinnenhafte Seele bei den Sinnenwesen in die vegetative Seele einwirkt, so prägt die rationale Natur beim Menschen die sinnlichen Funktionen und durch diese die vegetativen und so schließlich die Natur. Das Ziel dieser Prägungen und Einwirkungen ist die Entfaltung des Menschen in seiner Form als Mensch bzw. in seiner anima rationalis, damit m. a.W. jeder Vollzug des organischen Körpers zur Form des Vernunfthaften hin vollendet wird: […] ut omnis actio corporis ad formam rationabilis perficiatur. 41 Aufgrund seiner anima als anima rationalis unterscheidet sich der Mensch von den nicht vernunftbegabten Wesen sehr wohl auch in seinen animalischen Funktionen. Man stuft die animalischen Funktionen des Menschen nicht richtig ein und kann sie in ihrer Eigenart nicht adäquat verstehen, wenn man sie in Absehung von den höheren Funktionen betrachtet. Albert betont ausdrücklich, dass sich der Mensch auch in seinem Fleisch, in seinen Nerven und in seinen Knochen in dem, was sie eigentlich sollen und sind, von den anderen Lebewesen unterscheidet: Propter quod carnes hominis et ossa et huiusmodi non conveniunt in forma et specie et ratione carnibus et nervis animalium brutorum. 42 Im Sinne des Timaios könnten wir sagen, auch die menschlichen Knochen seien beseelt, aber anders beseelt als in anderen Lebewesen. Die ontologische These im Hintergrund besagt, dass die letzte Form, auf die hin sich das Individuum entwickelt, die vorausliegenden Formen bestimmt. Hat man Probleme mit einer kausalen Deutung dieser These, kann man sie zumindest teleologisch verstehen: Die vorausliegenden Potenzialitäten sind auf die letzte Entwicklungsform hin geordnet. 43 Alberts Neu-Platonismus führt nicht zu einem substanz-dualistischen Seelenverständnis. Man darf Albert nicht die These unterstellen, auf der einen Seite hätten wir es mit einem rein animalischen Körper, auf der anderen mit einer ganz anderen Art von Wirklichkeit zu tun, nämlich einer geistigen, die für die intellektuellen Funktionen zuständig wäre. Die menschliche Seele, die rationalis, sensitiva und vegetativa zugleich ist, bestimmt den ganzen Menschen, also auch seine Animalität und Körperlichkeit. 41 42 43
ALBERTUS MAGNUS, De natura et origine animae, 94. Ebd. Vgl. ebd., 96.
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6. AUFERSTEHUNGSHOFFNUNG ALS HOFFNUNG AUF VERWANDLUNG Wir haben gesehen, dass es umstritten ist, wie weit Thomas eine konsistente und im ganzen Werk konsequente philosophisch vertretbare Lösung der Unsterblichkeitsfrage entwickelt hat. Unabhängig von Auslegungsfragen ist aber die Ansicht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Thomas mit seinen hylemorphischen Ausführungen aristotelisch und mit den Thesen über die animae separatae platonisch denkt. Allerdings, so plausibel diese Einordnung auch sein mag, sie soll nicht dazu verleiten, die in beiden Traditionssträngen wirksame Intuition zu übersehen, dass die Unsterblichkeits- bzw. Auferstehungshoffnung als Hoffnung auf eine Verwandlung und Angleichung (assimilatio) an die Wirklichkeit Gottes, der causa prima, zu deuten ist. Die erhoffte jenseitige Existenz ist demnach eine gottähnliche Existenz, die die Grenzen von Raum und Zeit übersteigt. Gott als causa prima wird in beiden Traditionen als simplex bestimmt, d. h. als ganz und gar unzusammengesetzt. Gott ist im Aristotelismus reiner Akt (actus purus), kein von und , und Gott übersteigt in der neu-platonischen Tradition jegliche Kategorie, er ist ! Wenn nun Gott simplex ist, unterliegt er weder dem Fluss der Zeit noch ist er räumlich ausgedehnt. Beide Traditionsstränge setzen eine relativistische Zeit-Raum-Vorstellung in dem Sinne voraus, dass die Zeit von Veränderungen und der Raum von ausgedehnten Objekten abhängig ist. Absolute Zeit ohne Veränderung und absoluten Raum ohne Relationen zwischen ausgedehnten Dingen gibt es nicht. Da Gott als actus purus und vollkommen simplex keiner Veränderung unterliegt, kennt er keine Zeit und wird folglich auch als zeitlos bestimmt, und seine Individuierung kennt keine räumliche Lokalisierung. Die Ewigkeit Gottes wird weder als endlose Zeit noch als ein stehendes Jetzt (nunc stans) aufgefasst, sondern als ein „alles zugleich“ (totum simul). 44 Diese Ewigkeitsauffassung unterscheidet sich vom zeitgenössischen Äternalismus, der sich zwar vom Präsentismus absetzt, aber Ewigkeit als unendliche Ausdehnung bestimmt und somit eine zeitliche Ordnung voraussetzt. Ist ein Wesen in der Ewigkeit sowohl im aristotelischen als auch neu-platonischen Sinn, so kennt es kein Früher und kein Später (prius et posterius), es kennt also keine Sukzession von Zeitpunkten. 44
Vgl. THOMAS V. AQUIN, Sth. Ia q. X; PLOTIN, Enneade III 7; ANONYMUS, Liber de causis, Prop. XXIX.
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Die klassische scholastische Ewigkeitsauffassung dürfte sich zweifelsohne von jener des durchschnittlichen Christen unterscheiden, entspricht aber einer konsequent philosophisch durchdachten Auffassung Gottes als der causa prima der gesamten Wirklichkeit. Wird nun die Unsterblichkeit als Angleichung an die Wirklichkeit dieser causa gedeutet, so darf sie nicht als unendlich zeitliches Fortbestehen verstanden werden. Die genannte assimilatio an Gott bedeutet Überwindung und Transzendierung von Zeit. Thomas gesteht zwar, dass es für uns Menschen in unserer zeitlichen Daseinsweise unmöglich ist, uns vorzustellen, wie es ist, zeitlos zu sein. 45 Er unterscheidet aber zwischen dem per se-Zustand und der Vorstellung dieses Zustandes relativ zu unseren Vorstellungsvermögen, also quoad nos. Relativ zu unserem Sprechen, Denken und Vorstellen gibt es in diesem göttlichen Zustand ein Nacheinander, aber nicht per se. 46 So wie wir uns nicht vorstellen können, wie es für Gott ist, totum simul und somit vollkommen außer der Zeit zu sein, so tun wir uns schwer, uns vorzustellen, wie eine Angleichung an diesen Zustand, in dem es kein Nacheinander gibt, sein soll. Per se muss aber ein derartiger Zustand, nur weil wir ihn uns nicht vorstellen können, weder für die animae separatae noch für die Auferstandenen ausgeschlossen werden. Sollte es nun per se kein zeitliches Nacheinander im Jenseits geben, wäre es denkbar, dass der Eintritt in diesen Zustand der Abwesenheit von Zeit (im Sinne der assimilatio an Gott) mit dem biologischen Tod übereinstimmt. Per se gesehen, wäre daher eine Koinzidenz zwischen dem biologischen Tod und der individuellen Auferstehung vertretbar. Nimmt man das an, könnte man den dornigen Problemen ausweichen, die sich – wie gesehen – aus der Annahme einer Zwischenzeit zwischen dem Tod und der Auferstehung ergeben. In der Tat, verschiedene zeitgenössische Theologen plädieren, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, für die Koinzidenzthese: Im Tod geschieht die Auferstehung der Toten. Man nimmt an, dass […] jeder Sterbende aus der Zeit in die Zeitlosigkeit Gottes hineinstirbt und somit im Tod auch sofort den Jüngsten Tag und die Totenerweckung erreicht. 47 45 46 47
THOMAS V. AQUIN, Sth. Ia q. 10, a. 1. Siehe auch: PLOTIN, Enneade V 1, 7. G. GRESHAKE, ‚Unsterblichkeit der Seele‘ und ‚Auferstehung des Leibes‘, in: G. Brüntrup (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 25-42, 28.
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Diese Auffassung ist kompatibel mit der Ganztodtheorie, der zufolge der Mensch mit seinem biologischen Tod ganz stirbt, aber im selben Augenblick in den neuen Aeon, in das neue Leben in Gott aufgenommen wird. So bemüht man sich, die christliche Hoffnung über den Tod hinaus im gegenwärtigen Welt- und Menschenbild denkbar zu machen, ohne auf eine leibfreie Seele rekurrieren zu müssen. Obwohl die angedeutete These der Koinzidenz zwischen Tod und Auferstehung Deutungsvorteile bietet, stößt sie auf Widerstände. In seiner Kritik der These fragt beispielsweise Joseph Ratzinger: Kann ein Mensch ganz fertig und am Ende sein, solange seinetwegen noch gelitten wird, solange Schuld, die von ihm ausgeht, auf Erden weiterglimmt und Menschen leiden macht? 48
Joseph Ratzinger betont die reale Differenz zwischen dem partikulären und dem allgemeinen judicium am Ende aller Zeit. Zwischen biologischem Tod und Auferstehung brauche es eine Phase der Läuterung bzw. der selbstverschuldeten Strafe. Factum ist, dass auch Thomas für ein Dazwischen zwischen Tod und Auferstehung plädiert. Das Dazwischen ist das sogenannte aevum, ein medium, ein Drittes, zwischen der Ewigkeit Gottes und der Zeitlichkeit hier auf Erden. 49 Die Angleichung an Gott kann nämlich keine vollkommene sein, auch in Hinblick auf die Ewigkeit nicht. Obwohl es im aevum nach Thomas per se kein Nacheinander gibt, ist nicht auszuschließen, dass die aeviterna, also die Wesen in diesem Zustand, per accidens mit einem Nacheinander im Sinne eines zeitlichen Ablaufes verbunden sein können. Thomas nimmt Gradunterschiede dieses Zwischenzustandes an: Je näher ein Wesen an die Herrlichkeit und Ewigkeit Gottes heranrückt, umso größer seine Unveränderlichkeit und somit Zeitlosigkeit. Thomas investiert viel Spekulationskraft, um diesen Zustand möglichst widerspruchsfrei darzustellen, in dem es per se kein zeitliches Nacheinander, aber dennoch per accidens Läuterung und Buße gibt. Damit zusammenhängende Probleme wurden bereits im Kontext der Beschreibung der Vermögen der animae separatae genannt. Weder die animae separatae noch die auferstandenen beati können Gott vollkommen ähnlich sein. Thomas verteidigt zwar die These, dass es nur ein aevum gibt – so wie es nur eine Zeit gibt, und nicht je nach Individuum verschiedene Zeiten –, steht aber dennoch zur Intuition, 48 49
J. RATZINGER, Eschatologie. Tod und ewiges Leben, Regensburg 2007, 151. Vgl. THOMAS V. AQUIN, Sth. Ia q. 10, a. 5 und 6.
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dass das aevum unterschiedlich erlebt wird. Die Erlösten und die Gott ganz nahe Stehenden sind in ihrem Glück so erfüllt, dass sie seiner Ewigkeit näher stehen als die Verdammten. In ihrem Glück kennen sie kein Nacheinander, sondern sie erleben alles zugleich (totum simul). Von den Verdammten hingegen, meint Thomas, müsse man annehmen, sie seien im aevum wie in der Zeit: […] in inferno non est vera aeternitas, sed magis tempus. 50 In ihren Qualen erleben sie eine Art Nacheinander. Qualen sind nämlich im Unterschied zur delectatio ereignishaft. 51 An dieser Stelle kann nicht auf die vielfältigen Fragen eingegangen werden, die sich aus der Postulierung des aevums ergeben, Thomas konnte aber schon allein wegen der Annahme der Läuterung nach dem Tode oder wegen einer Art Fegfeuer keine per se -Koinzidenz zwischen Tod und Auferstehung annehmen. Läuterung ohne Veränderung ist undenkbar, und Veränderung ist inkompatibel mit göttlicher Ewigkeit. Dennoch, auch dagegen gibt es Einwände, die in der Hochscholastik in zahllosen quaestiones diskutiert wurden. Wert gelegt sei hier auf die angesprochene Intuition, dass Unsterblichkeit bzw. Auferstehung von Gottes Ewigkeit her zu denken sind. Die Angleichung und Aufnahme in die Herrlichkeit Gottes beinhalten eine Verwandlung, und diese impliziert – so sahen wir – eine Überwindung der Kategorie der Zeit, aber auch jener des Raumes. Schwierig ist es, diese Überwindung so zu deuten, dass der Glaube daran zu keinen Widersprüchen führt. Ist es – wie gesehen – bereits für die Zeit dornig, um so schwieriger ist eine möglichst konsistente Klärung der räumlichen Überwindung. Wie soll die Transformation der Angleichung an Gott des körperlichen Organismus aussehen, ohne dass seine Identität oder Natur verlorengeht? Trotz der vielen Schwierigkeiten wird die Transformation des Leibes auch von heutigen Theologen vertreten. Das entsprechende Auferstehungsmodell scheint den Vorteil zu bieten, ohne den schwierigen Begriff der Weiterexistenz auszukommen. Thomas Schärtl führt die Auffassung letztlich auf Paulus zurück und verweist auf 1Kor15,35-43: Nun könnte einer fragen: Wie werden die Toten auferweckt, was für einen Leib werden sie haben? Was für eine törichte Frage! Auch das, was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, hat noch nicht
50 51
Ebd., q. 10, a. 3, ad 2. Vgl. ebd., q. 10, a. 5 und 6.
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die Gestalt, die entstehen wird; es ist nur ein nacktes Samenkorn. […] Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer Leib. 52
Die Einwände gegen die Annahme der Identität des auferstandenen Leibes mit dem prä-mortalen wurden damals sehr ernst genommen. So lautet eine Examens-quaestio der Artistenfakultäten des 13. Jahrhunderts: Die künftige Auferstehung des Leibes kann von einem Philosophen als etwas jeder Vernunfteinsicht Widerstrebendes nicht bejaht werden; es ist auch eine absolute Unmöglichkeit, daß der einmal verweste Leib wiederauferstehe. 53
Der Streit entzündete sich bereits in den Fragen zur Auferstehung Christi. Hatte der Auferstandene in seinen Erscheinungen nur einen Scheinleib oder seinen eigenen, mit dem er auch gekreuzigt wurde? Wenn es sein eigener war, wie sah er aus? Ansätze für eine potenzielle Lösung bot und bietet wiederum der genannte neu-platonisch gefärbte Hylemorphismus: Die Transformation oder Verklärung des Leibes in der Auferstehung geht mit einer Vervollkommnung des Menschen in dem Sinne einher, dass alle Funktionen in einem erhöhten Ausmaß dem Geistig-Seelischen unterstellt sind bzw. ihm gehorchen. So versteht auch heute die Theologie die Auferstehung als Vollendung des Menschen im Sinne einer tieferen Verwandlung als Partizipation an der von Christus gestifteten Liebe. Der Körper wird zu Leib, der nicht mehr „physizistisch“ zu verstehen sei. So schreibt beispielsweise Gisbert Greshake: Leib und damit Geschichte und Welt werden im Tod nicht einfach abgestreift, sondern kommen hier gerade in ihrem eigentlichen ontologischen Sinn im Subjekt zur Vollendung: […] Die Leiblichkeit ist somit für immer im Subjekt eingeschrieben, auch wenn die als ‚Körperhaftigkeit‘ sich realisierende Raum-Zeit-Gebundenheit im Tod ein Ende findet. 54
Was im Tod ein Ende findet, ist auch nach Gisbert Greshake die raumzeitliche Bestimmtheit des prä-mortalen Leibes. Der Unterschied zwischen dem verklärten Menschen und dem prämortalen Menschen besteht für Thomas jedenfalls nicht in einer Veränderung des Wesens, sondern in einer tieferen Beseelung mit einer 52
53
54
Vgl. T. SCHÄRTL, Was heißt „Auferstehung des Leibes“?, in: G. Brüntrup (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 59-80, 63. T. MARSCHLER, Auferstehung und Himmelfahrt Christi in der scholastischen Theologie bis zu Thomas von Aquin, Münster 2003, 383. GRESHAKE, ‚Unsterblichkeit der Seele‘, 37.
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entsprechenden neuen Zuordnung und Hinordnung aller Funktionen und Teile des Leibes. Als Konsequenz ergibt sich, dass die Seele ganz und gar lebensspendendes Prinzip des Menschen wird, so stark, dass der Leib außer der Formung durch die Seele keiner äußeren Unterstützung mehr bedarf. 7. VERKLÄRTER LEIB Der Leib wird verklärt und vergeistigt und so in eine Art gloria aufgenommen, ohne aber rein geistig zu sein. Wie soll das gedacht werden? Ausgeschlossen sind jedenfalls wegen der Transzendierung von Raum und Zeit die uns vertrauten raum-zeitlichen Bestimmungen: Im neuen Aeon gibt es weder Zeit noch Raum im Sinne des relationalen Gefüges zwischen materiell ausgedehnten Dingen. Die Frage, wo sich die Auferstandenen befinden, erübrigt sich somit. In der Hochscholastik scheint sich jedenfalls ein Quartett von Eigenschaften (dotes) zur Charakterisierung des verklärten und verherrlichten Leibes durchgesetzt zu haben: claritas (Glanz), subtilitas (Feinheit), agilitas (eine Art Leichtigkeit) und impassibilitas (Leidensunfähigkeit). 55 Wie wirken sich diese Eigenschaften auf das Leben der Auferstandenen – sofern es Leben genannt werden kann – aus? Die impassibilitas ist unmittelbare Folge der per se-Unveränderbarkeit, sie verursacht aber viele Probleme, wovon wir eines bereits kennengelernt haben: Wenn es nicht nur erlöste Auferstandene, sondern auch verdammte gibt, so muss man annehmen, dass diese unter den Qualen der Gottferne leiden. Wie soll das aber wegen ihrer impassibilitas möglich sein? Wir haben gesehen, dass Thomas Ansätze zu einer Lösung bietet: Im aevum gibt es Gradunterschiede, die den Gradunterschieden der Nähe zu Gott entsprechen. Die Erlösten, die ganz bei Gott sind, stehen der Unveränderlichkeit und somit der impassibilitas Gottes näher als die Verdammten. Im Fall der Gottfernen ist per accidens eine Koppelung mit einem ereignishaften Nacheinander und somit eine Art Leidensfähigkeit durchaus denkbar. 56 Die denkerische Gratwanderung soll beide Straßengräben vermeiden, die Preisgabe der Identität des vor-mortalen mit dem auferstandenen Leib einerseits und die Verharmlosung des Unterschieds zwischen seinem natürlichen Zustand in der Vergänglichkeit dieses Lebens und 55 56
MARSCHLER, Auferstehung und Himmelfahrt, 386. Vgl. THOMAS V. AQUIN, Sth. Ia q. X, a. 5.
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dem verherrlichten in der Unvergänglichkeit der gloria Dei. Zahllos sind jedenfalls die Probleme der genannten Gradwanderung: Wie weit kann die Verwandlung durch die dotes in der gloria Dei gehen, ohne dass der Leib seine Identität verliert? Es scheint, dass Thomas selbst sich mit den Einwänden gegen die Identität leichter getan hat als mit den Argumenten dafür. 57 So kann man sich beispielsweise fragen, wie sich die dotes auf die Wahrnehmung und Sinneserkenntnis auswirken, sofern es eine solche bei den beati überhaupt gibt? Im Unterschied zu den animae separatae, die keine Sinne haben und somit sinnlich weder wahrnehmen noch fühlen können, müssten die auferstandenen beati doch auch Sinnesorgane haben. Heiß umstritten war beispielweise die Frage nach dem Tastsinn. Was tasten und was ertastet werden kann, muss doch derart gedacht werden, dass es in seiner Zusammensetzung auch vergänglich oder korruptibel ist. Die Auferstandenen sind aber inkorruptibel. Auch darin wirkt sich aber das neu-platonisch geprägte hylemorphische Denken aus: Der Primat der forma oder der Seele zeigt sich als Verfügungsprimat über den Leib. Es hängt nun davon ab, wie weit die subtilitas der verklärten Leiber geht. Sie kann u. U. so verstanden werden, dass sie den Tastsinn der beati vereitelt. Thomas neigt allerdings zur Auffassung, es liege in der Macht der beati, das zu bestimmen: In natura enim corporis gloriosi est et virtute, ut possit videri et non videri, sicut vult […]. 58 Thomas setzt sich ausführlich mit den Fragen nach der subtilitas und soliditas im Sentenzenkommentar auseinander. 59 Er behandelt dabei auch die Frage nach der Möglichkeit einer cohabitatio numerisch verschiedener Körper an derselben Stelle. Festgehalten sei, dass die These der Vorherrschaft der forma und ihrer Beherrschung der von ihr durchformten materia eine Transformation des Leibes ermöglicht, ohne dass die grundlegenden natürlichen Qualitäten der Elemente, aus denen der Leib besteht, verschwänden. Die neue dispositio des verklärten Leibes ergibt sich aus einer Art Vergeistigung, die besagt, dass der Körper dem Geiste ganz untersteht: Damit das im vollkommenen Sinne gegeben sei, muss jeder auch körperliche Vorgang dem Willen des Geistes unterstehen (requiritur quod omnis actio corporis subdatur spiritus voluntati). 60 Die incorruptibilitas des verklärten Leibes ergibt sich aus der vollkommeneren und mächtigeren informatio durch die 57 58
59 60
Siehe die zahllosen Argumente dagegen in: DERS., 4 Sent. d. 43 und 44. Vgl. DERS., 3 Sent. d. 21, q. 2, a. 4; siehe auch: MARSCHLER, Auferstehung und Himmelfahrt, 396ff. Vgl. THOMAS V. AQUIN, 4 Sent. d. 24. DERS., Sth. IIIa q. 54, a. 1, ad 2.
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Seele, nicht ex parte materiae, sondern ex parte formae. Plotin spricht von der Seele sogar als Demiurgen des Leibes, der auch gestalterisch auf ihn einwirkt. 61 Nach der Auferstehung des Fleisches sind die Körper leidensunfähig, impassibilia, aber nicht so wie vor dem Sündenfall, im prä-lapsarischen Zustand. Da war der Mensch doch auch auf Speise und Trank angewiesen, als Verherrlichter braucht er aber keine Stütze mehr von außen: […] homo in statu innocentiae habuit vitam animalem cibis indigentem; post resurrectionem vero habebit vitam spiritualem cibis non indigentem. 62 Im prälapsarischen Zustand verlieh die Seele den Menschen ihre Lebenskraft, wohingegen sie den auferstandenen Leibern geistige Eigenschaften verleiht: allen Auferstandenen Unsterblichkeit, den Erlösten zusätzlich das Unvermögen zu leiden. Ihre Körper können also auch geistig genannt werden: In ultimo vero statu post resurrectionem anima communicabit quodammodo corpori ea quae sunt sibi propria inquantum est spiritus, immortalitatem quidem, quantum ad omnes; impassibilitatem vero et gloriam et virtutem, quantum ad bonos, quorum corpora spiritualia dicentur. 63
In seinen Ausführungen zum prä-lapsarischen Menschen unterscheidet Thomas zwischen verschiedenen Arten von incorruptibilitas des menschlichen Körpers. Die für uns relevante secundum gloriam ergibt sich aus der forma, indem sie eine dispositio des Körpers bewirkt, die ihn vom Verfall bewahrt. Die Fülle der Glückseligkeit und Heiligkeit der Seele springt auf den Körper über und verleiht ihm so die Kraft der Unvergänglichkeit. In den Worten von Augustinus ausgedrückt: Tam potenti natura Deus fecit animam, ut ex eius beatitudine redundet in corpus plenitudo sanctitatis et incorruptionis vigor. 64 Die Körperlichkeit des verklärten Leibes widerspricht nicht der verklärenden Kraft der Seele: Weil dimensionale wie durchgeistigte Leiblichkeit gleichermaßen Ausdruck der formenden Seele selbst sind, braucht Thomas das Leibliche in seiner sich abgrenzenden Konkretheit eschatologisch nicht durch theologische Zusatzprämissen zu spiritualisieren […] 65
Die Natur des Körpers bleibt dieselbe, obwohl seine Herrlichkeit eine andere, eine intensivere ist. Was zur Natur des menschlichen Leibes 61 62 63 64 65
Vgl. PLOTIN, Enneade V 1, 10, 59. THOMAS V. AQUIN, Sth. Iª q. 97, a. 3, c. Ebd. Ebd., q. 97, a. 1, c. MARSCHLER, Auferstehung und Himmelfahrt, 400.
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gehört, ist auch im Leibe des auferstandenen Herrn. Klar ist – so Thomas –, dass zur Natur des Körpers auch Fleisch, Bein und Blut gehören. 66 Die Körperlichkeit selbst, also das, was den Körper zum Leib sowohl im prä-mortalen als auch im verherrlichten Zustand macht, ist und bleibt aber die Seele. Sowohl der uns in unserer vertrauten Welt bekannte als auch der auferstandene Mensch kennt nur eine forma, und das ist seine Seele: Oportet igitur quod corporeitas, prout est forma substantialis hominis, non sit aliud quam anima rationalis. 67 Der menschliche Körper ist keine durch eine rein körperliche forma existierende Substanz, die von einer weiteren höheren forma wie der Seele informiert werden könnte. Der Körper hat nur eine forma, und diese ist die menschliche Seele. Wenn die forma actus primus ist, so leuchtet ein, dass zu ein und demselben Zeitpunkt an derselben Stelle keine zwei numerisch verschiedenen actus realisiert vorkommen können. Bereits Aristoteles scheint die Pluralität numerisch verschiedener formae in ein und demselben Individuum ausgeschlossen zu haben: Es ist nämlich unmöglich, daß ein Wesen bestehe aus zwei Wesen, welche sich als wirkliche ( ) darin fänden. Denn dasjenige, was der Wirklichkeit nach zwei ist, wird niemals in Wirklichkeit () eines […]. 68
8. SCHLUSS Vorausgesetzt, dass eine rein naturalistisch/physikalistische Deutung des Menschen und des personalen Selbst jegliche Unsterblichkeitsoder Auferstehungshoffnung ausschließt, und vorausgesetzt, dass eine substanz-dualistische Sicht der menschlichen Seele schwer zu begründen ist, stellt sich die Frage, ob es einen rational vertretbaren Mittelweg gibt, der die Unsterblichkeitshoffnung nicht ganz ausschließt. Seit den Tagen der Hochscholastik bietet sich als Zwischenweg die hylemorphische Auffassung des Menschen an, wonach die forma die Seele des Menschen und die materia sein Körper ist. Ich habe die Akt-Potenz-Variante des Hylemorphismus erwähnt und die entsprechende Deutung der Seele als actus primus corporis als plausibel vorzustellen versucht. Sie wurde in der Vergangenheit von wissenschaftlich eingestellten Aristotelikern vertreten und kommt den 66 67 68
THOMAS V. AQUIN, Sth. IIIa q. 54, a. 2, c. DERS., ScG IV, c. 81. ARISTOTELES, Metaphysik Z, 1039a, 2-6.
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Anliegen zeitgenössischer emergentistischer Theorien entgegen. Sie betont den Primat der forma als Verwirklichung von Möglichkeiten der ihr vorausliegenden materia. Rein aristotelisch averroistisch betrachtet schließt diese Lehre die Unsterblichkeitshoffnung allerdings aus. Wird sie aber neu-platonisch überformt und im Sinne einer downwardcausation verstanden, ermöglicht sie den Gedanken einer Transformation des Organismus: Durch die Auferstehung wird die menschliche Person verwandelt und kommt so als ganze mit demselben Leib zur visio beatifica. Die philosophische Intuition der Auferstehung als Verwandlung setzt die These voraus, dass das Primäre und Vollkommenere die forma ist. Die eigentliche Natur des corpus ergibt sich aus der forma: […] veritas naturae corporis est ex forma […]. 69 Je vollkommener die Seele, umso vollkommener auch der Leib. Sie wird der Wirklichkeit Gottes als der causa prima, die ganz und gar als reiner Akt gedacht wird, angeglichen. Die beati sind als Auferstandene im aevum, jenseits von Zeit und Raum. Sie kennen per se kein zeitliches Nacheinander und sind so in ihrer verwandelten Leiblichkeit inkorruptibel.
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ZIMMERMAN, DEAN, Bodily Resurrection: The Falling Elevator Model Revisited, in: Georg Gasser (Hg.), Personal Identity and Resurrection. How Do We Survive Our Death?, Farnham 2010, 33-50.
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Seele und Tod* Die Einladung zu der Tagung, deren Vorträge im vorliegenden Band publiziert werden, hat vorsichtshalber zu ihrem Abschluss nur „Anmerkungen“ eines Philosophen angekündigt. Etwas anderes hätte ich auch nicht in Aussicht stellen können. Das Thema „Unsterblichkeit der Seele“ wird seit Jahrtausenden erörtert, ohne dass argumentativ ein allgemeiner Konsens erreicht worden wäre. Und es wäre hybrid zu erwarten, diesen Konsens nun argumentativ zu erzwingen und die kantische Frage „was dürfen wir hoffen?“ tatsächlich so zu beantworten, dass die Antwort den Charakter eines Wagnisses verlöre. Denn um ein Wagnis handelt es sich ja nach den Worten Platons im Phaidon, um ein „schönes Wagnis“ allerdings, das es lohnt, alles daran zu setzen, um hier Klarheit zu gewinnen. Einen kümmerlichen Menschen nennt Platon den, der zu einem solchen Wagnis nicht bereit ist. Und wenn man einmal von der Schönheit dieses Wagnisses überzeugt ist, dann wird man vielmehr „seine Seele mit solcherlei“ – nämlich den Jenseitsmythen – „sich selbst gleichsam besprechen“. 1 Sie haben, meine Damen und Herren, nun im Unterschied zu dem kümmerlichen Menschen eine geraume Zeit der Erörterung dieser Frage gewidmet. Und ich weiß nicht, ob meine Anmerkungen sich positiv oder negativ fügen in den erreichten Status quaestionis. Aber das mag sein, wie es will. Lassen Sie mich beginnen mit folgender Feststellung: Wo immer von Lebewesen die Rede ist, haben wir es mit einer zweifachen Perspektive zu tun, einer Außenperspektive und einer Innenperspektive. Ein Auto ist unabhängig von dem, was es für uns ist, nicht selbst noch etwas darüber hinaus. Ein Auto hat kein Innenleben. Die Zuordnung der Innereien des Autos zueinander existiert nicht unabhängig von Lebewesen, die diese Teile miteinander in Beziehung setzen, weil sie das Auto als Auto benutzen und betrachten. Es ist nicht irgendwie, ein Auto zu sein. Dagegen ist es irgendwie, eine Fledermaus zu sein, um * Der Vortragsstil dieses Beitrages wurde für die Veröffentlichung beibehalten. 1 PLATON, Phaidon, 114d.
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einen berühmten Aufsatz von Thomas Nagel zu zitieren. 2 Fledermäuse gehören nicht nur zu unserer Umwelt, wir gehören auch zu der ihren. Der Unterschied zwischen uns und ihnen besteht darin, dass wir das wissen. Wir können unsere Perspektive auf die Welt relativieren. Wir können uns zurücknehmen. Diese Fähigkeit zur Selbstrelativierung ist die Fähigkeit zu jenem „Schritt über uns hinaus“, von dem David Hume sagte, er sei unmöglich. 3 Schon indem Hume das sagt, widerspricht er sich. Denn die Relativierung der eigenen Perspektive ist bereits dieser Schritt, der Schritt vom Anthropozentrismus zum Anthropomorphismus. Es kann ja Anthropomorphismus genannt werden, wenn der Mensch anderen Wesen als sich selbst Selbstsein zuerkennt, wenn er annimmt, es sei für ein nicht menschliches Wesen irgendwie, zu sein, was es ist. Es sei ihm irgendwie zumute. Es sei ein System nicht nur für uns, sondern für sich und an sich. Ein Thermostat ist nur für uns ein Thermostat. Er ist selbst überhaupt nichts. Die Aufrechterhaltung einer bestimmten Raumtemperatur ist ihm ganz gleichgültig. Wir, die Konstrukteure, betrachten ihn als System. Materielle Systeme sind Systeme nur für lebende Systeme. Ein defektes System ist nur für uns defekt. Und ein Auto, das den Geist aufgegeben hat, hatte gar keinen. Der Weltprozess aus der Außenperspektive der Physik ist ein striktes Kontinuum von Zuständen eines gleichbleibenden Substrats, ein Kontinuum, in dem es so etwas wie Anfang und Ende nicht gibt. Der Urknall bleibt vorerst als Singularität ein Fremdkörper in diesem Kontinuum, und es liegt in der Logik dieser naturwissenschaftlichen Perspektive, ihn ebenfalls in das Weltkontinuum irgendwie zu integrieren, also ihn nicht wirklich als Anfang zu sehen. Endlichkeit tritt in die Welt erst mit dem Erscheinen des Lebens, eines Lebens, dem es um etwas geht, nämlich zu leben, weiterzuleben und unbeeinträchtigt zu leben. Ein Wesen, dem es um etwas geht, kann auch verfehlen, worum es ihm geht. In der lebendigen Natur gibt es Fehler. Im Bereich der Physik gibt es so etwas wie Fehler nicht, d. h. keine „Fehler der Natur“. Endlichkeit tritt dadurch in einem doppelten Sinn in die Welt: 1. durch das Eintreten von so etwas wie einer interessegeleiteten Perspektive, die durch andere Perspektiven eingeschränkt wird und insofern Kontingenz erzeugt; 2. aber dadurch, dass jede dieser endlichen Perspektiven entsteht und vergeht. Im ältesten Satz der Philosophie, der uns überliefert ist, dem Satz des 2 3
T. NAGEL, What Is it Like to Be a Bat, in: The Philosophical Review 83 (1974) 435-450. D. HUME, A Treatise of Human Nature, Sekt. VI.
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Anaximander, heißt es: „Woraus die Dinge entstehen, dahinein vergehen sie auch nach der Ordnung der Zeit, denn sie zahlen einander Buße für das Unrecht.“ 4 Worin besteht das Unrecht? Offenbar im Existieren auf Kosten von anderen. Der Tod kehrt die Sache um. Er ist die Buße. Die Buße besteht darin, dass nun auf Kosten des Toten gelebt wird und so das Leben weitergeht, aber nicht dieses Lebendige, das sich auflöst. Aristoteles hat eine bedeutende Schrift zum Thema Entstehen und Vergehen geschrieben und darin Entstehen und Vergehen unterschieden von Zustandsveränderungen eines identischen Substrats. 5 Man kann den Tod eines Lebewesens als eine solche Zustandsveränderung des zugrunde liegenden Materials verstehen. Aber dann hat man eben nicht verstanden, was Tod heißt, weil man nicht verstanden hat, was Leben heißt. „Leben ist das Sein des Lebendigen“ heißt es wiederum bei Aristoteles. Ein Hund, der nicht bellt, existiert doch weiter. Ein toter Hund dagegen sieht nur noch aus wie ein Hund. Er existiert tatsächlich nicht mehr, weil das Existieren eines Lebewesens gleichbedeutend ist mit Leben. Tiere wenden sich tatsächlich von einem toten Artgenossen ab wie von einer gleichgültigen Sache. Dagegen ist es das erste entscheidende Merkmal der Humanität, dass die Toten fortfahren, der Welt der Lebenden auf spezifische Weise anzugehören. Tote werden zeremoniell begraben. Sie erhalten Grabbeigaben. Es werden ihnen kultische Ehrungen erwiesen. Das gilt in archaischen, sogenannten primitiven Kulturen ebenso wie in Hochkulturen. Tote begraben gehört in der christlichen Tradition zu den Werken der Barmherzigkeit. Nichts macht die Enthumanisierung unserer Zivilisation einschneidender deutlich als die Ersetzung der Begräbnisse durch die anonyme Ausschüttung der Asche über grünem Rasen, wodurch die Angehörigen jeder Pflicht zur Grabpflege enthoben werden. Der Tod eines Organismus bedeutet, dass die Tendenz beständiger Integration sich umkehrt in die Tendenz zum Zerfall. Wobei hier das Wort „Tendenz“ in einem uneigentlichen Sinne gebraucht wird. Statt „Tendenz zum Zerfall“ müsste man korrekterweise sagen: Beendigung der Tendenz zur Selbstintegration und damit Beginn der Verwesung. 4
5
H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, hg. von W. Kranz, Band 1, Hamburg 121966, 89. ARISTOTELES, Über Werden und Vergehen. Werke in deutscher Übersetzung, Band 12/IV, Berlin 2010; oder: DERS., Über Werden und Vergehen, hg. von T. Buchheim, Hamburg 2011.
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Die Ausdrücke „Verwesung“, „Verfall“, „Zerfall“ usw. sind alle noch bezogen auf das Leben. Von einem lebenden Menschen kann man sagen, dass bei ihm ein gewisser Verfallsprozess eingesetzt hat; das Verfallen können wir aussagen von einem Lebewesen, das aber noch existiert, und dass es existiert, bedeutet, dass der Integrationsprozess immer noch stattfindet, wenn der Mensch auch in den letzten Zügen liegt. Dass er „verwest“, können wir von einem Organismus erst sagen, wenn er als Organismus gar nicht mehr existiert. Was hier stattfindet, sind nur noch physikalische bzw. chemische, nicht mehr biologische Prozesse. Der Tod ist der Sieg der Entropie über die Negentropie des Lebens. Aristoteles schreibt einmal sehr schön, dass man Ziel und Ende nicht verwechseln darf, Telos und Eschaton. 6 Telos des Lebendigen ist die Ausbildung der vollen Gestalt. Eschaton ist der Tod. Er steht am Ende eines Prozesses, ist aber nicht dessen Ziel. Es gibt jedoch einen tiefgreifenden Unterschied zwischen dem menschlichen Tod und dem Tod aller anderen Lebewesen. Für Tiere gilt, was Epikur für den Umgang mit der Todesfurcht empfiehlt, er empfiehlt die Reflexion darauf, dass es den Tod eigentlich gar nicht gibt. Solange wir leben, sind wir nicht tot. Wenn wir tot sind, gibt es uns nicht mehr. So haben wir also nichts zu fürchten. Für Tiere gibt es in der Tat den Tod nicht. Wenn sie keinen Hunger haben, fressen sie nicht. Sie kennen den Zusammenhang von Fressen und Selbsterhaltung nicht. Der Mensch geht bei chronischer Appetitlosigkeit und Magersucht zum Arzt, weil er den Zusammenhang kennt. Für Menschen ist Hunger Signal für eine Lebensbedrohung. Menschen verstehen dieses Signal und versuchen es zu reparieren, wenn es nicht mehr funktioniert. Für Tiere genügt das Erlöschen des Signals, weil das Signalisierte jenseits des Signals für das Tier nichts ist. Für Menschen gibt es den Tod. Menschen wissen von der Endlichkeit ihres Lebens, und dies in einem doppelten Sinn. Sie wissen von der Begrenztheit ihrer interessegeleiteten Perspektive, und sie wissen von dem Ende dieses in sich endlichen Lebens. Und indem sie diesen Preis für das Leben bewusst zu zahlen bereit sind, überwinden sie die Endlichkeit. Mors vile pretium vitae las ich auf einem Grabstein in Freiburg. Die Präsenz des bevorstehenden Todes prägt das menschliche Leben von Grund auf, und auch dies wiederum auf zwei Weisen, die anscheinend antagonistisch sind. Der Gedanke des Todes lässt nämlich die menschliche Lebenspraxis einerseits bedeutungslos werden, andererseits aber gibt sie dem Leben erst eine absolute Bedeutung. 6
ARISTOTELES, Physik II, 2, 194a, 28-33.
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Sie lässt das Leben bedeutungslos werden, indem alle innerweltliche Bedeutsamkeit relativ ist auf einen zugrunde liegenden Trieb, für den das, was ist und was geschieht, Bedeutung besitzt. Es ist die Bedeutung der Trieberfüllung, nicht nur körperlicher Art. Für den Buddhismus steht diese Einsicht im Zentrum. Alle Bedeutsamkeit, alle Bewandtnis, die es mit etwas hat, hat es mit Bezug auf Bedürfnisse, Wünsche, Antriebe, letztlich den Lebenswillen des Menschen. Mit dem Erlöschen dieses Willens erlischt auch alle Bedeutsamkeit. Mit dem Leben selbst hat es keine Bewandtnis. Die Präsenz des Todes im Leben disponiert uns für diese Sicht. Ihr entspricht die neutestamentliche Rede vom Sterben in Christus: „Ihr seid ja gestorben“, heißt es im Kolosserbrief. 7 Allerdings tut sich für den christlichen Glauben in diesem Sterben eine ganz neue Bedeutsamkeitsdimension auf. Nicht Überwindung des Lebenswillens ist das Ziel, sondern ein von der Endlichkeit der Interessen und Perspektiven befreites Leben, „Leben in Fülle“. Die Vision der Unendlichkeit strahlt ja zurück in das endliche Leben. Es ist aber gerade die zeitliche Endlichkeit, die diese Vision ermöglicht. Hegel hat den Begriff „schlechte Unendlichkeit“ geprägt und darunter das Sich-Aufspreizen des Endlichen verstanden, die Endlosigkeit des von innen her Endlichen. Die Paradiesgeschichte ist in diesem Zusammenhang lehrreich. Nachdem die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, werden sie aus dem Paradies vertrieben, damit sie nicht auch vom Baum des Lebens essen und endlos leben. Endlos dieses irdische Leben leben, das wäre eine irreparable Katastrophe. Transzendenzlose Ewigkeit. Das ewige Leben, von dem die christliche Offenbarung spricht, setzt eine Verwandlung des irdischen Lebens voraus, die durch das Sterben geschieht. Das Sterben-Müssen, also das abschiedliche Leben, ist die Voraussetzung für die Kostbarkeit irdischer Augenblicke. Jedes irdische Glück, jede irdische Liebe, jede Erfahrung von Schönheit würde sich sofort in unbeschreibliche Fadheit auflösen, wenn sie mit der Mitteilung verbunden würde, es werde ewig einfach so weitergehen, und zwar nicht nur sehr lange – was eine schöne Aussicht sein kann –, sondern ewig. Hundert Jahre eheliche Treue versprechen ist nicht nur nicht unmöglich, sondern würde von wirklich Liebenden als kostbares Geschenk angenommen. Aber ewig? Das wäre die schlechte Unendlichkeit und würde sofort nach der Mitteilung verzweifelten Überdruss erzeugen. Unsterblichkeit ist die Sehnsucht der Menschheit von Anfang an. Aber Unsterblichkeit ist nur sinnvoll mit Bezug auf ein verwandeltes Leben. Und diese Ver7
Kol 2,12f.
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wandlung ist gleichbedeutend mit dem Sterben der transzendenzlosen Selbstzentriertheit, dem „Triebhang“, der für alles irdische Leben charakteristisch ist. Sterben ist jene Buße für das Unrecht, von dem Anaximander sprach und von dem das Neue Testament sagt: „Der Tod ist der Sold der Sünde.“ 8 Nun hat es aber mit diesem Verhältnis von Unrecht und Buße in Bezug auf den Menschen eine besondere Bewandtnis. Personen sind nicht ihre Natur, sie sind nicht einfach Exemplare der Gattung homo sapiens. Personen – im normalen erwachsenen Stadium – sind definiert durch ein Verhältnis zu dem, was sie von Natur her sind, also durch ein Selbstverhältnis. Personen können versprechen, d. h. sich unabhängig machen davon, wie ihnen morgen zumute sein wird, indem sie anderen einen Anspruch auf bestimmte Erwartungen einräumen. Personen können bereuen, d. h. sich distanzieren davon, dass sie die waren, die dies oder das taten. Personen können verzeihen, d. h. dem anderen diese Distanzierung ermöglichen und erlauben. Personen verfügen über das, was der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt “second order volitions” nennt, 9 d. h. sie können wünschen, bestimmte Wünsche, die sie haben, nicht zu haben. Und Personen können sich zum Ganzen ihres Lebens verhalten, indem sie nicht dumpf verenden, sondern den Tod, den ihre Natur meidet, akzeptieren und ihr „Leben lassen“, wie wir im Deutschen sagen. Personen können Einsicht in die Naturnotwendigkeit haben, und sie können einsehen, was Anaximander sagt. Sie können den natürlichen Wunsch haben, jetzt, morgen und übermorgen, nicht zu sterben, und sie können gleichzeitig einsehen, dass die jedesmalige Erfüllung dieses Wunsches gar nicht wünschbar wäre, dass es angemessen ist, den Platz zu räumen, auch wenn wir vor dem letzten Schritt zurückzucken, wie im Herrn der Ringe Frodo sich den Ring entreißen lassen muss. Aber gerade dadurch erhebt sich die Person über die bloße Natürlichkeit. Als Lebewesen ist sie unvermeidlich egozentrisch, und insofern ist der Tod die Buße für die vitale Egozentrik. Aber als geistige Wesen sind wir über die Dialektik von Werden und Vergehen hinaus. Als natürliche Wesen sind wir konstitutiv parteilich und in unserer Perspektivität befangen. Sinnlich, natürlich sind wir auf hoher See im Mittelpunkt des Rundhorizonts, und das Schiffchen fern am Horizont ist klein und bedeutungslos. Aber als geistige Wesen wissen wir um die 8 9
Röm 6,23. Vgl. etwa H. FRANKFURT, Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: M. Betzler/B. Guckes (Hg.), Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, Berlin 2001, 65-83.
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Relativität unserer Perspektive. Wir wissen, dass in jenem fernen Schiff, das in Wirklichkeit so groß ist wie das unsere, auch Menschen sitzen, die sich im Mittelpunkt ihres Horizonts befinden und für die wir so klein sind wie sie für uns. All das zu wissen erhebt uns über den vitalen Determinismus, und das Gleiche gilt für unser Handeln. Sittliches Handeln lässt uns aus der vitalen Egozentrik heraustreten, es lässt uns einen Schritt über uns hinaus tun. Das Neue Testament nennt das „die Wahrheit tun“. Den Tod annehmen heißt „die Wahrheit tun“. Und in dieser Annahme der Endlichkeit überwinden wir die Endlichkeit. „Lehre uns, dass wir sterben müssen“; heißt es im Psalm 90. In dieser Spannung zwischen natürlicher Egozentrik und Universalismus besteht das Menschsein, im Dualismus von Natur und Geist. Eine köstliche Henkersmahlzeit kann nur eine ganz in ihrer natürlichen Sinnlichkeit versenkte Person erfreuen. Dem anderen bleibt sie im Halse stecken. Die Bedeutsamkeit dieser Speise steht und fällt mit dem Trieb, dem sinnlichen Begehren. Die Todesaussicht ist bei einem nicht ganz im sinnlichen Begehren verhafteten Menschen so mächtig, dass sie diese Befriedigung sozusagen im Keim erstickt. Ganz entgegengesetzt aber kann die Todesperspektive auch Steigerung des Endlichen über seine Grenzen hinaus bedeuten. Dass zwei Freunde miteinander ein Mahl halten und eine Flasche Wein trinken, kann dadurch einen absoluten, einen nicht auf Begehren relativen Wert bekommen, dass es im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes geschieht. Das letzte Abendmahl Jesu geschah im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes. Die Bedeutung dieses Mahles aber ist die gewaltigste, die ein Mahl je gehabt hat. Und wenn Christus am Ende dieses Mahles sagt: „Tut dies, so oft ihr es tut, zu meinem Gedächtnis“, dann werden dieses Mahl und dieser Tod bereits in der Retrospektive des Futurum exactum gedacht. Für alles, was geschieht, gilt, dass es, nachdem es geschehen ist, im Modus des Gewesenseins ewig bleibt. Das Futurum exactum ist die Verewigung des Endlichen, das Medium absoluter Wahrheit. Es ist das Medium des Geistes. Das Wort „absolute Wahrheit“ ist eine Tautologie. Jede Wahrheit ist absolut. Auch wenn es nur darum geht, dass ich Kopfschmerzen habe, so ist dies eben eine absolute Wahrheit, und jemand, der sagen würde, „für mich hast du keine Kopfschmerzen“, sagt ebenso etwas Unsinniges wie der, der sagt, die Winkelsumme des rechtwinkligen Dreiecks im euklidischen Raum sei nicht 180 Grad. Das Medium absoluter Wahrheit ist kein psychologisches. Wissen ist kein psychologischer Begriff. Psychologisch, daher auch neurophysiologisch gibt es keinen Unterschied zwischen wissen und zu wissen meinen. Der Unterschied liegt nicht in dem subjektiven Zustand eines Menschen, sondern er liegt außerhalb. Er liegt in einer Relation. Er
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liegt darin, ob das, was ich zu wissen meine, sich wirklich so verhält, wie ich zu wissen meine. Nur davon hängt es ab, ob mein vermeintes Wissen wirkliches Wissen ist oder nicht. Und darüber kann uns keine Neurophysiologie belehren. Neurophysiologie hat keinen Zugang zu dem, was wir „Intentionalität“ nennen. Meinen ist ein subjektiver Zustand. Das Gemeinte ist es nicht. Es gibt aber kein Meinen ohne Gemeintes. Darum kann der Begriff des Meinens gar nicht definiert werden ohne Bezug auf seinen intentionalen Gehalt. Eine mathematische Formel hat kein hirnphysiologisches Pendant. Ein Rechenfehler ist kein biologischer Fehler, und er kann nicht durch eine Hirnuntersuchung, sondern nur durch eine mathematische Überlegung entdeckt werden. Mathematisches Denken mag hirnphysiologische Entsprechungen haben. Das in diesem Denken Gedachte hat solche Entsprechungen nicht. Und doch gibt es keine Gedanken, kein Denken ohne Gedachtes. Das Gedachte, die Proposition, ist auch nichts Individuelles. Wenn hundert Leute in einem Raum den Satz des Pythagoras denken, dann sind das nicht hundert Sätze des Pythagoras, sondern immer nur dieser eine. Ich sagte: Alle Wahrheiten sind ewige Wahrheiten. Dass wir heute hier in Frankfurt zu einem Vortrag versammelt sind, ist nicht nur jetzt so, sondern es wird immer wahr sein. Da es aber keine Wahrheit ohne Bewusstsein gibt, da Wahrheit eine Relation ist, müssen wir ein ewiges Subjekt dieser ewigen Wahrheit annehmen. Dieses Subjekt nennen wir Gott. „Gott ist Geist.“ 10 Und dieser Geist ist so wenig vergänglich wie die Wahrheit. Wenn es Gott nicht gibt, schrieb Nietzsche, gibt es keine Wahrheit, sondern es gibt nur individuelle Perspektiven. 11 Das aber würde bedeuten, dass es einmal nicht mehr gewesen sein wird, dass wir heute hier in Frankfurt waren. Aber eine Wahrheit, die morgen nicht mehr sein wird, ist auch heute nicht. Ein Gott, der morgen tot sein wird, hat nie gelebt. Aber gilt das auch für uns, die wir sterblich sind? Was kann es heißen, dass wir nach dem Sterben noch sein werden, wie es uralte Menschheitsüberzeugung ist? Dass wir Geist nicht denken als befangen in der Perspektive endlicher Wesen, leuchtet ja ein. Wahrheit ist das Medium des Geistes. Und Wahrheit ist überzeitlich. So muss, scheint es, auch das Medium des Geistes überzeitlich sein. Aber was an 10 11
Joh 4,24. F. NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, in: G. Colli/M. Montinari/W. MüllerLauter/K. Pestalozzi (Hg.), Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band V,2, Berlin 1973, 344.
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uns ist das Unsterbliche, wenn wir offensichtlich alle den Tribut des Todes als Buße für das Unrecht zahlen, einschließlich des sündelosen Sohnes Gottes und seiner sündelosen Mutter? Platon legte Wert auf die Unsterblichkeit der individuellen Seele, und zwar als Postulat der praktischen Vernunft, die es nicht akzeptieren kann, dass am Ende der Übeltäter das letzte Wort hat, weil es kein weiteres letztes Wort der Gerechtigkeit gibt. Diese Überzeugung würde jede sittliche Motivation im Keim ersticken. Ein philosophisches Argument für die Unsterblichkeit der Seele war seit Platon die Einfachheit der Seele, die nicht durch Dekomposition aufgelöst werden kann; zweitens aber die Teilhabe der Seele an der ewigen Wahrheit der Ideen. Dem ersten Argument ist Kant in seiner Kritik der Paralogismen entgegengetreten. Was aber das Argument aus der Wahrheitsfähigkeit des Menschen betrifft, so hängt es eng zusammen mit der Deutung des Todes als einer Trennung der Seele vom Leib, besser gesagt aber mit dem Problem des Zusammenhangs von Seele und Geist. Wie verhält sich die Unsterblichkeit des wahrheitsfähigen Geistes zur Seele eines sterblichen Wesens? Theologen versuchen seit Jahrzehnten, das Wort Seele aus dem christlichen Sprachgebrauch zu eliminieren, vor allen Dingen auch aus der Liturgie. Es liegt wenig Vernunft darin. Gewiss kann man Kritik üben an Platons Vorstellung des Menschen als einem aus zwei Substanzen zusammengesetzten Wesen. Der eigentliche Mensch ist nach Platon die Seele. Die Seele bewohnt einen Leib und benutzt ihn als Instrument ihrer Aktivität. Die Frage, die sich seit Descartes stellte, ist, wie eine immaterielle Entität auf eine materielle wirken kann. Die aristotelische Variation des Platonismus löst dieses Problem meines Erachtens, indem sie die Seele nicht als eine dem Leib gegenüber eigene Substanz denkt, sondern als Form, als Lebensprinzip des Leibes wie jedes lebendigen Organismus, als Entelechie. Wir sprechen vom beseelten Körper und vom entseelten Körper. Der entseelte Körper ist gar kein menschlicher Körper mehr, sondern nur noch das Agglomerat seiner chemischen Bestandteile. Forma dat esse heißt es bei Thomas von Aquin, 12 die Form lässt ein Seiendes sein, was es ist. Die tierische Seele ist nur diese Tendenz der Selbstorganisation, nicht außer dieser noch selbst etwas. Wo der Prozess der Integration des Organismus zu einem Ende kommt, gibt es weder Leib noch Seele mehr. Anders der Mensch. Sein Formprinzip erschöpft sich nicht darin, die Selbstorganisation eines lebendigen Organismus zu bewirken und damit eine Perspektive auf die Welt als Umwelt zu eröffnen, eine Per12
THOMAS V. AQUIN, De ente et essentia, Kap. 4.
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spektive, die mit dem Tod erlischt. Der Geist des Menschen eröffnet eine Dimension der Wahrheit. Er eröffnet die Dimension des „Seins“. Hier erhebt sich nun aber ein Einwand aus aristotelischer Sicht. Aristoteles betrachtet die Materie als das Prinzip der Individualisierung. Daraus scheint aber zu folgen, dass die immaterielle Form als Geist von der individuellen Perspektivität eines Lebewesens im Tod befreit wird. Unsterblich ist nicht die individuelle Seele, sondern der sich im Medium des Allgemeinen bewegende Geist. Der arabische Aristoteliker Averroes hatte das gelehrt, und Thomas von Aquin ist ihm entgegengetreten in einer kleinen Schrift Über die Einheit der Vernunft gegen die Averroisten. Aristoteles hatte tatsächlich gelehrt, dass der Nous poietikos, also das, was wir Geist nennen, nicht als seelische Funktion verstanden werden könne. Die Logik ist, wie Husserl zwingend gezeigt, nicht verstehbar als etwas Seelisches. Der Geist komme, so sagt Aristoteles, tyrathen in die Seele, von außen. 13 Der Geist ist also nicht ein Teil der Seele. Und deshalb ist die Unsterblichkeit nicht eine solche der individuellen Seele. Sie hat deshalb auch nichts mit einem nachtodlichen Schicksal zu tun und ist nicht ein moralisches Postulat. Schuldig wird ja nur die sterbliche Seele, nicht der unsterbliche, überindividuelle Geist. Rudolf Steiner lehrte, die katholische Kirche habe auf dem vierten Konzil von Konstantinopel (869-870) den Geist abgeschafft und nur noch Leib und Seele anerkannt. Ich kann hier auf die damaligen Diskussionen nicht eingehen und kann nur so viel sagen: Nicht der Geist wurde damals abgeschafft, sondern allenfalls die Seele, besser gesagt, die Seele wurde vergeistigt. Auch unser Aufenthalt im Medium der Wahrheit und des Tuns der Wahrheit, d. h. der Liebe, ist nur wirklich, wenn er seelische Funktionen in Anspruch nimmt. Auch unser Wissen hat die Form des zu wissen Meinens, des Erlebens. Wenn der Computer nicht denkt, dann nicht deshalb, weil Denkleistungen des Menschen durch Computer nicht überholbar wären. Leider ist das nicht der Fall, und leider steht der Computer, der auch den Schachweltmeister besiegt, schon vor der Tür. Und doch weiß der Computer nichts, weil er nicht erlebt, dass er weiß. Es gibt aber kein Wissen ohne das Erleben, zu wissen. Auch mathematisches Kalkulieren bildet sich in bestimmten Hirnregionen ab, wenn auch der Kalkül etwas rein Geistiges ist und mit Seele höchstens kontaminiert werden kann. Wenn einer konstant behauptet, die Winkelsumme des rechtwinkligen Dreiecks sei gleich drei rechten Winkeln, dann werden wir anfangen, 13
ARISTOTELES, De generatione animalium, 736b, 27f.
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uns für seinen Seelenzustand oder einen Hirndefekt zu interessieren. Solange er korrekt schlussfolgert, ist seine seelische Individualität ohne Belang. Heißt das aber nicht doch, dass wir ohne Gehirn weder denken noch lieben können? Dass unsere Seele also funktionslos wird und folglich zu existieren aufhört, wenn der Organismus zu existieren aufhört? Das wäre dann der Fall, wenn die Seele nicht am Geist partizipierte, wenn der Mensch nicht auch in seiner Animalität immer Mensch wäre, nicht also ein Tierkörper mit sozusagen supervenienten geistigen Funktionen. Die Psychosomatik hat uns belehrt oder besser hat bestätigt, was wir immer schon wussten, dass es nämlich ein Kontinuum gibt von geistigen und seelischen Funktionen. Wenn wir uns nach dem Ergehen eines lieben Menschen, z. B. eines eigenen Kindes, erkundigen, dann wollen wir nicht beruhigende Lügen hören, sondern die Wahrheit. Und eben diese zu wissen oder auch nur zu ahnen, kann uns krank machen. Was ich weiß, macht mich eben heiß. Die höheren geistigen Tätigkeiten des Menschen bewegen sich in jenem zeitlosen Wirklichkeitsraum, der uns den Gedanken schwer macht, die Seele, die diesem Raum angehört, sei vergänglich. Dass der Mensch sterblich ist, erleben und wissen wir. Die Verheißung der Unsterblichkeit kann sich also nicht auf das beziehen, was wir sehen. Der Leib des Verstorbenen existiert nicht mehr. Unsterblichkeit kann also nur heißen, dass etwas am Menschen den Tod überlebt. Und dieses Etwas ist es, das wir Seele nennen. Geist ist im Menschen nur wirklich als geistige Seele. Vivere viventibus est esse, Leben der Menschen ist bewusstes Leben, aber doch Leben und nicht Bewusstsein. Nur von Gott können wir sagen, intelligere Deo est esse. Für uns gilt, dass wir auch dann wirklich sind, wenn wir nicht denken. Wir sind nicht reine Geister. Und das Erlöschen der geistigen Funktionen ist nicht unser Tod, sondern unser Tod ist erst das Erlöschen jeder vitalen Funktion. Geist ist in uns insofern wir beseelt sind und unsere Seele eine geistige Seele ist. Ich möchte aber nicht schließen, ohne noch folgenden Gedanken anzudeuten. In unserer Erfahrungswelt gilt, dass unser In-der-WeltSein angewiesen ist auf sinnliche Erfahrung, und das heißt auf das Gegebensein der Welt in Sinneswahrnehmungen. Wir können uns eine Welt der Wahrheit nicht vorstellen, wo die Seele mangels eines Leibes zu solcher Wahrnehmung unfähig ist. Darum sprechen die kirchlichen Gebete ja auch von dem Tod als „Schlaf der Seele“ und von der Erwartung, dass die forma corporis die Fülle ihrer Funktionen in verwandelter Form zurückerhält. Das heißt, der christliche Glaube spricht von der Auferstehung des Fleisches. Darüber aber wollten die
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philosophisch gebildeten Herren auf dem Areopag, die ihren Platon kannten, von Paulus nichts hören. 14 Die Philosophie kann nur die Vernünftigkeit der Annahme dieser Idee plausibel machen. Es gibt rationale, theoretische und praktische Argumente für die Vernünftigkeit bestimmter Überzeugungen, Argumente, die man vielleicht nicht Beweise nennen sollte. Diese Situation beschreibt schon der platonische Sokrates im Dialog Phaidon, wo er seine Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele und für das Totengericht so beendet: Dass sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich dargelegt, das ziemt wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten. [Ich erläutere nur: Sokrates hatte zuvor den Mythos vom Totengericht bildlich entfaltet. Er will diese Bilder nicht verabsolutiert wissen.] Dass es jedoch entweder diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muss mit unseren Seelen, dies, denke ich, zieme sich gar wohl und lohne es auch, es daraufhin zu wagen, dass man glaube, es verhalte sich so. 15
Im gleichen Dialog lässt Platon den Gesprächspartner des Sokrates, Simmias, sagen, dass nur ein dürftiger und lascher Mensch nicht alles daransetze, in dieser Frage die größtmögliche Klarheit zu gewinnen und auf der besten und unwiderleglichsten Meinung wie auf einem Brett durch das Leben zu schwimmen suchen, wenn einer nicht sicherer und gefahrloser auf einem festeren Fahrzeug oder auf einer göttlichen Rede, einem göttlichen Logos, reisen kann. 16
Das gegenüber den Jenseitsmythen „festere Fahrzeug“ ist für Platon natürlich die Philosophie. Der göttliche Logos aber, der nach dem Prolog zum Johannesevangelium jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt, hat inzwischen unzweideutig geredet.
14 15 16
Apg 17,32. PLATON, Phaidon, 114d. Ebd., 85cd.
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Literatur ARISTOTELES, Über Werden und Vergehen, herausgegeben von Thomas Buchheim, Hamburg 2011. –, Über Werden und Vergehen. Werke in deutscher Übersetzung, Band 12/IV, Berlin 2010. DIELS, HERMANN, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, herausgegeben von Walther Kranz, Band 1, Hamburg 121966. FRANKFURT, HARRY, Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Monika Betzler/Barbara Guckes (Hg.), Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, Berlin 2001, 65-83. NAGEL, THOMAS, What Is it Like to Be a Bat, in: The Philosophical Review 83 (1974) 435-50. NIETZSCHE, FRIEDRICH, Die fröhliche Wissenschaft, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari/Wolfgang Müller-Lauter/Karl Pestalozzi (Hg.), Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band V,2, Berlin 1973.
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Augustins Entwicklung in der Frage der Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib Am Ende seines opus magnum et arduum, im 22. Buch der Civitas dei, behandelt Augustinus die sogenannten Letzten Dinge, darunter auch die Frage der Auferstehung der Toten bzw. des Fleisches. Er geht hier auch auf zahlreiche Einwände ein, die von den Anfängen des Christentums an gegen diese Lehre erhoben wurden und die schon die Apologeten zu widerlegen suchten. Der Bischof von Hippo wird bei dieser Verteidigung der Auferstehung des Fleisches – zumindest für unser modernes Empfinden – sehr konkret. Er spricht vom Auferstehungsleib der ungeborenen Föten, der Kleinkinder, der Leiber von Menschen, die von anderen Menschen oder von Tieren verzehrt wurden oder auf analoge Weise ihren Leib verloren haben. Oberstes Kriterium bei der Auferweckung und Neugestaltung aller dieser Leiber wird, so Augustinus, die Harmonie und die Proportion sein, jedwede Verunstaltung wird jedenfalls beseitigt werden. Im Zusammenhang der Frage nach der Auferstehung eines Leibes, der von einem anderen Menschen verzehrt wurde, stellt Augustinus dann den Grundsatz auf, dass jeder Mensch alle Elemente der Materie, die zu seinem Leib gehörten, bei der Auferstehung des Fleisches identisch wiedererlangt. Der Leib wird aus seinen ursprünglichen Teilen wieder zusammengesetzt. Vergleicht man nun diese Ausführungen des Bischofs von Hippo über die Auferstehung der Leiber in De civitate dei mit Äußerungen zu diesem Thema in anderen seiner Werke 1, so stellt man von seinem Früh- bis zu seinem Alterswerk eine deutliche Entwicklung fest. 2 Fre1
2
Augustinus kommt an zahlreichen Stellen vieler seiner Werke incidenter auf die Auferstehung des Fleisches zu sprechen, ex professo behandelt er sie außer in civ. 22, 20 in ench. 84-92 und in s. 240-242, 256, 361, 362. Wie zutreffend diese Beobachtung einer Entwicklung in Augustins Auffassung von der leiblichen Auferstehung ist, belegt nicht zuletzt die Relecture des eigenen Werkes durch den Autor. Es sind in den Retractationes (426/7) gerade auch immer wieder, wie wir weiter unten sehen werden, Passagen über die Auferstehung in seinem Frühwerk, die der alte Augustinus für erklärungs- und ergänzungsbedürftig hält.
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derick van Fleteren hat vor kurzem diese Entwicklung der Vorstellungen Augustins über die Auferstehung des Leibes in der Vielzahl ihrer Aspekte in einem Überblick über das Gesamtwerk zusammengestellt 3, dabei aber weder auf die Frage der materiellen Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib besonders abgehoben noch alle wichtigeren Quellen hierzu herangezogen. Dieser Frage, also der Entwicklung von Augustins Auffassung von der Identität des Auferstehungsleibes, soll die folgende Studie gewidmet sein. 4 Den vier Phasen, die wir in der Entwicklung von Augustins Auffassung in dieser Frage unterscheiden, entsprechen vier Teile unserer Untersuchung. Ihnen geht ein einleitender Teil voraus, in dem wir uns den kirchlichen und den gesellschaftlichen Kontext vergegenwärtigen, in dem Augustins Entwicklung stattfindet bzw. mit dem er sich konfrontiert sieht. 1. KIRCHLICHE TRADITION UND GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT Von zwei Seiten ist Augustins Denken über den Auferstehungsleib herausgefordert, einerseits von der kirchlichen Tradition, andererseits von der Position bzw. den Positionen seiner gesellschaftlichen Umwelt. Was die kirchliche Tradition angeht, so ist diese zum einen in den von Augustinus benutzten Glaubensbekenntnissen greifbar, zum anderen in 3
4
F. VAN FLETEREN, Augustinus und das Corpus spirituale, in: Theologie und Glaube 97 (2007) 444-463; englisches Original: Augustine and Corpus spirituale, in: Augustinian Studies 38 (2007) 333-352. Zur leiblichen Auferstehung bei Augustinus vgl. A. MICHEL, Résurrection des morts. III. L̕enseignement de la tradition catholique, in: Dictionnaire de théologie catholique 13,2 (1937) 2501-2571, hier 2541-2543; A. GAUDEL, Résurrection des corps, in: Bibliothèque augustinienne 9 (1947) 398-400; H.-I. MARROU/A.-M. LA BONNARDIÈRE, Le dogme de la résurrection des corps et la théologie des valeurs humaines selon l’enseignement de saint Augustin, in: Revue des études augustiniennes 12 (1966) 111136; K. E. BØRRESEN, Augustin, interprète de la résurrection. Quelques aspects de son anthropologie dualiste, in: Studia Theologica 23 (1969) 141-155; G. MADEC, La résurrection des corps, in: Bibliothèque augustinienne 11/1 (1991) 75-87; M. MILES, Corpus, in: Augustinus-Lexikon 1 (1996-2002) 6-20; vgl. auch die materialreiche Artikelserie von M. ALFECHE, The Basis of Hope in the Resurrection of the Body according to Augustine, in: Augustiniana 36 (1986) 240-296; The Use of some Verses of 1 Cor. 15 in Augustine̕s Theology of Resurrection, in: ebd. 37 (1987) 122-186; The Rising of the Dead in the Work of Augustine (1 Cor. 15,35-57), in: ebd. 39 (1989) 54-98; The Transformation from Corpus animale to Corpus spirituale, in: ebd. 42 (1992) 239-310; Augustine̕s Discussions with Philosophers on the Resurrection of the Body, in: ebd. 45 (1995) 95-140.
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den Äußerungen früherer kirchlicher Theologen. Augustinus verwendete mit wenigen Ausnahmen das Glaubensbekenntnis, das er bei seiner eigenen Taufe in Mailand gesprochen hatte und das im Wesentlichen mit dem altrömischen identisch ist. Hier ist am Schluss ausdrücklich von der ‚Auferstehung des Fleisches‘ die Rede. 5 Die Formel ‚Auferstehung des Fleisches‘ ist zwar ein Kernbegriff der frühchristlichen Eschatologie, befindet sich aber als solche nicht in der Hl. Schrift. 6 Für ihre Entstehung kann man mehrere Ursachen nennen, die am besten bezeugte ist die antidoketische Polemik der Großkirche im 2. Jh. So ist ein antidoketisches Anliegen bei Ignatius von Antiochien, im zweiten Klemensbrief, in der Epistula Apostolorum, bei Pseudo-Justinus, im apokryphen dritten Brief des Paulus an die Korinther und bei Irenäus von Lyon zu beobachten. Es gehört „in den Kampf der Großkirche gegen die Gnosis“ 7. Was im altrömischen Glaubensbekenntnis in eine Formel zusammengeronnen ist, haben Theologen vor Augustinus näher dargelegt. Wir greifen exemplarisch 8 nur vier Namen auf: Athenagoras, Tertullian, Origenes und Hieronymus. Athenagoras’ Schrift De resurrectione 9 (ca. 177), deren Echtheit allerdings stark angezweifelt wird10, stellt die erste philosophisch begründete Apologie der leiblichen Auferstehung dar.11 Der Grieche geht schon auf Einwände gegen diese Auferstehung ein, auf die auch Augustinus noch zu sprechen kommen wird, und schließt seine Argumentation mit dem Hinweis auf Gottes Allmacht: 5
Vgl. H. DENZINGER/P. HÜNERMANN (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg 371991, 30 (8). 6 Vgl. G. KRETSCHMAR, Auferstehung des Fleisches. Zur Frühgeschichte einer theologischen Lehrformel, in: Leben angesichts des Todes. Festschrift für Helmut Thielicke, Tübingen 1968, 101-137. 7 Vgl. H. E. LONA, Über die Auferstehung des Fleisches. Studien zur frühchristlichen Eschatologie, Berlin-New York 1993, 260. Die Studie informiert über die frühe Geschichte der Formel ‚Auferstehung des Fleisches‘ bis zum Philippusevangelium einschließlich. Vgl. auch K. SCHNEIDER, Studien zur Entfaltung der altkirchlichen Theologie der Auferstehung, Bonn 1999 (vom 1. Klemensbrief bis zu Athenagoras, De resurrectione). 8 Einen ausgezeichneten Gesamtüberblick über die patristische Periode des Auferstehungsglaubens bietet B. DALY, Patristische Eschatologie, in: Ders./J. Schreiner/H. E. Lona (Hg.), Eschatologie in der Schrift und Patristik (Handbuch der Dogmengeschichte 4/7a), Freiburg 1986, 84-248; vgl. auch H. CROUZEL/V. GROSSI, Risurrezione dei morti, in: Dizionario patristico e di antichità cristiane 2 (1983) 2994-2998. 9 SC 379: 214-316. 10 Vgl. LONA, Über die Auferstehung, 127-129; Literatur zur Echtheitsdiskussion ebd. in den Anmerkungen. 11 Einzelheiten bei: DALY, Patristische Eschatologie, 101f.
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[…] durch die Weisheit und Macht des Lebewesens, das eine jede Natur mit den ihr eigenen Kräften zusammenführt, wird ein jedes [Element] mit einem jeden auf natürliche Weise vereint, auch wenn es im Feuer verbrannt, durch Wasser vernichtet, von wilden Tieren oder gleich welchen Lebewesen zugrunde gerichtet, vom Gesamtkörper abgeschnitten, noch vor den anderen Gliedern aufgelöst wurde. Wieder miteinander vereint, erlangen sie wieder denselben Platz für die Harmonie des Körpers und die Zusammensetzung und die Auferstehung und das Leben dessen, was zu Tode gebracht oder auch vollständig aufgelöst war.12
Auch der Begründer der abendländischen Theologie, Tertullian (ca. 160-220), hat einen Traktat über die leibliche Auferstehung geschrieben.1 3 Die von seinem De resurrectione mortuorum 14 bekämpften Gegner sind Häretiker, d. h. Gnostiker und Marcioniten. In den cap. 5156 bringt der Afrikaner Argumente für die Identität des auferstandenen Leibes mit dem irdischen. Wegweisend für die Zukunft und gerade auch für die Auferstehungstheologie des Augustinus ist die Methode der Beweisführung: das entscheidende Argument für die Auferstehung der Toten ist die wahre Auferstehung Christi. Man sieht hier sehr deutlich, wie sehr die Christologie, genauer, der Glaube an die wahre Fleischwerdung Christi, die entscheidende Grundlage für die Auferstehung des Fleisches darstellt. In diesem Sinne schreibt Tertullian: Seid unbesorgt, Fleisch und Blut, ihr habt in Christus den Himmel und das Reich Gottes bereits inne! Oder wenn sie euch in Christus leugnen, dann sollen sie auch Christus im Himmel leugnen, sie, die euch den Himmel geleugnet haben.1 5
Mit dem Alexandriner Origenes (ca. 185-253) kommt der bisherigen kirchlichen Tradition gegenüber ein neuer, auch kritischer Geist auf.1 6 Die eingehendste Behandlung der Frage der leiblichen Auferstehung findet sich in einem von seinem Gegner Methodius überlieferten Fragment17, einer Auslegung von Ps 1,5. Origenes warnt hier zunächst vor einer unkritischen Übernahme der traditionellen Lehre. Die auf das Problem der leiblichen Auferstehung gegebene Antwort müsse 12
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Resurr. 8,4 (SC 379: 244-246). Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. Vgl. DALY, Patristische Eschatologie, 110-114. CChr.SL 2: 921-1012. Ebd. 51,3: 994,16-19: Securae estote, caro et sanguis, usurpastis et caelum et regnum dei in Christo. Aut si negent vos in Christo, negent et in caelo Christum, qui vobis caelum negaverunt. Vgl. DALY, Patristische Eschatologie, 122-134. METHODIUS, De resurrectione 1,20-24 (GCS 27: 242-250).
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nämlich Gottes würdig sein. Der Schlüssel zu Origenes̕ Verständnis der Auferstehung des Leibes ist der Gedanke, dass Körper sich von ihrem Wesen her in einem kontinuierlichen Fluss befinden; denn die zugrunde liegende Materie ( ) wird ständig abgesondert und wieder aufgenommen. Sie bleibt so keine zwei Tage dieselbe. Trotzdem behalten die Individuen ihre Identität, und zwar nicht nur aufgrund der Seele, sondern auch aufgrund der die Seele prägenden ‚Gestalt‘.18 Diese ‚Gestalt‘ des Körpers wird bei der Auferstehung wieder mit der Seele verbunden und baut einen neuen Leib auf, der in jeder Hinsicht dem irdischen überlegen ist.19 Neben Methodius ist Hieronymus (ca. 347-419) der schärfste Kritiker der Auferstehungslehre des Origenes.2 0 Am ausführlichen befasst er sich mit dem, was er für die Auferstehungslehre seines ehemaligen großen theologischen Vorbildes hält, in seinem Contra Ioannem21, einer Streitschrift gegen den Jerusalemer Bischof und Verteidiger des Origenes. Hieronymus besteht wieder, wie die genannten älteren Theologen, auf der vollen materiellen Identität des auferstandenen mit dem irdischen Leib: Die Wahrheit der Auferstehung kann katholisch nicht ohne Fleisch und Knochen, ohne Blut und Glieder verstanden werden.2 2 [Und schon vorher:] Dies, ja dies ist das wahre Bekenntnis der Auferstehung, das dem Fleisch so Ehre gibt, dass sie seine Wirklichkeit nicht beseitigt.23
Was den gesellschaftlichen Kontext zu Augustins Auffassung der Auferstehung des Fleisches angeht, so ist zwischen der gewichtigen Stimme der herrschenden Philosophie und den Meinungen, Zweifeln und Einwänden, denen Augustinus in seinem eigenen Kirchenvolk begegnet, zu unterscheiden. Wie entschieden der Widerspruch der Philosophen gegen die Auferstehung des Leibes ist, hat Augustinus mehrmals in seinem Werk bezeugt, so in einer seiner Psalterauslegungen: In keinem Punkt wird dem christlichen Glauben so vehement, so starrsinnig und polemisch widersprochen wie in der Auferstehung des Fleisches. 18 19 20 21 22
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Ebd., 1,22 (GCS 27: 245,5): . Vgl. DALY, Patristische Eschatologie, 128. Vgl. ebd., 166-170. CChr.SL 79A: 5-82. Ebd. 31 (56,3-5): Resurrectionis veritas catholice sine carne et ossibus et sanguine et membris intellegi non potest. Ebd. 29 (52,1f.): Haec, haec est resurrectionis vera confessio, quae sic gloriam carni tribuit, ut non auferat veritatem.
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Denn über die Unsterblichkeit des Geistes haben auch viele heidnische Philosophen vieles erörtert. Dass der menschliche Geist unsterblich ist, haben sie in mehreren und vielfältigen Büchern schriftlich dem Gedächtnis überliefert, kam man jedoch zur Auferstehung des Fleisches, dann schwankten sie nicht, sondern widersprachen in aller Offenheit. Und ihr Widerspruch ist von der Art, dass sie sagen, es sei unmöglich, dass dieses unser irdisches Fleisch in den Himmel aufsteigen könne.24
Im 22. Buch seines De civitate dei zitiert Augustinus einen Passus aus De re publica des Cicero, der kategorisch die Möglichkeit der Auferstehung des Leibes leugnet und mit dem der Bischof von Hippo die lange Reihe seiner Gegenbeweise einleitet. Im Kontext dieses Passus ist von der Auffahrt des Hercules und des Romulus in den Himmel die Rede. Ciceros Kommentar hierzu lautet: „Ihre Leiber wurden nicht in den Himmel erhoben; denn die Natur würde es nicht zulassen, dass das, was von der Erde ist, nicht auf der Erde bliebe.“2 5 Im 10. Buch desselben Werkes erwähnt Augustinus die oft von dem neuplatonischen Philosophen Porphyrios (234-302/5)26 wiederholte Devise, jeder Leib sei zu fliehen, wenn die Seele bei Gott glücklich werden wolle.27 Damit ist eine Auferstehung des Leibes natürlich kategorisch ausgeschlossen. In einem von dem Kirchenvater Makarios überlieferten Passus seines Werkes Gegen die Christen nennt Porphyrios die Gründe, die entschieden gegen die Auferstehung der Leiber sprechen: Gottes Werke sind, anders als Menschenwerke, für alle Ewigkeit bestimmt. Eine Auf24
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en.ps. 88,2,5 (CChr.SL 39: 1237,56-65): In nulla ergo re tam vehementer, tam pertinaciter, tam obnixe et contentiose contradicitur fidei christianae, sicut de carnis resurrectione. Nam de animi immortalitate multi etiam philosophi gentium multa disputaverunt, et immortalem esse animum humanum pluribus et multiplicibus libris conscriptum memoriae reliquerunt; cum ventum fuerit ad resurrectionem carnis, non titubant, sed apertissime contradicunt, et contradictio eorum talis est, ut dicant fieri non posse ut caro ista terrena possit in caelum adscendere. CICERO, De re publica III, frg. 40: Quorum non corpora […] sunt in caelum elata; neque enim natura pateretur, ut id quod esset e terra nisi in terra maneret. Zitiert von Augustinus, civ. 22,4. Vgl. G. FÖRSTER, Ein universaler Heilsweg? Die Auseinandersetzung des hl. Augustinus mit Porphyrios in De civitate Dei X, in: M. Neubrand/S. Gathmann (Hg.), „Lebendige Gemeinde“. Beiträge aus biblischer, historischer, systematischer und praktischer Theologie, Regensburg 2005, 284-313; ebd., 291-299 über Leben, Werk und Lehre des Neuplatonikers. civ. 10,29 (CChr.SL 47: 305,62-64): [Porphyrius] in his ipsis libris, ex quibus multa posui, quos de regressu animae scripsit, tam crebro praecip[it] omne corpus esse fugiendum, ut anima possit beata permanere cum deo. – J. J. O̕MEARA, Porphyry̕s philosophy from oracles in Augustine, Etudes Augustiniennes, Paris 1959, 82, hat mehrere von Augustinus dem Porphyrios zugewiesene Sätze dessen Werk Über die Philosophie aus den Orakeln zugeschrieben. Zu ihnen gehören auch einige, die die Auferstehung der Leiber betreffen.
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erstehung ist unvereinbar mit der Natur von Gottes Werken. Zweitens, eine Auferstehung hätte die Gleichzeitigkeit aller Menschen zur Folge, was unsinnig ist. Drittens, die Wiederherstellung der Leiber ist angesichts der Tatsache, dass oft die einen von den anderen verzehrt werden, absurd. Die christliche Replik „Gott kann alles“ ist falsch. Er kann nicht bewirken, dass zweimal zwei nicht vier ist.28 Porphyrios ist Neuplatoniker, und für Platoniker stellt der Leib eine Strafe dar für die aus dem Himmel auf die Erde herabgekommenen und verbannten Seelen. Er erzeugt unsere Leidenschaften und Laster. Logischerweise kann ein Philosoph nur entschieden widersprechen, wenn die christliche Lehre behauptet, zur Glückseligkeit des Menschen gehöre die Auferstehung auch des Leibes.2 9 Schon die Vorstellung, ein Körper könne in den Himmel gelangen, widerspricht den elementarsten Gesetzen der Natur. Denn nach ihnen nehmen die 28
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PORPHYRIUS, Fragment 94 (Harnack 101f.): „Warum sollte Gott dies tun und die bis jetzt sich fortsetzende Abfolge, durch die er die Geschlechter zu bewahren und nicht zu unterbrechen bestimmte, so leichtsinnig auflösen, nachdem er sie von Anfang an festgesetzt und gestaltet hatte? Was Gott einmal beschlossen hat und was so lange bewahrt wurde, muss seinerseits ewig sein und wird vom Schöpfer weder verachtet noch wie das durch einen Menschen Entstandene und von einem Sterblichen sterblich Geschaffene vernichtet. Deswegen ist es sinnlos, wenn die Auferstehung von allem Verschwundenen nachher folgt, wenn ein vielleicht drei Jahre vorher Gestorbener wieder aufersteht und zusammen mit ihm der vor tausenden Jahren gestorbene Priamos und Nestor und andere vor jenen von dem menschlichen Geschlecht. Wenn aber jemand dies denken will, dann wird er die Sache der Auferstehung voller Dummheit finden. Denn viele gingen oft im Meer zugrunde und ihre Leiber wurden von Fischen verzehrt, viele aber wurden von wilden Tieren und Vögeln gefressen. Wie können da ihre Leiber wiederkommen? Auf, lasst uns das Gesagte scharfsinnig überprüfen! Zum Beispiel, jemand erlitt einen Schiffbruch, dann genossen Seebarben seinen Leib, dann – als irgendwelche Fischer diese fingen und aßen – wurden sie geschlachtet und von Hunden gefressen. Als die Hunde gestorben waren, verzehrten Raben und Geier sie vollständig. Wie wird nun der Leib des Schiffbrüchigen, der von so vielen Lebewesen gänzlich aufgezehrt wurde, wieder zusammengefügt? Und wiederum ein anderer Leib, der vom Feuer verzehrt wurde, und noch einer, den das Los der Würmer traf, wie kann er zu der ursprünglichen Substanz zurückgelangen? Doch du sagst mir, dass dies dem Gott möglich ist, was jedoch nicht wahr ist. Denn er kann nicht alles. Natürlich kann er nicht machen, dass Homer kein Poet geworden ist, auch nicht, dass Ilion nicht erobert wurde, auch dürfte er nicht bewirken, dass zweimal zwei, was vier ergibt, hundert sind, auch wenn er dies beschlösse. Doch der Gott kann auch niemals böse werden, auch wenn er es wollte, aber er kann auch nicht, weil er gut ist, die Natur verfälschen.“ civ. 13,16 (CChr.SL 48: 396,1-397,7): Sed philosophi, contra quorum calumnias defendimus civitatem dei, hoc est eius ecclesiam, sapienter sibi videntur inridere, quod dicimus animae a corpore separationem inter poenas eius esse deputandam, quia videlicet eius perfectam beatitudinem tunc illi fieri existimant, cum omni prorsus corpore exuta ad deum simplex et sola et quodam modo nuda redierit.
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Körper den Ort ein, der ihnen nach ihrem Gewicht zukommt. Die Körper nehmen den untersten Ort ein, den nächst höheren das Wasser, einen noch höheren der Äther und den vierten obersten der Himmel. Summa summarum: Ein irdischer Leib kann sich nicht im Himmel befinden, denn die verschiedenen Elemente halten sich durch ihre eigene Schwere im Gleichgewicht, so dass sie ihren Ort behalten.30
Wie Augustinus besonders in seinen Predigten über die Auferstehung bezeugt, bleiben die Argumente der Philosophen auf seine Zuhörer nicht ohne Wirkung. Hinzukommen natürlich auch Zweifel und Einwände aus dem sogenannten gesunden Menschenverstand: Wie soll das möglich sein, dass dieser Staub wieder ein lebendiger Leib wird?3 1 Gerade auch der von Paulus behauptete Zusammenhang zwischen der Auferstehung Christi und der Auferstehung am Ende der Zeit erscheint wie eine unzulässige Anmaßung der Gläubigen. Sie dürfen sich nicht mit Christus gleichsetzen.32 Offene Gräber mit ihrem verwesten Inhalt erfüllen die Menschen mit tiefstem Zweifel: Wie soll denn das alles wieder zum Leben kommen können?33 Natürlich gab es auch Zweifel, in welcher konkreten Gestalt denn die Auferstehung des Fleisches erfolgen sollte. Wird man mit den im Leben erfahrenen Verunstaltungen auferstehen oder ohne sie?34 Lang ist die Liste der Fragen, Einwände und Zweifel, denen sich der Bischof in seinen Predigten über die Auferstehung konfrontiert sieht. Wir brechen hier ab.35
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civ. 22,11 (CChr.SL 48: 829,9f.): Non potest esse terrenum corpus in caelo; momentis enim propriis, ut ordinem suum teneant, singula elementa librantur. s. 127,15 (PL 38: 713,23-26): Sed ecce, inquit, in sepulcro quod video, favilla est, cinis est, ossa sunt: et hoc item accipiet vitam, cutem, pulpas, carnem, et resurget? Quid, favilla ista, ossa ista! s. 361,15 und s. Mai 87,1f. s. 361,12 (PL 39: 1605,21-26): Saepe enim vel vetustate vel aliqua non sacrilega necessitate apertis vel nudatis sepulcris, inventa sunt corpora putruisse, et suspirantes gemuerunt homines, qui solent corporali specie delectari, et dixerunt in cordibus suis: Itane iste cinis aliquando habebit illam speciem pulchritudinis, reddetur vitae? Reddetur luci? Quando istud erit? Quando ego aliquid vivum de hoc cinere sperem? civ. 22,12 (CChr.SL 48: 832,45-48): Consectantur etiam quasque foeditates et vitia, sive accidant sive nascantur, ubi et monstrosos partus cum horrore atque inrisione commemorant, et requirunt, quaenam cuiusque deformitatis resurrectio sit futura. Vgl. hierzu den Überblick bei P. COURCELLE, Propos antichrétiens rapportés par saint Augustin, in: Recherches augustiniennes 1 (1958) 149-196, hier speziell über die Auferstehung des Fleisches 163-170.
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2. ERSTE PHASE: DIE AUFERSTEHUNG DES FLEISCHES WIRD NOCH NICHT ALS PROBLEM WAHRGENOMMEN In der ersten Phase, also der Zeit vor dem Werk De fide et symbolo (393), in dem Augustinus sich zum ersten Mal in aller Explizitheit dem Problem der leiblichen Auferstehung stellt, ist nur sehr sporadisch von der Auferstehung die Rede.36 Der früheste Beleg für die Vokabel resurgere befindet sich in den 386/7 entstandenen Soliloquiorum libri duo, für den Terminus resurrectio in De moribus ecclesiae catholicae et Manichaeorum (388/90). Eine der in sol. vorkommenden Gebetsanrufungen lautet: „Gott, von dem sich abzuwenden fallen, zu dem sich hinzuwenden aufstehen, und in dem zu stehen bleiben bedeutet.“37 Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass der Beter hier an die Auferstehung der Toten denkt. Es geht um Aufstehen im sittlichen Sinn im Gegensatz zum Fallen in die Sünde. In mor.3 8 kommt Augustinus im Rahmen einer Abhandlung über die vier Kardinaltugenden anlässlich der Tapferkeit auf die Auferstehung zu sprechen. Es gilt tapfer zu sein bei dem, was man loslassen muss. Aber von allem Besitz in diesem Leben ist der Körper für den Menschen die schwerste Fessel […]. Diese Fessel nun lässt, um nicht erschüttert und gequält zu werden, die Seele in Schrecken vor Schmerz und Mühsal erbeben, sowie vor Todesschrecken, um nicht dahingerafft und vernichtet zu werden. Sie liebt ihn nämlich durch die Macht der Gewohnheit, ohne zu verstehen, dass, gebraucht sie ihn gut und wissend, seine Wiederauferstehung und Neugestaltung durch Gottes Macht und Gesetz ohne irgendeine Beschwerlichkeit ihrer Satzung unterstellt werden wird.3 9
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VAN FLETEREN, Augustinus, 446f., stellt die in Cassiciacum verfassten Schriften, in denen die Auferstehung zwar noch nicht direkt erwähnt, aber doch schon im Zusammenhang der Schau Gottes mittelbar berührt wird, treffend unter die Überschrift „Porphyrius: omne corpus fugiendum“ und zitiert dazu Augustins spätere Korrekturen aus den Retractationes. sol. 1,3 (CSEL 89: 5,17-19): Deus, a quo averti cadere, in quem converti resurgere, in quo manere consistere est. Vgl. hierzu E. RUTZENHÖFER, Einleitung, in: Augustinus, De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manichaeorum, zweisprachige Ausgabe, Augustinus, Opera. Werke 25, Paderborn 2004, 7-40. mor. 1,40 (CSEL 90: 46,1-6): Amat enim illud vi consuetudinis, non intelligens, si eo bene atque scienter utatur, resurrectionem re formationemque eius ope ac lege divina sine ulla molestia iuri suo subditam fore; sed cum hoc amore totum in deum converterit, his cognitis mortem non modo contemnet, verum etiam desiderabit. (Übersetzung von E. Rutzenhöfer.)
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Hier ist zwar schon, anders als man vermutet hat40, von einer Auferstehung nach dem Tode die Rede, sie ist aber noch gesehen ausschließlich als ein Aspekt der Frage der rechten Unterordnung des Leibes unter die Seele. Es geht im Zusammenhang um die Erlangung der Glückseligkeit schon hier auf Erden. Man kann vermuten, dass sich Augustinus̕ Theologie der leiblichen Auferstehung und Erneuerung zu dieser Zeit noch entwickelt und er eher biblisch-frühchristliche Terminologie benutzt, ohne sie bereits voll begründen zu können.4 1
Der Dialog De animae quantitate (387/8) schildert im zweiten Teil, in dem es um die Größe der Seele geht, auf der siebten und höchsten Stufe, die Schau der Seele: Sehen werden wir auch die großen Veränderungen und Phasen dieser körperlichen Natur, während sie den göttlichen Gesetzen dient, so dass wir auch die Auferstehung des Fleisches, die teils säumiger teils überhaupt nicht geglaubt wird, mit solcher Sicherheit annehmen, dass uns der Aufstieg der untergegangenen Sonne nicht sicherer sein kann.42
Indem Augustinus hier ein sicheres Annehmen der Auferstehung erst für die höchste Stufe beim Aufstieg der Seele vorsieht, gibt er doch indirekt zu, dass er jetzt noch Probleme mit ihr hat. In diesem Sinne schreibt auch Elke Rutzenhöfer: „In an.quant. 76 jedenfalls gesteht er [d. h. Augustinus] noch ein, dass er die leibliche Auferstehung nicht verstehe.“4 3 In dem zu der geplanten Gesamtdarstellung der Artes liberales gehörenden De musica4 4 (388-390) kommt Augustinus dreimal in dem der Philosophie gewidmeten Buch VI auf die Auferstehung zu sprechen. Die erste Stelle, mus. 6,745, kann mit van Fleteren „als eine weitere 40
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RUTZENHÖFER, Einleitung, Anm. 63: „Hier ist aber wohl eher auf eine Auferstehung vor dem Tode angespielt, d. h. auf eine geistige Wiedergeburt oder Bekehrung, ein Vertauschen des Alten Menschen mit dem Neuen.“ Ebd. an.quant. 76 (CSEL 89: 224,21-225,3): Videbimus etiam naturae huius corporeae tantas conmutationes et vicissitudines, dum divinis legibus servit, ut ipsam etiam resurrectionem carnis, quae partim tardius, partim omnino non creditur, ita certam teneamus, ut certius nobis non sit solem, cum occiderit, oriturum. RUTZENHÖFER, Einleitung, Anm. 63. Zur Disposition von mus. vgl. A. KELLER, Aurelius Augustinus und die Musik. Untersuchungen zu „De musica“ im Kontext seines Schrifttums, Würzburg 1993, 67-147, speziell zu Buch VI ebd., 128-143. mus. 6,7 (PL 32: 1167,33-37): Corpora enim tanto meliora sunt, quanto numerosiora talibus numeris. Anima vero istis quae per corpus accipit, carendo fit melior, cum sese avertit a carnali-
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Form des omne corpus fugiendum gelesen werden“46, die Auferstehung ist hier jedenfalls noch ganz in der Sicht von mor. 1,40 im Zusammenhang des Problems der Unterordnung des Leibes unter die Seele gesehen. Dass Augustinus selber den Text für verbesserungswürdig hält, zeigt die in den Retractationes vorgenommene Korrektur bzw. Erklärung.47 Auch zur zweiten Stelle, mus. 6,1348, gibt Augustinus in den Retractationes eine Verstehenshilfe: Die Auferstehung des Leibes ist nicht als eine einfache Rückkehr ins Paradies zu verstehen.49 Konnte man mus. 6,7 noch den Eindruck haben, dass die leiblichen Sinne bei der Anschauung Gottes keine Rolle mehr spielen, so scheint Augustinus an der dritten Stelle, mus. 6,4950, diesen Sinnen dabei doch eine Rolle zuzuschreiben. Zum Schrifttum Augustins vor seiner Priesterweihe gehört auch De vera religione (389-391), sein erster Versuch eines Gesamtsystems christlicher Philosophie und Theologie. Hier wird zunächst die Auferstehung bus sensibus, et divinis sapientiae numeris reformatur. – Zur Problematik der Stelle vgl. P. A. FERRISI, La resurrezione della carne nel ‚De fide et symbolo‘ di S. Agostino, in: Augustinianum 33 (1993) 213-232, hier 214-216. 46 VAN FLETEREN, Augustinus, 449. 47 retr. 1,11,2 (CChr.SL 57: 33,15-34,25): Non sic accipiendum est, quasi non sint futuri numeri corporales in corporibus incorruptibilibus et spiritalibus, cum multo speciosiora et decentiora futura sint, aut anima eos sensura non sit, quando erit optima, quemadmodum hic eis carendo fit melior. Hic enim opus habet avertere se a carnalibus sensibus ad intellegibilia capienda, quia infirma est et minus idonea utrisque simul adhibere intentionem suam; et in his corporalibus nunc inlecebra cavenda est, quamdiu anima inlici ad delectationem turpem potest. Tunc autem tam firma erit atque perfecta, ut numeris corporalibus non avertatur a contemplatione sapientiae […]. 48 mus. 6,13 (PL 32: 1170,15-22): Haec autem sanitas tunc firmissima erit atque certissima, cum pristinae stabilitati, certo suo tempore atque ordine, hoc corpus fuerit restitutum, quae resurrectio eius antequam plenissime intelligatur, salubriter creditur. Oportet enim animam et regi a superiore, et regere inferiorem. Superior illa solus deus est, inferius illa solum corpus, si ad omnem et totam animam intendas. 49 retr. 1,11,3 (CChr.SL 57: 34,28-35): Item quod dixi: Haec autem sanitas tunc firmissima erit atque certissima, cum pristinae stabilitati certo suo tempore atque ordine hoc corpus fuerit restitutum (mus. 6,13), non ita dictum putetur, quasi non sint futura post resurrectionem corpora meliora, quam primorum hominum in paradiso fuerunt, cum illa iam non sint alenda corporalibus alimentis, quibus alebantur ista; sed pristina stabilitas hactenus accipienda est, quatenus aegritudinem ita nullam corpora illa patientur, sicut nec ista pati possent ante peccatum. 50 mus. 6,49 (PL 32: 1188,53-1189,6): Quanto magis quantoque constantius, cum corruptibile hoc induerit incorruptionem, et mortale hoc induerit immortalitatem (1 Cor 15,53), id est, ut hoc idem planius eloquar, cum deus vivificaverit mortalia corpora nostra, sicut apostolus dicit, propter spiritum manentem in nobis (Rm 8,11): quanto ergo tunc magis in unum deum et perspicuam intenti veritatem, ut dictum est, facie ad faciem (1 Cor 13,12), numeros quibus agimus corpora, nulla inquietudine sentiemus, et gaudebimus? Nisi forte credendum est, animam cum de iis quae per ipsam bona sunt, gaudere possit, de iis ex quibus ipsa bona est, non posse gaudere.
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des Leibes sowohl Christi selber als auch der Menschen als Glaubensgegenstand des Credos erwähnt51, dann, zweitens, schon eine erste sehr knappe Deutung dieses Glaubensartikels gegeben: es wird nach dem leiblichen Tode, der Straffolge der ersten Sünde, auch dieser unser Leib zu seiner Zeit und in seiner Ordnung zu der Gesundheit und Kraft, die er anfänglich besaß, erneuert werden […], und zwar durch seine in Gott gesundete Seele, nicht durch sich selbst. Aber auch die Seele gesundet nicht durch sich selbst, sondern durch Gott, den sie genießt. Darum besitzt sie mehr Lebenskraft als der Leib, denn dieser gewinnt seine Kraft durch sie, sie selber aber durch die unwandelbare Wahrheit, den eingeborenen Gottessohn. So wird also auch der Leib durch den Sohn Gottes Lebenskraft erlangen, der ja alles zum Leben erweckt. Denn durch seine Gabe, die der Seele verliehen wird, nämlich den Heiligen Geist, wird nicht nur die Seele, die sie empfängt, gesund, friedvoll und heilig sein, sondern auch der Leib wird aufleben und in seiner Natur ganz rein sein.5 2
Augustinus kommentiert auch diesen Text in seinen Retractationes.5 3 An der dritten Stelle nennt Augustinus die Auferstehung Christi als das entscheidende Beispiel für unsere eigene: So war sein [d. h. Christi] ganzes Leben auf Erden in der menschlichen Gestalt, die anzunehmen er sich herabließ, eine Sittenlehre. Seine Auferstehung von den Toten aber zeigt an, dass kein Teil der menschlichen Natur dem Verderben anheim fallen kann, wenn die völlige Heilung durch Gott erfolgt ist.5 4
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vera rel. 14 (CChr.SL 32: 197,8-13): Non enim iam illa hominis sacrosancta susceptio et virginis partus et mors filii dei pro nobis et resurrectio a mortuis et in caelum ascensio et consessus ad dexteram patris et peccatorum abolitio et iudicii dies et corporum resuscitatio cognita aeternitate trinitatis et mutabilitate creaturae creduntur tantum et non etiam iudicantur ad summi dei misericordiam, quam generi humano exhibet, pertinere. vera rel. 25 (CChr.SL 32: 202,29-203,40): Inde iam erit consequens ut post mortem corporalem, quam debemus primo peccato, tempore suo atque ordine suo hoc corpus restituatur pristinae stabilitati, quam non per se habebit, sed per animam stabilitam in deo. Quae rursus non per se stabilitur, sed per deum, quo fruitur ideoque amplius quam corpus vigebit. Corpus enim per ipsam vigebit et ipsa per incommutabilem veritatem, qui filius dei unicus est, atque ita et corpus per ipsum filium dei vigebit, quia omnia per ipsum. Dono etiam eius, quod animae datur, id est sancto spiritu, non solum anima cui datur salva et paccata et sancta fit, sed ipsum etiam corpus vivificabitur eritque in natura sua mundissimum. retr. 1,13,4. vera rel. 32 (CChr.SL 32: 207,43-49): Tota itaque vita eius in terris per hominem, quem suscipere dignatus est, disciplina morum fuit. Resurrectio vero eius a mortuis nihil hominis perire naturae, cum omnia salva sunt deo, satis indicavit, et quemadmodum cuncta serviant creatori suo sive ad vindictam peccatorum sive ad hominis liberationem quamque facile corpus animae serviat, cum ipsa subicitur deo.
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Von den Auferstandenen heißt es, dass sie weder heiraten noch essen werden.55 Dem auferstandenen Leib wird volle Gesundheit ohne Mangel und Ermüdung zuteil werden. Denn ‚dies Verwesliche wird‘, wenn zu seiner Zeit und in vorgesehener Ordnung die Auferstehung des Fleisches erfolgt, ‚anziehen die Unverweslichkeit‘ (1 Kor 15,53).5 6
De vera religione enthält in nuce eine Fülle von Ideen, die Augustinus in seinem späteren Werk dann voll entfalten wird, die hier bezüglich der Auferstehung genannten gehören auch dazu. Wir stellen jedoch fest, dass an keiner der erwähnten Stellen, auch nicht an der letztgenannten, der Kirchenvater näher auf das Problem der auferstandenen Leiber eingeht, weder auf die Frage ihrer materiellen Identität mit den irdischen Leibern noch auf ihre sonstige nähere Verfassung und Gestalt. 3. ZWEITE PHASE: EINE ERSTE, VON AUGUSTINUS SELBER SPÄTER KRITISIERTE, LÖSUNG DES PROBLEMS DER AUFERSTEHUNG DER LEIBER Die erste systematische Behandlung des Problems der Auferstehung des Fleisches findet sich in der Ansprache, die der neu geweihte Priester am 8. Oktober 393 vor den in Hippo zum Konzil versammelten Bischöfen über das Glaubenssymbol und damit auch über die Auferstehung des Fleisches gehalten hat. Augustins De fide et symbolo ist keine einfache Predigt über das Glaubenssymbol, wie er sie später als Bischof öfter gehalten hat, sondern „eine recht anspruchsvolle Rede voll systematischer Denk- und Überzeugungskraft“57. Die Textgrundlage seiner Ausführungen ist übrigens entweder das römische oder das Mailänder Glaubensbekenntnis, also ein Text, der ausdrücklich von der 55 56
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vera rel. 82. vera rel. 103 (CChr.SL 32: 254,25-29): Quia ex magna parte concordamus cum adversario, dum cum illo sumus in via, et tota sanitas et nulla indigentia et nulla fatigatio aderit corpori, quia corruptibile hoc tempore atque ordine suo, quo resurrectio carnis futura est, induetur incorruptione. A. SCHINDLER, De fide et symbolo, in: Augustinus-Lexikon 2 (1996-2002) 1311-1317, hier 1312; vgl. auch G. BARDY, L’ Enchiridion et la résurrection de la chair, in: Bibliothèque augustinienne 37 (1960) 836-838; FERRISI, La resurrezione, 221-232; G. C. CERIOTTI, De fide et symbolo. Intelligenza della fede, in: Fede e vita: De fide et symbolo. De agone Christiano. Enchiridion. Lectio Augustini XVIII. Settimana Agostiniana Pavese (Studia ephemeridis Augustinianum 91), Rom 2004, 9-34, geht nicht näher auf die Auferstehungsproblematik ein.
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Auferstehung des Fleisches spricht. Bezeichnend nun ist für unsere Fragestellung, dass Augustinus in den Retractationes von f. et symb. nur diese seine Ausführungen über die Auferstehung des Fleisches korrigiert58, Wendungen, die pelagianisch missverstanden werden konnten, ließ er dagegen unbeanstandet. Dies ist ein Hinweis darauf, dass er sich auch selber in dieser Frage einer Entwicklung bewusst ist. Der ehemalige Rhetorikprofessor und jetzige Neupriester beginnt mit der Feststellung: resurget igitur corpus secundum christianam fidem, quae fallere non potest.5 9 Wer diesen Artikel des Glaubensbekenntnisses für unglaubwürdig halte, heißt es weiter, der sei auf das Fleisch in seinem jetzigen Zustand fixiert, sehe aber nicht seinen zukünftigen. Hier ist zunächst deutlich, dass Augustinus das Problem zum ersten Mal ins Auge fasst und benennt: es geht wirklich um den Auferstehungsleib. Er erklärt aber auch sogleich, woher die Glaubensschwierigkeit kommt bzw. wo ihre Lösung zu suchen ist. Man darf nicht beim Blick auf den irdischen Leib stehen bleiben, sondern muss sich über den zukünftigen Gedanken machen. Der entscheidende Satz lautet nun: zur Zeit der Auferstehung wird das Fleisch eine ‚engelhafte Verwandlung‘ erfahren. Es wird nicht mehr ‚Fleisch und Blut‘ geben, sondern nur noch Leib.60 Mit der Nennung von ‚Fleisch und Blut‘ spielt Augustinus auf den in seinen Augen jetzt noch entscheidenden Einwand gegen die Auferstehung des Fleisches an, wie er sie später verteidigen wird, nämlich das Wort des Apostels: „Fleisch und Blut werden nicht das Reich Gottes besitzen“ (1 Kor 15,50).61 Die 58
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retr. 1,17 (CChr.SL 57: 53,14-28): […] ibi de corporum terrestrium in corpora caelestia mutatione disserui, quoniam dixit apostolus, cum inde loqueretur: Caro et sanguis regnum dei non possidebunt (1 Cor 15,50). Sed quisquis ea sic accipit, ut existimet ita corpus terrenum, quale nunc habemus, in corpus caeleste resurrectione mutari, ut nec membra ista nec carnis sit futura substantia, procul dubio corrigendus est, commonitus de corpore domini, qui post resurrectionem in eisdem membris non solum conspiciendus oculis, verum etiam manibus tangendus apparuit, carnemque se habere etiam sermone firmavit dicens: Palpate et videte quia spiritus ossa et carnem non habet sicut me videtis habere (Lc 24,39). Unde constat apostolum non carnis substantiam negasse in dei regno futuram, sed aut homines qui secundum carnem vivunt carnis et sanguinis nomine nuncupasse aut ipsam carnis corruptionem, quae tunc utique nulla erit. f. et symb. 24 (CSEL 41: 30,16f.). Ebd. (CSEL 41: 30,17-20): Quod cui videtur incredibile, qualis nunc sit caro adtendit, qualis autem futura sit non considerat: quia illo tempore inmutationis angelicae non iam caro erit et sanguis, sed tantum corpus. 1 Kor 15,50 kommt hier zum ersten Mal vor. Augustinus zitiert das Wort des Apostels noch weitere 58 mal. Die Gegner verwenden es zur Leugnung der leiblichen Auferstehung (vgl. Anm. 76). In c. Adim. 12 und 13 und in agon. 34 interpretiert Augustinus es noch wie hier in f. et symb. 24. Die ‚neue‘ Interpretation kommt dann mit c. Faust. 11 zur Sprache. Ganz besonders ausführlich wird der ‚neue‘ Sinn von 1 Kor 15,50 in s. 362,13-19 (410/11)
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auferstandenen Leiber werden kein Fleisch und Blut mehr sein, sondern nur noch Leiber. Im himmlischen Bereich gibt es „kein Fleisch mehr, sondern nur noch einfache und leuchtende Leiber, die der Apostel geistig nennt, andere jedoch nennen sie ätherisch“62. Was versteht Augustinus hier unter ‚Äther‘? aether ist für ihn einerseits das höchste der vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Äther63, andererseits sieht er im aetherium corpus einen Gegensatz zum verum corpus.64 Wenn an unserer Stelle nun von ‚anderen‘ die Rede ist, die den auferstandenen Leib als ‚ätherisch‘ bezeichnen, so ist das ganz offensichtlich eine Anspielung auf Origenes. Der Alexandriner ist also die Inspiration oder Quelle, auf die sich Augustinus bei diesem seinem ersten Versuch, das Problem der Auferstehung des Fleisches zu lösen, stützt.65 Wir brauchen hier nicht darüber zu spekulieren, ob Augustinus zu dieser Zeit direkte Kenntnisse über den Alexandriner hat oder ob er lediglich verbreitetes Gedankengut aufgreift und zur Lösung seines Problems verwendet.66 Wir begnügen uns mit der Feststellung: im Hintergrund der angebotenen Lösung steht die Auferstehungstheologie des Origenes. Da das corpus aetherium ausdrücklich von corpus, welches caro ist, unterschieden wird, kann logischerweise von einer materiellen Identität von auferstandenem und irdischem Leib keine Rede sein. Das sieht auch Pietro Ferrisi so:
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und c.adv.leg. 2,22 (CChr.SL 49: 108,670-678) (419) dargelegt: Quod ibi dictum est: Caro et sanguis (1 Cor 15,50), intellegamus corruptionem, non substantiam carnis; et quod ibi dictum est: Regnum dei (1 Cor 15,50), intellegamus incorruptionem. Atque ita nihil aliud dictum putemus: Caro et sanguis regnum dei non possidebit (1 Cor 15,50), quam si diceretur: Corruptio incorruptionem non possidebit (1 Cor 15,50), id est corruptio carnis et sanguinis in illius regni incorruptione non erit propter immutationem scilicet, de qua mox locutus adiunxit: Oportet corruptibile hoc induere incorruptionem (1 Cor 15,53). f. et symb. 24 (CSEL 41: 30,20-31,8): Cum enim de carne apostolus loqueretur, alia, inquit, caro pecorum, alia volucrum, alia piscium, alia serpentum. Et corpora caelestia, et corpora terrestria (1 Cor 15,39sq.). Non enim dixit: et caro caelestis, dixit autem: et caelestia et terrestria corpora (1 Cor 15,40). Omnis enim caro etiam corpus est, non autem omne corpus etiam caro est: primo in istis terrestribus, quoniam lignum corpus est, sed non caro; hominis autem vel pecoris et corpus et caro est; in caelestibus vero nulla caro, sed corpora simplicia et lucida quae appellat apostolus spiritalia, nonnulli autem vocant aetherea. Vgl. Anm. 69 und ep. 166,4 (CSEL 44: 552,10-12): Quapropter si anima corpus esse dicenda est, non est certe corpus, quale terrenum est nec quale humidum aut aerium aut aetherium. In vera rel. 30 unterscheidet Augustinus zwischen der caro bzw. dem verus homo Christi und einem aetherium corpus. Vgl. auch FERRISI, La resurrezione, 226-230. Zu Augustins Kenntnissen über Origenes und zu seiner Beziehung zu ihm vgl. C. P. BAMMEL, Augustine, Origen and the Exegesis of St. Paul, in: Augustinianum 32 (1992) 341-368, hier 342-347.
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Dal testo traspare con chiarezza che il corpo non è semplicemente riconducibile alla somma degli elementi fisici che lo costituiscono, poiché si contraddistingue per la forma e la strutturazione armonica delle sue parti.67
Augustinus fasst schließlich zusammen: „Deshalb widerspricht der Satz: ‚Fleisch und Blut werden das Reich Gottes nicht besitzen‘ nicht der Auferstehung des Fleisches“6 8 und leitet zu einem zweiten Teil des Kapitels über, nämlich zu der Frage, wie die Menschen zu diesem Glauben an die Auferstehung des Fleisches geführt werden können. Es geht um die Beseitigung der Hindernisse, die diesem Glauben entgegenstehen. Auch auf dem pastoral-apologetischen Feld operiert Augustinus mit dem eben beschriebenen Leibbegriff: Wer nicht glaubt, welcher Umwandlung dieses Fleisch fähig ist, muss eben stufenweise zum Glauben geführt werden. Fragst du ihn zum Beispiel, ob Erde in Wasser umgewandelt werden könne, wird ihm das wegen der Nachbarschaft der beiden Elemente nicht unglaublich erscheinen. Wenn du weiter fragst, ob Wasser zu Luft werden kann, wird er antworten, dass auch das nicht unmöglich ist, weil auch sie beide verwandt sind. Und wenn von der Luft gefragt wird, ob sie in einen ätherischen, das heißt in einen himmlischen Körper umgewandelt werden kann, wird allein schon ihre Nachbarschaft überzeugen. Sobald er also diese stufenweisen Möglichkeiten zugibt, aus denen sich folgern lässt, dass Erde in einen ätherischen Körper umgewandelt werden kann, warum soll er nicht glauben, dass unter Voraussetzung des Willens Gottes, nach dem der menschliche Körper über Gewässern wandeln konnte, unsere Umwandlung in höchster Geschwindigkeit sich ereignen kann, wie es heißt ‚in einem Augenblick‘ (1 Kor 15,52), und zwar mit Überwindung aller dieser Stufen, so wie oft in wunderbarer Schnelligkeit ein Rauch sich in eine lodernde Flamme umwandelt?6 9
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FERRISI, La resurrezione, 222. – Vgl. ebd.: „La chiave di volta per la comprensione del testo è la distinzione che il dottore di Ippona opera tra caro e corpus. Quando Agostino sostiene che il corpo celeste non sarà caro et sanguis, sed tantum corpus intende dire che il corpo del quale sta trattando è quello ‚tout court‘, cioè privo di ulteriori qualificazioni e senza la presenza della carne.“ f. et symb. (CSEL 41: 31,8-12): Et ideo non carnis resurrectioni contradicit illud, quod ait: Caro et sanguis regnum dei non possidebunt (1 Cor 15,50), sed quale futurum sit, quod nunc caro et sanguis est, praedicat, in qualem naturam quisquis hanc carnem converti posse non credit, gradibus ducendus est ad fidem. – Zur Einschätzung dieser Lösung des Problems der leiblichen Auferstehung vgl. FERRISI, La resurrezione, 232: „La nozione di corporeità eterica nel capitolo XXIV del De fide et symbolo è il primo mediato tentativo del dottore di Ippona di mantenere inalterata la verità cristiana della resurrezione, senza nulla concedere si allo spiritualismo platonico che al dualismo gnostico.“ f. et symb. 24 (CSEL 41: 31,11-32,16): […] in qualem naturam quisquis hanc carnem converti posse non credit, gradibus ducendus est ad fidem. Si enim ab eo quaeras, utrum terra in
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Mit dieser Theorie von der Verwandelbarkeit des Leibes bzw. der Erde in je verschiedene ‚Elemente‘ – Erde in Wasser, Wasser in Luft und Luft in Äther – hält Augustinus hier nicht nur das theologisch-anthropologische Problem für gelöst, sondern auch den Einwand der Philosophen gegen die Auferstehung des Fleisches für widerlegt: Selbst die Philosophen, mit deren Argumenten der Auferstehung des Fleisches öfter widersprochen wird, weil sie nämlich behaupten, dass kein irdischer Körper im Himmel sein könne, selbst sie geben zu, dass jeder Körper in einen anderen umgewandelt und verwandelt werden kann.70
Um auf die oben zitierten Retractationes zu dieser Stelle zurückzukommen7 1: Augustins Kritik bezieht sich auf seine Aussage, dass die Leiber der Auferstandenen ‚himmlisch‘ sein werden im Sinne von ‚ätherisch‘. Sie werden nicht ‚ätherisch‘ sein, sondern Substanzen aus ‚Fleisch und Blut‘. Es wird zwar kein verwesliches Fleisch mehr geben, wohl aber Fleisch. Fleisch ist also zu verstehen secundum corruptionem carnalem, nicht secundum substantiam. Und vor allem: das entscheidende Vorbild für die Auferstehung am Ende der Zeit ist der betastbare und sichtbare Auferstehungsleib Christi. In den folgenden Jahren gibt es einige Texte, die das gleiche Stadium der Entwicklung in der Frage der Auferstehung des Fleisches anzeigen wie in f. et symb. In dem zwischen 388 und 397 entstandenen De diversis quaestionibus, das nach der Literaturgattung der quaestiones et responsiones theologische, philosophische und exegetische Fragen bündelt, lautet die 47. Frage: „Wie können wir nach der Auferstehung und der Veränderung des Leibes, welche den Heiligen verheißen ist, unsere Gedanken sehen?“7 2 Die Antwort beschreibt die körperliche Verfassung der Auferstehungsleiber mit denselben Begriffen wie f. et symb.73: Die Leiber
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aquam possit converti, propter vicinitatem non ei videtur incredibile. Rursus si quaeras utrum aqua possit in aerem, neque hoc absurdum esse respondet; vicina enim sunt sibi. Et de aere si quaeras, utrum in aethereum corpus, id est in caeleste possit mutari, iam ipsa vicinitas persuadet. Quod ergo per hos gradus fieri posse concedit, ut terra in corpus aethereum convertatur, cur non accedente dei voluntate, qua corpus humanum super aquas potuit ambulare, celerrime id fieri posse, quemadmodum dictum est: in ictu oculi [1 Cor 15,52], sine ullis talibus gradibus credit, sicut plerumque fumus in flammam mira celeritate convertitur? Ebd. (32,3-6): Philosophi autem, quorum argumentis saepius resurrectioni carnis resistitur, quibus asserunt nullum esse posse terrenum corpus in caelo, omne corpus in omne corpus converti et mutari posse concedunt. Vgl. Anm. 58. div.qu. 47 (CChr.SL 44A: 74,3-5): […] quomodo post resurrectionem atque immutationem corporis, quae sanctis promittitur, cogitationes nostras videre possimus. div.qu. 47 (CChr.SL 44A: 74,5-11): Coniectura itaque capienda est ex ea parte corporis nostri
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werden ‚leuchtend‘ und ‚ätherisch‘ sein. Die Verwendung dieser Begriffe ist vielleicht auch ein Hinweis auf die nähere Datierung der quaestio 47 in die Zeit nach 393. Die in Contra Adimantum Manichaeum (394) gemachten Aussagen über die bleibende Körperlichkeit des als geistlich bezeichneten Auferstehungsleibes sind wohl noch vor dem gleichen Hintergrund wie in f. et symb. zu verstehen, d. h. es handelt sich um ätherische, leuchtende Leiber, auch wenn diese Vokabeln nicht benutzt werden.74 Im übrigen ist der Auferstehungsleib Christi das Vorbild unseres zukünftigen auferstandenen Leibes.75 In De agone christiano (396) geht es um die gleiche Problematik wie in mehreren bisher erwähnten Texten, nämlich die Unterordnung des Leibes unter die Seele; hier wird der Leib sogar noch ausdrücklich als caeleste et angelicum bezeichnet. Wir haben es also immer noch mit der in f. et symb. dargelegten Lösung des Problems des Auferstehungsleibes zu tun.76 Dass diese Interpretation zutreffend ist, zeigt nicht zuletzt der betreffende Kommentar in den Retractationes, der die Substantialität des Auferstehungsleibes herausstellt77. In agon. 34 kommt auch das noch 58 weitere Male zitierte Wort „Fleisch und Blut werden das Gottesreich nicht besitzen“ (1 Kor 15,50) vor. Es sei ein
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quae plus habet lucis, quoniam angelica corpora, qualia nos speramus habituros, lucidissima atque aetherea esse credendum est. Si ergo multi motus animi nostri nunc agnoscuntur in oculis, probabile est quod nullus motus animi latebit, cum totum fuerit corpus aetherium, in cuius conparatione isti oculi caro sunt. c.Adim. 12 (CSEL 25,1: 143,7-13): […] ut ostendat (Paulus), qualis futura sit ipsa inmutatio. Statim quippe dicit: Oportet enim corruptibile hoc induere incorruptionem et mortale hoc induere inmortalitatem (1 Cor 15,53). Hinc ergo adparet, quia caro et sanguis regnum dei non possidebunt, quia cum induerit incorruptionem et inmortalitatem, iam non caro et sanguis erit, sed in corpus caeleste mutabitur. – Vgl. retr. 1,22,3. c.Adim. 12 (CSEL 25,1: 142,7-12): Nam quoniam domini nostri corpus post resurrectionem sic levatum est in caelum, ut pro ipsa caelesti habitatione caelestem acceperit mutationem, et hoc sperare in die ultimo iussi sumus, ideo dixit apostolus: qualis terrenus, tales et terreni (1 Cor 15,48), id est mortales. agon. 34 (CSEL 41: 136,14-25): Nec eos audiamus, qui carnis resurrectionem futuram negant et commemorant, quod ait apostolus Paulus: Caro et sanguis regnum dei non possidebunt (1 Cor 15,50), non intellegentes, quod ipse dicit apostolus: Oportet corruptibile hoc induere incorruptionem et mortale hoc induere inmortalitatem (1 Cor 15,53). Cum enim hoc factum fuerit, iam non erit caro et sanguis, sed caeleste corpus. Quod et dominus promittit, cum dicit: Neque nubent neque uxores ducent, sed erunt aequales angelis dei (Mt 22,30). Non enim iam hominibus, sed deo vivent, cum aequales angelis facti fuerint. Inmutabitur ergo caro et sanguis et fiet corpus caeleste et angelicum. retr. 2,3 (CChr.SL 57: 92,11-17): Non sic accipiendum est, quasi carnis non sit futura substantia, sed carnis et sanguinis nomine ipsam corruptionem carnis et sanguinis intellegendus est apostolus nuncupasse, quae utique in regno illo non erit, ubi caro incorruptibilis erit; quamvis et aliter possit intellegi, ut carnem et sanguinem opera carnis et sanguinis dixisse accipiamus apostolum, et eos dei regnum non possessuros qui perseveranter ista dilexerint.
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Wort, so Augustinus, mit dem die Gegner gegen die Auferstehung des Fleisches argumentieren, weil sie es nicht richtig verstehen. Sein richtiger Sinn ist jedoch der eben angedeutete. Auch in Buch I von De doctrina christiana (396-397) dürfte noch die gleiche Anschauung herrschend sein; denn ‚Fleisch und Blut‘ können das Gottesreich nicht besitzen78. Der vorherrschende Gedanke bei der Auferstehung des Fleisches ist dessen Verwandlung, auch wenn die Begriffe ätherisch oder engelgleich nicht verwendet werden. 4. DRITTE PHASE: EINFACHE AFFIRMATION DER MATERIELLEN IDENTITÄT ZWISCHEN IRDISCHEM UND AUFERSTANDENEM LEIB Der entscheidende Durchbruch zu einer neuen Konzeption des Auferstehungsleibes findet in einem Werk statt, das bisher von der Forschung stark vernachlässigt wurde. Das von Augustinus selber zu Recht als opus grande (retr. 2,7,1) bezeichnete Contra Faustum Manichaeum (400404)79 besteht aus 33 in keinem erkennbaren Zusammenhang stehenden capitula 80, schriftgestützten Attacken des renommierten Manichäers gegen die katholische Kirche, und den entsprechenden responsiones des Augustinus. Die capitula stellen den wichtigsten manichäischen Text in lateinischer Sprache dar. In der responsio auf das capitulum XI, in dem Faustus die Paulus-Interpretation der katholischen Kirche angreift, kommt Augustinus auch auf die Auslegung von 1 Kor 15,44-50 zu sprechen. Exemplarischer Fall für die Auferstehung des Fleisches ist 78
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doctr.chr. 1,18 (Simonetti 38,5-12): […] corpus post istam mortem, quam vinculo peccati omnes debemus, credendum et sperandum est resurrectionis tempore in melius commutari, ut non caro et sanguis regnum caelorum possideat, quod fieri non potest, sed corruptibile hoc induat incorruptionem et mortale hoc induat immortalitatem nullamque faciens molestiam, quia nullam patietur indigentiam, a beata perfectaque anima cum summa quiete vegetetur. CSEL 25,1: 251-797. – Näheres hierzu bei F. DECRET, Contra Faustum Manicheum, in: Augustinus-Lexikon 2 (1996-2002) 1244-1252; C. MAYER, Die antimanichäischen Schriften Augustins. Entstehung, Absicht und kurze Charakteristik der einzelnen Werke unter dem Aspekt der darin verwendeten Zeichentermini, in: Augustinianum 14 (1974) 277-313, hier 298-303 über c.Faust. Diese capitula entsprechen vom genus litterarium her den Kephalaia des Mani. Es handelt sich jeweils um das gleiche Frage-Antwort-Spiel. Näheres bei G. WURST, Bemerkungen zu Struktur und genus litterarium der capitula des Faustus von Mileve, in: J. v. Ort/O. Wermelinger/G. Wurst (Hg.), Augustine and Manichaeism in the Latin West. Proceedings of the Fribourg-Utrecht symposium of the International Association of Manichaean Studies, Leiden 2001, 306-324.
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hier in aller Klarheit die Auferstehung Christi. Wie sie zu verstehen ist, macht der Bischof von Hippo am Bild der Tunika bei der Verklärung deutlich. Wie Christus diese nicht ablegt und an ihrer Stelle eine andere anzieht, so legt er auch seinen Leib nicht ab und zieht einen anderen an, sondern so wie die Tunika selber verklärt wird, ist es auch mit seinem Leib bei der Auferstehung. Er bleibt, auch wenn er verklärt wird, identisch derselbe. Was an Christus exemplarisch sichtbar gemacht werden kann, überträgt Augustinus dann auf die Auferstehung am Ende der Zeit. Dies geschieht konkret in einer neuen Auslegung von 1 Kor 15,50: ‚Fleisch und Blut‘ bezeichnen nun nicht mehr die species carnis und die substantia carnis – das war die alte, bisherige Auslegung – sondern die corruptio als solche. Sie wird nicht mit auferstehen. Augustinus sieht eine Bestätigung dieser Auslegung in dem Satz mortui resurgent incorrupti : Die Toten stehen auf ohne das ‚Verderben‘, jedoch mit ‚Fleisch und Blut‘. Die Auferstandenen empfangen keinen neuen Leib, sondern der alte wird verwandelt.81 Weiter unten im Text fasst Augustinus seine neue Auffassung vom Auferstehungsleib und seine neue Auslegung von 1 Kor 15,50 noch einmal klar zusammen.82 Dieser Durchbruch in der Frage des Auferstehungsleibes ist vor dem Hintergrund der intensiven Beschäf81
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c.Faust. 11,3 (CSEL 25,1: 317,19-318,18): Nec ipsam mortem Christi et sepulturam et resurrectionem accipit, quandoquidem Christum dicit nec mortale corpus habuisse, ubi illa vera mors esset, nec illas cicatrices veras fuisse, quas post resurrectionem discipulis ostendit, cum eis, quod et Paulus commemorat, vivus adparuit; nec ipsam carnem nostram resurrecturam in corpus spiritale mutatam, sicut apertissime idem apostolus dicit: Seminatur corpus animale, surgit corpus spiritale (1 Cor 15,44). Unde discernens inter corpus animale et spiritale contexit, quod iam commemoravi de primo Adam et novissimo Adam, deinde intulit (Paulus): Hoc autem dico, fratres, quoniam caro et sanguis regnum dei possidere non possunt (1 Cor 15,50). Et ne quisquam ipsam speciem carnis et ipsam substantiam non posse resurgere credidisset, exprimere volens, quid nunc appellaverit carnem et sanguinem, quia ipsam corruptionem intellegi voluit, quae tunc in resurrectione iustorum non erit, continuo contexuit: neque corruptio incorruptelam possidebit (1 Cor 15,50). Et ne adhuc quisquam putaret non illud, quod sepultum fuerit, resurrecturum, sed tamquam alia tunica ponatur et alia melior accipiatur, volens apertissime declarare, quia hoc ipsum in melius commutabitur – sicut vestimenta Christi in monte non sunt posita et alia sumpta, sed ipsa, quae fuerant, in melius clarificata sunt – sequitur et contexit dicens: Ecce mysterium vobis dico: omnes quidem resurgemus, non tamen omnes inmutabimur (1 Cor 15,51). Et ne adhuc esset incertum, qui sint, qui inmutabuntur: in atomo, inquit, in ictu oculi, in novissima tuba; canet enim tuba et mortui resurgent incorrupti et nos conmutabimur (1 Cor 15,52). c.Faust. 11,7 (CSEL 25,1: 322,15-25): Carnem namque hoc loco non ipsam corporis nostri substantiam – quam dominus etiam post resurrectionem suam carnem appellat dicens: Palpate et videte, quia spiritus ossa et carnem non habet, sicut me videtis habere (Lc 24,39) – sed corruptionem mortalitatemque carnis vult intellegi: quae tunc non erit in nobis, sicut iam in Christo non est. Hanc enim proprie carnem nominabat, etiam cum de ipsa resurrectione satis evidenter loqueretur et diceret, quod iam supra commemoravi: Caro et sanguis regnum dei possidere non possunt, neque corruptio incorruptionem possidebit (1 Cor 15,50).
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tigung des Bischofs von Hippo mit Paulus in den vorausgehenden Jahren zu sehen. Augustinus hat in ihnen, wenn auch keinen Kommentar zum ersten Korintherbrief, so doch mehrere Paulusbriefauslegungen verfasst.83 Außerdem kommt er in seinem De diversis quaestionibus octoginta tribus von 395/6 mehrmals auf Paulus zu sprechen. Im Folgenden legen wir nun Texte vor, in denen sich das neue Verständnis der Auferstehung des Leibes spiegelt. Wenn wir es als einfache Affirmation der materiellen Auferstehung bezeichnen, dann deswegen, weil es gewissermaßen in der Mitte steht zwischen der Nichtwahrnehmung des Problems (Phase I) und ihrer expliziten Verteidigung (Phase IV). Für sich genommen könnte man in diesen Texten auch den Rhetoriker am Werk sehen, der möglichst drastisch und anschaulich die Auferstehung schildern will, in der Perspektive von Augustins Entwicklung belegen sie jedoch die gewandelte Auffassung des Bischofs von der Auferstehung des Fleisches. Wir beginnen mit Texten, die sich auf die Auferstehung Christi beziehen. In einer Predigt aus den Jahren zwischen 395 und 405 heißt es: Christus ist das wahre Wort, der Eingeborene, dem Vater gleich, er ist ein wahrer menschlicher Geist, wahres Fleisch ohne Sünde. Dieses Fleisch ist gestorben, dieses Fleisch ist auferstanden, dieses Fleisch hing am Kreuz, dieses Fleisch lag im Grab, dieses Fleisch sitzt im Himmel. Christus, der Herr, wollte seine Jünger überzeugen, dass das, was sie sahen, Knochen und Fleisch war.84
Mit dem wiederholten ‚dieses Fleisch, dieses Fleisch‘ ist die Intention der Aussage des Predigers eindeutig: das Fleisch des irdischen und das 83
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Zwischen 394 und 395: Epistulae ad Romanos inchoata expositio; expositio quorundam expositionum ex epistula apostoli ad Romanos; expositio epistulae ad Galatas. – Zur antimanichäischen Auslegung dieser Kommentare vgl. M. G. MARA, Agostino e la polemica antimanichea: il ruolo di Paolo e del suo epistolario, in: Augustinianum 32 (1992) 119-143. Über Augustins Kontakt mit der reichen Paulus-Kommentar-Tradition seiner Zeit vgl. T. F. MARTIN, Pauline Commentaries in Augustine̕s Time, in: A. D. Fitzgerald (Hg.), Augustine through the Ages. An Encyclopedia, Grand Rapids 1999, 625628, hier 627f. – Einen ausgezeichneten Gesamtüberblick über Augustins Beschäftigung mit Paulus bietet P. FREDRIKSEN, Paulus, in: ebd., 621-625, 624f. Vgl. auch K. RUHSTORFER, Die Platoniker und Paulus. Augustins neue Sicht auf das Denken, Wollen und Tun der Wahrheit, in: N. Fischer/C. Mayer (Hg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretation zu den dreizehn Büchern, Freiburg-Basel-Wien 1998, 283-341, hier 299-302. s. 238,2 (PL 38: 1125,52-1126,4): Christus verum verbum, unigenitum, aequalis patri, verus humanus spiritus, vera caro sine peccato. Haec mortua est, haec resurrexit, haec pependit in ligno, haec iacuit in sepulcro, haec sedet in coelo. Volebat dominus Christus persuadere discipulis quia illud quod videbant, ossa et caro erant.
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Fleisch des auferstandenen Christus ist identisch. Auch wenn gegen diese Aussage Bedenken vorgebracht werden85, so verteidigt er sie doch entschieden in seinen Predigten.86 In der Auferstehung des Fleisches Christi sieht Augustinus dann das Vorbild der Auferstehung des Fleisches am jüngsten Tag. In einer Predigt (410/411) weist Augustinus zunächst ausdrücklich auf die kirchliche ‚Vorgabe‘ dieser Auferstehungshoffnung hin: Die Auferstehung des Fleisches aber steht in der Glaubensregel. Indem wir sie bekennen, werden wir getauft. Und alles, was wir hier bekennen, bekennen wir aus der Wahrheit und in der Wahrheit, in der wir leben, uns bewegen und sind.87
In einer Predigt zwischen 405 und 411 heißt es dann: Doch es gibt Leute, die sagen: ‚Seht, der Herr ist auferstanden. Darf ich deswegen hoffen, dass auch ich auferstehen kann?‘ – Ja, genau deswegen. Denn der Herr ist in dem auferstanden, was er von dir empfangen hat. Denn er würde nicht auferstehen, wenn er nicht gestorben wäre; er wäre jedoch nicht gestorben, wenn er kein Fleisch tragen würde. Was empfing der Herr also von dir? Fleisch! Wozu kam er selber?88 85
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s. 247,2 (PL 38: 1157,25-31) (um 400): Nonnulli enim de hac re ita moventur, ut paene periclitentur, afferentes contra miracula divina praeiudicia ratiocinationum suarum. Sic enim disputant: Si corpus erat, si caro et ossa erant, si hoc surrexit de sepulcro, quod pependit in ligno; quomodo per clausa ostia intrare potuit? Si non potuit, dicunt, non est factum. Si potuit, quomodo potuit? s. 242,6 (PL 38: 1141,4-8): Quid ergo levatum est in coelum, nisi quod sumptum est de terra? Id est, caro illa, corpus illud, de quo loquens ad discipulos ait: Palpate, et videte, quia spiritus ossa et carnem non habet, sicut me videtis habere (Lc 24,39). Credamus hoc, fratres: et si argumenta philosophorum difficile solvimus; illud quod demonstratum est in domino, sine difficultate fidei teneamus. Illi garriant, nos credamus. – Vgl. auch en.Ps. 109,7 (CChr.SL 40: 1607,3244): Ergo et eo ipso quod carnem accepit Christus, quod in carne mortuus est, quod in eadem carne resurrexit, quod in eadem adscendit in caelum et sedet ad dexteram patris, et in eadem ipsa carne sic honorata, sic clarificata, sic in caelestem habitum commutata, et filius est David, et dominus est David. Secundum hanc enim dispensationem transitus Christi, etiam illud ab apostolo dicitur: Propter quod illum exaltavit a mortuis, et donavit illi nomen quod est super omne nomen. s. 362,7 (PL 39: 1614,56-59): Carnis autem resurrectionem habemus in regula fidei, et eam confitentes baptizamur. Et quidquid ibi confitemur, ex veritate et in veritate confitemur, in qua vivimus et movemur et sumus. – Dieses Bekenntnis zur Auferstehung des Fleisches gehört wesentlich zum christlichen Glauben, vgl. s. 362,6 (PL 39: 1614,36-39): Cum ergo manifestum sit fidei nostrae futuram resurrectionem mortuorum, et ita manifestum, ut hinc quisquis dubitaverit, impudentissime se dicat christianum. – Die Gegner in der genannten Predigt sind die Manichäer, vgl. M.-F. BERROUARD, Ceux qui croient à la seule résurrection des âmes, in: Bibliothèque augustinienne 72 (1977) 745f. en.Ps. 129,7 (CChr.SL 40: 1894,1-6): Sed sunt qui dicant: Ecce resurrexit dominus; numquid propterea sperandum est et me posse resurgere? Utique propterea. In hoc enim resurrexit dominus,
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Dabei ist in gewisser Hinsicht unsere zukünftige Auferstehung noch ‚wunderbarer‘ als die Christi, so heißt es jedenfalls in einer Predigt aus dem Jahre 416: Es ist etwas Großes, die Macht der Auferstehung Christi anzuerkennen. Meint ihr, es sei etwas Großes, dass er sein eigenes Fleisch auferweckt hat? Nannte er dieses Fleisch die Macht seiner Auferstehung? Wird es nicht am Ende der Zeit auch unsere Auferstehung geben? Wird nicht auch dieses unser ‚Verwesliches‘ hier die ‚Unverweslichkeit‘ anziehen und dieses ‚Sterbliche‘ hier die ‚Unsterblichkeit‘? Werden nicht auch wir, wie er selber von den Toten auferstanden ist und nicht mehr stirbt und der Tod über ihn nicht mehr herrschen wird, sozusagen auf noch wunderbarere Weise auferstehen? Denn sein Fleisch sah ja keine Verwesung, das unsere dagegen wird aus der Asche wieder hergestellt. Ja, es ist etwas Großes, denn er ging als Beispiel voraus und gab uns, was wir erhoffen sollen.89
Dabei betont der Bischof von Hippo in einer Predigt aus den Jahren zwischen 400 und 405 den engen Zusammenhang zwischen der Auferstehung Christi und der der Menschen. Es ist in beiden Fällen das gleiche Fleisch: Und wir haben als von Christus verheißenes Erbe das ewige Leben. Gemäß dem, dass das Wort Fleisch wurde und unter uns gewohnt hat (Joh 1,14), wurde er ernährt, ist gewachsen, hat gelitten, ist gestorben und hat schließlich als Erbe das Himmelreich empfangen. Im Menschen selbst hat er die Auferstehung empfangen und das ewige Leben. Im Menschen selbst empfing er sie. Im Wort jedoch empfing er sie nicht. Denn dieses bleibt unveränderlich von Ewigkeit zu Ewigkeit. Weil also jenes Fleisch, welches auferstanden ist und mit Leben erfüllt zum Himmel empor gestiegen ist, die Auferstehung und das ewige Leben empfangen hat, ist dies uns verheißen. Genau dies erwarten wir als Erbe, das ewige Leben.90
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quod a te accepit. Non enim resurgeret nisi mortuus esset, non autem mortuus esset, nisi carnem portaret. Quid accepit a te dominus? Carnem. Quid venit ipse? s. 169,12 (PL 38: 922,28-39): Aliquid magnum est, agnoscere virtutem resurrectionis Christi. Hoc putatis esse magnum, quia carnem suam resuscitavit? Ipsam dixit virtutem resurrectionis eius? Nonne erit etiam nostra in fine saeculi resurrectio? Nonne et nostrum corruptibile hoc induet incorruptionem, et mortale hoc induet immortalitatem (cf. 1 Cor 15,53)? Nonne quomodo ipse resurrexit a mortuis, et iam non moritur, et mors ei ultra non dominabitur; sic et nos, mirabilius, ut ita dicam? Nam illius caro non vidit corruptionem, nostra de cinere reparatur. Magnum est quidem, quia praecessit in exemplo, et dedit nobis quid speraremus. s. 22,10 (CChr.SL 41: 300,277-286): Et habemus hereditatem promissam a Christo vitam aeternam. Secundum quod verbum caro factum est et habitavit in nobis (Io 1,14), nutritus crevit. Passus, mortuus et resuscitatus accepit hereditatem regnum caelorum. In ipso homine accepit resurrectionem et vitam aeternam. In ipso homine accepit. In verbo autem non accepit, quia incommutabiliter manet ab aeterno in aeternum. Quia ergo accepit resurrectionem et vitam aeter-
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Ausdrücklich verteidigt Augustinus in einer Predigt aus den Jahren 410/411 diese allgemeine Auferweckung am Ende der Zeit gegen Einwände, die auf den Unterschied zwischen dem Leichnam Christi und den Leichnamen der Menschen bestehen: Der Leichnam Christi verfaulte nicht, der unsere werde zum Zeitpunkt unserer Auferstehung jedoch verfault sein, heißt es. Im gleichen Zusammenhang weist der Prediger auch schon auf Aspekte seiner zukünftigen expliziten Verteidigung der materiellen Identität des Auferstehungsleibes hin: erstens, die Elemente des Fleisches lösen sich in den ‚Schoß der Erde‘ auf, zweitens, von dort werden sie von der Macht des Schöpfers wieder in dem auferstandenen Leib vereint.91 Auch in einer Psalterhomilie (um 412) geht Augustinus auf diesen Aspekt der Auferstehung des Fleisches ein, nämlich die Macht Gottes, Asche und Staub wieder herzustellen: Es wird uns also die Auferstehung des Fleisches verheißen, und eine solche Auferstehung des Fleisches wird uns verheißen, dass also dieses Fleisch, das wir jetzt tragen, am Ende aufersteht. Es soll euch nicht unglaubhaft erscheinen. Wenn nämlich Gott uns, die wir nicht waren, schuf, ist das dann für ihn etwas Großes, die wieder herzustellen, die wir waren? Es soll euch dies also nicht unglaubhaft erscheinen, weil ihr die Toten doch gewissermaßen vermodern und in Asche und Staub übergehen seht. Oder wenn ein Toter verbrannt wird beziehungsweise wenn Hunde ihn zerfleischen, meint ihr dann, dass er deswegen nicht wieder auferstehen wird? Alles, was zerstreut wird und zu Asche vermodert, bleibt für Gott ungeschmälert erhalten. Denn dahin gehen die Elemente der Welt, von wo sie am Anfang gekommen sind, als wir geschaffen wurden. Wir sehen sie nicht, doch Gott weiß, aus was er sie hervorbringen wird; denn er wusste auch, bevor wir waren, aus was er uns hervorgebracht hat. Eine solche Auferstehung des Fleisches wird uns also verheißen, dass das zukünftig auferstehende Fleisch,
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nam caro illa, quae resurrexit et vivificata ascendit in caelum, hoc nobis promissum est. Ipsam hereditatem expectamus, vitam aeternam. s. Mai 87,2 (328,18-23): Sed dicunt homines qui contra disputant: caro Christi resurrexit, quia triduo fuit in sepulchro, nec vidit corruptionem: nec tabuit, nec putruit, nec in pulverem dissoluta est; nostra autem, quando forte sepulchra patuerint, vix illic ossa inveniuntur, invenitur pulvis; quicquid fuit caro, totum redigitur in putredinem, totum resolvitur in pulverem: ergo illud resurgere poterit, quod integritatem suam servare non potuit? Considera, o homo qui ista disputas, considera, inquam, esse ossa in sepulchro; si nihil aliud, sunt vel ossa. In sepulchro est et pulvis corporis, in eo loco in quo sinus terrae suscepit. Redi ad originem tuam, et inquire, quando seminatus es, quid eras. In utero primordia nostra fudit; recordare: compara hominem sepultum, et hominem seminatum. Nempe omnes novimus, quia mortales sumus. Sicut ergo consideramus viscera terrae, in quibus corpus iacet seminatum ut resurgat, ita consideremus in maternis visceribus seminatos, unde resurrexerit compositio ista membrorum. Ubi latebant quinque isti corporis sensus? Ubi erant in illo humore oculi et lingua et aures et manus? – Vgl. auch s. 128,1 (412-416).
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obwohl es eben das ist, das wir jetzt tragen, dennoch die Verderbnis nicht hat, die es jetzt hat.92
Auf der neuen Stufe der Entwicklung greift der Prediger, teilweise wenigstens, die Termini seiner früheren Auffassung von der Auferstehung des Leibes wieder auf. In einer zwischen 413 und 420 zu datierenden Predigt wird einerseits eindeutig die materielle Identität des Auferstehungsleibes mit dem irdischen affirmiert, andererseits der erstere als corpus caeleste et angelicum bezeichnet: Denn auch du musst die Schwachheit ablegen gemäß dem Wort des Apostels: ‚Dies Vergängliche muss Unvergänglichkeit anziehen und dies Sterbliche Unsterblichkeit‘ (1 Kor 15,53); denn ‚Fleisch und Blut‘, heißt es, ‚werden das Reich Gottes nicht besitzen‘ (1 Kor 15,50). Warum werden sie es nicht besitzen? Weil etwa das Fleisch nicht auferstehen wird? Unsinn! Das Fleisch wird auferstehen. Doch was wird es? Es wird verändert. Es wird ein himmlischer und engelhafter Leib. Haben denn etwa die Engel Fleisch? Doch entscheidend ist: dieses Fleisch wird auferstehen, dieses Fleisch, das beerdigt wird, das stirbt, dieses, welches man sieht und berührt, das essen und trinken muss, um bestehen zu können, welches krank ist, welches Schmerzen empfindet, dieses Fleisch hat aufzuerstehen, für die Bösen zu ewigen Strafen, für die Guten jedoch, auf dass sie verwandelt werden.93
In einer Predigt vom 15. Mai 418 fasst Augustinus die verschiedenen Aspekte seiner neuen Auffassung von der Auferstehung des Leibes zusammen, indem er nicht nur einen Dialog mit seinen zweifelnden und Einwände gegen die Auferstehung des Leibes vorbringenden Hörern 92
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en.Ps. 62,6 (CChr.SL 39: 797,29-44): Ergo promittitur nobis et carnis resurrectio; et talis resurrectio carnis nobis promittitur, ut caro quidem ista quam modo portamus, resurgat in fine. Nec incredibile vobis videatur. Si enim deus fecit nos qui non eramus, magnum illi est reparare qui eramus? Ergo hoc vobis incredibile non videatur, quia quasi putrescere mortuos videtis, et ire in cineres et in pulverem. Aut si incendatur aliquis mortuus, aut si canes dilanient eum, putatis quia inde non erit resurrecturus? Omnia quae discerpuntur et in favillas quasdam putrescunt, integra deo sunt. In illa enim elementa mundi eunt, unde primo venerunt, quando facti sumus; non illa videmus; sed tamen deus unde scit producet illa, quia et antequam essemus, unde sciebat nos produxit. Talis ergo resurrectio carnis nobis promittitur, ut quamvis ipsa sit caro quam modo portamus, quae resurrectura est, tamen non habeat corruptionem quam modo habet. s. 264,6 (PL 38: 1217,31-44): Quia et tu deponere habes ipsam infirmitatem, iuxta quod audisti in apostolo: Oportet corruptibile hoc induere incorruptionem, et mortale hoc induere immortalitatem (1 Cor 15,53). Quia caro et sanguis, ait, regnum dei non possidebunt (1 Cor 15,50). Quare non possidebunt? Quia non resurget caro? Absit: resurget caro, sed quid fit? Immutatur, et fit ipsa corpus coeleste et angelicum. Numquid carnem habent angeli? Sed hoc interest, quia ista caro resurget, ista ipsa quae sepelitur, quae moritur; ista quae videtur, quae palpatur, cui opus est manducare et bibere, ut possit durare; quae aegrotat, quae dolores patitur, ipsa habet resurgere, malis ad poenas sempiternas, bonis autem ut commutentur.
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veranstaltet, sondern auch Paulus selber, rhetorisch durchaus wirkungsvoll, zum Verkünder dieser seiner neuen Auffassung macht: Jemand sagt: ‚Dieser Todesleib gehört nicht zu mir. Er ist für eine Zeitlang mein Kerker, meine Kette. Ich bin in einem Todesleib. Ich bin kein Todesleib.‘ – Du philosophierst, deswegen wirst du nicht befreit. – ‚Ich bin Geist, ich bin kein Fleisch, sondern bin im Fleisch. Wenn ich vom Fleisch befreit sein werde, was habe ich dann noch mit dem Fleisch zu tun?‘ – Liebe Brüder, wollt ihr, dass ich oder der Apostel auf dieses Philosophieren antworte? Wenn ich antworte, dann wird vielleicht die Größe des Wortes wegen der Niedrigkeit des Dieners verachtet. Ich will lieber schweigen. Höre zusammen mit mir den Lehrer der Völker! Höre mit mir zusammen das Gefäß der Auserwählung, damit der Streit der Zwietracht von dir genommen wird. Höre, doch sag zuvor, was du sagtest. Du sagtest nämlich dies: ‚Ich bin kein Fleisch, sondern Geist. Ich seufze in meinem Kerker: wenn diese Fessel, dieses Gefängnis aufgelöst wird, dann werde ich frei weggehen. Erde wird der Erde zurückgegeben, der Geist wird im Himmel aufgenommen. Ich gehe hinweg, ich lasse zurück, was ich nicht bin.‘ Sagtest du dies? – ‚Ja, dies sagte ich.‘ – Ich antworte dir nicht. Antworte du, Apostel, antworte du, ich beschwöre dich. Du hast gepredigt, damit man dich hört. Du hast geschrieben, damit man dich liest. Alles geschah, damit man dir glaubt. Sag: Wer wird mich aus diesem Todesleib befreien? – ‚Die Gnade Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus (vgl. Röm 7,24f.).‘ – Woraus befreit sie dich? – ‚Aus diesem Todesleib (Röm 7,24).‘ – Doch bist du nicht selber dieser Todesleib? – Der Apostel antwortet: ‚Mit dem Geist also diene ich dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde (Röm 7,25). Doch ich bin es selber (Röm 7,25).‘ – Wie bist du selber in diesen verschiedenen Dingen? – ‚Im Geist, weil ich liebe, im Fleisch, weil ich begehre. Ich bin siegreich, wenn ich nicht zustimme, doch ich kämpfe noch, weil mich der Gegner bedrängt.‘ – Und wenn du von diesem Fleisch befreit wurdest, auf welche Weise wirst du dann nur noch Geist sein? – Der Apostel antwortet: ‚Wenn der Tod eintritt, die Schuld, der niemand entgeht, lege ich das Fleisch nicht für die Ewigkeit hin, sondern für eine Zeitlang lege ich es zur Seite.‘ – Du wirst also zu diesem Todesleib zurückkehren? – Was also? Lasst uns lieber seine eigenen Worte hören! Wie kehrst du also zu dem Leib zurück, aus dem du mit so frommen Worten befreit zu werden gerufen hast? – Der Apostel antwortet: ‚Ich kehre zwar zum Leib zurück, jedoch nicht zu diesem Todesleib.‘ Höre zu, du Unkundiger, du trotz der täglichen Stimme der Lesungen Tauber, höre zu, wie der Apostel zwar zum Leib zurückkehrt, jedoch nicht zu diesem Todesleib. Nicht weil es ein anderer Leib sein wird, sondern weil dieses ‚Verderbliche die Unverderblichkeit anziehen muss und dieses Sterbliche die Unsterblichkeit‘ (1 Kor 15,53). Meine lieben Brüder, als der Apostel sagte ‚dieses Verderbliche‘, ‚dieses Sterbliche‘, da berührte er mit seiner Stimme gewissermaßen sein Fleisch. Also nicht etwas anderes. Er sagte nicht: ‚Ich lege meinen irdischen Leib hin und ich empfange einen Leib aus Luft oder ich empfange einen Leib aus Äther‘ (corpus aetherium). Ihn selber empfange ich, jedoch nicht mehr diesen Todesleib.
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Denn es muss das ‚Verderbliche‘ und nicht irgend etwas anderes, sondern dieses ‚Verderbliche‘ die ‚Unverderblichkeit‘, und es muss das ‚Sterbliche‘ und nicht irgend etwas anderes, sondern dieses ‚Sterbliche‘ die ‚Unsterblichkeit‘ anziehen.94
Zu beachten ist in dieser szenischen Zusammenfassung seiner neuen Lehre, dass der Bischof von Hippo sogar ausdrücklich den seine frühere Lehre kennzeichnenden Terminus corpus aetherium zurücknimmt und fallen lässt. Werfen wir nach dem Blick auf das Predigtwerk einen weiteren auf einige Briefe dieser Jahre! In Brief 147 aus dem Jahre 413 geht Augustinus auf die Bitte einer nicht sicher identifizierten Paulina ein, seine in einem früheren Brief an sie begonnenen Ausführungen über die Gottesschau fortzusetzen. Der Bischof von Hippo geht zunächst auf die verschiedenen Positionen bezüglich des Auferstehungsleibes ein, um schließlich zu erklären, die Frage müsse im Blick auf den Leib des auferstandenen Christus erörtert werden95. 94
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s. 256,2 (PL 38: 1191,56-1192,38): Alius dicit: Corpus mortis huius non ad me pertinet: carcer meus est ad tempus, catena mea est ad tempus: in corpore mortis sum ego; non corpus mortis sum ego. Argumentaris, ideo non liberaris. Ego enim, inquit, spiritus sum; caro non sum, sed in carne sum: cum fuero liberatus a carne, quid erit mihi deinde cum carne? Huic argumentationi vultis, fratres, ut ego respondeam, an apostolus? Si ego respondero, contemnetur fortassis magnitudo verbi propter vilitatem ministri. Taceo potius. Audi mecum doctorem gentium: audi mecum vas electionis, ut a te tollatur controversia dissensionis. Audi, sed dic prius quod dicebas. Nempe hoc dicebas: Non sum ego caro, sed spiritus sum. In carcere meo gemo: quando fuerit hoc vinculum et hoc ergastulum dissolutum, ego liber abscedo. Terra terrae redditur, spiritus caelo recipitur: vado ego, dimitto quod non sum. Ergo hoc dicebas? Hoc, inquit. Non tibi ego respondeo: responde, apostole; responde, obsecro te. Praedicasti, ut audireris; scripsisti, ut legereris; totum factum est, ut credereris. Dic: Quis me liberabit de corpore mortis huius? Gratia dei per Iesum Christum dominum nostrum (Rm 7,24sq.). Unde te liberat? De corpore mortis huius (Rm 7,24). Sed non es tu ipse corpus mortis huius? Respondet: Igitur ipse ego mente servio legi dei, carne autem legi peccati (Rm 7,25). Sed ipse ego (Rm 7,25): quomodo per diversa ipse tu? Mente, inquit, quia diligo; carne, quia concupisco: victor quidem, si non consentio; adhuc tamen luctator, urgente adversario. Et quomodo cum fueris, o apostole, ab hac carne liberatus, iam non eris tu nisi spiritus? Respondet apostolus, morte iam imminente, debito quod nemo evadit: Carnem non in aeternum pono, sed ad tempus sepono. Ergo rediturus es ad corpus mortis huius? Et quid? Ipsius verba potius audiamus. Quomodo redis ad corpus, unde tam pia voce liberandum te esse clamasti? Respondet: Redeo quidem ad corpus, sed iam non mortis huius. Audi, imperite, contra quotidianas lectionum voces surde: audi quomodo redit ad corpus quidem, sed non mortis huius. Non quia aliud erit corpus, sed quia oportet corruptibile hoc induere incorruptionem, et mortale hoc induere immortalitatem (1 Cor 15,53). Fratres mei, quando dicebat apostolus corruptibile hoc, mortale hoc, quodam modo carnem sua voce tangebat. Non ergo aliud. Non, inquit, pono corpus terrenum, et accipio corpus aereum, aut accipio corpus aethereum. Ipsum accipio, sed non iam mortis huius. Quia oportet corruptibile, non aliud, sed hoc, induere incorruptionem; et mortale, non aliud, sed hoc, induere immortalitatem. ep. 147,50 (CSEL 44: 325,9-14): Tota igitur quaestio iam remansit de corpore spiritali, quatenus induat incorruptionem et inmortalitatem hoc corruptibile atque mortale et quatenus ex ani-
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In Brief 148 (zwischen 411 und 413) an den Bischof von Sicca Veneria Fortunatianus, in dem es auch wieder um die Gottesschau geht, wird schlagartig deutlich, dass der Philosoph und Denker Augustinus in der Frage der Auferstehung mehr Probleme sieht, als es bei dem Prediger den Anschein hat. Er gibt hier überraschend und unverblümt zu, dass er in der Frage des Auferstehungsleibes zwischen zwei Auffassungen schwanke, nämlich ob der Leib einfach zu Geist werde oder ob, was er doch für wahrscheinlicher halte, mit dem Attribut ‚geistlich‘ die ‚unsägliche Leichtigkeit‘ des auferstandenen Leibes bezeichnet werde, die ihm bei all seiner beibehaltenen Körperlichkeit dann zu eigen sein wird. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit auch, dass der Leib von sich aus nicht zu existieren vermag, sondern dazu des Geistes bedarf, der ihn ‚benutzt‘. In der anschließenden Frage, ob der Geist des Leibes bedarf, um die körperlichen Dinge sehen zu können, bekennt Augustinus ohne Umschweife sein Nichtwissen. Er habe hierüber noch nichts gelesen, was ihn überzeugt habe.96 Brief 205 (414/5) gehört zum Briefwechsel Augustins mit dem spanischen, an philosophischen und theologischen Fragen sehr interessierten, Laien Consentius9 7, welcher in einem verloren gegangenen Brief Augustinus unter anderem über den Leib des auferstandenen Christus befragt hatte.98 Der Bischof von Hippo geht auf die gestellte Frage ein und kommentiert 1 Kor 15,35-53 in großer Ausführlichkeit99, nachdem er zunächst der menschlichen Wissbegierde in dieser Frage eine Grenze zugewiesen hat. In diesem Zusammenhang kritisiert Augustinus schließlich ‚einige Leute‘ – gemeint sind hier ganz
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mali in spiritale mutetur. Quae diligentius sollicitiusque tractanda est maxime propter corpus ipsius domini, qui transfigurat corpus humilitatis nostrae conforme corpori gloriae suae […]. ep.148,16 (CSEL 44: 345,15-346,6): De spiritali autem corpore, quod in resurrectione habebimus, quantam capiat in melius commutationem, utrum in simplicitatem spiritus cedat, ut totus homo iam spiritus sit, an, quod magis puto, sed nondum plena fiducia confirmo, ita futurum sit spiritale corpus, ut propter quandam ineffabilem facilitatem spiritale dicatur, servet tamen substantiam corporalem, quae per se ipsam vivere ac sentire non possit sed per illum, qui ea utitur, spiritum – neque enim et nunc, quia corpus dicitur animale, eadem est animae natura quae corporis –, et utrum, si corporis quamvis iam inmortalis atque incorruptibilis natura servabitur, adiuvet tunc aliquid spiritum ad videnda ipsa visibilia, id est corporalia, sicut nunc tale aliquid nisi per corpus videre non possumus, an vero etiam sine organo corporis valeat tunc spiritus noster nosse corporalia – neque enim et deus talia per sensus corporis novit – et multa alia, quae in hac quaestione movere possunt, fateor me nondum alicubi legisse, quod mihi sufficere existimarem sive ad discendum sive ad docendum. Vgl. J. WANKENNE, Consentius, in: Augustinus-Lexikon 1 (1986-1994) 1236-1239. Vgl. ep. 205,2 (CSEL 57: 324,11f.): Quaeris, utrum nunc corpus domini ossa et sanguinem habeat aut reliqua carnis liniamenta. ep. 205,2-9.
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offensichtlich die Origenisten – die meinen, bei der Auferstehung würde das Fleisch zu Geist werden, und stellt dem seine eigene neue Auffassung gegenüber: Wie ein beseelter Leib keine Seele ist, sondern ein Leib, so dürfen wir auch einen geistlichen Leib nicht für einen Geist halten, sondern für einen Leib.100
In Brief 102 aus dem Jahre 409 an den ‚Bruder und Mitpriester‘ Deogratias10 1 antwortet Augustinus auf sechs Fragen, die dem offensichtlich mit der Pastoral von Heiden beschäftigten Priester häufig gestellt werden. Die erste Frage betrifft die Auferstehung. Im Zusammenhang der Klärung verschiedener die leibliche Auferstehung betreffender Fragen geht Augustinus auch auf den Einwand ein, es gebe zwischen der Auferstehung Christi und der unsrigen doch einen Unterschied. Seine Antwort lautet: Für Gottes Allmacht ist beides gleich leicht.102 Der ‚ungeheure Schoß‘ der Welt wird, was er beim Tod des Leibes aufgenommen hat, bei der Auferstehung wieder zurückgeben.103 Erwähnen wir abschließend für diese Phase von Augustins Entwicklung in der Frage der Auferstehung des Leibes noch einen Passus aus De Genesi ad litteram (401-414). Im Zusammenhang der Frage nach der Schau Gottes stellt Augustinus die These auf, dass der Geist des Menschen Gott jedenfalls nicht so schauen wird, wie die Engel das tun. Der Grund liege vielleicht darin, dass der menschliche Geist einen „gewissen natürlichen Trieb hat, einen Leib zu verwalten“10 4. 100
ep. 205,10 (CSEL 57: 331,17-19): Sicut animale corpus non est anima sed corpus, ita et spiritale corpus non spiritum debemus putare sed corpus. 101 Vgl. G. MADEC, Deogratias, in: Augustinus-Lexikon 2 (1996-2002) 296-207. 102 ep. 102,5 (CSEL 34,2: 548,9-14): Quantum autem adtinet ad illam differentiam, quod Christi corpus non dissolutum tabe atque putredine die tertio resurrexit, nostra vero post longum tempus ex quadam, quo soluta discesserint, confusione reparabuntur, humanae facultati utrumque inpossibile est, divinae autem potestati utrumque facillimum. 103 Ebd. (549,10-13): (Admiramur) […] ingentem sinum, quae de corporibus humanis, dum dilabuntur, absumit, resurrectioni futurae tota et integra redditurum. 104 Gn.litt. 12,35,68 (CSEL 28,1: 432,15-433,1): Sed, si quem movet, quid opus sit spiritibus defunctorum corpora sua in resurrectione recipere, si potest eis etiam sine corporibus summa illa beatitudo praeberi, difficilior quidem quaestio est, quam ut perfecte possit hoc sermone finiri; sed tamen minime dubitandum est et raptam hominis a carnis sensibus mentem et post mortem ipsa carne deposita transcensis etiam similitudinibus corporalium non sic videre posse incommutabilem substantiam, ut sancti angeli vident, sive alia latentiore causa sive ideo, quia inest ei naturalis quidam adpetitus corpus administrandi: quo adpetitu retardatur quodammodo, ne tota intentione pergat in illud summum caelum, quamdiu non subest corpus, cuius administratione adpetitus ille conquiescat.
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Das ist ein interessanter Beleg dafür, dass für Augustinus der Leib wesentlich zu Seele gehört. 105 5. VIERTE PHASE: AUSDRÜCKLICHE VERTEIDIGUNG DER MATERIELLEN IDENTITÄT VON IRDISCHEM UND AUFERSTANDENEM LEIB Sehen wir einmal von den Predigten ab, die Augustinus zur Gänze verschiedenen Aspekten der Auferstehung der Leiber und des Fleisches gewidmet hat106, und von De fide et symbolo 24, wo er einen Lösungsvorschlag des Problems vorlegt, den er später wieder zurückgenommen hat, so befasst er sich nur in zwei weiteren Werken systematisch mit der Frage der Auferstehung des Fleisches: in dem 420-422 entstandenen Enchiridion und in dem im Jahre 426 vollendeten Buch XXII von De civitate dei. Seine dortigen Ausführungen über die Auferstehung des Fleisches gehören zur letzten, vierten, Phase der Entwicklung seiner Vorstellungen über diesen Glaubensgegenstand. Im Enchiridion (De fide, spe et caritate liber unus) bietet der Bischof von Hippo im Rahmen der im Titel genannten Trias eine Art Gesamtschau seiner Theologie.107 Der Inhalt des Glaubens wird dabei dargelegt auf der Grundlage des römischen bzw. Mailänder Glaubensbekenntnisses. Dazu gehört natürlich der Artikel über die Auferstehung des Fleisches (cap. 84-92). Augustinus leitet ihn mit einer genaueren Bestimmung des Gegenstandes ein: erstens, es geht nicht um die in den Evangelien berichteten Totenerweckungen, sondern um „die Auferstehung zum ewigen Leben, wie Christi Fleisch selbst auferstand“. Zweitens, diese Auferstehung des Fleisches betrifft alle Menschen, die je geboren wurden und gestorben sind. Dieser Glaube an die Auferstehung des Fleisches ist für alle Christen unbedingt verpflichtend. Im Übrigen bemerkt der 105
Vgl. C. MAYER, Homo, in: Augustinus-Lexikon 3 (2004-2010) 381-416, hier 391: „Der Seele ist gegen die Lehre Platons (Ti 42a2) genauso ein natürliches Verlangen nach dem Leib zu eigen wie uns der Wille zu leben. Wenngleich im herkömmlichen und auch im biblischen Sprachgebrauch sowohl in bezug auf den Leib wie auch auf die Seele je allein von homo gesprochen werden kann, so ist dies im strikten Sinn doch nur in bezug auf die Verbindung beider sinnvoll […]. Dennoch spricht Augustinus so gut wie nie von einer substantiellen Einheit beider Teile des homo, sondern stets differenzierend, die Selbständigkeit beider, allerdings auch die Priorität der Seele als Substanz gegenüber dem Körper als nonnulla substantia […] betonend.“ 106 Vgl. Anm. 1. 107 Vgl. E. TESELLE, De fide, spe et caritate, in: Augustinus-Lexikon 2 (1996-2002) 13231330.
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Bischof, es sei in der hier gebotenen Kürze unmöglich, auf alle Probleme einzugehen, die damit verbunden sind.108 Wir halten aus diesem einleitenden Paragraphen fest, dass die Auferstehung Christi sogleich als das Vorbild für die Auferstehung aller Menschen genannt wird. Im folgenden konzentrieren wir uns auf die Frage, auf die wir unser Thema eingegrenzt haben, d. h. das Problem der materiellen Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib, und lassen entsprechend die Erörterungen der Problemfälle wie Frühgeburten, totgeborene Föten usw. außer Acht. Nur das für alle diese Fälle geltende Prinzip sei genannt: Es wird [bei der Auferstehung des Fleisches] vollständig gemacht, was noch nicht vollständig war, so wie wieder hergestellt wird, was beschädigt war.10 9
Auch auf die Diskussion über den Anfang des Lebens, die sich im Zusammenhang der Frage nach der Auferstehung stellt und die Augustinus der freien Diskussion der Spezialisten (doctissimi) überlässt, brauchen wir nicht einzugehen. Auch hier sei lediglich das zur Geltung kommende Prinzip genannt: Von wo an der Mensch jedoch zu leben beginnt, von da an kann er freilich auch sterben. Ich kann nicht erkennen, wie er nicht zur Auferstehung gehört, wo immer ihn der Tod hat ereilen können.110
Die Erörterung unserer speziellen Frage setzt mit Augustins Feststellung ein, dass für Gott nichts von der ‚Materie‘11 1 verloren geht, aus der das menschliche Fleisch geschaffen wurde: Vor Gott geht kein irdischer Stoff [materies] verloren, aus welchem das Fleisch der Sterblichen geschaffen ist. Sondern in welchen Staub und in welche Asche er auch immer aufgelöst wird, in welchen Hauch und in welche Luftströmung er auch immer entfleucht, in welche Substanz anderer Kör-
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ench. 84 (CChr.SL 46: 95,1-8): Iam vero de resurrectione carnis, non sicut quidam revixerunt iterumque sunt mortui, sed in aeternam vitam sicut Christi ipsius caro resurrexit, quemadmodum possim breviter disputare, et omnibus quaestionibus quae de hac re moveri assolent satisfacere, non invenio. Resurrecturam tamen carnem omnium quicumque nati sunt hominum atque nascentur, et mortui sunt atque morientur, nullo modo dubitare debet christianus. 109 ench. 85 (CChr.SL 46: 96,21f.): Integretur quod nondum erat integrum, sicut instaurabitur quod fuerat vitiatum. 110 ench. 86 (CChr.SL 46: 96,30-33): Ex quo autem incipit homo vivere, ex illo utique iam mori potest: mortuus vero, ubicumque illi mors potuit evenire, quomodo ad resurrectionem non pertineat mortuorum reperire non possum. 111 Zu den verschiedenen Aspekten des Begriffs der materies bzw. materia bei Augustinus vgl. M.-A. VANNIER, Materia, materies, in: Augustinus-Lexikon 3 (2004-2010) 1199-1203.
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per oder auch in die Elemente [elementa112] selbst er sich verwandelt, zu welcher Tiere, ja Menschen Speise er wurde und zum Fleisch umgewandelt wurde, zu einem festgesetzten Zeitpunkt kehrt er zu der Menschenseele zurück, die ihn zuerst beseelt hatte, dass er Mensch werden und leben und wachsen konnte.113
Hier wird in aller Form und Ausdrücklichkeit die materielle Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib behauptet. Von allen nur denkbaren Formen der Auflösung des menschlichen Leibes wird ganz allgemein behauptet: die ihn konstituierenden Teile kehren zu der Seele zurück, zu der sie ursprünglich gehört haben, weil sie für Gott nicht ‚verloren‘ sind, mögen sie auch noch so große Verwandlungen, selbst die Umwandlung in andere Elemente, erfahren haben. Doch dann erfolgt sofort eine wichtige Präzisierung: Diese einzelnen Teile, die den Leib konstituiert haben, kehren nicht notwendig an den ursprünglichen Ort zurück, den sie im Leib eingenommen haben: Dieser irdische Stoff, der zum Leichnam wird, wenn die Seele entweicht, kehrt zwar zu dem Leib zurück, von dem aus er verstreut worden ist. Er wird aber bei der Auferstehung nicht in der Weise wieder hergestellt werden, dass das, was verstreut war und sich in je verschiedene Gestalten und Formen der verschiedensten Dinge gewandelt hatte, nun genau zu demselben Teil des Körpers zurückkehren muss, zu dem er gehört hatte.114
Augustinus nennt als Beispiel die abgeschnittenen Haare und Fingernägel. Sie kehren natürlich nicht an ihren ursprünglichen Ort im Leibe zurück. Eine solche Annahme wäre für die Gegner der Auferstehung ja auch Wind auf ihre Mühlen.11 5 Der Bischof von Hippo 112
Im Unterschied zu Aristoteles, der fünf Elemente annahm, vertritt Augustinus meist die allgemein zu seiner Zeit verbreitete Meinung einer Vierzahl: Feuer, Luft, Wasser, Erde. Für ignis steht bei ihm oft aether bzw. caelum; zu weiteren Einzelheiten vgl. M. BALTES, Elementum, in: Augustinus-Lexikon 3 (2004-2010) 767-775. 113 ench. 88 (CChr.SL 46: 96,50-97,57): Non autem perit deo terrena materies de qua mortalium creatur caro; sed in quemlibet pulverem cineremve solvatur, in quoslibet halitus aurasque diffugiat, in quamcumque aliorum corporum substantiam vel in ipsa elementa vertatur, in quorumcumque animalium etiam hominum cibum cedat carnemque mutetur, illi animae humanae puncto temporis redit quae illam primitus, ut homo fieret cresceret viveret, animavit. 114 ench. 89 (CChr.SL 46: 97,58-62): Ipsa igitur terrena materies quae discedente anima fit cadaver, non ita resurrectione reparabitur ut ea quae dilabuntur et in alias atque alias aliarum rerum species formasque vertuntur, quamvis ad corpus redeant unde dilapsa sunt, ad easdem quoque corporis partes ubi fuerunt redire necesse sit. 115 Ebd. (97,63-66): Alioquin si capillis redit quod tam crebra tonsura detraxit, si unguibus quod totiens dempsit exsectio, immoderata et indecens cogitantibus, et ideo resurrectionem carnis non credentibus, occurrit informitas.
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veranschaulicht dann mit einem Bild seine Vorstellung von der materiellen Identität der irdischen mit den auferstandenen Leibern: Es verhält sich damit eher wie mit einem Standbild aus irgendeinem lösbaren Metall, das im Feuer geschmolzen oder zu Staub zerstoßen oder zu einer Masse zusammengeschlagen wurde, und das jetzt ein Künstler aus derselben Stoffmasse wieder herstellen möchte. Dabei wäre es für die Vollständigkeit völlig unerheblich, welcher Stoffteil einem bestimmten Glied des Standbildes zugeteilt würde, wenn nur bei der Wiederherstellung die gesamte Stoffmasse wieder verwendet würde, aus der es bestanden hatte.116
Das Bild macht sehr gut deutlich, worauf es dem Bischof von Hippo in seiner These von der materiellen Identität des Auferstehungsleibes ankommt. Er behauptet keine absolute Identität in dem strikten Sinn, dass der von der Seele ‚formierte‘ Stoff jeweils identisch wieder das werde, was er vorher war, also Bein wieder Bein, Arm wieder Arm, sondern er behauptet, wenn man so sagen kann, eine relative Identität der Materie, d. h. das Gesamt der Körpermaterie bleibt erhalten, aber so, dass die Teile, die das irdische Bein konstituierten, jetzt im auferstandenen Leib durchaus den Arm konstituieren können. Bei Licht besehen liegt das Besondere dieser Auferstehungsvorstellung gar nicht in der ‚Leistung‘, zu der die Materie fähig sein soll, nämlich zur Rückkehr genau zu der Seele, zu der sie einmal gehört hatte, sondern in dem, wozu Gott in dieser Angelegenheit fähig ist. Und so heißt es denn konsequenterweise im Anschluss an das die Auferstehung veranschaulichende Bild vom Einschmelzen und Wiederherstellen des Standbildes: Gott ist auf wunderbare und unsagbare Weise ein Künstler. Er wird mit wunderbarer und unsagbarer Schnelligkeit unseren Leib aus dem ganzen Stoff wieder herstellen, aus dem er bestanden hatte. Bei dieser Wiederherstellung kommt es nicht darauf an, ob Haar wieder zu Haar oder Nagel wieder zu Nagel wird oder ob das, was von diesen zugrunde gegangen war, für das Fleisch oder für andere Teile des Körpers bestimmt wird. Die Vorsehung des Künstlers wird schon dafür sorgen, dass nichts Ungeziemendes geschieht.117
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Vgl. die folgende Anm. ench. 89 (CChr.SL 46: 97,66-77): Sed quemadmodum si statua cuiuslibet solubilis metalli aut igne liquesceret aut contereretur in pulverem aut confunderetur in massam, et eam vellet artifex rursus ex illius materiae quantitate reparare, nihil interesset ad eius integritatem quae particula materiae cui membro statuae redderetur, dum tamen totum ex quo constituta fuerat restituta resumeret, ita deus, mirabiliter atque ineffabiliter artifex, de toto quo caro nostra constiterat, eam mirabili et ineffabili celeritate restituet. Nec aliquid attinebit ad eius redintegrationem utrum capilli ad capillos redeant et ungues ad
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In den beiden folgenden Kapiteln sind für unsere spezifische Fragestellung noch zwei Punkte von Interesse. Der erste ist Augustins Versicherung, dass die Stoffbestandteile der einzelnen Körper so behandelt [werden], dass von ihnen nichts verloren geht, und was einem fehlen sollte, das wird der ergänzen, der auch aus dem Nichts schuf, was er wollte.118
Diesen Hinweis auf Gottes Schöpferkraft aus dem Nichts gehört zu Augustins Standardargumenten zur Verteidigung seiner Auffassung von der Auferstehung des Leibes: Den Leib wieder herzustellen, ist für den, der ihn aus dem Nichts geschaffen hat, kein Problem.11 9 Der zweite Punkt sind Augustins Ausführungen zum biblischen Sprachgebrauch in Sachen Auferstehungsleib. Hier nimmt der Bischof von Hippo eine stillschweigende Korrektur seiner eigenen früheren Schriftauslegung vor: Denn wie jetzt der Körper beseelt genannt wird, obschon er Körper ist und nicht Seele, so wird er dann ein geistiger Körper sein, immer aber Köper und nicht Geist. Demnach wird es, wenn man die Verderbnis bedenkt, die jetzt die Seele beschwert, und die Laster, mit denen das Fleisch gegen den Geist aufbegehrt, in diesem Sinn kein Fleisch mehr geben, sondern [nur noch] Körper. Man spricht auch von himmlischen Körpern. In diesem Sinne wird auch [von der Schrift] gesagt: ‚Fleisch und Blut werden das Reich Gottes nicht besitzen‘, und wie um das näher darzulegen, heißt es dann weiter: ‚noch wird die Verderblichkeit die Unverderblichkeit erben‘. Was zuerst ‚Fleisch und Blut‘ genannt wurde, wird jetzt ‚Verderblichkeit‘ genannt, und was zuerst mit ‚Reich Gottes‘ bezeichnet wurde, wird jetzt als ‚Unverderblichkeit‘ bezeichnet. Wenn man aber auf die Substanz schaut, so wird es auch dann noch ‚Fleisch‘ geben. Aus diesem Grund wird ja auch der Leib Christi nach der Auferstehung ‚Fleisch‘ genannt.12 0 ungues, an quidquid eorum perierat mutetur in carnem et in partes alias corporis revocetur, curante artificis providentia ne quid indecens fiat. 118 ench. 90 (CChr.SL 46: 97,84-86): […] modificabitur illa in unoquoque materies ut nec aliquid ex ea pereat, et quod alicui defuerit ille suppleat qui etiam de nihilo potuit quod voluit operari. 119 s. 361,12 (PL 39: 1605,25-36): Itane iste cinis aliquando habebit illam speciem pulchritudinis, reddetur vitae, reddetur luci? Quando istud erit? Quando ego aliquid vivum de hoc cinere sperem? Qui hoc dicis, vides in sepulcro vel cinerem: replica aetatem tuam, si es, verbi gratia, triginta, quinquaginta vel amplius annorum: in sepulcro vel cinis est mortui, tu ante quinquaginta annos quid eras? Ubi eras? Corpora omnium nostrum, qui nunc loquimur, vel audimus, post paucos annos cinis erunt, ante paucos annos nec cinis erant. Qui ergo potuit parare quod non erat, deficiet reparare quod erat? Vgl. auch s. Mai 87,2 (zitiert Anm. 91); en. Ps. 62,6 (zitiert Anm. 92) usw. 120 ench. 91 (CChr.SL 46: 98,97-109): Sed sicut nunc corpus animale dicitur, quod tamen corpus non anima est, ita tunc spiritale corpus erit, corpus tamen non spiritus erit. Proinde quantum attinet ad corruptionem quae nunc aggravat animam, et vitia quibus caro adversus spiritum concupiscit, tunc non erit caro sed corpus, quia et caelestia corpora perhibentur. Propter quod dictum est: Caro et sanguis regnum dei non possidebunt (1 Cor 15,50), et tanquam exponens quid dixerit: Neque
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Vier Jahre später, 426, kommt Augustinus ein letztes Mal in zusammenhängender Form auf seine Vorstellung von der Auferstehung des Leibes zurück. Was er im 22. Buch von De civitate dei zu diesem Thema ausführt, deckt sich weitestgehend mit dem, was er im Enchiridion zu dieser Frage gesagt hatte. Der Unterschied in der Behandlung der Frage ergibt sich zum Teil aus der Natur des opus magnum et arduum. Ihr apologetischer Charakter zwingt den Bischof von Hippo, eingehender auf die Einwände gerade auch der heidnischen Philosophen einzugehen.121 Werfen wir zunächst einen Blick auf den Kontext der uns interessierenden Aussagen über die Auferstehung des Fleisches. Die vier letzten Bücher von De civitate dei behandeln das Ziel der beiden ‚Städte‘ (Buch XIX), das letzte Gericht (Buch XX), die Höllenstrafen (Buch XXI) und die Auferstehung des Fleisches (Buch XXII). Buch XXII seinerseits kann man in drei Abschnitte einteilen: im ersten geht es um die Auferstehung des Fleisches, im zweiten um die Güter der himmlischen ‚Stadt‘, im dritten um die Fülle der himmlisches Glückseligkeit. Der Abschnitt über die Auferstehung des Fleisches zerfällt in zwei Teile, erstens, die Auferstehung des Fleisches und der Grundeinwand dagegen12 2, zweitens, die Einwände auf der Basis einzelner Fälle. Im Rahmen dieses letztgenannten Abschnitts (der Fall der abgetriebenen Föten123, der Kleinkinder, der Körpergröße, des Geschlechts usw.) entwickelt Augustinus seine Vorstellungen und Hypothesen über die auferstandenen Leiber, auf die wir nicht weiter eingehen, weil wir uns auf die Frage der Identität des auferstandenen Leibes mit dem irdischen beschränken. Diesen Abschnitt schließt der Bischof von Hippo mit der grundsätzlichen Erklärung ab: Fern sei uns der Gedanke, dass die Allmacht des Schöpfers zur Auferweckung und Neubelebung der Leiber nicht all das zurückrufen kann, was wilde Tiere oder Feuer verzehrt haben, was in Staub oder Asche zerfallen ist, sich in Wasser aufgelöst oder sich in die Lüfte verflüchtigt hat. Fern sei uns der Gedanke, dass irgendein Schoß oder Versteck der Natur irgend etcorruptio, inquit, incorruptionem possidebit (1 Cor 15,50). Quod prius dixit caro et sanguis, hoc posterius dixit corruptio, et quod prius regnum dei hoc posterius incorruptionem. Quantum autem attinet ad substantiam, etiam tunc caro erit; propter quod et post resurrectionem corpus Christi caro appellata est. 121 Vgl. G. BARDY, Objections païennes contre la résurrection, in: Bibliothèque augustinienne 37 (1960) 838-840. 122 Vgl. w.o. (Teil 1). 123 O. WERMELINGER, Abortus, in: Augustinus-Lexikon 1 (1986-1994) 6-10, hier 9f., geht speziell auf den Fall der abgetriebenen Föten ein.
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was, das unserer Wahrnehmung entgeht, den Blicken des Schöpfers verbergen oder seiner Allmacht entrücken könnte.124
Augustinus belegt diesen Blick Gottes, dem nichts in seiner Schöpfung entgehen und der alles wieder ‚zurückrufen‘ kann, was zerfallen und vergangen ist, mit einem Cicero-Zitat aus den Tuskulanen.12 5 Das genannte Prinzip der Allmacht Gottes erlaubt denn auch die Frage zu beantworten, die in den Augen Augustins „schwieriger ist als alle anderen“, und die, wie wir im ersten Abschnitt gesehen haben, schon die frühen Apologeten beschäftigte, nämlich: „Wem von beiden wird das Fleisch eines toten Menschen, das ein lebender verzehrte, bei ihrer Auferstehung zurückerstattet?“12 6 Seine bis ins groteske Detail gehende Antwort verdeutlicht noch einmal die Entschiedenheit und den Ernst, mit denen Augustinus, wenn notwendig, seine Position von der materiellen Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib verteidigt. Ausdrücklich weist er in diesem Zusammenhang die in seinen Augen ungenügende Antwort zurück, das vom Kannibalen verzehrte Fleisch sei doch ausgeschieden worden und habe sich nicht in dessen Fleisch verwandelt. Doch: Dies ist geschehen, das Fleisch des Verzehrten hat sich in das Fleisch des Kannibalen verwandelt, lautet Augustins Antwort, aber es hat sich dann doch unfraglich in die Lüfte verflüchtigt, und kann von da, wohin es entwich, durch den allmächtigen Gott zurückgerufen werden. Es wird also dem Menschen wiedergegeben werden, in dem es sich zuerst als menschliches Fleisch bildete. Das verzehrte Fleisch des anderen muss man als gewissermaßen geliehen ansehen, und es ist wie geborgtes Geld dem ursprünglichen Besitzer zurückzuerstatten. Aber auch der durch Hunger Entkräftete wird das seine wiedererhalten von dem, der auch das Verflüchtigte zurückrufen kann.127
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civ. 22,20 (CChr.SL 48: 839,1-840,7): Absit autem, ut ad resuscitanda corpora vitaeque reddenda non possit omnipotentia creatoris omnia revocare, quae vel bestiae vel ignis absumpsit, vel in pulverem cineremve conlapsum vel in umorem solutum vel in auras est exhalatum. Absit ut sinus ullus secretumque naturae ita recipiat aliquid subtractum sensibus nostris, ut omnium creatoris aut cognitionem lateat aut effugiat potestatem. 125 CICERO, Tusc. 1,66: Mens quaedam est […] soluta et libera, secreta ab omni concretione mortali, omnia sentiens et movens ipsaque praedita motu sempiterno. 126 Vgl. die folgende Anm. 127 civ. 22,20 (CChr.SL 48: 840,15-32): Unde iam etiam quaestio illa solvenda est, quae difficilior videtur ceteris, ubi quaeritur, cum caro mortui hominis etiam alterius fit viventis caro, cui potius eorum in resurrectione reddatur. Si enim quispiam confectus fame atque compulsus vescatur cadaveribus hominum, quod malum aliquotiens accidisse et vetus testatur historia et nostrorum temporum infelicia experimenta docuerunt: num quisquam veridica ratione contendet totum digestum fuisse
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Und selbst das Unmögliche einmal angenommen, dass dieses Fleisch „völlig verloren gegangen und in keinem Schlupfwinkel der Natur das Geringste von seinem Stoff zurückgeblieben wäre“, der Allmächtige würde es, „woraus er wollte, wieder herstellen können“.12 8 Vergleichen wir nun, was Augustinus im Enchiridion über die Auferstehung des Fleisches ausgeführt hatte, mit dem, was er hier in De civitate dei darüber sagt, so ist in der Sache kein Unterschied festzustellen. Hier wie dort besteht die Auferstehung des Fleisches in der Wiederherstellung des ursprünglichen Leibes aus den Bestandteilen, die es konstituiert haben. Auch in civ. wird der Begriff der materies bzw. materia im Zusammenhang der Auferstehung des Leibes verwendet.12 9 Neu ist nicht einmal die Verwendung des Begriffs revocare; denn auch er kommt schon in ench. an entsprechender Stelle vor. 13 0 Gott ‚ruft‘ die Bestandteile der Leiber von überall her ‚zurück‘, wohin sie sich zerstreut haben. So gesehen ist die Auferstehung der Leiber eigentlich eine Rückrufaktion Gottes. Sie ist nicht viel weniger wunderbar als die ursprüngliche Schöpfung. Fragt man nun zum Schluss: Was ‚bringt‘ diese Vorstellung von der materiellen Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib dem Theologen Augustinus eigentlich ein, so muss die Antwort wohl lauten: Sicher nicht erst die Identität des auferstandenen Menschen mit dem irdischen. Denn diese Identität ist für den ‚Neuplatoniker‘ und mit ihm für die Gebildeten seiner Zeit schon durch die Seele gegeben. Die materielle Identität des irdischen mit dem auferstandenen Leib ist indes für Augustins Anthropologie und seine Vorstellung von der Vollendung der Welt von Bedeutung. Der Mensch ist eine Ganzheit, aus Seele und Leib gefügt, und zu seiner wahren Seligkeit gehört daher auch die Wiederherstellung dieser Ganzheit […]. Der menschliche Leib als Krone der Körperwelt und Bindeglied per imos meatus, nihil inde in eius carnem mutatum atque conversum, cum ipsa macies, quae fuit et non est, satis indicet quae illis escis detrimenta suppleta sint? Iam itaque aliqua paulo ante praemisi, quae ad istum quoque nodum solvendum valere debebunt. Quidquid enim carnium exhausit fames, utique in auras est exhalatum, unde diximus omnipotentem deum posse revocare, quod fugit. Reddetur ergo caro illa homini, in quo esse caro humana primitus coepit. Ab illo quippe altero tamquam mutuo sumpta deputanda est; quae sicut aes alienum ei redhibenda est, unde sumpta est. 128 Ebd. (840,34-36): Quamvis etsi omnibus perisset modis nec ulla eius materies in ullis naturae latebris remansisset, unde vellet, eam repararet omnipotens. 129 Vgl. civ. 22,14; 22,19; 22,20. 130 Vgl. Anm. 117.
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zum Geistigen muss in besonderer Weise am endgültigen Heilszustand Anteil gewinnen.131
So schreibt Joseph Ratzinger zwar nicht speziell im Blick auf den Bischof von Hippo, trifft damit aber wohl auch Augustins Intention. Wenn das Vorstehende zutrifft, dann gibt es bei Augustinus also eine echte Entwicklung von einer platonisch bzw. origenistisch gefärbten Vorstellung von der Auferstehung des Fleisches hin zu einer biblisch orientierten und nicht ein Schwanken zwischen beiden, wie bisweilen immer noch unterstellt wird. So liest man z. B. in der Theologischen Realenzyklopädie: Die Auferstehung des Fleisches, die Augustin zwar gelegentlich orthodox verteidigte (vera religione 21), passt im Grund nicht zu seiner neuplatonisch gefärbten Unsterblichkeitstheologie. Augustin bleibt sich denn auch selber am treuesten, wo er von einem ‚geistlichen Körper‘ in der Auferstehung spricht (Gn.lit.Man. 2,32).132
Recht hat dann Kari E. Børresen, wenn sie schreibt: Ce qu’Augustin veut affirmer contre toute tendence spiritualiste, c’est l’identité entre le corps mort et le corps ressuscité […]. Il ne s’agit pour lui d’un changement du corps terrestre en un corps glorieux, mais concrètement d’une récupération de la matière vivante et accidentellement perdue par la décomposition du corps mortel. Cette récupération est opérée par Dieu, toute comme la résurrection elle-même.133
Und bestätigt wird, was ein Augustinusspezialist wie Ephraem Hendrikx vor über 50 Jahren geschrieben hat: Diese Übereinstimmung der Anthropologie Augustins mit der der Heiligen Schrift und der alten Kirche ergibt sich noch deutlicher aus seiner Lehre über die Auferstehung. Die Seele des Menschen ist kraft der ihr vom Schöpfer gegebenen Beschaffenheit dahin geordnet einen Leib zu beseelen zu der Zwei-Einheit des körperlich-geistigen Menschen. Augustin nähert sich hier tatsächlich mehr Aristoteles als Plato.134
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J. RATZINGER, Auferstehung des Fleisches. VII. Systematik, in: Lexikon für Theologie und Kirche 1 (1957) 1050-1052, hier 1051. 132 R. STAATS, Auferstehung. Alte Kirche, in: Theologische Realenzyklopädie 4 (1979) 467-477, hier 477. 133 BØRRESEN, Augustin, 153. 134 E. HENDRIKX, Platonisches und biblisches Denken bei Augustinus, in: Augustinus Magister, I, Paris 1954, 285-292, hier 291. – Vgl. auch VAN FLETEREN, Augustinus, 463: „Augustinus überwindet die Leibfeindlichkeit, die sich bei vielen antiken Philosophen und Häretikern findet. Seine Betrachtungen zum auferstandenen Leib, wie er
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in der Schrift auftaucht, brechen die Tradition des Platonismus. Der Leib ist nicht länger etwas, das überwunden werden muss.“
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Autoren BECKERMANN, ANSGAR, Prof. em. Dr. phil., Bielefeld KEHL SJ, MEDARD, Prof. em. Dr. theol., Frankfurt am Main KUHN, WILFRIED, Prof. Dr. Dr. med., Schweinfurt MEIXNER, UWE, Prof. Dr. phil., Regensburg RUNGGALDIER SJ, EDMUND, Prof. Dr. phil., Innsbruck SIEBEN SJ, HERMANN JOSEF, Prof. em. Dr. theol., Frankfurt am Main SPAEMANN, ROBERT, Prof. em. Dr. phil. Dr. h. c. mult., München WATZKA SJ, HEINRICH, Prof. Dr. phil., Frankfurt am Main
Herausgeber dieses Bandes KOENEN, KARL-LUDWIG, Dr. jur., Rechtsanwalt und Notar a. D., Frankfurt am Main SCHUSTER, JOSEF SJ, Prof. Dr. theol., Frankfurt am Main