Vollgeld: Beschäftigung, Grundsicherung und weniger Staatsquote durch eine modernisierte Geldordnung [1 ed.] 9783428495269, 9783428095261

Der industrietraditionale Sozialstaat ist am Ende. Er dreht an einer Abgaben-Einkommens-Spirale, die sich auswirkt als M

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German Pages 453 Year 1998

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Vollgeld: Beschäftigung, Grundsicherung und weniger Staatsquote durch eine modernisierte Geldordnung [1 ed.]
 9783428495269, 9783428095261

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Joseph Huber· Vollgeld

Vollgeld Beschäftigung, Grundsicherung und weniger Staatsquote durch eine modernisierte Geldordnung

Von J oseph Huber

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Huber, Joseph: Vollgeld : Beschäftigung, Grundsicherung und weniger Staatsquote durch eine modernisierte Geldordnung I von Joseph Huber. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 ISBN 3-428-09526-X

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1998 Duncker &

ISBN 3-428-09526-X

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung und Überblick Jenseits der industrietraditionalen Sozial- und Geldordnung

II

II. Die Ausgangslage: Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

31

I. Ende der industrietraditionalen Epoche.................................................................. 2. Globalisierung- verschleppter Strukturwandel durch korporative Marktvermachtung und Sozialetatismus ............................................................................... 3. Korporative Marktvermachtung - der primäre Mechanismus der externalen Spaltung der Sozialstruktur .... .. .... .. ..... ..................... .... .. .. .... .. .. .. .... .. .. .... .. ..... .... .. ... a) Internale und externale Differenzierung der Sozialstruktur ............................... b) Externale Differenzierung durch Verschulungszertifikate ................................. c) Arbeitsmarktvermachtung. Die Gewerkschaften ............................................... d) Beschäftigung als Verteilungsproblem. Maximale Arbeitsplatzrentabilität al; allgemeines Entgeltprinzip ... ................ ..... .. ..... .. ............ ... .... .... ...... .. ... .. ...... .. ..... e) Sozialer Ausgleich durch Tarifpolitik? .............................................................. f) Arbeitsmarktsegregation und soziale Spaltung .. .. .... .. .. .. ..................................... 4. Wachstum, Ungleichheit und Beschäftigung ......................................................... 5. Sozialetatismus- der sekundäre Mechanismus der externalen Spaltung ............... 6. Krise der Staatsfinanzen - Endphase des Sozialetatismus .............................. .. ...... 111. Das bezugsrechtfinanzierte Grundeinkommen

I. 2. 3. 4.

31 35. 44 44 46 49 51 56 59 66 70 75 80

Vorläuferkonzepte .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. ... .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. ... .. ... .. .. .. .. ... .. ...... 80 Kategorien von Armut und Reichtum ........................ .. ............................ .. ............ 81 Das Grundeinkommens-Schema ............................................................................ 84 Verwaltung, Lohnabstand und Stigmatisierung ................................................... 92 a) Bedürftigkeitsprüfung und Verwaltungsvereinfachung .................... ................. 92 b) Lohnabstand. Bedürfnis- und Leistungsprinzip .... .. .... .. .......................... ........... 93 c) Entstigmatisierung von Grundeinkommen? ....................................................... 96 5. Beschäftigungswirkungen ...................................................................................... 97 a) Überbrückung der Armutsfalle und Erwerbshürde durch die Schleusenfunktion des Grundeinkommens .. .. ........................ .... ... .. ..... .. .. .. .. .... .. .. ..... ... .. .. .. .. 97 b) Grundeinkommen als Lohnsubvention zum Ausgleich zwischen Marktprei; und Sozialpreis der Arbeit ............................................ .... .................................. I00 c) Mitnahme-Effekte und Missbrauchsmöglichkeiten .................. .. ..................... I 05 6. Aufhebung von bisherigen Sozialleistungen .................. ...... .. .. .. .......................... I 08 a) Sozialhilfe .. ... .... ........... .... .. .......... ..... .... ..... .. .. .... .... .... ...... .. ........ .... .. ... ... .... .. .. .. I 08 b) Einbeziehung von Wohngeld? ......................................................................... 109 c) Ausbildungsförderung ....................... .. ............................................................ 110 d) Arbeitslosenhilfe .............................................................................................. 112

6

Inhaltsverzeichnis

e) Einbeziehung der Familienförderung? ............................................................. 7. Aufstockung von defizitären Sozialversicherungsleistungen ............................... a) Niedriges Arbeitslosengeld .............................................................................. b) Niedrigrenten ......................................................................................... :......... 8. Finanzbedarf eines Grundeinkommens-Schemas ........... .......... .. .... .. ....................

1. 2. 3. 4. 5.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. I 0. 11. 12. 13. 14. 15.

113 114 114 115 118

IV. Finanzierung des Grundeinkommens durch Zentralbank-Bezugsrechte

120

Grundbezugsrechte und ihre regelgebundene Bereitstellung ............................... Geldwertneutralität und Retributionseffekte der Bezugsrechte ............................ Zinsniveauabsenkung durch Bezugsrechte und ihre Wirkungen ......................... Fragen der Liquiditätskontrolle ....................................................................... .. .. . Fragen der Geldlöschung- Rückströmung, Rückschnitt und Inflation ................

120 134 148 154 158

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

166

Das Steuerungsmedium Geld- Ressource zur Repartition von Ressourcen ........ Der historische Dualismus von Bargeld und Giralgeld. Sein absehbares Ende ... Zentralbankgeld und Geldmengen M1- M3. Geld und Geldkapital .................... Zentralbankgeld, Bankengeld, Publikumsgeld. Die Gesamtgeldmenge M .......... Geld und Kredit. Currency versus Banking ......................................................... Die Kontokorrent-Zirkulation. Sichtguthabenschaffung im bargeldlosen Zahlungsverkehr auf der Basis von Reserven .................................... ...... .. ...... .. .. Monetäre und realwirtschaftliche Zirkulation. Eine Ausdifferenzierung der Verkehrsgleichung ............................................................. ;................................. Beschleunigte Zirkulation des Geldes. Tendenzielle Verselbständigung der Sichtguthabenschaffung der Banken .......... ............................................. .. .... .. .. ... Frei geschöpftes chartales Geld ........................................................................... Zur Zukunft der Zentralbanken als Regulationsbanken ....................................... Privatgeld - die verkehrte Alternative zum chartalen Geld ... ............................... a) Friedrich von Hayek und der Dukat ................................................................. b) Wolfram Engels und der Standard ................................................................... Wandel des Geldes vom Sachwert zum funktionalen Generaläquivalent ............ Das Vollgeldkonzept Übergang vom Geldreserve-Prinzip zu Vollgeld durch Umwandlung von Girokonten in Geldkonten ................ .. .. ....... .. .. ...... ....... Vorläuferkonzepte ............................................................................................... a) Das allgemeine staatliche Geldregal nach Rolf Gocht ..... .. .. .. .. .. .. ..... ... ........ .. .. b) Der Ansatz der 100-Prozent-Reserve aus den 30er Jahren .............................. Grundeinkommens-Gesamtfinanzierung durch Bezugsrechteinfolge der Steuerbarkeit des Geldbasisbedarfes durch Fristenpolitik ....................... ............

166 174 185 193 197

280

VI. Retribution Staat und Politik in der gegliederten Gesellschaft

287

1. Die Perspektive der Retribution ........................ .. ....... .......... .. .. ...... .. .............. .. .. .. 2. Staatsaufgaben: Ordnung, Infrastruktur und soziale Sicherheit ....... ........ ...... .. .. .. a) Staatsaufgaben und Funktionen der Aufgabenerbringung ........... .............. .. .... b) Ordnungsaufgaben ................ ..................... ........... ......................... .................. c) Standortliehe Infrastrukturleistungen ............................................................... d) Aufgaben der sozialen Sicherung ............... .... ......... ........ .. .............................. 3. Eine kurze Betrachtung der wichtigsten Steuerarten und ihrer Entbehrlichkeit ...

205 224 230 235 241 245 245 253 255 259 267 267 271

287 288 288 293 295 300 302

Inhaltsverzeichnis 4. Sind Retribution und Entstaatlichung ein neoliberales Programm? ..................... 5. Die gegliederte Gesellschaft und die neue Gewaltenteilung ... .... ........ .. .. .. .. ... .. .. .. 6. Jenseits des demokratischen Etatismus. Funktionaler Politikbegriffund zivilgesellschaftliches Demokratieverständnis ............................................................ 7. Die Koordinationsproblematik der gegliederten Gesellschaft .............................. 8. Freiheitliche Demokratie zwischen Entfremdung und Überfremdung .. .. .............

I. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

I.

7 312 314 320 323 331

VII. Eine postkapitalistische Sicht aufWirtschaftsfaktoren, Gewinn, Einkommen und Eigentum

338

Die industrietraditionale Produktionsfunktion ..................................................... Wirtschaftsfaktoren als Ressourcen und Kapazitäten .......................................... Produktion, Transaktion, Finanzierung und Repartition ...................................... Zum Verhältnis zwischen Real- und Finanzwirtschaft ........................................ Faktorenbezahlung, Einkommensverteilung, Gewinnermittlung ......................... Produktivität und Rentabilität .............................................................................. Existiert der Kapitalismus noch? Wohin entwickelt er sich? ................................ Zur Zukunft des Eigenkapitals und des Unternehmenseigentums ....................... Arbeitnehmerpolitik als neue Mittelstandspolitik ................................................ Zur Zukunft der Erwerbsarbeit ............................................................................

338 339 345 350 353 357 359 366 372 375

Anhang

381

Kritik des Schwundgeldes nach Silvio Gesell ...................................................... I. Gesell und seine Zeit.. ....................................................................................... 2. Schwundgeld ................................................................................................... 3. Umlaufsicherung des Geldes mit und ohne Schwundgeld ............................... 4. Inverse Verzinsung und Inflationspotential des Schwundgeldes .....................

381 381 384 390 393

II. Potentialsteigerung durch Spezialisierung gemäß komparativen Vorteilen ......... 401 III. Erhaltung einer gegebenen Geldmenge bei kumulativem Auf- und Abbau eines vielfach höheren Kreditvolumens ...... ............................ ............................. 403 Abbildungen im Anhang .... .. .. ... ......... ......... ..... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. 408 Literaturverzeichnis ..... .. ..... .. ...... .... .. .. .. .................................. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. . 431 Namensregister ........................................................................................................... 443 Sachregister ................................................................................................................ 446

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabellen

Tab. Armut und Reichtum als relative Einkommens-Kategorien .......................... 83 Tab. 2 Erwartbare Größenordnungen der Substitution von Steuern und Sozialabgaben durch Bezugsrechte .. .. .. .. ... .. .. .. ... ......... .. .. .... ... .. .. .... .. .. .. .. ......... .. .. .. 119 Tab. Wachstum der Geldmengen Mund M3 1988 - 1996 .................................. 196 Tab. 4 Größenordnung verschiedener Geldbestände, Einkommen und Vermögen ............................................................................................................ 222 Abbildungen im Text

Abb Abb. Abb. Abb. Abb.

2 3 4 5

Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. II Abb. 12 Abb. 13

Primäre und sekundäre Verteilung ................................................................. 63 Grundeinkommen mit Erwerbs- und Einkommensschleuse. .. ..... .. .... .. .. ... .... .. 86 Die Emission von Grundbezugsrechten ....... ... ............... ........ ....... ... .. ........ .. 122 Retribution durch Grundbezugsrechte ......................................................... 137 Vereinigungsmenge und Schnittmengen von Zentralbankgeld, Bankengeld und Publikumsgeld .. .. .. .. .... ..... .... ... .. ...... .. .. ... .... ... .... .. .. .. .. .. .. ... . 193 Systematik verschiedener Reserve-Kategorien............................................. 207 Der Kontokorrent-Saldo bei Ausgaben (Lastschriften) und Einnahmen (Gutschriften) ........................................................................... 212 Geld- und Kapitalkonten vor und nach der Umstellung vom Reserveprinzip auf Vollgeld .................................................................................... 268 Trägerschaft und Finanzierung von Ordnungsaufgaben ... ...... .. .. .... .. .. ... .... .. 294 Trägerschaft und Finanzierung von Infrastrukturleistungen .. .. .... .... .. .. ....... 295 Trägerschaft und Finanzierung von Leistungen der sozialen Sicherung ..... .. .. .. .. .. .. .. ..... .. .. .. .. ... .. .. .... ... .... .. .. .. ... .. ..... .......... .. ....... .. .. .. .. ....... 30 I Gliederung der Wirtschaftsfaktoren ............................................................ 340 Die Repartition als real- und finanzwirtschaftsintermediäre Schlüsselfunktion ........................................................................................ 350 Abbildungen im Anhang

Abb. I Take-Off der Auslands-Direktinvestitionen weltweit überproportional zum Wachstum der Inlandsinvestitionen 1980- 1996 ................................ Abb. 2 Wachstum des Welthandels überproportional zum Wachstum des Wirtschaftsproduktes .. .... .... ..... .. .. ............ .. .. .. ..... .... ..... .. .... .. .. .. .. .. .. ..... ..... .. .. ....... Abb. 3 Wachstum des Devisenhandels überproportional zum Wachstum des realwirtschaftlichen Welthandels ....... .. .. .. .. .. .. ... ... .... .. .. .... .. .. .. .. ... .. .. ... ...... .. . Abb. 4 Treppenförmige strukturelle Verfestigung der Arbeitslosigkeit ..................

408 409 4 I0 411

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

5 6 7 8 9 10

Abb. II Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Einkommens(un)gleichheit und Produktivitätswachstum ........................... Wirtschaftswachstum und soziale Ungleichheit . .. .. .. .. ... .. ....... ... ... .. .. .. ... .. .. .. Lohndifferenzierung und Arbeitslosigkeit .. ..... .. .. ... ... .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .... Produktivität und Arbeitsentgelte .. ... ..... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ....... .. .. .. ......... .... ... .. .. . Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit ................................................. Staatsquote in den USA, Japan, Großbritannien und Schweden sowie im Durchschnitt von 16 Industrienationen 1870 - 1996 .. .. .. .... .. .. .. .. .... ........ Staatsquote in Deutschland, Dänemark, Großbritannien und Schweden 1850- 1995 ................................................................................................. Sparquote und Staatsquote ................................ .... .. .. ................ .................. Sparquote und Investitionsquote .................................. .......................... ..... Staatsquote und Investitionsquote ............... .. .... .... .... ....... .... .... .... .... .... .. ..... Investitionen und Beschäftigung .. .. .. .. .......................................... .... ... .... ... . Staatsschuld und Wirtschaftswachstum ....................................................... Steuerlast und Wirtschaftswachstum ...................................................... ..... Potentialorientierte Ausweitung der Bargeldmenge .................................... Kapitalmarktzins und Inflationsrate in Deutschland 1960 - 1997 ...... .......... Kapitalmarktzins und Inflationsrate im Ländervergleich ............................ Zinsniveau und Preisniveau in Großbritannien 1820- 1920 ........................ Die säkulare Wachstumskurve (Lernkurve) der modernen Wirtschaft ........ Die säkulare Inflationskurve der modernen Wirtschaft ...............................

9 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430

I. Einleitung und Überblick Jenseits der industrietraditionalen Sozial- und Geldordnung Der industrietraditionale Sozialstaat ist am Ende. Mehr als er zur Bewältigung von Problemen beiträgt, ist er selbst zu einem Problem und zu einer Hauptursache filr Missstände geworden. Damit zusammen in die Krise geraten sind auch die staatszentrierte Demokratie und die korporative Sozialpartnerschaft von Kapital und Arbeit. Doch es fehlt an weiterfUhrenden Vorstellungen. Dieses Buch versteht sich als ein Beitrag dazu, freiheitliche und solidaristische Traditionen in einer Wertesynthese aufzuheben und die heutige Staatszentriertheit durch eine wirtschaftliche Stärkung der Bürgerschaft überwinden zu helfen. Die folgenden Abschnitte fassen Kernpunkte der Schrift im Überblick zusammen. Der hier vorgebrachte Ansatz kreist um vier Konzepte, die in wechselseitiger Ergänzung entfaltet werden: Grundeinkommen, Bezugsrechte, Vollgeld und Retribution. Bekannt ist das Konzept eines Grundeinkommens, das hier in fortentwickelter Form dargestellt wird. Neu ist seine Finanzierung durch Bezugsrechte auf der Grundlage eines Überganges vom gegenwärtigen Geldreservesystem zu Vollgeld. Die Absicht dieser Umstellung liegt durchaus auch darin, Bedürftigen besser als heute zu helfen. Darüber hinaus aber sind das Grundeinkommen und die neue Weise seiner Finanzierung mehr noch Instrumente im Dienste weitergehender Ziele. Es geht darum, die Staatsquote zu senken, Unternehmen und Haushalte vom Übermaß staatlicher Verteilungswirtschaft zu befreien, ebenso, die teilweise erhebliche Abhängigkeit der Unternehmen und Haushalte von externem Kapital zu verringern und auf diesem Wege bestimmten ordnungspolitischen Zielen näher zu kommen. Zu diesen zählen insbesondere das Leitbild eines freiheitlichen Rechtsstaates ohne die heutigen Vermachtungen durch korporative Vorherrschaft von Sozialbürokratien, Gewerkschaften und Finanzoligopolen sowie auch das Leitbild einer zivilen Demokratie, in der Selbstbestimmung mehr zählt als die bürokratische Einmischung in anderer Leute Angelegenheiten, und in der die heutigen Arbeitnehmer hinüberwachsen können in den Status von selbständigen Mitarbeitern, die schrittweise zu Miteigentümern und Mitunternehmern werden. Insofern werden hier auch Elemente filr eine neue Mittelstandspolitik entwickelt. Fortschrittliche Gesellschaftspolitik war stets Politik zugunsten der jeweils virulenten Mittenkräfte zu denen hin die Gesellschaft sich integrieren konnte. Im Mittelalter war dies Lehenspolitik zugunsten bäuerlich begründeter

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I. Einleitung und Überblick

feudaler Wirtschaftsgemeinschaften. Vom 16. bis 18. Jahrhundert war es Standespolitik zugunsten der diversen Feudal-, Klerikal-, Handwerks- und Handelsstände. Fortschrittlich im 18. und 19. Jahrhundert war eine bürgerliche Politik zugunsten des aufstrebenden Bildungs- und Geldbürgertums, Groß- und Kleinbürgertums, und im 19. und 20. Jahrhundert war es Arbeitnehmerpolitik zugunsten der gesellschaftlichen Integration der lohnabhängig gewordenen Massen. Im Zuge von deren Ausdifferenzierung bilden heute die neuen Mittelschichten bereits das virulente Impulszentrum der Gesellschaft - die Mehrheit der qualifizierten Fachkräfte verschiedenster Stellung und Funktion, sodann die leitenden Angestellten sowie die Selbständigen und Freiberufler herkömmlicher und neuer Art. Sie zusammen sind der neue Mittelstand. Von ihnen hängt ab, wohin die Gesellschaft und die kapitalistische Wirtschaftsweise sich entwickeln. In einer Gesellschaft, in der die breite Mehrheit der Bevölkerung zu den Mittelschichten zählt, ist etwas anderes als Mittelstandspolitik rückständig oder elitär. Ausfuhrlieheres dazu findet sich im Schlusskapitel "Eine postkapitalistische Sicht ... ". Die früheren "kleinen Leute" sind heute mehrheitlich keine mehr. Der Sozialstaat, als Einrichtung für die ehedem "kleinen Leute", ist größenpervertiert. Der disfunktional gewordene Sozialstaat herkömmlicher Art sowie die Vormachtstellung der staatszentrierten Parteien sind nicht länger tragbar. Deshalb geht es darum, eine Retribution in Gang zu setzen, das heißt, eine Rückübertragung von Kompetenzen und Finanzmitteln vom Staat zur Bürgerschaft. Gut die Hälfte ihres Einkommens wird den unselbständig Beschäftigten heute vorenthalten, durch Abgaben, direkte und indirekte Steuern. Aber die Leute sollen nicht länger versorgt werden müssen, sondern selbst für sich sorgen können. Die dazu nötigen Freiheiten und Rechte, nicht zuletzt die dazu nötigen Geldmittel, dürfen ihnen nicht länger vorenthalten bleiben, sondern müssen ihnen überantwortet werden. Dies wird näher dargelegt im Kapitel "Staat und Politik unter den Bedingungen der Retribution in der gegliederten Gesellschaft" und an diversen anderen Stellen der Schrift. Es mag auf den ersten Blick nicht evident sein, inwiefern ein Grundeinkommen derartigen Zielen dient. Tatsächlich ist es weniger das Grundeinkommen, als mehr sein Finanzierungsmodus und die entsprechend modifizierte Geldordnung, die diesen Zielen dienen. Ein Grundeinkommen integriert eine Reihe von heutigen Unterhaltszahlungen wie Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Ausbildungsförderung. Es garantiert das Existenzminimum, leistet aber zugleich mehr als das, denn Grundeinkommensbezüge können kombiniert werden mit eigenen Niedrigeinkünften, zum Beispiel mit Kleinrenten oder mit Zuverdiensten von Studierenden, bis zur Schwelle des prekären Lebensstandards. Die verbleibende Grundeinkommens-Zuwendung nimmt umso mehr ab, je höher die eigenen Niedrigeinkünfte ausfallen. Durch die Schleuse zwischen Existenzminimum und prekärem Lebensstandard wird insbesondere auch ein stufenloser Übergang von der Erwerbslosigkeit zu regulärer Beschäftigung ermöglicht. Das Grundeinkom-

I. Einleitung und Überblick

13

men ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument ebenso wie ein sozialpolitisches. Diese Dinge werden im Kapitel "Konzept eines bezugsrechtfinanzierten Grundeinkommens" detailliert dargestellt. Das Grundeinkommen soll nicht durch Steuern, sondern durch Bezugsrechte finanziert werden. Bezugsrechte sind Anweisungen auf Ziehung von Geld bei der Zentralbank. Sie werden, ohne Zutun der Regierung, direkt von der Zentralbank nach genauen Regeln ausgestellt. Durch die Bezugsrechte erfolgen die Auszahlungen, die im Rahmen eines Grundeinkommens-Schemas fällig werden. Das Grundeinkommen wird direkt von der Zentralbank mit neuem Geld bezahlt, und zwar innerhalb der Grenzen der ohnedies stattfindenden Geldschöpfung, also ohne inflationäre Überausweitung der Geldmenge. Die Absicht liegt darin, die staatliche Geldumverteilung sowie die durch Staatsverschuldung bewirkte kumulativ verzinsliche Geldumleitung teilweise zu ersetzen durch direkte Geldschöpfung, soweit dies im Rahmen des Möglichen liegt, und im gleichen Maße die Abgaben- und Schuldenlast zu senken. Die Darlegung dieses Sachverhaltes erfolgt im Kapitel "Finanzierung des Grundeinkommens durch Zentralbank-Bezugsrechte". Die Einlösung einer solchen Perspektive impliziert eine Modernisierung der Geldordnung. Das heutige traditionale Reservesystem mit seinem obsoleten Dualismus von Zentralbank-Reserven und Bankengeld ist aufgrund historischer Sedimentationen unnötig kompliziert und liegt nicht unbedingt im allgemeinen Interesse der Bürgerschaft, der Unternehmen und des Staates. Das Reservegeld soll aufgehoben werden in einem allgemein zirkulierenden vollwertigen Buchgeld, dem Vollgeld, das von der Zentralbank in Umlauf gebracht wird. Dieser Schritt ist im übrigen auch ohne Grundeinkommen, vor allem aus ordnungs- und stabilitätspolitischen Gründen historisch mehr als überfällig, zumal im Kontext der Globalisierung, welche die freiheitliche demokratische Rechtsstaatlichkeit unter Umständen in Bedrängnis bringen kann. Vollgeld bedeutet, dass Guthaben auf Girokonten nicht mehr bloß verrechnete Forderungen auf Auszahlung von Bargeld darstellen, sondern sie als Buchgeld vollwertiges Geld werden, gerade so, wie Münzen und Banknoten heute schon vollwertiges Geld sind. Girokonten werden zu Geldkonten. Die darauf befindlichen Guthaben, die heute bereits allgemein gebräuchliche Zahlungsmittel, jedoch kein Zentralbankgeld darstellen, werden zu Zentralbankgeld. Für die Geld- und Guthabenbesitzer bedeutet dies keinerlei Veränderung. Das einzige, was sich ändert, ist die Geldschöpfung durch die Banken. Sie hört auf. Alles andere kann bleiben. Beim heutigen Geldreservesystem wird nur ein geringer und tatsächlich abnehmender Teil des zirkulierenden Geldes von der Zentralbank emittiert, während der überwiegende und wachsende Teil in Höhe von gegenwärtig rund zwei Dritteln der Geldmenge MI von den Geschäftsbanken in Form von Sichtguthaben in Umlauf gesetzt wird. Dieser Trend - der bei Fortbestehen auch Perspektiven einer privatwirtschaftliehen Geldherrschaft eröffnet - wird außer Kraft gesetzt. Die Kontrollierbarkeit der Geldmenge durch

14

I. Einleitung und Überblick

die Zentralbank und deren geldpolitische Unabhängigkeitsposition werden besser denn je gewährleistet. Bei Vollgeld ist es alleine die Zentralbank, die Geld schöpft, während Banken Geld beschaffen, vermitteln und verwalten. Sie tun dies bei Vollgeld ebenso wie heute auch. Die heute üblichen Geld- und Kreditgeschäfte bestehenunbeeinträchtigt weiter. Den Banken fließen benötigte Mittel auch weiterhin auf den bisherigen Kanälen zu, lediglich in veränderten Proportionen. Auch die institutionelle Struktur des Bankensektors und der Finanzmärkte kann unverändert weiterbestehen. Ohne Umstellung auf Vollgeld wäre eine inflationsfreie Finanzierung von Grundeinkommen durch Bezugsrechte nur in geringem Umfang möglich. Der Jahreszuwachs der heutigen Zentralbankgeldmenge ist fiir ein Grundeinkommens-Schema viel zu gering. Dagegen sind die von den Banken geschaffenen Sichtguthaben relativ groß. Nach heutigen Preisen würden fiir ein Grundeinkommens-Schemajährlich etwa 85- 110 Mrd Mark oder 43- 56 Mrd Euro benötigt. Unter den Bedingungen des Geldreservesystems liegen diese Beträge weit jenseits der jährlichen Ausweitung der Zentralbankgeldmenge um gegenwärtig etwa 10 - 14 Mrd Mark. Jedoch bewegt sich die Geldschöpfung des gesamten Bankensektors in einem Spektrum von etwa I 00 - 170 Mrd Mark oder 51 - 86 Mrd Euro, je nach Berücksichtigung der Geldmengen M l - M3. Wird durch Übergang vom Geldreservesystem zu Vollgeld die gesamte Geldschöpfung Sache der Zentralbank, liegt die Finanzierung eines Grundeinkommensdurch Bezugsrechte im Rahmen des Möglichen und Machbaren. Was die Banken nicht mehr schöpfen, kann die Zentralbank emittieren. Soweit das Geld über das Grundeinkommen und damit als Konsumnachfrage über den realwirtschaftlichen Transaktionsweg in Umlauf gesetzt wird, erreicht es die Banken danach in Form von Kundeneinlagen. Die Wahrnehmung dieser Emissionsmöglichkeit erfordert keinerlei dramatische Maßnahmen und ist verbunden mit Vorteilen fiir die Ertragslage und Eigenkapitalbasis der Unternehmen, die Einkommens- und Vermögensentwicklung der Bürgerschaft, die Beschäftigung, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, die monetäre Stabilität und die Wettbewerbsflthigkeit der Wirtschaft. Der Übergang zu Vollgeld - im Unterschied zum heutigen undurchsichtigen und krisenanflilligen Geldschöpfungsgeschehen - wird sicherstellen, dass die Geldordnung unmissverständlich ein Teil der öffentlichen Rechtsordnung ist, nicht Gegenstand von privatrechtlich ausgeübten Geschäftsinteressen. Gute Geschäfte, auch gute Geldgeschäfte, sind willkommen, aber die Geldordnung als Teil der Rechtsordnung und die Geldschöpfung als Teil der die Geldmenge regulierenden öffentlichen Geldpolitik dürfen unter keinen Umständen ein Gegenstand von Geschäftemacherei sein. Die Mengenkontrolle über das Steuerungsmedium Geld ist eine politische Führungsaufgabe. Erfilllt werden soll diese Aufgabe von der Zentralbank als einer gewaltenteilig unabhängig gestellten Währungsbehörde. Die Mengenkontrolle bedeutet keine Verwendungskontrolle des Geldes. Bankensektor und Finanzmärkte sollen institutionell in keiner Wei-

I. Einleitung und Überblick

15

se verändert und schon überhaupt nicht verstaatlicht werden. Sie können so frei Geschäfte machen, wie dies im Rahmen einer rechtsstaatlich geordneten Marktwirtschaft überhaupt nur denkbar ist. Die Klärungen betreffend das Geld, die Geldordnung und die Geldzirkulation haben eine recht ausfilhrliche Darlegung erforderlich gemacht, fast ein Buch im Buche, in Form des Kapitels "Vorn Reservegeld zum Vollgeld". Der neue Finanzierungsweg dient unmittelbar einem beschäftigungs- und sozialpolitischen Zweck, mittelbar aber der Reform der Staatsfmanzen und der Geldordnung. Wirtschaft und Gesellschaft stehen heute fmanzwirtschaftlich nach zwei Seiten hin unter übermäßigem Druck - zur einen Seite hin unter dem fiskalischen Druck immer höher gewordener Steuern und Abgaben, zur anderen Seite hin unter dem monetären Druck immer umfangreicherer Verzinsungsansprüche von Geldanlagen. Einerseits die vielen Gruppen, die arn sozialen Netz und arn Subventionstropf hängen, und andererseits jene Gruppen, die zunehmend in der monetären Hängematte steigender Kapital- und Zinseinkünfte liegen, haben etwas miteinander zu tun. Die realwirtschaftlich eigenerwerbsfiihigen Unternehmen und Haushalte stehen von beiden Seiten her unter einer zermürbenden Dauerüberlastung. Ihnen muss nach beiden Seiten hin Erleichterung verschafft werden. Sie sollen zur monetären Seite hin der übermäßigen Abhängigkeit von Fremdkapital und allzu urnfiinglichen Finanzierungskosten, und zur fiskalischen Seite hin der Überlast der staatlichen Urnverteilungen enthoben werden. Der Sozialstaat bezog seine Legitimation aus seinem Allgerneinwohlrnythos, ein industriegesellschaftlicher Robin Hood zu sein, der von den Reicheren nimmt, um den Ärmeren zu geben. Der Robin-Hood-Mythos des Sozialstaates hat sich verbraucht. Er ist zu einer Lebenslüge geworden. Der Staat soll aufhören, den bürokratischen Wegelagerer und Wohltäter zu spielen. Längst sind die Beraubten und die Beschenkten weitgehend dieselben. Unterlässt man den Raub, erübrigen sich die fragwürdigen Geschenke. Bei dem einzuleitenden Prozess der Retribution geht es um einen Strukturwandel der öffentlichen und privaten Haushalte, der im Verlauf etwa eines Vierteljahrhunderts die Staatsquote halbiert und die betreffenden Mittel von der staatlichen Vormunds-Bewirtschaftung an eine selbständiger werdende Bürgerschaft rücküberträgt Retribution heißt Re-Attribution von Aufgaben zwischen Staat, Unternehmen und Haushalten sowie Re-Kontribution der daillr erforderlichen FinanzmitteL Auch wenn Retribution und Vollgeld die weitergehenden Anliegen darstellen, sollte die beschäftigungs- und sozialpolitische Maßnahme des Grundeinkornrnens durch Bezugsrechtfmanzierung nicht als beliebiges Mittel zum Zweck missverstanden werden. In der Problernlage ebenso wie bei ihrer Auflösung bestehen direkte Zusammenhänge zwischen der Geldordnung und den öffentlichen Finanzen einerseits sowie der Beschäftigung und der sozialen Lage andererseits. Außerdem ist das Mittel auch deshalb nicht auswechselbar, weil es unter den öffentlichen Transferausgaben anscheinend keine anderen als die in einem

16

I. Einleitung und Überblick

Grundeinkommen aufzuhebenden Zahlungen gibt, die sich auf vergleichbare Weise in direkter Abhängigkeit von der allgemeinen Einkommensentwicklung objektivieren und nach genauen Regeln verstetigen lassen. Einigermaßen gut versorgt werden die meisten Bedürftigen heute durchaus. Aber aufgrund der Finanzierung von Sozialleistungen durch lohnbezogene Abgaben besteht zwischen dem Umfang der Sozialtransfers einerseits und dem Stand der Beschäftigung und der Überlastung öffentlicher Haushalte andererseits eine negative Beziehung: Je mehr Sozialtransfers und andere öffentliche Finanzierungsaufgaben, umso stärker die Belastung der öffentlichen Haushalte, umso höher die Steuern, Sozialabgaben und die Staatsverschuldung, umso höher die Lohnintensität der Arbeitsplätze, umso geringer die Beschäftigungschancen, besonders in den unteren Einkommensgruppen, umso größer die Zahl der Marginalisierten und der unbeschäftigten Jugendlichen und Älteren in Ausweichrollen, von daher wieder umso mehr Sozialtransfers, und im Teufelskreis so weiter. Der Sozialstaat heute trägt nicht nur zur Verfestigung von Spaltungen des Arbeitsmarktes und der Sozialstruktur bei, die von den primärverteilenden Tarifpartnern angelegt werden. Der Sozialstaat ist zum sekundärverteilenden Hauptverursacher dieser Spaltungen geworden, weil er an einer Abgaben-Einkommens-Spirale dreht, die sich auswirkt als Mehrabgaben-Minderbeschäftigungs-Spirale und als Mehrverschuldungs-Minderinvestitionen-Spirale. Dies, im Zusammenhang mit Fragen der Globalisierung und des Wirtschaftswachstums bei Ungleichheit, wird im Kapitel "Ausgangslage" erörtert. Bisherige Konzepte eines steuerfinanzierten Grundeinkommens konnten keine Perspektive eröffnen, wie der Teufelskreis aus Unterbeschäftigung und Überlastung der Sozialbudgets zu durchbrechen sei. Die Absicht bisheriger Grundeinkommens-Konzepte lag darin, Sozialhilfe, Kindergeld, Wohngeld, Arbeitslosenhilfe und Ausbildungsförderung - also Zuschüsse zum Lebensunterhalt, nicht Sozialversicherungsleistungen - zusammenzufassen in einem einzigen Transferschema. Damit würde die Sozialverwaltung vereinfacht werden. Im seihen Streich würden eventuell noch vorhandene Versorgungslücken geschlossen. Geschehen sollte dies nach bisheriger Vorstellung dadurch, dass nicht mehr Sozialamt, Wohnungsamt, Arbeitsamt usw. getrennt für die Auszahlung der diversen Zuwendungen zuständig sein sollen. Stattdessen soll das Finanzamt die flilligen Transferzahlungen in Form einer negativen Einkommenssteuer ermitteln. Dies bedeutet, dass Personen oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze wie bisher "positiv" Steuern zahlen müssen, während Personen unterhalb dieser Grenze, und damit im "negativen" Einkommensbereich mit geringen oder keinen Einkünften, Geld vom Finanzamt erhalten, bis hin zur vollen Höhe des garantierten Grundeinkommenssatzes, wenn sie überhaupt keine eigenen Einkünfte erzielen.

I. Einleitung und Überblick

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Es sind kaum prinzipielle Einwände gegen das garantierte Mindesteirrkommen durch Negativsteuer erhoben worden. Koryphäen der Wirtschaftswissenschaft wie Irving Fisher in den 30er Jahren, James Tobin als Vertreter des Keynesianismus (1967) und Milton Friedman als Vertreter des Monetarismus (1962, 1980) haben sich ebenso dafiir stark gemacht wie einflussreiche Politiker, etwa U.S. Senator Moynihan (1973). Auch eine Reihe von Parteien in Europa haben heute ein Grundeinkommen im Programm stehen. In Deutschland zum Beispiel favorisieren die Grünen und die FDP umfiingliche Varianten des Grundeinkommens. Auch in den großen Parteien findet es seine Befiirworter. Dennoch wurde ein allgemeines Mindesteinkommen, das fiir nicht-erwerbstätige, erwerbslose und erwerbstätige Bedürftige gleichermaßen gilt, bisher noch nirgends in die Tat umgesetzt. Die Einwände lauten stets "zu teuer", deshalb "nicht durchsetzbar". Nun sind in den Sozialstaaten Europas längst regelmäßig Milliardensummen in Sozialtransfers geflossen. Alleine die Einkommensleistungen des deutschen Sozialbudgets haben heute eine Größenordnung von um 800 Mrd Mark erreicht. Das dazugehörige BIP liegt bei 3.500 Mrd. Ein Grundeinkommen, das einen Teil der schon vorhandenen Existenzsicherungsleistungen ersetzt, würde in der Summe voraussichtlich wenig ändern. Ein Grundeinkommens-Schema bringt zwar eine Erweiterung des Kreises der Bezugsberechtigten in Gestalt der Niedrigverdiener mit sich. Im Gegenzug erübrigen sich jedoch die heutigen Unterstützungszahlungen an Personen, die es vorziehen, Sozialhilfe oder Arbeitslosenunterstützung zu beziehen, und daneben eventuell schwarz zuzuverdienen, statt fiir wenig Geld regulär arbeiten zu gehen. Von daher erscheint es im Prinzip glaubhaft, eine Grundeinkommens-Reform nach dem Modell der negativen Einkommenssteuer könne einigermaßen kostenneutral durchgefiihrt werden, zum Beispiel in Form des "Bürgergeld"-Konzeptes des Kronherger Kreises (1986, Engels et al. 1973, 1988, Mitschke 1985, 1988). Anders lautende Studien, die zu horrenden zusätzlichen Kostenbelastungen der öffentlichen Kassen infolge von Grundeinkommenszahlungen und SteuerausfiHlen in Höhe von zusammen um die 300 Mrd Mark gelangen, beruhen auf einer irrefUhrenden Annahme, die bei Befiirwortern ebenso wie Gegnern verbreitet ist, nämlich, ein solches Grundeinkommen würde ohne Bedürftigkeitsprüfung automatisch an alle ausbezahlt (Gern 1996, 26-30). Aber die Crux liegt noch woanders: Ob kostensteigernd oder kostenneutral, ob mit oder ohne Steuerausfälle, ob in den Vereinigten Staaten oder der Europäischen Union, ein solches Reformprogramm muss heute deshalb Papier bleiben, weil weder in Amerika die Staatsquote sich steigern noch in Europa die hohe Staatsquote sich halten lässt. Über Jahrzehnte hinweg haben die Regierungen die Staatshaushalte durch Ausdehnung und Überschuldung immer weiter in Richtung der Zerrüttungsgrenzen getrieben. Die Konvergenz-Kriterien der Europäischen Währungsunion - in erster Linie fiir die Staatshaushalte, weniger fiir den Euro von direkter Bedeutung - waren faktisch nichts anderes als das 2 Huber

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öffentlich erklärte Eingeständnis, dass es so nicht weitergehen kann, und Ausdruck der Hoffnung der Regierungen und Ministerialverwaltungen, im internationalen Schulterschluss eine Rosskur der Staatsfmanzen gegenüber ihren nationalen Wählerschaften und Klienteis durchzusetzen. Die bisherigen Grundeinkommens-Konzepte repräsentieren ein breites politisches Spektrum, teils wirtschaftsliberal, teils grün-libertär, teils kommunitär, teils christlich-konservativ. Allen ist jedoch gemeinsam, dass es sich um einen Sozialtransfer handeln soll, der aus Steuern zu bezahlen ist. Die Liberalen wollen bei der heutigen Einkommenssteuer bleiben, die Grünen wollen den Verbrauch von Energie und sonstigen Ressourcen besteuern, und spätalternative Lebens- und Bodenreformer wollen wieder einmal den Grundbesitz besteuern. Sicherlich würden diese verschiedenen Steuerarten mit unterschiedlichen Lenkungswirkungen einhergehen. Aber fiir die Finanzierung eines Grundeinkommens machen diverse Steuerarten keinen Unterschied, solange das Steueraufkommen und die Staatsquote weiterhin gleich hoch bleiben oder womöglich noch steigen statt zu sinken. In dem weiterhin sehr hohen Bedarf an Besteuerung liegt die entscheidende Schwäche der bisherigen Grundeinkommensansätze. Deshalb sind sie politisch stecken geblieben. Selbst wenn es stimmen sollte, dass sie den schon vorhandenen Umverteilungen nicht noch draufsatteln, sind die Akzeptanzgrenzen des Publikums fiir hohe Steuern und Sozialabgaben erreicht (auch wenn das Publikum sich selbst gerne weiterhin aus Umverteilungen bedienen lässt). Angesichts einer Staatsquote von 40 - 60 Prozent des Wirtschaftsproduktes ist die Rede von der vermeintlichen öffentlichen Armut und dem privaten Reichturn ein ziemlicher Unfug. Die öffentlichen Haushalte sind aufgebläht, und die Ansprüche von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, also von allen, an die öffentlichen Haushalte sind es noch mehr. Die daraus resultierende relative Knappheit der öffentlichen Mittel bewegt sich in schwindelerregender Höhenlage. Die immer neuen Besteuerungsideen, mit denen manche Politiker die öffentlichen Kassen noch weiter aufblähen wollen, lassen sich nurmehr durch die Betriebsblindheit einer etatistischen Parteienpolitik erklären. Nach drei bis vier Generationen Staatsinterventionismus und Realsozialismus gibt es keine Akzeptanz mehr fiir Reformen, die mit hohen Umverteilungen einhergehen. In der Epoche der Globalisierung mit weltweiter Produktivitäts-, Kosten- und Abgabenkonkurrenz der Wirtschaftsstandorte kann der in großem Stil national umverteilende Interventionsstaat in seiner bisherigen Form nicht weiterbestehen. Staat und Bürgerschaft müssen ein neues Verhältnis zueinander finden, sonst endet Vater Staat als interventionsstaatlicher Rabenvater, der zur Bezahlung seiner wachsenden Transferleistungen entweder immer mehr Einkommen schröpfen oder sich immer mehr verschulden muss, und der im Ergebnis beides tut. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Staatsquote in den Ländern Europas kaum höher als zehn Prozent, meist darunter. Auch die feudale

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Obrigkeit hatte sich mit dem Zehnten zufrieden gegeben. Jedoch die Politik der Klassenkampfbefriedung durch das Versprechen wohlfahrtsstaatliehen GlückIiehseins filhrte, beginnend in der Zwischenkriegszeit und rasant wachsend seit den 50er Jahren, zu Staatsquoten von zum Beispiel 45 Prozent in Großbritannien, 50 Prozent in Frankreich und Deutschland, 70 Prozent in Schweden, und schließlich 80 - 95 Prozent im früheren Ostblock. Die Epoche der Industrialisierung von um 1800 bis in die jüngste Vergangenheit war in den letzten hundert Jahren auch eine Epoche der Verstaatlichung von Wirtschaft und Gesellschaft. Verstaatlichung ist dabei nicht unbedingt im Sinne des formalen Eigentums zu verstehen, und nicht nur im Sinne der institutionellen Trägerschaft, umso mehr im Sinne der staatlichen Beschränkung und Usurpation von Verfiigungsgewalt, der staatlichen Regulierung und Durchdringung aller Lebensbereiche, nicht zuletzt im Sinne einer staatlichen Verteilungswirtschaft. Diese Epoche ist heute an ihr Ende gelangt. Die aus der Staatsbevormundung zu entlassende Bürgerschaft fUrchtet sich schon vor den Herausforderungen ihrer neuen Freiheit, und ihre Furcht wird von den Sozialkonservativen aller Parteien und Verbände nach Kräften geschürt. Der Zusammenbruch des Staatssozialismus östlichen Typs und die Krise des Sozialstaats westlichen Typs sind zwei Erscheinungsweisen desselben industriegesellschaftlichen Strukturwandels. Mit dem Industriesystem insgesamt müssen sich auch Arbeitsgesellschaft und Sozialstaat weitergehend modernisieren. Und hier kommt der neue Ansatz einer Grundeinkommens-Finanzierung durch Bezugsrechte und Übergang zu Vollgeld ins Spiel. Das Ziel liegt darin, ein Grundeinkommen zu gewährleisten, ohne sekundär umzuverteilen und die Staatsquote zu erhöhen, ja sogar durch Rückfiihrung der Staatsquote, der Staatsschulden und des allgemeinen Zinsniveaus. Das bezugsrechtfmanzierte Grundeinkommen schafft einen Sockel an gesicherter Existenz, ohne dass dies bei den Lohn- und Lohnzusatzkosten schwerwiegend wie heute zu Buche schlagen müsste, und ohne dass der Staat an seiner heutigen kontiskatarischen Steuer- und Abgabenpolitik festhalten müsste. Ein bezugsrechtfinanziertes Grundeinkommen entlastet Arbeitsmarkt, Staatshaushalt und Kapitalmarkt gleichermaßen. Es nimmt Kostendruck vom Arbeitsmarkt, indem Lohnsteuern und lohnproportionale Sozialabgaben in dem Maße wegfallen, wie sie heute nötig sind, um die betreffenden Nicht-Erwerbstätigen per Sekundärverteilung mitzufmanzieren. Dies wird möglich, weil das Grundeinkommen nicht mehr durch Steuern oder Staatsschulden bezahlt werden muss. Bei Finanzierung von Grundeinkommen durch Bezugsrechte wird neues Geld im Zuge der laufenden Geldschöpfung durch die Zentralbank unmittelbar dem Grundeinkommens-Zweck zugefilhrt. Die Einkommen von Unternehmen und Haushalten müssen entsprechend weniger besteuert werden. Die HabenPsychologie und die extrinsische Leistungsmotivation werden von daher nicht länger beeinträchtigt. Die Mittel fiir das Grundeinkommen werden nicht sekundär umverteilt, sondern primär zugeteilt durch Bezugsrechte der Zentralbank. 2*

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Diese werden zins- und tilgungsfrei ausgestellt. Sie dienen zweckgebunden ausschließlich der Finanzierung von Grundeinkommen. Sie sind nicht veräußerbar und nicht diskontierungsfähig. Es handelt sich faktisch um direkt an die Grundeinkommens-Bezieher ausgezahltes Zentralbankgeld in den Grenzen des Wirtschaftswachstums- und Geldmengenpotentials. Ein bezugsrechtfmanziertes Grundeinkommen muss eindeutig objektiviert sein. Die Bestimmung der Grundeinkommens-Zahlungen darf keine Ermessensspielräume offen lassen. Dies wird gewährleistet durch Verankerung des Grundeinkommens in der allgemeinen Einkommensentwicklung in Form des Äquivalenzeinkommens. Das Äquivalenzeinkommen ist das nach Haushalts- und Zivilstandskriterien gewichtete durchschnittliche Nettoeinkommen pro Kopf. In der Armutsforschung und Sozialpolitik besteht heute eine weitgehende Übereinstimmung, ein Einkommen in Höhe von 50 Prozent des allgemeinen Äquivalenzeinkommens als den Ecksatz der Sozialeinkommen anzusehen. In Deutschland beträgt das Äquivalenzeinkommen heute in etwa 2.000 Mark (1.015 Euro). Der Ecksatz des Grundeinkommens, der minimale Subsistenzstandard, liegt somit bei 1.000 Mark (508 Euro). Die Grenze des prekären Lebensstandards kann bei 1.500 Mark (761 Euro) verortet werden. Die Ermittlung der Bezugsrechte karm von den Finanz- und Sozialbehörden vorgenommen werden. Faktisch handelt es sich dabei um eine Zuarbeit fiir die Zentralbank. Die von ihr ausgestellten Bezugsrechte werden von den Behörden an die Empfanger im einzelnen zugeteilt. Der eigentliche Geldtransfer erfolgt über die Banken und ihre Refmanzierung durch die Zentralbank. Die Zentralbank, in diesem einen Punkt strikt regelgebunden, erfiillt die Verbindlichkeiten aus den Bezugsrechten, die sie selbst auf gesetzlicher Grundlage in bestimmter begrenzter Höhe ausstellt. Weder amtsinhabende Politiker noch Ministerien oder andere Behörden können in diesen Vorgang hineinregieren. Die ausgestellten Bezugsrechte stellen keinen Notenbankkredit an den Staat dar. Sie begründen keine Staatsschuld und keine Guthaben der Regierung. Im Hinblick auf die Grundeinkommensbezieher handelt es sich weiterhin um eine Schenkung. Im Hinblick auf den Geldkreislaufhandelt es sich um die öffentliche ZurverfUgungstellung der Zahlungsmittel, die selbst kein Kapital und niemandes Eigentum, sondern ein funktionales Gemeingut in der treuhänderischen Verwaltung der Zentralbank sind, und mit deren effizienter Transaktions- und Transferhilfe einkommens- und eigentumsbildende Umsätze in der Wirtschaft erfolgen. Wie immer man Geld definiert und Geldmengen voneinander abgrenzt, es verhält sich heute so, dass auf der einen Seite das relative Gewicht der Geldschöpfung durch die Zentralbank abnimmt, weil auf der anderen Seite die von den Geschäftsbanken geschaffenen Sichtguthaben zunehmen, und weil deren Umlaufgeschwindigkeit sich beschleunigt aufgrund informationstechnischer Neuerungen (bargeldloser elektronischer Zahlungsverkehr). Um über Zahlungsmittel zu verfUgen und den Zahlungsverkehr abzuwickeln, braucht der Bankensektor relativ immer weniger Zentralbankgeld. Während die Rolle der Zen-

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tratbanken im öffentlichen Diskurs zunehmend mystifiziert wird, verkürzt sich in Wirklichkeit der Steuerungshebel der Zentralbanken und damit ihre geldpolitische Kontrollmacht Auch wenn dies ohne Absicht geschieht, hat es doch System und Methode. In geldpolitischer und staatsrechtlicher Hinsicht wäre es eine geradlinige Fortentwicklung, und fiir die Finanzierung eines Grundeinkommens in einer sozialen Leistungsgesellschaft wäre es ein Gewinn, den Spielraum der Geldschöpfung durch die Zentralbank auszudehnen, und dafiir die Geldguthabenschaffungdurch die Banken außer Kraft zu setzen ohne deshalb das Kredit- und Geschäftsvolumen der Banken zu schmälern. Die im Prinzip einfache Reform, die dieses ermöglicht, ist der in der vorliegenden Arbeit konzipierte Übergang vom Geldreserveprinzip zu Vollgeld. Das heutige Geldreservesystem ist eine historisch sehr alte, aber deshalb nicht unbedingt ehrwürdige Hervorbringung der Metallgeldzeit Unter den Bedingungen von Silber- und Goldwährungen standen Banknoten und Buchgeld nicht fiir sich selbst, sondern sie waren Nennwerte, die den realen Gegenwert in Gold und Silber nur symbolisierten. Sie mussten gedeckt sein durch Edelmetallbestände im Besitz der die Zahlungsmittel in Umlauf setzenden Banken und Notenbanken. Zur Absicherung durften die Zahlungsmittel ein bestimmtes Mehrfaches der Edelmetallbestände nicht übersteigen. Der 10- bis 100-prozentige Edelmetallkern der Währungen wurde so zur Geldreserve. Gold und Silber waren zuerst Reserve filr unterwertige Scheidemünzen und Banknoten, dann vermehrt auch filr Buchgeld auf Zentralbankkonten, und darüber faktisch auch Reserve filr Girokonten bei Banken. In diesem Gefilge ist somit Bargeld Reserve fiir Buchgeld, und Zentralbank-Buchgeld Reserve filr Banken-Buchgeld. Die Buchgeldreserven der Banken werden auf Konten der Zentralbank gefilhrt und verlassen die Zentralbank sozusagen überhaupt nie. Die Sichtguthaben auf den Girokonten des Publikums sind deshalb nicht eigentlich Geld, jedenfalls nicht Zentralbankgeld. Mit den Giroguthaben wird inzwischen zwar wie mit Geld bezahlt, geradeso wie vor etwa 150 und mehr Jahren schon mit Banknoten bezahlt wurde noch ehe diese als gesetzliche Zahlungsmittel zu Geld geworden waren. In sinngemäßer Weise sind die Giroguthaben heute noch kein Geld, sondern sie repräsentieren Geld, das sich als Bargeld in der Kasse oder auf Geldkonten bei der Zentralbank, der Reservebehörde, befindet. Und sie repräsentieren dieses Zentralbankgeld nicht zu hundert Prozent, sondern nurmehr zu etwa 7 - 10 Prozent. In der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis in die 70er Jahre wurde die Goldbindung des Geldes aufgehoben von allen wichtigen Handelsnationen, deren Währungen als Leitwährungen und hauptsächliche Devisenreserven dienen. Eine naturalgeldliche Deckung von umlaufenden Zahlungsmitteln besteht nicht mehr. Es gibt nur noch die Deckung von Kontoguthaben durch Zentralbankgeld. Das selbst nicht mehr gedeckte, frei aus dem Nichts geschöpfte Zentralbankgeld steht fiir sich selbst. Zentralbankgeld ist per se vollwertiges Geld, in welcher

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Fonn auch immer es umläuft. Vollgeld ist keine willkürliche Erfmdung. Vollgeld existiert längst in Fonn von Münzen und Banknoten. Nur werden diese weiterhin als "Reserve" für Buchgeld angesehen. Vollgeld bedeutet insoweit lediglich, dass man die gegenstandslos gewordene Fiktion der Deckung des Geldes durch Reserven auch fonnal fallen lässt, und dass außer Münzen und Banknoten auch laufend verlUgbare Sichtguthaben auf Girokonten zu vollwertigem Geld werden. Vollgeld ist Zentralbankgeld, auch und gerade als Buchgeld, und es steht für sich selbst. Es braucht dafür nirgendwo noch eine andere Geldreserve zu geben. Die tatsächliche Deckung des Vollgeldes und der mit seiner Zirkulation dargestellten Einkommen, wie in Wahrheit schon die Deckung der Reservegeld-Einkommen, liegt im realen Wirtschaftsprodukt sowie in der damit verbundenen Reproduktion von Sach- und Geldvennögen. Vollgeldguthaben repräsentieren nicht Geld, sie sind Geld. Durch Übergang zu Vollgeld werden Girokonten zu Geldkonten, und alle Guthaben auf Geldkonten werden ein disjunkter Teil der umlaufenden Geldmenge. Damit wird die Zentralbank zur alleinigen Geldquelle. Das Münzregal - das öffentliche Alleinrecht, Münzen in Umlauf zu bringen - wird von der Regierung an die Zentralbank übertragen. Zusammen mit dem bisher schon bestehenden Monopol der Banknotenausgabe und dem neuen Monopol der Buchgeldbereitstellung besitzt die Zentralbank fortan ein allgemeines GeldregaL Sie emittiert und absorbiert das Geld nach Bedarf in Fonn von Münzen, Banknoten, Buchgeld, Chipgeld o.a. Die Zentralbank ist in ihrer Geldpolitik (Geldemission, Geldmengenregulierung) so unabhängig wie die Justiz in der Rechtsprechung. Infolge der außer Kraft gesetzten Geldschöpfung der Banken erhöht sich die Zentralbankgeldmenge, genauer gesagt, Geldmenge und Zentralbankgeldmenge werden miteinander identisch. Der Spielraum der Geldemission durch die Zentralbank weitet sich aus mindestens bis zur Größenordnung der heutigen Geldmenge MI. Der Spielraum kann darüber hinaus in Richtung der Größenordnungen von M2/M3 erweitert werden, wenn die Zentralbank an Stelle der bisherigen Mindestreservepolitik ein neues geldpolitisches Instrument an die Hand bekommt: Es sollte Aufgabe der Zentralbank sein, Mindestfristen festzusetzen filr kurzfristige Geldüberlassungen im Publikums- und InterbankenhandeL Die heutige Mindestfrist filr Publikumseinlagen beträgt faktisch vier Wochen. Wird die Frist erhöht, steigt der Geldbasisbedarf. Mit einer solchen Fristenpolitik würde die Zentralbank über ein äußerst wirksames neues Instrument der Geldmengensteuerung verfUgen, als vollwertigem Ersatz filr den Verlust der bisherigen Mindestreservepolitik. Die Erweiterung der Zentralbankgeldmenge und die dadurch ennöglichte Finanzierung eines Grundeinkommens durch Bezugsrechte wirkt nicht inflationär, sondern geldwertneutraL Denn lediglich tritt an die Stelle der bisher von Banken geschaffenen Sichtguthaben das echte Buchgeld der Zentralbank. Die gesamte Geldmenge bleibt insoweit gleich. Auch bei einer gewissen Ausdehnung der Geldmenge durch Fristenpolitik erwächst daraus keine Zunahme der

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inflationswirksamen effektiv kaufkräftig werdenden Geldverwendung durch das Publikum. Denn die Aufhebung des Geldreserveprinzips bedeutet, dass zum Beispiel eine tages- oder wochenweise Überlassung von Kontoguthaben nicht mehr stattfmdet. Es vermindert sich die geldwirtschaftliche Umlaufgeschwindigkeit im sehr kurzfristigen Bereich, während die mittel- und langfristige geldwirtschaftliche Zirkulation und die gesamte realwirtschaftliche Häufigkeit des Geldumlaufes unverändert fortbestehen. Indem die sehr kurzfristige geldwirtschaftliche Umlaufgeschwindigkeit sich verlangsamt, kann die Zentralbankgeldmenge ausgeweitet werden, ohne dass sich an der Realwirtschaft irgendetwas ändert, und ohne dass Promptheit und Bequemlichkeit des Zahlungsverkehrs in irgendeiner Weise beeinträchtigt werden. Alle diese Dinge werden im "Vollgeld"-Teil des Buches detailliert dargelegt. Obwohl also eine größere Menge an Zentralbankgeld in Umlauf gebracht werden mag, entsteht aufgrund der nicht mehr stattfmdenden Geldschöpfung der Banken und der verringerten kurzfristigen monetären (nicht realwirtschaftlichen) Umlaufgeschwindigkeit des Vollgeldes im Ergebnis keine größere Menge an nachfragewirksam werdendem Geld. Es wird, vereinfacht gesagt, ein Teil der effektiven Zahlungsmittel lediglich auf anderem Weg als heute in Umlauf gebracht. Diese Teilbeträge fiigen sich in die Korridore einer an Preisstabilität orientierten Geldpolitik Eine Freigabe der Notenpresse findet nicht statt. Außerdem kommt es wegen der betreffenden Unterhaltszahlungen nicht mehr zu öffentlichem Deficit spending und Staatsverschuldung. Einige dieser Aspekte werden speziell im Abschnitt "Geldwertneutralität..." behandelt. Wenn man sich dem Konzept der Bezugsrechte erstmalig nähert, mögen sich einem Inflationsfragen aufdrängen. Aber diese erweisen sich als unbegründet, denn im Prinzip ändert sich nicht die Geldmenge, sondern die Quelle der Geldmenge. Im Zuge der Literaturrecherchen während der Arbeit an diesem Buch habe ich entdeckt, dass das hier entwickelte Vollgeldkonzept in wesentlichen Punkten bereits 1975 ausgearbeitet worden war, und zwar in einer Schrift mit dem Titel "Kritische Betrachtungen zur nationalen und internationalen Geldordnung" von Rolf Gocht, damals Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank, sowie ansatzweise auch schon in einer Schrift von Jürgen Pahlke (1970). Zwischen der von Gocht dargelegten neuen Geldordnung, der er keinen Namen gegeben hat, und dem Konzept des Vollgeldes besteht eine weitgehende Übereinstimmung. Unterschiede zeigen sich bezüglich der Frage der Geldkontenverwaltung und der Frage der Emissionsweise des Vollgeldes - ob fiir beliebige Regierungszwecke oder, wie hier vorgesehen, fiir den Nichtregierungszweck der Finanzierung eines Grundeinkommens. Außerdem geht das Vollgeldkonzept einen Schritt weiter in Form der zuvor angefiihrten zirkulationstheoretisch begründeten Fristenpolitik Ansonsten scheint das Vollgeldkonzept in gewisser Weise dem 100-ProzentReserve-Banking zu ähneln, das Anfang der 30er Jahre u.a. von Irving Fisher, Henry Simons, später auch von Milton Friedman vertreten wurde, damals, unter

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dem Eindruck der Banken- und Existenzen-Zusammenbrüche der Weltwirtschaftskrise, um die Sicherheit von Geldeinlagen zu garantieren. Vollgeld bedeutet im Hinblick auf die Sicherheit praktisch das Gleiche wie eine 100-Prozent-Barreserve. Das Vollgeldkonzept unterscheidet sich vom l 00-Prozent-Plan aber auch in einer Reihe von wesentlichen Punkten, darunter grundlegende geldtheoretische Auffassungen und geldpolitische Absichten, die Rolle der Zentralhanken und die Aufhebung des Reserveprinzips überhaupt. In einer Zeit, in der die Geldschöpfung sich endgültig emanzipiert hat von der naturalgeldlichen Bindung an Gold, Silber und andere Sachwerte, hat sich auch das Reserveprinzip endgültig überlebt. Eine Zentralbank benötigt nicht Reserven an Sachwerten, sondern Sachverstand sowie gewaltenteilig eine starke Unabhängigkeitsposition, um das geldpolitisch Notwendige dauerhaft durchzuhalten, sowohl gegenüber Regierungen und Parteien als auch gegenüber Banken- und Industrieinteressen als auch gegenüber Druck von der Straße und den Medien. Das bestehende Geld- und Kreditwesen auf der Grundlage des Reserveprinzips hat seit seinen letzten Erschütterungen zu Beginn der 30er Jahre zunächst einigermaßen funktioniert. Gefiihrlichere Finanzkrisen vor allem in Lateinamerika konnten durch internationale Kooperation immer wieder eingedämmt werden. Aber die Finanzkrisen sind seit den 80er Jahren wieder häufiger geworden. Spätestens die anhaltenden schweren Währungs- und Bankenkrisen in Japan, den neuindustriellen Ländern Asiens und in Russland 1997/98 haben gezeigt, dass die dem Reservesystem inhärente Instabilität weiterhin besteht. Die Krisenanfälligkeit des Geldreservesystems resultiert im wesentlichen daraus, dass die Geschäftsbanken - je weniger sie durch bestimmte Regularien behindert werden, desto mehr - relativ unabhängig von ihren Zentralbanken im Zuge der Wachstums- und Gewinnerwartungen ihrer Kunden deren Sichtguthaben per Kredit ausdehnen. Die Bankleute haben dabei kein subjektives Erleben der Geldschöpfung. Diese vollzieht sich in großen Universalbanken und im gesamten Bankensektor dadurch, dass die im System ausgezahlten Beträge an Reserven und Sichtguthaben zugleich die im System eingezahlten Beträge an Reserven und Sichtguthaben sind, was eine "Deckung" der Kredite durch Sichtguthaben erscheinen lässt, die durch Kredite entstanden sind. Im Maße die Guthabenschaffung per Kredit unrealistisch überschießt, steuern die Banken ihre Kreditkunden und sich selbst in eine Überschuldungsfalle. Diese schnappt zu, sobald die Gewinnerwartungen nach unten korrigiert werden müssen, Insolvenzen eintreten, Zins- und Tilgungszahlungen ausbleiben usw. In Anbetracht der wiederkehrenden Finanzkrisen ist es keineswegs unzeitgemäß, sondern höchste Zeit, sich erneut Gedanken zu machen über die Sicherheit von Geldeinlagen, die Kontrollierbarkeit der Geldmengen und die langfristige Demokratieverträglichkeit der Bankengeldschöpfung. In Fragen der Geldordnung und Geldpolitik, der Sozialordnung und der Einkommensverteilung, besteht traditionell ein weites Spektrum von Vorstellungen. Es reicht von realpolitischen Reformkonzepten bis zu wilden Utopien und

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wüsten Ideologien. Bei dem hier vorgeschlagenen Grundeinkommen werden die Bezugsrechte, mit denen es fmanziert wird, ohne Zins und Tilgung in Umlauf gegeben. Deshalb sei ausdrücklich hervorgehoben, dass dies dennoch nichts zu tun hat mit utopischen oder ideologischen Lehren, die eine Abschaffung von Zins, Gewinn, Wachstum, Industriegesellschaft, Lohnarbeit, Kapitalismus etc. predigen. Es besteht auch keine Übereinstimmung mit der gekünstelten Konstruktion des Schwundgeldes nach Silvio Gesell. Was an Gesell stimmig war, hat sich auf mancherlei Weise längst verwirklicht. Der Rest bleibt unstimmig und irrefilhrend. Im Anhang findet sich eine "Kritik des Schwundgeldes". Beim bezugsrechtfmanzierten Grundeinkommen durch Vollgeld handelt es sich um ein Programm, das sich innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bewegt und das es ebenso erlaubt, diese Bedingungen in allen wesentlichen Punkten beizubehalten wie auch sie fortzuentwickeln. Das Konzept des bezugsrechtfinanzierten Grundeinkommens durch Vollgeld soll einen Beitrag dazu leisten, die Kapazitäten der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft in Anwendung ihrer eigenen Mittel weiter zu entfalten. Insofern dabei praktisch alle konstituierenden Prinzipien der modernen Wirtschaft gewahrt bleiben, handelt es sich eher um eine Entfaltungsinnovation als um eine Basisinnovation. Grundeinkommen, Bezugsrechte, Vollgeld und Retribution sind vier Komponenten, die im Prinzip auch getrennt voneinander realisiert werden können. Zum Beispiel ist ein Grundeinkommen ohne Bezugsrechte und Vollgeld denkbar, dann aber nicht mit Retribution, weil das Grundeinkommen durch Steuern bezahlt werden müsste und kaum noch jemand willig ist, hohe Steuern in Kauf zu nehmen. Ebenso denkbar ist die Finanzierung bestimmter Aufgaben von öffentlichem Interesse durch Zentralbankgeld im Rahmen der laufenden Emission. In Deutschland allerdings weckt dies schlechte Erinnerungen und Inflationsverdacht bezüglich der Manipulation der Notenpresse durch Regierungen. Derartige Ansinnen werden deshalb zu Recht zurückgewiesen. Ebenso denkbar ist ein Übergang zu Vollgeld ohne gleichzeitige Senkung der Staatsquote, und ohne Realisierung von Grundeinkommen und Bezugsrechten. Der Übergang zu Vollgeld ist ein stabilitätspolitisches und staatsrechtliches Erfordernis an und fiir sich. Zu guter Ietzt findet auch eine Wiederabsenkung der Staatsquote heute zunehmend Befiirwortung, allein, es fehlen geeignete Maßnahmen, um eine Entstaatlichung von ökonomischen Trägerschafren und Finanzierungen erfolgreich in Gang zu setzen. Erst durch die spezifische Verknüpfung der Komponenten entsteht ein Handlungsfeld von synergetischen Problemlösungen. Dieses Feld ist zwar komplex, aber kohärent genug, um in der Breite Sinn zu stiften und Akzeptanz und Koalitionen zu begründen. Der Sache nach haben sich die meisten Interessengruppen in Wirtschaft und Gesellschaft von der Perspektive einer Retribution mittels eines bezugsrechtfinanzierten Grundeinkommens durch Vollgeld etwas Positives zu versprechen. Von der Geldschöpfungsrestriktion direkt berührt, obschon in keiner Weise in

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ihren Geschäften beeinträchtigt, sind alleine die Banken, aber sie sind deshalb nicht Verlierer einer Vollgeldreform. Benötigte Mittel fließen ihnen weiterhin zu, nur teilweise auf anderem Weg. Es wird das Bankengeschäft stärken, wenn vermehrt Anlagen seitens des breiten Publikums erfolgen. Durch eine verbesserte Eigenkapitalgrundlage der Unternehmen und Haushalte wird deren Kreditaufnahme nicht etwa verringert, sondern begünstigt und ausgeweitet. Dies gilt auch filr die zu erwartende allgemeine Absenkung des Zinsniveaus, welche die Kreditaufnahme begünstigt. Die Zinsmarge, der Erlös der Banken aus der Differenz zwischen Soll- und Habenzins, wird von der Höhe des Zinsniveaus nicht tangiert. Was dem Bankensektor durch den Entzug der Geldschöpfungsfähigkeit allerdings verloren geht, sind gewisse Margenextragewinne. Diese entstehen heute daraus, dass neu geschaffene Sichtguthaben zum marktüblichen Sollzins kreditiert werden, aber niemandem ein Habenzins dafilr gezahlt zu werden braucht. Von nichts kommt nichts. In irgendeiner Weise ist filr die Bezugsrechte aufzukommen. Dies geschieht hier dadurch, dass nicht jemandem etwas weggenommen wird, sondern jemandem etwas Potentielles vorenthalten bleibt, indem sowohl die Zentralbank als auch die Geldbesitzer in ihrer gesellschaftlichen Breite auf einem erheblich erhöhten Niveau der Vermögensbildung und bei verringertem Zinsniveau weniger Zinsertrag realisieren als sie sonst realisieren würden - wenn sie solche Vermögen hätten bilden können, was aber ohne Retribution nicht der Fall sein kann. Durch die Retribution, die Umverlagerung der Finanzen von öffentlichen Haushalten zu Unternehmen und Privathaushalten, werden die Staats- und Abgabenquote und das Zinsniveau zugleich abgesenkt. Ein bezugsrechtfmanziertes Grundeinkommen verhindert Ungleichverteilung nicht, aber es nimmt deren extremeren Formen von vornherein die Spitze. Es dämpft die Zentrifugaldynamik der Einkommen und Vermögen, ohne deshalb die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik zu dämpfen. Es wirkt mäßigend, ohne zu beanspruchen, das rechte Maß an sozialer Ungleichheit zu wissen oder womöglich herstellen zu können, und ohne das glückliche oder unglückliche Schicksal aufhalten zu wollen. Ein bezugsrechtfmanziertes Grundeinkommen verteilt nicht um, beugt aber durch die Bezugsrecht-Vorverteilung extremen Formen der Ungleichverteilung vor. An die Stelle der fiskalischen Redistribution tritt sozusagen eine monetäre Prädistribution. In einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft kann auf Dauer nur eine begrenzte Zahl von Menschen im sozialen Netz mitgetragen werden, und ebenso kann nur eine begrenzte Zahl von Menschen ihren Lebensunterhalt ausschließlich oder erheblich aus Kapitalrenditen bestreiten. Sowohl die fiskalische als auch die monetäre Redistribution des Wirtschaftsproduktes darf gewisse optimale Funktionsgrenzen nicht überschreiten. Die Notenbanken Europas stehen aktuell im Begriff, ihre nationale Souveränität abzugeben an die in Gründung befmdliche Europäische Zentralbank. Die hier vorgebrachten Konzepte sind damit vereinbar. Bezugsrechte und Vollgeld

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sind an keinen bestimmten nationalen Rahmen und an keine bestimmte Währung gebunden. Sie sind in Dollar, Rubel, Rupie, Yen und Yuan ebenso darstellbar wie in Euro. Das vorliegende Konzept kollidiert wissenschaftlich und politisch nicht mit der Einfiihrung des Euro. Vollgeld kann eine nationale Perspektive sein, und eine transnationale in gleicher Weise. Fortgeschrittene Länder mit ausgeprägter endogener Wirtschaftskraft - zum Beispiel die USA, Japan oder Australien - können die Umstellung von Girokonten auf Geldkonten im Alleingang vollziehen, ohne deshalb Nachteile befiirchten zu müssen (wie zum Beispiel sonst auftretende Wettbewerbsnachteile infolge von Steuererhöhungen oder von gesetzlichen Maßnahmen, die Kosten auslösen). Entscheidend ist dies: Weder die Währung noch die nachfragewirksame Geldmenge ändern sich durch die Umstellung auf Vollgeld und die Teilemission des Vollgeldes durch Bezugsrechte. Die Finanzmärkte werden in wesentlichen Punkten praktisch nicht tangiert. Darüber hinaus werden der Realwirtschaft wegen der eintretenden Retribution eine Reihe von Vorteilen zufallen. Diese Vorteile entstehen nicht zuletzt durch die überwiegende Emission des Vollgeldes per Bezugsrechten. Voraussichtlich wird nicht alles zu emittierende Geld in Form von Bezugsrechten in Umlauf kommen, sondern nur der größere Teil davon, während der verbleibende kleinere Teil, der absolut größer sein wird als die heutige Gesamtemission der Zentralbank, weiterhin durch die bewährten Kreditverfahren in Umlauf gebracht wird. Aufgrund der binnenwirtschaftlichen Vorteile des Vollgeldes und der Bezugsrechte wird der Außenwert einer auf Vollgeld umgestellten Währung stabil sein bis aufgewertet werden. Aus diesem Grunde wird trotz sinkenden Zinsniveaus keine Kapitalflucht einsetzen. Stabile, tendenziell aufwertende Währungen werden nachgefragt. Eine Flucht aus solchen Währungen gibt es selbst im Fall ausgeprägter Niedrigzinsen nicht. Der Prototyp hierfiir ist in den zurückliegenden Jahrzehnten der Schweizer Franken gewesen. Hochzinsen dagegen signalisieren zerrüttete Staatsfmanzen. Aufgrund der binnen- und außenwirtschaftlieh vorteilhaften Sachlage sollte der Europäischen Zentralbank zu gegebener Zeit Vollgeld so willkommen sein wie jeder anderen Zentralbank, die fiir eine respektierte konvertible Währung verantwortlich ist. Jedoch besteht auf europäischer Ebene ein gewisses Problem darin, dass eine Finanzierung verschiedenster nationaler Grundsicherungszahlungen durch Euro-Bezugsrechte kaum akzeptabel wäre. Infolge der nationalspezifischen Geschichte der sozialen Frage besitzt die Sozialpolitik ausgeprägte nationale Besonderheiten. Zwar kommen die Inhalte und die faktischen Leistungen der Sozialpolitik in den Ländern Europas einander ziemlich nahe, aber rechtlich und institutionell sind sie verschieden. Während immer mehr Politikfelder faktisch einer internationalen Rückbindung unterliegen, herrscht in der Beschäftigungsund Sozialpolitik, wie übrigens auch in der Bildungspolitik, fortgesetzte Kleinstaaterei. Es ist kaum vorstellbar, und es wäre auch gegen den Sinn der Erfindung, die buntscheckige Sozialheraldik Europas durch Bezugsrechte der Euro-

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päischen Zentralbank zu bedienen. Es stellt sich von daher die Frage der Aufhebung von betreffenden nationalen Sozialleistungen in einem EU-einheitlichen Grundeinkommens-Schema. Die Perspektive eines EU-einheitlichen Grundeinkommens besitzt von vomherein erheblich bessere Aussichten als der vermutlich aussichtslose Versuch, den Flickenteppich nationaler Existenzsicherungsleistungen "harmonisieren" zu wollen. Die Verwirklichung eines Grundeinkommens in Europa setzt nicht voraus, dass die Teilnehmerstaaten der Europäischen Währungsunion ihre Sozialleistungen harmonisieren. Die im übernächsten Kapitel diskutierten Sozialleistungen und Zahlenbeispiele beziehen sich auf Deutschland, sind aber auf andere Industrieländer in sinngemäßer Weise anwendbar, denn überall gibt es die gleichen Problemlagen und ähnlich geartete Transfersysteme. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es nicht um eine Aufhebung von beitragsfmanzierten Versicherungsleistungen geht. Diese, allerdings in reduziertem Umfang, sollen weiterbestehen. Es geht vielmehr um bestimmte Unterhaltszahlungen an einkommensdefizitäre Haushalte in den Grenzen von Armut und prekärem Lebensstandard. Des weiteren steht nichts dem Vorhaben entgegen, europaweit Bezugsrechte zu emittieren bei nationaler Differenzierung der Bezüge entsprechend den nationalen Äquivalenzeinkommen. Es wird ja auch innerhalb einer Nation anerkannt und routinemäßig praktiziert, Einkommenstarife nach regionalem Lebenskostenniveau zu differenzieren. Das ist eine Frage der Leistungs- und Besitzstandsgerechtigkeit Schließlich, und dies wäre der wesentliche Vorgang, kann aufgrund einer EU-Richtlinie ein Grundeinkommens-Schema parallel zu den nationalen Systemen eingefiihrt werden. Die parallele Einfilhrung des Grundeinkommens kann den EU-Mitgliedstaaten sogar freigestellt bleiben. Es genügt, dass eine einzige europäische Regierung in Erwartung eines nationalen Vorteiles das neue System alternativ bei sich einfUhrt. In dem betreffenden Land würden beide Systeme parallel angeboten und Antragsteller hätten die Wahl, sich ftir einen von beiden Wegen zu entscheiden: Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Ausbildungsförderung entweder nach nationalem Einzelschema oder nach EU-Grundeinkommens-Schema, wobei zu letzterem auch die Aufbesserung von Niedrigrenten oder Niedrigverdiensten durch Grundeinkommen gehört. Das Gros der Leute würde sich ftir die Grundeinkommens-Altemative entscheiden, weil es ihnen gewisse Vereinfachungen oder Besserstellungen bringt, und es voraussichtlich filr weniger Personen etwas Gegenteiliges bedeutet. Die bisherigen nationalen steuerfinanzierten Transfersysteme würden entsprechend weniger in Anspruch genommen. Sie würden nach einer gewissen Übergangszeit voraussichtlich ganz aufgehoben, ebenso wie gesetzliche Mindestlöhne. Denn zum einen besitzen 50 Prozent Äquivalenzeinkommen als Eckwert der grundabsiehemden Bedürfnisgerechtigkeit europaweit Akzeptanz. Zum anderen wird keine Nation hinnehmen, selbst weniger Bezugsrechte zu erhalten bzw. anderen mehr als sich selbst zukommen zu lassen. Wenn Bezugsrechte in Aussicht stehen, wird man sich auf das

I. Einleitung und Überblick

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Gleichbehandlungsgebot besinnen, und es wird einigermaßen plötzlich zur nationalen Aufhebung oder Abänderung von Gesetzen kommen, die man eben noch fiir unumstößlich erklärt hat. Ein bezugsrechtfinanziertes Grundeinkommens-Schema ist im Vergleich zu den herkömmlichen nationalen steuerfmanzierten Einzelzuwendungen das überlegenere System. Gibt man ihm eine Chance, wird es sich schnell durchsetzen und die alten Systeme erübrigen. Sie brauchen nicht langwierig harmonisiert zu werden, was wohl ein hoffnungsloser Fall bleiben müsste, sondern sie werden im parallelen Verfahrenswettbewerb aufgehoben zugunsten von etwas Effektiverem und Effizienterem. Damit soll nicht behauptet werden, die nationale oder europaweite Einfiihrung eines bezugsrechtfmanzierten Grundeinkommens werde die Politik nicht vor vielschichtige Umsetzungsprobleme stellen. Hier wird nur gesagt, dass es geht. Wie schwierig es sein wird, ist eine andere Frage. Der Mut, so etwas in Angriff zu nehmen, erwächst aus der Ratlosigkeit gegenüber den aufgetürmten noch größeren Schwierigkeiten des industrietraditionalen Sozialstaates und Arbeitsmarktes. Man wird wissen wollen, inwiefern der hier vertretene Standpunkt "links" oder "rechts" ist, also inwiefern die hier dargelegten Analysen und Konzepte dem entsprechen, was seit den politischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts unter liberal, konservativ und sozialistisch verstanden worden ist. Obwohl sich dies aufkeinen einfachen Nenner mehr bringen lässt, wäre es irreruhrend so zu tun, als gäbe es derartige gegensätzliche Orientierungen nicht mehr, zumal neue Wertesynthesen mit neuen Gegensätzen einhergehen werden. Wer im industrietraditionalen Denken befangen ist, könnte behaupten, hier werde ein neubürgerlicher Liberalismus gepredigt, wie andere, die ebenfalls in dieser Weise befangen sind, einem geradeso gut nachsagen könnten, hier sei ein neuer Sozialismus oder Solidarismus im Busch, oder hier werde Konservatismus gepredigt, indem ein schlanker starker Staat mit ausgeprägter Führungs- und Gewährleistungskompetenz als unbedingt notwendig erachtet wird, und indem ein behutsamer Umgang mit gewachsenen Ordnungen und Strukturen sich verbindet mit einem Fundament ethischer Vorgaben, sodass eine Lehre angeboten wird, in der Moral und Wissen nicht minder wichtig sind als Gesetze und Geld. Im Übergang von der einfachen zur weitergehenden Modernisierung, in einem historischen Umfeld, das durch einen ebenso freiheitlichen wie aber auch korporatistischen Pluralismus gekennzeichnet ist, worin weniger Individuen und personale Gemeinschaften als vielmehr große institutionelle Akteure, also Bürokratien, die Arena bestimmen, in einem solchen Umfeld erscheinen die industrietraditionalen Entzweiungen der Ökonomik zwischen kapitalistischen und sozialistischen, klassischen und keynesianischen, monetaristischen und fiskalistischen Ansätzen als abgeschliffen. Lehren des staatsminimierenden Liberalismus ebenso wie des interventionistischen Sozialetatismus haben das ihre zum Fortschritt und, im Zuge dieses Fortschritts, zum Eintritt in die globale Transformationskrise der Industriegesellschaft beigetragen. Sie haben sich damit bis-

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I. Einleitung und Überblick

torisch auch weitgehend erschöpft. In ihren herkömmlichen Spielarten sind sie nurmehr wirtschafts- und sozialkonservative Bilder einer zu Ende gegangenen Epoche. Aber Grundwerte wie Freiheit, Solidarität, Rechtsgleichheit und Gerechtigkeit werden weiter gelten - wobei sich ihre spezifischere Bedeutung mit dem Lauf der Zeit wandelt. Derzeit scheinen horizonteröffnende Reformen und historische Erzählungen "out" zu sein, wie man zeitgeistopportun sagt. Stattdessen ist selbstgerechter Politikverdruss in Mode. An Regierung und gestaltete Entwicklung glaubt gegenwärtig kaum jemand. Fast alles trägt den Anschein der Nicht-Regierbarkeit und Reformunfiihigkeit. Aber der aufgesetzte Politikverdruss ist auch eine Folge der fehlgehenden etatistischen Vereinseitigung der Demokratie. Das hier vorgebrachte Konzept impliziert eine zivilgesellschaftliche Wendung des politischen Geschehens. Bürgerschaftliehe und unternehmerische Initiative werden mobilisiert, industrietraditional getrennte Kräfte - Arbeit und Kapital, Bildungs- und Geldbürgertum, kritische und technische Intelligenz - können einander wieder näher kommen. Dies kann politische Schubkraft entfalten. Tief gehende Strukturkrisen verlangen weit reichenden StrukturwandeL

II. Die Ausgangslage: Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats Die folgenden Ausfiihrungen befassen sich mit Problemen der Arbeitsgesellschaft, des Sozialstaats und der Staatsfmanzen. Sie stellen Sach- und Sinnzusammenhänge her, in deren Kontext die hernach dargelegten Reformkomponenten Grundeinkornmen, Bezugsrechte und Vollgeld sowie das Reformziel der Retribution zu folgerichtigen Antworten auf bestimmte Entwicklungsprobleme der fortgeschrittenen Industrieländer werden.

1. Ende der industrietraditionalen Epoche Reformbereitschaft hat etwas zu tun mit Vorstellungen über Kontinuität und Wandel. Bei den heutigen Problemen im Bereich von Wirtschaft, Arbeit und Staatsfmanzen handelt es sich nach inzwischen vorherrschender Auffassung nicht einfach um singuläre Sonderprobleme oder um vorübergehende Konjunkturprobleme, sondern um grundlegende Strukturprobleme. Tatsächlich bestehen heute die Herausforderungen eines wenigstens dreifachen Strukturwandels: - die Herausforderung einer Modernisierung der industriellen Beziehungen und einer ökologischen Modernisierung im Zuge des Ausklingens der rund 200jährigen Epoche der herkömmlichen Industrialisierung und ihrem Übergang in die hoch technisierte Wissens- und Dienstegesellschaft; - die Herausforderung einer Retribution von Staatsaufgaben und öffentlichen Finanzen im Zuge des Zuendegehens der rund 1OOjährigen Epoche des Sozialetatismus und der staatszentrierten Demokratie, und dem nun anstehenden Übergang in eine Epoche vermehrt zivilgesellschaftlich geprägter Demokratie mit einer Neuverteilung der Rollen zwischen Staat, Wirtschaft und Bürgerschaft; - der Herausforderung der Globalisierung. Sie markiert, nach einer mehr als 400 Jahre währenden ökonomischen Internationalisierung, das Ende unabhängiger Nationalökonomien und die Schwelle des Übergangs zu einem globalen Weltmarkt. Die Außenwirtschaft hat aufgehört, ein Appendix der nationalen Binnenwirtschaft zu sein. Die Nationalökonomien sind ein integriert-abhängiger Teil des Weltsystems geworden. Die Bewusstwerdung der Weltsystembildung flillt aktuell zusammen mit dem Ende der rund 50jährigen Ära von national standardisierter Massenwohlfahrt, Massenproduktion und Massenkonsumerismus, die vom Wirtschaftswunder der

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II. Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

Nachkriegszeit bis in die 80er/90er Jahre reichte, und dem sich offenbar bereits vollziehenden Übergang in die nächste lange Welle der Wirtschaftsentwicklung von etwa 40 - 60 Jahren Dauer. Für diese sind insbesondere neue Informationsund Kommunikationstechnologien bahnbrechend gewesen. Derartige Übergangskrisen stehen in Zusammenhang mit dem Lebenszyklus von Technologien, beruflichen Qualifikationen, Produkten und Märkten in bestimmten Segmenten der Wirtschaft. Dem Niedergang der einen stehen die Neubildung und das Wachstum von anderen gegenüber, in der Regel verbunden mit (welt)regionalen Schwerpunktverlagerungen und Neuarrangements von (inter)nationalen Institutionen. Man glaubt, der Westen habe den Kalten Krieg gegen den Osten gewonnen. Diese Auffassung ist nicht falsch, aber zu kurz gegriffen. In Wirklichkeit befindet sich die Industriegesellschaft in einer Krise samt den industriellen Erwerbsverhältnissen, dem zuletzt vorherrschenden Sozialetatismus und der staatszentrierten Demokratie. Der Zusammenbruch des Ostblocks war nur ein krasser Ausdruck filr Probleme, die der Westen in weniger krasser, im Prinzip jedoch ähnlicher Weise ebenso hat. West und Ost - die industrialisierte Erste und Zweite Welt, im Unterschied zur noch nicht industrialisierten Dritten Welt, wie es in dem heute überholten Sprachgebrauch hieß - waren beide herkömmliche Industriegesellschaften. Als solche wiesen sie mehr Gemeinsamkeiten als Verschiedenheiten auf. Zu den grundlegenden Gemeinsamkeiten gehörten zum Beispiel - der Aufbau von groBindustriellen Produktionskapazitäten und Massenorganisationen - die allgemeine Urbanisierung - die allgemeine statusgliedemde Bildung und Qualiftkation der Bevölkerung durch Verschulung - die Verwissenschaftlichung, Verrechtlichung, Ökonomisierung und Technisierung der Arbeits- und Lebenswelt - ein Selbstverständnis als leistungsbewusste Arbeitsgesellschaft und konsumbetonte Freizeitgesellschaft - eine überwiegend utilitaristische, naturentfremdete, atheistische, teils materialistische, teils rationalistische Weltanschauung - eine aus der Aufklärung herrührende wohlfahrtsstaatliche Doktrin der willentlichen Herbeifilhrung allgemeinen weltlichen Glücklichseins (pursuit of happiness). Man wird die Gemeinsamkeiten bezüglich solcher Sachverhalte mit zunehmendem historischen Abstand besser erkennen als unter dem heute noch nachwirkenden Eindruck des Kalten Krieges, der gegensätzliche Organisationsprinzipien von Politik und Ökonomie in den Vordergrund stellte (Einheitsstaat und sozialistische Zentralplanwirtschaft im Osten versus politischer Pluralismus und Marktwirtschaft im Westen). Unbeschadet dieser Gegensätze waren aber beiden

l. Ende der industrietraditionalen Epoche

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Systemen grundlegend gleichartige Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse wie die angefilhrten gemeinsam. Der zusammengebrochene Ostblock spiegelt dem noch standhaltenden Westen Strukturprobleme im Extrem wider, die der Westen in gemäßigterer aber ähnlicher Weise ebenso zu bewältigen hat. Der sozialistische Ostblock- bei aller Komplexität des Bündels von zusammenwirkenden Faktoren - ist letzten Endes zusammengebrochen, weil er glaubte, sich der Modernisierungsdynamik des Weltsystems verschließen zu können, er in der Folge mit der Entwicklung immer weniger Schritt halten konnte und dennoch damit fortfuhr, als universalisiertes System staatlicher Wohlfahrt, aber auch als hochgerüstete Militärmacht, chronisch über seine Verhältnisse zu leben. Es ist die weitergehende Modernisierung, die Krise des Sozialetatismus, und die neue Weltwirtschaftsdynamik, mit denen erst der Sozialismus nicht mehr mithalten konnte und an der er mangels Reformfähigkeit zugrunde ging, und die nun auch vom Sozialstaat westlichen Typs weit reichende Anpassungen erfordert, wenn er nicht zusammenbrechen soll. Speziell in Ostdeutschland meinen viele Menschen, sie seien getäuscht worden. Richtiger wäre zu sagen, sie haben sich getäuscht. Ebenso wie ihre westlichen Gegenüber hatten sie sich nur zu gerne vorgemacht, sie würden nun Teil des, längst vergangenen, westlichen Wirtschaftswunders, anstatt sich klarzumachen, dass sie aktiv wie passiv Beteiligte eines Staatsbankrottes gewesen sind. Fürs erste hat die deutsche Vereinigung sich so dargestellt, dass ein bereits angeschlagener gemischtwirtschaftlicher Sozialstaat sich an einem bankrotten planwirtschaftliehen sozialistischen Staat übernommen hat und sie sich nun beide vereint in einer Transformationskrise befmden. Die neuen Bundesländer haben die Probleme des vereinten Deutschlands nicht alleine und sicher nicht ursprünglich verursacht. Die überwiegende Abwicklung und teilweise Fortschreibung der östlichen Konkursmasse zu freundlichen Wechselkursen hat jedoch die Strukturprobleme, die auch der Westen hat, innerhalb weniger Jahre umso deutlicher hervortreten lassen. Der Zusammenbruch des östlichen Sozialismus und die Krise des westlichen Sozialstaates sind nicht verschiedene Dinge, sondern unterschiedliche Aspekte ein und derselben globalen Strukturwandelkrise, die, ohne zu dramatisieren, als epochale Transformationskrise anzusehen ist. Die Geschichte der Industrialisierung begann, je nach Land, im Zeitraum um 1750 bis 1850. Es ist wahrscheinlich, dass man die Wirtschaftswunder-Ära (ca. 1948/52 bis 1967/73) im Rückblick als den Höhepunkt der seitherigen Aufbauepoche der Industriegesellschaft ansehen wird, und zugleich als ihre begonnene Metamorphose. Der Kapitalist mit Zigarre und Zylinderhut war nurmehr eine historische Karikatur aus der frühen Gründerzeit. Rauchende Schlote verschwinden aus der Landschaft, und die Arbeiter mit den rußverschmierten Gesichtern und dem schweren Hammer in der Faust verschwinden in den landauf landab gegründeten Industriemuseen. Es gehört heute zum Allgemeinwissen, 3 Huber

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II. Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

dass wir in das Stadium einer "nachindustriellen" Gesellschaft eingetreten sind, in der professionelles Wissen und Können, wissenschaftsfl:irmige Technisierung und Dienste immer bestimmender fiir die Wirtschaft werden. Dabei muss aber verstanden werden, dass das Ende der Industrialisierung, im Sinne des vollzogenen Aufbaus des Industrialismus, nicht das Ende der Industriegesellschaft bedeutet, sondern ihren Übergang in eine weitere Epoche ihrer Entwicklung, ihre Fortsetzung mit elaborierteren Mitteln und in Vielgestaltigeren Formen. Auch die Dienste (Transport, Kommunikation, Medien, Bildung, Wissenschaft, Beratung, Banken, Versicherungen) haben längst industrielle Formen angenommen, ebenso wie die Landwirtschaft. Die Unterscheidung von Landwirtschaft, Industrie und Diensten bildet eine in Aufhebung begriffene historische Form der Arbeitsteilung, die nurmehr als statistisches Artefakt fortlebt. Tatsächlich entfaltet sich die industrielle Produktion von Gütern und Diensten ungebrochen, quer durch alle Wirtschaftssektoren, in zunehmenden Größenordnungen, und weltweit. Insofern ist "nachindustriell" eine irrefUhrende Bezeichnung. "Superindustriell" erscheint dagegen vergleichsweise zutreffend, auch wenn damit der zugrunde liegende Wandel vom Manufakturiellen zum Wissenschaftsfl:irmigen nicht auf den Punkt gebracht wird. Denn in der dienste- und wissensintensiven High-Tech-Industrie spielen die Gesetze der Massenproduktion, die Economies of scale, weiterhin eine bestimmende Rolle. Allerdings wird die Umsatzmasse nicht mit der schieren Menge allein, als mehr, im Rahmen einer Economy of scope, mit kunden- und bedarfsspezifischer Qualität und Hochwertigkeit erzielt. Die hoch industrielle Wissensgesellschaft produziert nicht Qualität statt Quantität, wie fälschlich kolportiert wird, sondern vermehrt Qualität in weiterhin sehr großen Mengen. Zumindest ist das ihr Programm. Oft genug gähnt ein großes Gap zwischen den neuen Qualitätsansprüchen und der Wirklichkeit. Die zu Ende gegangene Aufbauzeit der Industriegesellschaft kann nun als Epoche der herkömmlichen Industrialisierung oder als industrietraditionale Epoche bezeichnet werden. In der neueren Soziologie wird unterschieden zwischen einfacher traditionsbezogener Modernisierung und selbstbezüglicher Modernisierung (Beck 1986, 1991 ). Damit ist gemeint, dass durch die herkömmliche Industrialisierung zuerst die vorindustrielle traditionale Gesellschaft modernisiert wurde, während nunmehr die Industriegesellschaft auf eigene Art selbst schon traditional geworden ist, und, da es kaum noch alte Traditionsbestände zu modernisieren gibt, sie sich nun selbst modernisiert. In diesem Sinne wird auch unterschieden zwischen einfacher und weitergehender Modernisierung (Zapf 1989). Ein Sprachgebrauch der 80er Jahre unterschied in gleicher Weise den 200jährigen "Aufbau" der Industriegesellschaft vom nunmehr eingesetzt habenden Übergang zu ihrem "Umbau" - Vokabeln, die schon zur politischen Rhetorik gehören. Mancher Autor verlegt sich auf strittige Kriterien, aber dessen ungeachtet bleibt eine gemeinsame Aussage: Es wird nicht mehr etwas

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Modemes ersetzt, sondern an die Stelle des Modemen, industrietraditional Gewordenen, tritt etwas noch Moderneres. In diesem Sinne sind wir Zeitzeugen, Beteiligte und Betroffene des Endes der industrietraditionalen Epoche und ihres Überganges in die weitergehend modernisierende Wissensgesellschaft Die industrietraditionale Epoche kann ihrerseits sehr schematisch in zwei Teilepochen untergliedert werden, nämlich das 19. Jahrhundert des Liberalismus und das darauf folgende 20. Jahrhundert des Sozialismus. Ralf Dahrendorf (1983) nannte Letzteres mit Blick auf den Westen das zu Ende gehende sozialdemokratische Jahrhundert. Art und Ausmaß mögen sich in Ost und West unterschieden haben, aber die Richtung war gleich: zunehmende Verstaatlichung, höhere Staatsquoten, wachsender Staatseinfluss in Wirtschaft und Gesellschaft, in der Absicht, die Probleme der sozialen Frage zu lösen (Prisching 1996). In diesem Sinne kann man sagen, es ist ein Zeitalter des Sozialetatismus, das nun an sein Ende gelangt ist. Schon um die letzte Jahrhundertwende sprach man von einem Neo-Merkantilismus. Betont wurde damit, gegenüber dem bis dahin vorherrschenden Liberalismus, die erneut sich abzeichnende staatliche Beeinflussung und Lenkung der Wirtschaft, sei es in Fragen des Außenhandels und der Gewerbeordnung oder in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen. Man sprach seit den 20er Jahren auch vom organisierten Kapitalismus. Dieser Ausdruck unterstreicht neben der staatlichen Organisierung auch die korporative Organisierung durch Gewerkschaften, Unternehmerverbände und berufsständische Vereinigungen. Aus Neo-Merkantilismus und korporativ organisiertem Kapitalismus wurde nach der russischen Revolution im Osten rasch ein bürokratischer Staatsmonopolismus. Auch im Westen entfaltete sich mit den 30er Jahren eine Epoche des zunehmenden staatlichen Interventionismus und Dirigismus. Die Staatsverteilung des Wirtschaftsproduktes erreichte in den folgenden Jahrzehnten 40-70 Prozent im Westen und 85-95 Prozent im früheren Ostblock. (Dass übrigens in China keine sozialistische Staatswirtschaft herrscht, sieht man schon daran, dass die Staatsquote dort zuletzt lediglich 12 Prozent und die Sparquote 40 Prozent betragen hat).

2. Globalisierung - verschleppter Strukturwandel durch korporative Marktvermachtung und Sozialetatismus Es wird heute häufig die Auffassung vertreten, durch den Zusammenbruch des Sozialismus sei ein disziplinierendes Korrektiv filr den Kapitalismus weggefallen, der nun im Zuge seiner Globalisierung ausbeuterische Urstände feiere. Sozialstaatliche Errungenschaften würden preisgegeben, um einem neuerlichen Heer von Niedrigverdienern und Arbeitslosen Platz zu machen. Wahr daran ist 3*

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II. Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

unter anderem, dass die Kapitalrendite (Shareholder value) mehr denn je zum dominanten Maßstab geworden ist, dass Gebietskörperschaften in die Rolle einer Standort-Dienerschaft filr Kapitalanleger geraten sind, und dass sich die Arbeits- und Erwerbsgesellschaft in einem gespaltenen Zustand befmdet. Andererseits reproduziert eine solche Problemsicht ein sozialkonservatives, allmählich unzutreffend gewordenes Bild des Kapitalismus. Denn die Klassengrenzen, sofern man solche heute noch konstruieren möchte, verlaufen inzwischen teilweise auch anders als die industrietraditionale Formel von "Kapital und Arbeit" es suggeriert. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass schon im Verlauf der 70er Jahre, also vor und parallel zum Virulentwerden der Globalisierung und dem Zusammenbruch des Ostblocks, ein Erreichen von Grenzen des Sozialstaats absehbar geworden ist - oft genug publiziert, manchmal diskutiert, praktisch ignoriert. Im Sinne der zuvor gegebenen Lagebeschreibung sind die Probleme des Industrietraditionalismus und Sozialetatismus sowie die Globalisierung und der Zusammenbruch des Ostblocks nicht getrennte Vorgänge, sondern eng miteinander zusammenhängende Aspekte eines inter- und innernationalen Transformationsgeschehens. Unter den Bedingungen des Klassenkampfes und der nationalistischen Kriege bis Ende der ersten Hälfte des Jahrhunderts, des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte, hat auch im Westen eine erhebliche Sozialetatisierung sowie eine Beeinflussung und Lenkung der Wirtschaft durch den Staat um sich gegriffen. Sozialisten mögen das als sozialpolitische Disziplinierung des Kapitalismus betrachten, Liberale als bürokratischen Dirigismus und kalte Enteignung. So oder so handelt es sich um eine allgemeine Etatisierung zusammen mit einer korporativen Vermachtung nicht nur des Arbeitsmarktes. Wie weit die unteren und mittleren Schichten davon wirklich profitiert haben, ist fraglich, weil man nicht weiß, wie sehr sie von den allgemeinen produktiven Potentialsteigerungen unter unverzerrten Bedingungen profitiert hätten. Jedenfalls hat es sie beruhigt und die gehobenen und höheren Schichten nicht ärmer gemacht. Jetzt ist der moralische und politische Disziplinierungsdruck des Kalten Krieges weggefallen, und der ökonomische Wettbewerbsdruck infolge der zunehmenden Öffnung sämtlicher Märkte hat umso mehr zugenommen. Künstlich geschützte Positionen drohen unter dem Druck der Globalisierungs-Konkurrenz nicht länger haltbar zu sein, und verschleppte Sozialstaats- und Strukturwandelprobleme kommen umso nachteiliger zur Wirkung. Der Wettbewerbsdruck trifft zunächst das industrielle "Kapital", speziell als Preis-, Produktqualitäts- und Innovationswettbewerb. Der Druck der Arbeitsund Sozialkostenkonkurrenz wird an die "Arbeit" durchgeleitet Der "Staat" sieht sich vom "Kapital" unter Standortkonkurrenz und Steuersenkungsdruck gesetzt. Unter denen, die darauf defensiv reagieren, entsteht eine große Koalition von sich Bedroht filhlenden, von Wirtschaftskonservativen und Sozialkon-

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servativen, in welcher Funktion und Gruppenzugehörigkeit auch immer. Globalisierung wird in den alten Industriestaaten heute vor allem als Bedrohung der mühsam errichteten industrietraditionalen Ordnung verstanden (Altvater/Mahnkopf 1996, Thurow 1996, Greider 1997, Rodrik 1997). Das positive Potential der Globalisierung wird eventuell gesehen, begründet aber meist keine offensive Chancenorientierung. In gewissem Sinne ließe sich sagen, Globalisierung sei nichts Neues, sondern vollziehe sich spätestens seit dem 16. Jahrhundert mit der Entfaltung des merkantilen Kolonialwarenhandels. Bei dieser Sichtweise sollte jedoch nicht das spezifisch Neue verkannt werden, das es rechtfertigt, von Globalisierung statt bloß fortgesetzter Internationalisierung zu sprechen, nämlich: die Herausbildung von wissenschaftlichen, industrieproduktionellen, logistischen, siedlungsräumlichen, real- und fmanzwirtschaftlichen sowie institutionellen Strukturen, die der einzelstaatlich-nationalen Ebene übergeordnet sind (Sassen 1991, 1994, Reich 1993, Castells/Hall 1994). Globalisierung bedeutet eine weitere Entwicklungsstufe der Internationalisierung und hierbei zugleich eine Art von Polsprung der Weltwirtschaft durch Umkehrung der Schwerkräfte von der Nationalwirtschaft zur Weltwirtschaft. Die Internationalisierung des Handels im Merkantilismus und Industriezeitalter bedeutete internationalen Austausch auf der Grundlage einzelstaatlich verfasster Nationalökonomien. Es war ein zwischenstaatlicher Handel mit national produzierten Gütern ("Made in X-land"). Die internationale Arbeitsteilung war eine makrostrukturelle nach Produkterstellung, prototypisch, nach einem Abkommen von 1703, englisches Wolltuch gegen portugiesischen Wein (was den Engländern große Summen Gold einbrachte, da sie nicht so viel Wein trinken konnten wie die Portugiesen und Brasilianer Tuche kauften). Es produzierten aber weder die Briten Reben, Pressen oder Fässer fUr die portugiesische Weinproduktion, noch die Portugiesen Wolle, Eisen oder Maschinen ftir die englische Tuchproduktion. Es gab keine bedeutende Vorleistungsverflechtung. Die nationale Produktion war binnenmarkt-integriert. Sie bestand in weitgehender Unabhängigkeit von Außeneinflüssen. Der internationale Handel bildete eine zusätzliche Variable, allerdings, mit säkular gewachsenem Eigengewicht. Durch die heutige Globalisierung werden die Hebel in der Interdependenz zwischen nationaler Binnen- und Außenwirtschaft umgelegt. Nationale Wirtschaft ist inzwischen nur noch eine weltregionale Wirtschaftsstruktur im Rahmen übergreifender Interdependenzen. Nationale Produktionen sind zunehmend außenwirtschafts-impulsiert und weltmarkt-integriert geworden. Auch groß und unabhängig scheinende Binnenmärkte wie der US-amerikanische oder chinesische machen davon keine Ausnahme. Die nationalen Ökonomien bestehen in nurmehr partieller und abnehmender Eigenständigkeit als zunehmend integrierte Teile der Weltwirtschaft. Diese ist inzwischen nicht mehr nur Handel mit Endprodukten, als vielmehr zunehmend Handel mit Zwischenprodukten im Rahmen

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II. Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

einer auch mikrostrukturellen überbetrieblichen, überregionalen und transnationalen Vorleistungsverflechtung (Härtel, Jungnickelet al. 1996). Die mikrostrukturelle internationale Verflechtung wird vor allem von multinationalen Konzernen, aber längst auch von mittelständischen Unternehmen organisiert, die als Global players, als Träger weltweiter Ko-Produktionen, als Koordinatoren transnationaler Produktions- und Serviceverbünde auftreten ("Made by X-company"). Greifbaren Ausdruck fmdet dieser Vorgang u.a. im Take-Off der AuslandsDirektinvestitionen sowie im überproportionalen Wachstum der Außenhandelszuwächse und Devisenströme (Abbildungen 1 bis 3 im Anhang). Die Größensprünge der weltwirtschaftliehen Umsätze wurden erheblich begünstigt durch die Massenmotorisierung und Transportrevolution während der zurückliegenden langen Welle, sowie durch die in Gang befmdliche Telematisierung. Telekommunikation und Hochgeschwindigkeits-Fernverkehr sind aufgrundder technologischen Lebenszyklus-Gesetze und Skaleneffekte immer billiger, und damit allgemein verfilgbar geworden. Ökonomisch gesprochen, hat die allgemeine Faktorenmobilität stark zugenommen, am meisten die Mobilität von Information, speziell die von Geld, dann die von Gütern, dann auch die der Wissensund Produktionskapazitäten, und schließlich auch die Wanderungsmobilität von Menschen und Arbeitskräften. Die Grenzen sind filr alle Faktoren offener, das heißt, leichter und schneller passierbar geworden. Unter solchen Bedingungen durchlässiger Schnittstellen kommt in ausgeprägter Weise ein Mechanismus zum Tragen, der von Wolfgang Stolper und Paul Samuelson 1941 formuliert wurde. Es handelt sich um eine Variante von Ricardos Lehre der komparativen Kostenvorteile. Das Stolper-SamuelsonTheorem besagt, dass im Wettbewerb zwischen Wirtschaftsräumen die Realeinkommen derjenigen Faktoren sinken, die in dem betreffenden Gebiet relativ knapp und bei auswärtigen Konkurrenten relativ reichlich vorhanden sind. Das gilt filr Arbeiterlöhne ebenso wie filr den Ertrag von Ackerland. Zum Beispiel gibt es in der Europäischen Union inzwischen durchaus viele überzählige geringer qualifizierte Arbeitskräfte. Sie scheinen insofern nicht knapp zu sein. Aber zum Beispiel in Polen, Brasilien, Indien oder China gibt es noch viel mehr davon zu noch erheblich geringeren Kosten. Infolgedessen werden die Reallöhne der europäischen geringer Qualifizierten stagnieren bis sinken, die der anderen steigen. Auf diesem Wege bedrängt die Industrialisierung der Volksmassen der Ost- und Südhemisphäre alte Produktions- und Arbeitsbestände in bisherigen Grundproduktionen und Massenfertigungen in der Triade Europa Nordamerika - Japan, und zwar so lange, bis entweder einer von beiden das Feld im betreffenden Segment geräumt hat oder bis die Kosten- und Leistungsstruktur auf beiden Seiten spezialisiert gleichwertig geworden ist (NickelVBell 1995). Umgekehrt gibt es in den Triadeländern ein relativ reichliches Potential an wissenschaftlich gebildeten Spezialisten, zudem hoch entwickelte Infra-

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strukturensowie ein relativ intaktes Verwaltungs- und Rechtswesen. Die neu industrialisierten Länder, selbst wenn sie große Anstrengungen unternehmen, werden ein vergleichbares Potential so schnell nicht herstellen können. Auf diese Weise sichern die institutionellen und technischen Infrastrukturen sowie die Wissensintensität - als naturwissenschaftliche, technische, fmanztechnische, verwaltungstechnisch-managerielle Skill-intensity - den vorrangigen Status der Triademächte. Ungleiche Arbeitskosten sind nur ein Faktor in einer längeren Reihe, von denen die standortliehe Wettbewerbsfii.higkeit und Beschäftigung abhängen. Aber es ist gewerkschaftsnahen Autoren nicht gelungen, den infolge der Globalisierung deutlich gestiegenen Einfluss der Arbeitskosten wegzurelativieren (Freeman 1995). Ohnedies nichts mehr zu relativieren gibt es, wenn nicht mehr nur Güter konkurrieren, sondern die Arbeitskräfte unterschiedlicher nationaler Herkunft und Lohnerwartung direkt in Konkurrenz zueinander treten, entweder vor Ort (Beispiel Sauwirtschaft) oder per Telekommunikation (Beispiel Datenerfassung, Ingenieur- und Planungsleistungen). Hinzu kommen dann noch hausgemachte Verdrängungseffekte, die in den beiden Folgeabschnitten besprochen werden. Ein Bestandteil der Arbeitskosten sind die Sozialkosten. Die Unterscheidung von Lohnkosten und Sozialkosten ist sinnvoll, ändert aber nichts an den Gesamtkosten eines Arbeitsplatzes. Löhne und Sozialbeiträge zusammen bestimmen die effektiven Bruttolohnkosten fUr die Arbeitgeber, und diese bestimmen, zwar nicht alleinig aber maßgeblich, wie weit ein Beschäftigungspotential sich in reale Arbeitsplätze umsetzen kann. Ein weiterer maßgeblicher Faktor der Kostenkonkurrenz sind Steuern. Diese hängen ihrerseits ab vom Ausmaß der steuerfmanzierten Sozialleistungen sowie vom Ausmaß der Subventionen an die Wirtschaft und der sonstigen staatlich fmanzierten Aktivitäten. Der durch die globale Kostenkonkurrenz bedingte Druck, Steuern und Sozialabgaben zu senken, erreicht den Staat sowohl auf dem Weg der Arbeitskostenkonkurrenz (Lohnsteuern und Sozialabgaben) als auch auf dem Weg der Standortkonkurrenz um Anwerbung von direkten Auslandsinvestitionen (Unternehmensertragsund Kapitalsteuern). Eventuelle Währungsaufwertungen verschärfen den Außenwettbewerb zusätzlich. Ursache der heutigen Beschäftigungs- und Sozialstaatsprobleme ist nicht die Globalisierung alleine. Einer Reihe neuerer Untersuchungen zufolge hat die Globalisierung die Verluste an Arbeitsplätzen und Realeinkommen in den unteren Schichten direkt nur zu einem relativ geringen Teil verursacht (Krugman/ Lawrence 1994, Cline 1997). Aber auf dem Wettbewerbsweg bringt die G lobalisierung hausgemachte korporative Vermachtungs- und Sozialstaatsprobleme ans Licht, die schon zwei bis drei Jahrzehnte lang verleugnet, verschleppt und dadurch verschlimmert worden sind.

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Nicht minder starke Neuanpassungszwänge gehen vom High-Tech-Wettbewerb unter den Triademächten aus. Sie bewegen sich im Großen und Ganzen auf einem vergleichbaren Niveau der Kosten, der Qualifikationen und der Produktivität. Ihre komparativen Vorteile untereinander liegen in erster Linie auf dem Gebiet der Produkt- und Serviceleistung. Sie befmden sich in einem gesteigerten Qualitäts- und lnnovationswettbewerb. Die hierbei entscheidenden Faktoren sind Wissensintensität, institutionelle und technische Infrastruktur, sowie Lebensqualität Die Verwissenschaftlichung und Technisierung der Arbeitswelt (die ohne den internationalen Kontext schon gar nicht mehr gedacht werden kann) schafft zunehmende Nachfrage nach höher qualifizierten oder hoch spezialisierten Tätigkeiten und abnehmende Nachfrage nach geringer qualifizierten oder unspezialisierten Tätigkeiten. Es besteht international also zum einen verstärkte Kostenkonkurrenz im Hinblick auf Arbeits-, Sozial- und Standortkosten, insbesondere von Seiten der Billiganbieteraus weniger entwickelten Regionen, und zum anderen internationale Produkt-, Technologie- und Innovations-Konkurrenz von Qualitätsanbietern vor allem von Seiten der Triadeländer. Die Low-Cost-Konkurrenz aus Polen, Algerien, der Türkei, Indien oder Thailand bestimmt die Handlungsbedingungen in Europa ebenso wie der High-Tech-Wettlauf mit Amerika und Japan. Die bisherigen Binnenstrukturen der Nationalökonomien sind sowohl unter verstärkten Kostendruck als auch unter verstärkten Qualitäts-, Spezialisierungs- und Innovationsdruck geraten (Wood 1994). Wie kann die Wirtschaft auf den Druck der Kosten- und Qualitätskonkurrenz reagieren? Sie kann erstens basisinnovativ zu neuen Technologien, neuen Organisationsformen, neuen Produkten und Dienstleistungen vorstoßen. Das ist der wünschenswerteste, aber auch langwierigste Umstellungsprozess. Die Wirtschaft kann zweitens alte Produktlinien weiter modernisieren, also noch mehr rationalisieren, Effizienz und Qualität verbessern. Auch dies wird die Nachfrage nach höher qualifiziertem und besser bezahltem Personal steigern, aber die Nachfrage nach Geringerqualifizierten und Schlechterbezahlten senken. Die Wirtschaft kann drittens das Geschäft mit geringerwertigen Produktionen zunehmend billigeren Nachfolgern überlassen bzw. die Produktion in billigere Wirtschaftsräume verlagern. Zum Ausdruck kommen kann dies in Schließungen, in Betriebsverlagerungen oder Investitionsverlagerungen ins Ausland, oder schließlich eben darin, dass betreffende Produktionen von Inländern weder im Inland noch im Ausland betrieben werden, sondern die betreffenden Produkte ausschließlich als Importe von Ausländern bezogen werden. Letzteres, zwar noch immer durch gewisse Handelsbarrieren gedämpft, geschieht zunehmend. Ersteres dagegen, als innovativer und ablösender Strukturwandel, findet zu wenig statt. Für die künftige Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung von größter Bedeutung ist der innovative StrukturwandeL Aber die europäische Industrie, auch die deutsche, ist auf neuen Wachstumsfeldern nicht

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genügend präsent. Sie hinkt spitzentechnologischen Entwicklungen zu oft hinterher. Ehemalige Wachstumsbranchen auf Grundlage der Spitzentechnik von gestern neigen heute als nurmehr mittelwertige Bereiche zur Stagnation. Der Anteil von High-Tech-Gütern am Industrieexport beträgt in Frankreich und Deutschland nur 19-20%, dagegen 34% in Japan und 36% in den USA (DIW 1995b, 575). Innovation und Strukturwandel werden schon geradezu liturgisch gepredigt, aber weder die Eliten noch ihre Basis mögen sich in Wirklichkeit dazu bequemen. Dies tritt besonders deutlich beim ablösenden Strukturwandel zutage, das heißt, bei der Ablösung alter Strukturen durch Geschäftsaufgabe oder durch Umbau und Fortentwicklung zu erneuerten tragfii.higen Gebilden. In Europa, vielleicht mit Ausnahme von Großbritannien, wurde der ablösende Strukturwandel in den zurückliegenden Jahrzehnten, wider besseres Wissen und gegen die eigene Rhetorik, behindert oder nur halbherzig und ebenso träge wie hoch subventioniert betrieben, unter dem Vorwand der "sozialen Abfederung", mit langfristig umso unsozialeren Folgen, deren wahres Gesicht heute immer ungeschminkter hervortritt, insbesondere in bislang noch geschützten Sektoren wie dem Bergbau, der Energiewirtschaft, der Landwirtschaft, den öffentlichen Gewerbesektoren, dem Gesundheitswesen, dem Bildungs- und Qualifikationssektor u.a., mit entsprechend negativen Folgen ftlr den ausgebliebenen Strukturwandel und die künftigen Produktivitäts- und Wohlstandsaussichten. Allentbalten widersetzen sich starke Korporationen- Verbände, Großinstitutionen und Großunternehmen - jeglichen willentlichen Veränderungen, die ihre Macht und ihre Besitzstände in irgendeiner Weise berühren könnten. So lange dies so ist, folgt daraus eine suboptimale Beschäftigung, teils durch erhöhte Arbeitslosigkeit, insbesondere eine sich strukturell verfestigende Sockelarbeitslosigkeit, teils in noch größerem Maße durch chronische NichtErwerbstätigkeit von Jüngeren und Älteren. Dies filhrt unmittelbar zu einer Überforderung der aktuellen Erwerbseinkommen, zu einer Überlastung der Sozialhaushalte und sonstigen Staatsfmanzen, zu einer überhöhten Staatsquote, und zu einer schleichenden Überschuldung erst der öffentlichen, später auch der privaten Haushalte und Unternehmen. Mit all dem wird nicht nur die Funktionsfiihigkeit der Wirtschaft unterminiert, sondern auch der soziale Zusammenhalt beschädigt. Es ist wichtig, zu verstehen, dass Solidarität und sozialer Ausgleich in diesem Zusammenhang gerade deshalb verloren gehen, weil strukturelle Änderungen des Status quo und notwendige spezifische Einkommens- und Leistungsanpassungen unter "sozialem" Vorwand verweigert werden und gerade dadurch die Zentrifugalkräfte der Einkommens- und Vermögensspreizung sowie der gesellschaftlichen Segregation und Spaltung eskalieren können. Die etablierten Macht- und Soziaistaatsstrukturen sind auf Bestandsschutz angelegt. Sie schützen den Status und die Ansprüche der jeweils besser gestellten, besser organisierten, besser sank-

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tionsfähigen Gruppen, im Ergebnis - gewollt oder nicht - auf Kosten der relativ schlechter Gestellten und Randgruppen. Anpassungen erfolgen nicht solidarisch-kooperativ, sondern durch Verdrängung der schlechter Positionierten durch die besser Gestellten und besser Organisierten. Wie alle Systeme, die auf Aus- und Abschließung beruhen, verhält sich eine so beschaffene Gesellschaft neuerungsfeindlich und lastenabwälzend. Die Leute verhalten sich, als stünden sie unter Denkmalschutz. Warum muss ein schwieriger Strukturwandel überhaupt stattfmden? In wessen Interesse geschieht dies? Ist Globalisierung ein echter Sachzwang oder eine vorgeschobene Ideologie? Globalisierung istjedenfalls keine Verschwörung der Reichen und der Mächtigen. So simpelliegen die Dinge nicht. Der internationale und binnenwirtschaftliche Strukturwandel vollzieht sich pfadabhängig in sehr langfristig angelegten und kollektiven Bahnen. Und er liegt tatsächlich im Interesse aller. Die Globalisierung schreitet voran, weil es weltweit mehr Menschen und mächtigere Interessen gibt, die sie wollen, als welche, die sie nicht wollen. Der Strukturwandel ist von allgemeinem Nutzen, ftlr die meisten sofort, auf Dauer ftlr alle. Es sind zwar besonders die großen Global players, die die Globalisierung weitertreiben, weil sie dabei viel zu gewinnen haben, und noch mehr zu verlieren, wenn sie es nicht tun. Die Entwicklungs- und Schwellenländer haben von vornherein wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Diese speziellen Akteure fungieren als Pioniere einer Entwicklung, deren Gewinne ihnen nicht vorbehalten bleiben. Es gibt überall mehr Gewinner als Verlierer der Globalisierung, auch in Europa. Die Globalisierung setzt sich durch, weil die Gewinne die Verluste überwiegen und die Gewinner die Verlierer majorisieren. Ökonomisch gesehen, nicht unbedingt ftlr die Umwelt und den Nationalstaat, erweist sich die Globalisierung als ein PositivsummenspieL Es vollzieht sich nach dem allgemeinen Evolutionsprinzip der Potentialsteigerung durch Spezialisierung auf jeweilige Kernkompetenzen. Im Ergebnis fahren nach erfolgter Spezialisierung alle besser als vorher. Damit ist das Pareto'sche Wohlfahrts- und Gerechtigkeitskriterium erfllllt. Ricardos Lehre der komparativen Kostenvorteile stellt die besondere Außenhandels-Anwendung eines allgemeinen Prinzips der Potentialsteigerung durch Spezialisierung dar, richtiger gesagt, die Anwendung dieses Prinzips auf Fragen der internationalen Arbeitsteilung, der Rollenverteilung in der vertikal und horizontal gegliederten Produktionsverflechtung über Staatsgrenzen hinweg. Der Text "Potentialsteigerung... " im Anhang veranschaulicht die Wirkungsweise der Realisierung komparativer Kostenvorteile. In den Binnenverhältnissen einer Nationalwirtschaft gilt das Prinzip in gleicher Weise. Das Prinzip der Potentialsteigerung eines Systems durch Spezialisierung seiner Elemente gemäß komparativen Leistungsvorteilen ist nicht nur ein weltwirtschaftliches Grundprinzip.

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Man kann es als eines der Grundgesetze der Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung überhaupt betrachten. Grundlegend anerkannt, dass der Strukturwandel im Zuge der Globalisierung unmittelbar Vorteile und Gewinne filr die Mehrheit und langfristig filr alle bringt, wird man sich auch nicht der Anerkennung und verantwortlichen Handhabung der Tatsache verschließen, dass sich kurz- und mittelfristig filr unterschiedlich große Minderheiten Nachteile und Verluste ergeben. Bei diesen Gruppen handelt es sich heute im wesentlichen um Existenzen in alten Produktionen, die vom technischen Fortschritt und der neuen Arbeitsteilung überholt werden, sodann um bisher abgeschirmte Gruppen, die künstlich besser gestellt waren als ihre Leistung im ungeschützten Vergleich erlaubt, sowie, speziell in fortgeschritteneren Ländern, um geringer qualifizierte Tätigkeiten in der industriellen Grundproduktion und Massenfertigung, die in neuindustriellen Ländern ebenso gut und erheblich billiger stattfmden. Einen bequemen Strukturwandel gibt es nicht. Wer hinter der Nutzung seiner komparativen Vorteile zurückbleibt, wird von der Entwicklung abgehängt. Sich aus dem "globalen Dorf' zu verabschieden, würde bedeuten, sich von der integrierten Weltentwicklung abzukoppeln und dafilr den unannehmbar hohen Preis zunehmender Rückständigkeit, Verarmung und einseitiger Abhängigkeit bezahlen zu müssen. Nicht nur bedeutet die international arbeitsteilige Produktion, dass allen Konsumenten ein erhöhter Konsumstandard in Form eines reichhaltigeren Angebotes zu günstigeren Preisen zuteil wird. Hierbei handelt es sich um ein weiterhin gültiges Argument der Freihandelsbewegung des 19. Jahrhunderts. Heute, speziell im Zusammenhang mit der mikrostrukturellen Vorleistungsverflechtung, ist von noch größerer Bedeutung, dass der unbehinderte internationale Austausch auch Transfer von Ideen, Wissen, Technologien, Kapital, Qualifikationen, Organisationsformen u.a. auf der Höhe der Zeit bedeutet. Sich davon abzuschneiden, kann nur kontraproduktiv und selbstschädigend wirken. Daran ist der große Ostblock ebenso gescheitert wie regelmäßig auch alle anderen kleineren Regimes, die glaubten, "autark", "self-reliant" und vom Weltmarkt "unabhängig" werden zu können. China hat die Lektion noch rechtzeitig erfasst und damit seinerseits andere unter verstärkten Globalisierungsdruck gesetzt. Selbst der insgesamt sehr große Europäische Wirtschaftsraum vermag nicht, sich vom Rest der Welt ohne gravierende Folgen abzuschotten. Was heute noch eine vergleichsweise große Wirtschaftsmacht ist, kann schon im Verlauf von ein bis drei Jahrzehnten eine nur noch untergeordnete Größe darstellen. Das Soziale an der Marktwirtschaft kann und soll sich weltweit reproduzieren. Aber es wäre eine Illusion, zu glauben, dies könne aus Sicht der bisher Wohlhabenden in den Sozialstaaten Europas ein additiver Vorgang sein, der sie unberührt und im Status wohlwollender Beobachter lässt. Globalisierung ist ein integrierter Prozess mit interdependenten Auswirkungen. Wo immer etwas Wesentliches geschieht, bringt es Rückwirkungen filr alle Teilnehmer des Geschehens mit sich.

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3. Korporative Marktvermachtung - der primäre Mechanismus der externalen Spaltung der Sozialstruktur a) Internale und externale Differenzierung der Sozialstruktur Die Öffnung der Grenzen, die Steigerung der Faktorenmobilität durch Abbau rechtlicher Restriktionen und durch neue Technologien, bedeuten nichts anderes, als dass Außenverhältnisse verstärkt auf nationale Binnenverhältnisse einwirken. Die Preis-Leistungs-Relationen, die international gelten, können im eigenen Land nicht einfach suspendiert werden. Weltwirtschaftliche Integration und binnenwirtschaftliche Differenzierung gehen Hand in Hand. Sozio-ökonomische Außenverhältnisse werden in der Binnenstruktur selbstähnlich reproduziert. Wenn die Außenverhältnisse durch große soziale Ungleichheit gekennzeichnet sind, die Binnenverhältnisse eines Landes dagegen durch relative Gleichheit, dann werden sich in diesem Land stärkere Tendenzen zu mehr Ungleichheit bemerkbar machen. In dieser Lage befmden sich heute die Sozialstaaten Europas. Die Einkommens- und Vermögensunterschiede sind in den zuletzt relativ homogen binnenintegriert gewesenen Nationalstaaten Europas vergleichsweise moderat gewesen. Nur noch Japan besaß bisher ein vergleichbar geringes Maß an sozialer Ungleichheit. In Amerika dagegen herrscht eine beträchtlich größere soziale Ungleichheit, die im zurückliegenden Vierteljahrhundert, wie in Großbritannien, noch erheblich verschärft worden ist. (Damit sind die USA ein Qualitäts- und Innovationskonkurrent und ausgeprägter Kostenkonkurrent zugleich). Die Sowjetunion und der Ostblock dagegen sind an ihrer Gleichmacherei zerbrochen und haben im Zusammenbruch einen horrenden Scherbenhaufen an großer Ungleichheit und Heterogenität geschaffen. In den Ländern der früheren Dritten Welt herrscht traditionell erhebliche Ungleichheit, in Lateinamerika am meisten, in Südostasien weniger krass. Die weltweiten Einkommens- und Vermögensdisparitäten wirken auf die Binnenverhältnisse der Weltregionen und Nationen ein, vermittelt über die internationalen Güter-, Personal- und Kapitalmärkte (Wood 1994). Europa kann sich den weltweit vorherrschenden negativen sozialpolitischen Einflüssen nicht entziehen, allenfalls sie abmildern. Aber Europa kann der Herausforderung mit ökonomischen und rechtlich-institutionellen Innovationen begegnen, um damit eine leistungsstarke, freiheitliche und solidarische Gesellschaft auf weitergehendem Entwicklungsniveau zu begründen. Auf eine solche Perspektive hin ist das vorliegende Buch ausgerichtet. Bei unverändert industrietraditionalen Bedingungen würde die "Dritte Welt" im eigenen Lande keine aus der Luft gegriffene Metapher bleiben. Unter dem

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Einfluss der zunächst noch unbewältigten Globalisierungsherausforderung lösen sich bisher gewohnte Bedingungen nationaler relativer Homogenität auf, um einer wachsenden Heterogenität der nationalen Verhältnisse Platz zu machen. Ein Land ist nicht mehr wie früher generell ein Hochlohnland oder ein Niedriglohnland. Jedes Land wird tendenziell zu einem Hoch- und Niedriglohnland zugleich. Die jeweilige Positionierung im einzelnen Segment ist in erster Linie abhängig von den gegebenen Handlungskapazitäten und der daraus resultierenden Leistungsfil.higkeit. In den Hochlohnsegmenten herrscht vorrangig Produktqualitäts- und lnnovationswettbewerb, in den Niedriglohnsegmenten dagegen reiner Kostenwettbewerb. Die nationale Binnen-Differenzierung der Einkommen und Lebenslagen kann sich auf internale und externale Weise vollziehen. Der allgemeine soziale Ort, von dem aus die Unterscheidung internaVexternal ihren Sinn bekommt, besteht im Berufsleben in der Arbeitsgesellschaft, im produktiven und kreativen Schaffen in der Leistungsgesellschaft, im besonderen dem Erwerbsleben in der Wirtschaftsgesellschaft. Für den persönlichen Lebensweg ist der berufliche Werdegang mehr denn je zu einem Dreh- und Angelpunkt geworden. Arbeit, sagte Oswald von Nell-Breuning als Vertreter der katholischen Soziallehre, ist Teilhabe an der Schöpfung. Jedenfalls ist Arbeit Teilhabe arn gesellschaftlichen Schaffensprozess. Die soziale Form, in der dies in der Industriegesellschaft vorrangig geschieht, ist die Erwerbsarbeit Mit ihr erwirbt man Geld und gesellschaftliche Stellung, Versorgung und einen wichtigen Teil der Sinnerfilllung zugleich. Selbstverwirklichung ohne Erwerbstätigkeit ist in der modernen Gesellschaft nur ausnahmsweise möglich. Für die meisten Menschen bleibt "schöpferische Arbeitslosigkeit" in der Arbeitsgesellschaft eine Chimäre. Für die Gesellschaft selbst bleibt die Erwerbsbindung der Arbeit, die Lohn-Leistungs-Kopplung, unabdingbar. Internal ist eine Differenzierung der Sozialstruktur, die sich innerhalb des Erwerbslebens vollzieht oder dort ihre Verankerung hat, external diejenige, die sich vollzieht durch teilweisen bis vollständigen Ausschluss aus dem öffentlichen Erwerbs- und Schaffensprozess. In der Wirklichkeit jeder modernen Gesellschaft treten beide Formen in unterschiedlicher Kombination auf. Zum Beispiel stellt Teilzeitarbeit eine Zwischenform dar. Die internale Differenzierung bedeutet eventuell eine größere Spreizung der Erwerbseinkommen, in jedem Fall eine differenziertere Schichtung zwischen Spitzengehältern und Niedriglöhnen. Einkommen und Arbeitszeiten gestalten sich lage- und betriebsspezifisch differenziert. Sie kommen auf einem kontinuierlichen Spektrum zu liegen. Hierbei, und dieses ist kein nachrangiges, sondern von vornherein defmitives Kriterium, ist der Großteil der jugendlichen und mitteljährigen Bevölkerung im Erwerbsalter von 15-65 Jahren in das Erwerbsleben eingebunden. Nach heutigem Bevölkerungsaufbau würde dies im Grenzfall bedeuten, dass 65 - 70 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsleben stehen, während 30- 35 Prozent sich

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in ihrer Kindheit, Schulzeit und im Altersruhestand befmden. Demgegenüber bedeutet die externale Differenzierung eine diskontinuierliche Segmentierung, eine strukturelle Segregation, Spaltung in Ins und Outs, in Kerngruppen und Randgruppen, im besonderen in Normalbeschäftigte, Randbeschäftigte, Arbeitslose und Nichterwerbstätige, und, teilweise darüber vermittelt, auch eine Spaltung in sozial Integrierte und Desintegrierte. Nach heutigen Verhältnissen bedeutet dies, dass nicht 65 - 70 Prozent, sondern nur um 45 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsleben stehen. Dies rührt daher, dass von der Bevölkerung im Erwerbsalter (15 - 65 Jahre) nicht 90 - 100 Prozent, sondern nur etwa 60 Prozent erwerbstätig sind. Dabei dürften sich schätzungsweise 45 Prozent in einem Normalarbeitsverhältnis befmden und 15 Prozent in teilzeitlichen, geringfilgigen u.ä. Beschäftigungen. Eine Größenordnung um 10 Prozent ist arbeitslos. Die restlichen 30 Prozent sind Langzeitverschulte (Schüler und Studierende), Frührentner, Behinderte, sodann nichterwerbstätige Alleinlebende, Alleinerziehende und Familienangehörige (meist Hausfrauen), die keine Studierenden oder Rentner sind. Alle diese Personen können im übertragenen Sinn als "arbeitslos" betrachtet werden - auch wenn sie viel zu tun haben mögen. In Sozialstaaten mit einem hohen Maß an arbeitsmarkt- und sozialversicherungsgebundenem Korporatismus wie in Europa werden in der Konkurrenz um Märkte, Beschäftigung und Einkommen vor allem industrietraditionale Kernbestände und Kerngruppen geschützt. Eine flexible und anpassungsflihige internale Differenzierung kann sich nur wenig entfalten. Dadurch überwiegen Formen der externalen Spaltung. Sie äußern sich in einem hohen Grad an Arbeitslosigkeit und Nicht-Erwerbstätigkeit, und daher auch in einem hohen Maß an Sozialtransfers filr Erwerbslose sowie filr Junge und Alte. Bei geringerer Ausprägung des korporativen Sozialetatismus kann die nationale Binnen-Differenzierung mehr im internalen Kontinuum stattfmden bei vergleichsweise geringerer Arbeitslosigkeit, einer breiteren Beschäftigungsbasis und relativ weniger Sozialtransfers. Die gewichtigste externale Spaltung liegt heute nicht nur in der zunehmenden Zahl von Randbeschäftigten und der viel zu hohen Zahl von Arbeitslosen, sondern mehr noch in der Ausschleusung eines erheblichen Teiles der jüngeren und älteren Erwerbsflihigen in die Ausweichrollen von Schülern/Studenten und Frührentnern.

b) Externale Differenzierung durch Verschulungszertifikate Man wird die Schüler und Studierenden in einer anderen Rolle sehen wollen, nämlich als Lernende, die sich Schulwissen aneignen, um sich auf das Berufsleben vorzubereiten. Bildung ist von kulturellem Wert an und filr sich. Und man weiß, dass in der Wissens- und Dienstegesellschaft die Qualiftkation des Humankapitals zum Schlüsselfaktor geworden ist. Hiermit wird jedoch etwas getan, was im heutigen Sozialstaat häufig geschieht, nämlich, es wird ein richtiger

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Gedanke unwirklich auf Gegebenheiten projiziert, die dem Gedanken nicht entsprechen. Das Ergebnis bewegt sich zwischen Irrtum und Ideologie. Die bildende und berufsqualifizierende Funktion der Schulen und Hochschulen ist heute in gewissem Ausmaß Irrtum bis Ideologie. Die Erwartung einer Bildung in einem emphatischen humanistischen Sinne wäre ohnedies unreel. Soweit dagegen die Vermittlung von Allgemeinwissen angesprochen ist, handelt es sich um einen Lehrplan, der expertokratisch überladen, teilweise bildungsbürgerlich veraltet und bürokratisch zwangsvereinheitlicht ist. Die Masse der Information erstickt sich selbst. Zudem sind die personellen und institutionellen Verhältnisse an den Schulen heute so, dass an eine ausreichende Umsetzung der fragwürdigen Lehrpläne kaum zu denken ist. Schulen und Schulung wird die moderne Gesellschaft auch in Zukunft benötigen, nicht aber eine weitgehende Verschulung, zumal keine extrem teure und weitgehend nutzlose Langzeitverschulung, die Menschen bald bis zu ihrer Mitteljährigkeit dem Ernst des Lebens fern hält. Ökonomisch verwertbare Qualifikation im Sinne der Humankapitalbildung besteht vor allem in Berufserfahrung und spezialisiertem praxisbewährtem Wissen. Schulen und Hochschulen können eben das kaum leisten, und man soll von ihnen diese fremdartige Leistung auch nicht verlangen. Was sie können, ist nicht mehr und nicht weniger, als einen wichtigen Teilbeitrag zur Allgemeinbildung und zur Vermittlung spezifischeren Grundlagenwissens zu leisten. Alles andere an Bildung und Qualiftkation wird im Leben und Berufsgeschehen selbst erworben. Teils aufgrund der Verwissenschaftlichung und Technisierung der Arbeit, und aufgrund teilweise überlebter schulischer und berufsständischer Lehrangebote, ist heute ein erheblicher Qualiftkationen-Mismatch entstanden. Was die Leute gelernt haben, ist oftmals nicht zu gebrauchen, und was gebraucht wird, haben die Leute nicht gelernt. Wieso reagieren Politik und Gesellschaft nicht auf den Sachverhalt, dass zwar die so genannte Bildungsbeteiligung der Jugend historisch unerhörte Quoten erreicht, dass aber dennoch nachgefragte Qualiftkationen im Berufsleben zunehmend fehlen, während die Zahl der Fehlqualifizierten steigt? Ein Grund dafilr liegt in den struktureigenen Rigiditäten der sozialetatistischen, zentral-administrativen Bildungsplanwirtschaft mit ihrer qualiftkatorischen Tonnenideologie. Das weiß die Allgemeinheit allerdings schon länger, und es stellt sich die Frage zum Zweiten, warum reagieren Politik und Gesellschaft nicht? Die Antwort lautet, dass die Schulen und Hochschulen als Parkraum gebraucht werden filr junge Menschen, die ins Erwerbsleben unter den gegebenen Bedingungen anscheinend nicht integriert werden können. Die Jugendlichen ebenso wie die Bildungseinrichtungen lassen sich damit faktisch missbrauchen. Zunehmend größere Teile der Jugend und der jungen Erwachsenen sind marginalisiert worden, abgeschoben unter die institutionelle Käseglocke der Schulprovinz, ebenso wie die Frührentner aufs "Altenteil" abgeschoben werden.

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Schüler und Student sein ist zu einer Ausweichrolle filr Jugendliche geworden, weil der heutige Arbeitsmarkt sie nicht aufzunehmen vermag und ihnen damit eine sinnvolle und nützliche Teilhabe am gesellschaftlichen Schaffensprozess vorenthalten bleibt. (Weiteres im Kapitel "Staatsaufgaben"). Bildungszertifikate dienen am Arbeits- und Dienstleistungsmarkt heute vor allem der Zugangs- und Einstufungsselektion. Die Zertifikate unterliegen dabei der Dynamik positionaler Güter oder Statusgüter, das heißt, ihr Wert steigt mit ihrer Knappheit als Clubgut und sinkt mit ihrer Allgemeinverftlgbarkeit als Kollektivgut (Hirsch 1977). Deshalb gewähren Bildungszertifikate inzwischen keine verlässlichen Statuszuweisungen mehr, weder im beruflichen noch im politischen und gesellschaftlichen Leben. Stattdessen haben sie teilweise einen eher defensiven Charakter angenommen. Schüler und Studenten erwarten, mit höherwertigen Zertifikaten einem eventuellen Ausgeschlossenbleiben oder späterem Abgeschobenwerden und sozialem Abstieg besser vorzubeugen. Dem entspricht, dass die Betriebe formal höher Zertifizierte gegenüber formal geringer Zertifizierten normalerweise bevorzugen. Damit vollziehen sich Verdrängungsprozesse mit Marginalisierungsergebnissen. Die Nischen filr gering zertifizierte Arbeitskräfte schrumpfen. Zertifikate längerjähriger Ausbildung (Realschule, Abitur, Studium) verdrängen Zertifikate mit kürzeren Ausbildungszeiten (Hauptschule, Lehre, Fachabschluss). Der promovierte Taxifahrer verdrängt den Immigranten, die diplomierte Psychologin verdrängt die Erzieherin, der Versicherungsagent mit einem Universitätsabschluss oder die Bankkauffrau mit Abitur verdrängen ihre Kollegen mit Realschulabschluss, jedoch ohne dass damit eine substanzielle Verbesserung der Arbeitsinhalte verbunden wäre, und ohne dass die Arbeit deshalb effizienter und rentabler würde. Aufgrund solcher Crowding-out-Effekte betrifft die gegenwärtige Langzeitarbeitslosigkeit in erster Linie das Arbeitsmarktsegment der so genannten "bad jobs" (geringe bis fehlende Qualifikation, schlechtere Bezahlung, geringere Sicherheit), daneben überholte Tätigkeitsbilder, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. Dagegen kommen die so genannten "good jobs" einigermaßen glimpflich davon, wenn man einmal absieht vom Segment spezieller Arten von Akademikerarbeitslosigkeit, die weitgehend aus bildungsökonomischer Fehlsteuerung resultieren. Insgesamt stellt sich die Frage der strukturellen Arbeitslosigkeit vor allem in Richtung der unteren Erwerbsschichten. Unqualifizierte tragen ein viermal höheres Arbeitslosigkeitsrisiko als andere Arbeitsmarktgruppen. Dieser Sachverhalt ist jedoch weniger die Folge einer sozusagen absoluten Minderwertigkeit der betreffenden Schul- und Lehrzertifikate, als vielmehr das Ergebnis der Botwertungsdynamik der Bildungszertifikate und der damit verbundenen Abdrängung von geringer Zertifizierten im Zusammenhang gesellschaftlicher Ausgrenzungsprozesse. Die Verkündung, man solle sich bilden, weil dies vor Arbeitslosigkeit schütze, bekommt in diesem Kontext einen recht zynischen Zungenschlag.

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c) Arbeitsmarktvermachtung. Die Gewerkschaften

In den 70er Jahren hat eine Arbeitsgruppe um den christdemokratischen Sozialpolitiker Reiner Geißler die Neue Soziale Frage thematisiert (Geißler 1976, GroserNeiders 1979, kritisch Mosdorf 1980). Der Ansatz war korporationskritisch: Mächtig sind die Organisierten, besonders Gewerkschaften und Industrieverbände, die das Wirtschaftsprodukt unter sich primär aufteilen. Ohnmächtig sind die ohne Lobby. Deshalb entstünde eine neue Armut und ein Randbereich von sozial Abgedrängten. Insbesondere Kinderreiche, Alleinerziehende, Rentner und Behinderte kämen zu kurz. Nicht unähnlich lautete die These neuer Disparitäten zwischen Kern- und Randgruppen der Gesellschaft nach Claus Offe. Für die zu kurz Gekommenen müsse der Sozialstaat besser sorgen, durch mehr soziale Dienste, insbesondere Sozialstationen, durch mehr Unterhaltszahlungen, höheres Kindergeld, höhere Renten, usw. Der Ansatz hat seine Schwächen, aber auch seine Verdienste. Zu den Schwächen gehört zum Beispiel die Fehldarstellung der Rentner als arm und machtlos. Zu den Verdiensten gehören die neue Aufmerksamkeit fiir Alleinerziehende oder die Initiative auf dem Gebiet der Sozialstationen und der Gemeinwesenarbeit. Wegweisend und irrefUhrend zugleich war die Kritik der korporativen Machtstrukturen. Sie war wegweisend, insofern die bis dahin überwiegend als Segnung gepriesene Sozialpartnerschaft nun auch als ein Problem der gruppenegoistischen Entstellung von Verteilungsprozessen gesehen wurde. Der Ansatz war hierbei zugleich irrefUhrend wegen seiner Blindheit gegenüber den Problemen des Sozialetatismus - als ob der Staat, insbesondere die Sozialpolitiker, an der Verteilung des Wirtschaftsproduktes nicht genauso beteiligt wären wie die Tarifpartner. Diesbezüglich wurde eine willkürliche Selektivität geübt, indem die Gewerkschaften ins Rampenlicht gerückt, aber andere korporative Marktvermachter wie ärztliche und sonstige Ständevereinigungen, oder die öffentlichrechtlichen Sozialversicherungsträger, nicht zuletzt Großbanken und Konzerne, außen vor gelassen wurden. Der harte Kern des Ansatzes der Neuen Sozialen Frage lässt sich verallgemeinern: In einem industrietraditionalen Sozialstaat, bei etatistischer Demokratie und einem hohen Maß an korporativer Sozialpartnerschaft, erlangen schlagkräftig organisierte, arbeits- und sozialrechtlich geschützte sowie wahlpolitisch sanktionsfiihige Gruppen Vorteile auf Kosten von anderen, die diese Bedingungen weniger erfilllen und die deshalb an den Rand der Gesellschaft abgedrängt werden. Gewerkschaften bilden Interessenvertretungs-Kartelle der Arbeitnehmer fiir Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen gegenüber den ihrerseits interessenorganisierten Arbeitgebern. Die damit begründeten Verhältnisse der korporativen Tarif- und Sozialpartnerschaft sind inzwischen durch Gesetzge4 Huber

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bung und Rechtsprechung detailliert geregelt. Es macht deshalb keinen allzu großen Unterschied mehr, ob die Interessenorganisation in öffentlich verpflichtender Form (zum Beispiel Kammernsystem) oder in zivilrechtlich freiwilliger Form erfolgt. In Frankreich sind heute nur noch zehn Prozent der Arbeitnehmer organisiert, sonst in Europa 20 - 40 Prozent, nur in Schweden waren es bis vor kurzem noch 90 Prozent. (Dort war Arbeitslosenversicherung an die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gebunden). Einen offiziellen Status als Tarif- und Sozialpartner haben die Gewerkschaften dennoch überall. Der Entstehungsgrund fUr die institutionalisierte Tarifpartnerschaft von Gewerkschaften und Arbeitgebern lag in der ursprünglichen, und noch heute vielfach weiterbestehenden Aussichtslosigkeit fUr die Masse der Arbeiter und Angestellten, ihren Arbeitgebern als ebenbürtige Verhandlungspartner gegenüber zu treten. Die Arbeitgebervereinigungen sind eine defensive Reaktion auf die Gewerkschaften geblieben. Die Rolle der Forderungsinitiative liegt bei den Gewerkschaften als Monopolanbietern von unselbständigen Arbeitsleistungen. Die Arbeitgeberverbände sind in der Rolle der Abwehrenden. Bei ihren Lohnforderungen orientieren sich die Gewerkschaften im Wesentlichen an filnf Größen - erstens dem Lohnniveau, das habituell als zu niedrig gilt; zweitens der Lohnstruktur, die unter verallgemeinertem Ungerechtigkeitsverdacht steht; drittens dem Produktivitätszuwachs; viertens der Preissteigerung; filnftens ihrem Leitbild des Normalarbeitsverhältnisses. Im Kern dieser Norm stehen beruflich qualifizierte, arbeits- und sozialrechtlich geschützte Arbeitnehmer, prototypisch noch immer Industriearbeiter, inzwischen auch Arbeitnehmerinnen, diese prototypisch als Angestellte im öffentlichen Dienst, die ihr Leben lang Vollzeit beschäftigt sind. Die sich hieraus ergebende Lohnpolitik der Gewerkschaften, als der Vertretung des unselbständigen Humankapitals, ist ein Spiegelbild sonstiger Renditeerwartungen von Kapitaleignern. Es sind grundsätzlich nur Lohnanhebungen und Höhergruppierungen vorgesehen. Differenzielle Lohnsenkungen und Abgruppierungen sind eigentlich nicht vorgesehen, ungeachtet aller Konjunkturund Strukturkrisen sowie Qualifikationsverwerfungen. Nach der Logik des Massenlohn aushandelnden Monopolanbieters würde dies ja auch die Massenkaufkraft schwächen, was eine Krise nur verschärfen würde. Es sollen die realen Nettoeinkommen der Arbeitnehmer mindestens erhalten bleiben und nach Möglichkeit gesteigert werden. Das heißt in der gewerkschaftlichen Idealvorstellung: voller Inflationsausgleich, plus Produktivitätszuwachs, plus Anhebung des Lohnniveaus bei möglichst überproportionaler Anhebung unterer Lohngruppen, plus "Investitionen" in die weitere Qualifikation und Rekreation der Arbeitskräfte, sprich bezahlter Urlaub und Bildungsurlaub, Gratifikationen, Sonderzahlungen, usw.

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d) Beschäftigung als Verteilungsproblem. Maximale Arbeitsplatzrentabilität als allgemeines Entgeltprinzip

Womit entstehen und vergehen Beschäftigung und Erwerbseinkommen? Erstens durch Strukturwandel. Arbeit entsteht mit neuen zusätzlichen Angeboten, mit Produktinnovationen, mit neuen Diensten, und verschwindet mit alten, die nicht mehr nachgefragt werden. Die Innovationsschwächen Europas und die Unwilligkeit, ablösenden Strukturwandel konsequent zu vollziehen, wurden bereits angesprochen. Zweitens wächst oder schwindet Erwerbstätigkeit im Rhythmus der Konjunktur, durch eine Ausweitung oder Schrumpfung des Volumens der kaufkräftigen Nachfrage im Rahmen bestehender Produktions- und Marktstrukturen. Die Unterscheidung von Erstens und Zweitens ist analytisch. In Wirklichkeit realisieren sich beide Aspekte zugleich, allerdings nicht gleichermaßen. Soll das Angebot gesteigert werden, oder steigt die Nachfrage, muss die Produktion wachsen. Unter Produktion ist hierbei auch die Erbringung aller Arten von Dienstleistungen zu verstehen. Es müssen vorhandene ArbeitsleistungsKapazitäten besser ausgenutzt oder ausgeweitet oder neue geschaffen werden. Die gesteigerte Anwendung der Kapazitäten kann ihrerseits, wiederum analytisch betrachtet, auf zweierlei Weise erfolgen- erstens durch technisch-organisatorische Rationalisierung der Arbeit sowie durch personelle Intensivierung der Arbeit (schneller, konzentrierter arbeiten), und zweitens durch Extensivierung der Arbeit, das heißt, durch mehr Arbeitsstunden oder mehr Beschäftigte. In Wirklichkeit geschieht auch hier beides zusammen. Gleich viele oder mehr Beschäftigte arbeiten rationeller und intensiver. Mithilfe dieser Kategorien kann man im Hinblick auf die zuvor beschriebene lohnpolitische Strategie der maximalen Humankapitalverzinsung sagen, dass diese zu positiven Ergebnissen filhren kann, das heißt, zu bestmöglicher Bezahlung der Beschäftigten und tendenzieller Vollbeschäftigung, wenn eine positive Strukturwandel- und Wachstumsdynamik sowie relativ geringe Grade der Rationalisierung und Intensivierung der Arbeit gegeben sind. Im Rückblick der letzten langen Welle scheint dies auf die 50er und 60er Jahre, die Zeit des Wirtschaftswunders, zugetroffen zu haben. Sobald aber annähernde Vollbeschäftigung, tendenzielle Saturierung alteingefilhrter Gütermärkte sowie fortgeschrittene Grade der Rationalisierung und Intensivierung der Arbeit bei Bestbezahlung erreicht werden, treten Probleme auf. Es machen sich zum Beispiel inflationäre Tendenzen in Form der LohnPreis-Spirale bemerkbar (60er bis 80er Jahre). Zugleich oder alternativ dazu wird die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften gedrosselt, denn der über die Maßen ausgeschöpfte Verteilungsspielraum lässt keine Mittel fiir zusätzliche Neueinsteilungen mehr übrig (70er bis 90er Jahre). Dies wiederum drückt Konjunktur und Wachstum unter ihr Potential. 4*

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Seit Mitte der 70er Jahre lässt sich ein hemmendes Zusammentreffen der genannten Faktoren feststellen. Die Rationalisierung und Intensivierung der alten, in ihrem Lebenszyklus fortgeschrittenen Produktionslinien lässt sich bestenfalls noch marginal steigern. Der ablösende Strukturwandel wurde verschleppt und blieb unbewältigt. Strukturinnovationen blieben unter ihren Möglichkeiten. Auch das konjunkturelle Wachstum blieb folglich gedämpft, die Beschäftigung suboptimal, die Arbeitslosigkeit steigend, mit jedem Konjunkturzyklus treppenförmig verfestigt (Abbildung 4 im Anhang). Die Arbeitslosenquote in der EU lag um 1995-2000 bei durchschnittlich 12 Prozent, streuend zwischen um 4 Prozent in Österreich und der Schweiz, um I 0 Prozent in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, und 22 Prozent in Spanien. Im Vergleich lag die Arbeitslosenquote in Nordamerika zuletzt nur noch bei 4,6 Prozent (nach knapp 8 noch 1992) und in Japan 2,5 Prozent. Von 100 Arbeitslosen sind in fast allen Ländern Europas 30-60 länger als ein Jahr ohne Erwerbstätigkeit In den USA und Japan kommen auf I 00 Arbeitslose nur I 0-15 Langzeitarbeitslose (OECD 1995). In der bisherigen Industriegeschichte gab es wiederholt vergleichbare Konstellationen struktureller Stagnation und verfestigter Arbeitslosigkeit - die 177080er Jahre, die 1830-40er Jahre, die 1870-80er Jahre, die 1920-30er Jahre. Früher wurde das Problem gelöst durch Verarmung infolge von Arbeitslosigkeit ohne Einkommensabsicherung, durch Preis- und Lohnsenkungen, gegebenenfalls bis zur Hungerlohngrenze, durch Bankrott von Kapitalbeständen und Vernichtung von Existenzen. Dadurch kam es zu einer Ausmerzung überlebter Strukturen und zu einer Neujustierung der Preis-Leistungs-Relationen, der Präferenzen, Erwartungen usw. Dies eröffuete neue Spielräume. Derartige Bereinigungen waren ökonomisch zweifellos wirkungsvoll, allerdings auch in sozialer und politischer Hinsicht, und zwar in extrem negativer Weise, sodass die industrietraditionale Epoche, die Epoche des Kapitalismus, auch die Epoche der Revolutionen, der Klassenkämpfe und Bürgerkriege, des Kommunismus und des Faschismus wurde. Wenn man nur abstrakt in Form einer MarktgleichgewichtsHeuristik denkt, gerät das leicht aus dem Blickfeld. Der Weg des sozusagen kurzen Prozesses der Marktbereinigung per Katastrophe ist heute versperrt. Der seit den Nachkriegsjahren verstärkt entfaltete Sozialetatismus beugt Verelendungs- und Ausbeutungsspiralen vor. Aber der Sozialetatismus und die Formen der korporativen Marktvermachtung verhindem zugleich nötige Umstellungen. Man muss sich fragen, ob an das jeweilige Zyklusende mit Schrecken nicht Schrecklichkeiten ohne Ende getreten sind. Strukturen werden zu wenig innovativ fortentwickelt, Lebensstil- und Berufspräferenzen zu wenig verändert, Löhne und Preise zu wenig neu angepasst, die Anspruchsspirale (revolution ofrising expectations) bleibt im Wesentlichen unkorrigiert. Der Korporatismus, besonders der Arbeitsmarktkorporatismus und der Sozialetatismus, machen die Strukturkrise chronisch und schaffen so auch Sozial- und Demokratieprobleme eigener Art. Die unvermeidliche Restrukturie-

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rung bricht sich erst subkutan, dann offen chaotisch und außerhalb jeder politischen Kontrolle Bahn, und damit auf umso unsolidarischere und ungerechtere Weise. Dies zu kritisieren, kann allerdings nicht heißen, zu den alten brutalen Hereinigungsmethoden zurückzukehren. Es geht darum, die Sozial- und Demokratieverträglichkeit des Strukturwandels künftig auf andere Weise zu gewährleisten. Dass es ft1r das Funktionieren des Arbeitsmarktes immer eine "industrielle Reservearmee" geben müsse, ist eine zweifelhafte These. Man mag bei ihr Zuflucht suchen, wenn man in sozialistischer Absicht erklären möchte, wie es zu Zeiten geschieht, dass bestimmte soziale Klassen sich auf Kosten anderer bereichern, oder wenn man in affirmativer Weise ungerechte Verteilungsverhältnisse legitimieren möchte. Dass es Arbeitslosigkeit dadurch gibt, dass bestimmte Gruppen ihre Einkommen auf Kosten anderer maximieren - nicht nur dadurch, aber auch dadurch, soweit es sich bei Beschäftigung um eine Verteilungsfrage handelt - wird hier keineswegs zurückgewiesen, sondern an dieser Stelle tatsächlich ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Es folgt dieser Sachverhalt jedoch keinem "Gesetz" und keinem Gleichgewichts-Prinzip, sondern einem wie auch immer kaschierten Interesse an Gewinnmaximierung, das heute ein gesellschaftlich verallgemeinertes ist, einem politischen Willen, der heute ein Mehrheitswille ist, und der zunehmende Verteilungs-Ungleichgewichte erzeugt und soziale Desintegration bewirkt. Es gibt im Prinzip keinen haltbaren Grund, warum nicht auch am Arbeitsmarkt, wie an jedem anderen Markt, ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage gefunden werden sollte. Ein solcher Marktausgleich schließt die so genannte natürliche Rate der Arbeitslosigkeit ein, also jene Arbeitslosigkeit, die entsteht durch vorübergehende Anpassungen im laufenden Strukturwandel und durch persönliche Mobilität auch darüber hinaus. Allerdings, mit der "Natürlichkeit" und den Naturgesetzen ist es in Wirtschaft und Gesellschaft so eine Sache. Es wäre besser, von einer unter den jeweils gegebenen Bedingungen unvermeidlichen Grundrate zu sprechen. Unter unwirklichen idealen Bedingungen würde die Grundrate der Arbeitslosigkeit gegen null tendieren. In einer wirklich freiheitlichen Gesellschaft und einer flexibel spezialisierten, anpassungsfiilligen Wirtschaft würde sie wohl nicht über 2 Prozent liegen. Aktuell als normal, wohl nach amerikanischem Maßstab, gilt eine Grundrate der Arbeitslosigkeit bei etwa 4 - 5 Prozent, keinesfalls jedoch bei 10 - 25 Prozent wie unter den heutigen Korporatismus- und Sozialstaatsbedingungen in Europa. Wenn man eine vollbeschäftigende Verteilung der Arbeit fordert, kann dies bei zunächst gegebenem Wirtschaftsprodukt nichts anderes bedeuten, als dass die Arbeitsplätze und deren Bruttoarbeitskosten auf mehr Personen aufgeteilt werden müssten. Unter anderem Aspekt betrachtet, würde die Intensität der Arbeit etwas nachlassen, ihre Extensivierung wieder etwas zunehmen. Zum Beispiel lagen die durchschnittlichen Bruttoarbeitskosten je Vollzeit-Arbeitsplatz in Deutschland 1996 vor Abzug aller Abgaben bei rund 85.000 Mark jährlich

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oder 7.071 Mark monatlich. Um die Erwerbsbevölkerung von 15 bis 65 Jahren unselbständig zu beschäftigen, dürfte das Durchschnittsniveau der Bruttoarbeitskosten pro Vollzeitbeschäftigtem aber nur 55.086 Markjährlich oder 4.590 Mark monatlich betragen. 1 Dies ist ein simples RechenexempeL In Wirklichkeit würden die Nettoeinkommen deutlich weniger als die Bruttokosten sinken, weil erheblich weniger Steuern und Abgaben zu zahlen wären, um die erheblich weniger gewordenen Nicht-Erwerbstätigen zu versorgen. Außerdem würde sich die Produktivität der Arbeit kaum proportional absenken, anders gesagt, das Gesamtprodukt und die Gesamtrentabilität bliebe nicht unverändert, sondern es käme zu gewissen Wachstumswirkungen und insoweit wieder zu mehr Beschäftigung oder mehr Einkommen. Die Neuverteilung müsste also umso weniger radikal ausfallen, je beschleunigter der Strukturwandel und damit Wachstum in neuen Bereichen in Gang kämen. Eingeschränkt werden die Möglichkeiten eines solchen hypothetischen Vorhabens durch die ungleichen Qualifikationen und den Qualifikationen-Mismatch. Unter spezialisierten Bedingungen kann nicht jeder jeden Platz einnehmen. Overmanning, also Leute filrs Zusehen zu bezahlen, bleibt unter allen Umständen unsinnig. Soweit Arbeitszeitverkürzungen involviert sein sollten, würde es eine volkswirtschaftlich untragbare Humankapitalbrache bedeuten, hoch qualifizierte Kräfte, deren Qualifizierung Jahrzehnte beanspruchte und sehr teuer war, nurmehr 20 Jahre lang Kurzzeit arbeiten lassen zu wollen. Neuverteilung von Arbeit ohne Strukturwandel und Wachstum ist somit eher in Richtung der geringeren Qualifikationen sowie in den Bereichen der Verwaltung und des Handwerks machbar - und dort fmden wildwüchsige Prozesse in diese Richtung auch statt, legal oder im Untergrund, zum Beispiel per geringfilgiger Randbeschäftigung oder per Schwarzarbeit. Für einen solidarisch geordneten Prozess in Richtung einer Redistribution der Arbeit und der Einkommen fehlt heute bei allen Beteiligten der politische Wille und die Akzeptanz. Die Arbeitnehmer fUrchten dauerhafte Einbußen. Die Arbeitgeber wollen keinen vermehrten Organisations- und Verwaltungsaufwand. Die Gewerkschaften widersetzen sich solchen Neuverteilungen aus Prin-

1 Den Zahlen liegt folgende vereinfachte Rechnung zugrunde: Auf die unselbständig Beschäftigten zu verteilen sind 70 Prozent des BIP in Höhe von 3.506.800 Tsd Mark im Jahr 1996. Es gab 25.265 Tsd Vollzeitbeschäftigte und 5.553 Tsd Teilzeitbeschäftigte, die zu 66 Prozent angerechnet werden. Dies ergibt rechnerisch 28.930 Tsd Vollzeitbeschäftigungen. Der Quotient beträgt 84.852 Mark je Vollzeitbeschäftigung. Die Bevölkerung von 15 - 65 Jahren zählt 55.703 Tsd Personen. Davon ein Abzug von 10 Prozent für Selbständige und 10 Prozent für Behinderte, sonst Erwerbsunflihige, Schüler und Studenten, verbleiben 44.562 Tsd unselbständig Erwerbstätige. Der Quotient beträgt dann 55.086 je Vollzeitbeschäftigung (Zahlen nach Arbeits- und Sozialstatistik 1997, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn).

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zip. Sie fordern Arbeitszeitverkürzung nicht etwa unter lnkaufuahme proportionaler Lohneinbußen, sondern bei voller Beibehaltung des bisherigen Lohnes. Die Gewerkschaften, wie auch transfersteigemde Sozialpolitiker, stützen sich dabei ökonomisch auf einen nachfragetheoretischen Ansatz, der in diesem Kontext jedoch zur Ideologie gerät. Höhere Löhne, so wird argumentiert, würden mehr Nachfrage bewirken, mehr Produktion und mehr Umsatz, also mehr Einkommen, und sich damit von alleine bezahlen. Ähnlich klingt auch die Ideologie der Supplysiders: Steuersatz-Senkungen würden mehr Ersparnisse und private Investitionen bewirken, damit mehr Wachstum, Beschäftigung und Einkommen, und so würden sich trotz Steuersatz-Senkung gleichbleibend hohe Steuereinnahmen ergeben. Zutreffend sind solche Erwartungen aber nur im Hinblick auf junge Wachstumsfelder oder konjunkturelle Brachlagen. Dagegen unter Bedingungen von blockiertem Strukturwandel, bei Vorherrschen von weitgehend saturierten Märkten sowie weit getriebener Rationalisierung und Arbeitsintensivierung in alten Bereichen, filhren Mehrkosten nicht zu Mehmachfrage, sondern zu mehr Verlusten und Konkursen oder zu noch mehr Arbeitsintensivierung und Ausschluss von Neu-Arbeitslosen. Die herkömmliche gewerkschaftliche Lohnpolitik zielt auf die höchstmögliche Lohnintensität des einzelnen Arbeitsplatzes. Dies ist freilich kein spezifisch gewerkschaftliches Verhalten, sondern ein in der utilitaristischen Wirtschaftsgesellschaft allgemein vorherrschendes Prinzip der egozentrischen Entgeltmaximierung. Man könnte dies Volkskapitalismus nennen. Lohnintensität des Arbeitsplatzes ist dabei nur ein anderes Wort fi1r Rentabilität des Arbeitsplatzesallerdings nicht fi1r den Arbeitgeber, sondern Arbeitsplatzrentabilität für den Arbeitnehmer. Der Begriff der Rentabilität wird nach herkömmlicher Betrachtung nur auf die Kapitalseite angewendet, als Kapitalrendite, als Gewinn pro eingesetztem Kapital. Es ist aber grundsätzlich nicht einzusehen, weshalb man nicht auch von einer Arbeitsrentabilität sprechen sollte, sinngemäß analog zur Kapitalrentabilität (siehe Kapitel "Eine postkapitalistische Sicht"). Wo die Gewerkschaften von Arbeitsproduktivität sprechen, geht es meist um Arbeitsrentabilität Produkt und Produktivität ergeben sich aus einer Produktions/unktion. Erlöse und Erträge ergeben sich aus einer Transaktionsfunktion. Gewinn und Rentabilität sind das Ergebnis einer Repartitionsfunktion, im Besonderen einer Einkommensverteilungsfunktion. (Zum Beispiel in Ostdeutschland ist die Produktivität inzwischen meist nicht mehr niedriger als in W estdeutschland, wohl aber die Rentabilität aufgrund geringerer Marktintegration, schlechterer Vermarktung und Preisrealisierung). Arbeitsproduktivität ist eine Voraussetzung der Arbeitsplatzrentabilität, aber Letztere ist keine Funktion der Ersteren, sondern eine Funktion der Verteilung des Unternehmensertrages nach Rang und Status, Einfluss und Macht. Dabei gilt, dass im gegebenen Moment eine Mark nur einmal ausgegeben werden kann. Was der Staat zu nehmen sich vorbehält, kann weder die Kapital- noch die Arbeits-Seite sich aneignen. Was entweder die Kapital-

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Seite oder die Arbeits-Seite sich aneignen, kann die jeweils andere Seite nicht mehr bekommen. Was die leitenden Angestellten nehmen, können die anderen Arbeitnehmer nicht mehr einnehmen, und was die gut positionierten Kernbeschäftigten nehmen, entgeht den einfachen Arbeitern und Randbeschäftigten. Diesen verbleibt der Rest. Den Arbeitslosen und Erwerbslosen zwischen 15 - 65 Jahren bleibt fiir ein Erwerbseinkommen nichts. Die maximale Lohnintensität der Arbeitsplätze, anders gesagt, die maximale Rentabilität der unselbständigen Arbeit, verfolgt die Gewerkschaft im willentlichen Interesse und mit offener oder stillschweigender Unterstützung der Beschäftigten. Es gibt keine politische Unschuld der Massen. Die Leute möchten maximal viel Geld haben. Dazu sind sie wohl oder übel bereit, eine eventuelle Intensivierung der Arbeit hinzunehmen, und meist gerne bereit, gut bezahlte Überstunden zu machen. Wenn Belegschaften Einkommenseinbußen in Kauf nehmen, dann anscheinend nur, weil der eigene Arbeitsplatz bedroht ist. Die Erwerbsinteressen anderer liegen nicht im Blickfeld. Die Sache beruht auf rein utilitärer Eigennützigkeit und hat mit Solidarität nichts zu tun, oder nur im Sinn einer defensiven betriebsgemeinschaftlichen Interessenkoalition. Dies soll keine Anklage sein, jedoch eine Klarstellung. Die zunehmende Rationalisierung von Arbeit hängt in erheblichem Maße mit dem industriellen Lebenszyklus von Technologien und Produktionszweigen zusammen. Vorangetrieben werden diese Lebenszyklen auch durch GewinnWettbewerb, aber den Akteuren teilt sich dieses indirekt über technische Sachzwänge mit. Dagegen die Intensivierung der Arbeit, zumal beim Gros der Verwaltungstätigkeiten und Dienstleistungen, folgt weniger einer solchen Zwangsläufigkeit. Sie verdankt sich direkt und überwiegend dem Motiv der Gewinnmaximierung. Arbeit wird knapp, wenn und weil in der verallgemeinert kapitalistischen Arbeitsgesellschaft die Erwerbstätigen maximal viel Einkommen ftir sich reserviert haben wollen, ungeachtet der Wettbewerbs- und Ertragslage. Dies ist nicht "objektiv" vorgegeben, sondern Ergebnis von ökonomischem Eigeninteresse und politischem Willen. Die These der technologischen Arbeitslosigkeit, wonach der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe, weil die Arbeit wegrationalisiert werde, ist wenig mehr als eine einfllltige Mutmaßung. e) Sozialer Ausgleich durch Tarifpolitik?

Verschiedene Unternehmen weisen eine verschiedene Produktivität auf und erzielen verschiedene Rentabilität - Groß-, Mittel- und Kleinunternehmen in den verschiedenen Branchen des produzierenden Gewerbes, des Handwerks und verschiedenster Dienstleistungen, in zentralen oder peripheren Wirtschaftsräumen, in stark wettbewerbsexponierten Bereichen oder in abgeschirmten Sektoren. Eine Tarifpolitik der Lohnmaximierung bedeutet, sich an den Akteuren mit der höchsten Rentabilität zu orientieren. Selbst wenn die durchschnittliche industrielle Produktivität und Rentabilität vergleichsweise hoch ausflillt, heißt

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dies bei steigender Produktivitäts- und Rentabilitätsvarianz quer durch die Wirtschaft doch auch, dass Produktivität und Rentabilität in vielen Branchen und Betrieben nicht hoch genug ausfallen, um die extrem lohnintensiven Arbeitsplätze der Großindustrie auch anderswo in genügender Vielzahl zu erwirtschaften. Immerhin arbeiten die meisten Beschäftigten in Klein- und Mittelunternehmen. Diese stellen den Löwenanteil der Arbeitsplätze, nämlich zwei Drittel (66% der Arbeitsplätze in Unternehmen bis 500 Beschäftigte, davon 34% in Unternehmen bis 20 Beschäftigte). Vielen der kleinen und mittleren Unternehmen, speziell im Dienstleistungsbereich, wie inzwischen auch dem öffentlichen Dienst, fehlen einfach die nötigen Einnahmen, um sich auf dem hohen Lohnund Abgabenniveau und bei den sonstigen teuren arbeits- und sozialrechtlichen Arbeitgeberpflichten die Beschäftigten zu leisten, die sie gut gebrauchen könnten. In Anbetracht der erheblichen Unterschiede der wirtschaftlichen Lage der einzelnen Unternehmen muss eine Tarifpolitik, die sich einseitig an den Möglichkeiten der hoch produktiven groBindustriellen Zentren orientiert, fiir alle anderen weniger starken Bereiche nachteilige Wirkungen mit sich bringen. Es ist sehr zu bezweifeln, dass industrietraditionale Lohnarbeitsverhältnisse mit rigiden Einkommenstarifen den vielfliltigen Strukturwandel-Herausforderungen angemessen begegnen können. Eine weitergehende Modernisierung ist heute ohne betriebsnahe, ergebnisorientierte und auch sonst flexible Arbeitsgestaltung und Lohnpolitik nicht vorstellbar. Wenn man unter zunehmend differenzierten Wirtschaftsbedingungen eine entsprechend differenziertere und flexiblere Entlohnung nicht zulässt, dann blockiert man damit Produktions-, Wachstums- und Beschäftigungspotentiale, die eigentlich vorhanden sind, aber aus Kostengründen nicht realisiert werden. Man schafft so jene soziale Polarisierung zwischen Kern- und Randgruppen, die mit der rigiden Lohnpolitik unter sozialer Scheingloriole angeblich verhindert werden soll. Anders gesagt, wer internale Differenzierung im nötigen Maße verweigert, ruft damit externale Spaltung hervor. Rhetorisch zwar besteht das Anliegen der Gewerkschaften darin, filr Ausgleich zu sorgen. Um jedoch einen echten Ausgleich zu begründen, müsste man - über mehrere Aggregatebenen differenzierend - einen übergeordneten Standpunkt der Gesamtproduktivität und Gesamtrentabilität einnehmen. Betreffende Orientierungsmarken müssten naturgemäß "in der Mitte" liegen, keinesfalls am oberen Rand, schon gar nicht am unteren. Dies wäre im Ansatz stimmig, würde allzu gravierenden Verteilungsungerechtigkeiten vorbeugen, und wäre nicht zuletzt auch funktional richtig, denn ein gelingender Ausgleich würde das Wirtschaftswachstum befl>rdern und käme allen zugute (siehe Abschnitt "Wachstum, Ungleichheit und Beschäftigung"). In Wirklichkeit jedoch ist eine ausgleichende Verteilung von Erwerbsgelegenheiten auf absehbare Zeit schwerlich vorstellbar, weil heute Ertrag (Rentabilität, Einkommen) und Verdienst (Produktivität, Arbeitsleistung) miteinander verwechselt werden. Wer viel ein-

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nimmt, meint selbstverständlich, er habe das auch verdient und wertäquivalente Arbeit dailir geleistet. Wer weniger verdient, habe eben weniger geleistet. Dies ist die Reduktion des realisierten Preises auf Produktivität. Die ökonomische Theorie befindet sich diesbezüglich in einem ambivalenten Übergangsstadium. Sie hat Arbeitswertlehren zwar schon ad acta gelegt, aber an einer starken Produktwertlehre oder Produktivitätstheorie hält sie unverändert fest. Dass ökonomische Wertlehren, die etwas anderes sein wollen als transaktive Preistheorie, grundsätzlich alchimistischer Art sind, ist nach wie vor keine einhellig geteilte Auffassung. In umgekehrter Richtung gibt es auch die Reduktion der Produktivität auf den marktrealisierten Preis. In extremistischer Ausprägung fmdet sich dieser Standpunkt zum Beispiel bei Hayek (1971, 105ff.). Er leugnet rundheraus, dass es ein Verteilungs- und Gerechtigkeitsproblem überhaupt gibt, weil der Markt alleine rational über Verdienst oder Nicht-Verdienst entscheide. Entstehende oder nicht-entstehende Markteinkommen gelten per se als richtig und gerecht. Das Marktergebnis wird zu einem säkularisierten Gottesurteil. Es gibt kaum einen anderen Aspekt, wo der industrietraditionale Liberalismus in so eklatanter Weise die Freiheit menschlichen Willens, Handeins und Gewissens zerstört. Unter den wirklichen Bedingungen der vielfliltigen korporativen Marktvermachtung ist die Hayek'sche Position in diesem Punkt ohnedies nur aufbestürzende Weise weltfremd. Selbst wenn es modellideale Marktbedingungen gäbe, wäre ein solcher Standpunkt nicht haltbar, weil es stets eine Reihe von öffentlichen und sozialen Einkommen zu gewährleisten gibt, die der Markt nicht vermitteln kann, sowie eine Reihe von Leistungen, die der Markt nicht vermitteln soll, zum Beispiel Ämterhandel, gekaufte Rechtsbeugung, sonstige Formen der Bestechung und Korruption, Drogenhandel, und andere gesellschaftlich als ungut und unrecht empfundene Handlungen. Dessen ungeachtet ist eine ausgleichende Verteilung von Erwerbsarbeit (interpositional, intersektoral, und interregional) auf rationale Weise heute deshalb nicht darstellbar, weil es dailir keine arbeitsmarktpolitischen Institutionen und Methoden gibt. In gewisser Weise findet ein "sozialer Ausgleich" heute von Staats wegen sekundär statt, klientelistisch nach wahlpolitischer Opportunität durch Sozialpolitik und faktische Industriepolitik, die meist Strukturkonservierungspolitik ist. Dieser "Ausgleich" stiftet im Ergebnis mehr sozialspalterischen Schaden als sozialintegrativen Nutzen. Ein stimmiger sozialer Ausgleich muss primär, am Arbeitsmarkt und im Erwerbsleben stattfinden, und ist demgemäß eine Aufgabe der Tarifpartner, wie immer diese institutionalisiert sein mögen. Die gewerkschaftlich geprägte Sozialpartnerschaft in ihrer heutigen Form ist in den meisten europäischen Ländern zum einen zu rigide in ihrer Tarifgestaltung, und zum anderen generell zu schwach, und auf Gesamtebene zu unelaboriert und zu unkoordiniert, um einen umsichtigen Ausgleich von Erwerbsgelegenheiten herbeizuftlhren. Hätten die Gewerkschaften allerdings die dazu nötige Macht, wäre die Beilirchtung wohl nicht unbegründet, sie würden in

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eine bürokratische Planverteilungswirtschaft verfallen mit der Folge falscher Marktsignale und einer allgemeinen Fehlzuteilung von Ressourcen. Auch ist der Verteilungskampf zwischen Arbeit und Kapital, obschon historisch abnehmend, immer noch zu virulent. Ein wirksamer sozialer Ausgleich würde ein Maß an Kooperations- und Konsensflihigkeit zwischen Kapital und Arbeit voraussetzen, das auch heute, ein halbes Jahrhundert nach der praktischen Begründung der sozialen Marktwirtschaft, nicht erwartet werden kann in Anbetracht der mehrheitlich noch immer sehr divergenten Interessen beider Seiten. So bleibt es vorerst bei der Sozialpartnerschaft als Kontrahentenschaft, beim gewinnmaximierenden Machtkampf beider Seiten. Der gewinnmaximierende Machtkampf fmdet außerdem innerhalb beider Seiten statt. Dieneuere Korporatismus-Problematik war ja zunächst die der industriellen Trusts und Monopole, und die der Großbanken. Die Kartellbehörden stehen heute vor dem Problem, dass nationale Macht und Größe international eine kleine Nummer sein kann, und dass umgekehrt der internationale Wettbewerb im Zuge der Globalisierung zum Vorwand ftlr nationale Marktvermachtung wird. Zum Beispiel ist die "Japan AG" keine bloße Metapher. Keiretsu industrielle Konglomerate mit jeweils einer Großbank im Zentrum - sind eine Art von kapitalistischem Kombinat, mit einem weitreichenden Geflecht von direkt und einseitig von ihnen abhängigen mittelständischen und kleinunternehmerischen Zulieferern. Auch wenn keine gleichschalterische Gewalt im Spiel ist, so besteht doch ein sanfter bis unsanfter Druck zur Gleichausrichtung. Binnenwirtschaftlich bestimmt nicht der Markt, was die Konzerne und Großbanken tun, sondern die Konzerne und Großbanken sind der Markt, zumindest sind sie die maßgeblichen Marktmacher. Sie kalkulieren und setzen die binnenwirtschaftlichen Termsoftrade in ihrem Interesse. t) Arbeitsmarktsegregation und soziale Spaltung

Die Maximierung der Einkommen hat unter den Bedingungen der korporativen Marktvermachtung zur Folge, dass die Einkommen verdrängend wirken, das heißt, dass sie Investitionen verringern, Beschäftigung dämpfen, Unternehmenswachstum drosseln bis abtreiben, lnsolvenzen und Schulden erhöhen u.ä., weil sie das Preisgefilge auf allen Märkten differenziell nach oben verzerren und damit überhöhen. (Schädliche "Differential-Effekte auf einzelne Preise" hat sogar Hayek 1977, 68f., eingeräumt). Je ungleicher Marktteilnehmer in ökonomischer und politischer Hinsicht sind, desto ausgeprägter wird die dadurch eintretende Marktvermachtung, und umso mehr wird nicht die Marktmacht von der Rentabilität bestimmt, sondern die Rentabilität von der Marktmacht Zu kurz kommen nicht unbedingt die Faulen und Unnützen, aber die Machtlosen. Wohlhabend werden nicht unbedingt die Fleißigen und Cleveren, aber die Mächtigen.

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Die maximierte Bruttolohnintensität der Arbeitsplätze, unter Orientierung an den Arbeitsentgelten der rentabelsten Bereiche, baut eine entsprechend steigende Beschäftigungsschwelle auf, eine Lohnkosten-Eintrittsschwelle zum Arbeitsmarkt. Der Preis, den Arbeitgeber fiir Einstellung zusätzlicher Beschäftigter zu zahlen haben, verursacht Kostensprünge im BetriebskalküL Dies gilt nicht nur fiir randbeschäftigte und arbeitslose Arbeitnehmer. Es gilt sinngemäß auch fiir viele selbständige Existenzen und neu nachwachsende Unternehmen, die aufgrund überhoher Fremdkapitalabhängigkeit und Kapitalkosten, überhoher Personalkosten, überhoher Mietkosten, und anderen differenziell überhöhten Preisniveaus nicht ins Leben treten oder nicht heranwachsen können. Wenn dann bei angespannt hohem Preis der Arbeit verschiedene Sektoren der Wirtschaft stagnieren oder schrumpfen (80er und 90er Jahre), und wenn in diese kontraktive Bewegung hinein eine maximierende oder maximal besitzstandskonservierende Lohnpolitik weitergefahren wird, kommt es nicht mehr nur zu Nicht-Neueinstellungen, sondern auch zu einem stärkeren Rationalisierungs- und Intensivierungsdruck, zu mehr Entlassungen als bei einer anderen Lohnpolitik nötig wären, sowie nicht zuletzt zu ungewollten Randbeschäftigungen (Teilzeit-, Interims- und Gelegenheitsarbeit, geringfilgige Beschäftigungen), ungewollt in dem Sinne, dass diese Nicht-Normalarbeitsverhältnisse weit über das Maß hinausgehen, das von Müttern, Hausfrauen, Studierenden und Rentnern gewollt wird. Der Trend zur Randbeschäftigung hat um 1980 herum eingesetzt. In der Statistik müsste sich ein solcher Trend in sinkenden Beschäftigungsquoten niederschlagen, denn unbezweifelbar gestiegen sind die Bildungsbeteiligung der Jugend, die Frühverrentung der Älteren sowie die Arbeitslosigkeit der Jugend und der Mitteljährigen. Die Statistik weist sinkende Beschäftigungsquoten jedoch nicht aus. Lediglich zeigt sich der Anstieg der geringfilgigen und der teilzeitlichen Arbeitsverhältnisse gegenüber den Vollzeitbeschäftigungen. Dies hat seine Ursache bisher darin gehabt, dass die Erwerbsquote der Frauen früher unterrepräsentiert war und in den zurückliegenden Jahrzehnten stark aufgeholt hat. (In den Ländern mit sozialistischer Vergangenheit besteht insofern eine andere Lage, als dort Frauen weitgehend ins Erwerbsleben eingebunden waren). Die Frauen drängen ins Erwerbsleben, lieber Vollzeit als Teilzeit Die Männer demgegenüber denken nicht daran, ihre qualifizierten und geschützten Kernpositionen zu räumen, schon gar nicht, sich als Hausmänner, Kinderbetreuer, Alten- und Krankenpfleger bei der unbezahlten Eigenarbeit des Haushaltes und der Nachbarschaft nützlich zu machen. Hieraus ist ein veritabler Geschlechterkampf entstanden. Sein Zentrum liegt im Berufs- und Erwerbsleben. Mit Partnerschaft im eigentlichen Wortsinn hat das so viel zu tun wie die Sozialpartnerschaft der Tarifkontrahenten. Arbeitsund Scheidungsgerichte können Auskunft geben. Die Gewinner dieses Kampfes sind die meisten der Frauen, Verlierer dagegen nicht so sehr die meisten Männer, die sich sehr wohl zu behaupten wissen, als vielmehr eine jeweilige

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Minderheit von unqualifizierten und unbeholfenen Männern und Frauen, und außerdem die Jugendlichen und die Älteren beiderlei Geschlechts. Der Zustrom von zunehmend besser qualifizierten Frauen vollzieht sich geschlechterkampfbedingt gegen Abdrängung von Randbeschäftigten, Arbeitslosen, darunter überdurchschnittlich vielen jugendlichen Arbeitslosen, langzeitverschulten Jugendlichen und frühverrenteten Älteren. Es ist unschwer vorauszusehen, wie die so angelegten Verteilungskonflikte sich fortsetzen: als Generationenkampf zwischen den Alten und den Jungen. Die industrietraditionale gewerkschaftliche Tarifpolitik, zusammen mit den Umwälzungen im Geschlechterverhältnis und den vermehrten Ein-Person-Haushalten, fUhren im Ergebnis zu einer strukturellen Segregation zwischen den gut gestellten und geschützten Normalarbeitnehmern der Kernbelegschaften und einer disparaten Zahl von Randbeschäftigten in weniger geschützten, prekären, von wiederholter Arbeitslosigkeit bedrohten Positionen, sowie schließlich den vollends marginalisierten Erwerbslosen und Langzeitarbeitslosen. Beschäftigungschancen für diese Gruppen entstünden hypothetisch erst wieder infolge eines Wirtschaftswachstumsschubes in Verbindung mit einer allgemein geringeren Arbeitsintensität und Arbeitsplatzrentabilität Wenn aber die Gewerkschaften, und auch die meisten unorganisierten Arbeitnehmer, im Sinn ihrer maximalen Rentabilitätsziele erfolgreich und in der Lage sind, ihre industrietraditionale, aus dem Klassenkampf hervorgegangene Lohnpolitik über alle Zyklusphasen hinweg durchzuhalten, dann wird weder ein sonderlich ausgeprägtes Wirtschaftswachstum eintreten noch wird es zu zahlreichen Neueinsteilungen kommen, weil die verteilbaren Mittel von den kernbeschäftigten Platzhaltern sofort zu ihren eigenen Gunsten realisiert werden. Die korporative Tarifpartnerschaft mit flächendeckenden herkömmlichen Tarifverträgen, gerade wenn und weil sie funktioniert, schafft und betätigt einen Mechanismus der sozialen Polarisierung, einen Mechanismus der extemalen Spaltung der unselbständigen Erwerbsbevölkerung. Es kommt zur Konstituierung und fortgesetzten Vorteilnahme von Kernbeschäftigten auf Kosten einer wachsenden Vielzahl von Randbeschäftigten und Unbeschäftigten. Die kumulative Steigerung der Arbeitslosigkeit seit Mitte der 60er Jahre (Abbildung 4 im Anhang) ist ohne Zweifel auf den Mechanismus der extemalen Spaltung durch korporative Arbeitsmarktvermachtung hauptursächlich zurückzufilhren, zumal aufgrund der Verstärkung dieses Mechanismus durch die im nächsten Abschnitt dargelegte, vom Staat in die Höhe getriebene Abgaben-Einkommens-Spirale. Mit dem Virulentwerden der Globalisierung hat sich die externale Arbeitsmarktspaltung in Europa zuletzt verschärft. Denn wird dem Lohnverfallsdruck, dem speziell geringer Qualifizierte ausgesetzt sind, vorgebeugt durch rigide Tarifeingruppierungen, und werden insbesondere gesetzliche oder tarifliche Mindestlöhne vorgegeben auf dem Niveau von 70 - 80 Prozent der Durch-

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schnittslöhne, so wird die Arbeitslosigkeit der geringer Qualifizierten umso mehr ansteigen, und Teile der konkurrenzfllhigen billigeren Produktion bahnen sich ihren Weg in den Untergrund. Die Wirtschaft insgesamt aber ergreift richtigerweise die Flucht nach vorn in Richtung auf noch modernere Produktionen, was die Beschäftigung und die Einkommen der berufserfahrenen Fachkräfte und Spezialisierten steigen lässt. Daraus ergeben sich wachsende Spreizungen der Realeinkommen nach oben zusammen mit weiteren Phänomenen der sozialen Polarisierung. Unternehmer und Kapitaleigner betrachten eine maximale Rendite schon immer als ihr gutes Recht. Das Maximierungsstreben aller Beteiligten resultiert in einer Art von stabilem Patt. Die korporativ geprägte Einkommensverteilung zwischen Kapital und Arbeit hat sich seit Jahrzehnten nicht geändert. Die Primärverteilung des Volkseinkommens zwischen unselbständiger Arbeit einerseits und selbständiger Tätigkeit sowie Vermögenseinkünften andererseits ist seit den 50er Jahren von knapp 60 : 40 aufheute etwas über 70 : 30 angestiegen. Dieser Anstieg ist auf die Zunahme der Unselbständigen und den Rückgang der Selbständigen zurückzufiihren. Um diesen Effekt bereinigt, bewegte sich das Verhältnis auch im Rückblick in etwa gleichbleibend um das bemerkenswert stabile Verteilungsverhältnis von 70 : 30, ± 3 Prozentpunkte (siehe Abbildung 1). Jedoch weisen die Verteilungsverhältnisse innerhalb beider Seiten eine erhebliche Veränderungsdynamik auf. Auf der Seite des "Kapitals" - das sind die Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit und aus Vermögen- ist seit 1980 der Anteil der Zinseinkünfte von 15 auf35 Prozent gestiegen (Bundestags-Drucksache 13/2406, 1996). Das heißt, die Bedeutung des Unternehmertums, der Freiberuflichkeit und überhaupt der beruflichen Selbständigkeit ist relativ rückläufig, während Zinseinkünfte aus Geldanlagen-früher polemisch "Couponschneiderei", heute habenstolz "Shareholder value" genannt- sich wieder auf dem Vormarsch befmden. Wären die Vermögen leidlich statusproportional verteilt, hätte dies auch sein Positives im Sinne der allgemeinen Fähigkeit zur Eigenvorsorge. Aber die neuerlich kumulierten beträchtlichen Vermögen konzentrieren sich wie in der bisherigen Geschichte erneut ausgeprägt und selbstverstärkend zu den oberen Schichten hin (IPPR 1994, DIW 1995). Allerdings sind es heute nicht mehr Fabrikanten mit Zigarre und Zylinderhut, die den Löwenanteil der Dividenden und Zinsen einstreichen. Es handelt sich vielmehr um die gehobenen und höheren Schichten der Arbeitnehmer, insbesondere die professionellen Fachkräfte und die leitenden Angestellten, das Establishment der oberen drei bis vier Ebenen, sowie um den Banken- und Versicherungssektor als solchen mit diversifizierter Nutznießerschaft. Die kleinen Selbständigen und die mittleren bis einfachen Arbeitnehmer sind im Vergleich dazu nur in geringem Maße vermögend.

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Lohnquote 1 langfristig stabil 65-75%

Kapitalquote 2 langfristig stabil 25-35%

B

c Staatsquote 3

1 Lohnquote

= Bruttoeinkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit

2 Kapitalquote

=

3 Staatsquote

= Ausgaben der öffentlichen Haushalte

Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Kapitaleinkünften (Zinsen, Dividenden u.ä.) und Sozialversicherungsträger

A = Staatsverbrauch, Subventionen und Sozialeinkommen "' B =Nettoeinkommen aus unselbständiger Arbeit "'

32% ±X

C =Nettoeinkommen aus selbständiger Tätigkeit + Nettovermögenseinkünfte "' 13% ±X

Abb. 1: Primäre und sekundäre Verteilung

SS% ±X

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Auf Seiten der Lohnquote ist wesentlich, dass die Arbeitnehmer unter sich weniger denn je eine homogene Interessengruppe darstellen. Die Eliten von heute sind formal Arbeitnehmer, unselbständige Erwerbstätige. Die meisten von ihnen denken allerdings nicht daran, einer Gewerkschaft beizutreten. James Burnhams These vom kommenden "Regime der Manager" oder Bruno Rizzis These vom "bürokratischen Kollektivismus" aus den 30er Jahren sind ohne Abstriche eingetroffen, und dies nicht nur im real nicht mehr existierenden Sozialismus. Unternehmerpersönlichkeiten, im Sinne von Sombart und Schumpeter, sind eine rare Nostalgie-Spezies. Die übergroße Mehrheit der Entscheidungsträger sind Funktionäre in Korporationen: Partei- und Verwaltungsfunktionäre, Wissenschaftsfunktionäre, Gewerkschaftsfunktionäre, Wirtschaftsverbandsfunktionäre, nicht zuletzt die unternehmenskorporativen Funktionäre, die Manager in Industrie, Handel und Banken - also Vorstände, Werksleiter, Gebiets- und Bereichsleiter, Direktoren, Geschäftsftlhrer u.ä. Die Angehörigen der Funktionseliten sind meist fähige und fleißige Menschen. Zweifellos stehen sie unter besonderem Performance-Druck. Und sie sind heute auch die entscheidenden Allokatoren und Distributoren, die eigentlichen Primärverteiler, ehe die Kapitaleigner und Gewerkschaften, und auf dem Nachfrageweg die mittleren und kleinen Selbständigen zum Zuge kommen. Der utilitaristischen Bereicherungslogik zufolge würde man die Führungskräfte wahrscheinlich nicht ernst nehmen, jedenfalls würden sie selbst sich nicht ernst nehmen, würden sie kein Renditevorrecht beanspruchen und dieses nicht durch ihre Allokations- und Verteilungsmacht einlösen. Die Managereinkommen, sei es in Form von Arbeitsentgelten oder in Form von Kapitalbeteiligungen, haben in allen Industrieländern in den zurückliegenden zwei bis drei Jahrzehnten eine starke Aufspreizung nach oben zurückgelegt, extrem in den USA, aber auch überall sonst (Woodall 1996, 24, Thurow 1996, Levy/Mumane 1992). (Auch die Durchschnittseinkommen der Selbständigen haben überproportional zugelegt. DIW 1995, 357). Die Vermögenskonzentration und die Einkommens-Aufspreizung nach oben ziehen ihrerseits eine differenzielle Verschiebung von Preisniveaus spezieller Preisgruppen nach sich. Man kann dies differenzielle Inflation nennen. Dem reinen Prinzip nach wird Inflation als ein allgemeiner proportionaler Anstieg aller Preise defmiert, also ohne Veränderung der Preisrelationen. In Wirklichkeit sind jegliche Prozesse der Inflation, Disinflation und Deflation differenziell. Bestimmte Einzelpreise steigen oder fallen stärker als andere. Sie tun dies aufgrund von Aufspaltungen der effektiven Kaufkraftparitäten infolge veränderter Einkommensrelationen. Mit dem Kaufkräftigwerden der verändert proportionierten Einkommen verändern sich die Preisrelationen. Je ausgeprägter die Differenzial-Effekte bei einzelnen Preisgruppen sind, desto mehr werden bestimmte Einkommensschichten im Hinblick auf bestimmte Güter und Dienste privilegiert, andere deklassiert. Dies gilt im Prinzip filr alle in Frage kommen-

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den Güter und Dienste. Besonders ausgeprägt gilt es am Immobilien- und Wohnungsmarkt. Denn Immobilien dienen nicht nur ihrer Nutzung, sondern zugleich der Vermögensbildung, der Sachkapitalbildung in Erwartung einer Wertsteigerung, auch als Ersatz filr Geld und Gold, die als Thesaurierungsmedien nicht mehr viel taugen. Wie immer die Lohn-Binnenverteilung zwischen den Funktionseliten (leitenden Angestellten) und den Normalarbeitnehmern ausflUlt, beider Arbeitsentgelte zusammen bedeuten, dass die rund 70 Prozent des Volkseinkommens, die in den zurückliegenden Jahrzehnten auf die Lohnquote entfallen sind, zunehmend korporativ bevorteilten Gruppen zugute kommen und benachteiligten Gruppen vorenthalten bleiben. Die Bevorteilten sind die übertariflich bezahlten leitenden Angestellten sowie die korporativ geschützten Kernbelegschaften. Die Benachteiligten sind die in Randlagen abgedrängten Gruppen - die nur teilintegriert und prekär Beschäftigten, Arbeitslose, und Erwerbslose in Ausweichrollen. In den USA, ähnlich auch in Großbritannien, hat abweichend zu den übrigen Industrieländern eine Entwicklung stattgefunden, die man als internale Spaltung bezeichnen kann. Zwischen mittleren und unteren Einkommen entstand eine Kluft, indem, im Gegenzug zum Take-Off der Reichen, die Realeinkommen der gering Qualifizierten kräftig down under gedrückt wurden (Freeman 1996, Thurow l996a+b). Dies ist dem Nichtvorhandensein oder Nichtmehrfunktionieren von gewerkschaftlicher Tarifpolitik oder anderen LohnfmdungsInstitutionen zuzuschreiben (Freeman 1996b). Der Vorzug einer solchen unsozialen Traufe mag darin liegen, dass wieder mehr Personen beschäftigt werden statt arbeitslos zu bleiben. Die Kehrseite besteht darin, dass diese Beschäftigten meist zu "working poor" werden. Ihre Niedriglöhne müssen durch Sozialeinkommen bezuschusst werden. In den USA geschieht dies durch ein Schema namens Eamed Income Tax Credit EITC. Im Zusammenhang mit der Darlegung des Grundeinkommens-Schemas wird darauf noch näher einzugehen sein. In Anbetracht der hoch entwickelten Produktions- und Handlungskapazitäten bräuchte es relative Verarmung und Massenarbeitslosigkeit nirgends zu geben. Armut im Wohlstand untergräbt die Legitimität der Industriegesellschaft, ebenso wie Massenarbeitslosigkeit ihre Legitimität als Arbeits- und Leistungsgesellschaft untergräbt. Einige wenige Arme, Arbeitslose, Marginalisierte oder Aussteiger, Menschen in desintegrierten sozialen Lagen, wird es in geringer Größenordnung wohl immer geben. Aber schon 5 - I 0 Prozent bilden eine kritische Masse an Disfunktionalität, und ab I 0 - 25 und mehr Prozent, also als massenhafte Erscheinung, ist Arbeitslosigkeit in einer entwickelten Industriegesellschaft einfach nur ein Skandal, Ausdruck eines moralischen und fachlichen Kompetenzdefizits, und Ausdruck unzureichender Checks and Balances der Machtverteilung in der Gesellschaft.

5 Huber

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II. Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

4. Wachstum, Ungleichheit und Beschäftigung Es gibt neuere empirische Befunde zu den Zusammenhängen zwischen Lohngefüge, Beschäftigung und Wachstum. Zum einen hat Beachtung gefunden, sehr zur Irritation des post-sozialistischen Denkens, dass Länder mit mehr sozialer Gleichheit eine bessere Produktivität, Rentabilität und kräftigeres Wachstum zeigen als Länder mit größerer Ungleichheit (Abbildung 5 im Anhang). Als relativ selbstverständlich erscheint der Sachverhalt, dass in Phasen der Wirtschaftsschrumpfung die soziale Ungleichheit zunimmt (Abbildung 6 im Anhang). Schrumpfung bedeutet allgemeine Realeinkommenseinbußen, wobei· die korporativen und sozialetatistischen Markt- und Machtstrukturen bewirken, dass die besser positionierten Gruppen ihre Realeinkommen gegen Anfechtungen besser schützen können als andere. Weniger selbstverständlich ist die im Prinzip gleich lautende Aussage, dass Wachstum als solches recht "soziale" Folgen hat. Denn Wachstum fUhrt normalerweise zu einer allgemeinen Realeinkommensverbesserung und Angleichung der Einkommen. Der Realeinkommenszuwachs für die untere Einkommensschicht (unteres Fünftel) fiillt überproportional aus, während der Zuwachs für die obere Einkommensschicht (oberes Fünftel) durchschnittlich bleibt (Deininger/Squire 1996, 587). Ausnahmen von dieser Regel haben mit spezifischen Sondersituationen zu tun, zum Beispiel mit heftigem Strukturwandel oder mit verstockten Formen der Klassenherrschaft. Zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum wurde statistisch ein derart ausgeprägter negativer Zusammenhang ermittelt, dass die Autoren sich zu der Aussage berechtigt fühlten, Ungleichheit sei schädlich ftlr Wachstum (Persson/ Tabellini 1992, 1994). Die Schädlichkeit wird allerdings nicht direkt in der Ungleichheit gesehen, sondern indirekt, indem die Ungleichheit staatliche Interventionen auslöst, welche die Verfügung über Erträge, Einkommen und Ersparnisse beschneidet, was wiederum Investitionen herabdrückt. Der Befund gilt insoweit für die fortgeschrittenen Industriestaaten, oder anders gesagt, ftlr industrietraditionale Länder mit sozialstaatlicher Umverteilungspolitik (Persson/Tabellini 1992). Auch andere Studien bestätigen den Zusammenhang, nennen jedoch ganz direkte Ungleichheitsursachen. Länder mit einer hohen Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und Land, etwa in Lateinamerika mit einem Gini-Koeffizienten um 0,5, realisieren ein signifikant schwächeres Wachstum als Länder mit weniger Ungleichheit wie zum Beispiel in Ostasien mit einem Gini-Koeffizienten um 0,3 (Deutschland ebenfalls 0,3). Denn in Lateinamerika geht ein hohes Maß an Ungleichheit einher mit ausgeprägter Armut und mangelnder Schul- und Berufsausbildung in den Unterschichten. Die fehlende Ausbildung der Menschen schmälert das Produktionspotential, die Armut das Nachfragepotential. Ein anderer Grund besteht in einem erhöhten Maß an sozialem Unfrieden und politischer Instabilität aufgrund der krassen Klassengegensätze.

4. Wachstum, Ungleichheit und Beschäftigung

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Dies verringert die Bereitschaft, zu investieren und über Klassen- und Schichtgrenzen hinweg konstruktiv zusammenzuarbeiten. Beides setzt die Produktivität und Rentabilität herab (Perotti 1996, 173 ). Zum anderen, was lange bekannt ist, geht intemale Lohndifferenzierung mit Beschäftigung einher (Abbildung 7 im Anhang). Beide Korrelationen - die zwischen Gleichheit und Wachstum, und die zwischen Ungleichheit und Beschäftigung - scheinen einander zu widersprechen und einen Trade-Off zwischen Beschäftigung und Wachstum zu begründen, eine unliebsame Wahl zwischen beschäftigungsschwachem Wachstum oder wachstumsschwacher Beschäftigung. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Fehldeutung. Man wird zunächst nicht schief liegen, wenn man in der Korrelation zwischen Lohngleichheit und Wachstum einen Beleg sieht fUr Wachstumsgewinne durch sozialen Frieden und sozialpartnerschaftliehe Kooperation, und ebenso einen Beleg fUr die keynesianische Massenkaufkraft-Theorie nach Kaldor u.a. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der empirische Befund abhängt von der Entwicklungsstufe der betrachteten Länder. Ein Verhältnis von x : y zwischen den obersten und untersten Einkommensklassen bedeutet auf dem Kapazitätsniveau eines Entwicklungslandes tatsächlich, dass untere Klassen in Armut leben und keine Ausbildung erhalten. In einem wissenschaftlich-technisch fortgeschrittenen Land dagegen kann und sollte das gleiche Verhältnis x : y bedeuten, dass die unteren Schichten zwar einen entsprechend geringeren Lebensstandard als die oberen Schichten genießen, sie aber dennoch oberhalb der Armutsgrenze leben, sie eine Schul- und Berufsausbildung erlangen, und der soziale Frieden im Rahmen der allgemeinen Wohlstandsbedingungen besser gewahrt bleibt als unter Armutsbedingungen. Der fragliche Zusammenhang ist also niveauabhängig, das heißt, er gilt nicht auf jedem Niveau der Produktivität und der Einkommen in gleicher Weise. Und er ist abhängig von der Klassenstruktur betreffender Länder. Deren Nivellierung, Differenzierung oder Spaltung spielt eine defmitive Rolle. Das Feld lässt sich durch vier Idealtypen umreißen: 1. Apartheidsökonomie, charakterisiert durch wenige Reiche sowie wenige Gutverdiener im Mittelfeld, bei einem übergangslosen Abstand zum Gros der Geringverdiener nahe der Subsistenzgrenze und der Armen unterhalb derselben. Es besteht eine soziale Spaltung mit eher niedrig resultierendem Gesamtniveau. Beispiele hierfUr in den zurückliegenden Jahrzehnten waren Indien oder Südafrika. 2. Armutsökonomie, charakterisiert durch das Fehlen von Reichtum und einer ausgeprägten Mittelschicht, und das ausschließliche Vorhandensein von Niedrigstverdienem und Armen. Es besteht eine Nivellierung auf unterem Niveau. Beispiele liefern Entwicklungsländer, in denen Modemisierungsversuche bisher weitgehend fehlgeschlagen sind. 3. Vereinheitlichte Standardökonomie, charakterisiert durch eine breite Masse einfacher Mittelschichtslagen bei weitgehendem Nichtvorhandensein von Ar-

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mut und Reichtum. Es besteht eine Nivellierung auf mittelmäßigem, dabei stagnierendem bis fallendem Niveau. Eine Nivellierung nach oben wäre unrealistisch, schon alleine aufgrund der leistungs-demotivierenden Folgen einer Nivellierung. Beispiele hierftlr lieferten die realsozialistischen Länder bis zum Ende des Comecon. 4. Differenzierte Woh/standsökonomie, charakterisiert durch viele Gutverdiener in einfachen und mittleren Lagen, sowie nicht unerhebliche Schichten von Wohlhabenden und Reichen in gehobenen und höheren Lagen, bei weitgehendem Nichtvorhandensein von Armen unterhalb der Subsistenzgrenze. Es besteht eine deutliche, kontinuierlich abgestufte, jedoch nicht extrem gespreizte Einkommens-Differenzierung auf resultierendem hohem Gesamtniveau. Beispiele hierftir waren bis zum Aufbrechen der neuen Probleme ab den 70er Jahren die Länder Westeuropas, sowie Kanada, Neuseeland, Australien, ebenso Japan, mit Einschränkungen auch die USA. Die Typen der vereinheitlichten Standardökonomie und der differenzierten Wohlstandsökonomie gewährleisten die größere Massenkaufkraft. Zugleich impliziert der Typus der differenzierten Wohlstandsökonomie eine stärkere Leistungsmotivierung und ein höheres Wettbewerbs- und Produktivitätspotential, also WachstumspotentiaL In diesem Sinne wird die These eines Gleichklanges von Einkommensgleichheit und Wachstum zu präzisieren sein. Die Gleichheit von Minderbemittelten geht mit keinem Wachstum einher. Eine Nivellierung auf mittelmäßigem Niveau verringert mögliche Wachstumspotentiale (was im zitierten Befund beides nicht berücksichtigt ist). Andererseits werden durch die Spaltungen einer übermäßigen, nicht mehr integrierten Einkommensspreizung Wachstumspotentiale ebenfalls verringert oder blockiert (was der Befund berücksichtigt). Der erläuterte Zusammenhang besagt: Lohndifferenzierung fUhrt zu mehr Wachstum und Beschäftigung nur innerhalb eines mittleren gemäßigten Differenzierungs-Spektrums zwischen den Extremen der Nivellierung und Spaltung. Außerdem: Lohndifferenzierung bewirkt dies nur auf einem eher hohen als niedrigen Niveau der Produktivität und der Einkommen. Lohndifferenzierung darf also nicht zu einer Absenkung des allgemeinen Niveaus der Erwerbseinkommen und der verfilgbaren Haushaltseinkommen in der Breite fUhren. Wie jeder andere Parameter besitzt auch eine Lohndifferenzierung ihr Optimum. Es gibt Grenzen, jenseits derer Lohnnivellierung disfunktional wird, und Grenzen, jenseits derer sich Lohndifferenzierung negativ auswirkt. Unter Bedingungen großer Ungleichheit und trennender, nicht mobilitätsoffener Klassenspaltungen, die per se soziale Polarisierung bedeuten, überwiegt der wachstumshemmende Effekt der Einkommensdifferenzierung. Dagegen werden sich kontinuierlich abgestufte intemale Differenzierungen in einem mittleren Bereich ab einem gewissen Minimalniveau der Kapazitäten wie von selbst mit Wachstum verbinden, wobei das Wachstum bei der ausgeprägteren Differenzierung in

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einem höheren Gesamtniveau resultiert als bei der geringeren Differenzierung. Es ist also nicht Gleichheit gut für Wachstum, sondern eine optimale Ungleichheit, eine gut bemessene internale Differenzierung ohne spalterische Klassenschranken oder rigide Ständebarrieren. Man kann sagen, dass es die Erneuerung und weitergehende Elaborierung einer differenzierten Wohlstandsökonomie ist, worauf die in diesem Buch befürworteten Reformen des Grundeinkommens, der Bezugsrechte, des Vollgeldes und der Retribution abzielen. Freiheit und Ungleichheit haben unleugbar etwas miteinander zu tun. Kulturelle, politische und ökonomische Freiheit sind auf Dauer nicht teilbar. Alle drei werden zu Ungleichheiten eigener Art fUhren. Die Ungleichheiten haben ihre Berechtigung darin, dass sie, im Sinne des Rawls'schen Differenzprinzips, der Gesamtentwicklung mehr dienen als größere Gleichheit, und dass damit auch die Entwicklungschancen der relativ schlechter Gestellten besser ausfallen, als sie ansonsten ausfallen würden. Im Hinblick auf die Kulturentwicklung ist es wenig kontrovers, dass diese vorangetrieben wird von bestimmten Avantgarden, von innovativen Impulsgebern, von Paradigmen- und Stilbildnern, von wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Eliten, während die ÜbernehmerMehrheiten betreffende kulturelle Formen und Inhalte eher reproduktiv (über-) tragen. Im Hinblick auf die technische Entwicklung, das Wirtschaftswachstum und den industriellen Wohlstand verhält es sich nicht anders. Spezialisierte Fachkräfte, administrative, kaufinännische und wissenschaftlich-technische Funktionseliten tragen ungleich mehr zu den zugrunde liegenden Produktivitätsfortschritten bei als das Gros einfach oder gering qualifizierter Kräfte, die die Entwicklung reproduktiv tragen. Die andere der beiden oben genannten Korrelationen, die zwischen Lohndifferenzierung und Beschäftigung, passt widerspruchsfrei in das nun dargelegte Bild. Lohndifferenzierung wird hierbei gemessen durch das Verhältnis von Niedriglöhnen zum Durchschnittslohn. Mehrbeschäftigung resultiert bei Geringerbezahlung von geringer Qualifizierten auf allgemein hohem Lohnniveau. Man kann den Befund auch anders auf den Punkt bringen: Reales Wachstum auf der Grundlage von Produktivitätssteigerungen bedeutet eine Niveauanhebung der Erwerbseinkommen (Abbildung 8 im Anhang), während eine Differenzierung der Einkommen auf dem erhöhten Niveau der Beschäftigung zuträglich ist (Abbildung 7 im Anhang). Ein Optimum wird deshalb in einer deutlichen Differenzierung und Flexibilisierung der Arbeitsentgelte auf einem produktivitäts- und rentabilitätsgerecht hohen Lohnniveau liegen. Es besteht also in Wirklichkeit kein Trade-Off, und es gibt auch keine Entkopplung zwischen Beschäftigung und Wachstum. Entgegen der jüngst vielfach vorgebrachten Entkopplungs-These ("jobloses Wachstum") ist der grundlegende Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Wachstum weiterhin intakt (Abbildung 9 im Anhang). Mit "joblosem Wachstum" - es müsste richtiger "nicht die Arbeitslosigkeit verringerndes Wachstum" heißen - meint man das Phänomen einer starken Zunahme der Arbeitslosigkeit bei verschlechterter Kon-

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junktur, und der nurmehr schwachen Abnahme der Arbeitslosigkeit bei wieder verbesserter Konjunkturlage. Dies ergibt das Treppenmuster des langfristigen Anstiegs der Arbeitslosenrate. Der Befund bestätigt den Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Wachstum, zeigt aber zugleich, dass es andere Faktoren gibt, welche die Beschäftigungsschwelle des Wachstums hoch halten. Die Beschäftigungsschwelle ist diejenige Wachstumsrate, ab der Mehrbeschäftigung eintritt. In Deutschland liegt die Beschäftigungsschwelle aktuell bei 2,3 Prozent Wirtschaftswachstum. 1 Prozentpunkt Wachstum über der Schwelle von 2,3 Prozent senkt die Arbeitslosigkeit um 0,5 Prozentpunkte (Schalket al 1997). Es bedürfte also - was eine unrealistische Perspektive darstellt - der nachholenden hohen Wachstumsraten von Entwicklungsländern, wollte man das Beschäftigungsproblem durch forciertes Wachstum statt durch Strukturreformen und eine Neurelationierung der Erwerbseinkommen und der Arbeitsplätze-Verteilung lösen.

5. Sozialetatismusder sekundäre Mechanismus der externalen Spaltung Für die abgedrängten Mitglieder der Gesellschaft und filr die anderen außerhalb des Erwerbslebens Stehenden muss gesorgt werden. Im heutigen Sozialstaat geschieht dies durch die öffentliche Sekundärverteilung. Für Arbeitslose, Alleinerziehende, Auszubildende, Schüler, Studierende,· Rentner u.a. werden in ihrer Summe große Einkommensumverteilungen benötigt, zum einen in Form von Zahlungen zum Lebensunterhalt, zum anderen in Form von Kosten filr öffentliche Bildungs-, Gesundheits- und Betreuungs-Infrastrukturen. Das Ausmaß dieser Versorgungsbedarfe ist in den zurückliegenden Jahrzehnten überdurchschnittlich gewachsen. Die Gründe dafilr, außer dem Mechanismus der extemalen Spaltung, liegen auch in einer zunehmenden Individualisierung der Haushaltsfilhrung sowie in der verlängerten Lebenserwartung. Außerdem hinzu gekommen sind gestiegene Subventionsansprüche aus der Wirtschaft. Besonders sektorale Subventionen dienen vielfach sozialpolitischen Zwecken, auch wenn sie eventuell anders begründet werden. "Strukturhilfen" sind fast immer wirtschafts- und sozialkonservative Maßnahmen zur Verhinderung nötigen Strukturwandels. Darüber hinaus besteht heute allgemein ein gestiegenes Anspruchsniveau bezüglich einer großen Vielfalt von öffentlichen Leistungen. Alles das hat die Staatsquote in den europäischen Sozialstaaten von unter 10 Prozent zu Beginn des etatistischen Jahrhunderts über relativ einheitliche 30 Prozent um 1950 auf heute je nach Land 40 - 70 Prozent steigen lassen (Abbildungen I 0 und 11 im Anhang). Das Wachstum der Staatsquote aufgrund des überproportionalen Anwachsens der Sozialkosten im weitesten Sinne bildet unter allen sonstigen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte die herausragende relationale Verschiebung im

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Wirtschaftskreislauf, insbesondere im Verteilungsgefiige (vgl. nochmals Abb. 1, S. 63). Durch die fortgesetzte Erhöhung der Staatsquote, in Verbindung mit dem primärverteilenden korporativen Abdrängungsmechanismus, ist ein sekundärverteilender sozialetatistischer Mechanismus der externalen Spaltungsverstärkung geschaffen worden. Die öffentlichen Haushalte fmanzieren ihre umfangreichen Verpflichtungen durch Steuern und Sozialabgaben, außerdem durch Verschuldung. Die Eintreibung von Sozialabgaben, Lohnsteuer, Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuern, Versicherungssteuer, Kapitalertragssteuern u.a. bedeutet eine Verringerung der Nettoentgelte der Erwerbstätigen, eine Kürzung ihrer Kaufkraft (dazu auch Abschnitt "Steuerfinanzierung... "). Werden sekundärverteilend die Steuern erhöht, versuchen die primären Einkommensbezieher das, was jeder tut, der mit höheren Kosten konfrontiert wird ohne noch viel rationalisieren zu können, nämlich, die höheren Kosten weiterzuwälzen. Das heißt, die leitenden Angestellten genehmigen sich höhere Gehälter, die Gewerkschaften verlangen höhere Löhne. Die Selbständigen versuchen, höhere Entnahmen über höhere Preise zu realisieren. Anleger und Eigentümer trachten nach einer höheren Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Das Verlangen nach höheren Einkommen aufgrund erhöhter Abgaben propeliiert eine Abgaben-Einkommens-Spirale. Sie funktioniert sinngemäß analog zur Lohn-Preis-Spirale. Unter entsprechenden marktliehen und monetären Voraussetzungen wirkt auch sie selbst schon unmittelbar als Abgaben-Preis-Spirale. Früher konnte man sagen, der Staat sei der profitierende Dritte im Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit gewesen. Welche der beiden Seiten auch immer ein wenig mehr zulegte, stets kassierte der Fiskus sozusagen passiv ein wenig mehr mit. Mit der steigenden Staatsquote und der Abgaben-EinkommensSpirale aber ist der Staat zum bestimmenden Akteur geworden, auf den die anderen reagieren. Die Staatsverteilung weiterhin sekundär zu nennen, kommt unter den heutigen Umständen einem irreführenden Sprachgebrauch gleich. Soweit die staatliche Politik sich nicht durch Moral, politisch-ökonomisches Wissen und durch Gesetz diszipliniert, schlägt der Fiskus zu nach Maßgabe der Regierungsbedarfe und im Rahmen wahltaktisch kalkulierter Möglichkeiten der Steueranhebung oder Schuldenausweitung. Man kann die Staatsverteilung heute ebenso als "primär" bezeichnen wie die Verteilung zwischen Kapital und Arbeit als "sekundär". In gewisser Weise erscheint das schon als Streit um Huhn und Ei. Bei der primären unternehmefischen Aufteilung der Mittel (Repartition) sind die Ansprüche des Fiskus immer schon berücksichtigt. Faktisch diktiert das Finanzamt die Art und Weise der Buchfiihrung und der Bilanzierung. Die Abgaben-Einkommens-Spirale wird im Gefiige des Korporatismus und der etatistischen Demokratie gefiltert und abgearbeitet. Dabei kommen die posi-

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tionalen Vorteile und Benachteiligungen bestimmter Gruppen zum Tragen. Wer am jeweils längeren Hebel sitzt, oder wer die meisten Stimmen hat, lässt sich nach Maßgabe des Verteilbaren zuerst und am meisten bedienen. Die Funktionseliten, besonders diejenigen in der Wirtschaft, berechnen ihren persönlichen Grenznutzen grundsätzlich nach Steuer. Daraus folgen entsprechende Gehalts- und Honorarsteigerungen. Desgleichen tun die Gewerkschaften. Angedrohte und tatsächliche Arbeitskämpfe mit allgemeinen Anhebungen des Lohnniveaus sind die Folge. Die Lohnintensität der Arbeitsplätze steigt infolge der Abgaben-Einkommens-Spirale viel stärker, als sie sonst steigen würde. Durch die positionalen Vorteile der Besserverdiener und der gut organisierten Normalverdiener geht jeder derartige Mechanismus unmittelbar auf Kosten der Niedrigverdiener und der Erwerbslosigkeit der Nichtsverdiener, fiir deren potentielle Arbeitsplätze kein Geld mehr übrig bleibt. Das Nachsehen haben also umso mehr die Marginalisierten, die Randbeschäftigten, Arbeitslosen und Nichterwerbstätigen. Ihre Zahl verfestigt und vermehrt sich. Um sie zu versorgen, muss der Staat wiederum umso mehr Abgaben erheben, also an der Abgaben-Einkommens-Spirale drehen, was wiederum die externale Spaltung verschärft, usw. usf Auf diese Weise schafft und verstärkt der industrietraditionale Sozialstaat soziale Polarisierung und externale Spaltungen, zu deren Milderung und Überwindung er angeblich eingerichtet wurde. Man kann so weit gehen, zu sagen, dass die sekundäre sozialetatistische Verteilung inzwischen zum eigentlichen Hauptübel geworden ist. Die primäre Erwerbswirtschaft befmdet sich in der Lage eines Langstreckenläufers, der einen Rucksack voller Sozialpakete von der Hälfte seines Körpergewichtes mitschleppen muss. Eine Erleichterung des Steuern- und Abgaben-Rucksacks würde den Spaltungsdruck im primären Erwerbsbereich entsprechend mindern. Die primäre korporative Verteilung fiele eventuell milder aus, hätte nicht die Sekundärverteilung durch die Abgaben-Einkommens-Spirale von der Primärverteilung Besitz ergriffen. Die Abgaben-Einkommens-Spirale bewirkt Marginalisierung, Ausschluss und Abspaltung der schlechter Positionierten durch Besitzstandswahrung der besser Positionierten, und sie wird dadurch zu einer MehrabgabenMinderbeschäftigungs-Spirale. Es ist ein Ziel der hier konzipierten Retribution, die Mehrabgaben-Minderbeschäftigungs-Spirale umzukehren in eine Minderabgaben-Mehrbeschäftigungs-Spirale. Man darf sich dabei jedoch keinen altliberalen Illusionen, keinen supplysiderischen Einäugigkeiten hingeben. Wer einfach nur Steuern senkt und erwartet, "der Markt" werde den Rest schon richten, propagiert nur die alten Rosskuren, die schon wiederholt in Verelendung, Gewalt und Chaos gefilhrt haben ehe Besserung eintrat, zumal unter den jetzigen Bedingungen von ausgeprägten strukturellen und qualifikatorischen Mismatches. Werden Steuern und Abgaben gesenkt und Subventionen gestrichen, so muss durch umsichtige Kooperation der Führungseliten sichergestellt sein, dass erstens die Bruttolohnsumme nicht sinkt, und zweitens der resultierende Anstieg der Nettolohnsumme nicht von

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den Platzhaltern eingestrichen wird, sondern der Schaffung neuer Erwerbsgelegenheiten zugute kommt. Die Senkung der Steuern und Abgaben ist kein Selbstzweck, und sie soll ebenso wenig dem Zweck dienen, Gutgestellte noch besser zu stellen. Es geht vielmehr darum, maximal viele Menschen im Alter zwischen 15 bis 65 Jahren ins Erwerbsleben einzubinden, um zu gewährleisten, dass minimal wenige Menschen ausschließlich im Nicht-Erwerbshereich tätig sind bzw. darauf angewiesen sind, Sozialeinkommen zu beziehen. Niedrigere Lohnkosten als solche erbringen nachweislich keinen höheren Beschäftigungsstand (auch nicht in den USA). Sonst müsste in allen Niedriglohnländern Vollbeschäftigung und Wohlstand herrschen. In Wirklichkeit sind Niedriglohnländer, so lange sie es sind, durchweg ärmere Länder mit höherer Arbeitslosigkeit. Insbesondere Niedriglöhne in unteren Gruppen bringen auch dann nicht mehr Beschäftigung, wenn sie mit einer Absenkung der Armen- und Arbeitslosenhilfe einhergehen. Sie bewirken dann lediglich mehr Armut und mehr Kriminalität (Freeman 1995b). Die Beschäftigungseffekte einer internalen Lohndifferenzierung entstehen in Hochlohnländern, wo bestimmte Grundeinkommens-Linien nicht unterschritten werden und die Differenzierung nach oben erfolgt, durchaus zugunsten der wissenschaftlichen und technischen Fachkräfte und sonstigen Leistungsträger, die die Garanten der hohen Produktivität des Gesamtsystems sind. Leute durch Sozialtransfers zu versorgen, anstatt sie ihr Geld selbst verdienen zu lassen, ist entweder ungerecht gegenüber denen, die filr die anderen mit arbeiten müssen, oder gegenüber denen, die gerne arbeiten würden, aber wegen Arbeitsplatzmangel nicht können. Hier liegt ein Hauptansatzpunkt der fälligen Retribution. Der Staat soll nach Möglichkeit weder Nichterwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit noch Arbeit fmanzieren, sondern die Finanzen bei den primären Wirtschaftsakteuren belassen, sodass diese sich selbst fmanzieren können. Alleine dadurch würden viele Arbeitsplätze entstehen können, noch ohne dass es überhaupt zu einer Minderung der Arbeitsplatzrentabilität nach Steuern kommen müsste. Nach langem Sträuben haben inzwischen auch die Sozialkonservativen einsehen müssen, dass Arbeitnehmer zu beschäftigen filr viele Arbeitgeber zu teuer geworden ist, und zwar weniger wegen der eigentlichen Löhne, als mehr aufgrund der Lohnzusatzkosten in Höhe von 80 - 90 Prozent der Arbeitsentgelte, aufgrund der Steuer- und Abgabenlast insgesamt, die am Ende aller Rechnungen nicht anders kann, als mit der Staatsquote von gegenwärtig über 50 Prozent des Wirtschaftsproduktes (BSP oder BIP) zu konvergieren. So problematisch es geworden ist, die Staatsverteilung noch "sekundär" zu nennen, sowenig sind die Staats- und Sozialstaatskosten der Arbeitsentgelte "Nebenkosten". Sie bilden in Wirklichkeit ein bald gleichgewichtiges doppeltes Gehalt. Der industrietraditionale Sozialstaat hat die Spaltungs- und Polarisierungsproblematik zusätzlich noch dadurch verschärft, dass er trotz der seit zwanzig

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Jahren immer angespannteren Haushaltslage damit fortfuhr, über die gesetzliche Krankenversicherung und die öffentliche Rentenversicherung unhaltbar gewordene Versprechungen zu erfUllen. Im Falle der Krankenversicherung handelt es sich um das Versprechen einer uneingeschränkten medizinischen Vollversorgung durch Finanzierung per Kostenumlage, zuletzt im Umfang von 410 Mrd Mark (Sozialbericht 1993, 249. Ein neuerer Sozialbericht hat bis Mitte 1998 nicht vorgelegen). Das hat prinzipiell grenzenlose Begehrlichkeiten geschaffen, von Seiten der Anbieter (Ärzte, Krankenhäuser, Kliniken, Therapeuten u.ä.) ebenso wie der Nachfrager (der Patienten und Klienten). Der Sozialstaat reagierte darauf mit Interventionismus und Dirigismus. So ist das Gesundheitswesen im Laufe der Jahre Schritt ftlr Schritt zu einer bürokratischen Planwirtschaft verkommen, in der ökonomisch kaum mehr etwas zu funktionieren scheint und jeder jedem ungut ist. Im Falle der öffentlich-rechtlichen Alterssicherung handelt es sich um das Versprechen der dynamischen Rente als Lohnersatzzahlung, sozusagen einer Lohnfortzahlung im Ruhestand, die erhöht wird nach Maßgabe des Lohnniveaus. Dies hat im Verlauf der zurückliegenden 20- 40 Jahre einen gewaltigen Umverteilungsbedarf geschaffen, zuletzt in einer Gesamthöhe von etwa 465 Mrd Mark. Daneben nimmt sich der Umsatz großer Wirtschaftsbranchen wie der Fahrzeug-, Elektro- oder chemischen Industrie in einer Größenordnung von 120 - 160 Mrd geradezu gering aus. Öffentliche Renten im Umlageverfahren sind im Prinzip ein richtiger und sinnvoller Teilbeitrag zur Einkommenssicherung im Alter. Im vorliegenden Kontext jedoch ist das System in seiner Summe ausgeartet zu einem regelrechten Enteignungsmechanismus zugunsten der Rentner auf Kosten der Mitteljährigen und Jungen, insbesondere jener, die aufgrund der Lohnintensität der Arbeitsplätze und der daraus folgenden externalen Spaltung überhaupt keine reele Chance auf normale Beschäftigung mehr haben. Man sollte der Sozialpolitik des Staates und der Sozialpartnerschaft der Verbände nicht vorwerfen, dass sie es weder gewollt noch vermocht haben, eine egalisierende Umverteilung durchzufllhren. Eine solche Kritik entspringt industrietraditionalem Klassenkampfdenken. Enteignungs- und Egalisierungsziele an und filr sich sind ebenso egozentrisch und verfehlt wie Übervorteilungsahsichten und elitäre Abkopplungsziele. Aber man muss der Sozialpolitik und Sozialpartnerschaft vorwerfen, dass sie in tatsächlicher Scheinheiligkeit einen irrefllhrenden Wohltätigkeitsschleier über ein System der Misswirtschaft und Ausgrenzung legen, dass sie sich nicht anspruchsmäßigend, sondern anspruchseskalierend verhalten, dass sie nicht sozial integrieren, sondern ausgrenzen und polarisieren. Zugespitzt könnte man sagen, dass sich unter dem Einfluss des Sozialetatismus und der korporativen Sozialpartnerschaft der frühere Klassenkampf in einen verallgemeinerten Verteilungskampf aller gegen alle verwandelt hat. Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, wer seine Hand in wessen Tasche hat.

6. Krise der Staatsfinanzen - Endphase des Sozialetatismus

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Es besteht ein sozusagen volkskapitalistisches Gefangenendilemma derart, dass jeder fUrchtet, übervorteilt zu werden, und dem zuvorzukommen trachtet, indem er sich selbst übervorteilend verhält. Die ökonomischen Wirkungen dieses Übervorteilungsstrebens und Verdrängungskampfes können zwar nicht auf Dauer, aber doch eine Weile lang durchaus positiv im Sinne des Wirtschaftswachstums sein (das ohne die etatistischen Restriktionen freilich erheblich freundlicher ausfallen würde). Negativ sindjedoch von Beginn an die sozialen Wirkungen, die Auflösung sozialen Zusammenhalts, Tendenzen der sozialen Desintegration. Ein typisches Beispiel liefern die Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung. Diese sind nicht gering bemessen. Hier wird nicht behauptet, es gäbe heute in Europa ein echtes Armutsproblem. Es wird auch nicht im Gegenteil behauptet, wir würden in einer allgemeinen Wohlstandsgesellschaft leben. Wir haben es tatsächlich mit einer Zwei-Drittel-Gesellschaft zu tun, denn 37 Prozent der Bevölkerung leben heute in den Grenzen zwischen prekärem Lebensstandard und Subsistenzstandard (Willeke/Fink 1996, Hübinger 1996 - weiteres in "Kategorien von Armut und Reichtum"). Das Problem der Empfilnger von sozialstaatliehen Hilfen ist nicht, dass sie Not und Elend leiden, sondern, sofern sie diese Hilfen aus echter Bedürftigkeit beziehen, dass sie schlecht dran sind im Hinblick auf ihre soziale Stellung, ihre berufliche, öffentliche und meist auch private soziale Integration, ihre Wertschätzung und Selbstachtung. Die Armutsrhetorik nach dem Muster der industrietraditionalen sozialen Frage ist in Europa weitgehend irreftlhrend geworden und verstellt den Blick auf die wirklichen Probleme. Die sich weitergehend modernisierende Gesellschaft, aufgrund ihrer hohen Produktivität und Rentabilität, hat kaum mehr Armutsprobleme. Aber sie hat umso mehr Probleme des sozialen Zusammenhalts, der gesellschaftlichen Integration, der Sinnerfllllung in der Erwerbstätigkeit und jenseits derselben.

6. Krise der Staatsfinanzen - Endphase des Sozialetatismus Die primäre Repartitionsaufgabe in einer sozialen Marktwirtschaft besteht darin, Arbeit funktional richtig zuzuteilen und die Erwerbseinkommen dafilr sozial gerecht aufzuteilen. Als sekundäre Verteilungsaufgabe stellt sich diejenige, am Erwerb gehinderte Menschen subsidiär durch Sozialtransfers zu versorgen, oder auch ansonsten in beschränktem Umfang Hilfen zur Selbsthilfe zu geben. Aber kaum etwas wurde in der Sozialpolitik rhetorisch so missbraucht und in Wirklichkeit so missachtet wie das Subsidiaritätsprinzip. Darüber hat sich NellBreuning, als Neuerer und Mentor des Subsidiaritätsgedankens, noch zeitlebens sehr beklagt. Die Staats- und Sozialhaushalte haben ein früher unvorstellbares Geldvolumen erreicht. Aus dem Kleingeld filr gewisse Bedürftigkeitslagen von armen Leuten sind vielmilliardenschwere Budgets filr den Regelfall aller geworden.

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II. Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

Es kann aber nicht die primäre Erwerbstätigkeit von sekundären Sozialtransfers leben, sondern umgekehrt, die sekundäre Umverteilung, in eher geringerem als größerem Ausmaß, kann nicht anders als auf einer intakten Primärverteilung zu beruhen. Weder die Arbeitsgesellschaft noch der Sozialstaat können vom Vollbeschäftigungsziel ablassen, ohne sich ihren Boden zu entziehen. Dies gilt nicht nur normativ, weil der moderne Lebenssinn sich nicht unwesentlich auch durch Berufstätigkeit erfiillt, sondern es handelt sich ebenso um eine ökonomische Notwendigkeit. Die Erwerbsgebundenheit des Sozialstaats ist grundsätzlich unvermeidlich, weil die Sekundärverteilung von der Primärverteilung abhängt. Änderbar sind jedoch das Ausmaß und die Verfahren, durch welche die Abhängigkeit des Sozialstaats von der Arbeitsgesellschaft geregelt wird (Vobruba 1990). Von letztlieber Bedeutung ist dabei nicht die Frage der engeren oder breiteren Basis von Steuerzahlern, sondern das Ausmaß, zu dem Sozialleistungen taUig werden. Ein funktionierender Sozialstaat ist darauf angewiesen, in eine intakte Arbeitsgesellschaft eingebettet zu sein. Hypertrophiert der Sozialstaat in Form einer ständig steigenden Staatsquote, einer beschleunigten Abgaben-Einkommmens-Spirale, und einer damit verfestigten Mehrabgaben-Minderbeschäftigungs-Spirale, zerstört er seine arbeitsgesellschaftliche Einbettung. Ab einer bestimmten Grenze - die etwa um I975 überschritten wurde - hat der industrietraditionale Sozialstaat begonnen, einen Niedergang der Beschäftigung herbeizufilhren. Wenn keine Korrektur erfolgt, muss damit die weitere Hypertrophierung und der anschließende Zusammenbruch des industrietraditionalen Sozialstaats einhergehen, und fraglos müsste dies mit der Auslösung einer größeren gesellschaftlichen Katastrophe verbunden sein. Die Staatsquote - die Summe der Ausgaben aller öffentlichen Haushalte einschließlich der Sozialversicherungen als Prozentsatz vom Wirtschaftsprodukt (BSP oder BIP) - betrug zu Beginn der Industrialisierung um I800 in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Deutschland etwa 5 - I 0 Prozent. Um 1900, trotzumfangreicher gewordener öffentlicher Infrastruktur- und Bildungsleistungen, lag die Staatsquote immer noch bei oder unter I 0 Prozent (Musgrave 1983, 95). In der Zwischenkriegszeit, mit der beginnenden Etablierung des Interventions- und Sozialstaats, stieg die Staatsquote dann rasch an, um heute Werte zwischen 33 Prozent in den USA, um 40- 50 Prozent in den meisten Industriestaaten, und zeitweilig bis zu 60 - 70 Prozent in Skandinavien zu erreichen (Weltbank Entwicklungsbericht 1995, Tab. 11). Die Abbildungen 10 und 11 im Anhang zeigen diese Entwicklung. Der Sozialhaushalt, die sozial motivierten Wirtschaftssubventionen, die Verschulungshaushalte u.ä. sind nicht der einzige Grund fUr den Take-Off der Staatsquote. Alle öffentlichen Haushalte tragen das Ihre dazu bei. Aber der Sozialhaushalt ist mit Abstand der größte und gewichtigste Einzelhaushalt, der seinen Vorläufer in dieser Rolle, den Militärhaushalt, schon seit längerem weit hinter sich gelassen hat.

6. Krise der Staatsfinanzen - Endphase des Sozialetatismus

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Mit der Staatsquote korrespondiert unmittelbar eine Abgabenlast von direkten und indirekten Steuern sowie von Sozialbeiträgen, die Unternehmen und Haushalte in verschiedenster Weise zu tragen haben. Deren Gesamtsumme pflegt einige Prozentpunkte unterhalb der Staatsquote zu liegen, sodass die öffentlichen Einnahmen die Ausgaben nicht decken. Dieses Defizit der öffentlichen Haushalte wurde von der ökonomischen Theorie der Politik (public choice) gut erklärt. Der Grund besteht darin, dass die Forderungen von Unternehmen und Privathaushalten nach öffentlichen Zuwendungen mit dem Ausmaß der staatsinterventionistischen Umverteilung selbstverstärkend mitwachsen (rising expectations). Zugleich aber bildet sich ein zunehmender Widerstand der seihen Unternehmen und Privatpersonen gegen die entsprechend immer höher steigende Steuerlast Steuer- und Beitragsanhebungen sind nie willkommen und müssen gegen Widerstände durchgesetzt werden, während gut organisierte Gruppierungen von eigeninteressierten Bürgern und Politikern einen recht unbekümmerten Ausgabendruck auf die öffentlichen Kassen ausüben. Aus dem Zusammenspiel von gebremster Abgabenbereitschaft und ungebremsten Forderungen an den Staat resultieren chronisch gewordene Haushaltsdefizite (Heinemann 1994). Das früher vieldiskutierte Budget deficit der USA gehört, wie auch das Japans, mit 2 - 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 1995 heute zu den kleineren (1998 gegen null tendierend). In Deutschland betrug es im gleichen Zeitraum über 3 Prozent, in den meisten anderen europäischen Ländern 5 - 7 Prozent, in Italien, Schweden und Griechenland 9 - ll Prozent (Weltbank Entwicklungsbericht 1995, Tab. 11; EWI 1996, 39). Die Defizite werden mit Schulden fmanziert. Die Staatsverschuldung lag in Deutschland noch bis Mitte der 70er Jahre, dem Ende der WirtschaftswunderÄra, relativ stabil bei etwa 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Seither stieg die öffentliche Schuldenlast ununterbrochen, verstärkt seit der deutschen Vereinigung, aufinzwischen über 60 Prozent des BIP, gleichaufmit dem öffentlichen Verschuldungsgrad der USA. Nur in Frankreich und Großbritannien liegt die Staatsverschuldung noch darunter bei 55 Prozent, in allen anderen Industrieländern aber meist noch darüber, zum Beispiel bei 85 Prozent in Japan und in der Größenordnung von 115 - 130 Prozent in Griechenland, Italien und Belgien. Mit den kumulierten Schulden wächst die Last der Zinsen. Episodenweise haben staatliche Zinszahlungen früher schon Spitzenwerte erreicht, meist im Zusammenhang mit kolonialistischen Aktivitäten und Kriegen. Zum Beispiel betrug der Anteil des Schuldendienstes an den Staatsausgaben 1673 in Frankreich unter Colbert 43 Prozent, 1784 in England 30 Prozent, 1810 in Österreich 29 Prozent (Albers 1986, 34). Das waren jedoch, vom Frankreich des Louis XIV einmal abgesehen, vorübergehende Sondersituationen. Zu einer strukturellen Verfestigung der Defizite, Schulden und Zinslasten kam es erst im Zuge der Ausdehnung des Sozialetatismus während der zurückliegenden Jahrzehnte. Heute haben die jährlichen Zinsaufwendungen in Ländern wie den USA, Großbritannien, Frankreich oder Deutschland 8 - 13 Prozent der öffentlichen Aus-

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II. Epochenwechsel und Krise des Sozialstaats

gaben erreicht. Tendenz weiter steigend. In Italien verschlingen die Zinsen bereits etwa ein Drittel der öffentlichen Haushalte. Nur in Japan liegen die Zinsausgaben erst bei 2- 3 Prozent (iwd 36/1996). Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ist inzwischen chronisch geworden. Die zunehmenden Lasten fUr Zins und Tilgung in den öffentlichen Haushalten korrespondieren mit entsprechend verengten politischen und gesellschaftlichen Handlungsspielräumen, denn sie bedeuten eine direkte Kürzung der fUr die öffentlichen Aufgaben zur Verfilgung stehen Mittel und eine schwere Hypothek fUr die nicht-geldvermögenden, das heißt, die nicht Zinseinkünfte realisierenden Schichten und deren Nachkommen (Simmert!Wagner 1981). Die Ansprüche an den Staat kürzen sich währenddessen jedoch nicht. Die hohe Staatsnachfrage nach Geld erhöht das allgemeine Zinsniveau, denn die öffentliche Geldnachfrage tritt zum privaten Geldbedarf in einen Überbietungswettbewerb. Die öffentlichen Haushaltsdefizite haben so einen direkten starken Einfluss auf die Zinsen am langen Ende. Zweitens bewirken die hohen Steuerabgaben eine Absenkung des allgemeinen Spamiveaus. Wo 40 - 60 Prozent der Einnahmen an öffentliche Kassen direkt und indirekt abgegeben werden müssen, da bleibt auch unter Wohlstandsbedingungen wenig zu sparen übrig (Abbildung 12 im Anhang). Drittens bewirken die hohen öffentlichen Ausgaben, die vielfach gesetzliche Ansprüche darstellen (Rente, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe, Kindergeld, Bildung, medizinische Versorgung) einen Rückgang der privaten Eigenvorsorge. Alle drei Wirkungen gehen in die gleiche Richtung: Der fundamentale Zusammenhang zwischen Ersparnisbildung und Investition wird geschwächt (Abbildung 13 im Anhang). Es wird weniger gespart und investiert als möglich und langfristig nötig wäre. Erst wird privat von Haushalten und Unternehmen weniger investiert als möglich wäre, und mit zunehmender Staatsverschuldung wird auch öffentlich weniger investiert als nötig wäre (Abbildung 14 im Anhang). Zu den schon vorhandenen fehlsteuernden Rückkopplungen kommt somit noch eine Mehrverschuldungs-Minderinvestitionen-Spirale hinzu. Investitionen aber sind und bleiben der langfristig definitive Faktor der Beschäftigung, und zwar direkt (Abbildung 15 im Anhang) ebenso wie vermittelt über das Wachstum (Abbildung 9 im Anhang). Infolge dauerhaft überhöhter Staatsquote und Staatsverschuldung unterbleiben die Realisierung von Investitions- und Wachstumspotentialen und die daran gebundenen Beschäftigungschancen. Es ergibt sich, wie die Abbildungen 16 und 17 im Anhang zeigen, eine negative Wirkung der Staatsschulden und der Steuerlast auf das Wirtschaftswachstum. Das suboptimale Wachstum erhöht wiederum den kompensatorischen Sozialstaatsbedarf, und selbstverstärkend so weiter. Ein Teil der erwähnten Zusammenhänge wurde von dem Amerikaner Martin Feldstein untersucht und wird gelegentlich als Feldstein-Zusammenhang angesprochen (Feldstein 1979, 1980, 1986, 1987). Feldstein hat speziell die negati-

6. Krise der Staatsfinanzen - Endphase des Sozialetatismus

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ven Wirkungen einer hohen Staatsquote ft1r Ersparnis, Eigenvorsorge und Investitionen herausgearbeitet. Daneben hat er die geringe Erwerbsneigung von Niedrigverdienern angesichts hoher Sozialleistungen in den Vordergrund gestellt. Ein Problem der sozialen oder fiskalischen Hängematte bei hohen Sozialleistungen besteht zweifellos, aber seine einseitige Thematisierung verkennt das komplementäre Problem einer monetären oder Verzinsungs-Hängematte. Darin einen dominanten Faktor der Sozialstaatsproblematik zu sehen, verfehlt die bedeutenderen Wirkungszusammenhänge. Die tatsächlichen Wirkungsverkettungen sind weitreichender als von Feldstein thematisiert. Sie reichen wenigstens so weit: höhere Staatsquote ~ höhere Steuern und Abgaben, höhere Staatsverschuldung ~ höhere Entgeltintensität der Erwerbstätigkeit, gedämpfte Beschäftigung, gesteigerte Sozialtransfers, unterpotentielle Ersparnis- und Eigenkapitalbildung in der Breite, höhere Zinseinkünfte der Banken und der Bessergestellten ~ unterpotentielle private Investitionen, später mit zunehmender Staatsverschuldung auch unterpotentielle öffentliche Investitionen, bei gleichzeitig erhöhter Abgaben- und Zinsbelastung der Investitionen und Umsatzerlöse ~ unterpotentielles Wachstum ~ unterpotentielle Beschäftigung ~ höhere kompensatorische Subventionen und Soziallasten ~ höhere Staatsquote, und wieder von vorne so weiter. Die selbstverstärkenden Rückkopplungen vollziehen sich ohne Änderung der Bedingungen so lange, bis die Abgaben-Einkommens-Spirale, die Mehrabgaben-Minderbeschäftigungs-Spirale und die Mehrverschuldungs-Minderinvestitionen-Spirale brechen an der Hypertrophie öffentlicher Haushalte, der Schwächung des Wirtschaftspotentials und der sozialen Zentrifugalität. Man kann die Eskalationen eine Weile treiben. Komplexe Systeme besitzen gewisse Pufferzonen. Aber das Spiel geht nun schon längere Zeit. Ohne Kursänderung rückt die Stunde der Wahrheit unausweichlich näher. Die Vollstreckung des vernichtenden Urteils über zerrüttete Staatsfmanzen und damit erzeugte Wirtschafts- und Sozialbrachen ist in der Geschichte noch niemals ausgeblieben.

111. Das bezugsrechtfinanzierte Grundeinkommen 1. Vorläuferkonzepte Der Ansatz, herkömmliche existenzsichernde Zuschüsse zum Lebensunterhalt in einem einheitlichen Grundeinkommen aufzuheben, hat eine jahrzehntelange Entwicklung duchlaufen. Es handelt sich inzwischen um ein im Prinzip ausgereiftes Konzept, das in Einzelaspekten auch schon verwirklicht ist. Das hier vertretene Grundeinkommens-Schema stellt eine weitere Präzisierungs- und Konkretionsstufe dar. Darüber hinaus liegt seine Besonderheit darin, durch Bezugsrechte, nicht durch Steuern fmanziert zu werden. Zu der längeren Reihe von Vorläuferkonzepten gehören unter anderem, unter dem Zuwendungsaspekt: - Revenu social, Allocation universelle, Basic income, Universal grant, Demogrant, People's income, Citizen's wage (Illich 1979, Gorz 1980, 1983, Parijs 1987, 1989, BIEN 1996, Robertson 1990, 1996) - Garantiertes Einkomen, garantiertes Mindesteinkommen (Schmid 1984, Kress 1987) - Grundeinkommen oder garantiertes Grundeinkommen (Büchele/Wohlgenannt 1985, Opielka/Vobruba 1986, Opielka 1989, Walter 1989, Weber 1991. Ein Überblick über die bisher geHsteten und historische Ansätze findet sich bei Vobruba 1986, 1987) - Bürgergeld, Basisgeld (Kronberger Kreis 1986, Engels et al. 1973, Engels 1988, Mitschke 1985, 1988) - Sockelgeld, Legitimationsgeld (Wehner 1992) - Aufstockung von Niedriglöhnen (Scharpf 1994, Vierling 1996, Vaubel 1996) - Grundrente (Miegel1981, Miegel!Wahl1985, Engels 1988) sowie unter dem (Steuer-)Finanzierungsaspekt: - Tax credit, Negative income tax, National dividend, Social dividend (u.v.a. Rhys-Williams 1953, Friedman 1962, Friedman & Friedman 1980, Tobin et al. 1967, Greffe 1978, Ross 1981, Roberts 1982) - Konsumorientierte Negativsteuer, Bürgersteuer (zur Finanzierung des Bürgergeldes) (Engels et al. 1973, Kronherger Kreis 1986, Mitschke 1985, 1988, Engels 1988).

2. Kategorien von Armut und Reichtum

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Manche der Ansätze sind direkte Vorläuferkonzepte, andere stellen Linien dar, die woanders hinfUhren und deshalb hier nicht oder nur teilweise Berücksichtigung fmden. Bezugnahmen erfolgen im weiteren Verlauf an entsprechender Stelle. Im Folgenden wird zunächst das Grundeinkommen als Sozialleistung beschrieben. Dem geht eine Klärung der Einkommensrelationen zwischen arm und reich unter Wohlstandsbedingungen voraus. Das Konzept der inflationsfreien Finanzierung des Grundeinkommens durch Bezugsrechte sowie die Darlegung des Vollgeld-Konzeptes erfolgen daran anschließend.

2. Kategorien von Armut und Reichtum Die Grenzen von Armut und Reichtum sind stets umstritten. Dennoch besteht heute eine gewisse Übereinstimmung darin, Armut nicht mehr als eine absolute Größe am physischen Existenzminimum aufzufassen, sondern als relative Armut, das heißt, als ein Einkommensdefizit relativ zum allgemeinen Einkommensdurchschnitt. In diesem Sinne wird auch vom relativen Existenzminimum oder vom kulturellen Minimum gesprochen. Lebensstandards sind statusspezifisch. Sie bilden sich positional im Rahmen der allgemeinen Produktivität. Dies gilt auch fiir das Niveau des relativen Existenzminimums. Daraus kann sich ergeben, dass in einem reichen Land die meisten der relativ Armen recht gut dastehen verglichen mit denen in armen Ländern. Da die Armutsrhetorik ihre eigenen Probleme aufwirft, wird im Folgenden statt von der Armutsgrenze von der Subsistenzgrenze oder, vielleicht trefffender, vom relativen Subsistenzstandard gesprochen. 1 Bei welchem Einkommen liegt der relative Subsistenzstandard heute? Auch bezüglich dieser Frage besteht in der internationalen Armutsforschung eine weitgehende Übereinstimmung. Sie geht dahin, die Grenze der relativen Einkommensarmut bei der Hälfte des durchschnittlichen verfügbaren Einkommens pro Kopf bzw. der Hälfte des durchschnittlichen Aquivalenzeinkommens pro Kopf zu ziehen (Roorn!Henningsen 1990, Hauser/Hübinger 1993, Hauser 1995). Dieses Kriterium soll im Weiteren dazu dienen, die Höhe des Grundeinkommens zu defmieren. Das Äquivalenzeinkommen bezeichnet das gewichtete durchschnittliche Nettoeinkommen pro Kopf. Die Gewichtung wird vorgenom-

1 Wird Armut, was meist der Fall ist, als Einkommensdefizit verstanden, so wird der Subsistenzstandard in Form eines Geldeinkommens bemessen. In Anbetracht lokal und personal recht unterschiedlicher Lebens- und Wirtschaftsbedingungen wäre es eventuell zufriedenstellender, Armut und Subsistenzstandard in Form eines Korbes verftigbarer Güter und Dienste auszudrücken (Andreß!Lipsmeier 1995). Aber dies wirft zusätzliche methodische und operationale Probleme auf, sodass es für praktische Zwecke näher liegt, von der einfacher objektivierbaren Einkommensdefinition auszugehen.

6 Huber

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III. Das bezugsrechtfinanzierte Grundeinkommen

men, um die Einkommen von Personen in Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung besser vergleichbar zu machen. Zum Beispiel werden gegenwärtig bei der Ermittlung der Sozialhilfe folgende Gewichtungs-Koeffizienten fiir verschiedene Haushaltsmitglieder zugrunde gelegt: 1.00 fiir den Haushaltsvorstand 0.80 fiir den Ehepartner und andere Erwachsene ab 19 Jahren 0.50 fiir Kinder bis 7 Jahre 0.55 fiir Kinder bis 7 Jahre im Alleinerziehenden-Haushalt 0.65 fiir Kinder zwischen 8 und 14 Jahren 0.90 fiir Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren. Das gewichtete Äquivalenzeinkommen wird ermittelt, indem die Summe der in einem Haushalt verfiigbaren Nettoeinkommen dividiert wird durch die Summe der Gewichtungs-Koeffizienten. Würde man das Haushaltsnettoeinkommen stattdessen einfach durch die Anzahl der Haushaltsmitglieder teilen, ergäbe sich das ungewichtete Durchschnittseinkommen pro Kopf. Dieses ist sicherlich einfacher zu ermitteln, berücksichtigt aber nicht, dass fixe Kosten, zum Beispiel fiir Miete, Heizung oder ein Auto, in einem Mehr-Personen-Haushalt relativ geringer ausfallen als in einem Ein-Personen-Haushalt. In Deutschland lag das allgemeine durchschnittliche Äquivalenzeinkommen 1995 bei monatlich 1.952 Mark, der relative Subsistenzstandard bei der Hälfte davon, also bei 976 Mark {Hübinger 1996, 86f., WillekelFink 1996). Es handelt sich um ein Nettoeinkommen nach Abzug direkter Steuern und Sozialabgaben, und inklusive Miete und eventueller Sollzinsen fiir Schulden. Der Einfachheit halber lässt sich sagen, die Subsistenzgrenze liegt gegenwärtig bei etwa 1.000 Mark (knapp 500 Euro) monatlich fiir einen Erwachsenen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber 1.000 Mark pro Erwachsenem und Monat als Existenzminimum vorgegeben. Armutsforschung, die nicht auch Reichtumsforschung ist, bleibt eine halbe Sache. Größere Vermögen und Zinsexistenzen einerseits sowie Mittellosigkeit und Fürsorgeexistenzen andererseits sind zwei Seiten der Einkommensverteilung entlang der vertikalen sowie der zentrifugalen Achse der Sozialstruktur. Während das Gros der untemehmerischen, privaten und öffentlichen Budgets aus Erwerbseinkommen gespeist werden muss, besitzt ein begrenzter Teil der Gesellschaft das Privileg, von Verzinsung und Vermögenszuwachs leben zu können, und ein anderer begrenzter Teil der Bevölkerung das Deprivileg, von Sozialeinkommen leben zu müssen. In gewissem Ausmaß liegt dies im unausweichlichen Rahmen der Ungleichheit, die man in dem Sinn eine natürliche Rate oder Grundrate nennen kann, wie man von einer natürlichen Rate oder Grundrate der Arbeitslosigkeit spricht, und wie es auch eine natürliche Rate oder Grundrate der Inflation gibt. Man kann die Proportionen in dem Gefiige glücklichen oder harten Schicksals in gewissem Ausmaß korrigieren, aber nicht grundlegend außer Kraft setzen. Auch und gerade kommunistische Zwangsmaßnahmen haben vergleichbare (Oe )Privilegierungs-Strukturen reproduziert.

2. Kategorien von Armut und Reichtum

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Die Ermittlung des Äquivalenzeinkommens, und die daran gekoppelte Bestimmung der Subsistenzgrenze bei der Hälfte des Äquivalenzeinkommens, erlaubt die Bildung weiterer Einkommens-Kategorien nach oben ebenso wie nach unten. So kann man bei einem Einkommen von nur der Hälfte der Hälfte, also 25 Prozent des Äquivalenzeinkommens, von krasser Armut sprechen. Des Weiteren nennen Hübinger (1986) und WillekelFink (1996) ein Einkommen zwischen 50 - 75 Prozent des Äquivalenzeinkommens den Bereich des prekären Wohlstands. Wohlstand ist in diesem Zusammenhang allerdings ein doch fragwürdiger Begriff. Man sollte besser von einem prekären Lebensstandard sprechen. Diese Logik fortsetzend, ergibt sich der Bereich von 75- 150 Prozent des Äquivalenzeinkommens als der des einfachen Konsurnstandards, des Normaloder Massenstandards. Darüber liegt der gehobene Konsurnstandard. Bei 200 Prozent Äquivalenzeinkommen, dem Gegenstück zur relativen Armut bei 50 Prozent, beginnt der Bereich des höheren Wohlstands. Weitere Stufen wären dann, ab dem Vierfachen des Äquivalenzeinkommens, echte Wohlhabenheit als das Gegenstück zu krasser Armut, und schließlich Reichturn und danach noch Superreichturn. Tabelle 1 fasst die genannten Bestimmungen zusammen. Tabelle 1

Armut und Reichtum als relative Einkommens-Kategorien Einkommen in Prozent des Äquivalenzeinkommens 0- 25 25- 50 50- 75 75- 150 150- 200 200-400 400-800 800


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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

Die bezugsrechtfmanzierten Grundeinkommen werden im ersten Schritt nach ihrer Emission vollständig zum Lebensunterhalt der Empfiinger ausgegeben. Grundeinkommen sind wegen ihrer geringen Höhe im Bereich des prekären Lebensstandards praktisch nicht sparfllhig, allenfalls sehr gering streckungsfähig. Insofern Grundeinkommenszahlungen herkömmliche Sozialleistungen nur ersetzen, kommt an dieser Stelle ohnedies kein zusätzliches Geld filr zusätzliche effektive Nachfrage in Umlauf. Sei das Sozialleistungsniveau gleich geblieben, verschlechtert oder aufgebessert, in jedem Fall kommt das Grundeinkommen in vorhersehbarer Kontinuität als kaufkräftige Nachfrage zur Wirkung, wobei es sich unmittelbar und vollständig in effektive Nachfrage im Bereich der gering- und mittelwertigen Güter umsetzt. Es entsteht keine Zusatznachfrage bei hochwertigen und Luxusgütern bzw. bei mengenunelastischen Gütern. Der Nachfrage im Segment der gering- und mittelwertigen Güter steht in einer Wirtschaft mit hochentwickelten Kapazitäten stets ein unmittelbar geldabsorbierendes effektives Warenangebot gegenüber. Eine inflatorische Lücke bzw. ein inflatorischer Überhang kann hier nicht entstehen. Im Hinblick auf die realwirtschaftliche Nachfrage bedeutet das Grundeinkommen, wie schon heutige Sozialtransfers und Tarifeinkommen, Sicherung von Massenkaufkraft in den unteren und mittleren Einkommensschichten. Damit wird zugleich eine untere Produktionsgrundlast filr die gesamte Wirtschaft gesichert. Das Grundeinkommen als untere Nachfragestütze ist weitgehend konjunktur- und krisenunabhängig und wirkt insofern konjunkturverstetigend und krisendämpfend. Die konjunkturelle Stabilisierungsfunktion einer garantierten effektiven Nachfrage positiv hervorzuheben, ist heute keineswegs mehr selbstverständlich. Zwischenzeitlich, in der an und filr sich nachvollziehbaren antikeynesianischen Welle der 80er Jahre (Reaganomics/Thatcherismus), war dieser Aspekt allzu sehr heruntergespielt worden. Mittlerweile jedoch ist die gebannt geglaubte Gefahr wieder erstanden, sich durch ersatzlosen Abbau von Sozialleistungen und durch bloßen Lohn- und Konsumverzicht in eine ökonomisch deaktivierende Abwärtsspirale der Konjunktur zu verstricken. Öffentliche Haushälter mit Sparvorgabe ebenso wie Kaufleute mit betrieblichem Horizont machen sich unweigerlich zu kollektiven Gefangenen des diesbezüglichen Minimierungs-Dilemmas. Sie würden erneut die ganze Gesellschaft in Stockungsfallen hineinreißen, wenn nicht politisch gesetzte Vorkehrungen der eigenen Verbände, der Sozialpartner und der Regierung dem vorbeugen. Man vertritt allerdings nicht unbedingt keynesianische Standpunkte, wenn man den Beitrag eines Grundeinkommens zur Verstetigung der effektiven Nachfrage positiv hervorhebt. Im nächsten Schritt könnte es scheinen, als entstünde durch das Grundeinkommen ein Geldüberhang bei den Unternehmen und Erwerbstätigenhaushalten. Denn infolge der Ausstellung der Bezugsrechte können und sollen Steuern und Abgaben bis zu dem Betrag sinken, der zur staatlichen Finanzierung der Sozialtransfers abgeschöpft wird. Nicht, dass die Unternehmen und Haushalte

2. Geldwertneutralität und Retributionseffekte der Bezugsrechte

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mehr Geld einnehmen würden als zuvor. Denn die Sozialtransfers werden bei Umstellung auf Grundeinkommen im Prinzip nicht erhöht, lediglich ihre Finanzierung erfolgt künftig durch Zentralbank-Bezugsrechte statt wie bisher durch Steuern und Sozialabgaben. Die Grundeinkommensbezieher haben kein zusätzliches Geld auszugeben, und die Unternehmen und Erwerbshaushalte nehmen von daher auch nicht mehr als zuvor ein. Aber es sinken, auf verschiedenen Wegen, ihre Steuern- und Abgabenlasten sowie voraussichtlich auch ihre Finanzierungskosten (Zinsbelastungen). Bei gleicher Ertrags- und Einkommenslage steigt somit der Anteil der verfügbar bleibenden Mittel (Pahlke I 970, 21 ). Für die Unternehmen sollten Erleichterungen bei allen direkten Steuern wirksam werden, bei der ertragsabhängigen Einkommenssteuer und Gewerbeertragssteuer, und mehr noch bei der ertragsunabhängigen Gewerbekapitalsteuer. Dies ist besonders fiir die kleineren und mittleren Unternehmen von großer Bedeutung, die den Löwenanteil der Arbeitsplätze stellen. International agierende Großunternehmen haben ohnedies eine Abstimmung mit den Füßen begonnen, um sich den Unternehmensbesteuerungen, wo und soweit dies möglich ist, zu entziehen. Die kommunale Gewerbesteuer gehört seit langem abgeschaffi:, nicht nur, weil sie Kapitalbildung und Eigenfmanzierungsfiihigkeit schwächt, sondern auch, weil die Gewerbesteuer ein deutsches und luxemburgisches Unikum darstellt, das es weder in anderen EU-Ländern gibt noch sonst irgendwo auf der Welt zu geben scheint. Den Kommunen können auch Anteile an anderen Steuerarten erschlossen werden. (Weiteres zur Besteuerung im Kapitel "Staat und Politik ... I Steuerfmanzierung... "). Darüber hinaus wären die steuergesetzlichen Möglichkeiten der Eigenkapitalbildung und der Rücklagenbildung filr Investitions- und Vorsorgezwecke zu verbessern, und zwar filr Unternehmen und Haushalte. In vielen Industrieländern ist es heute beiden erschwert bis verwehrt, steuerfrei Rücklagen zu bilden und Rückstellungen vorzunehmen. Denn sowohl das Finanzamt als auch die Kapitaleigner wollen möglichst viel ausgeschüttet bekommen. Als Folge davon ist die Eigenkapitalbasis insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen in den zurückliegenden Jahrzehnten erodiert. Zu zahlende Ertragssteuern zusammen mit den Finanzierungskosten des immer einseitiger durch Fremdmittel bestrittenen Unternehmenswachstums sind zusammen so hoch, dass die Nettogewinne rund ein Viertel unter der Höhe bleiben, die erforderlich wäre, um den Eigenkapitalanteil an der Bilanzsumme zu erhalten (Schäfer 1991). Es ist daher dringend nötig, eine Umkehr des unguten Trends zur Kapitalauszehrung zu bewirken zugunsten einer höheren Eigenmittelquote. Statt heute nurmehr 15 - 25 Prozent sollte sie wieder 35 - 65 Prozent der bei einem Projekt eingesetzten Mittel betragen. Dies ist aber nur möglich, wenn erstens der Unternehmensertrag geringer besteuert wird, zweitens Eigenkapitalbildung steuerlich nicht bestraft wird, und drittens die Möglichkeit der Bildung von Rücklagen filr Investitionsund Vorsorgezwecke in größerem Umfang durchgesetzt wird gegen die Inte-

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

ressendes Finanzamtes (Steuerabschöpfung) und der Anteilseigner (Gewinnabschöpfung). Außer den Steuern können sich, je nach Ausgestaltung der Retribution, auch Sozialabgaben direkt verringern. Zudem wird eine Absenkung der Soziallasten indirekt erfolgen, indem das Grundeinkommen dazu beiträgt, die Arbeitslosigkeit in bestimmten Problemsegmenten zu verringern und die Erwerbstätigkeit, auch in der Jugend und im Alter bis zu 65 Jahren, wieder auszudehnen. Die per Umlage einkassierten Beiträge zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung sinken entsprechend. Arbeitnehmern ebenso wie Arbeitgebern kommt diese Erleichterung hälftig zugute. Das Arbeitgeberbrutto sinkt, das Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer bleibt insoweit gleich, während ihr Netto infolge der verringerten Steuern und Sozialabgaben höher ausflillt. Eine Erhöhung des verfiigbaren Einkommens der Erwerbshaushalte kann auch dann noch erzielt werden, wenn die Tarifpartner einen Teil des gewonnenen Spielraumes eine Zeitlang fUr zurückhaltende Tarifabschlüsse nutzen. Die Bruttolohnsumme der Wirtschaft bzw. das einzelne Arbeitgeberbrutto würde realleicht sinken, und die Nettoeinkommen der Haushalte würden zwar weniger steigen als ohne Lohnzurückhaltung, aber dennoch leicht steigen. Für alle Beteiligten ist die Variante "Teils Lohnzurückhaltung, teils Nettolohnzuwachs" auf mittlere und längere Frist vorteilhafter als "Altes Brutto, voller Nettolohnzuwachs". Nicht nur verbleiben den Arbeitgebern mehr verfiigbare Mittel, sondern es sinken auch die Lohnnebenkosten und die Bruttolohnkosten insgesamt. Für die Betriebe wird die Einrichtung von Stellen leichter, Arbeitssuchende können eher beschäftigt werden. Die Beschäftigung von Personal wird insbesondere im Segment der unqualifizierten und gering qualifizierten Tätigkeiten erschwinglicher. Die Proportionen, zu denen Sozialleistungen durch Arbeitnehmerbeiträge, Arbeitgeberbeiträge und Steuern fmanziert werden, variieren zwischen den Ländern der Europäischen Union erheblich. In Dänemark zum Beispiel werden fast 90 Prozent der Sozialleistungen aus Steuern bezahlt, in Frankreich dagegen nur 20 Prozent aus Steuern, dafUr aber, wie auch in Spanien oder Italien, über 50 Prozent aus Arbeitgeberbeiträgen. In Belgien, Holland und Deutschland war die Verteilung zwischen den drei Kostenträgem früher in etwa gedrittelt, hat sich jedoch ebenfalls in Richtung eines zunehmenden Arbeitgeberanteiles verschoben. Etwas sehr Spezifisches zu bedeuten hat dies allerdings kaum, denn die Unterscheidung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag bleibt, jenseits des psychopolitischen Streusandes, weitgehend ein Buchungsartefakt, und obendrein ein alter patemalistischer Zopf. Auch der Unterschied zwischen Beiträgen und Steuern ist im Ergebnis weniger wichtig als er verwaltungsrechtlich und finanztechnisch erscheinen mag. Was nicht durch Sozialabgaben finanziert ist, muss durch Steuern fmanziert werden. Es handelt sich hierbei um einen Ver-

2. Geldwertneutralität und Retributionseffekte der Bezugsrechte

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schiebebahnhofbei relativ geringfilgiger Veränderung der Zahlerbasis. Für das Grundeinkommens-Schema gilt in jedem Land, relativ unabhängig von bisherigen Finanzierungsproportionen und künftigen Tarifverhandlungen, dass in jedem Fall die Steuern und Sozialabgaben fi1r Unternehmen und Haushalte sinken können, sodass ihre laufenden Erträge und Einkommen sich infolgedessen erhöhen. Speziell bei den Unternehmen bedeutet der verringerte Kostendruck einen verbesserten Stand im Kostenwettbewerb, was seinerseits rückwirkend wieder zu einer Stabilisierung oder Verbesserung der Ertragslage filhrt. Die Befilrchtung, die entstehenden Überschüsse der Unternehmen und Haushalte würden sich in inflationäre Nachfrageschocks umsetzen, und sie könnten sich insbesondere in Schübe einer luxurierenden Konsumnachfrage ergießen, ist unbegründet. Retribution bedeutet vermehrte private und dafilr verringerte staatliche Besorgung und Finanzierung von Dienstleistungs- und Vorsorgeaufgaben, zum Beispiel im Bereich der Forschung und Entwicklung, der infrastrukturellen Ver- und Entsorgung, der Bildungs-, Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsdienste, im Bereich der Einkommenssicherung und Altersvorsorge. Die Wirtschaft wird von der öffentlichen Hand erheblich weniger Subventionen und weniger sonstige Steuer- und Preisgeschenke erhalten, und auch fi1r die Haushalte wird es über die Grundsicherung hinaus deutlich weniger "umsonst" geben. Aber alle bisherigen Aufgaben müssen auch in Zukunft so oder so erfilllt und fmanziert werden. Infolge einer Retribution müssen und können die Leute selbst bezahlen was zuvor der Staat (mit ihrem Geld) bezahlt hat. Dies ist allerdings eine Vereinfachung, denn es werden außerdem erhebliche strukturelle Veränderungen dadurch eintreten, dass es fi1r die Mengen, die Qualität und die Preise von angebotenen Produkten und Diensten in der Regel einen großen Unterschied macht, ob sie durch kaufkräftige personale Endnachfrage oder durch bürokratische Monopolnachfrage gesteuert werden, und ob es sich um administrierte Tarife oder um realistische Wettbewerbspreise handelt. Unabhängig davon kann man sagen, dass eine Industriegesellschaft, welche die Stufe der Massenproduktion bereits erreicht hat, zwar weiterhin eine (überwiegend qualitäts- und wertbedingte) Ausweitung des Konsums erleben kann, sie aber keine allgemeinen konsumtiven Mengenschübe mehr produzieren wird im Sinne der Take-Offs der 1920er bis 1970er Jahre (Massenkonsum, Massenmotorisierung, Massentourismus u.ä.). Die verbesserte Einkommenslage der Unternehmen und Haushalte wird sich nicht oder nur zu einem geringen Teil in eine erhöhte Nachfrage nach höherwertigen Gütern umsetzen, und sich stattdessen in einer erhöhten Ersparnis- und Vermögensbildung, einer erhöhten Investitionstätigkeit, sowie, in Ersetzung bisheriger staatlicher Ausgaben, in erhöhten privaten Ausgaben fi1r Bildung und Qualifikation, Gesundheitsdienste u.ä. niederschlagen. Die Unternehmen ebenso wie die Haushalte werden einen Teil der ihnen zusätzlich verfilgbar gewordenen Mittel anlegen in erhöhte Geld- und Sachvermögen, mit der Folge einer erhöhten Eigenfmanzierung (was wiederum die Kreditbonität verbessert) und einer entsprechend verringerten Staatsfinan-

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

zierung. Es sind ursächlich wiederum genau diese verringerten Refmanzierungen und Staatssubventionen, welche die erhöhte Eigenvorsorge und Eigenfinanzierung ebenso ermöglichen wie umgekehrt auch erforderlich machen. Eine hohe Spar- und Eigenkapitalquote ist unternehmerisch und gesamtwirtschaftlich nur von Vorteil. Selbst wenn man annimmt, ein gewisser Teil der erhöhten Einkommen werde eine erhöhte Nachfrage nach höherwertigen Gütern und Luxusgütern nach sich ziehen, kann man davon ausgehen, dass eine undramatisch erhöhte Nachfrage auch in diesem Segment schnell bedient wird. Hoch entwickelte flexible Produktions- und sonstige Handlungskapazitäten lassen eine inflatorische Nachfragelticke unter normalen Umständen nicht mehr entstehen, bzw. jede solche sich abzeichnende Lücke wird bei unbehinderten Märkten und intaktem Wettbewerb zeitnah und bestbietend geschlossen mit der Folge eines inflationsfrei erhöhten Wirtschaftswachstums. Hochentwickelte Kapazitäten bei Verfiigbarkeit von Ressourcen und intaktem Wettbewerb sind erheblich wirksamere Medien der Preisstabilisierung als eine restriktive Geldpolitik es sein kann. Nach herkömmlicher Auffassung entsteht ein Inflationspotential bei annähernder Vollauslastung der Produktionskapazitäten. Im industrietraditionalen Boom überwiegend national agierender Ökonomien mochte eine solche Situation bald einmal eintreten. Insofern unterstellt eine potentialorientierte Geldpolitik auch eine einseitige Abhängigkeit des monetären Bedarfs vom realwirtschaftlichen Wachstum. Die Inflationserwartung bei monetärem Überschießen beruht auf der Annahme einer strukturellen Rigidität der Produktionskapazitäten. Dagegen kann eine weitergehend modernisierte, flexible und international vernetzte Wirtschaftsstruktur mit hoher Faktorenmobilität nicht nur verlUgbare Kapazitäten optimaler ausnutzen, sondern, wichtiger noch, im Bedarfsfall zusätzliche neue Kapazitäten und Ressourcen schneller verftlgbar machen und überhaupt Kaufkraft durch neue Angebote binden. Es ist eine systematische Folge der Globalisierung, dass mit ihr zusammen zunächst eine Phase weitgehend inflationsfreien Wirtschaftswachstum eingesetzt hat. Ein diesbezüglicher Beweis wurde im übrigen auch mit der deutschen Währungsunion erbracht. Die schlagartig erhöhte Zusatznachfrage aus dem Osten- ein veritabler Nachfrageschock - wurde, völlig inflationsfrei, von den internationalen Kapazitäten im Westen durch eine sofortige Sonderkonjunktur und fast wie nebenbei mitbedient, sehr zum Leidwesen der damals teils obsoleten, teils noch nicht in den Markt integrierten Ost-Unternehmen. Ins Blickfeld rückt dergestalt die Abhängigkeit des Wachstums von der verfilgbaren Geldmenge, und eine Wechselseitigkeit zwischen beiden. Die Abhängigkeit des Wachstums von der verfilgbaren Geldmenge bzw. von den damit darstellbaren Einkommen, ist eigentlich das historisch ältere und bekanntere Problem durch die ganze Metallgeldzeit hindurch, in der sich Geld nicht beliebig schöpfen ließ. Durch das Ende der Goldbindung der Währungen, die Sün-

2. Geldwertneutralität und Retributionsetfelde der Bezugsrechte

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denfälle überschießender Papiergeldproduktion und die darauf folgende monetaristische Reaktion bloßen Geldmengendenkens unter ausdrücklicher Nichtbeachtung der vermeintlich ignorierbaren realwirtschaftlichen Gegebenheiten, sind die komplizierteren realwirtschaftlichen Zusammenhänge sowie die wechselseitige Transmission zwischen Geld- und Realwirtschaft vorübergehend etwas verdrängt worden. Ein Preisauftrieb infolge erhöhter effektiver Nachfrage kann bei hoch entwickelten flexiblen Kapazitäten, wie schon in der Vergangenheit auch ohne Grundbezugsrechte, nur bei mengenunelastischen Gütern auftreten, das heißt bei Gütern, die sich nicht oder nur eingeschränkt reproduzieren lassen, und deren Nutzung nicht beliebig rationalisierbar ist. Prototypisch handelt es sich dabei um der Vermögensbildung dienende Sachwerte wie Immobilien, Aktien, Kunstwerke, in näherer Zukunft wohl auch bestimmte Naturressourcen, insbesondere gute Böden, sauberes Grundwasser u.a. Im Kosmos der Güter und Preise bilden Immobilien, Aktien und andere mengenunelastische Dinge schon immer schwarze Löcher, in die große Mengen Geld eingesogen werden - nicht um unvermittelt zu verschwinden, sondern um preissteigernd auf denselben oder ähnlichen Märkten immer weiter zu zirkulieren. Die Sache wird dann nicht sorgenvoll als Inflation betrachtet, sondern als Hausse, deren Preissteigerungen allen gute Laune bereitet. Dass sie über differenzielle Preisentwicklungen, zumal über Bodenpreise und Mieten, unerfreulich schiefe Verteilungswirkungen hervorruft, wird ignoriert. Zum Verschwinden gebracht werden diese selbstbezüglich zirkulierenden Geldmengen und die damit angefeuerten Preise erst in einer Implosion spekulativer Überhitzungen, die danach ein Engagement in normalerweise bescheidener verzinsten realwirtschaftlichen Geschäften wieder interessant genug machen. Es wird wohl immer so sein, dass bestimmte disponible Gelder, die sich weder in Nachfrage nach Gütern und Diensten umsetzen noch sich mit realistischer Verzinsung bescheiden, stattdessen in erhoffte hoch verzinsliche Geldanlagen drängen. Nach einer gewissen Zeit mit Erreichen kritischer Massengrenzen reduzieren sich diese sozusagen von alleine. Die betreffenden Buchvermögen verpuffen in spekulativen Blasen, in Währungsabwertungen u.a. Unrealistische Verzinsungserwartungen werden von den Finanzmärkten selbst erzeugt, aber zum gegebenen Zeitpunkt auch von ihrem eigenen Mahlwerk durch kleine oder große Wertschnitte wieder zurechtgestutzt. Das wiederkehrende Auftreten von schwarzen Geldlöchern, in denen die Vermögen aus überdicht zirkulierenden Anlagegeldern verschwinden, die wiederkehrende Implosion von Geldwertzuwachsillusionen, kann sicherlich als eine Schattenseite des Wirtschaftswachstums angesehen werden. Jedoch gründet diese in gewissen Dispositionen des menschlichen Gefilhls- und Geisteslebens, die mit Geld ursächlich nicht viel zu tun haben. Sie entstehen mit und ohne Bezugsrechte in völlig gleicher Weise.

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

Nun zu Geldangebot und Geldnachfrage bei Zentralbank und Banken. Die Bezugsrechte als solche erweitern weder Angebot noch Nachfrage am Geldmarkt. Denn sie kommen nicht als zusätzliche Zahlungsmittel in Umlauf, sondern die Einführung der Bezugsrechte geht einher mit einer Redimensionierung anderer Geldflüsse, da es sonst in der Tat zu einer überschießenden inflationären Ausweitung der Geldmenge kommen würde. Anband der Abbildung 4, S.I38, lässt sich nachvollziehen, dass die Geldströme durch Grundbezugsrechte nicht per se vergrößert werden, sondern eine Umschichtung in ihrer Zusammensetzung erfolgt, indem erstens die herkömmliche Geldschöpfung der Banken, ihre Schaffung von Sichtguthaben, aufgehoben wird, und zweitens infolge der Bezugsrechte öffentliche Mittel an Unternehmen und Haushalte retribuiert werden. Jeder der Akteure verbleibt im Prinzip mit einem ausgeglichenen Saldo. Die Umstellung von der bisherigen ausschließlichen Kreditemission zu einer gemischten Kredit- und Bezugsrechts-Emission von Geld bedeutet, dass die direkte Liquiditätszufilhrung der Zentralbank an die Kreditinstitute um den Betrag X der Bezugsrechte geringer ausfilllt, als sie bei ausschließlicher Kreditemission ausfallen würde. Hierbei ist unterstellt, dass der Geldmultiplikator der Banken durch Vollgeld außer Kraft gesetzt wird. Ohne Übergang zu Vollgeld müsste der Geldmultiplikator der Banken auf andere herkömmliche Weise verkleinert werden (etwa durch Mindestreserven). Jedenfalls, das Geld, das die Zentralbank fiir Grundeinkommen herausgibt, darf auf anderem Wege nicht noch ein zweites Mal in Umlauf gegeben werden. Bei einer Vollfmanzierung von Grundeinkommen durch Bezugsrechte wird der Übergang zu Vollgeld unumgänglich. Die Geldschöpfung muss dann ausschließlich der Zentralbank vorbehalten bleiben, und es können die Geschäftsbanken nicht damit fortfahren, ihrerseits zusätzliche Sichtguthaben zu schaffen. Die filr das Grundeinkommen ausgestellten Gelder in der Höhe X werden also ausgeglichen durch eine Verringerung bzw. gänzliche Außerkraftsetzung des Geldmultiplikators der Banken sowie durch eine Liquiditätszufuhr der Zentralbank an die Banken, die relativ geringer ausfiillt als sie sonst ausfallen würde. Absolut betrachtet wird die Liquiditätszufuhr voraussichtlich dennoch höher als heute ausfallen. Denn es wird so sein, dass - aufgrund noch zu erläuternder Zusammenhänge der monetären (nicht der realwirtschaftlichen) Umlaufgeschwindigkeit des Geldes - ein größerer Bedarf an Kassenhaltung und damit ein größerer Bedarf an Geldmenge entsteht. Es wird von daher, trotz Grundbezugsrechten, voraussichtlich nicht einmal zu einer Kürzung der herkömmlichen Refinanzierungsgeschäfte kommen. Davon abgesehen haben die Banken schon heute, aufgrund ihrer zunehmend geringeren Angewiesenheit auf Zentralbankgeld, von sich aus relativ weniger zu refmanzieren als noch in früheren Zeiten. Selbst wenn man hypothetisch unterstellt, es käme zu einer Verringerung der herkömmlichen Refmanzierung von Seiten der Zentralbank, so wäre dies nicht als einseitige Kappung misszuverstehen, denn es entspräche dem ein Nachfrage-

2. Geldwertneutralität und Retributionseffekte der Bezugsrechte

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rUckgang nach solchen Refmanzierungen von Seiten der Banken. Sie würden von alleine aufhören, Zentralbankgeld im alten Umfang nachzufragen, weil sie es nicht mehr im gleichen Ausmaß benötigen. Auf dem Wege der erhöhten Geldvermögen der Unternehmen und Haushalte steht die betreffende Menge Geld zur Verfiigung, die früher refmanziert werden musste. Der Refmanzierungsbedarf der Banken sinkt entsprechend, und deswegen kann auch die Zentralbank ihre Refmanzierungslinien kürzen. Dabei bleibt die Kreditangebotsfähigkeit der Banken erhalten. Die Geschäftsbanken verfUgen also nicht über weniger Geld und Kreditspielraum, sondern dem relativ geringeren Zufluss von der Notenbank und dem nicht mehr vorhandenen Geldmultiplikator entspricht ein um X erhöhter Zufluss von den Unternehmen und Haushalten, die mehr Ersparnisse, Rücklagen, Eigenkapital und sonstige Reserven bilden, wodurch sich ihre Anlagen bei den Banken erhöhen. Die um X verringerten Steuern und Sozialabgaben der Unternehmen und Haushalte können nach Lage der Dinge nicht anders, als sich in ihrer Gesamtheit umzusetzen in um X vermehrte Kassenbestände, Geld- und Kapitalanlagen. Die Banken werden also durch die Umschichtung zwischen herkömmlichen Geldemissionen und Bezugsrechten in ihrer Geschäftstätigkeit nicht beeinträchtigt. Es fließen den Banken weiterhin die Mittel zu, die sie benötigen, nur auf einem anderen Weg. Auch die Kreditnachfrage des Publikums, das Kreditvergabe-Potential der Banken, wird im Ergebnis erhalten bleiben, wahrscheinlich sogar zunehmen. Denn zwar bedeuten erhöhte Eigenmittel der Unternehmen und Haushalte, dass sie zur Finanzierung von Vorhaben geringere Anteile an Fremdkapital benötigen. Jedoch wird diese Verringerung des spezifischen Fremdkapitalbedarfs nicht zu einer absolut sinkenden Kreditnachfrage fUhren, sondern zu einer Ausweitung der Investitions- und Vorsorgetätigkeit mit daraus folgender vermehrter Nachfrage nach Krediten. Da besonders die Haushalte, teils auch die Unternehmen, mehr als früher selbst zu fmanzieren haben, werden sie nicht nur mehr Geld zwecks Eigenkapitalbildung und Vorsorgefmanzierung anzubieten haben, sondern auch mehr Geld zwecks Vorhabenfmanzierung bei den Banken nachfragen müssen. Dies gilt zumal, wie im nächsten Abschnitt erläutert, bei einer Absenkung des Zinsniveaus, die umso mehr eine Ausweitung der Investitionstätigkeit und der langfristigen Bildung von Geld-, Sach- und Humankapital bewirken wird. Dadurch entsteht ein kreditvolumensteigerndes Potential, das umso mehr realisiert wird, je niedriger das Zinsniveau und je stabiler die Konjunktur bleiben. Im Ergebnis werden Investitionen leichter zu tätigen sein, und sie werden von daher auch - je niedriger das Zinsniveau, und je beständiger die Konjunktur und die allgemeine effektive Nachfrage bleiben, desto mehr - in ihrer Summe absolut zunehmen. Es gehört zu den ökonomischen Binsenwahrheiten, dass eine hohe Sparquote und eine hohe Investitionsquote einander im Schlepptau haben (Abbildung 13 10 Huber

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

im Anhang). Die Umkehrung der im Kapitel "Ausgangslage" erläuterten Mehrabgaben-Minderinvestitionen-Spirale durch Retribution lässt sich im Prinzip recht einfach auch so ausdrücken, dass Wirtschaft und Gesellschaft umso weniger Investitionsinitiative ergreifen können, je mehr der Staat subventioniert und investiert, und dass umgekehrt Wirtschaft und Gesellschaft umso mehr investieren müssen und können, je weniger der Staat fmanziell und ökonomisch interveniert. Schließlich Staat und Sozialversicherung. Die Bezugsrechte in Höhe von X ermöglichen es ihnen, Steuern und Sozialabgaben um X zu senken. Ein Retributionsgesetz soll sicher stellen, dass diese Möglichkeit auch realisiert wird. Der Staat braucht in den Mechanismus der Finanzierung von Grundeinkommen durch Zentralbank-Bezugsrechte nicht wie früher durch Abschöpfung und Umverteilung zu intervenieren. Ebenso wenig nimmt er direkten Einfluss auf die Geldschöpfung. Der Staatshaushalt wird in dem Umfang von den Kosten fiir Sozialtransfers entlastet, wie Zentralbankbezugsrechte im Rahmen des Grundeinkommens-Schemas ausgestellt werden. Dem um X verringerten Zufluss an die öffentlichen Haushalte entspricht der um X verringerte Abfluss an Sozialtransfers. Die Bezieher der Sozialeinkommen werden sich nicht darüber beschweren, dass ihre Unterhaltszahlungen nun nicht mehr durch X Steuern und Sozialabgaben, sondern durch X Grundbezugsrechte beglichen werden. Wesentlich ist, dass der Staat an der Finanzierung des Grundeinkommens keinen Anteil mehr hat. Damit entfiillt einer der wichtigsten Zwänge zur Steuererhöhung oder Staatsverschuldung aus sozialpolitischen Gründen. Die öffentlichen Haushalte geraten nicht mehr -jedenfalls nicht mehr aufgrund von Sozialtransfers- in eine Verschuldungsspirale. Dies wird umso mehr der Fall sein, als auch der Arbeitsmarkt positiv vom Grundeinkommen beeinflusst wird. Es gibt in diesem Zusammenhang kein keynesianisches Deficit spending mehr und folglich auch keine daraus resultierende Staatsverschuldung mit ihren zermürbenden Langfristfolgen fiir die politische Führungs- und Handlungsflihigkeit und mit ihren negativen Wirkungen fiir die Konjunktur, das Preisniveau, oder die Einkommens- und Vermögensverteilung. Das Grundeinkommen wird nicht zuletzt die Städte und Gemeinden von ihrer schleichenden Erdrosselung durch untragbar gewordene Sozialhilfelasten befreien. Die Mittel fiir die Sozialhilfe müssen traditionell von den Kommunen aufgebracht werden. Durch ein bezugsgrechtfmanziertes Grundeinkommen werden die kommunalen Haushalte von den Kosten der heutigen Sozialhilfe voll entlastet. Die Bürgermeister und Stadtparlamente, wie in den anderen Fällen die Regierungen und Finanzbehörden, können entscheiden, wie weit sie die Entlastung nutzen, um entweder den kommunalen Haushalt zu entschulden, oder um die Steuer- und Abgabenquote zu senken, oder um zu Teilen auch aufgestaute, dringende Investitionen fiir die kommunale Infrastruktur zu tätigen. Eine Garantie, dass frei werdende Gelder auch immer zur Verwirklichung dieser Chancen genutzt werden, gibt es freilich nur durch ein Retributionsgesetz, das

2. Geldwertneutralität und Retributionsetfelde der Bezugsrechte

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die Ausstellung von Grundbezugsrechten und die Rückftlhrung und Umschichtung der Staatsfinanzen aneinander koppelt. Die anzustrebende Rückftlhrung der Staatsverschuldung von heute 60 - 130 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf höchstens I 0 - 20 Prozent, und die Senkung der Staatsquote aus dem Bereich von 45 - 65 Prozent des Bruttosozialproduktes in einen Bereich von vielleicht 15 - 25 Prozent in einem Zeitraum von einem Vierteljahrhundert, kann durch Grundbezugsrechte alleine nicht bewerkstelligt werden. Dazu bedarf es zusätzlich in vielen der heutigen Interventionsund Regiefelder des Staates konkreter Sachreformen im Einzelnen. Diese werden dem Staat zwar seine notwendige allgemeine Gewährleistungsfunktion erhalten, aber seine heutige Allzuständigkeit auch filr fmanzielle und ökonomische Angelegenheiten zurücknehmen. Die Einftlhrung eines bezugsrechtfmanzierten Grundeinkommens bedeutet nicht nur, und vielleicht nicht einmal so sehr, eine Reform der sozialen Grundsicherung, sondern mehr noch eine Reform der Staatsfmanzen und der damit verbundenen staatlichen Wirtschaftsaktivitäten einerseits und der privaten Finanzen andererseits. Ihren ganzen Sinn erhält die Innovation der Bezugsrechte dann, wenn sie zum Ausgangspunkt dafilr genommen wird, den Staatsanteil bzw. Sozialversicherungsanteil auch in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau u.a. soweit wie möglich zurückzunehmen. Theoretisch können Steuern und Sozialabgaben nicht nur im Maße der Ausstellung von Grundbezugsrechten sinken, sondern auch in dem Maße, wie Unternehmen und Privathaushalte durch die Entwicklung ihrer Realeinkommen und Vermögen sich in die Lage versetzt sehen, in zunehmendem Maße fiir Dinge Sorge zu tragen, die heute öffentliche Körperschaften an ihrer Stelle und mit ihrem Geld filr sie besorgen. Da es aber auch darum geht, die öffentliche Verschuldung zurückzufilhren, muss die durch die Grundbezugsrechte bewirkte Entlastung der öffentlichen Haushalte in zweifacher Richtung genutzt werden zum einen Teil, um Einkommenssteuern auf Löhne und Gewinne sowie Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu senken, und zum anderen Teil, um die Staatsverschuldung abzubauen. Man kann den durch die Grundbezugsrechte geschaffenen Retributions-Spielraum etwa so ausschöpfen, dass die Hälfte davon in Steuersenkungen umgesetzt wird, während die andere Hälfte zum Schuldenabbau genutzt wird. Mit zunehmend eintretender Erholung bei Haushaltsdefiziten und öffentlicher Verschuldung können dann vermehrt Steuern und Abgaben gesenkt statt Schulden getilgt werden. Wenn die Senkung der Einkommenssteuern in größeren Schritten und die Anhebung von Verbrauchssteuern in kleineren Schritten erfolgt, so kann in einem zusammenhängenden Prozess erstens die Staatsquote verringert, zweitens die Staatsschuld zurückgefilhrt, und drittens das Steueraufkommen im Sinn einer ökologischen Steuerreform von Einkommens- zu Verbrauchssteuern umgeschichtet werden. Diese Schritte werden freilich keine Riesenschritte sein kön10*

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

nen, und der ganze Umstellungsprozess erfordert einen längeren Zeitraum. Umso wichtiger wird es sein, die Schritte gesetzlich festzuschreiben und das Vorhaben in der öffentlichen Willensbildung mit einer möglichst hohen Wertschätzung aufzuladen. Dies ist möglich, weil es keine erdrückende Mehrheit an Verlustangst geben wird, sondern die Mehrheit der Bürgerschaft Geld und Gestaltungsspielräume zu gewinnen hat, denen gegenüber negativ eingestellte sozialkonservative Etatisten und Industrietraditionalisten in der Minderheit bleiben werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass infolge der Ersetzung steuerfmanzierter Sozialtransfers durch Zentralbank-Bezugsrechte sich nicht per se die Geldmengen ändern, womit der Inflationsverdacht hinfällig wird. Es ändert sich die Geldquelle, indem die private Geldschöpfung der Banken versiegt und die Zentralbank zur alleinigen Geldquelle wird. Damit ändern sich Proportionen in der Zusammensetzung von Geldströmen und Geldbeständen. Und es wird der öffentliche Sektor auf wirtschafts- und gesellschaftsverträgliche Maße getrimmt, während der private Sektor der Unternehmen und Haushalte mit den Mitteln ausgestattet wird, die er benötigt, um neu gewonnene Eigenverantwortungen tragen zu können.

3. Zinsniveauabsenkung durch Bezugsrechte und ihre Wirkungen Deramerikanische Ökonom Irving Fisher (1867-1947) hat zwei nach ihm benannte Gleichungen aufgestellt, zum einen die Verkehrsgleichung, von der noch die Rede sein wird, und die folgende Zinsgleichung: Realzins = Nominalzins - Inflationsrate Nominalzins = Realzins + Inflationsrate

Entsprechend dieser Gleichung besteht zwischen Nominalzins und Inflationsrate eine unmittelbare Beziehung. Steigt die Inflation, steigen auch die nominalen Kapitalmarktzinsen (die Sollzinsen, die das Schuldnerpublikum zu zahlen hat). Geht die Inflation zurück, so sinkt auch das Zinsniveau. Dieser Zusammenhang ist sehr deutlich. Er gilt auch fllr reale Zinsen in dem Sinne, dass der Realzins umso niedriger/höher ausfällt, je höher/niedriger die Inflationsrate wird (Abbildungen 19 und 20 im Anhang). Dem englischen Ökonom Gibson zufolge jedoch lasse sich die Fisher-Korrelation zwischen Nominalzins und Inflationsrate in langen Zeitreihen nicht durchgängig belegen, während eine positive Korrelation zwischen Zins und Preisniveau stets vorhanden sei (Abbildung 21 im Anhang). Keynes bezeichnete diese Feststellung als Gibson's Paradox. Dies ist ein merkwürdiges Postulat. Die Inflationsrate wird gemessen als Veränderung des Preisniveaus, das durch einen Korb von Verbraucher- oder Erzeugerpreisen erfasst wird. Die Inflationsrate und die Bewegung des Preisniveaus indizieren das Gleiche. Ein Paradox sollte hier weder logisch noch empirisch entstehen.

3. Zinsniveauabsenkung durch Bezugsrechte

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Es mag zu Zeiten besondere Bedingungen geben, aber grosso modo ist die gleichgerichtete Bewegung zwischen Zinsniveau einerseits und Inflationsrate bzw. Preisniveau andererseits seit wenigstens drei Jahrhunderten belegt. Unternehmer ebenso wie Bankiers wissen aus Erfahrung, dass sich Preise und Zinsen wenn schon nicht im Gleichmaß, so doch gleichgerichtet zu entwickeln pflegen. Da Güter-, Arbeits- und Finanzmärkte miteinander korrespondieren, und der Zins als der Preis :ftlr Kredit betrachtet werden kann, wäre etwas anderes als eine in der Regel gleichgerichtete Korrespondenz zwischen Zinsen und Preisen überraschend. Die Zentralbanken heben oder senken die Leitzinsen mit der Preisentwicklung, nicht gegen sie. Wenn sie letzteres dennoch behaupten (Zinsanhebung als Maßnahme, um den Preisanstieg zu dämpfen), so steht dies nicht in Widerspruch zur Fisher'schen Zinsgleichung, sondern es handelt sich um ihre Bekräftigung durch das, was Therapeuten eine paradoxe Intervention nennen, das heißt, einer Übertreibung die Spitze zu nehmen, indem sie mit etwas Gleichem noch verstärkt wird. In intersubjektiven Sinnzusammenhängen kann dadurch etwas ad absurdum geftlhrt werden, und in objektiven Wirkungszusammenhängen geht die betreffende Eskalation so lange, bis sie ihre Entfaltungsnische erschöpft hat und der komplementäre Gegenmodus in den Vordergrund tritt (zum Beispiel so, wie heute die Verstaatlichungs-Spirale ihren Kulminationspunkt überschritten hat und nun der komplementäre Gegenmodus der Vergesellschaftung wieder hervortritt). Die sich ergebenden Oszillationen sind Ausdruck systemischer Selbststeuerungs-Vorgänge. Zins- und Preisbewegungen (Steigen versus Fallen) in zyklischen Verläufen liefern hier:ftlr eindrückliches Anschauungsmaterial. Die Fisher-Korrelationzwischen Zinsen und Güterpreisen ist nichts anderes als der Spezialfall einer allgemeinen Preis-Korrespondenz zwischen allen Arten von miteinander kommunizierenden Märkten. Ein anderer Spezialfall ist zum Beispiel die Lohn-Preis-Spirale zwischen Arbeits- und Gütermärkten. Einen wieder anderen Spezialfall bildet die im Kapitel "Ausgangslage" dargelegte Abgaben-Einkommens-Spirale oder Abgaben-Preis-Spirale. Ein wieder anderes Beispiel wäre die Binnenkaufkraft-Außenwert-Rückkopplung einer Währung. Es muss möglich sein, im Sinne solcher Korrespondenzen :ftlr alle sinnvoll zueinander in Beziehung setzbaren Preisniveaus auf und zwischen allen Arten von Märkten signifikante positive oder negative Korrelations-Koeffizienten zu ermitteln. Im hier diskutierten Kontext bietet es sich an, die bivariable Zins-Preis-Korrespondenz und die bivariable Abgaben-Preis-Korrespondenz zusammenzufUgen zu einem trivariablen Abgaben-Zins-Preis-Zusammenhang, anders gesagt, einem Transferquote-Kapitalquote-Preis-Zusammenhang. Man könnte sich dazu ein sarkastisches Triptychon ausmalen, in dessen mittlerem Hauptteil brave fleißige Leute reale Wirtschaftswerte produzieren, während zur Linken teils un-

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

schuldig bedrängte, teils unartige Leute in der fiskalischen Hängematte von Subventionen und Sozialtransfers liegen und die brave fleißige Mehrheit durch Steuern und Sozialabgaben zur Ader lassen, und zur Rechten teils vom Schicksal begünstigte, teils übelwollende Leute in der monetären Hängematte von Kapitaleinkünften liegen, indem sie der braven fleißigen Mehrheit Zinstransfers absaugen. Betrachtet man lediglich die Einkommen der privaten Haushalte, so scheint das sarkastische Bild nicht einmal allzu weit von der Realität entfernt zu sein. Rund 43 Prozent der Haushaltseinkommen stammen aus Arbeitsentgelten, während ein Viertel aus Sozialtransfers fließen und etwa ein Drittel der Haushaltseinkommen inzwischen aus Vermögensverzinsungen entsteht (iwd 34, 1997). Die Verteilung dieser Durchschnittswerte gestaltet sich in Wirklichkeit allerdings sehr ungleich. Eine hohe Zinsquote geht nicht unbedingt mit einer hohen kompensatorischen Sozialtransferquote einher. Das lehren der feudale Handelskapitalismus ebenso wie der aufstrebende Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts. Aber eine hohe Subventions- und Sozialtransferquote geht unausweichlich mit einem hohen Zins- und Preisniveau einher. Einfacher gesagt, hohe Zinsen führen nicht per se zu hohen Steuern, aber unbedingt fUhren hohe Steuern und Staatsschulden zu hohen Zinsen, und beide zu hohen Preisen. Denn sowohl eine hohe fiskalische Abschöpfung als auch eine hohe staatliche Kreditnachfrage (Crowding Out) bewirken eine zinstreibende relative Kapitalverknappung. Wird ihr durch undisziplinierte Geldemission begegnet, entsteht Inflation. Inflation ebenso wie hohes Zins- und Preisniveau bewirken zugleich, dass die Sparfll.higkeit der mittleren bis unteren Schichten stark eingeschränkt bis zunichte gemacht wird, sodass die Sparquote bei nur 10- 15 statt bei 30- 50 Prozent liegt. Nur die gehobenen und höheren Schichten können trotz der hohen Abgaben nennenswert Investitions- und Vorsorgevermögen bilden. Ihnen fließen praktisch alle Zinstransfers selbstkumulierend zu. Die geringe Ersparnisbildung und das hohe Zins- und Preisniveau drücken das private Investitionsniveau unter sein natürliches Potential. Steuer- und schuldenfmanzierte öffentliche Investitionen können dies fiir eine gewisse Dauer kompensieren bis die Grenzen der fiskalischen Abschöpfung und Staatsverschuldung erreicht werden. Dann kommt zur Vermögenspolarisierung eine generelle Unterinvestition hinzu, und dies auf höher als nötigem Zins- und Preisniveau, sodass die Folgen fiir Wachstum und Beschäftigung allmählich katastrophal zu werden beginnen. Unzweifelhaft befmden sich die Sozialstaaten Westeuropas zur Jahrhundert- und Jahrtausendwende in eben einer solchen Lage. Auch "sozial" eingestellte Menschen werden nicht umhin kommen, die Wirkungszusammenhänge zwischen steigender Staatsquote/Staatsverschuldung, steigendem Zins- und Preisniveau, gedämpfter Investitions- und Vorsorgetätigkeit, und Unterbeschäftigung und Einkommens- und Vermögenspolarisierung anzuerkennen. Bezüglich des Sozialtransfer-Zinstransfer-Preis-Zusammenhan-

3. Zinsniveauabsenkung durch Bezugsrechte

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ges lassen sich idealtypisch zwei Konstellationen A und B unterscheiden, wobei A hinausläuft auf den im "Ausgangslage"-Kapitel erwähnten Typus einer Apartheids-Ökonomie, zumindest einer tendenziell stagnierenden, gespaltenen Ökonomie, und B auf den Typus einer dauerhaft stabilen, differenzierten Wohlstandsökonomie. Charakteristisch filr das Stagnations- und Spaltungs-Szenario A ist ein angespannt hohes Zins-, Preis- und Lohnniveau, Hand in Hand mit einem dadurch hohen Maß an Nicht-Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, einer schwächlichen Wachstums- und Strukturwandeldynamik, einer hohen Steuerund Abgabenquote, und einer hohen Zinsquote mit polarisierender Vermögensverteilung. Dagegen die differenzierte Wohlstandskonstellation B bewegt sich genau umgekehrt auf einem gemäßigten Zins-, Preis- und Lohnniveau, bei dadurch ermöglichter Vollbeschäftigung auf einer breiten Basis der Erwerbstätigkeit, einer kontinuierlichen Strukturwandeldynamik, einer geringen Abgabenquote und breit gestreuten Vermögensbildung, aber dennoch relativ geringer Zinsquote aufgrund des niedrigeren Zinsniveaus. Man kann sagen, dass die Wirkung eines bezugsrechtfinanzierten Grundeinkommens durch Übergang zu Vollgeld tatsächlich in nichts anderem besteht, als eine Wende von A nach B zu vollziehen, und zwar zum einen durch eine Absenkung der Subventionen und Sozialtransfers infolge Retribution (sinkender Staatsanteil, höherer Gesellschaftsanteil) und zum anderen durch eine Absenkung des Zinsniveaus (dazu auch Fisher 1935, 175-191). Die Zinsniveauabsenkung ergibt sich im wesentlichen aus drei Faktoren, nämlich erstens der abnehmenden Staatsnachfrage nach Geld, zweitens einem verbesserten Kapitalangebot infolge erhöhter Ersparnis und breiter gestreuter Vermögensbildung, sowie drittens der zinsfreien Emission der Bezugsrechte. Die Zinsniveauabsenkung wirkt ihrerseits inflationsdämpfend. Man kann somit entgegen dem Inflationsverdacht sogar annehmen, dass ein bezugsrechtfmanziertes Grundeinkommen im Rahmen einer potentialorientierten Geldmengenentwicklung per se disinflationär wirkt infolge von Retribution und Zinsniveauabsenkung. Der erstgenannte zinssenkende Faktor ergibt sich aus der Verringerung der zinstreibenden Konkurrenz zwischen öffentlichem und privatem Geldbedarf. Der Staat muss sich dank Grundbezugsrechten weniger verschulden. Entsprechend verkleinert sich der Markt filr öffentliche Anleihen. Der Rückgang im Geschäft mit öffentlichen Anleihen erfolgt nicht dadurch, dass die Notenbank der Regierung direkten Kredit gäbe (Grundbezugsrechte sind kein Notenbankkredit an den Staat), sondern dadurch, dass der Finanzierungsbedarf des Staates und die Staatsquote als solche zurückgehen. Der zweite Faktor, die verbesserte Eigenkapitalquote und Kapitalverfilgbarkeit aufgrund des Sachverhaltes, dass der Staat dank Grundbezugsrechten weniger Steuern und Abgaben abschöpfen muss, wurde oben bereits ausfUhrlieh dargelegt.

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

Der dritte Faktor liegt in der Zins- und Tilgungsfreiheit der in Umlauf gegebenen Bezugsrechte. Kreditemissionen stellen an und filr sich einen starken Kostenfaktor dar in Form des Ausgabezinses. In kleinbürgerlichen Traditionen der Kapitalismuskritik, speziell im Anarchosyndikalismus, werden Zinszahlungen (Kapitalrenten) ebenso wie Mietzahlungen und Pachten (Grundrenten) angeprangert als "Privatsteuern". Das ist insofern interessant, als öffentliche zu privaten Zahlungsverpflichtungen in Beziehung gesetzt und in ihrem Tributcharakter miteinander verglichen werden - obschon es unhaltbar ist, die Unausweichlichkeit öffentlicher Verpflichtungen mit der relativen Vermeidbarkeit privater Verpflichtungen in einen Topf zu werfen. Es kann einem allerdings in einem Laden schon passieren, dass die Person hinter dem Verkaufstisch beim geeigneten Stichwort zum Lamento anhebt "Man schuftet ja bloß noch filrs Finanzamt und die Miete". Vertreter des Kreditgewerbes zögern ihrerseits nicht, unverzinsliche Mindestreserven als vorenthaltenen Zinsgewinn und von daher als Geldsteuer zu interpretieren. Bei Grundbezugsrechten entfallen Zins- und Tilgungslasten im Zusammenhang mit der Geldemission von vornherein. Insofern das Geld Privathaushalten und Unternehmen zufließt, und diese davon Ersparnisse gegen Habenzins bilden, kommen Zinseinnahmen aus den Bezugsrechten der Bürgerschaft in ihrer Breite zugute. Von den obrigkeitlichen Ständen über die Institutionen des Finanzkapitals zur breiten Bürgerschaft - in diesem Kontributionsweg könnte man tatsächlich ein Stück Demokratisierung des Geldwesens sehen. Jedoch werden die Habenzinsen nicht berauschend sein. Sie sollen und dürfen es auch nicht, damit die Bezugsrechte ihren Zweck erftlllen. Es wird im weiteren Verlauf noch deutlicher werden, dass die implizite Finanzierung der Bezugsrechte im Wesentlichen durch deren Zinsfreiheit, anders gesagt, einen virtuellen Zinsverzicht erfolgt. Bei funktionierendem Wettbewerb im Bankensektor bewirkt die zinsfreie Emission der Bezugsrechte als solche eine Absenkung des Zinsniveaus. Die Habenzinsen filr Bankdepositen werden relativ niedriger liegen als die heutigen unteren Leitzinsen in Form des Diskont- und Pensionssatzes. Selbst wenn, hierin erneut der Darlegung des Vollgeld-Konzeptes vorausgreifend, künftig eine absolut größere Zentralbank-Geldmenge per Kredit emittiert wird, so bedeutet dies im Vergleich zu den heutigen Bankenemissionen und in Anbetracht des abgesenkten Zinsniveaus dennoch eine geringere Zinsbelastung der Wirtschaft. Würde, hypothetisch, unter Vollgeld-Bedingungen die gesamte Geldmengeper verzinslichem Kredit emittiert, so würde dies einer Quasi-Geldbesteuerung durch die Zentralbank gleichkommen, die man als unerhört empfmden würde obschon die privaten Kreditinstitute eben diese Unerhörtheit in Form eines Margenextragewinnes durch die Sichtguthabenschaffung per Kredit heute regelmäßig realisieren. Von daher ist die Zins- und Tilgungsfreiheit der Bezugsrechte unter dem Belastungs- und Verteilungsaspekt geradezu notwendig und er-

3. Zinsniveauabsenkung durch Bezugsrechte

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wünscht. Die Lenkungsfunktion der Zinsen bleibt auch auf erniedrigtem Niveau ungeschmälert erhalten. Die Zinsniveauabsenkung erfolgt bei den Sollzinsen fiir Kredite ebenso wie bei den Habenzinsen fiir Guthaben. Es sinkt somit das Zinsniveau, nicht aber die Zinsspanne, aus der die Banken im Kreditgeschäft ihren Erlös ziehen. Das Gewinnpotential der Banken im Kreditgeschäft beruht, außer auf dem Kreditvolumen, auf der Zinsspanne oder Zinsmarge. Diese bezeichnet die Differenz zwischen den Sollzinsen im Aktivgeschäft und den Habenzinsen im Passivgeschäft. Die Zinsspanne ist im Prinzip nicht abhängig von der Höhe des allgemeinen Zinsniveaus. Bei niedrigem Zins- und Inflationsniveau können die gleichen Spannen erzielt werden wie bei hohem. Die Zinsmarge der Banken bleibt ungeschmälert. Dagegen werden die Margenextragewinne aus der so genannten Bankengeldschöpfung nicht bestehen bleiben. Es erhebt sich die Frage, ob eine Niedrigzins-Währung eine Kapitalflucht in Hochzins-Währungen zu befilrchten hat. Diese Frage ist jedoch nur in Arbitrage zwischen in etwa gleichrangigen Währungen von Belang (etwa in dem Sinne, wie die Zinsdifferenz zwischen zum Beispiel Dollar und Pfund fiir Zuflüsse in eine der beiden Währungen eine Rolle spielt). Ansonsten kann die Frage klar verneint werden. Niedrigzins-Währungen sind grundsätzlich starke Währungen, die ihren Außenwert erhalten oder steigern aufgrundder Stabilität, Wachstumsdynamik und Produktivität der Realwirtschaft, der sie zugehören. Nur schwache Währungen haben hohe Zinsen nötig. Starke Währungen locken mit langfristig stabilem realem Wertzuwachs. Insofern ein Wirtschaftsgebiet mit bezugsrechtfmanziertem Grundeinkommen eine Wende von A nach B vollzieht, wird es sich bei seiner Währung um eine realwirtschaftlich starke Niedrigzins-Währung handeln. Eine Kapitalflucht-Problematik hat sie damit defmitiv nicht zu befUrchten, allenfalls ein eher angenehmes Devisenüberschuss-Problem. Der Mechanismus, welcher der Fisher-Korrelation zugrunde liegt, und durch den niedrigere Zinsen sich umsetzen in niedrigere Preise, lässt sich auch folgendermaßen beschreiben: Wenn die spezifischen Anteile von Einkommenssteuern, Sozialabgaben, Finanzierungskosten sinken, dann werden entweder bei alten Preisen die Gewinne der betreffenden Unternehmen zulegen, oder die Unternehmen werden kraft funktionierendem Preiswettbewerb nicht umhin können, einen erheblichen Teil dieser Beträge in Form gesunkener Preise an ihre Kunden weiterzugeben. So bewirken abgesenkte Steuern und Finanzierungskosten bei funktionierendem Wettbewerb eine Absenkung des allgemeinen Niveaus der Preise filr Güter und Dienstleistungen. Insoweit das zuvor bestehende Preisniveau überhöht war aufgrund der Staatsquote, aufgrund der Bruttolohnkosten, und aufgrund der öffentlichen und privaten Finanzierungskosten, und insoweit das überhöhte Preisniveau als eine Wachstumsbremse fungierte, wird das dann auf geringerer Höhe stabilisierte

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

Preisniveau diese ungehobenen Potentiale von Wirtschaftswachstum freigeben. Das gesunkene Preisniveau ftlhrt daher nicht zu verringerten Einnahmen, Erträgen und Erwerbseinkommen. Die erniedrigten Preise treffen vielmehr auf ein Umfeld erleichterter Investitionstätigkeit, verbesserter Wettbewerbsfl!higkeit, und erweiterter Dispositionsspielräume in der Budget-Gestaltung von Unternehmen und Haushalten. Infolgedessen wird das gesunkene Preisniveau umgesetzt in mehr Wirtschaftswachstum. Der Preisrückgang muss nicht unbedingt durch bloßes Mengenwachstum, sondern kann künftig noch ausgeprägter als schon heute durch qualitative Wertsteigerung von Gütern und Diensten ausgeglichen werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein Produkt nicht billiger wird, indem der Preis absolut zurückgeht, sondern indem es filr den gleich gebliebenen Preis ein erheblich verbessertes Produkt zu kaufen gibt. In jedem Fall wird dem abgesenkten Preisniveau eine gleich gebliebene oder erhöhte Wertsumme der Umsätze und Einkommen gegenüberstehen.

4. Fragen der Liquiditätskontrolle Die Notenbanken haben im Lauf ihrer Geschichte ein bewährtes Instrumentarium entwickelt, mit dem sie Geld in Umlauf bringen oder es dem Umlauf vorübergehend oder auf Dauer wieder entziehen können (Köhler 1977, Dickertmann/Siedenberg 1984, Jarchow 1988). Eine volle Kontrolle des Geldumlaufes und der Kreditgewährung haben Zentralbanken zwar nie gehabt. Aber Notenbanken, und besonders jene, die filr die großen Leitwährungen verantwortlich sind- die U.S. Federal Reserve in Amerika, die Deutsche Bundesbank, solange sie die Stafette noch nicht an die Europäische Zentralbank abgegeben hat, und die Nippon Ginko (Japanische Nationalbank) - haben in der Vergangenheit durch eine gut instrumentierte und glaubhaft praktizierte Geldmengen- und Zinspolitik einen merklichen Einfluss auf den Bankensektor und die Finanzierung der Realwirtschaft ausüben können. Die betreffenden Instrumente und Maßnahmen der Geldversorgung und Liquiditätskontrolle können bei der Einfilhrung von Grundbezugsrechten beibehalten und wie bisher angewendet werden. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum solche Maßnahmen bei Grundbezugsrechten und Vollgeld ebenso erforderlich bleiben wie bisher. Zu diesen Gründen gehören u.a. oszillierende Abweichungen zwischen Geldmengenexpansion, prognostiziertem und eintretendem Wachstum, oder veränderte Kassenhaltungs-Präferenzen, das heißt, verändertes Geldausgabe- und Geldanlage-Verhalten der Unternehmen und Haushalte, oder veränderte Außenwirtschaftseinflüsse, wie sie sich ergeben, wenn bei freier Konvertierbarkeit der Währungen deren Außenwert sich ändert und wenn eventuell große Geldsummen einem Land zufließen oder aus dem Land abgezogen werden.

4. Fragen der Liquiditätskontrolle

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Sofern Banken Geld von der Zentralbank benötigen werden, kann es ihnen zugeführt werden wie bisher, indem die Zentralbank Geldmarktpapiere der Banken (Wechsel, andere Wertpapiere) aufkauft, sei es im Rahmen von Refmanzierungslinien (Diskont- und Lombardkredite) oder von Offenmarktoperationen (Pensionsgeschäfte u.ä.). Alle solche Geschäfte bleiben bei Einfilhrung von Bezugsrechten und auch Vollgeld erhalten, lediglich dürfte sich ihr Umfang in gewissem Ausmaß ändern. Insoweit wird sich auch die Ausgestaltung der Geldpolitik modifizieren. Es gibt seit Jahrzehnten einen Paradigmenstreit zwischen einer diskretionären und einer regelverstetigten Geldpolitik (Bofmger et al. 1996, auch Duwendag et al. 1993, Dudler 1984). Die regelverstetigte Geldemission ist ein vom Monetarismus bevorzugter Ansatz (Simons 1948, 160ff., Friedman 1991 ). In einem "Regime konstanten Geldmengenwachstums" (Brunner 1984, 28) soll die Geldmenge regelmäßig nach einem festen Koeffizienten zunehmen, der mit der langfristig avisierten Rate des Wirtschaftswachstums korrespondiert, etwa zwei bis fiinf Prozent pro Jahr (Friedman 1969a, 47f.). Es sollen so keine Unklarheiten über das Geldmengenwachstum entstehen, sodass alle Akteure in ihren Erwartungen sich entsprechend einstellen können. Demgegenüber versucht eine diskretionäre Geldpolitik, Geldmengen und Zinsen nach aktueller Lage zu steuern, um das Geldangebot der Zentralbank und der Banken einerseits und die Geldnachfrage der Wirtschaft andererseits situativ variabel in Einklang zu bringen mit dem beobachteten und prognostizierten Wirtschaftswachstum. Die diskretionäre Vorgehensweise wird von den Zentralbanken gemeinhin bevorzugt. Das mag politische ebenso wie funktionale Gründe haben. Die regelverstetigte Emission vorbestimmter Geldmengen zu verwalten wäre möglicherweise eine weniger großartige Angelegenheit als den Finanzmärkten mit einem diskretionär geschwungenen Taktstock Geldvolumen und Zinsrhythmus vorzudirigieren. Dessen ungeachtet bleibt aber wenig nachvollziehbar, warum eine Zentralbank sich einseitig einer starren Geldemissionsmechanik (einer regelfixierten sog. Open-Loop-Politik) verpflichten solle, mit der sie nützliche und wichtige Möglichkeiten reaktiver Steuerung und Rückkopplung (diskretionäre Closed-Loop-Politik) aus der Hand gibt. Um etwas Derartiges zu verlangen, muss man schon einen recht geldtechnokratischen Standpunkt einnehmen, wie er dem Monetarismus in der Tat innewohnt. Die heutige reale Geldpolitik kann man faktisch als einen fortlaufenden Kompromiss und als eine Kombination beider Ansätze auffassen. Zum einen gewährleisten die Zentralbanken so gut wie immer einen regelmäßigen Grundstrom frischen Geldes. Selbst bei ausgeprägt diskretionärer Herangehensweise existiert faktisch ein verstetigter Sockel an Geldschöpfung durch routinisierte Geldmarktoperationen und Krediteinräumungen. Zum anderen emittieren und absorbieren die Zentralbanken zusätzliche Geldmengen je nach Lage und Steue-

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

rungsbedarf. Es liegt auf der Hand, dass die EinfUhrung von Grundbezugsrechten insofern zur Regelverstetigung beiträgt, als der Teil der informell faktisch bereits verstetigten Geldemission durch das Grundeinkommens-Schema formalisiert wird. Die Möglichkeiten diskretionärer Geldpolitik bestehen dennoch weiter. Die Regelverstetigung der Bezugsrecht-Emissionen bedeutet keine absolute Verstetigung des Geldmengenzuwachses. Denn die Regeln schreiben eine Relation zwischen allgemeiner Einkommensentwicklung und Bezugsrechten fest (Grundeinkommen in Höhe von 50 Prozent des Äquivalenzeinkommens). Der Umfang der auszustellenden Bezugsrechte kovariiert proportional zur Einkommensentwicklung und ist außerdem abhängig von der veränderlichen Zahl und Zusammensetzung der Bezugsberechtigten. Darin liegt rückbezüglich auch einer der Gründe, weshalb es darüber hinaus der Zentralbank unbenommen bleiben muss, weiteres Geld diskretionär zu schöpfen oder zu absorbieren. Wie bereits erläutert, ergänzen Grundeinkommen, Bezugsrechte und Vollgeld einander vorteilhaft, sind jedoch nicht notwendigerweise aneinander gebunden. Es wäre denkbar, dass eine politische Mehrheit einer Teil-EinfUhrung von Grundbezugsrechten zustimmt, nicht jedoch dem Übergang vom Reservesystem zu Vollgeld. In diesem Falle würde der Geldschöpfungsmultiplikator der Banken nicht außer Kraft gesetzt. Er müsste dann aber dennoch ein Stück weit verkürzt werden, um sicherzustellen, dass dem Mehr an Zentralbank-Emission ein Weniger an Banken-Emission gegenübersteht. Für diesen Fall würde es sich anbieten, das Instrument der Mindestreserven nach § 16 Bundesbankgesetz bzw. Art.l9 der Satzung der Europäischen Zentralbank zu reaktivieren. Mindestreserven entsprechen einem bestimmten Prozentsatz der Einlagen bei Banken, das heißt, der Sichtguthaben und der kurzfristigen Kapitalguthaben ihrer Kunden. Diese einlageproportionalen Gelder sind kein sozusagen abgezweigtes und deponiertes Bankengeld, sondern Zentralbankbuchgeld, das die Banken halten müssen als Sicherungsreserve filr die Giro-, Spar- und Tenningeldguthaben der Kunden. Mindestreserven sind nicht verfilgbar und scheiden als Zahlungsreserve aus. Die Banken müssen dadurch ihnen eventuell fehlende Zahlungsreserven bei der Zentralbank neu aufnehmen. Auf diese Weise kann durch das Instrument der Mindestreserven das Ausmaß mit beeinflusst werden, zu dem Banken auf Geldnachschub von der Zentralbank angewiesen sind. Da jedoch der Zahlungsverkehr immer mehr bargeldlos erfolgt, brauchen die Banken immer weniger Zahlungsreserven. Dennoch müssten sie so viel Zentralbankgeld aufnehmen wie sie einlageproportionale Mindestreserven halten müssen. (Auch daran kann man sehen, wie sich das Reservesystem tendenziell ad absurdum fUhrt und ein Übergang zu Vollgeld historisch flUlig wird). Bei einer EinfUhrung von Grundbezugsrechten ohne Umstellung auf Vollgeld würden die Mindestreservesätze erhöht, während das Volumen der Zentralbankkredite an die Banken nicht erhöht oder abgesenkt würde. Die pflichtreser-

4. Fragen der Liquiditätskontrolle

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vierten Geldmengen werden dadurch nicht gelöscht, aber stillgelegt. Auf diese Weise können eventuelle inflationssensible Geldmengen-Überschüssedurch die Notenbank abgeschöpft und vorübergehend oder auch fiir lange Zeit neutralisiert werden. Die Höhe der Mindestreserven ist in Deutschland heute gesetzlich begrenzt auf 10% der Spareinlagen, 20% der befristeten Verbindlichkeiten und 30% der frei verfllgbaren Sichteinlagen. Diese Prozentsätze müssten im Zuge einer fortschreitenden Grundeinkommens-Reform (ohne Übergang zu Vollgeld) wohl schrittweise angehoben werden. Perspektivisch würde der Prozess konvergieren mit dem in der Einleitung erwähnten I 00-Prozent-Reserve-Banking, auf das im Vollgeld-Kapitel noch genauer eingegangen wird. In vergleichbarer Weise modifiziert werden könnten im angenommenen Fall auch die Grundsätze zum Eigenkapital und zur Liquidität der Banken, die zum Kreditwesengesetz gehören. Die Prozentsätze des Eigenkapitals und der Einlagen, die Kredite nicht übersteigen dürfen, wären dann entsprechend herabzusetzen. Die Banken müssten entsprechend mehr Eigenkapital sowie mehr kurzund langfristige Einlagen aufweisen. Auch auf diesem Wege würde der Geldmultiplikator der Banken verringert. Durch Anhebung (oder Senkung) der Prozentsätze wird der Kreditvergabe-Spierraum der Banken herabgesetzt (oder heraufgesetzt). Nicht jedoch wird ihr Kreditvergabe-Spierraum beeinträchtigt, sofern sie mehr Eigenkapital und mehr Einlagen bilden können. Genau dies, mehr Einlagen, würde bei einer Ausstellung von Grundbezugsrechten auch ohne Übergang zu Vollgeld eintreten. Die Mindestreserven werden von der Bundesbank nicht verzinst. Der entgangene Zins auf die Mindestreserven lässt sich, wenn man so will, als Steuer auf Bankgeschäfte auffassen. Den Banken ist dies ein Dorn im Auge, zumal im Wettbewerb mitjenen ausländischen Banken, die geringere oder gar keine Mindestreserven unterhalten müssen. Aus diesem Grunde setzte die Bundesbank in den zurückliegenden Jahren ihre Mindestreserve-Forderungen drastisch herab. Die Mindestreserve-Sätze, die 1987 noch 10- 12 Prozent betrugen, liegen seit 1995 nurmehr bei 1,5 - 2 Prozent. Die Mindestreservepolitik wäre theoretisch zwar reaktivierbar. Auch im Arsenal der Europäischen Zentralbank ist dieses Instrument vorgesehen. Dem stehen in der Praxis jedoch zwei Sachverhalte entgegen. Der eine besteht in der Internationalisierung, insbesondere Europäisierung des Bankenwettbewerbes, wodurch national unterschiedliche Mindestreservepflichten zur Wettbewerbsverzerrung werden. Der andere und bedeutendere Sachverhalt liegt in der abnehmenden Angewiesenheit der Banken auf Zentralbankgeld infolge der beschleunigten Zirkulation von Sichtguthaben. Geldpolitische Probleme heute haben mit "zu viel Geld" zu tun, nicht mit "zu wenig". Die Restriktion der Beschaftbarkeit von Liquidität - bei freier Geldschöpfung, die im Prinzip beliebige Geldmengen darzustellen vermag - ist eine geldpolitisch gewollte, nicht wie zu Metallgeldzeiten eine grundsätzliche und

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

objektiv begründete. Durch eine sachgerechte Anwendung geldpolitischer Maßnahmen wird ausgeschlossen, es könne eine Geld- und Kreditverknappung eintreten. Wenn die relative Knappheit des Geldes richtig bemessen ist, wird es sich dabei auch um ein stabiles Geld handeln. Bei Vorhandensein von hoch entwickelten Produktions- und sonstigen Handlungskapazitäten und bei Verftlgbarkeit von Ressourcen, kann es in einem frei Geld schöpfenden Kreditwesen nicht zu Geld- und Kreditengpässen kommen, es sei denn aus schlechter Bonität der Kreditnachfrager, aber dann wäre das Kriterium der hoch entwickelten Kapazitäten nicht mehr erftlllt. Die vielschichtigen Zusammenhänge der modernen Gesellschaft verdecken häufig diese sehr einfache Wahrheit: Je leistungsfähiger eine Gesellschaft ist, umso weniger ist Geld filr sie ein Problem, und je leistungsschwächer sie ist, desto mehr bereitet das Geld ihr Probleme. Aus Geld als solchem wird niemals Wohlstand erwachsen. Geld kann nur in dem Maße Kaufkraft besitzen oder Wertschöpfung induzieren, wie die Menschen durch ihre Fähigkeiten und Kapazitäten reale Wirtschaftswerte immer wieder neu schaffen.

5. Fragen der Geldlöschung Rückströmung, Rückschnitt und Inflation In der Metallgeldzeit waren Liquiditätsprobleme Probleme des Geldmangels, einmal abgesehen von punktuellen Ausnahmen wie der spanischen Silberinflation des 16. Jahrhunderts. Seit der allmählichen und heute endgültig vollzogenen Entbindung des Geldes von absolut geldverknappenden Sachwertdeckungen, sind gesamtwirtschaftliche Liquiditätsprobleme fast ausschließlich Probleme überschießender Liquidität geworden. Nach Jahrzehnten eher laxer Geldemission und schlechter Erfahrungen hat man gelernt, die Geldkanäle disziplinierter und steuerungsgenauer zu fluten. Die so genannte monetaristische Konterrevolution der 80er und 90er Jahre gegen die keynesianisch legitimierte übermäßige staatliche Geldmengenausdehnung war ein Teil dieses Lernprozesses. Aber selbst unter der vielleicht nicht ganz realistischen Annahme, es werde von nun an bei einer genau dosierten potentialorientierten Geldmengenausdehnung bleiben, stellt sich doch in sehr langfristiger Hinsicht eine grundlegende Frage überschießender Liquidität: Wie kann Geld, das im Zuge potentialorientierter Emissionen einmal in Umlauf gekommen ist, aus dem Kreislauf endgültig wieder ausgeschleust werden, wenn die Wachstumsraten langfristig abnehmen, gegen null streben, und eventuell negativ, also in eine reale Schrumpfung übergehen würden? Dieses Problem wird in Wissenschaft und Praxis kaum thematisiert. Die Diskussion dreht sich stets um eine Expansion, nicht Kontraktion der Geldmengen, um Wachstum, nicht Schrumpfung der Wirtschaft. Tatsächlich mag im gegebenen historischen Kontext filr Jahrzehnte und tatsächlich Jahrhunderte in der bloßen Wachstumsorientierung die einzig relevante Perspektive gelegen haben. Die Frage des Geldmengenrückganges mochte demge-

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genüber als eine unzeitgemäße Präokkupation erscheinen. Aber auch wenn dies heute noch kein Thema ist, es dürfte früher oder später einmal eines werden. Denn auch die globale wissenschaftlich-technische Revolution und das mit ihr verbundene Wachstum werden eines ferneren Tages einmal ausklingen. Die säkulare Wachstumskurve der modernen Wirtschaft hat ihre Anflinge im Hochmittelalter, und sie hat in der industrietraditionalen Epoche ihren 100 - 200jährigen exponentiellen Take-Off absolviert (Abbildung 22 im Anhang). Es gibt nun Anzeichen - insbesondere den demographischen Übergang des Bevölkerungswachstums und langfristig abnehmende Wachstumsraten in den hoch entwickelten Industrienationen - die darauf hindeuten, dass wir heute in die Phase des logistischen Überganges, des Überganges vom exponentiell aufdrehenden zum assymptotisch abdrehenden Teil der säkularen Lernkurve, möglicherweise bereits eingetreten sind. Doch selbst wenn dem so wäre, besagt der zurückliegende Zweig der Wachstumskurve, dass wenigstens noch weitere I 00 - 200 Jahre Wirtschaftswachstum, wenn auch im Laufe der Zeit voraussichtlich immer mehr abnehmendes Wachstum, vor uns liegen. Insofern bräuchte man sich nicht den Kopf über Probleme zu zerbrechen, die noch lange nicht aktuell sein werden. Beim heutigen Geldreserve-System scheint ein Geldmengenrückgang kein Problem zu sein. Denn Geld kommt im heutigen Reservesystem ausschließlich per rückzahlbarem Kredit in Umlauf. Tilgt das Publikum seine Kredite bei den Banken, und lösen die Banken ihre Wechsel und Wertpapiere bei der Zentralbank gegen Rückgabe des dafilr kreditierten Geldes wieder aus, ist das Geld verschwunden. Dies ist das Rückströmungsprinzip nach John Fullarton, einem Hauptvertreter der Banking-Schule der 1840er Jahre. In Wirklichkeit allerdings liegen die Dinge überwiegend so, dass die gesamten Geldmengen kreditrevolvierend über die Jahrhunderte hinweg wachsen, teils verstärkt, teils unterbrochen und verworfen durch immer wieder zerrüttete Staatsfmanzen, Kriege und Bürgerkriege, Revolutionen, große gesellschaftliche Vermögensverluste, Währungsreformen, Enteignungen, krasse Inflationen u.a. In solchen Fällen macht die regierende Ordnungsmacht einen Strich, einen großen Kapitalschnitt, und es wird, wenn schon nicht bei null neu begonnen, so doch auf einer erheblich herabgesetzten Stufe der Forderungen und Verbindlichkeiten wieder weitergemacht. Wenn im Rahmen einer relativ kontinuierlichen normalen Entwicklung eine Stagnation oder Schrumpfung eintritt, werden viele tallige Kredite ebenfalls nicht ordentlich getilgt, sondern prolongiert oder es kommt zu Zahlungsuntahigkeit, womöglich einer gefahrliehen Kette oder gar Lawine von Zahlungsuntahigkeiten. Die Banken, in ihrem Hintergrund die Zentralbanken, sehen sich dann gezwungen, Wertberichtigungen vorzunehmen, vulgo, das Geld in den Wind zu schreiben. Im Hinblick auf Bezugsrechte liegen die Dinge theoretisch anders, aber praktisch vermutlich gleich. Wenn man im Rahmen von Grundbezugsrechts-Emis-

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

sionen einmal unterstellt, die Wirtschaft würde nurmehr sehr langsam wachsen, stagnieren oder sogar anhaltend schrumpfen, was wäre dann? Der Bedarf an zusätzlicher Geldmenge würde sinken, es müsste weniger Geld emittiert werden. Der Bedarf an Bezugsrechten würde dagegen gleich bleiben und nur im Falle der Wirtschaftsschrumpfung abnehmen (aber auch dann eine Geldmengenausweitung darstellen). In dieser Situation entsteht ein Liquiditätsüberhang, und wenn man nichts tut, wird die Inflation ihr Werk tun. Das überzählige Geld würde getilgt in Form eines gewissen Kaufkraftschwundes. Wenn man einmal unterstellt, es würde das Wirtschaftsprodukt schrumpfen und die Geldmenge gleich bleiben, dann würde sich aus der Schrumpfungsrate die ungefähre Inflationsrate ergeben. Man kann sich die Situation der Gewohnheit halber auch als herkömmliches Wachstumsszenario, als Nullwachstum vorstellen. Es würde die Geldmenge weiter steigen, aber das reale Wirtschaftsprodukt gleich bleiben. Aus dem bloßen Geldmengenzuwachs würde sich ein rein nominaler Anstieg des Wirtschaftsproduktes bzw. der Einkommen und somit die betreffende Inflationsrate ergeben. Zum Beispiel betrug das nominale Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren in Deutschland durchschnittlich 5,05 Prozent, das damit einhergegangene Wachstum der Geldmenge MI durchschnittlich 7,84 Prozent. Geht man davon aus, dies sei ein potentialorientiertes Geldmengenwachstum gewesen, handelte es sich dabei nicht um eine I: I-Entsprechung zwischen Geldmenge und Wirtschaftsprodukt, sondern I ,00 Prozent nominales Wirtschaftswachstum induzierte I,55 Prozent Geldmengenausweitung bzw. ein Geldmengenzuwachs von I,OO Prozent implizierte ein nominales Wirtschaftswachstum von 0,64 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands lag I996 bei 3.540 Mrd Mark. Es wurde dargestellt auf der Grundlage einer Geldmenge von etwa 920 Mrd Mark. Angenommen, das Grundeinkommen kostet I 00 Mrd Mark. Das entspricht 2,8 Prozent des Wirtschaftsproduktes und steigert die Geldmenge auf I.020 Mrd Mark. Das wäre ein Anstieg der Geldmenge um I 0,87 Prozent, und es ergäbe sich daraus ein nominaler Anstieg des Wirtschaftsproduktes bzw. eine Inflationsrate von 6,96 Prozent. Anders gesagt, in einer hypothetischen Nullwachstums-Situation und ohne sonstige Veränderungen müsste ein bezugsrechtfmanziertes Grundeinkommen mit einer Inflation von um 7 Prozent bezahlt werden - ein größerer Grundeinkommensbedarf mit mehr Inflation, ein kleinerer mit weniger. Zum Vergleich: Die Mehrwertsteuer in den heutigen Industrieländern beträgt I5 - 35 Prozent. Der Vergleich hinkt allerdings. Denn Inflation bedeutet einen Preisauftrieb, der Einkommen und Geldvermögen fortlaufend betriffi:. Steuern dagegen bedeuten faktisch zwar ebenfalls einen Kaufkraftverlust, jedoch sind davon nur die Einkommen, die Geldvermögen danach aber nicht mehr betroffen. Man kann sich unter diesem Aspekt überlegen, ob unter Nullwachstums-Voraussetzungen eine Steuerfmanzierung von Grundeinkommen einer Bezugsrechtfmanzierung eventuell vorzuziehen wäre.

5. Fragen der Ge1d1öschung

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7 Prozent Inflation sind bereits ein bedenklicher Fall, der sich in Richtung unhaltbarer Zustände bewegt, die bei spätestens etwa 10 - 15 Prozent erreicht sind. Mit einer noch "natürlich" zu nennenden milden Inflationsrate von 2 - 3 Prozent haben 7 Prozent nichts mehr zu tun. Ihr Negativitäts-Potential ist wohl durchaus zu vergleichen mit dem einer überhöhten Staatsquote. Eine fiskalische Expansion verkleinert die Einkommen und schont bzw. bedient Geldvermögen, womit einer unsozialen Polarisierung Vorschub geleistet wird (die durch progressive Steuertarife und Vermögensbesteuerung lediglich zeitlich gestreckt wird). Demgegenüber verkleinert eine monetäre Expansion und die daraus folgende Inflation die Geldvermögen und in geringerem Maße die Einkommen als die offene und alleinige Einkommensbesteuerung, womit de facto eine sozialistische Politik verfolgt werden könnte. Diese Gegenüberstellung von monetärer und fiskalischer Expansion sollte nicht verwechselt werden mit der Kontroverse zwischen Monetaristen und keynesianisch orientierten Fiskalisten. Im Disput zwischen steuermaximierenden Fiskalisten und inflationsminimierenden Monetaristen haben Letztere insofern die besseren Karten, als sie die Fisher-Korrelationund den Abgaben-Zins-PreisZusammenhang, die Korrespondenz zwischen Steuerexpansion/Staatsquote zum einen und Geldmengenexpansion/Inflationsrate zum anderen, von vornherein systematisch berücksichtigen. Indem sie allerdings ihren Gegenspielern keine mäßigende Optimierung, sondern maßlose Expansion unterstellen, gehen sie selbst in die Sackgasse einer spiegelbildlichen Minimierung. Es geht aber weder um null Staatsquote noch um null Inflation. Das sollten gerade jene, die sich mit der Grundrate der Arbeitslosigkeit so gut auskennen, im Hinblick auf die Grundrate der Inflation ohne weiteres einsehen. Eine Politik der rigiden Geldmengenrestriktion und Inflationsminimierung ist im Prinzip ebenso verfehlt und kontraproduktiv wie eine Politik der undisziplinierten Ausweitung von Staatsquote, Steuern, Geldmenge und Inflation. Die hier angestellten Überlegungen zu fiskalischer und monetärer Expansion loten Grenzen in Extremfällen aus und machen damit kontra-intentionale unsoziale Folgen des Sozialstaates deutlich, sei es durch unmäßige Steuern und Abgaben, sei es durch übermäßige Geldmengenexpansion und Inflation, sei es in vielen Fällen durch beides. Zu suchen sind dagegen die optimalen Maße im Abgaben-Zins-Preis-Zusammenhang. Bei den hier angestellten Betrachtungen handelt es sich um einen gedanklichen Versuch, die Realität eines ferneren Tages einzuschätzen, wenn das heute noch anhaltende säkulare Wachstum in eine globale Wirtschaftsstagnation einmünden würde. Auch ein unverändert beibehaltenes Geldreserve-System hätte sich in der Praxis mit dieser Frage auseinander zu setzen. Inflation wirkt wie eine Einkommens-Abgabe, die darin Steuern und Zinsen vergleichbar ist, und ebenso wie eine Geldmengen- und GeldvermögensRückgabe, die darin einer Tilgung von Kredit vergleichbar ist. Der Form nach ist Inflation keine Einkommens-Abgabe, sie wirkt aber wie eine solche. Ebenso II Huber

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

wenig ist Inflation eine Geldvermögens-Rückgabe, obwohl sie so wirkt. Die Inflationsfmanzierung einer diffusen Vielzahl von Aktivitäten in diffusem Umfang ist auch und gerade heute noch in weiten Teilen der Welt eine wirksame Realität. Wird mit der Geldexpansion Rüstung fmanziert und der Luxuskonsum von herrschenden Klassen bedient, geht der inflationäre Schwund überwiegend aufKosten der kleinen Leute. Würde damit ein Grundeinkommen (wohlgemerkt unter Nullwachstums-Bedingungen) abgedeckt, ginge der inflationäre Schwund zu proportional gleichen Lasten aller Nicht-Bedürftigen. (Unter durchschnittlichen herkömmlichen Wachstumsbedingungen erfolgt die Finanzierung von Grundeinkommen durch Bezugsrechte inflationsfrei). Tobins "Schmiermittel"-Betrachtung einer geringen Inflationsrate bleibt insofern gültig, als milde Inflation eine gerechte Schnitterio ist. Sie beschneidet Kaufkraft und Geldvermögen unbedingt proportional ohne Ansehen der Person und des Standes. Gegenwärtig wird ein solcher Standpunkt als inopportuner Keynesianismus eingestuft. Die Furcht vor einer eventuell wieder unbändig werdenden Inflation ist durchaus begründet. Im Rahmen des bestehenden biinstitutionellen Geldreserve-Systems ist es ohnedies nur eingeschränkt möglich, der Inflation zu steuern. Erst ein Vollgeld-System mit ausschließlicher und uneingeschränkter Zentralbankkontrolle der Geldmenge könnte glaubhaft beanspruchen, die Inflationsrate so weit steuern zu können, wie diese auf Geldmengen-Ursachen zurückruftihren ist. Freilich gilt eine solche Erwartung auch nur unter der Voraussetzung relativ stetig verlaufender Realwirtschaftsprozesse. Eine enge quantitätstheoretische Inflationsanalyse verkennt, dass Inflation deshalb zu den großen ökonomischen Problemen des zurückliegenden Jahrhunderts gehört, weil sie im Kontext von unbändigen Wachstumsschüben des weltweiten industriellen Take-Off steht. Dessen säkulare Lernkurve verläuft durch permanenten Strukturwandel und fortgesetzte schwere Strukturkrisen hindurch (Abbildungen 22 und 23 im Anhang). Der säkulare Wachstumsschub und seine fortgesetzten Strukturumbrüche sind die eigentlichen Inflationsursachen. Unstetigkeiten der Geldmengenanpassung und unangepasste Staatshaushalte gehören großteils selbst schon zu den Reaktionen darauf. Die deutsche Geldpolitik hatte sich zuletzt sehr einseitig dem Leitbild einer unbedingten Inflationsminimierung verschrieben, soweit man sich in einem Reservesystem einer solchen Zielrichtung über Geldmengen- und Zinsbeeinflussung überhaupt nähern kann. Dem liegt der Gedankengang zugrunde, dass stärkere und krasse Formen der Inflation - wie in Deutschland erlebt nach dem Ersten Weltkrieg, sonst in Europanach dem Zweiten Weltkrieg, und danach überall als permanente schleichende bis trabend-galoppierende Inflation - katastrophale Wirkungen entfalten, zumindest zu unhaltbaren Zuständen filhren, und dass deshalb im Umkehrschluss, was der Kaufkraftbefestigung des Geldes dient, automatisch gut für die Wirtschaft und den allgemeinen Wohlstand sein müsse,

5. Fragen der Geldlöschung

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je befestigter umso besser. Freilich würde niemand denken, rigides Stillestehen sei eine vernünftige Reaktion auf Raserei. Man vermag heute noch nicht einmal über die natürliche Rate oder Grundrate der Inflation Auskunft zu geben. Sie beträgt mit Sicherheit nicht null. Das künftige Leitbild der Zentralbanken, auf der Grundlage weiter verbesserter wissenschaftlicher und fmanztechnischer Kompetenzen, wird wohl kaum mehr in undifferenzierter Weise lauten, Inflation zu bekämpfen, sondern: Inflations- und Disinflationsraten in den Grenzen der jeweils erwünschten Bahn zu steuern. Darin einigermaßen analog zur Arbeitslosenquote, wird man eine Inflationsrate von 0 Prozent so wenig als normal ansehen wie eine Rate von I 0 - I5 Prozent. Dagegen wird man 2 - 4 Prozent einigermaßen verträglich finden. Man wird genauer als heute wissen, wie weit die Grundrate der Inflation selbst kein konstanter Parameter ist und wodurch sie gewissen notwendigen Schwankungen unterliegt. Die Aufgabe wird lauten, die (Dis-)Inflationsrate nahe ihrer Grundrate zu fahren. Etwas anderes wird man wohl als unqualifiziert betrachten. Die mutwillige Absenkung der Inflationsrate unter ihre Grundrate wird als ebenso gemeinwohlschädlich gelten wie die absichtsvolle Inkaufnahme einer überhöhten Inflation. Das Ziel der Kaufkraftstabilisierung wird in einem komplexeren wirtschaftspolitischen Zielsystem aufgehoben. Diese Tendenz ist längst wissenschaftliche, gesetzliche und praktische Realität, auch wenn man sich aufgrund pekuniärer Besitzstandsinteressen scheut, sie offen so zu betrachten. Sofern es bei der mangelnden Versachlichung der Inflationsfrage bleibt, könnte filr den Fall der Wirtschaftsschrumpfung hypothetisch auch an einen anderen Weg gedacht werden. Dieser wäre allerdings weniger elegant und würde das staatliche Steuermonopol in anderer Form wieder ins Spiel bringen. Der Weg bestünde in einem Geldschnitt, das heißt darin, Geldmengenper Erlass zu tilgen, also die vorhandenen Geldvermögensbestände mehr oder minder periodisch, allgemein und in einem Umfang von einigen Prozentpunkten zu beschneiden. Es wären davon nicht nur die Geldguthaben betroffen (wobei die Ermittlung der Bargeldbestände mit Sicherheit Probleme aufwerfen würde), sondern auch alle Forderungen und Verbindlichkeiten. Andernfalls würde man ein einseitiges Einkommensbeschneidungs-Szenario, anders gesagt, ein deflationäres Szenario simulieren zugunsten der Gläubiger und zulasten der Schuldner. Die Vorstellung eines Geldschnittes weckt unschöne Assoziationen mit der mittelalterlichen Praxis des Geldverrufes und mit der inzwischen I OOjährigen Gesell'schen Idee des Schwundgeldes. Allerdings ginge es beim Geldschnitt um reale Geldmengenverminderung unter Schrumpfungsbedingungen. Dagegen ging es beim Schwundgeld und der Geldverrufung früherer Zeiten um Wachstumsankurbelung unter Bedingungen künstlicher Geldverknappung oder echten Geldmangels. Damals wurden umlaufende Münzen verrufen, weil zu wenig Geld (in der Regel Silber) vorhanden und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes filr heutige Maßstäbe träge war. Man sammelte die Münzen ein, verschlechterte ihren Silbergehalt, und konnte so mehr Münzen gleichen Nennwertes und II*

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IV. Finanzierung des Grundeinkommens

geringeren Metallwertes in den Umlauf zurückgeben. Es wurde Kaufkraft nicht abgeschöpft, sondern vermehrte Kaufkraft nominell zugeftlhrt. Damit konnte mehr Umsatz finanziert werden, jedenfalls solange nicht steigende Preise die Differenz zwischen Nominal- und Realwert wieder zunichte machten. Durch den wiederholten Münzgewinn in Form der Differenz zwischen alter und neuer Geldmenge fiel wie von selbst auch mehr Geld ftlr den bischöflichen und ftlrstlichen Hothaushalt ab. Auch Gesells Problem bestand in zu wenig Geld bzw. in Geldhortung und zu geringer Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Die Drohung des Geldwertschwundes sollte eine schnelle Kaufkraftrealisierung antreiben. Heute und in Zukunft dagegen besteht das Problem eher darin, dass sich zu viel Geld in Umlauf befmdet, und dass es sich als elektronisch verwaltetes Buchgeld teilweise in eine Umlaufgeschwindigkeit hineinsteigert, die sich umsichtiger Kontrolle zu entziehen droht. Es ist also unzutreffend, Geldverrufung und Schwundgeld mit einem Geldschnitt zu assoziieren. Aber eine unschöne Vorstellung, und eine unpraktische obendrein solange es noch Bargeld gibt, bleibt Geldschnitt gleichwohl. Geldschnitt wäre nichts anderes als die Alternative des bürokratischen Planungsverfahrens zur Inflation als der preislichen Marktlösung. Eine stagnierende oder schrumpfende Wirtschaft - sei es mit oder ohne Bezugsrechte, sei es mit Reservegeld oder Vollgeld - muss überzählig werdendes Geld aus dem Verkehr ziehen. Diese Ausschleusung kann dem Prinzip nach auf dreierlei Weise erfolgen: erstens auf dem Wege der Rückströmung durch ersatzlose Tilgung von Banken- und Zentralbankkredit, zweitens durch diskretionäre Geldschnitte, drittens durch kontinuierliche milde Inflation. Eine organische Rückströmung ist weitgehend illusorisch. Denn ihr Per-Saldo-Vollzug ist überhaupt nur unter Krisenbedingungen naheliegend, und unter solchen Bedingungen vollzieht sich eine "Rückströmung" als Vernichtung von Geldforderungen bzw. Geldvermögen infolge der Zahlungsunfilhigkeit von Schuldnern, nicht durch ordentliche Schuldentilgung erst des Publikums bei den Banken, dann der Banken bei der Zentralbank. Bezugsrechte - darin gleich früherem Metallgeld, und im Unterschied zu Buchgeldkredit - können ohnedies nicht rückströmen, da sie weder zu verzinsen noch zu tilgen sind. Darin liegt ja ihr allgemeinwirtschaftlicher Nutzen begründet. Eine Praxis diskretionärer Geldschnitte würde eine Reihe der Probleme aufwerfen, die aus der bürokratischen Planwirtschaft bekannt sind, darunter die unorganische Diskontinuität der Schnitte oder dazu alternativ die Häufung unsinniger Ausgaben gemäß einer vorgegebenen Schnittperiodik {Muster des öffentlichen Dienstes heute), dann Dauerversuche einer auch heute viel versuchten aber letztlich nur selten dauerhaft erfolgreichen Flucht in Sachwerte, des Weiteren unvermeidliches Über- oder Untersteuern aufgrund der natürlichen Wissensdefizite und der unvollständigen Information der Verantwortlichen, nicht zuletzt eine unsachgemäße Politisierung der unliebsamen Schnittpraxis.

5. Fragen der Geldlöschung

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Wenige Prozent Inflation lösen alle diese Probleme geräuschlos und effizient, und dabei mindestens so gerecht wie diskretionäre Geldschnitte es gewährleisten könnten. Man pflegt seine Sachen, wohl wissend, dass sie nicht ewig währen. Geld muss Kautkraft gewährleisten, um als Geld fungieren zu können. Aber kein zählbegabter Mensch wird erwarten, die Kautkraft eines Geldes sei absolut und unbegrenzt. Sobald die akkumulierten Geldvermögen ein Vielfaches der zirkulierenden Geldmenge betragen - wie dies heute und fast immer der Fall ist- wird die so genannte "Wertautbewahrung" durch Geld störanfällig. In welchem Ausmaß und wie lange das Geld unter solchen Bedingungen seine Kautkraft behält, ist vor allem eine Frage der Stabilität (nicht Starrheit) der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse. Aus der Sicht derjenigen, die Geld abgeben bzw. Kautkraft einbüßen, sind alle Sachen, von denen hier vergleichend gesprochen wird, unschöne Sachen. Wenn man könnte, würde man auf Steuern, Sozialabgaben, Zinsen, Mindestreserven, Inflation sowie Geld- und Kapitalschnitte sicherlich gerne verzichten. Aber es sind bestimmte Repartitionsprobleme zu lösen, und dafür sind die betreffenden Methoden in bestimmten Konstellationen und für bestimmte Zwecke unverzichtbar. Die unmittelbare Wirkung aller dieser Methoden ist beim betroffenen Publikum eine gleiche. Es wird ihm Kautkraft entzogen. Die mittelbare Wirkung ist jedoch eine andere. Inflation und Geldschnitt mindern die Kaufkraft der zur Ader Gelassenen und löschen betreffende Geldvermögensbestände definitiv - der Geldschnitt durch erzwungene Geldrückgabe, die Inflation durch gleichen Nominalwert bei verringertem Realwert. Steuern und Zinsen dagegen sind umverteilte Kaufkraft. Sie sind Einkommen, deren Geld in Umlauf bleibt. Auch Mindestreserven absorbieren Geld nur auf Zeit, ohne es in seinem Bestand zu löschen. Diese Formen vermögen das Tilgungsproblem nicht zu lösen.

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld Nachdem die Funktionsweise und die grundsätzliche Möglichkeit einer geldwertneutralen Finanzierung eines Grundeinkommens durch Bezugsrechte dargelegt wurden, bleibt die Frage nach dem Ausmaß zu klären, zu dem es möglich ist, Grundbezugsrechte inflationsfrei auszustellen. In welchem Verhältnis stehen die filr das Grundeinkommen benötigten Summen zu den sonst in Umlauf gegebenen Geldmengen? An welchen Kenngrößen bemisst sich überhaupt die laufende Geldemission? Und wer emittiert dieses Geld wie? Diese einfach klingenden Fragen können nicht beantwortet werden, ohne auf bestimmte Probleme der Geldmengenabgrenzung einzugehen und sich mit Aspekten der Geschichte des Geldes und der Geldpolitik auseinander zu setzen. Erforderlich ist insbesondere ein Verständnis des heute praktizierten Geldreserve-Systems. Die Beschäftigung mit einer Reihe von Fragen der Geldtheorie ist insoweit unumgänglich, nicht zuletzt im Interesse einer klaren Begründung des hier vertretenen Konzeptes. Aus gleichen Gründen seien in den folgenden Abschnitten einige grundlegende Funktionen des Geldes und Entwicklungsphasen der Geldordnung besprochen. Die Darlegung folgt nicht immer den gängigen Vorstellungen und sollte deshalb auch von fachkundigen Lesern nicht übersprungen werden.

1. Das Steuerungsmedium Geld Ressource zur Repartition von Ressourcen Wirtschaft handelt von Menschen, ihren Sachen und der besonderen Sache Geld. Dies sind die drei Arten von Wirtschaftsfaktoren, die es gibt. Der herkömmlichen Betrachtung zufolge spricht man von den drei Faktoren Arbeit, Boden und Kapital. Aber diese Kategorien sind veraltet, nicht, weil sie zwei bis drei Jahrhunderte alt sind, sondern weil sich in dieser Zeit vieles ausdifferenziert hat, was in den alten Begriffen, die weniger entfalteten Zuständen entsprechen, noch verquickt ist. Von den drei Faktoren Menschen, Sachen und Geld ist der Mensch der aktive Faktor. Die Sachen, etwa in Form von Rohstoffen, Betriebsmitteln, Ländereien, Anlagen, Produkten, sind der aktivierte Faktor. Das Geld ist der transaktive Faktor. Rückbezüglich aktiviert werden können alle drei Faktoren, aber die Sachen können nicht in einer dem Sozialsystem immanenten Weise aktiv sein wie der Mensch, und das Geld kann grundsätzlich nicht aktiv

1. Das Steuerungsmedium Geld

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sein und lediglich in transaktiver Funktion aktiviert werden. (Weiteres dazu im Kapitel "Eine postkapitalistische Sicht"). Geld erlaubt es den Akteuren, ökonomisch zu interagieren. Ökonomische Interaktionen heißen Transaktionen (kaufen/verkaufen) und Transferierungen (Geld überlassen durch leihen/verleihen, und Geld übertragen durch Abgaben und Schenkungen). Transaktionen und Transferierungen vollziehen sich, indem bezahlt wird. Sozialwissenschaftlich gesehen, ist Geld eine Ressource, die als Steuerungsmedium dient. Dies dadurch, dass mithilfe der Ressource Geld eine Repartition von Ressourcen vorgenommen werden kann, das heißt, eine Mengen-Aufteilung, zeitliche Einteilung und operative Zuteilung von Wirtschaftsfaktoren, zum einen von Realwirtschaftsfaktoren wie Zeit, Personal, Naturressourcen, Flächen, Betriebsmitteln, Anlagen, Gebäuden, nicht zuletzt auch die Verteilung des Wirtschaftsproduktes in Gestalt der Einkommensverteilung, zum anderen eine fmanzielle Repartition von Geld und Geldvermögen. Betont man am Wirtschaften den Aspekt des effizienten Haushaltens mit knappen Mitteln, so realisiert sich dieser Aspekt durch die fortlaufende Repartition der Ressource Geld zur Repartition von realwirtschaftlichen und fmanzwirtschaftlichen Ressourcen, um damit Zwecke der Wirtschaftsakteure zu erfiillen mithilfe der Schaffung und Anwendung geeigneter Handlungskapazitäten. In der Repartition fungiert Geld als die Ressource der Ressourcen. Das Geld erfilllt seine Repartitionsaufgabe im Rahmen der Preisbildung durch Marktwettbewerb oder durch Verwaltungsverfahren der Preisadministrierung. Die Ressource Geld ist somit erstens Preisbildungsmittel (Geld als Recheneinheit) und zweitens Zahlungsmittel. Man nennt dies, bezüglich der Preisbildung, die Wertmaßstabsfunktion des Geldes, und bezüglich des Zahlungsmittels die Tauschfunktion des Geldes (allg. Überblick Köhler 1977). Die buchstäblich stoffwechselbefördernde Austauschzirkulation des Geldes hat einen besonderen Ausdruck gefunden durch die vitalistische Geldlehre des 19. Jahrhunderts, die Geld als das Blut des Wirtschaftsorganismus versinnbildlichte. Die Simmel'sche Geldphilosophie von 1900 verstand das Geld, auch das Metallgeld, bereits als ein immaterielles Wertmaß und Tauschmedium filr materielle Dinge (Simmel 1989, 139ff.). In Ermangelung des Informationsbegriffes sprach Simmel von einer zunehmenden "Vergeistigung" des Geldes. Es schien ihm verfehlt, Geld als etwas Materielles zu betrachten. Geld mag von "materiellen Interessen" in Dienst genommen werden. Aber das Geld selbst ist etwas Immaterielles. Geld und Kapital sind reiner Geist, oder eben etwas spröder gesagt, reine Information. Geld erlaubt den Austausch von Preisinformationen, die ihrerseits Wertschätzungen, Präferenzen und Verftlgbarkeiten (Knappheiten) anzeigen. Geld repräsentiert die Werte in genau bestimmten Mengen, die in Teilmengen stückelbar und in Summen zusammensetzbar sind, und deren konkrete Gegenstände nicht-

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spezifiziert, somit wählbar oder austauschbar sind. Geld berechtigt dazu, in bestimmtem Wertumfang wählbare Sachen zu kaufen, die auf legale und legitime Weise ge-und verkauft werden dürfen. Zahlungsmittel in Form von Münzen, Geldscheinen oder Sichtguthaben sind Rechtsdokumente. Sie geben Kaufrecht bzw. Kaufkraft. Es handelt sich insofern um unspezifizierte Anweisungen auf Güter und Dienste. Eine Sicht wie die eben dargelegte wird gelegentlich Geld-Konventionalismus genannt, im Sinne der Auffassung, Geld beruhe auf gesellschaftsvertragliehen Übereinkünften, auf kulturellen und rechtlich-institutionellen Konventionen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Solange Gold noch als Inbegriff des Geldes galt, waren konventionalistische Theorien des Geldes umstritten. Inzwischen hat der Metallismus abgedankt, und der konventionalistische Standpunkt ist zu einer Art von Selbstverständlichkeit geworden, weiter ausformuliert zu einem informationalen kommunikationstheoretischen Begriff des Geldes: "Geld ist ein Verständigungsmittel wie die Sprache. Es dient heute vornehmlich der Verständigung über den Wert der Dinge, insbesondere über die Wertrelationen ökonomischer Dinge" (Gerloff 1952, 273). In der neueren Soziologie wurde diese Sicht aufgehoben in der Theorie der verallgemeinerten Steuerungsmedien. Geld fungiert demzufolge als eines unter anderen "verallgemeinerten Austauschmitteln zwischen Einheiten eines sozialen Systems" (Parsons 1972, 41). Geld ist ein Interaktions- bzw. Kommunikationsmedium, ein generativer Code filr die Preis-Sprache der Ökonomie. Der Zahlungsverkehr wird damit zur ökonomischen Kommunikation (Heinemann 1969, 74ff., Luhmann 1984,478, 625ff.; 1988, 14, 230ff.). Im Zusammenhang mit der Funktion des Geldes als Tauschmedium wird traditionell eine weitere Geldfunktion genannt, und zwar die Funktion der Wertspeicherung oder Thesaurierung (Schatzbildung). Den Begriffen hört man noch an, wie ehedem die Gold- und Silberstücke in der Truhe klimperten. Der Vorstellungshorizontthesaurierten Geldes ist von mythischen Bildern umrankt, etwa dem legendären Rheingold oder dem Geldspeicher von Walt Disney's Onkel Dagobert, der darin täglich in seinem Geld schwimmt. Soviel man von der Frühgeschichte des Geldes weiß, ist sozio-kulturelle Schatzbildung die älteste erste Geldfunktion überhaupt (Gerloff 1940). Das heißt allerdings nicht, sie sei auch heute noch die wichtigste. Plausibler erscheint die These, die neuere ökonomische Tauschfunktion des Geldes sei die historische Nachfolgefunktion der Schatzbildung. In einem säkularen historischen Ablösungsprozess ist die funktionale Zirkulation des Generaläquivalentes Geld als Steuerungsmedium an die Stelle der ständischen Hortung und Geltungsfunktion des Geldes getreten. Im Rahmen der modernen Markt-, Kredit- und Umlagenzirkulation des Geldes ist das Halten von Geld stets nur ein kurzer Übergangszustand zu seiner Weiterverausgabung. Thesauriert wird heute nicht Geld, sondern allenfalls Geldkapital (Geldforderungen).

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Die Wertspeicherung oder Werthaltungsfunktion des Geldes stellt sich bei näherem Hinsehen als unwirklich heraus. Den Zahlungsmitteln in Form von Scheidemünzen oder Banknoten selbst eine Wertspeicherungsfunktion zuzuschreiben, ist irrefilhrend. Die modernen Geldträger, anders als Gold und Silber, besitzen keinen relevanten Materialwert mehr. Geld ist heute nurmehr ein funktionales Medium zur Transaktion von Gütern aller Art und zur Verteilung von Einkommen. Die Nützlichkeit des Geldes liegt darin, Kaufkraft zu geben. Keynes nannte dies den Liquiditätsvorteil des Geldes im Unterschied zu nicht liquidem GeldkapitaL Es ist so gesehen die Zahlungsfunktion, sein Zweck als Tauschmedium, die dem Geld seine Nützlichkeit verleiht. Eine Werthaltungper Geld gibt es dabei nicht. Den Wert tragen die Güter, die Produkte und Kapazitäten. Was in Wirklichkeit stattfmdet, wenn man Geld hält, ist eine Verschiebung der Kaufkraftrealisierung. Seine Kaufkraft aber hat das Geld als Kaufrecht, als Anweisung auf Güter und Dienste, oder aufSachkapital in Form von Grund und Boden, Aktien, Kunstschätze, oder was immer in eine Sachkapitalfunktion geraten mag. Es sind alleine diese Faktoren, die wirtschaftliche Werte präsentieren, während das Geld selbst als unspezifische Mengenanweisung diese Werte nur bemisst und abstrakt repräsentiert. Wenn das Geld, obwohl es keine Werthaltung ermöglicht, dennoch weiterhin als Zahlungsmittel akzeptiert wird, dann deshalb, weil die Menschen wie selbstverständlich davon ausgehen, dass sie entweder die Kaufkraft des eingenommenen Geldes ohne nennenswerte Zeitverschiebung selbst filr neuerliche realwirtschaftliche Käufe realisieren werden, oder aber, dass sie das Geld fmanzwirtschaftlich als Steuerzahlung abgeben müssen oder sie das Geld als ein zinsbringendes Geldkapital anlegen werden. In jedem dieser Fälle wird das Geld nicht gehalten, sondern weitergegeben. Es fmdet realiter weder Geldhaltung noch Werthaltung statt. Voll gewahrt bleibt dabei der grundlegende evolutive Vorteil des Geldes, nämlich die räumliche und zeitliche Entkopplung der erforderlichen Koinzidenz von Angebot und Nachfrage. Geld kann also seine Funktion der Tauschvermittlung, der multiplen Verkopplung von Transaktionen, auch und gerade dann erftlllen, wenn eine Werthaltung per Geld nicht stattfmdet. Die Funktion der Werthaltung ist nicht an das Geld, sondern an die Preise gebunden. Werthaltung ist von daher abhängig von der laufenden realwirtschaftlichen Produktion und von der gelingenden Reproduktion der verschiedenartigen Kapitalvermögen. Der preisbewusste Mensch weiß, dass es sich empfiehlt, die Kaufkraft des Geldes in absehbaren Zeiträumen zu realisieren. Modemes funktionales Geld, egal welches, hat seine Kaufkraft bisher nicht oder nur unvollkommen über den Lauf der Zeit hinweg halten können. Das war im Prinzip auch unter den Bedingungen der Silber- und Goldwährungen schon immer so. Aber nicht nur waren die Ursachen filr Inflationsphänomene im Laufe der Geschichte teilweise recht unterschiedliche, sondern historische Inflationen pflegten auch von geringerem Ausmaß und von begrenzter Dauer zu sein. Infla-

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tion als säkularer Trend mit ausgeprägter Grundrate stellt eindeutig ein neues Phänomen dar, das in einem ersichtlichen Zusammenhang mit dem industriellen Take-Off steht (Abbildung 23 im Anhang). Falls modernes Geld, im Unterschied zum Warengeld aus Edelmetall, überhaupt noch als ein ökonomisches Gut angesehen werden kann, was faktisch zu bezweifeln und normativ zu verneinen ist, so stellt es auch im besten Fall einer stabilen Währung kein ewiges Gut, sondern lediglich eine Art von langlebigem Gut dar. Das relativ langlebige Geld einer stabilen Währung kann man einige Zeit aufheben, im Unterschied zu schneller verderblichen Gütern wie Tageszeitungen und frischem Fisch. Dennoch steht Geld unter einem gewissen Transaktions- und Transferdruck Die realistische Erwartung einer gewissen laufenden Preissteigerung erhöht die real- und fmanzwirtschaftliche Effizienz des Geldumlaufes. Währungsstabilität wurzelt dabei ursächlich in Preisstabilität, und bedeutet auch selbst nichts anderes als Preisstabilität, nämlich den stabilen Außenwert einer Währung im DevisenhandeL Ein Ausdruck wie "Geldentwertung" ist lediglich ein Sinnbild, eine treffende Charakterisierung des praktischen Ergebnisses, aber eine unzutreffende Darstellung der Sachlage. Wenn in früheren Jahrhunderten Münzverschlechterungen vorgenommen wurden, das heißt, Münzen gleichen Nennwertes mit einem geringeren als dem offiziellen Edelmetallgehalt in Umlauf gebracht wurden, dann war dies eine echte Geldentwertung, in gewisser Weise- höchst obrigkeitlich oder illegal vorgenommen - eine Geldflllschung. Es machte deshalb Sinn, zur Geldwertprüfung auf Silbertalern herumzubeißen, oder heute Banknoten unter ein Lichtprüfgerät zu halten, oder Kreditkarten auf ihre Solvenz hin zu überprüfen. Wenn man sich dagegen infolge milder oder krasser Inflation heute weniger als gestern fllr sein Geld kaufen kann, so bedeutet dies nicht eigentlich Geldentwertung, sondern eben Preissteigerung. Auch die Bezeichnung "Kaufkraftschwund" bleibt diesbezüglich ein Sinnbild. Was wirklich stattfmdet, ist Teuerung, Preisanstieg, ausgedrückt mithilfe des Geldes als Preisbildungsmittel in seiner Wertmaßstabs- und Rechenfunktion. Für die Rolle des Geldes in der Gesellschaft bedeutet es einen Perspektivenwechsel, wenn die Werthaltungsfunktion des Geldes als nur scheinbar, und als historisch überholt angesehen wird. Es kann schon sein, dass es den Menschen in Wahrheit mehr denn je um Schatzbildung geht. Onkel Dagobert ist eine ungemein populäre Figur, obwohl er einen steinbeinalten Geist verkörpert und sein Bargeldspeicher in jeder modernen Ökonomie ein phantastisches Unding darstellt. Was mit gehaltenem Geld heute in Wirklichkeit stattfmdet, ist eine Aufochiebung der Kaufkraftrealisierung beim Besitzer und die zeitnahe Realisierung derselben Kaufkraft bei anderen Akteuren infolge der gleichzeitigen sozialräumlichen Verschiebung des Geldes mittels Zirkulation durch Abgaben, Umlagen, Kredit- und sonstige Finanzgeschäfte. In der modernen Kredit- und Buchgeldwirtschaft wird Geld nicht "aufgehoben". Auch und gerade gesparte Gelder zirkulieren fortlaufend. Statt in irrefUhrender Weise von Wertspeiche-

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rung oder Werthaltung zu reden, wäre es deshalb richtiger, von der Transferfunktion des Geldes zu sprechen, das heißt, der Funktion der zeitlichen Aufschiebung und sozialräumlichen Verschiebung der Kaufkraftrealisierung. In ihrer monetären Form handelt es sich um die Funktion der Ersparnis-/Kapitalbildung einerseits und der Investition andererseits. Die fiskalische Form der gleichen Funktion besteht in Abgaben einerseits und Transfereinkommen andererseits. Es ergeben sich von daher zunächst zwei Funktionen des Geldes, nämlich erstens die Rechenfunktion (Geld als Wertmaßstab und Preisbildungsmittel) und zweitens die Zahlungsfunktion. Letztere aber besteht zum einen in der realwirtschaftlichen Transaktionsfunktion (Tauschmittel) und zum anderen in der geldwirtschaftlichen Transferierung. Die drei traditionalen Funktionen des Geldes (Wertmaßstab, Austausch, Werthaltung) lassen sich somit modernisieren als die Rechenfunktion des Geldes einerseits und seine Transaktionsfunktion und seine Transferfunktion andererseits. Was wiederum ist das Verbindende zwischen Transaktionen und Transferierungen? Es ist die Repartition der Ressource Geld, anders gesagt, die sozialräumliche Zuteilung, Verteilung und Umverteilung, die zweckspezifische Aufteilung, sowie die zeitliche Einteilung von Kaufkraft. Die Zahlungsfunktion, in der das Geld als Zahlungsmittel in Transaktionen und Transfers fungiert, kann somit ebenso gut als Repartitionsfunktion angesprochen werden. Es gibt so gesehen die Rechenfunktion und die Repartitionsfunktion des Geldes. Das ist es schließlich, worum es beim effizienten Haushalten geht: die Repartition von Real- und Finanzressourcen zwecks (Re)Produktion von Gütern und Kapitalien durch Repartition der Ressource Geld. Sowohl als Recheneinheit als auch in der damit verbundenen Repartitionsfunktion und deren praktischer Realisierung in Zahlungsvorgängen fungiert das Geld in einem multiplen Cross-Rating als Generaläquivalent fUr die Werte aller Wirtschaftsfaktoren auf und zwischen allen Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten (vgl. Abschnitt "Wandel des Geldes vom Sachwert zum funktionalen Generaläquivalent''). Natürlich kann man (1) die Rechenfunktion sowie (2) die Repartitionsfunktion in Form von (2a) Transaktionsfunktion und (2b) Transferfunktion weiterhin als drei Funktionen des Geldes ansprechen. Es macht dabei jedoch einen Unterschied, geradezu eine Sinn- und Zielumkehr, wenn dabei an die Stelle der traditionalen Wertspeicherung die Transferierung tritt. Konnotativ bedeutet dies einen Einstellungswandel vom Festhalten, Horten und Stocken zum Loslassen, Einsetzen und Fließen. Es fmdet ein Perspektivenwechsel statt, demzufolge es nicht mehr um die vermeintliche Speicherung bzw. Thesaurierung von Geld geht, sondern um die unaufuörliche Zirkulation des transaktiven Mediums Geld, um das laufende investive und konsumtive Realisieren, das Übertragen und Überlassen von Geld, als einer befristeten Auf- und Einteilung von Kaufkraft, sei es zur periodischen Budgetplanung, sei es im Rahmen der Lebensweggestaltung und der existenziell begrenzten Rücklagenbildung. In der Sache wird

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das in Frage stehende Problem, ganz im Sinne der neueren wirtschaftswissenschaftlichen Entwicklungen, gleichbedeutend mit der Frage nach der optimalen Geldzirkulation, der Frage nach den optimalen Proportionen und Fristen der Kassenhaltung und Gestaltung der Vermögensportfolios. Soziale Verhältnisse, in denen Geld als effizientes funktionales Mittel der Preisbildung und Repartition (zwecks Transaktion und Transferierung) fungiert, haben mit dem berüchtigten Wucherer- und Geizkragen-Kapitalismus, dessen Geist angeblich dem Protestantismus entsprang, nurmehr wenig gemeinsam. Funktional betrachtet, kann Geldbesitz nicht länger als Projektionsfläche ft1r eine illusorische Schatzbildung dienen. Denn nicht das Geld ist der "Schatz", sondern das realwirtschaftliche Produkt und, noch richtiger, die dahinter stehenden Produktionskapazitäten, insbesondere die regenerativen Kapazitäten der Natur, die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen, sowie die vom Menschen geschaffenen produktionstechnischen Kapazitäten. Der Einfachheit halber wird man weiter vom Geldwert sprechen - vom Binnenwert als der Kaufkraft, und vom Außenwert als dem Devisenkurs einer Währung. Man sollte sich dennoch gewärtig bleiben, dass nicht dem Geld der Wert eigen ist, sondern das Geld die betreffenden Werte repräsentiert. Der Geldwert ist lediglich eine informationale Repräsentation der Produkt- und Vermögenswerte, die mit dem Geld ge- und verkauft werden können. Das begründet die Nützlichkeit und transaktive Funktionsflihigkeit des Geldes, die darin besteht, die ursprünglich erforderlich gewesene raum-zeitliche Koinzidenz von Angebot und Nachfrage relativ zu entkoppeln, und Angebot und Nachfrage eben dadurch multipel auf vielerlei Märkten miteinander verkoppeln zu können. Es kann stets nur so viel wertrepräsentierendes Geld geben wie ein reales Wirtschaftsprodukt Jahr fiir Jahr erstellt wird und damit zugleich auch die Werte vorhandener Kapitalvermögen reproduziert werden. Geld kann nur verdient werden, wo etwas geleistet wird. Darin liegt der harte Kern der überholten Arbeitswerttheorien, auch wenn sie den Beitrag der Natur ignoriert haben. In keiner anderen Wirtschaftsordnung ist so viel Produktionsarbeit geleistet worden wie im Kapitalismus. Die Leute scheinen immer nur hinter dem Geld her zu sein, und erbringen dabei ungeheure Arbeitsleistungen ft1r die Entfaltung der industriellen Produktionskapazitäten. Ob die erbrachten Leistungen, kulturkritisch betrachtet, auch schön und gut ft1r die Schöpfung sind, ob sie Mensch und Erde zuträglich sind, das ist freilich noch eine andere Frage. Die Verfilgbarkeit von Geld kann als eine in Freiheit verantwortete Verpflichtung aufgefasst werden, durch zweckvolles Realisieren, Übertragen und Überlassen von Geld in bestimmten Zeithorizonten an der Gestaltung des eigenen Lebens und der sozialen Verhältnisse mitzuwirken. Geld besteht in Form einer Währung. Die Währungen sind heute noch überwiegend nationale Währungen (mexikanischer Peso, japanischer Yen). In der Europäischen Union wird demnächst der transnationale Euro die Währung sein.

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Währung bedeutet so viel wie "dauernde Gewährleistung". Damit war in der Metallgeldzeit der Edelmetallgehalt der Münze gemeint, den zu gewährleisten die Obrigkeit vorgab. Ein Taler sollte aus soundso viel Feinsilber bestehen. Damit bedeutet Währung auch eine Mengenprägung (zum Beispiel I Taler, 10 Groschen), die Einprägung von Werteinheiten auf speziellen Trägermedien. Ob die Währung auf Metall geprägt wird oder auf Papier gedruckt wird oder nurmehr abstrakt als Name und Zahl in spezielle Konten eingeschrieben wird, ist im wahrsten Sinne des Wortes gleichgültig. Die Unterscheidung von Naturalgeld und Zeichengeld ist missverständlich. Gemeint ist, dass Naturalgeld-Zahlungsmittel in Form von Edelmetallmünzen auch selbst den Materialwert besitzen, den sie repräsentieren. Dagegen besitzen moderne Zahlungsmittel in Form von Scheidemünzen, Banknoten und Buchgeld selbst keinen äquivalenten Materialwert mehr und symbolisieren diesen Wert nurmehr als Zeichen. Dennoch war auch jedes historische Naturalgeld, das zu seiner Zeit bereits als Zahlungsmittel, als funktionales Preisbildungs- und Transaktionsmedium diente, schon immer eine genau geprägte Währung, also Zeichengeld. Ein ungeprägtes Geld gibt es in zivilisierten Gesellschaften nicht mehr. Das gab es nur in vorzivilisierten Kulturen, wo das Geld - vor allem als Hortgeld der Schatzbildung diente und damit der Demonstration des sozialen Ranges und der Geltung der Besitzer. Als ein solches den Status demonstrierendes Schatzgeld dienten vor allem kostbare Felle, Gewebe und Steine, sodann Schmuck aus edel verarbeitetem Metall und anderen haltbaren Materialien, sowie später auch Edelmetalle einfach nur in Batzen- oder Barrenform (Kümmerformen, aus denen die Münzen hervorgingen). Solches Schatzgeld mochte bei Hochzeiten oder als Kriegsbeute den Besitzer wechseln, aber es diente noch längst nicht dem Austausch im Sinne des ökonomischen Handels mit dafilr hergestellten Gütern (Gerloff 1940). Seine Tauschfunktion erlangte Geld erst in den heute traditional genannten Gesellschaften, zum Beispiel seit den Staatenbildungen der Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens vor vier bis filnf Jahrtausenden. Noch die germanischen Söldner der Römer wussten mit ihrem Münzsold daheim nichts anzufangen. Was heute unter dem Übergang vom Naturalgeld zum Zeichengeld verstanden wird, bedeutet genauer besehen den Übergang von einer Art Zeichengeld zur einer anderen, nämlich den Übergang vom materialwert-äquivalenten Zeichengeld zum rechtsgarantierten materialwert-repräsentativen Zeichengeld, bestehe die Rechtsgarantie nun in einem machtcharismatischen Heerfilhrerversprechen, in einer privatvertraglichen Usance, oder in einer staatlichen Zahlungsmittel-Gesetzlichkeit. Es ist nicht wirklich Naturalgeld durch Zeichengeld ersetzt worden, sondern das Naturalgeld ist nach und nach aufgehoben worden, und das Zeichengeld, als das jedes Geld in ökonomischer Tauschfunktion schon

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immer besteht, hat sich von seiner naturalgeldlichen Bindung emanzipiert. Das Zeichengeld hat sich deshalb technisch nicht von materiellen Trägem gelöst. In technischer Hinsicht ist nicht Naturalgeld von Zeichengeld zu unterscheiden, sondern vollwertiges Edelmetallgeld von unterwertigen Scheidemünzen, Papiergeld, Buchgeld, Chipgeld o.ä. Die Zentralbank ersetzt abgenutzte Münzen oder Banknoten durch neue, und sie schleust, als Maßnahme gegen Banknotenflllschung, laufend neu nummerierte Geldscheine ein und alte daftlr aus. Damit erfiillt sie ihre technische Aufgabe, die Wirtschaft mit Zahlungsmitteln zu versorgen. Dies ist jedoch nicht zu verwechseln mit der finanzwirtschaftliehen Funktion, die Akteure im richtigen Ausmaß mit Geld bzw. mit der richtigen Menge von Einheiten einer bestimmten Währung zu versorgen. Die Unterschiede zwischen Münzen, Banknoten und Buchgeld, sowie die unterschiedlichen Verfahren darüber zu verfUgen in Form von Chipkarten, Kontokarten, Kreditkarten, Schecks, Überweisungen, Lastschriften o.ä. spielen ft1r die technische Effizienz des Zahlungsverkehrs eine bedeutende Rolle. Für die Feststellung von Geldwerten, Geldmengen und Geldemissionen aber sind diese technischen Formunterschiede gleichgültig. Bei den traditionalen Metallwährungen war es undenkbar, den fmanzwirtschaftlichen Aspekt der Geldschöpfung und des Geldumlaufes zu trennen vom technischen Aspekt des Zahlungsmittel-Managements. In der Buchgeldwirtschaft könnten beide Aufgaben getrennt voneinander sein in zwei verschiedenen Institutionen. Die eine Institution würde das Geld in bestimmter Menge bereitstellen, die andere würde diese Geldmenge in Form der technischen Zahlungsmittel Münzen, Noten und Buchgeld managen. Diese überflüssige Maßnahme soll nicht vorgeschlagen werden. Es handelt sich nur um einen analytischen Hinweis zur Verdeutlichung des Sachverhaltes, dass einerseits die Geldschöpfung und Geldlöschung und andererseits die technische Ein- und Ausschleusung der Zahlungsmittel als Münzen, Noten und Buchgeld verschiedene Sachverhalte sind.

2. Der historische Dualismus von Bargeld und Giralgeld. Sein absehbares Ende Wir befmden uns heute monetär noch recht spürbar im Bereich der historischen Schwerkraft der eben erst allmählich zu Ende gegangenen jahrtausendelangen Metallgeldzeit Selbst moderne Regierungen wie die deutsche besitzen immer noch wie feudale Obrigkeiten das Münzregal - das Privileg, Münzen in Umlauf zu geben und sich dadurch den Münzgewinn zu verschaffen. Vollzogen wird dies im Auftrag der Bundesregierung durch die Bundesbank. Diese verkauft die Münzen den Banken zum Nennwert und filhrt den Erlös an das Finanzministerium ab.

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Sobald es in der Geschichte zu dauerhaften Staatenbildungen und überregionalen Handelsaktivitäten kam, erfolgte anscheinend auch eine rechtliche Regelung der Geldemission, zunächst in Form des Münzregals. Nach heutigem Geschichtswissen wurde im nachrömischen Europa die obrigkeitliche Regie über die Münzproduktion durchgesetzt um 750 n.Chr. durch Pippin III (North 1994, I Off.). Eine private Münzprägung außerhalb obrigkeitlicher Aufsicht war seither verboten. Der Gewinn filr die Obrigkeit, Seigniorage genannt, lag in der Differenz zwischen den Kosten ftlr die Gewinnung und Prägung der Metalle einerseits und dem Wert der Münzen andererseits, wobei der Marktwert des Münzmetalls und der Geldwert der Münze äquivalent waren. Der Münzherr konnte den Münzgewinn vergrößern, wenn er den Metallgehalt verschlechterte und damit die Kosten der Münzherstellung sozusagen verbilligte, und noch größer, wenn er das Metall rauben ließ gegen Konquistadorensold in den Kolonien ab der Zeit um 1500. Die Aufteilung des Münzregals unter den feudalen Ständen, diesbezüglich Münzständen, gestaltete sich buntscheckig. Im Hoheitsgebiet der jeweiligen Münzstände waren meist auch auswärtige Geldsorten in Umlauf. Der Zufluss auswärtiger Geldsorten war erwünscht, handelte es sich doch um bares Silber, Kupfer oder Gold. Dagegen gab es Gesetze, die den Abfluss der wertvollen Edelmetalle einschränkten bis verboten. Die Vermehrung des umlaufenden Metallgeldes im eigenen Lande, im Interesse der Steigerung der wirtschaftlichen Aktivitäten, war keine spezielle Idee der barocken Merkantilisten. Es war dies eine durchgängige Wirtschaftspolitik der neueren Metallgeldzeit, vom mittelalterlichen Bullionismus 1 über den Merkantilismus bis in das Industriezeitalter hinein. Aus gleichem Grund war auch das Vergraben des wertvollen Geldes, also seine private Außerverkehmahme durch Hortung, verboten - meist erfolglos. Handwerker und Bauern früherer Zeiten hatten bessere Chancen, ihr Geld vor den ftlrstlichen und bischöflichen Steuereintreibern zu schützen als der moderne buchftlhrungspflichtige und buchgeldbenutzende Mensch Gelegenheiten hat, sich des Finanzamtes zu erwehren. In Umlauf kam neues Münzgeld im Feudalismus durch Bezahlung von Hofhaltung, Verwaltung, Heer u.a. Das heißt, die Münzen wurden per realwirtschaftlicher Transaktion in Umlauf gebracht und wechselten dadurch ihren Besitzer. Sie wanderten ihre eigenen Wege. Im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handel ging auf diese Weise, trotz bullionistischer Politik, viel Silber und Gold aus Buropa an Asien verloren, im Austausch gegen Seide, Gewürze 1 Bullion (engl.) heißt Gold- oder Silberbarren. Bullionismus war eine seit dem 14. Jahrhundert vor allem von England ausgehende Politik, den Import von ungeprägtem Edelmetall und fremden Münzen zu dulden, wenn nicht zu fördern, aber den Export jeglicher Edelmetalle und Münzen weitgehend zu verbieten. Das Ausfuhrverbot für Bullions galt bis 1663, das für englische Münzen bis 1819 (North 1994, 49ff.)

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usw. Waren die Münzen einmal in Umlauf, hatte die Obrigkeit keinen Anspruch mehr darauf, sie zurückzubekommen. Die Münzemission stellte nicht Kredit der Obrigkeit ans Volk dar, das heißt, die Obrigkeit konnte sich keine Forderung zugute schreiben, mit dem Anspruch, die ausgehändigten Gelder mit Zins wieder zurückzubekommen. Lediglich konnte die Obrigkeit einen Teil des in Umlauf befmdlichen Geldes durch Steuererhebung wieder eintreiben. Anders wurde die historische Lage durch den Gebrauch von Wechseln und die Entwicklung der Banknoten, ausgestellt von den zunächst privaten, später staatlichen Notenbanken mit Schwerpunkt von Mitte des 16. bis 18. Jahrhunderts. Wechsel, Inhaberschuldscheine, Schecks und Noten sind Erfmdungen der Kaufleute, in Asien der Chinesen, in Europa besonders der Italiener, Flamen, Holländer und Engländer. In England gaben auch Goldschmiede Geldnoten heraus. Aufgrund der Tatsache, dass sie mit Edelmetall hantierten, fungierten sie teilweise als Privatbankiers. Sie nahmen Münzdepositen an und gaben, als Quittung dafilr, Noten heraus, Vorläufer der späteren Banknoten. Der Geldreformer John Law ( 1671 - 1729) war Sohn eines Goldschmiedes. Ein anderer Vorläufer der Banknoten waren Inhaberschuldscheine. Schuldscheine gab es schon immer. Sie waren jedoch nicht übertragbar. Inhaberschuldschein bedeutet, dass die Schuldurkunde den Besitzer wechseln kann, und dass der jeweilige Inhaber des Scheines uneingeschränkt rechtmäßiger Gläubiger ist, der die betreffende Geldforderung geltend machen kann. Solche Scheine fungierten besonders von Antwerpen aus seit Anfang des 16. Jahrhunderts zunehmend als Zahlungsmittel. In Italien waren Fedi di Credito als Vorläufer von Papiergeld in Umlauf, eine Art von Barscheck in Form einer Bargeldquittung, die Banken ausstellten filr Geldeinlagen auf ein Namenskonto. Diese Bargeldquittungen waren jederzeit wieder in Bargeld einlösbar und wurden deshalb als Zahlungsmittel angenommen. Aus der Auszahlung von Geld gegen Entgegennahme eines Wechsels oder anderen Wertpapieres (= Schuldpapieres) haben sich die geldpolitischen Instrumente des Diskont- und Lombardkredites entwickelt, als Mechanismus, durch den später speziell Zentralbanken Geld emittierten. Privatnoten von Goldschmieden und Handelsbanken, Bar- und Verrechnungsschecks, Wechsel, Inhaberschuldscheine und ähnliche Papiere fungierten in Handels- und Bankenkreisen als Münzzahlungsersatz wie Geld. Die Geldersatzpapiere erleichterten den Adressen von gutem Ruf den Zahlungsverkehr untereinander, vor allem im Fern- und Überseehandel. Aber echtes vollwertiges Geld waren alleine Edelmetallmünzen. Es sollte deutlich festgehalten werden, dass Banknoten ursprünglich sowenig Geld waren wie andere Handels- oder Wertpapiere, die als Geldersatz fungierten. Mit ihnen erfolgte keine echte Zahlung, sondern die Einräumung eines Zahlungskredites, eines Zahlungsversprechens, das zu einem bestimmten oder beliebigen späteren Zeitpunkt einzulösen war.

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Die Zahlungsversprechen-als Verbindlichkeit der Schuldner, als Forderung der Gläubiger - wurden verbucht und verrechnet. Das war der Grund fiir die Entwicklung der kaufinännischen Buchfilhrung und Bilanzierung, in Oberitalien schon seit dem 12. und 13. Jahrhundert, andernorts in Europa nach und nach später. Buchfilhrung, Verrechnungskonten (Girokonten), Bilanzierung sowie ersatzweiser bargeldloser Zahlungsverkehr mit Wechseln, Schuldscheinen, Schecks und Noten, entfaltet durch Handels- und Bankengeschäfte, hängen untrennbar miteinander zusammen. Sie haben ihren Grund in dem von ihnen selbst geschaffenen Zahlungskredit in Form von bargeldlosen Verrechnungen von einund ausgehenden Geldforderungen oder Geldverbindlichkeiten auf einem Conto corrente, dem heutigen Kontokorrent, dem Girokonto. Die gegenseitigen Verrechnungskonten waren ein Desiderat des frühen Handelskapitalismus. Es konnten damit bargeldlos bis zur schlussendlichen Barzahlung Guthaben oder Schulden verrechnet werden, ohne schwerflillig Geld über weite und gefll.hrliche Wege transportieren zu müssen. Konstitutiert wurde damit der Dualismus von Bargeld und Giralgeld. Giralgeld ist genau genommen nicht Buchgeld, obschon man so sagt, sondern eine Geldersatzverrechnung. Die Schaffung von Giralgeld als Metallgeldersatz setzte ursprünglich Eigentum an einem Vermögen voraus, das als monetäre Sicherheit, als haftendes Kapital beliehen und verpfändet werden konnte. Das Eigentum als ein Kapitaleigentum bildete sich in Europa im Spätmittelalter heraus, in England speziell durch die Lollardenbewegung im späten 14. Jahrhundert, auf die sich die Herausbildung der modernen Bürger- und Menschenrechte zurlickfiihren lässt und die dafiir dazumal noch Verfolgungen ausgesetzt war (Heinsohn/Steiger 1996). Bei dem verpfändbaren Eigentum handelt es sich, außer Edelmetall, zunächst um Grundeigentum (von Kaufleuten bis heute "Substanzwert" genannt), darüber hinaus auch um die wertvollen Warenbestände der frühen Fernhandelshäuser. Heute kann inzwischen umso mehr industrielles Sachanlagenkapital eingesetzt werden. Selbst Humankapital, in Form beruflicher Qualiftkation und Stellung, wird heute zwar noch zögerlich aber doch zunehmend als Kreditsicherheit akzeptiert, sofern absehbar erscheint, welche belastbaren Einkommen es laufend zu erbringen verspricht. Die Entstehung von Banken mit Depositen und Kontokorrent-Führung ist fiir Genua bereits um 1200 belegt (North 1994, 32). Neu daran war nicht die Vergabe von Kredit. Geldverleiher gab es immer. Neu war, dass der Kredit als Zahlungskredit nicht ausbezahlt wurde, oder nur teilweise in Metallgeld ausbezahlt wurde, diese Gelder danach teilweise auch wieder bei der Bank einbezahlt wurden, während das meiste davon als Buchguthaben stehen blieb. Neu war der aktuelle Verzicht auf die Erfilllung einer Geldforderung gegen die ersatzweise Entgegennahme einer Gelddepositenquittung oder einer Schuldurkunde, wobei diese Scheine ihrerseits an anderer Stelle als Geldersatz zu Zahlungszwecken

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akzeptiert wurden. Um den bis heute fortbestehenden Bargeld-Buchgeld-Dualismus des Reservesystems zu verstehen, muss man das Prinzip des Zahlungskredites verstehen, die Schaffung von Buchguthaben durch Zahlungskredit, und die Benutzung der Buchguthaben als geldersetzende Zahlungsmittel - mit denen offene Forderungen beglichen werden, wobei sie selbst offene Forderungen darstellen. Einen breiten überregionalen Aufschwung erlebten die Depositen-, Zahlungskredit- und Verrechnungs-lnnovationen erst im Zuge der neuzeitlichen Modernisierungsschübe ab der Reformationszeit Als Vorreiter fungierten mehrere Tavole (Giro- und Wechselbanken) in Italien, darunter die von Palermo 1553 und die Banco del Giro in Venedig von 1586, die Amsterdamsche Wisselbank von 1600, die Hamburger und die Nürnberger Girobank von 1619 und 1621, sowie später die Bank ofEngland von 1694. Letztere hatte zunächst zwar nur den Zweck, die Kriege der Krone zu fmanzieren, aber sie wurde dafilr königlich privilegiert als ausschließliche Bank des Staates, wodurch sie bald auch in eine Rolle als Bank der Banken hineinwuchs. Dabei blieb sie ihrer Rechtsform nach, wie die anderen Giro- und Wechselbanken auch, bis zu ihrer Verstaatlichung 1946 eine private Konsortial-Einrichtung, ebenso wie die erst 1913 gegründete Federal Reserve, die als amerikanische Nationalbank bis heute formal als private Einrichtung verfasst ist. Von besonderem Interesse ist die Verwandlung der Banknoten in Geld, ihre Umwandlung aus einer Depositenquittung in ein vollwertiges Zahlungsmittel durch hoheitlichen Erlass. Banknoten wurden nicht nur von filrstlich oder republikanisch privilegierten Notenbanken herausgegeben, sondern auch von lokalen Privatbanken. Solange die Noten nicht per Gesetz als Zahlungsmittel ohne Einschränkung angenommen werden mussten, stand es im Belieben der Akteure, sie statt Geld ersatzweise zu akzeptieren. In spektakulärer Weise erfolgte die Verwandlung von Banknoten in Geld 1718 durch die Umwandlung der privaten Banque Generale in die Banque Royale, der späteren französischen Nationalbank, durch den Schotten John Law (Toepel 1992, Buchan 1997). Die Obrigkeit verpflichtete sich, Steuerzahlungen der Untertanen auch in Form von Banknoten statt Münzen entgegenzunehmen. Die Banknoten wurden vor allem auf dem Weg emittiert, dass alte Staatsschuld-Papiere gegen ein Viertel Silbertaler und drei Viertel Banknoten aufgekauft wurden. Laws Anliegen bestand darin, durch ein Banknotenmonopol die Geldmenge zu vervielfachen und den Kredit zu erleichtern, um der Wirtschaft und insbesondere der Beschäftigung Auftrieb zu verschaffen. Gelegenheit zur Realisierung seiner löblichen, schon vielfach physiokratisch-freisinnigen Absichten bekam er aber nur in dem unlöblichen merkantilen Zusammenhang, die ungeheuerliche Schuldenhinterlassenschaft von Louis XIV zu bereinigen und weniger die Nation als vielmehr die Krone mit frischem Geld zu versorgen.

2. Der historische Dualismus von Bargeld und Giralgeld

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Faktisch filhrten Banknoten noch bis in die jüngere Vergangenheit eine Art von Zwieleben zwischen echtem Geld (Edelmetallmünzen) und Geldersatz (Schuldschein, Depositenquittung, Zahlungskredit). Denn Banknoten waren Anweisungen auf Geld, quasi staatliche Schecks, die wie Geld gehandhabt wurden. Auf den Banknoten stand, in den USA noch heute, ein Text der Art "Diese Note ist gesetzliches Zahlungsmittel filr alle öffentlichen und privaten Verbindlichkeiten. Die Regierung zahlt dem Inhaber der Note den Gegenwert in Geld". Mit der Aufhebung der Goldbindung der Währungen im Verlaufe des zurückliegenden Jahrhunderts wurde das Deckungs-Versprechen gegenstandslos. Nach und nach wurden solche Aufdrucke weggelassen. Das Papier selbst ist zu barem Geld erklärt worden. Auch auf den Noten der Banque Royale stand, dass die Obrigkeit dem Inhaber der Note auf Verlangen Louisdor oder Taler dafilr bezahlt. Das setzte im Prinzip voraus, dass der Staat dieses Geld vorrätig hatte, es in Form eines Staatsschatzes irgendwo hütete (zum Beispiel den legendären US-Goldhort in Fort Knox), oder ein Land zum Eigentum hatte, das soviel Wert war und das dem Gläubigervolk hypothetisch übereignet werden könnte (zum Beispiel die Ländereien des Deutschen Reiches als Deckung der Rentenmark von 1923/24, kaum weniger märchenhaft als das Rheingold), oder ein sagenhaftes Unternehmen, das solche Gelder abwarf (zum Beispiel die Law'sche Compagnie d'Occident von 1717 zur Erschließung der Mississippi-Gebiete von Louisiana aus, die 1719/20 in die Compagnie des Indes überging, die den gesamten ost-und westindischen Handel Frankreichs unter sich hatte). Auf Laws Betreiben verfUgte die Regierung, dass nur noch Transaktionen im Wert von unter 600 Livres in Silbergeld erfolgen durften. (Livres waren eine reine Recheneinheit, wie die European Currency Unit ECU, in der nur verrechnet, aber nicht bezahlt wurde). Dadurch mussten größere Zahlungen mit Banknoten vorgenommen werden. In der Finanzkrise 1719/20 wurde diese Grenze auf 10 Livres abgesenkt und kurz darauf, was sich aber nicht halten ließ, das Münzgeld überhaupt verboten, um die neuen Banknoten zu retten. Zum Finanzkrach gekommen war es mit dem Platzen der "Mississippi Bubble". Law hatte immer mehr Aktien seiner filrstlich privilegierten Handelsmonopolgesellschaft ausgeben lassen. Zur Bezahlung der Aktien wurden außer vollwertigen Münzen auch Banknoten angenommen, was deren allgemeine Nachfrage und Zirkulation enorm beschleunigte. Aus den Kapitalaufstockungen gab Law der Krone neuen Kredit. Da sich die Sache gut anließ, und auf die Aktien schöne Dividenden gezahlt wurden, kam es zu einer selbstverstärkenden Spirale aus zunehmenden Aktienemissionen und einer Hausse-Spekulation gigantischen Ausmaßes, die in großem Umfang auch ausländisches, vor allem englisches Geld nach Frankreich sog. Es musste der Zeitpunkt kommen, zu dem einige Leute, darunter die Engländer, dazu übergingen, Kasse zu machen. Sie konnten sich sowohl ausrechnen, dass die Compagnie des Indes in Wirklichkeit nicht so viel wert war, wie die 12*

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Urunengen von immer teureren Aktien vorspiegelten, als auch, dass es im ganzen Königreich wohl kaum genug Gold und Silber gab, um die zirkulierenden Mengen an Papiergeld zu decken. Man fmg also damit an, die Aktien gegen Banknoten zu verkaufen und die Banknoten gegen Metallgeld einlösen zu lassen. Ein kaum zweimonatiger Totalzusammenbruch nahm seinen Lauf. Unvorsichtig in die Spekulation eingebrachte Vermögen verschwanden oder wechselten den Eigentümer. Ein Teil der ruinierten Existenzen wurde zu einem liberal verbürgerlichenden Adel, der in der nun beginnenden französischen Aufklärung und der kommenden Revolution eine Rolle spielen sollte. Der Zusammenbruch von Laws "System" war nicht dem Papiergeld als solchem geschuldet, sondern der maßlosen Aktienspekulation auf der Grundlage des hierbei anscheinend doch recht hemmungslos vervielfältigten Papiergeldes. Die Verfilhrung, filr Staatszwecke im Übermaß die Notenpresse zu betätigen, sei es fiir Kriegfiihrung oder fiir "Brot und Spiele", und das Problem der Goldund Silberdeckung des Papiergeldes, blieben eine Kinderkrankheit des frei geschöpften Geldes während des Merkantilismus und das industrietraditionale Zeitalter hindurch, von den Contineotal Dollars des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und den Assignaten der Französischen Revolution bis zu den vagabundierenden US-Dollars der 1970er Jahre. Die Emission von Münzen durch die Obrigkeit hatte dieser den Münzgewinn verschaffi:, aber sie begründete keinerlei Schuldenverhältnis. Anders die Banknoten. Sie begründen eine Forderung der Banknoteninhaber auf Gold- und Silbermünzen, oder umgekehrt, eine Verbindlichkeit der Notenbank gegenüber den Banken und dem Publikum. Für die Notenbank stellen sie ein Passivum dar. Die dazugehörigen Aktiva bestehen in den aufgekauften staatlichen Schatzwechseln und privaten Handelswechseln oder anderen verzinslichen und tilgbaren Krediten an unterschiedliche Adressen in unterschiedlicher Form. Durch die Banknoten-Emission machte sich die Zentralbank ebenso zum Schuldner (Goldund Silberverbindlichkeiten der Notenbank) wie auch zum Gläubiger (KreditSchulden aus Schatzwechseln, Handelswechseln u.ä. gegenüber der Notenbank). Es dauerte eine Weile, bis sich der Souverän gewahr wurde, dass er sich damit vom Schuldenregen des Münzverkehrs in die Schuldentraufe des Notenverkehrs begeben hatte. Von Kriegen oder der Misswirtschaft einzelner Fürsten abgesehen, funktionierte die Sache mit dem Papiergeld normalerweise, schon alleine, weil sie filr alle recht praktisch ist, und weil die Regierung kraft Gesetzes- und Gewaltmonopol statuiert hatte, dass Noten von staatlichen oder königlich privilegierten Notenbanken als echtes Geld angenommen werden mussten. Die Zeit von um 1700 bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb in vielen Ländern durch einen Übergangszustand gekennzeichnet, bei dem Noten-Emissionen von Privatbanken einerseits und staatliche Notenbank-Emissionen andererseits parallel nebeneinander bestanden. Die privaten "Zettelbanken" gaben ihr Papiergeld ebenso wie die Staatsbanken mit dem Versprechen aus, die Banknoten auf Verlangen in

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Gold einzutauschen. Jedoch filhrten schief laufende Aktivitäten der Zettelbanken immer wieder zu kleineren oder größeren Instabilitäten und Beunruhigungen. In gelegentlichen Schritten erfolgte überall ein allmählicher Übergang zum staatlichen Banknoten-Monopol. Die 1876 gegründete Deutsche Reichsbank erlangte ihr alleiniges Banknoten-Monopol erst 1910, und dessen vollständige Realisierung erst 1935. Die Banknoten wurden in der Praxis nonnalerweise nicht in Münzen umgetauscht, sondern wie Geld beibehalten. Dadurch wurde der Übergang zu den Kernwährungen des 19. und 20. Jahrhunderts möglich. Das heißt, nur noch ein Teil, ein Kernbestand der umlaufenden Geldmenge, musste tatsächlich in Gold oder Silber vorhanden sein, zum Beispiel Gold im Wert eines Viertels der umlaufenden Banknoten, oder nur eines Achtels, oder noch weniger, sozusagen eine letzte goldene Geldreserve für das zirkulierende Papiergeld. Was für die Banknoten recht war, konnte fUr die Münzen nur billig sein. Für sie wurde mit Übergang zu den Kernwährungen nur noch ausnahmsweise beansprucht, vollwertige Edelmetall-Münzen darzustellen. Die gebräuchlichen Münzen sind seither meist nur noch Scheidemünzen, das heißt, unterwertige Legierungen verschiedenster Metalle. Das zuvor unrechtmäßige Vorhandensein von Scheidemünzen hatte jahrhundertelang immer wieder für Unmut gesorgt. Mit den Kernwährungen, und dem schließliehen Fallenlassen des Goldstandards, erregt sich niemand mehr über unterwertige Münzen aus Messing oder Aluminium. Hieran wird besonders deutlich, was die Existenz von Banknoten ebenso besagt, nämlich dass die Werthaltungsfunktion des Geldes entschwunden ist und das nunmehr frei geschöpfte Geld zu einem rein funktionalen Medium mit rechtsinfonnationalem Inhalt geworden ist. Mit den Kernwährungen erfolgte nicht nur de jure, sondern auch de facto die Verwandlung der Banknoten und Scheidemünzen in echtes Bargeld. Dies war möglich, und nur deshalb möglich, weil der Staat zum einen die Banknoten als gesetzliche Zahlungsmittel angeordnet hatte, und weil zum anderen das Recht der Emission von Banknoten per Gesetz einem exklusiven Kreis von Notenbanken, den heutigen Zentralbanken, vorbehalten wurde. So wie im Mittelalter die nicht-obrigkeitliche Münzprägung verboten worden war, wurde rund tausend Jahre später auch die private Banknotenherstellung verboten und als Geldflilschung unter Strafe gestellt. Die exklusiven Notenbanken mussten dafilr Sorge tragen, dass die von ihnen in Umlauf gegebenen Münz- und Papiergeld-Mengen die vorgeschriebenen Gelddeckungsreserven- zuletzt im 19. und 20. Jahrhundert Goldreserven - nicht überschritten. Für die anderen Banken und das Publikum, speziell auch für die Regierung, wurden die Notenbanken ihrerseits zu Reservebanken, bei denen sie sich gegebenenfalls mit benötigtem Geld eindecken konnten. Eine Geldbeschaffung der Banken bei der Zentralbank, eine so genannte Refmanzierung, muss nicht unbedingt in bar erfolgen. Es kann sich auch um bloßes Buchgeld handeln.

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Historisch haben sich Noten (Geldquittungen) und Giralgeld (Verrechnung von Geldforderungen auf Girokonten), also Papiergeld-Bereitstellung und Buchgeld-Bereitstellung, im wesentlichen ja zusammen entwickelt. Die Notenbanken geben den Banken Geldper Kredit, indem sie Wechsel, Inhaberschuldverschreibungen und andere eigentumshaftende Wertpapiere annehmen und im Gegenzug Zentralbankgeld dafilr herausgeben. Manche Darstellungen dieses Sachverhaltes könnten den Eindruck hinterlassen, die Zentralbanken würden ausschließlich Bargeld in Umlauf bringen. Dies ist jedoch unzutreffend. Den Banken, die sich bei der Zentralbank Geld beschaffen, werden die betreffenden Beträge als Buchgeld gutgeschrieben auf einem Konto der Bank bei der Zentralbank, in Deutschland dem LZB-Giro (LZB = Landeszentralbank). Nur wenn die Banken extra Bargeld anfordern, wird das Geld in Münzen und Scheinen per bewachtem Panzerwagen ausgeliefert und von dem betreffenden Kontoguthaben abgezogen. Ansonsten werden Zahlungen nur per Buchung vorgenommen, also in Form von Buchgeld. Wenn die Banken und ihr Publikum Buchgeld-Überweisungen erhalten, werden diese auf den betreffenden LZB-Giros gutgeschrieben. Wenn umgekehrt sie selbst Überweisungen an andere vornehmen, werden die Beträge von den betreffenden LZB-Giros abgezogen und denen der anderen gutgeschrieben. Faktisch also stellen die heutigen Notenbanken zunächst einmal jeden Geldbetrag in Form eines Buchungseintrages bereit. Man kann deshalb durchaus sagen, dass die Notenbank Buchgeld emittiert, selbst wenn das betreffende Geld stets nur zwischen Zentralbank-Konten hin und her gebucht wird, und es in diesem Sinne die Zentralbank nie "verlässt". Aber Buchgeld, als die reine Form des modernen Geldes, kann man grundsätzlich nicht zwischen den Fingern ftlhlen. Lediglich kann man seinen dokumentarischen Beweis lesen in Gestalt von Eintragungen auf Datenträgern. Geld ist reine Information. Die wesentliche historische Restriktion der Geldschöpfung durch die Notenbanken bestand in der ursprünglichen Anforderung der Deckung des Papierund Buchgeldes durch eine Edelmetallreserve. In dem Maße, wie die volle Edelmetall-Deckung des Geldes abnahm durch Übergang zu Kernwährungen, mit einem ihrerseits abnehmenden Edelmetall-Kern, um zu Ende völlig aufgehoben zu werden, wurde die Geldschöpfung durch die Notenbanken schrittweise frei von allen naturalgeldlichen Deckungsbindungen. Im Zeitraum etwa vom I. Weltkrieg bis zur Nachkriegszeit 1950-75 gab es immer weniger volle Goldund Silberwährungen, und mehr Goldkernwährungen mit einem zunehmend schrumpfenden Goldkern und einem entsprechend gesteigerten Faktor der Papier- und Buchgeldschöpfung. Die endgültige Aufhebung der Goldbindung des britischen Pfundes erfolgte 1931. In Deutschland wurde die Goldbindung der Reichsmark im Verlauf der 30er Jahre schrittweise faktisch ebenfalls aufgehoben. Die Deutsche Mark von 1948 war vom ersten Tag an ein naturalgeldlich nicht mehr gebundenes, völlig frei geschöpftes Geld. Die Amerikaner lösten die Goldbindung des OS-Dollars durch Kündigung des 1944er Wäh-

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rungsabkommens von Bretton Woods 1968 und abschließend durch Erlass Präsident Nixons am 15. August 1971. Das Metall in Fort Knox ist seither nur noch ein nationaler Mythos, Stoff ftlr Goldfmger-Geschichten. Mit der Aufhebung jeglicher Goldbindung handelt es sich beim Zentralbankgeld - dem Reservegeld ftlr die anderen - um ein völlig frei geschöpftes, ein sozusagen aus dem Nichts geschöpftes Geld (Gocht 1975, 39f., 74f.). Sichtguthaben des Publikums müssen weiterhin in gewisser Restmenge durch Zentralbankgeldgedeckt sein, aber das Zentralbankgeld selbst in Form des Bargeldes und des Buchgeldes auf den LZB-Giros muss durch kein anderes Geld mehr gedeckt sein. Die Zentralbank ist die einzige Instanz, die Geld ausgeben kann ohne es eingenommen zu haben. Die Restriktion ftlr die Schöpfung von Zentralbankgeld liegt heute nurmehr in politisch-ökonomischen Funktionen, insbesondere der richtigen Geldmenge gemessen am Transaktions- und Transfervolumen der Wirtschaft, und dies ist denn auch die einzige Deckung, die tatsächlich besteht: das reale Wirtschaftsprodukt, und die Fähigkeiten der Menschen und der ihnen zur Verftlgung stehenden technischen und natürlichen Kapazitäten, es fortlaufend zu reproduzieren. Die schrittweise Aufhebung der Goldbindung zugunsten einer freien Geldschöpfung erfolgte nicht aus Willkür, sondern aufgrund des Erfordernisses, jene Geldmengen zur VerfUgung zu stellen, die für die Umsätze im Zuge der industriellen Wachstumsschübe benötigt wurden. Diese großen Geldmengen müssen außerdem schnell und billig zur VerfUgung gestellt werden können. Neues Edelmetallgeld kann aber nur relativ langsam und nur zu sehr hohen Kosten verfilgbar gemacht werden, auch zu unvertretbar hohen ökologischen Erdausbeutungskosten. In Anbetracht der Funktionsflihigkeit des kostengünstig frei schöpfbaren Papier- und Buchgeldes war Metallgeld eine unnötig wohlstandsmindernde und deshalb zurecht beendete Fehlallokation geworden. Der Geldbedarf der industriellen Weltwirtschaft ist durch ihren Take-Off des 20. Jahrhunderts in Größenordnungen hineingewachsen, dem ein traditionales Metallgeldwesen in keiner Weise mehr zu genügen vermag. (Die Vorstellung, in einer größer werdenden Wirtschaft würden bei gleich bleibender Geldmenge die Preise sinken, ist ein unwirkliches GlasperlenspieL In Wirklichkeit würde die Entwicklung stagnieren. Das wussten schon die Bischöfe und Könige im ausgehenden Mittelalter, die nach mehr Gold und Silber drangen. Wie sonst hätte Kolumbus seine Chance bekommen). Das Papier- und Buchgeld schafft eine im Prinzip beliebige Erweiterbarkeit der Geldbasis der Wirtschaft. Mit der Realisierung dieser Chance trat zugleich das von nun an dauerhafte Risiko der Geldmengen-Inflation in Erscheinung (Abbildungen 22 und 23 im Anhang). Bei freier Geldschöpfung besteht die Gefahr, dass es aufgrundvon politisch-ökonomischem Führungsversagen zu einem dauerhaften Geldüberhang kommen kann. Es ist deshalb ebenso folgerichtig wie unerlässlich, dass die freie Geldschöpfung im Gang ihrer Entwicklung zur alleinigen Sache einer kompetenten und

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unabhängigen Autorität wird, einer obersten Währungsbehörde in Form der Zentralbank Wenn beliebige Geschäftspartner einander Zahlungskredit einräumen, so schöpfen sie dadurch kein Geld, auch dann nicht, wenn sie untereinander ausgestellte Schuldscheine als Geldersatz akzeptieren, denn letzten Endes muss einmal mit Geld - nicht mit Schuldscheinen, Geldquittungen oder Geldanweisungen (Schecks) - bezahlt werden. Das Geld müssen die Geschäftspartner von irgendwoher einnehmen. Im Rahmen des sich entwickelt habenden Geld- und Bankensystems stammt das Geld letztlich von Guthaben, welche das Bankensystem auf dem Kreditweg bereitstellt, wobei die Bankenkredite ihrerseits in gewissem Umfang durch Zentralbankgeld gedeckt sein müssen. Im heutigen gesetzlich konstituierten Bankensystem ist die Zentralbank die einzige ursprüngliche Reserve-Instanz bzw. Refmanzierungs-Instanz im Hoheitsbereich. Seit die Verquickung von Fürstenkasse, Staatskasse und Nationalbank zugunsten getrennter Haushalte ausdifferenziert wurde, wird alles Geldper Zentralbank-Kredit emittiert. Münzen, Banknoten und Buchgeld werden heute als Geldverbindlichkeiten gegenüber der Zentralbank in Umlauf gesetzt. Sie begründen keine Edelmetallforderung des Publikums an die Zentralbank mehr, sondern nur noch eine einseitige Rückforderung der Zentralbank an Banken und Publikum auf das ihnen überlassene Zentralbankgeld. Die gesamte Neuzeit einschließlich des Industriezeitalters kann als säkularer Übergangszeitraum angesehen werden, in dem das traditionale Metallgeldwesen weiter und noch bestanden hat, obschon mit abnehmender Bedeutung, und das moderne Geld- und Kreditwesen schon bestanden und sich zunehmend entfaltet hat, um sich heute vollends zu emanzipieren von traditionalen Restbeständen. Auch das Finanzwesen vollzieht den Übergang von der einfachen, noch traditionsbezogenen Modernität zur vollends selbstbezüglich gewordenen weitergehenden Modernisierung. Die spezifische Hervorbringung der gelddualistischen Übergangszeit vom reinen Metallgeld zum vollwertigen Buchgeld ist das Giralgeld - das Verrechnungsgeld, der Zahlungskredit in Form der Akzeptanz von Nicht-Barzahlung und das damit entstandene Geldreserve-System. Obschon heute in vielflUtigen Formen ausdifferenziert, bedeutet es im Prinzip recht einfach, dass es früher filr Giralgeld und Bargeld eine Reserve an Edelmetall geben musste, und dass es heute filr irgendein Geld eine Reserve an Zentralbankgeld geben muss, wobei das Zentralbankgeld frei aus dem Nichts schöpfbar geworden ist. Das Reservesystem prägt die Funktionsweise und das Verständnis der Geldordnung bis heute. Es ist kein willkürliches Postulat, lediglich sachlicher Ausdruck dessen was sich historisch entwickelt, wenn man feststellt, dass mit dem endgültigen Eintritt in die weitergehende Modernität das Giralgeld und damit das traditionale Geldreserve-System aufhören werden zu existieren.

3. Geldmengen MI- M3. Geld und Geldkapital

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Denn ihr Existenzgrund ist der früher handelserleichternde Dualismus von Metallgeld und Giralgeld gewesen. Aber seit der weltweiten Aufhebung der Goldbindung der Währungen gibt es keine Gelddeckung des Geldes mehr, und im globalen Telekommunikationsdorf kann jeder mit jedem wann auch immer am virtuellen Datapoint handelseinig werden und eine Realtime-Überweisung vornehmen. Wer Geld hat, kann heute praktisch immer und überall sofort zahlen. Ein Zahlungskredit im traditionalen Sinn ist unnötig, nurmehr komplizierend, und also überflüssig geworden. Geld und Kredit sind von historischen Bindungen gelöst worden. Sie werden sich, samt kaufinännischer Buchfiihrung und Bilanzierung, in voraussichtlich größerer Vielfalt denn je fortentwickeln, mit umso größerem Potential an Chancen und Risiken. Dagegen fast schon mehr eine Fiktion als noch eine Realität ist der Dualismus von Edelmetallgeld und Giralgeld (Sichtguthaben). Es gibt keinen solchen Dualismus mehr. Es gibt nur noch einen daraus hervorgegangenen merkwürdigen Emissions-Dualismus von Zentralbankgeld und Bankengeld, bei dem von Banken aus dem Nichts geschaffene Sichtguthaben gedeckt sein sollen durch aus dem Nichts bereitgestelltes Zentralbankgeld. Man wird bald einmal verstehen, was dies bedeutet. Nichts anderes, als dass Giralgeld und Geldreserve-System obsolet geworden sind. Sie sind "eine überlebte Tradition" (Gocht 1975, 64-67). Sie können abgelegt werden wie eine alte Haut. Übrig bleibt das Zentralbankgeld als einzig vollwertiges Geld in seinen Zahlungsmittel-Formen als Buchgeld, Papiergeld und Münzgeld - solange die beiden letzteren noch in Gebrauch sein werden.

3. Zentralbankgeld und Geldmengen Ml - M3. Geld und Geldkapital Kommen wir nach dem Abstecher zu den Funktionen und zur Geschichte des Geldes zurück zu dem Vorhaben, ein Grundeinkommen durch Bezugsrechte der Zentralbank zu fmanzieren. Obwohl Bezugsrechte nicht Notenbankkredit an den Staat darstellen, ergibt sich bezüglich der kritischen Grenze der emittierbaren Gelder doch eine sinngemäß gleiche Fragestellung wie beim Konzept von File, das auf die Vergabe von ewigem Kredit der Notenbank an den Staat abzielte (File 1982, 1986, 1989, Dohnanyi 1986). BefürworteT ebenso wie Kritiker stimmten darin überein, eine tilgungsfreie und dennoch geldwertneutrale Kreditvergabe der Notenbank könne maximal im Umfang der ohnedies stattfindenden Ausweitung der Zentralbankgeldmenge erfolgen. Es wurde also davon ausgegangen, die Zentralbankgeldmenge sei die relevante Bezugsgröße. Das Zentralbankgeld besteht nach heutiger Definition aus Bargeld plus Mindestreserven. Bargeld umfasst die umlaufenden Münzen (15,3 Mrd Mark im Jahr 1996) sowie die Banknoten (260,4 Mrd Mark). Mindestreserven dagegen befmden sich nicht im Umlauf. Sie sind auf Anordnung der Zentralbank bei der

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V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

Zentralbank stillgelegtes Zentralbankgeld im Besitz der Banken in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes der Kundenguthaben. Die Banken können darüber nicht verfilgen. Der Umfang der Mindestreserve betrug 1996 39,5 Mrd Mark (alle Zahlen nach den Monatsberichten der Bundesbank 1997, hier Tab. V.2). Das umlaufende Bargeld erhöhte sich im Jahr 1996 im Vergleich zum Vorjahr um 12,2 Mrd Mark oder 4,6 Prozent auf 275,7 Mrd Mark. Der Gesamtbestand an Bargeld plus Mindestreserve stieg um 14,4 auf 286,2 Mrd Mark (Tab. III.l, 11.3). Offensichtlich lässt sich mit einer Ausweitung der Zentralbankgeldmenge um 14 Mrd Mark ein Grundeinkommen von um 100 Mrd nicht fmanzieren. Allerdings muss man sich über das heutige Zentralbankgeld schon wundern. Ein immer größerer Teil der laufenden Zahlungen erfolgt bargeldlos. Wird demnächst auch im Supermarktper Karte bezahlt, so wird Bargeld in Form von Münzen und Banknoten tendenziell nur noch als eine Art Taschengeld dienen. Es blieben dann nur noch Taschendiebe und Schwarzarbeiter, die ihr Geschäft bar abwickeln. Wofilr also sollte Bargeld noch ein Maßstab sein, außer filr den täglichen Einkauf der Leute und das Ausmaß der Untergrundwirtschaft (in den zurückliegenden Jahren auch filr das Ausmaß der DM-Nutzung als Parallelwährung in einigen osteuropäischen Staaten). Die Zentralbankgeldmenge in ihrer herkömmlichen Abgrenzung ist ein Relikt der Metallgeldzeit und des baren Zahlungsverkehrs. Sie ist erheblich kleiner als die wirklich zirkulierende Geldmenge. Die folgenden Abschnitte haben nicht zuletzt mit der Frage zu tun, wie das heutige Zentralbankgeld und die wirkliche Geldmenge miteinander zusammenhängen - und wie man dafilr Sorge tragen kann, dass das Zentralbankgeld und die wirkliche Geldmenge künftig miteinander übereinstimmen. Eine wirklichkeitsgerechtere Abgrenzung des Zentralbankgeldes muss zunächst das Zentralbank-Buchgeld mit einschließen. Dies macht der Geldmenge nach noch keinen großen Unterschied, ist aber systematisch von grundlegender Bedeutung. Der Unterscheidbarkeit halber kann man diesbezüglich vom vollständigen Zentralbankgeld sprechen. Es besteht in der Summe des von der Zentralbank emittierten Geldes, das als Bargeld zirkuliert oder als Buchgeld bei der Zentralbank vorhanden sein kann. Dies entspricht in der Literatur vorfmdlichen weiten Defmitionen des Zentralbankgeldes. Da die Zentralbank heute alle Gelder per Kredit emittiert, lässt sich die vollständige Zentralbankgeldmenge aktivseitig ermitteln als Summe der offenen Zentralbankforderungen. Einfacher ist allerdings die passivseitige Annäherung in Form der Summe aus dem umlaufenden Bargeld plus dem Zentralbank-Buchgeld, das heißt, den Geldreserven der Banken bei der Zentralbank: ZBk-M = Bargeld + Bk-Einlagenzak

3. Geldmengen MI- M3. Geld und Geldkapital

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Im Jahr 1996 waren dies 275,7 + 51,9 = 327,6 Mrd Mark bzw. ein Jahreszuwachs von 14,4 Mrd oder 4,6 Prozent (Tab. III.1 +2). Eine andere Perspektive, die über die Zentralbank hinausgeht und die Geschäftsbanken einschließt, entsteht in Betrachtung der Geldmengen M1 - M3. Der Sprachgebrauch sei beibehalten, obwohl diese so genannten Geldmengen heute genau genommen nur zum geringsten Teil Geld sind. Zum überwiegenden Teil repräsentieren sie Geld, das nicht ausbezahlt wird (Zahlungskredit). Die Geldforderungen, die in den Geldmengen M1 - M3 wiedergegeben sind, befmden sich nach heutiger Abgrenzung im Besitz der Nichtbanken, des Publikums. Zum Publikum gehören hierbei die Unternehmen und die Privatpersonen (privaten Haushalte) sowie in der hier vorgenommenen Klassifizierung ebenso die öffentliche Haushalte. Die Geldmengen M1 - M3 bauen aufeinander auf. M3 ist eine Erweiterung von M2, M2 eine Erweiterung von MI. In der Abgrenzung der Bundesbank, die hierin einer weitgehenden internationalen Übereinstimmung folgt, setzt sich M1 zusammen aus dem umlaufenden Bargeld sowie den Sichteinlagen, den jederzeit frei verfügbaren Guthaben des Publikums oder von Banken auf Girokonten der Banken. Die Geldmenge M1 wird erweitert zum Geldaggregat M2 durch HinzufUgung der Termingelder bis unter vier Jahren Laufzeit. Schließlich ergibt sich M3 als M2 plus Spareinlagen mit gesetzlicher Kündigungsfrist. M3 war filr die Bundesbankpolitik der zurückliegenden Jahre als Indikator von Bedeutung. Die Geldmenge M1 (Bargeld plus Sichtguthaben) wird von der Geldforschung heute als die eigentliche Geldmenge angesehen, und zwar deshalb, weil es sich um Zahlungsmittel von sofortiger und unbeschränkter Verfügbarkeit handelt - im Unterschied zu Spar- und Termineinlagen, deren Verfügbarkeit Fristen und eventuell auch Mengenbeschränkungen unterliegt. M 1 wuchs 1996 um 100,8 Mrd oder 12,3 Prozent auf 916,9 Mrd Mark (Tab. I1.2). Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass in diese Summe nicht alles vorhandene Bargeld eingeht. Es fehlen die Kassenbestände der Banken in Höhe von 30,3 Mrd Mark. MI besteht aus dem Bargeld in Händen des Publikums plus den Sichtguthaben. Das Geldaggregat M2 wird filr sich alleine nur selten betrachtet. Der nächste Schritt nach M1 fiihrt in der Regel gleich zu M3, als M1 plus Termin- und Spargelder. M3 wuchs 1996 um 174,4 Mrd Mark oder 8,7 Prozent auf2.181,8 Mrd Mark (Tab. Il.2). An dieser Stelle muss man sich den Unterschied zwischen Geld und Geldkapital vergegenwärtigen. Unter Geld wird dabei M1 verstanden, also jenes Geld, das man entweder als Bargeld ausgibt oder über das man als Buchgeld (als Sichteinlage) per Überweisung verfügt. Inwiefern es sich dabei im Rahmen des heutigen Reservesystems wirklich um Geld handelt, wird noch zu differenzieren

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V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

sein. Geldkapital dagegen entsteht durch Geld, das man verliehen hat, fiir einen bestimmten Zeitraum oder aufunbestimmte Zeit. Geldkapital sind offene Forderungen aus Geldanlagen, zum Beispiel in Form von Sparbuch-Gutschriften, Termingeld-Forderungen, Aktienbesitz, Gutschriften aus gekauften Staats- und Industrieanleihen (lnhaberschuldverschreibungen). Auf Geldkapital besitzt man einen Eigentumsanspruch, aber die Geldsumme, auf die das Kapital sich beläuft, besitzt man nicht mehr positiv als Geld, sondern nurmehr negativ als offene Forderung auf Geld.rückzahlung. Das betreffende Geld befmdet sich inzwischen woanders. Geldkapital ist kein Geld mehr, sondern eine Geldanlage, die eine Geldrückforderung zu einem späteren Zeitpunkt begründet. Mit Geldkapital kann man normalerweise nicht bezahlen. Guthaben auf Sparkonten kann man nicht überweisen. Allenfalls kann man Geldkapital veräußern oder verpfänden, um dadurch Geld zum Bezahlen einzunehmen. Die Überlassung eines Geldkapitals statt Geld mag ein mehr als äquivalenter Geldersatz sein. Aber Geld ist nicht, was anstelle von Geld ersatzweise entgegengenommen wird. So mag heute zum Beispiel ein Barscheck "so gut wie Geld" sein, ist aber kein Geld, auch kein "Quasigeld", sondern eine Anweisung auf Geldbezug von einem bestimmten Konto. Ein ungedeckter Scheck platzt, das heißt, eine Bezahlung findet nicht statt. Deshalb werden Anweisungen per Scheck anstelle von Geld nur so weit akzeptiert, wie sie durch allgemeine Haftungsvereinbarungen im Bankensystem praktisch zu hundert Prozent abgesichert sind. Die Umwandlung von Geld in Kapital - anders gesagt, die Nutzung des Geldes zu Spar- und Leihzwecken statt zu Kaufzwecken - fmdet zum Beispiel statt, wenn ein Guthaben auf einem Gehaltskonto umgewandelt wird in ein verzinsliches Termingeld. Es verringert sich damit das Geld in den Händen des betreffenden Akteurs, der dafiir ein Geldkapital in gleicher Höhe gebildet hat. Die gesamtwirtschaftlich zirkulierende Geldmenge verändert sich dadurch nicht. Weder verringert sie sich, weil das Geld durch den Kreditnehmer weiterzirkuliert, noch vermehrt sie sich, weil nur der Kreditnehmer über das Geld verfiigt, aber nicht mehr der Kreditgeber. Gewachsen ist hingegen aufgrund der Kreditvergabe die Bilanzsumme der Forderungen (beim Geldgeber) und der Verbindlichkeiten (beim Kreditnehmer). Werden im umgekehrten Fall Geldanlagen bei Fälligkeit nicht wieder angelegt, sondern liquidiert und zum Beispiel fiir Anschaffungen ausgegeben, so sinken das Geldkapital der betreffenden Besitzer ebenso wie die Verbindlichkeiten der früheren Schuldner. Die Gesamtbilanz von Forderungen (Geldkapital) und Verbindlichkeiten (Kredit= Schulden) verringert sich. Aber es fällt oder steigt deshalb nicht die Geldmenge, da ja nun die Vorbesitzer das weniger auszugeben haben, worüber der ursprüngliche Geldbesitzer nun wieder selbst verfilgt. Oftmals wird Kredit mit Geld verwechselt. Dadurch wird Kreditausweitung mit Geldvermehrung gleichgesetzt. Aber Kredit ist kein Geld. Man kann sagen,

3. Geldmengen MI - M3. Geld und Geldkapital

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Kredit wird mittels Geld vergeben, ebenso wie Geldkapital auf der Grundlage von Geld gebildet wird. Forderungen aus einer Geldkapitalanlage und Verbindlichkeiten aus einer Kreditaufuahme werden in Geld bemessen und beglichen, aber sie bestehen nicht als Geld, sondern als Geldforderungen und Geldverbindlichkeiten, die bestimmte Geldsummen repräsentieren. Die Geldmengen MI - M3 sind im Hinblick auf den Unterschied von Geld und Geldkapital nicht klar abgegrenzt. Nur die Geldmenge MI beinhaltet Liquidität (uneingeschränkt verfilgbare Zahlungsmittel) in Form des Bargeldes und der Sichtguthaben auf Girokonten, der täglich fillligen Verbindlichkeiten der Bank gegenüber ihren Kunden. Demgegenüber kommen durch M2 und M3 verzinslich angelegte Gelder hinzu, nämlich Termingelder bis vier Jahre Laufzeit und Spargutschriften mit gesetzlicher Kündigungsfrist. M2 und M3 sind also eine Aggregierung aus der Geldmenge MI und den letztgenannten Geldkapitalmengen. Bei M2 und M3 handelt es sich somit nicht um Geldmengen, sondern um kombinierte Geld- und Vermögensaggregate - und genau genommen trifft das auch auf MI selbst zu, weil nämlich im Rahmen des heutigen GeldreserveSystems auch Sichtguthaben nicht Zentralbankgeld darstellen, sondern sie einen Anspruch auf Zentralbankgeld in gleicher Höhe nur repräsentieren. Tatsächlich ist dem heutigen Status quo zufolge allein die vollständige Zentralbankgeldmenge ZBk-M echtes Geld. Was MI - M3 darüber hinaus enthalten, ist nicht Geld, sondern sind Geldforderungen. Demzufolge ist es im Hinblick auf die Abgrenzung der Geldmenge irrefilhrend, MI durch Erweiterungen zu M2 und M3 aufzuaddieren. Ebenso gut könnte man auch 5-I Ojährige Anleihen und andere langfristige Kapitalanlagen als "Geldmengen" ansprechen und M3 durch Erweiterung um diese "Gelder" zu M4 - Mx erweitern. Der Sinn der Unterteilung von MI - M3 besteht in einer Abstufung der Realisierbarkeit (Liquidierbarkeit) von Geldforderungen. So ist auch die Reihenfolge der Positionen auf der Aktivseite einer Bankenbilanz nach dem Liquiditätsgrad angeordnet: zuerst bare Kassenbestände, in früheren Zeiten Gold- und Silbergeld, dann Kontoguthaben, dann Forderungen die so gut wie Geld, also beinahe Geld sind, und so weiter, bis hin zu Liegenschaften, Geschäftsbeteiligungen und abgenutzten Maschinen. In diesem Sinn enthalten die Geldmengen MI - M3 außer dem Geld in MI auch so genanntes near-money ("Beinahegeld"), das heißt, bald oder einfach liquidierbare Geldforderungen. Ein Begriffwie near-money illustriert deutlich die heute verbreitete geldtheoretische Auffassung, man wisse letztlich gar nicht so genau, was Geld eigentlich ist, denn mancherlei Arten von Geld und Geld-Surrogaten von verschiedensten Emittenten würden zu Zahlungszwecken benutzt. Die Übergänge seien fließend, und Abgrenzungen innerhalb des fließenden Kontinuums relativ willkürlich (Hayek I977, 4I). Nennen wir dies die Geldkontinuums-These. Der Vorstellung von einem Geldkontinuum entspricht die Erfahrung der zurückliegenden Jahrzehnte, dass ein Geldkapitaleigentümer heutzutage selbst langfristige Geldanlagen relativ leicht liquidieren kann, besonders wenn es sich um marktbreite

190

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

Anlageformen handelt wie etwa Staatsanleihen oder Standardaktien. Damit wird zwar die Anlage nicht rückgängig gemacht, aber die Wertpapiere bzw. Schuldpapiere wechseln den Besitzer. Anleihe- und Aktienmärkte sind, nach erfolgter Emission, ja nurmehr eine Art von Second-Hand-Markt. Der bisherige Besitzer bekommt sein Geld nicht vom Schuldner, sondern vom neuen Besitzer, der nun der neue Gläubiger ist. In vergleichbarer Weise können sonstige Forderungen abgetreten werden. Zwar können Kredite nur aus bestimmten wichtigen Gründen vorfristig gekündigt werden, aber in Wirklichkeit, wenn die Banken und Finanzmärkte es wollen, lässt sich jede Geldanlage liquidieren, wenn entsprechende Abschläge in Kauf genommen werden. Selbst international als uneinbringlich eingestufte Schuldtitel werden gehandelt. Überhaupt werden Gelder und Geldanlagen weltweit fungibler, die Kautelen ihrer Umwandelbarkeit werden vielfiiltiger und flexibler, ihre Beleihbarkeit und Derivierbarkeit nimmt zu. Zweifellos wird dadurch die Grenze zwischen Geld und Geldkapital, zwischen Geld und Geldforderung, durchlässiger. Aber: sie verschwindet deshalb nicht. Es bestehen unterschiedliche Grade der Liquidierbarkeit von Vermögen, von Geldkapital ebenso wie Sachvermögen. Unzutreffend ist jedoch, es gäbe Liquiditätsgrade von Geld. Denn ein Vermögen wird zu Geld liquidiert, anders gesagt, Geld stellt per Defmition die angestrebte Liquidität dar, die sofortige uneingeschränkte Zahlungsfiihigkeit. Zutreffend ist, dass Geldträger unter technischem Aspekt eine unterschiedliche Einsetzbarkeit besitzen. Es wäre ziemlich unpraktisch, Rechnungen durch große Bargeldsendungen anstatt durch Buchgeld-Überweisungen zu begleichen. Wenn Strom, Rechner oder Telekomverbindung ausfallen, funktioniert die Kreditkartenanweisung nicht, und es muss wieder bar oder per Scheckanweisung bezahlt werden. Alle solche Varianten sind jedoch nur darstellbar, wenn Geld, anders gesagt Liquidität, positiv vorhanden ist. Unzutreffend ist, die Übergänge seien fließend, denn die verschiedenen Geld- und Vermögensarten sind gesetzlich, vertraglich und in sozusagen gerichtsnotorischer Weise voneinander abgegrenzt. Die Übergänge zwischen ihnen sind diskret. Etwas anderes würde man in Geldangelegenheiten nicht akzeptieren. Anzuerkennen dagegen ist die in der Kontinuums-These implizit enthaltene Konventionstheorie des Geldes. Da Geld eine Hervorbringung der sozialen Evolution darstellt, kann es nicht anders, als einer sozio-kulturellen Normierung, in modernen Gesellschaften letztlich einer Gesetzgebung zu unterliegen. Es bedeutet freilich eine ziemliche Versimpelung komplizierter Rückbindungen, zu sagen, Geld sei, was die Leute als Geld akzeptieren (Friedman 1980, 249253). Die wenigsten Leute leben in Gefangenenlagern und zahlen mit Zigaretten. Die realistischere Frage lautet, welche gesellschaftlichen Akteure unter welchen Bedingungen die Macht, die Mittel und Möglichkeiten besitzen, bestimmte Dinge als Geld zu definieren und ihren Gebrauch durchzusetzen. Die kultivierende Frage lautet, wem unter Zugrundelegung welcher Verfahren die Macht

3. Geldmengen MI- M3. Geld und Geldkapital

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zukommen soll, Geld zu defmieren und zu emittieren. Die GeldkontinuumsThese lässt da manches im Undeutlichen. Darauf wird bei der Diskussion des chartalen Geldes noch zurückzukommen sein. Die Kontinuums-These des Geldes mag mit der historischen Entfaltung des Geldreserve-Prinzips zusammenhängen. Banknoten waren ursprünglich ja auch kein Geld, sondern lediglich Anweisung auf ein Geld, das sie symbolisch repräsentierten. Sichtguthaben wiederum repräsentieren Bargeld oder ZentralbankGiroguthaben. Schecks repräsentieren Sichtguthaben, usw. Fehlt in dieser Verkettung von Verweisungen schließlich das ursprünglich Letztbezeichnete (der den Umlauf deckende Gold- und Silberschatz), kann bei ungenauem Hinsehen schon der Schein entstehen, man wisse eigentlich nicht so recht, welches Zahlungsmittel in wessen Verftlgung durch welches andere Mittel in anderer Verftlgung "gedeckt" sein soll. Nur wenig genaueres Hinsehen erweist zweifelsfrei das Zentralbankgeld als das Letztbezeichnete, mit und ohne Gold gleichermaßen. Es ist somit eine Gegenthese zur Geldkontinuums-Auffassung zu formulieren, und zwar die These der Homogenität und diskreten Identität des Geldes und der Geldmenge. Man kann sie die Identitätsthese des Geldes nennen. Mit dem Geld ist es demzufolge wie mit der Schwangerschaft. Es kann nicht "ein bisschen Geld" oder "ein bisschenkein Geld" sein. Geld ist Geld oder es ist keines. Jede Untermenge der zirkulierenden Geldmenge ist eine disjunkte Teilmenge, und sie befmdet sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ausschließlich an einem einzigen genau bestimmbaren Ort. Der Unterschied zwischen Geldbesitz und dem Innehaben einer Geldforderung kann nicht wegdiskutiert werden. Man kann Geld besitzen, im Sinne der Geldmenge MI als Bargeld oder Sichtguthaben, oder es nicht mehr besitzen, weil man es ausgegeben oder jemandem überlassen hat. Im letzteren Fall hat man sein Geld angelegt und besitzt eine Geldforderung. Dass manche Geldanlage sehr kurzfristig erfolgt, ändert nichts daran, dass sie erfolgt ist, und dass die Forderung erst wieder eingelöst werden muss, um an das Geld heranzukommen - und dass während dieser Zeit jemand anderer über das betreffende Geld verfUgt und es woanders zirkulieren lässt. Gemäß der mikroökonomischen Realität, dass man eine Mark nur einmal ausgeben kann, ist es der Schuldner, der die kreditierte Mark hat, und der Gläubiger, der sie nicht mehr ausgeben kann, solange der Schuldner sie ihm nicht wieder zurückbezahlt hat. Die betreffende Mark selbst wechselt ihre Besitzer, aber sie wandert deshalb nicht von einer Geldmenge zur nächsten, sondern bleibt ununterbrochen Teil derselben Geldmenge, die in ihrer Identität durch alle Transaktionen und Transferierungen hindurch mengenunverändert fortbesteht. Der heutige Sprachgebrauch in der Bankenstatistik verunklart diese Abgrenzung. Als Geldkapital bezeichnet und zum so genannten Kapitalmarkt gezählt werden erst Termingelder ab einer Frist von vier Jahren, Spareinlagen mit mehr

192

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

als drei Monaten Kündigungsfrist, Sparbriefe, Staats- und Industrieanleihen als Guthaben (Inhaberschuldverschreibungen), Aktienbesitz, Fondsanteilsscheine, Eigenkapital und sonstige langfristig gebundenen Geldvermögen. Dagegen heißt der Handel mit Geldforderungen, bei denen das Geld filr kürzere Fristen überlassen wurde, Geldmarkt - obwohl auch dieser so genannte Geldmarkt eindeutig ein Kapitalmarkt ist, eben einer filr kürzere Fristen. Die Kreuzungsmengen in den Aggregaten M2 und M3 sind somit Geldkapital am Geldmarkt, im Unterschied zu Geldkapital am Kapitalmarkt. Ausdrücke wie Geldmarkt oder Geldhandel sind genau genommen eine Nonsense-Bezeichnung. Es macht Sinn, inländische in ausländische Währung, Buchgeld in Bargeld zu wechseln, aber es macht keinen Sinn, Geld mit gleichem Geld zu kaufen. Außerdem sinnvoll ist ein Kapitalhandel, bei dem Geldforderungen (Kredite) gehandelt werden. Der Zins ist diesbezüglich nicht der Preis des Geldes, sondern der Preis des Kredites. Das Geldkapital GK des Publikums besteht aus den kurzfristigen und den langfristigen Anlagen: Pub-GK = kufri GK + lafri GK wobei das kufri GK = M3 - MI, also

Pub-GK = M3 - MI

+ lafri GK

Nach Tab. II.2 der Monatsberichte der Bundesbank handelte es sich 1996 um ein Geldkapital des Publikums von Pub-GK = kufri 1.264,9 + lafri 2.745,0 = 4.009.9 Mrd Mark.

Die Summe aus der sofort verlUgbaren Geldmenge MI und dem aktuell nicht-verfiigbaren weil angelegten Geldkapital GK ergibt zusammen das vorhandene Geldvermögen. Die inländischen Geldvermögen von Unternehmen, Haushalten und Staat in Deutschland wuchsen im Jahr I996 um 357,8 Mrd Mark oder 7,8 Prozent auf 4.926,8 Mrd Mark (Tab. II.2). Bezüglich der Frage nach der relevanten Bezugsgröße filr die Emission von Grundbezugsrechten folgt aus den getroffenen Abklärungen u.a. dies: Die Vermögensaggregate M2 und M3 können nicht als Bezugsgröße dienen, weil sie fristiges Geldkapital darstellen. Die Zentralbankgeldmenge ZBk-M - sei es in ihrer herkömmlichen engeren Defmition oder in ihrer vollständigen Abgrenzung - ist die einzige echte Geldmenge. Aber sie beträgt nur einen geringen Teil der Zahlungsmittel, die von Banken und Publikum filr laufende Zahlungen benutzt werden. Unter dem Aspekt der sofortigen Verfilgbarkeit fUr Zahlungszwecke ist es die Geldmenge Ml, die einen relevanten Zugang zur gesuchten Bezugsgröße erschließt. Allerdings bedarf auch dieser Zugang, der geldtheoretisch heute allgemein geteilt wird, der weiteren Präzisierung. Denn unter den heutigen Bedingungen des Geldreserve-Systems stellt MI keine eindeutige Geldmenge, sondern ein vermischtes Geld- und Vermögens-Aggregat dar, und geldpolitisch keine Geldmengen- Vorgabe, sondern eine Resultante. Sie ergibt sich aus der Schaffung von Sichtguthaben durch die Banken.

4. Die Gesamtgeldmenge M

193

4. Zentralbankgeld, Bankengeld, Publikumsgeld. Die Gesamtgeldmenge M Man kann die Geldmenge Ml Publikumsgeld nennen, im Unterschied zu dem zuvor besprochenen Zentralbankgeld. Publikumsgeld Pub-M ist alles Bargeld und Buchgeld (Sichtguthaben) im Besitz des Publikums. Zentralbankgeld ZBk-M ist alles Geld, das von der Zentralbank emittiert worden ist, und das sich entweder als Buchgeld auf Konten der Banken bei der Zentralbank befmdet oder das als Bargeld bei Banken und Publikum zirkuliert. Mengenvermittelnd zwischen ZBk-M und Pub-M steht das Bankengeld Bk-M. Dieses besteht aus den Kassenbeständen (dem Bargeld) im Besitz der Banken sowie aus dem Buchgeld im Besitz oder in der VerfUgung der Banken. Zentralbankgeld ZBk-M, Bankengeld Bk-M und Publikumsgeld Pub-M bilden überlappende Mengen, und zwar deshalb, weil im Rahmen des bestehenden Geldreserve-Systems nur das vollwertige Bargeld in eindeutigen disjunkten Mengen zirkuliert, während Sichtguthaben eine Art von Parallelbuchgeld der Banken darstellen, denen Zentralbankgelder, als Zahlungsreserven filr die Sichtguthaben, nur in minderer Proportion als Basis zugrunde liegen. Abbildung 5 verdeutlicht, wie die drei Geldmengen sich zueinander verhalten und was sich als ihre Vereinigungsmenge ergibt.

Bargeld

Buchgeld

Zentralbankgeld, enge Abgrenzung

Alles Bargeld

Mindestreserve

Zentralbankgeld vollständig

Alles Bargeld

Mindestreserve

Bankenverfilgbares Geld Bk-M Publikumsgeld Pub-M

Kassenbestände

ÜberschussReserve ÜberschussReserve

Bargeld in MI

Pub-Sichtguthaben auf Girokonten bei den Banken

Gesamtgeldmenge M

Abbildung 5: Vereinigungsmenge und Schnittmengen von Zentralbankgeld, Bankengeld und Publikumsgeld 13 Huber

194

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

Im Hinblick auf das Bargeld liegen die Dinge einfach. Die Kassenbestände der Banken und die Barbestände des Publikums bilden zwei disjunkte Mengen ohne Restrnenge, deren Vereinungsmenge genau das gesamte Bargeld ergibt. Im Hinblick auf das Buchgeld liegen die Dinge schwieriger, und zwar deshalb, weil hier nicht wie beim Bargeld die ZBk-M durch Zirkulation einfach aufgeteilt wird, sondern einerseits die Banken-Guthaben bei der Zentralbank (Buchreserven) und andererseits die Publikums-Guthaben bei den Banken als zwei getrennte Geldmengen zirkulieren, deren Bewegungen jedoch in bestimmter, noch zu erläuternder Weise miteinander verbunden sind. Außerdem ist es vielleicht schon an dieser Stelle nützlich, sich vor Augen zu fUhren, dass Bargeld und Buchgeld ineinander wechselbar sind. Hypothetisch könnte das ganze Buchgeld vollständig durch Bargeld ersetzt werden. Das wäre dann ein Rückfall in vormoderne Zustände. Was heute wirklich vor sich geht, ist der umgekehrte Vorgang der zunehmenden Ersetzung von Bargeld durch Buchgeld. Ein futuristisches Szenario ganz ohne Bargeld kann man sich zumindest ausmalen, ohne dass die Dinge unsinnig würden. Aus Abb. 5 ist ersichtlich, dass keine einzelne der wie auch immer abgegrenzten Geldmengen die gesamte Vereinigungsmenge darstellt, sondern dass sie alle Untermengen davon sind. Die Vereinigungsmenge ist diejenige, deren Bestandteile mindestens einer der Teilmengen angehören. Buchhalterisch würde man sagen, es handelt sich um die konsolidierte Geldmenge, das heißt, die von Überschneidungen bzw. Doppelzählungen bereinigte Gesamtmenge des Geldes. Diese Gesamtgeldmenge wird im Folgenden als die eigentliche und echte Geldmenge angesehen und einfach mit M abgekürzt. M ergibt sich als das Publikumsgeld MI plus die Kassenbestände der Banken, oder anders, als die Publikums-Sichtguthaben plus das Bargeld. (Genau genommen gehören zu diesen Sichtguthaben auch die Einlagen der öffentlichen Kassen bei der Zentralbank, aber davon sei hier der Einfachheit abgesehen, zurnal es sich nicht um viel Geld handelt): M

= Kassenbestände + M1 = Bargeld+ Pub-Sichtguthaben = 28,9 + 916,9 = 275,7 + 670,1 = 945,8

Dieser Zusammenhang ergibt sich deshalb so, weil die Buchreserven der Banken Untermengen der Pub-Sichtguthaben darstellen, während die Kassenbestände der Banken eine disjunkte Teilmenge des Bargeldes bilden. Es wäre von daher unrichtig, das Bargeld der Banken nicht als Teil der Geldmenge anzusehen. Denn die Kassenbestände der Banken dienen genau so wie ihre Buchreserven als Zahlungsreserve. Und wie das Bargeld des Publikums dienen sie zu laufenden sonstigen Transaktionen. Die Banken halten ihre Kasse nicht aus Langeweile, sondern, ganz im Sinne transaktions- und portfoliotheoretischer Betrachtungen, filr die Abwicklung verschiedener Geldgeschäfte. Im Prinzip gilt dieses Argument auch filr das Buchgeld. Beim Buchgeld besteht jedoch keine Mengen-Disjunktion, sondern Mengen-Inklusion infolge der so genannten Bankengeldschöpfung, der Sichtguthabenschaffung durch die Banken, wie

4. Die Gesamtgeldmenge M

195

nachfolgend erläutert. Wären die Buchreserven der Banken ebenso wie ihre Bargeldreserve eine disjunkte Untennenge von M, dann müssten diese Buchgeldreserven ebenfalls zu M hinzugezählt werden. Weil aber heute die Buchreserven Untennengen der Sichtguthaben darstellen, würde ihre Hinzuzählung eine Doppelzählung bedeuten. Die Kassenbestände der Banken in einer solchen Betrachtung unberücksichtigt zu lassen, entspricht der Gepflogenheit, einen monetären Sektor von einem realwirtschaftlichen Sektor abzugrenzen. Eine solche Abgrenzung ist dann naheliegend, wen man die Banken ebenso als geldschöpfende Institutionen ansieht wie die Zentralbank. Dann wird man Zentralbank und Kreditinstitute zusammen als eine vom Publikum getrennte institutionelle Einheit behandeln. Dies geschieht in der konsolidierten Bilanz des Bankensystems. Man kann jedoch auch Banken und Publikum als eine Einheit gegenüber der Zentralbank betrachten. Dies gilt vor allem in realwirtschaftlicher Hinsicht. Transaktionen im Vollzug von Dienstleistungen auf Finanzmärkten gehören zur Realwirtschaft. An den Geld- und Kapitalmärkten fmden Transaktionen (KäufeNerkäufe von Kredit bzw. Kapital) und monetäre Transfers (Geldüberlassungen) gleichzeitig statt. Die Transaktion ist Teil der Realwirtschaft, die Geldüberlassung Teil der monetären Zirkulation. Der Unterschied ist bedeutsam, zumal es auch in der sonstigen Diensteökonomie eine zunehmende Zahl von Marktvorgängen gibt, bei denen Transaktionen auf der Grundlage der zeitweisen Überlassung von Sachen und Personal stattfmden, vom Hotelgewerbe und Kostümverleih, über Autovennietung, Geräte- und Ausrüstungsleasing, bis zu Leiharbeitnehmern. Das Geldwechseln sowie die Geldkapitalbildung und Kreditvergabe, samt Verzinsung und Tilgung, gehören zur monetären Zirkulation, dem geldwirtschaftlichen Umlauf des Geldes im Unterschied zum realwirtschaftlichen Geldumlauf. Aber die Gebühren, mit denen dabei bezahlt wird Verwaltungsgebühren, Courtagen, Provisionen, seien sie explizit oder im Zins mit umgelegt- sind Teil der realwirtschaftlichen Zirkulation. Es gibt somit eine monetäre Zirkulation, aber keinen monetären Sektor, sondern einen realwirtschaftlichen Bankensektor wie es einen Transport- oder Bausektor gibt. Es spielt unmittelbar keine Rolle, ob monetäre Transferierungen direkt oder nur indirekt oder überhaupt nicht realwirtschaftlichen Zwecken dienen und sie scheinbar einen Selbstzweck darstellen. Es mag in gewisser Hinsicht eine treffende Charakterisierung heutiger Geldanlagemärkte sein, vom Kasino-Kapitalismus zu sprechen. Aber ebenso wie Spielkasinos oder Freizeitparadiese eine recht unparadiesische ökonomische Realität darstellen, hinter der wirksame Nachfrage und somit reale Bedürfnisse und Interessen stehen, so ist auch der Kasino-Kapitalismus in Wirklichkeit ein recht hartes Geschäft, das eine reale Nachfrage bedient- ein Teil der Diensteökonomie in einer vennögenden Mittelschichtsgesellschaft, obschon natürlich mit seinen branchen- und spartenspezifischen Besonderheiten. 13*

196

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

Tabelle 3 enthält die Geldmengenentwicklung in Deutschland in den Jahren 1988 bis 1996 sowie zum Vergleich auch das Geldaggregat M3. Die heutige vollständige ZBk-M in Höhe von 327,6 liegt lediglich bei einem Drittel der Geldmenge M in Höhe von 945,8 Mrd Mark und nur etwa einem Siebtel des Geldaggregates M3. Tabelle 3

Wachstum der GeldmengenMund M3 1988-1996 Jahr

1988 1989 1990 1991* 1992 1993 1994 1995 1996

A B Alles SichtBargeld guthaben

155 162 180 195 227 239 251 264 276

284 304 426 432 469 514 538 579 670

A+B

~M

=M

439 466 606 627 696 753 789 842 946

27 140 21 70 57 36 53 104

5 Jahre Durchschnitt

63

65

47 64

M3 1.190 1.256 1.503 1.598 1.719 1.907 1.937 2.007 2.182

~M3

5 Jahre Durchschnitt

66 247 95

121 188 30 70 175

143 136 101 117

• ab 1991 Gesamtdeutschland

Infolge der deutschen Vereinigung hat die Geldmenge in den 90er Jahren einen unüblich wechselhaften Verlauf genommen. Jedoch korrespondierten die Sprünge in der Geldmenge mit entsprechenden Größenveränderungen der Bevölkerungszahl, der realwirtschaftlichen Umsatzvolumina, nicht zuletzt den Bezügen von öffentlichen Sozialleistungen. Im Prinzip kann man davon ausgehen, dass sich die Relationen zwischen Geldmenge, Volkseinkommen und Transferbezug mittel- und langfristig normalerweise relativ stetig verändern, sodass auch die Relation zwischen Geldmengenwachstum und Transferbezug keinen abrupten Schwankungen unterliegt. Eine solche abrupte Schwankung allerdings besteht seit den Jahren 1996/97. Im seitherigen Zeitraum haben sich die europäischen Regierungen infolge ihrer Selbstbindung an die Kriterien zur Teilnahme an der Währungsunion nach längerem Verzögern abrupt zu einer starken Haushaltsdisziplin gezwungen. Sie haben ihre Neuverschuldung soweit wie auf die Schnelle nur möglich verringert, und haben teilweise den öffentlichen Verschuldungsgrad zurückgefiihrt. Ergänzend haben sie die Steuerzahler noch peinlicher vom Fiskus heimsuchen lassen und eine unerhörte Steuerkriminalisierung in Gang gesetzt. Infolge der auf diese Weise verringerten und umverlagerten Staatsnachfrage nach Geld ergab sich eine disinflationäre Dämpfung der Realwirtschaft mit weiter steigender Arbeitslosigkeit und ein Knick im Geldmengenwachstum. Der Mengen- und

5. Geld und Kredit. Currency versus Banking

197

Zinsrutsch bei der Emission öffentlicher Anleihen verursachte seinerseits eine rauschende Aktienhausse. Diese Vorkommnisse sind ein spezielles Jahrhundertereignis. Die Geldmengenentwicklung in diesem Zeitraum ist dementsprechend untypisch und nicht verallgemeinerbar. Eine Aktualisierung der obigen Zahlen über 1996 hinaus wurde deshalb nicht vorgenommen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie die vollständige Zentralbankgeldmenge ZBk-M und die Gesamtgeldmenge M miteinander zusammenhängen. Daran anschließend wird dargelegt, wie es der Zentralbank durch Übergang zu Vollgeld möglich wird, die Geldmenge M in ihrer vollen Höhe zu kontrollieren, und wie dabei die Geldmenge M in eine Größenordnung hineinwächst, die eher den heutigen Geldmengen M2/M3 als MI entspricht.

5. Geld und Kredit. Currency versus Banking Man könnte denken, dass im Prinzip jeder Geld schöpft, dem die anderen dieses abnehmen. Besonders Bankiers pflegen so zu denken. Einer von ihnen hat einmal eine Geschichte erzählt, wie der Urgroßvater im Restaurant bezahlte, indem er eine Serviette nahm und darauf schrieb "Empfllnger erhält X Reichsmark. Freiherr Soundso". Der Urgroßvater hatte damit einen Scheck ausgestellt, eine Anweisung auf die Kasse seiner eigenen Bank. Solche, meist weniger exzentrischen Usancen vor Augen, ist ein Teil der Geldwissenschaftler der Auffassung, die Wirtschaftsakteure, speziell die Banken, schöpften sich ihr Geld wann sie es benötigen. Es wird dies als Endogenität der Geldentstehung bezeichnet, im Unterschied zur exogenen Geldeinspeisung durch die Regierung (Münzen) und die Zentralbank (gesetzliche Banknoten). Man spricht diesbezüglich auch vom Unterschied zwischen inside money ( = endogen) und outside money ( = von der Zentralbank). Freilich, ohne Geld in der Kasse hätte der Großvater den Serviettenscheck nicht ausstellen können, und das Restaurant hätte ohne zu glauben, der Freiherr habe Geld in der Kasse, die Serviette nicht angenommen. Nach verbreiteter Vorstellung besteht die Geldschöpfung der Zentralbank im Herausgeben von Bargeld, während Buchgeld von den Banken per Kredit selbst geschöpft werde. Die Herstellung von Buchgeld durch Banken sei ganz einfach: Kreditkonto an Girokonto. Es wird das Kreditkonto der Bank belastet und der Betrag auf dem Girokonto des Kunden als Sichtguthaben eingetragen. Dies ist im Prinzip zutreffend, so unglaublich es klingen mag. Kreditinstitute können theoretisch beliebig hohe Sichtguthaben schaffen. Allerdings stehen dem praktische Restriktionen entgegen, und der Dualismus von Bargeld und Buchgeld, speziell auch der von Zentralbankgeld und Bankengeld (Sichtguthaben), macht die Zusammenhänge schwierig zu durchschauen. Beim Buchungssatz "Kredit-

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V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

konto an Girokonto" werden der betreffende Filialleiter und sein Revisor sich schon fragen: Woher nehmen wir das? Kaum ein Bankangestellter hat ein Erlebnisbewusstsein der so genannten multiplen Geldschöpfung durch den Bankensektor. Sobald der Kunde über sein Guthaben verfilgt, entsteht parallel zur Minderung des Kundenkontos im Prinzip auch eine Minderung auf einem der Geldkonten der Bank, sei es eine Minderung der Kassenbestände, wenn der Kunde in bar über das Geld verfilgt, sei es eine Minderung der Guthaben auf dem LZB-Giro der Bank bei der Zentralbank, wenn der Kunde bargeldlos eine Überweisung vornimmt, etwa an einen anderen Ort zu einer anderen Bank oder ins Ausland. Würden Beträge von Geldkonten der Bank abfließen, die über die vorhandenen Bar- und Buchgeldreserven hinausgehen, entstünde eine Bilanzlücke. Die Banken haben der Zentralbank monatlich eine Bilanzstatistik vorzulegen zusammen mit genauen Angaben über die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zur Liquiditätsvorsorge. Es ist zwar richtig, dass Banken nach Bedarf Kredit einräumen können, aber es ist dies andererseits auch immer nur so weit möglich, wie die betreffenden Banken in gewissem Umfang über Zahlungsreserven an Zentralbankgeld verfilgen. Im Folgenden wird dieser Zusammenhang im Genaueren erschlossen. Damit Zahlungen stattfmden, muss einem Zahlungsmitteleingang beim Empflinger ein Zahlungsmittelausgang beim Bezahler gegenüberstehen. Diesbezüglich stellt das heutige Reservesystem mit seinem Dualismus von Bargeld und Giralgeld eine zwitterhafte Realität dar. Es gilt nämlich die Verrechnung von Giroguthaben kraft allgemein geübter Praxis faktisch ebenso als Bezahlung wie die tatsächliche Begleichung von offenen Forderungen mit Zentralbankgeld. Es werden heute bei und zwischen den Banken eine Vielzahl von Kundentransaktionenper Konto-Verrechnung beglichen, ohne dass Bargeld oder Buchgeld der Zentralbank benötigt wird. In dieser zwitterhaften Realität liegen grundlegende Kontroversen der Geldtheorie begründet. Dennoch gilt auch im Dualismus von Zentralbankgeld und Sichtguthaben, nur auf kompliziertere Weise, die im vorangegangenen Abschnitt erläuterte These der Identität und Erhaltung der Geldmenge. Alle stattfmdenden Zahlungen werden aus ein und derselben Geldmenge getätigt und fließen unmittelbar in dieselbe Geldmenge wieder ein, ohne sie jemals zu verlassen (Geldmengenerhaltung). Das zirkulierende Geld bleibt immer Teil derselben Geldmenge (ldentitätsthese). Handle es sich um die Zentralbank-Geldmenge, oder um die von Banken geschaffenen Sichtguthaben auf Girokonten, beide erhalten sich durch alle Transaktionen und Transfers, alle Zahlungsmittelformen und GeldKapital-Aggregationen hindurch. Geld und Guthaben können weder auf zauberhafte Weise entstehen noch können sie auf mysteriöse Weise abhanden kommen noch können sie auf spukhafte Weise an zwei Orten zugleich sein. Geld entsteht heute nachvollziehbarerweise durch Schöpfung der Zentralbank, während Sichtguthaben von den Banken geschaffen werden. Beide werden heute per Kredit

5. Geld und Kredit. Currency versus Banking

199

emittiert, und sie existieren zirkulierend so lange, bis sie durch eventuelle Tilgung oder Abschreibung wieder gelöscht werden. Ihre Menge bleibt währenddessen fortwährend gleich, ist aber in beliebige disjunkte Untermengen aufteilbar (stückelbar) und wieder zusammensetzbar, wobei alle Teilmengen jederzeit einen genau bestimmbaren Betrag besitzen und sich immer nur an genau einem bestimmbaren Ort befmden. Die so genannte Buchgeldschöpfung durch Banken ist nie unumstritten geblieben. Sie wurde wissenschaftlich und geldpolitisch immer wieder in Frage gestellt, besonders durch die englische Währungskontroverse der 1830/40er Jahre zwischen der Currency-Theorie, vertreten durch Robert Torrens, George Warde Norman, Samuel Jones Loyd u.a., und der Banking-Theorie, vertreten durch Thomas Tooke, John Stuart Mill, John Fullarton u.a. (O'Brian 1994, Bd. IVu. V). Die Currency-Theorie ließ nur Münzen und voll gedeckte Zentralbank-Noten als Währung gelten, vertrat also den Standpunkt, dass nur Bargeld wirkliches Geld ist bzw. alles Geld Bargeld ist. Dies entsprach sinngemäß der heute noch üblichen engen Abgrenzung der Zentralbankgeldmenge. Dementsprechend besagte die Currency-Theorie, dass Geld faktisch nur als Outside money von der Münzanstalt und der Notenbank kommen kann, und dass es endogen geschaffenes Inside money nicht gibt, respektive, es ein solches Geld nicht geben soll. Dem Currency-Standpunkt zufolge wirkt Geld nicht neutral, das heißt, die Geldmenge und ihr Einsatz zieht vielerlei realwirtschaftliche Wirkungen nach sich, die ungleichzeitig und ungleich erfolgen, besonders in Form disproportionaler Veränderungen der Preisrelationen, und damit der Einkommens- und Vermögensrelationen. Von daher galten die von Privatbanken emittierten Noten (in Deutschland auch despektierlich als Zettel von Zettelbanken bezeichnet) und Bankenbuchkredite als geldpolitisch gefährlicher, weil unkontrollierbarer und Instabilitäten erzeugender Geldersatz. Die Vertreter der Currency-Lehre plädierten infolgedessen ft1r eine volle Edelmetalldeckung der Währung. Unter ihrem Einfluss ging die Bank von England mit der Peel'schen Bank Charter Act von 1844 zum vollen Goldstandard über, der erst 1931 aufgegeben wurde. Eine der grundlegenden Hypothesen der Currency-Schule kann man als Destabilisierungsthese bezeichnen: Das nicht-neutrale Inside money sei mit einem destabilisierenden Potential behaftet. Die prozyklische Schöpfung und Vernichtung von Privatbanknoten und Kredit verstärkt, oder erzeugt sogar erst, in positiver Rückkopplung inflationäre Booms und deflationäre Konjunkturkrisen mit Existenzzusammenbrüchen und hoher Arbeitslosigkeit. Zudem sei Inside money, da praktisch nie zu hundert Prozent durch echtes Geld gedeckt, stets unsicheres Geld. Es sind dies bis heute zwei Kernpunkte der Kritik der bestehenden Geldordnung geblieben. Gocht (1975, 13) fasst die betreffende Problemsicht so zusammen:

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V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

"Unsere nationale Geldordnung: Das ist die Fähigkeit der Geschäftsbanken, Geld zu machen; das ist die Notenbank als Liquiditätsquelle der Geschäftsbanken; das ist die Tatsache, daß Geld ... ganz überwiegend aus Anlaß und im Wege des Kreditgeschäfts einer Bank entsteht und mit der Tilgung des Kredits wieder verschwindet ... " Dadurch "liegt die Ursache der unserer Geldordnung innewohnenden Unstabilität in der Entstehung von Geld und seiner Vernichtung durch einen Bankkredit und dessen Tilgung. Das Kreditbegehren von Unternehmen, ... auch das des Staates, ist aus mancherlei Ursachen Schwankungen unterworfen. Das Gewährenlassen solcher Schwankungen, wofür unsere Geldordnung anflillig ist, filhrt zu kumulativen Prozessen der Ausweitung oder Schrumpfung der Nachfrage auf den Märkten der Güter und Dienstleistungen".

Man mag bezweifeln, ob eine Zentralbehörde etwas besser weiß als eine Vielzahl einzelner Banken. Fehlverhalten geht in der Regel durchaus mit guten Vorsätzen einher. Ein planvolles gut gemeintes Fehlverhalten der Zentralbanken muss ebenso lnstabilitäten erzeugen wie ein unkoordiniertes gut gemeintes Fehlverhalten der einzelnen Banken. Aber praktisch und historisch verhält es sich schon so, dass Banken zuerst an ihrem eigenen Geschäftserfolg interessiert sind und sie einer allgemeinen geld- und wirtschaftspolitischen Stabilitätsperspektive nicht verpflichtet sind. Bei den Zentralbanken liegen die Dinge inzwischen genau umgekehrt. Ihr Geschäftsauftrag ist ein stabilitätspolitischer. Absichtliche kommerzielle Ziele verfolgen sie nicht mehr. Dies war noch vor 100 bis 200 Jahren anders. Die Banking-Theorie hielt damals die These des Destabilisierungspotentials von Inside money filr falsch. Banking-Theoretiker behaupten bis heute eine realwirtschaftliche Neutralität des Geldes. Sei mehr Geld als benötigt in Umlauf, filhre dies einfach zu einer Preisniveauanhebung (Inflation), während ansonsten alle anderen Sachverhalte, nicht zuletzt die Preisrelationen selbst, unverändert blieben. Zu viel oder zu wenig Inside money könne es außerdem überhaupt nicht geben, weil die Wirtschaft von sich aus nie eine größere oder kleinere Geldmenge als benötigt in Umlauf halte. Geld per Kredit ist teures Geld. Deshalb nehme man davon nur so viel auf, wie man wirklich brauche, und sobald Geld nicht mehr rentabel gebraucht werden kann, trachte man danach, Kredit so bald wie möglich zu tilgen, wodurch die betreffende Geldmenge wieder aus dem Verkehr gezogen werde (Fullarton'sches Refluxprinzip von 1845, Original-Faksimile in O'Brian 1994, 156 ff.). Die Banking-Theoretiker hatten den oben zitierten Urgroßvater vor Augen. Sie wiesen darauf hin, dass die Einräumung von Sichtguthaben sowie die Ausstellung von Schecks auf diese Guthaben, die durch eine Geldreserve gedeckt sein müssen, eine Analogie darstellt zur Ausgabe von staatlichen Banknoten, die ebenfalls durch (Metall)geld gedeckt sein mussten. Anerkennt man Banknoten als Geld, so gibt es keinen Grund, den Sichtguthaben diese Anerkennung zu verweigern. Sichtguthaben sowie auch Wechsel und Schecks verschiedenster Art seien praktisch Geld, weil Banken und Geschäftsleute untereinander die Übertragung solcher Forderungen guter Adressen anstelle einer Bargeldzahlung

5. Geld und Kredit. Currency versus Banking

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akzeptieren. Auf diese Weise würde sich die Wirtschaft das Geld, das sie braucht, per Kredit selbst schaffen. Die Kontroverse zwischen der Currency- und der Banking-Lehre wurde im besonderen auch als Kontroverse "Central banking versus Free banking" formuliert. Gemeint war die Frage, wem das Recht zustehen solle, Geld zu schöpfen und damit die zirkulierende Geldmenge zu bestimmen. Die Ausdrucksweise "Central banking versus Free banking" ist diesbezüglich jedoch irreftlhrend, weil sie suggeriert, es gehe um die staatliche Gängelung oder Freiheit von Bankengeschäften. Darum geht es aber nicht. Die Currency-Theoretiker wollten weder die unternehmerische Freiheit der Banken einschränken noch den freien Wettbewerb der Finanzmärkte beeinträchtigen. Sie hatten nichts gegen Kreditmärkte, Anleihemärkte, Aktienmärkte, und auch nichts gegen DevisenhandeL Lediglich die zirkulierende Geldmenge, mit der außer den Gütertransaktionen auch alle derartigen Finanzgeschäfte abgewickelt werden, sollte eine klare Identität haben und deshalb unter der ausschließlichen Kontrolle der Zentralbank stehen. Tatsächlich also dreht sich die Kontroverse um "exklusive ZentralbankGeldschöpfung versus multiple Banken-Geldschöpfung". Die Kontroverse beruht, bis heute, auch auf einer kategorialen Nicht-Übereinstimmung bezüglich der Bestimmung des Buchgeldes. Die Currency-Schule betrachtet Buchguthaben nicht als Geld, weil ftlr sie Buchgeld per Defition kein Geld sein kann und sie diese Möglichkeit, nicht zuletzt aufgrund der Destabilisierungsthese, von vornherein ausgrenzt. Es wurde als von Übel angesehen und verworfen, dass Banknoten und Sichtguthaben nicht voll gedeckt sein können, und dass Sichtguthaben als Zahlungsmittel per Scheck oder Überweisung wie Bargeld im Portemonnaie fungieren. Die Banking-Schule dagegen pflegte ihre kategorialen Kontinuums-Undeutlichkeiten, indem sie Buchgeldforderungen von anderen Aktiva nicht grundsätzlich abgrenzte, weil sie alle liquidierbaren Bank-Aktiva als Buchgeld betrachtete. Dem Fullarton'schen Rückströmungsprinzip liegt die Pauschalidentifizierung von Geld mit Kredit, und die daraus folgende Verwechslung von Geld und Kredit, von vornherein zugrunde. Eine Grenzziehung zwischen einerseits täglich verfllgbaren Sichtguthaben (zu MI gehörig) und andererseits Anlageguthaben aus der Geldkapitalbildung (zu M2, M3 und dem langfristigen Geldkapital gehörig) erscheint von einem Banking-Standpunkt aus als willkürlich. Diesen Standpunkt beziehen heißt aber, Kreditvergabe und Geldschöpfung einander gleichzusetzen, und eben daraus erwachsen jene Undeutlichkeiten bezüglich der zirkulierenden Geldmenge. Der Currency-Standpunkt war in seiner ursprünglichen Form ein MetallgeldStandpunkt. Er beruhte u.a. auf dem Gedanken, dass Banken Metallgeld nicht schöpfen, nur es sich zirkulatorisch beschaffen und einsetzen können. Soviel man weiß, wurde die Beschaffungsthese erstmals von Richard Cantillon um

202

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

1730 vertreten. Cantillon war Bankier und als wissenschaftlicher Autor ein Begründer der ökonomischen Quantitäts- und Kreislauftheorie. Heute jedoch ist die Metallgeldzeit zu Ende. Geld existiert nurmehr als rein informationale Größe, und als solche technisch zunächst in Form von Buchgeld, das filr praktische Zwecke auch in Münzen und Banknoten umgewechselt werden kann. Von daher ist der alte Currency-Standpunkt heute überholt. Aber bestimmte verallgemeinerbare Grundsätze bleiben gültig, darunter die Identitätsthese des Geldes, die klare Unterscheidung von Geld und Kredit, die Nicht-Neutralität der Geldwirkungen, die Destabilisierungsthese zumindest in relativer Gültigkeit, das Stabilitätserfordernis einer effektiven Kontrolle der Geldmenge (nicht der Geldverwendung) und das Sicherheitserfordernis eines vollwertigen Geldes. Man kann sagen, ohne damit neue Stücke in alten Kostümen aufzufilhren, dass in der hier dargelegten Vollgeld-Theorie wesentliche Aspekte der Currency-Lehre in modernisierter Weise aufgehoben sind. Die Realitäten des bargeldlosen Zahlungsverkehrs haben solche Ausmaße angenommen, dass man eine Don-Quichoterie beginge, würde man die Sichtguthaben in M 1 nicht als de facto Geld anerkennen. Dennoch muss man sich des Sachverhaltes gewärtig sein, dass das so genannte Buchgeld auf Girokonten bei den Banken rechtlich heute noch kein Geld ist, auch wenn damit bezahlt wird. Im Folgenden wird von Geldschöpfung nur dann gesprochen, wenn es sich um eine Emission der Zentralbank handelt. Die Zentralbanken sind die einzigen Institutionen der Geldschöpfung und der willentlichen Geldlöschung. Auf andere Weise können umlaufende Bargelder und vorhandene Buchgeldreserven heute weder entstehen noch verschwinden, lediglich können sie auf technische Weise verloren gehen, zerstört werden, o.ä. Zentralbanken schöpfen Geld, indem sie zum Beispiel mittels Rediskontkredit Wechsel annehmen und dafilr Geld herausgeben. Weil die Beibringung ordentlicher Wechsel relativ umständlich ist, vollzieht sich inzwischen der Großteil der Geldemission über die flexibleren Offenmarktgeschäfte. Auch hierbei kauft die Zentralbank Wertpapiere von den Banken an, oder sie nimmt Wertpapiere in Pension, um sie nach Ablauf der Frist wieder zurückzugeben. Ankäufe ebenso wie Pensionsnahmen von Wertpapieren erfolgen gegen Herausgabe von Zentralbankgeld. Außerdem kann man die Herausgabe inländischer Währung gegen Hereinnahme von Auslandswährung als Geldschöpfung der inländischen Zentralbank betrachten. Wenn umgekehrt die Zentralbank per Saldo Gelder durch Kredittilgungen zurücknimmt (ein eher theoretischer Fall), so wäre dies eine echte Geldlöschung. Wenn die Zentralbank dagegen die Mindestreserve erhöht, und damit den Banken Geld vorenthält, oder wenn sie Wertpapiere in ihrem Besitz an Banken verkauft und damit Geld einnimmt, so wird damit Geld vorübergehend absorbiert, und durch spätere Rückkäufe wieder freigegeben. Das Zentralbankgeld wird den Banken zunächst auf einem Konto als Buchgeld gutgeschrieben. Die Banken können sich diese Guthaben bei Bedarf als Bargeld ausliefern lassen.

5. Geld und Kredit. Currency versus Banking

203

Im Unterschied zur Geldschöpfung der Zentralbanken wird im Folgenden von Geldbeschaffung gesprochen, wenn bereits vorhandenes Geld von wem auch immer transferiert wird. Geldbeschaffung im eher undeutlichen kontinuumstheoretischen Sinne bedeutet Zirkulation von Bargeld ebenso wie von Sichtguthaben. In einem präzisen identitätstheoretischen Sinne bedeutet Geldbeschaffung Zirkulation von Bargeld und Buchgeldreserven ( = Zentralbankgeld). Bargeld und Sichtguthaben beschaffen können sich alle Wirtschaftsakteure. Den Zentralbanken ist es möglich, schon vorhandenes Geld vorübergehend dem Umlauf zu entziehen und wieder in Umlauf zu bringen. Damit sind sie nicht nur Träger der Geldschöpfung, sondern regulationshalber auch an Vorgängen der Geldbeschaffung beteiligt. Banken dagegen können Geld in keiner Weise schöpfen, aber sie alleine können sich durch Refmanzierung Zentralbankgeld beschaffen. Das Zentralbankgeld dient den Banken als Zahlungsreserve. Die Verfllgung über Zahlungsreserven, wie im nächsten Abschnitt erläutert wird, versetzt Banken in die Lage, diese Reserven zur Schaffung von Sichtguthaben auf Girokonten zu nutzen, mit denen im Publikumsverkehr und Interbankenverkehr bargeldlos bezahlt wird Auf der Basis ihrer (eher minimalen) Zahlungsreserven können Banken Kredit vergeben, durch den neue Sichtguthaben der Geldmenge MI geschaffen werden. Soweit und solange dies der Fall ist, mag es in einem gewissen Sinne zutreffend erscheinen, von einer Bankengeldschöpfung zu sprechen - obwohl es genau genommen nicht richtig ist, so zu sprechen, weil die Sichtguthaben nicht auf eigene Währung, sondern auf die Währung der Zentralbank lauten. Der Ausdruck Kreditschöpfung kommt der Sache eventuell näher, sofern damit eine klare Vorstellung verbunden ist, um was filr eine Art von Kredit es sich handelt. Mit der Vervielfachung der Zahlungsmittel durch Bankenkredit verbindet sich häufig die eher vage Vorstellung, die Sichtguthaben entstünden durch Zirkulation von Zentralbankgeld durch die Banken. Es ist jedoch einfach zu zeigen, dass durch bloße Beschaffung von bereits vorhandenen Geldern und Sichtguthaben, durch ihre noch so häufige oder geschwinde Zirkulation, keine zusätzlichen Gelder und Sichtguthaben entstehen können. Vorhandene Bargelder und Sichtguthaben können in aufeinander aufbauenden Schritten im Zeithorizont bestimmter Fristen wiederholt, theoretisch beliebig oft, zur Kreditvergabe eingesetzt werden. Dadurch lässt sich ein wachsendes Volumen von Kreditforderungen bzw. Anlagevermögen einerseits und Kreditverbindlichkeiten andererseits auftürmen. Dieses Kreditvolumen kann die zirkulierenden Zahlungsmittel um ein Vielfaches übersteigen, was in Wirklichkeit auch der Fall ist. Im Jahr 1997 betrug das Kreditvolumen der deutschen Banken 8.620 Mrd Mark, die Geldmenge MI nur 938 Mrd (Monatsberichte ... Tab. IV.l, Il.2). Aber bei noch so groß werdendem Kreditvolumen kann auf diesem Weg eine größere Menge an Geld und Sichtguthaben unmöglich entstehen. Im Veranschaulichungstext "Erhaltung einer gegebenen Geldmenge bei kumulativem Auf- und Abbau eines vielfach höheren Kreditvolumens" im Anhang sind diese Zusammenhänge an einem Modellbeispiel erläutert. Eine Geldmenge bleibt

204

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

zirkulatorisch durch alle Formen und Aggregierungen hindurch erhalten, solange sie nicht "von außen" durch Geldschöpfung vergrößert oder durch Geldlöschung verkleinert wird. Es gibt eine Unterscheidung von Kredit und Darlehen, die mit dem Unterschied von Geldschöpfung und Geldbeschaffung übereinstimmt. "Darlehen" bedeutet hierbei, dass schon vorhandenes Geld überlassen wird, während durch "Kredit" zusätzliches Geld geschöpft wird. Allerdings bleibt dies praktisch gesehen meist eine rein analytische Unterscheidung. Für einen Kreditnehrner ist es nicht ersichtlich, wieweit sein Kredit durch einen "Kredit" (Geldschöpfung) oder durch ein "Darlehen" (zirkulatorische Geldbeschaffung) fmanziert ist. Auch fiir eine kreditgebende Bank ist es im betreffenden Moment nicht ohne weiteres ersichtlich. Sie wüsste es erst dadurch, dass sie fUr sich und ihre Verflechtung im gesamten Bankensektor untersucht, in welchem Verhältnis das Wachsturn der Kreditforderungen und das Wachsturn der Sichtguthaben zueinander stehen und sich verändern. Es ist gleichwohl von systematischer und analytischer Bedeutung, Zentralbank-, Banken- und Publikumskredit nach ihrer Urheberschaft zu unterscheiden: - Kreditvergabe der Zentralbank, durch die Buchreserven entstehen und Bargeld in Umlaufkommt - Kreditvergabe der Banken, durch die Sichtguthaben auf der Grundlage einer Reservenbasis entstehen, die dann ihrerseits fortbestehen sowie auch entstehen können durch Zahlungskredit des Publikums an die Banken - Guthabendarlehen des Publikums, in Form überschüssiger Giroguthaben des Publikums oder der Banken, die von den Banken per Kredit weitervermittelt und damit Dritten überlassen werden. Klar ist damit so viel: Das Publikum kann Bargeld und Sichtguthaben nur beschaffen, nicht schöpfen. Banken können Bargeld ebenfalls nicht schöpfen, jedoch können sie Sichtguthaben schaffen, die als Zahlungsmittel wie Buchgeld benutzt werden. Die Zentralbank kann Bargeld und Buchgeld frei aus dem Nichts schöpfen. Im Hinblick auf die duale Geldstruktur formuliert: Bargeld wird ausschließlich von der Zentralbank geschöpft und zirkuliert bei allen Akteuren. Buchgeld wird ebenfalls ausschließlich von der Zentralbank geschöpft. Dieses Buchgeld dient den Banken als Geldreserve. Es zirkuliert jedoch nur im Zahlungsverkehr der Zentralbanken, nicht im Publikums- und Interbankenverkehr. Die Sichtguthaben sodann werden ausschließlich von den Banken geschaffen, und sie zirkulieren im Publikums- und Interbankenverkehr. Der Buchgeldverkehr der Zentralbanken einerseits und der Sichtguthabenverkehr der Banken andererseits fließen nicht ineinander. Beide bestehen zwar nicht unabhängig, sondern in einer gewissen Rückbindung, aber dennoch völlig getrennt voneinander als zwei verschiedene Buchguthaben-Bereiche. Bargeld dagegen kann von allen Akteuren zu allen anderen fließen. Bargeld und Buchguthaben können jederzeit ineinander umgewechselt werden. Die Kunden können dies bei der Bank tun, die Banken bei der Zentralbank.

6. Die Kontokorrent-Zirkulation

205

6. Die Kontokorrent-Zirkulation. Sichtguthabenschaffung im bargeldlosen Zahlungsverkehr auf der Basis von Reserven Der Schlüssel zur Antwort auf die Frage, wie die Sichtguthaben in der Geldmenge Ml auf der Basis der Zentralbankgeldrnenge ZBk-M aufgebaut werden, liegt im Verständnis des Zahlungsverkehrs per Girokonto. Man sagt in alltäglicher Redewendung, man habe Geld auf dem Konto. Dies ist pragmatisch gesehen nicht falsch, aber systematisch dennoch irrefilhrend. Wenn zum Beispiel ein Arbeitnehmer seine monatliche Gehaltsüberweisung empflingt, so erhält er damit nicht das Geld, sondern eine Gutschrift ftlr das Geld. Es handelt sich hierbei um einen Zahlungskredit des Publikums an die Banken infolge eines "Verzichtes" der Kunden auf sofortige vollumflingliche Barauszahlung der Gelder, neutraler gesagt, infolge der fortlaufenden überwiegend unbaren Inanspruchnahme der Mittel. Giroguthaben sind Gutschriften ftlr jederzeit fiillige Geldeinlagen - gleich, ob sie tatsächlich durch eine Bargeldeinzahlung entstanden sind, oder durch Ausstellung eines Kredites, auf dessen Barauszahlung aus praktischen Gründen verzichtet wird. Das Besondere an den Sichtguthaben - was sie wie Geld erscheinen lässt, und was sie von anderen Buchguthaben unterscheidet - besteht darin, dass es sich um die einzigen Forderungen/Verbindlichkeiten handelt, mit denen regelmäßig bezahlt wird. Das ist der springende Punkt. Zum Beispiel würde man nicht weit damit kommen, seine Rechnungen bezahlen zu wollen durch Abtretung von Forderungen aus unbeglichenen Außenständen. Auch mit Sparguthaben oder Termineinlagen kann nicht bezahlt werden, denn der Kunde hat ohne besondere Vereinbarung kein Recht, von der Bank eine vorzeitige Depositenfreigabe zu verlangen. Allenfalls ließe sich bezahlen mit der Übertragung eines Sparbuches oder eines Inhaberschuldpapieres. Das wäre jedoch sehr unpraktisch. Es gibt nur wenige spezielle Fälle, in denen eine Entgeltung durch Wertpapiere erfolgt, zum Beispiel eine Zuteilung von Aktien als erfolgsabhängiger Anteil von jährlichen Erwerbseinkommen. Bei der Bezahlung per Girokonto handelt es sich ebenfalls um die Übereignung einer Art von Geldkapital, jedoch nicht als Wertpapier, sondern als Kontogutschrift. Deshalb sollte der Zahlungskredit auf den Girokonten nicht mit Geld verwechselt werden, auch wenn die Zahlungspraxis und der allgemeine Sprachgebrauch längst entschieden haben, dass diese Guthaben Geld darstellen. Dennoch verkennt eine generelle Gleichsetzung von Kredit und Geld, dass die Übertragung einer Schuld keine Bezahlung mit Geld ist, sondern die ersatzweise akzeptierte Übertragung einer Geldforderung anstelle einer Bezahlung mit Geld. Es entsteht kein Geld, wenn Forderungen mit Forderungen beglichen, Verbindlichkeiten gegen Verbindlichkeiten getauscht werden. Das Praktische an den Sichteinlagen im Unterschied zu Aktien oder Sparbüchern ist jedoch, dass sie als Kontoguthaben beliebig stücketbar sind und sie per Gutschrift/Last-

206

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

schriftjederzeit leicht und relativ kostengünstig übertragen werden können. In dieser Hinsicht sind Giroguthaben noch praktischer als ihre erst privaten, später gesetzlichen Zahlungskredit-Vorläufer, die Banknoten. Mithilfe von OnlineVerbindungen kann inzwischen schon per Kontokarte ein zeitgleicher Zahlungsvorgang getätigt werden. So können die Sichtguthaben auf Girokonten, die in Wahrheit Geldforderungen sind, in Wirklichkeit wie Geld verwendet werden, analog zu den Depositenquittungen, den späteren Banknoten, der früheren Jahrhunderte. Erst im Verlauf des zurückliegenden Jahrhunderts, verstärkt in der zweiten Hälfte, ist die Zahlung per Girokonto zur allgemein üblichen und weit überwiegenden Zahlungsweise geworden. Es gibt Geldkonten und Verrechnungskonten. Ein Girokonto ist kein Geldkonto, sondern ein Konto zur laufenden Verrechnung von Gutschriften und Lastschriften. Auf einem Geldkonto dagegen bedeutet die Abrechnung von Zuund Abgängen eine echte Geldlieferung, und zwar eine Buchgeldlieferung, während die Verrechnung auf einem Girokonto anstelle einer Geldlieferung erfolgt. Buchgeldkonten befmden sich heute ausschließlich bei der Zentralbank In Deutschland handelt es sich dabei um die örtliche Zweiganstalt der betreffenden Landeszentralbank (LZB). Man soll sich nicht davon verwirren lassen, dass Banken ihre Buchgeldreserven bei der Zentralbank "Barreserven" nennen, dass aber ihr Geldkonto bei der Zentralbank, in dem diese Reserven stehen, "Girokonto" heißt (LZB-Giro). Auch dieser Sprachgebrauch ist eine Mitgift des historischen Dualismus von Bargeld und Giralgeld. Die Vorläufer der LZB-Giros waren ursprünglich einmal in der Tat Girokonten, auf denen erst die Metallgeldguthaben, später alle Bargeldguthaben der Banken und Notenbanken verrechnet wurden. Dies ist heute immer noch so, aber in Anbetracht der Realitäten der bargeldlosen Zahlungsgepflogenheiten wird nur noch relativ wenig Geld bar ausgeliefert, und in Anbetracht der Tatsache, dass die Notenbanken heute Bargeld- und Buchgeldforderungen in freier Geldschöpfung aus dem Nichts erfilllen können, hat die Vorstellung, das LZB-Giro sei ein Verrechnungskonto, sich längst ad absurdum gefilhrt. Faktisch verhält es sich inzwischen weniger so, dass die Buchguthaben auf LZB-Konten noch nicht abgeholtes Bargeld darstellen, als vielmehr, dass sie de facto die wesentliche Geldreserve der Banken in Form von Buchgeld sind. Der Rest an noch benötigtem Bargeld wird nach Bedarf aus- und eingewechselt, als purer Wechsel der Zahlungsmittelform des Geldes. Man betrachtet das Buchgeld noch immer als ein Bargeldsubstitut, was nicht falsch ist. Es würde aber das Verständnis verbessern, das Bargeld als technisches Buchgeldsubstitut anzusehen. Bargeld wird aus einem Buchgeldbestand aus- und eingekuppelt LZBGiros sind Buchgeldkonten. Die Guthaben darauf sind echte Geldreserven. Die Guthaben, die auf einem LZB-Konto zu- und abfließen, stellen echte Geldlieferungen dar. Geld existiert heute entweder als Bargeldreserve in der Kasse oder als Buchgeldreserve auf Konten bei der Zentralbank. Alle anderen Konten, die

6. Die Kontokorrent-Zirkulation

207

es wo auch immer gibt, sind Verrechnungskonten. Geldkonten bei der Zentralbank können heute nur noch zugelassene Banken unterhalten sowie, als historisches Überbleibsel, auch staatliche Institutionen. Mit Unternehmen und Privatpersonen machen Zentralbanken normalerweise keine Geschäfte mehr. Im Prinzip - man könnte auch sagen, ursprünglich, oder in erster und letzter bargeldloser Zahlungsinstanz - geht eine Giroüberweisung mit einer Buchgeldzahlung einher: Geht bei einer Bank eine Überweisung fllr einen Kunden ein (Kontozugang), fließt das Buchgeld auf das LZB-Giro, geradeso wie Geld, das die Bank selbst empflingt. Auf dem Girokonto des Kunden erfolgt dafllr eine Gutschrift. Wenn ein Kontoinhaber Geld überweist (Kontoabgang), vollzieht sich der gleiche Vorgang in umgekehrter Richtung. Auf dem Girokonto des Überweisenden und zugleich auf dem LZB-Giro der überweisenden Bank erfolgt eine Lastschrift, und das Geld fließt vom LZB-Giro der Absender-Bank auf das LZB-Giro der Empflinger-Bank, die dafllr auf dem Girokonto des Empflingers eine Gutschrift vornimmt. Es haben also nicht die Kontoinhaber das Geld, sondern die Bank hat es auf ihrem LZB-Konto. Banken sind nicht in der Lage, Geld zu schöpfen, aber sie sind in der Lage, Gutschriften fllr Geld vorzunehmen. Geld ausgeliefert wird an die Kunden nur so viel, wie sie bar abheben. Buchgeld erhält das Publikum nie. Solange die Kunden die ihnen zustehenden Beträge nicht beanspruchen, haben die betreffenden Kontoinhaber eine Geldforderung an die Bank. Die Bank ihrerseits hat eine Sichtverbindlichkeit gegenüber den betreffenden Kontoinhabern und: sie verfUgt über Reserven, soweit diese mit den Giroguthaben in einem Zusammenhang stehen. Reserven heißen Zentralbankgelder in der VerfUgung der Banken. Es handelt sich um Bargeld in der Kasse oder um Buchgeld auf dem LZB-Konto oder um bei der Zentralbank stillgelegte Mindestreserven. Abbildung 6 gibt eine Übersicht verschiedener Reserve-Kategorien.

vorhandene Gesamtreserve Mindestreserve Mindestreserve Gebunden

Überschussreserve

= Zahlungsreserve Bargeldreserve gebunden

1

Überweisungsreserve = Buchgeldreserve frei

gebunden

I

Abbildung 6: Systematik verschiedener Reserve-Kategorien

frei

208

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

Die Unterscheidung von gebundenen und freien Reserven beruht darauf, dass nicht nur Mindestreserven gebunden sind, sondern auch von den Überschussreserven einer einzelnen Bank tatsächlich nur ein Teil frei verfilgbar ist, etwa für Auszahlung von erweiterten Kreditvergaben oder für zusätzliche Wertpapierkäufe, während der andere Teil der Überschussreserve im betrieblichen Alltag fiir Zahlungszwecke im schon vorhandenen Bargeld- und Kontokorrentbestand benötigt wird. Allerdings relativiert sich das Verhältnis zwischen gebundenen und freien Zahlungsreserven in der Dynamik der Einzel- und Gesamtabläufe. Die faktische Gebundenheit verfilgbarer Reserven macht sich in der Praxis umso mehr bemerkbar, je kleiner eine Bank ist und Reservenabflüsse bei ihr nicht sofort wieder durch Zuflüsse ausgeglichen werden. Die Unterscheidung von gebundenen und freien Reserven gilt umso weniger, je größere Kundenkreise und Geschäftsvolumina eine Bank an sich binden kann. Denn die Reserven für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs mit alten und neuen Guthaben fließen sofort oder zumindest alsbald wieder ineinander. Per Wochen- und Monatssaldo kommen Reserven an einzelner Stelle einer Bank in größerem Umfang nur ausnahmsweise abhanden. Im Gesamtsystem hebt sich der Unterschied zwischen gebundenen und freien Zahlungsreserven faktisch auf, weil jede Zahlung aus der gesamten Zahlungsmittelmenge in dieselbe erfolgt, ohne sie zu verlassen. Für die Banken sind Bargeld und Buchgeld als Reserven im Prinzip gleichwertig. Bargelder jedoch, die per Saldo dauernd in der Publikumszirkulation verbleiben, gehen den Banken als Reserven verloren. Alles per Saldo vom Publikum dauerhaft eingezahlte Bargeld erhöht die verfilgbare Reserve, und alles per Saldo dauerhaft ausgezahlte Bargeld senkt die verfiigbare Reserve. Circa 10 Prozent des heute noch vorhandenen Bargeldes werden als Bankenkasse benutzt, während 90 Prozent im Dauergebrauch des Publikums zirkulieren und damit der Verfilgung der Banken entzogen sind. Das beeinträchtigt die Banken allerdings nicht, denn die verbleibenden Reserven erfUllen ihnen ihren Dienst auch in relativ geringer Höhe. Würden alle Überweisungen wie zuvor geschildert ablaufen, indem zusammen mit jeder Banken-Überweisung eine Zentralbank-Überweisung stattfmdet, wären die Sichtguthabenzirkulation der Banken und die Buchgeldzirkulation der Zentralbanken zwei synchrone Parallelkreisläufe. Einer von beiden wäre mithin überflüssig. Die Banken müssten jedes Guthaben mit einer Reserve in genau gleicher Höhe abdecken. Weil sie jederzeit mit umfangreichen KontoverfUgungen der Kontoinhaber rechnen müssen, würden die Banken eine 100Prozent-Reserve benötigen, und sie könnten nicht anderweitig über die betreffenden Reserven verfUgen. Genau letzteres wird nun dadurch möglich, dass im Giralverkehr Gut- und Lastschriften vielfach nur verrechnet, aber Bargelder nicht ausbezahlt und LZB-Buchgelder nicht weiterüberwiesen werden müssen.

6. Die Kontokorrent-Zirkulation

209

Da gibt es zunächst die bankeninterne Verrechnung. Die einzelnen Girokonten der Kunden sind zusammengefasst in einem Sammelkonto namens Kontokorrent. Kontokorrent bedeutet Konto zur Verrechnung laufender Zu- und Abflüsse auf den Girokonten der Kunden. Die Summe der von den Kunden empfangenen Überweisungen und Bareinzahlungen (Kontozugänge) abzüglich ihrer Abhebungen und Überweisungen an andere (Kontoabgänge) ergibt den Saldo des Kunden-Kontokorrentes. Je mehr und je verschiedenartigere Girokunden eine Bank hat, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Überweisungen von Kunden zu Kunden der gleichen Bank gehen. Dann braucht die Bank nur zu verrechnen, nicht wirklich Geld zu bewegen. Der effektive Geldbedarf im unbaren Zahlungsverkehr kann weiter verringert werden durch verschiedene Methoden der Interbanken-Verrechnung. Banken können Überweisungen untereinander anstatt über ihr LZB-Konto auch über ein gemeinsames Girokonto vollziehen. Das Girokonto einer Bank bei einer kontofiihrenden Partnerbank heißt Lorokonto (ihr Konto). Das Kontroll-Gegenkonto heißt Nostrokonto (unser Konto). Solche Interhanken-Giros werden in einem weiteren Sammelkonto, dem Banken-Kontokorrent zusammengefasst. So können Überweisungen als Interbanken-Verrechnungen vorgenommen werden, bei denen nur einmal am Tag der verbleibende Saldo über das LZB-Konto in Geld ausgeglichen werden muss. Vergleichbares gilt filr die flächendeckenden zentralen Verrechnungsstellen der Großbanken und der Bankenorganisationen, etwa die Girozentralen der Sparkassen. Sie filhren sozusagen ein Mega-Kontokorrent. Nur die jeweils noch verbleibenden Salden müssen in Zentralbankgeld beglichen werden. Auch bei den Zentralbanken ist eine LZB-Abrechnung vorgeschaltet, ehe ein effektiver Vorgang auf dem LZB-Konto einer Bank stattfindet. Die Reserven dienen daher nurmehr als verbleibende Geldbasis filr den abschließenden saldenausgleichenden Zahlungsverkehr im Bankensektor. Demgegenüber dienen die Kontokorrent-Guthaben als laufende Verrechnungsmasse im Interbanken- und Publikumsverkehr. Kunden- und Banken-Kontokorrent und ihre Aggregierungen höherer Ordnung bilden einen wirkungsvollen Zirkulator - jedoch lediglich einen Sichtguthaben-Zirkulator, der bewirkt, dass Buchgeld-Zirkulation bei der Zentralbank nicht stattfmdet. Ihre Basis an Zahlungsreserven benötigen Banken, um laufende Barabhebungen zu bezahlen sowie Zentralbank-Saldenabschlüsse auszugleichen. Soweit ihre Reserven dazu nicht benötigt werden, die Reserven also nicht vollends gebunden, sondern noch ein Stück weit frei sind, können die Banken per Buchanweisung "Kreditkonto an Girokonto" Sichtguthaben in unbestimmter Höhe schaffen. Banken schaffen Sichtguthaben also gerade nicht durch Reservenzirkulation, sondern durch deren Vermeidung, durch Zahlungskredit. Dieser Sachverhalt bleibt filr gewöhnlich undeutlich. Zum Beispiel erklärte Ludwig von Mises, einer der Vertreter der Wiener Neoklassik und geldpolitisch ein Gegner der so genannten Bankengeldschöpfung, dass diese 14 Huber

210

V. Vom Reservegeld zum Vollgeld

sich vollziehe durch "Zirkulationskredit" (1928, 43ff.). Es blieb unklar, ob damit Aufbau von Kredit- und Anlagevolumen durch Geldzirkulation gemeint war oder Schaffung von Sichtguthaben durch Zahlungskredit und also NichtZirkulation von Geld. Zur Veranschaulichung stelle man sich zwei Megabanken A und B vor, jede mit einer verfilgbaren Reserve von 50 Mrd. Es sei angenommen, die Summe der Kontoguthaben betrage ebenfalls 50 Mrd, sodass jede Guthaben-Einheit durch eine Reserve-Einheit vollständig gedeckt sei. Die beiden Banken vergeben nun in einem bestimmten Zeitraum eine Vielzahl von Krediten in einer Gesamtsumme von jeweils I 0 Mrd. Die Kreditbeträge werden den Girokonten der Kreditnehmer gutgeschrieben. Jede der Banken hat dadurch außer ihrer Reserve von 50 Mrd zusätzliche Forderungen bzw. Giroverbindlichkeiten von 10 Mrd und Gesamtforderungen!Verbindlichkeiten von 60 Mrd. Die Kreditnehmer verfUgen nun über die zusätzlichen Guthaben. Sie überweisen 8 Mrd und heben 2 Mrd bar ab. Sowohl von den Überweisungen als auch von den Barausgaben geht jeweils die eine Hälfte an Personen oder Firmen mit einem Girokonto bei der Megabank A und die andere Hälfte an Personen oder Firmen mit einem Girokonto bei der Megabank B. Das hat zur Folge, dass schon sehr zeitnah A und B nicht I 0 Mrd, sondern sehr viel weniger ihrer Reserve in Bewegung setzen müssen. Denn von den 8 Mrd per Überweisung fließen 4 Mrd zwischen eigenen Kunden und verbleiben von vornherein auf dem Kunden-Kontokorrent. Zugleich beginnen schon Überweisungen von der Gegenseite einzugehen, sodass der Saldo auf dem LZB-Konto eine viel geringere Veränderung aufweist als die Höhe der Überweisungen zur anderen Bank. Sind die Beispielbanken A und B noch durch ein Interbankengiro miteinander verbunden, müssen sie noch weniger Buchreserven bewegen. Diese Buchreserven fließen in der Abfolge der Tage und Wochen außerdem zwischen den LZBKonten der beiden Banken hin und her, sodass im Zeitverlauf große Überweisungsvolumina auf der Basis einer relativ kleinen Reserve abgewickelt werden können. Mit dem Bargeld verhält es sich ähnlich. Die 2 Mrd in bar müssen zwar zur Gänze ausbezahlt werden. Dies bedeutet aber nicht, dass Reserven in Höhe von 2 Mrd mobilisiert werden müssen. Denn während der Auszahlungen, die sich über eine gewisse Zeit verteilen, gehen auch schon wieder Bargelder aus allen Händen als Barzuflüsse eigener Kunden zwecks Kontogutschrift ein. So sind auch bar weit weniger Reserven zu mobilisieren als Bargelder im Laufe der Zeit ausbezahlt werden. Im Resultat können beide Banken A und B ihre Reserve von je 50 Mrd praktisch unverändert oder nur geringfilgig erhöht beibehalten, während die Sichteinlagen bei ihnen auf je 60 gewachsen sind. Das gesamte Zentralbankgeld ebenso wie die Sichtguthaben betrugen vorher 100 Mrd. Nach dem Vorgang beträgt das Zentralbankgeld weiterhin 100, die Geldmenge MI aber 120. Eine

6. Die Kontokorrent-Zirkulation

211

Einheit Geldreserve dient nun zu einem Mehrfachen der "Deckung" der Giroguthaben. Die Beispiel-Annahme, dass in der Anfangssituation die Reserve gleich der Summe der Kontoguthaben gewesen sei, ist in Wirklichkeit unzutreffend. Die Reserve ist immer schon viel kleiner als MI, weil M 1 immer schon durch Sichtguthabenschaffung auf der Grundlage einer Basis an Zahlungsreserven entstanden ist. Hinzu kommt, dass einmal geschöpfte Geldbestände gemäß dem Satz der Geldmengenerhaltung bestehen bleiben solange sie nicht wieder gelöscht werden. Dies gilt analog auch fllr das "Bankengeld", die einmal geschaffenen Sichtguthaben, da diese quasi wie eine Geldmenge, als eine Buchzahlungsmittelmenge fungieren. Im Zahlungsverkehr herrscht zwar ständig ein großer und dynamischer Umsatztluss, aber im Gesamtsystem und am Ende aller Saldierungen kann eine jeweils vorhandene Summe von Sichtguthaben oder eine jeweils gegebene Geldmenge nicht anders, als vollständig erhalten zu bleiben. Eine Geldmenge bleibt durch alle Transaktionen und Transfers hindurch stets mit sich identisch. Ausgaben fließen als komplementäre Einnahmen unmittelbar wieder ein, und auch transferierte Guthaben fllr Spareinlagen und sonstige Geldkapitalbildung fließen durch verschiedenste Kredite und die Ausgaben der Kreditnehmer immer wieder in den Kreislauf zurück. Richtiger gesagt, sie bleiben stets im zirkulierenden Mengenbestand. Alle Zahlungen erfolgen aus der Geldmenge in die Geldmenge. Abbildung 7 soll helfen, diesen Sachverhalt zu veranschaulichen. Bei den dargestellten Kontoguthaben kann es sich zum Beispiel um monatliche Gehälter handeln. Die Grundlinie in der Abbildung stellt den Monatsverlauf dar. Am Anfang sind auf dem Kontokorrent alle eingegangenen Gehaltszahlungen vorhanden. Noch ist nichts ausgegeben (KKAus = 0). Aber schon im Verlauf des ersten Tages werden Beträge abgehoben oder überwiesen, und es folgen weitere Verfllgungen in den folgenden Tagen, bisamUltimo alles ausgegeben ist. Der Vorgang verläuft bei den einzelnen Kontoinhabern unterschiedlich und diskontinuierlich, nicht glatt wie im Schema vereinfacht dargestellt. Dies tut aber nicht viel zur Sache, denn wichtig ist dies: Alle Barausgaben und Lastschriften bei einem Absender sind zugleich Bareinnahmen und Gutschriften bei einem Empflinger. Typische Empflinger im vorliegenden Fall wären Vermieter oder Banken, Versicherungen, Kreditkartengesellschaften, Handwerker, Läden, Restaurants, usw. Soweit letztere noch bar bezahlt werden, lassen sie ihre Tageseinnahmen nicht in der Kasse liegen. Sie werfen den größten Teil davon in den Nachttresor ihrer Bank und lassen sich die Beträge laufend auf ihrem Geschäftsgirokonto gutschreiben. Sieht man von den nicht wieder auf Konten eingehenden Bargeldem einmal ab, oder stellt man sich einfach den ganzen Zahlungsverkehr als völlig bargeldlosen reinen Buchgeldverkehr vor, dann sind jederzeit die Kontokorrentausgänge der einen Bank die Kontokorrenteingänge der anderen (KKAus = KKEin). Je mehr Kunden und je verschiedenartigere Kunden eine Bank hat, also wiederum 14•

Sichtguthaben= Kontokorrentsaldo

Monatsmitte

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Ultimo

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Abb. 7: Der Kontokorrent-Saldo bei Ausgaben (Lastschriften) und Einnahmen (Gutschriften)

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Abbildung 16: Staatsschuld und Wirtschaftswachstum

424

Abbildungen im Anhang

Unhappy returns Tax revenues and growth

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25

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Tax revenues as % of GDP, average 1970-94 Source: OECD Fundstelle: The Economist, August 24th, I 996, 64

Abbildung 17: Steuerlast und Wirtschaftswachstum

50

425

Abbildungen im Anhang

Bargeldumlauf und Bruttoinlandsprodukt 1100 1000 .............................................. ······················· ·············································· ............................... ·7··· 900 ····log.Maßstab ······························· ······················· ·················· ···· ······················· · ·· .. 800 ·····1960= 100 ............................................................................................................., ..............

.,L. . . .

700 ·············································· .................................................................................... . 600 ........................ . 500 .............................................. ······················· 400

200

, ,'

·········'······································································································ ,

Barge1dumlauf*

150

100 1960

65

70

75

80

85

90

• Ohne Kassenbestände der Kreditinstitute; #Ab zweitem Halbjahr 1990 neuer Gebietsstand der Bundesrepublik Deutschland Quelle: Deutsche Bundesbank, Die Geldpolitik der Bundesbank, Frankfurt/M., Oktober 1995, 31

Abbildung 18: Potentialorientierte Ausweitung der Bargeldmenge

1994

Abbildungen im Anhang

426

Entwicklung von Zinsen und Inflation

lOjährige Anleihen 12

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10 ......

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