Volkswirtschaft besser verstehen: Das Ungefähre in der Nationalökonomik [1 ed.] 9783896442741, 9783896737823

Die Frage, welcher Bedingungen eine bestimmte staatlich eingebundene Volkswirtschaft (Nationalökonomie) bedarf, um gut z

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German Pages 136 [137] Year 2022

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Volkswirtschaft besser verstehen: Das Ungefähre in der Nationalökonomik [1 ed.]
 9783896442741, 9783896737823

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Adolf Wagner

Volkswirtschaft besser verstehen Das Ungefähre in der Nationalökonomik

Edition Wissenschaft & Praxis

ADOLF WAGNER

Volkswirtschaft besser verstehen

Adolf Wagner

Volkswirtschaft besser verstehen Das Ungefähre in der Nationalökonomik Zur guten Erinnerung an Adolph Wagner (1835–1917)

Edition Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: © vartzbed – stock.adobe.com Alle Rechte vorbehalten © 2022 Edition Wissenschaft & Praxis bei Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-89673-782-3 (Print) ISBN 978-3-89644-274-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Ratsuchende Leute in Politik und Wirtschaft staunen immer wieder, wenn sie auf eine bestimmte Frage zum guten oder besseren Funktionieren einer bestimmten staatlich eingebundenen Volkswirtschaft (Nationalökonomie) von verschiedenen Fachleuten unterschiedliche und zudem ungenaue Antworten bekommen. Das Ungenaue, Ungefähre und Mehrdeutige kennzeichnet die Nationalökonomik treffender als jede bisherige mathematische Wirtschaftstheorie mit ökonometrischen Versuchen der Umsetzung. Die Nationalökonomik ist keine Art einer Sozialphysik mit immer und überall zutreffenden Regeln und Systemen. Eigentlich ist es bereits seit 1896 literarisch belegt und bekannt, dass es prinzipiell „keine allgemeingültigen nationalökonomischen Wahrheiten“ geben kann, sondern nur raum-zeitlich beschränkt empirisch gültige sogenannte Quasi-Theorien. Im Quervergleich der Länder und in Längsschnittbetrachtungen offenbaren sich Befunde, die mit unterschiedlichen und veränderlichen – ungefähren – dynamischen Systemen gedeutet werden können. Dissens und Konflikt der Fachleute stecken in der Materie und liegen in der Luft. Ungeachtet der nur beschränkten Wahrheitsfähigkeit aller Sozialwissenschaften verfechten einzelne Ökonomen unbeirrt ihre eigenen AlleinWahrheiten gegenüber dem Publikum und den Fachkollegen. Mit unscharfen Variablen, ungenauen Daten und weichen Verknüpfungen ist das „Ungefähre“ die ehrliche Kehrseite aller mathematisch-ökonometrischen Ökonomik und mancher Illusionen seit Gründung der „Econometric Society“ im Jahre 1930. Bekanntlich kann sich jeder Leser je nach vorrangigem Interesse an verschiedenen thematischen Stationen von dem weiten Gebiet der Nationalökonomik anziehen und fesseln lassen. Dem öffnen sich auch die sieben großen Themenblöcke des vorliegenden Buches, und zwar vom obersten Blickpunkt des Ungefähren her. In der „Evolutorischen Makroökonomik“ von 2012 habe ich erstmals die bestehende Vermutung dazu kurz niedergeschrieben, die nun ausgeführt wird, wobei manche Korrekturen, Kürzungen und Ergänzungen des Üblichen vorgenommen werden mussten. So geht es um Menschen und Bevölkerungen (Teil A), um Geld, Zeit und Machtzuteilung durch aktive Buchgeldschöpfung (Teil B), um die meist unauffällige Fehlvorstellung einer Wirtschaft als „Maschinerie“ (Teil C), um das populäre Zielebündel hinter dem Wunschbild eines „starken Staates“ und eine bescheidenere, praktikable Modellierung (Teil D), unvermeidlich sind sodann „Step Cycles“, Resilienz und Regionales (Teil E), keine Wachstumstheorien, sondern nur Entwicklungsimpulse durch Geldkapital erscheinen machbar (Teil F), abschließend geht es um vergessene Beiträge des Namensvetters Adolph Wagner und um ein Resümee unter dem Stichwort „Koexistenzparadoxon“ (Teil G). Dabei sind „beschränkte Rationalität“, „Animal Spirits“, die „Wucht des Freiheitsgedankens“ und erschwerte Steuerungsgedanken mit zu erörtern.

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Vorwort

Anhänge betreffen Europa und den Euro (Anhang 1), die Anlehnung der Rechtswissenschaft an die Ökonomik (Anhang 2) und ein Sachverzeichnis. Nicht behandelt werden die Schwierigkeiten einer Euro-Stabilitätsspolitik aufgrund der persistenten Heterogenität des Euro-Währungsraumes. Namhafte Nationalökonomen haben inzwischen eingesehen, dass sie bisher ganz aussichtslos wie Physiker zu arbeiten versucht haben. Ungeachtet aller Ausdrucksweisen (mit Algebra oder verbal in verschiedenen Sprachen) ist „Das Ungefähre“ zweifellos berichtigend und zukunftsweisend. Es betrifft Fachleute und Laien gleichermaßen. Rottenburg, im September 2022

Adolf Wagner

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Dreierlei Antriebe zur Bereinigung der Nationalökonomik . . . . . . . . . . 9

Teil A

Menschen und Bevölkerungen

15

1. Veränderliche Menschen und Bevölkerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Eine Veblen-Schopenhauer-Bevölkerung und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Macht haben und Macht ausüben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Globalisierung, Wirtschaftsunion und Neo-Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Teil B

Geld, Zeit und Machtzuteilung

27

5. Geldwohlstand und Zeitwohlstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 6. Budgetdisziplin stabilisiert individuell und kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 7. Aktive Buchgeldschöpfung und Machtzuteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 8. Die Nicht-Neutralität von Geldmengenänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Teil C

Maschinerie und Methodologie

37

9. Die Fehlvorstellung vom „Maschinenmodell“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 10. Die Nationalökonomik ist keine Sozialphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 11. Ungefähre, unscharfe und bereinigte Ökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 12. Staatsform und Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Teil D

Starker Staat und neue Modellierung

47

13. Zwischen Skepsis und Hoffnung auf den guten, starken Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 14. Dynamische Makromodelle transportieren Wirtschaftstheorien für Epochen von Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

8

Inhaltsverzeichnis

15. Verformungen der Makromodelle als Strukturwandel und Evolution . . . . . . . . . . . . 54 16. Stützel-Raabe-Modelle mit Einperioden-Theorien zu bevorzugen . . . . . . . . . . . . . . 55

Teil E

Wachstumszyklen, Resilienz und Regionales

61

17. „Step Cycles“ als evolutorische gesamtwirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . 61 18. Induzierte Resilienz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 19. Macht im Kreislauf-Ungleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 20. Regionalökonomik: Endogene Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Teil F

Kapitalien, Impulse und Vorauswirtschaft

74

21. Unechte Kapitalakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 22. Wicksell-Effekte verbinden Geldkapital und Realkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 23. Entwicklungsimpulse durch Geldkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 24. Fortschritte, Vorauswirtschaft und Faktorpreis-Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Teil G

Abschließende Bemerkungen

94

25. Frühe Schritte der Erneuerung durch Adolph Wagner (1835–1917) . . . . . . . . . . . . . 94 26. Für oder gegen das Koexistenzparadoxon? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Anhang 1: „How to get Europe and the Euro shockproof?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Anhang 2: Begrenztes ökonomisches Erfahrungswissen und die Rechtswissenschaft. ­Einige Thesen und Notizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

„Nationalökonomie wozu?“ Walter Eucken (1891–1950) „Zum Einüben in das Systemdenken.“ Adolf Wagner (geb. 1939)

Einleitung: Dreierlei Antriebe zur Bereinigung der Nationalökonomik Die Nationalökonomik als die Wissenschaft für das bestmögliche Funktionieren einer staat­lich eingebundenen Volkswirtschaft zum Wohle aller sowie des Gemeinwesens und befreun­deter Staaten bedarf der Bereinigungen nach dreierlei Beweggründen: 1. Wegen teilweiser Verirrungen des Konventionalismus, wie man Maurice Allais (1911–2010) verstehen darf: „Die vorherrschenden Ideen, so irrig sie auch sein können, gewin­nen einfach durch ständige Wiederholung den Charakter von etablierter Wahrheit, die man nicht in Frage stellen kann, ohne sich dem Bannstrahl des ‚Establishments‘ auszuset­zen.“ 2. Wegen Fehlorientierungen im Feld möglicher Quasi-Theorien, wie man Joseph Stig­litz (geb. 1943) verstehen darf: „Innerhalb der Kathedrale der Volkswirtschaftslehre gibt es viele Kapellen, die speziellen Problemen ‚geweiht‘ sind. Jede hat eigene Priester und sogar ihren eigenen Katechismus.“ 3. Wegen unbefriedigter Erwartungen politischer Entscheidungsträger, wie dies Edmond Malinvaud (1923–2015) unmißverständlich ausdrückte: „That our present eco­nomic theories still are deficient, needs no elaboration. We must realize that … significant changes have taken place in the implicit models used by those deciding the main lines of economic policy or those advising on this policy.“ Manche Leute sagen deshalb, es gehe um eine stets unfertige Wissenschaft unter Leis­tungsdruck für Gutachten. Karl Brandt (1923–2010), mein Vorvorgänger als Direktor des IAW Tübingen, verstand die Geschichte der Volkswirtschaftslehre als einen „nicht endenden Prozeß des Suchens nach neuer Erkenntnis, um die ständigem Wandel unterliegende, erfahr­bare Welt besser erklären und verstehen zu können.“ Im Sinne von Wilhelm Roscher (1817–1894) ist die Nationalökonomik ein Teil des universalgeschichtlichen Begreifens der Welt – mit Ausleuchtung des erkenntnistheoretischen und philosophischen Hintergrundes, nach älte­rem Verständnis auch eine „politische Klugheitslehre“. Schwerlich zu akzeptieren ist es für viele Berater und Beratene, prinzipiell keine regelrechte, immer und überall gültige Wirt­schaftstheorie haben zu können, sondern sich mit der „begrenzten Wahrheitsfähigkeit“ aller Sozialwissenschaften (und sogenannten Quasi-Theorien) begnügen zu müssen. Die Gründung der „Econometric Society“ im Jahre 1930 löste eine Zusammenschau von (a) Wirtschaftstheo­r ie oder Denkökonomik (we-

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Einleitung

gen der Problemstellungen und Ergebnisdeutungen), (b) Ökono­metrie (wegen der Test- und Schätzverfahren), (c) Wirtschaftsstatistik (wegen des Zustande­kommens und der Fehlerrisiken statistischer Daten und sonstiger Informationen) aus. Sie brachte dabei auch einige illusorische Machbarkeits-Erwartungen mit sich. Insbesondere gibt es in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften keine regelrechte Falsifikation von Hypothe­sen, sondern nur „innocuous falsifications“ (sogenannte Als-ob-Falsifikationen). Die vorliegenden Ausführungen haben eine lange Vorgeschichte. Von weitgehender Stan­dard-Mikroökonomik und Standard-Makroökonomik der im Jahre 2009 neu aufgelegten Lehrbücher führte der Weg der Materialsichtung – insbesondere – über Evolutorische Mak­roökonomik (2012), Skeptische Nationalökonomik (2017), Wohlfahrtsökonomik (2020) und All you need is cash (2021). Da man je nach erstem Antrieb an vielen Stationen in das rei­che geschriebene Wissen eintreten kann, untermauern meine sämtlichen Schriften seit 2009 die vorliegenden Ergebnisse: Schriftenauswahl (aus www.adolfwagner.eu) zur möglichen Vertiefung: • A. Wagner (2009a): Mikroökonomik. Volkswirtschaftliche Strukturen I, 5. Aufl., Marburg. • A. Wagner (2009b): Makroökonomik. Volkswirtschaftliche Strukturen II, 3. Aufl., Marburg. • A. Wagner (2009c): Volkswirtschaft für jedermann. Die Marktwirtschaftliche Demokratie, 3. Aufl., München. • A.  Wagner (2012): Evolutorische Makroökonomik. Innovative Modifikationen zur Stan­ dardökonomik, Marburg. • A. Wagner (2014b): How to get and stay rich and happy. Über Wohlstand, Wachstum und Ver­teilung. Bekanntes und Unbekanntes, Marburg. • A. Wagner (2015a): Arbeitsmarktökonomik. Ein Leitfaden für Führungsleute und Mitarbeiter. Der etwas andere Zugang, Marburg. • A. Wagner (2015b): Eine kleine Meta-Makroökonomik. Das Wichtigste aus meiner Sicht zur Evolutorischen Makroökonomik, Marburg. • A. Wagner (2016a): Marktformen, Verhaltensweisen und Spielregeln. Leichte Zugänge zur volkswirtschaftlichen Mikroökonomik, Marburg. • A. Wagner (2016b): Robustheit, Elastizität und Antifragilität einer Volkswirtschaft. Neue Ak­zente einer angewandten Wohlfahrtsökonomik, Marburg. • A.  Wagner (2017): Skeptische Nationalökonomik. Von Schwierigkeiten mit Menschen, Bevöl­kerungen und Systemen. Zur guten Erinnerung an Kurt Rothschild (1914–2010) und Wolfgang Stützel (1925–1987), Marburg. • A. Wagner (2018a): Verteilungstheorien. Eine zukunftsorientierte Nachschau, E-Book von www.adolfwagner.eu herunterzuladen. • A.  Wagner (2018b): Endlich Wohlstand und Gerechtigkeit für alle? Volkswirtschaft für jeder­mann, 4. Aufl., E-Book von www.adolfwagner.eu herunterzuladen.

Einleitung

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• A. Wagner (2018c): Bauteile der Nationalökonomik. Zur guten Erinnerung an Ernst Helm­ städ­ter (1924–2018), Marburg. • A. Wagner (2019): Zur rechenhaften Stabilisierung einer freiheitlichen Wirtschaftsgesellschaft. Zwischen Kinetik und Kybernetik. Zur guten Erinnerung an Günter Krüsselberg (1929–2018) und Erich Reigrotzki (1902–1997), Marburg. • A. Wagner (2020): Eine Wohlfahrtsökonomik für die neuen Zeiten und die Menschen in einer fragilen Welt. Zur guten Erinnerung an Eberhard M.  Fels (1924–1970) und Heinrich Strecker (1922–2013), Marburg. • A. Wagner (2021): All you need is cash. Ein Wegweiser für die Ökonomie, 4. Aufl., Marburg.

Die nachfolgenden Ausführungen verstehe man als eine Handreichung für Beratungen an­hand gängiger Lehrbücher, wobei durch meine deutschsprachigen Bearbeitungen der Lehr­werke von Gregory N. Mankiw, Mark P. Taylor und ­Andrew Ashwin gegenwartsnahe Ent­würfe der angloamerikanischen Ökonomik mit berücksichtigt sind. Eingegangen sind hier ferner die Beratungserfahrungen aus der Leitung von Forschungsinstituten und den voraka­demischen Erfahrungen im bayerischen Sparkassenwesen. Als „Angehöriger“ der Universität Leipzig im Ruhestand und zweier aktiver Wissenschaftlervereinigungen (Ausschuss für Evolu­torische Ökonomik und Keynes-Gesellschaft) bleiben mir Neuerungen nicht verborgen. Das Buch sei letztlich eine Hilfe beim Aufspüren „weicher Stellen“ in Wirtschaftsgutachten. Wissenschaftsfähige Demokratie: Alter und neuer Deutscher Bundestag von 2021 enthalten zahlreiche junge Abgeordnete, die mit ihrer Unkenntnis eine skeptische Vermutung des Tü­binger Wirtschaftspolitikers Manfred Wulff (geb. 1933) von 1985 bestätigen: Dass sich durch Wahlen keine leistungsfähige Elite bildet, weil sich die Eigenschaften für einen Wahlerfolg nicht mit den erforderlichen Eigen­schaften für den späteren Arbeitserfolg decken (Wulff 1985, S. 154). So glaubte ein Junger anregen zu müssen, dass die „Demokratie wissenschafts­ fähig“ und die „Wissenschaft demo­k ratiefähig“ werden solle. In der Bundesrepublik Deutsch­land wird dieses Vorhaben spätes­tens seit Mai 1958 betrieben, als das Wirtschaftsministerium diese exzellente Dreier­gruppe von Professoren gewinnen wollte: Wilhelm Kromphardt (1897–1977), Erich Preiser (1900–1967) und Heinz Sauermann (1905–1981). Später kam es – bis heute – zur Umsetzung des Vorhabens mit weniger umfassend qualifizierten Leuten. Der erste Schwung verebbte, als man nicht mit der Meinungsvielfalt umzugehen wusste und von politi­scher Seite nur noch rituelle Schritte geschahen (Wagner 2021, S. 134). Weiter zurückreichende Wellen „der Anerkennung und des Versagens“ der Nationalökono­mik beschrieb der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt (geb. 1929) im Jahre 2001. In Deutschland und anderswo „stand in der Nachkriegszeit die Wirtschaftswissenschaft in ho­hem Ansehen“ (Borchardt 2001, S. 203), wobei immer wieder einmal eine „Neuordnung von Lorbeerkränzen auf den Gräbern von

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Einleitung

Ökonomen“ geschieht (Borchardt 2001, S. 221). Der Fortschritt des Faches ist insgesamt nur mit Bedacht einzuschätzen, da man ihn nicht zwei­felsfrei zuordnen kann und Wohlfahrtswirkungen schwerlich zu erkennen sind, weshalb man sich auf die Laienökonomik („folk economics“) konzentrieren und diese kritisch begleiten sollte (Helmstädter 1999). Als das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) in Tübingen am 18. Juli 1957 gegründet wurde, konnte oder wollte die Universitätsforschung bestimmte Arbeitsaufgaben noch nicht übernehmen, die später als sogenannter Wissens- oder Forschungstransfer betrie­ben wurden. Die Nachfrage aus der Praxis stellte dem IAW damals „die Aufgabe, For­schungsergebnisse auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie, besonders auch der Öko­nometrie, auf Fragen der Wirtschaft anzuwenden und die dafür notwendigen wirtschafts­theoretischen Grundlagen zu erarbeiten“ (wie es ganz ähnlich in den Satzungen aller Träger­gesellschaften in Deutschland hieß). Nichts weniger als die Suche nach einem empirisch bewährten Systemwissen schwebte den potenziellen Auftraggebern, den Regierungen, Par­lamentariern und Unternehmungen sowie ihren Verbänden vor. Simple Übertragung gülti­ger, einvernehmlicher Theorie und Deutung war beabsichtigt und ist weiterhin im Ideal­fall als Rat erwünscht. Man betrieb seither mit großem Ernst und Zuversicht das, was der Historiker und Essayist Thomas Carlyle (1795–1881) mit Blick auf die Politische Ökonomik seiner Zeit als die „Dis­mal Science“, die unheilbringende Wissenschaft, abwertete und vielen anderen entspre­chende negative Vorlagen gab. Noch im Jahre 1985 legte Manfred Wulff (geb. 1933) von der Universität Tübingen eine kritische Abwertung wissenschaftlicher Beratungen vor (Wulff 1985, S. 5): „Das Versagen der Wirtschaftswissenschaftler als Berater der Politiker kann mit der Eigenart des Untersuchungsobjektes der Wirtschaftswissenschaft erklärt werden.“ Im Jah­re 2015 griff Dani Rodrik (geb. 1957) „The Rights and Wrongs of the Dismal Science“ auf. Dringend zu behandeln ist nachfolgend die Frage, ob, wie und bis zu welchen Grenzen man trotz aller Unzulänglichkeiten der Nationalökonomik eine ernsthafte wirtschaftswissen­schaftliche Beratung zu leisten vermag. Paul Krugman (geb. 1953), Nobelpreisträger, kriti­sierte die scheinbaren Neuerungen der Makroökonomik der letzten Jahrzehnte als „bestenfalls auf spektakuläre Weise nutzlos“ (gemessen am vorhandenen Fundus). Zwar sind die von der Gründung der „Econometric Society“ 1930 herrührenden Impulse wichtig und richtig, doch muss man sorgfältig darauf achten, die Territorien sowie die Aus­sage- und Beratungsepochen zu unterscheiden: • Für Vergangenheit und / oder Gegenwart kann man empirisch gültige dynamische Makromodelle entlang verfügbarer Daten und sonstiger Informationen herleiten und daraus per Entscheidung die plausibelste Variante nach „best practice“ vertreten. • Für die Zukunft kann man nur partiell Planungsdaten (etwa Haushaltspläne mit „Lese­rer“Daten) verwerten, jedoch niemals insgesamt mit verarbeitbaren Daten rechnen.

Einleitung

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Wirtschaftswissenschaften sind keine Ansammlung konkreter Wahrheiten, sondern zur Ent­deckung konkreter Wahrheiten einzusetzen, weiß man von A ­ lfred Marshall (1842–1924), John Maynard Keynes (1883–1946) und Paul Mombert (1876–1938). Eingeübtes Systemdenken auf eigene Fragen anzuwenden, erfuhr man stets auf die von Walter Eucken (1891–1950) formu­lierte Frage „Nationalökonomie wozu?“. Dabei stellen sich gelegentlich herbe Misserfolge ein: „Schlechte Logiker haben unabsichtlich mehr Verbrechen angerichtet als schlechte Men­schen absichtlich“, argwöhnte der französische Abgeordnete Pierre S. Du Pont im Jahre 1790. Ein anderer französischer Abgeordneter und Nationalökonom, Frédéric Bastiat (1801–1850), befürchtete eine besondere Schieflage des Denkens: „Der Staat ist die große Fiktion, mit de­ren Hilfe sich jeder bemüht, auf Kosten aller zu leben.“ Der einstige US-Starjournalist Henry Hazlitt (1894–1993) sah dabei die Ziele von Eigennutz bei wirtschaftspolitischen Vorschlägen als verwerflich und korrekturbedürftig an. Zweit-, Dritt- und weitere Folgewirkungen hielt er für besonders bedeutsam. Der Wissens- oder Forschungstransfer des Hochschulwesens in die Praxis entwickelt sich stets weiter, wobei sich die leitenden Ideen und die Randbedingungen verändern. Hauptrich­tungen sind gegenwärtig die „Digitalisierung“ (Hemel 2020) sowie der Patentschutz und die veränderten Gebräuche bei Publikationen, worüber der Hochschulverband berichtet. Der Kon­ferenzband von Diedrich / Heilemann 2011 entstand aus Anlass des 600jährigen Gründungsju­biläums der Universität Leipzig am 3. Dezember 2009. Die Leitfrage hat inzwischen einiges an Aktualität eingebüßt. Typisch an den Beiträgen ist das, was bei allen sozialwissenschaftli­chen Forschungen mit Bedauern bemerkt werden muss: Es findet ein Wettlauf zwischen Ver­gessen und Unterdrücken sowie Neuentdecken und Fortentwickeln statt. Auffällig an Fehlen­dem ist der Rektoratsband von 1997, doch auch die DFG-finanzierten empirischen Untersu­chungen der Medizinbereiche der Universitäten Tübingen und Marburg (Wagner 1987 und 1990) hätten Anknüpfungsunkte geboten. Alles in allem geht es hier um die möglichst gute erreichbare Qualität der Beratung, die prinzipiell niemals ganz exakt sein kann. Wissenschaftsfreiheit als Innovationshemmnis. Zwar heißt es: „Keine Begierde ist natürli­cher als die Begierde nach Wissen“ (so Michel de Mon­taigne, 1533–1592). Neues, besseres Wissen diffundiert jedoch nicht ohne weiteres in die Lehr­bücher und in die Lehre. Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch. Doch welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt von den Umständen ab. Der süddeutsche Volksmund sagt: „Vie­le Köpfe, viel Sinn.“ Der spanische Philosoph Baltasar Gracián (1601–1658) sagte es ausführ­licher (­Gracian 2012, S. 84): „So viele Sinne als Köpfe, und so verschiedene.“ Begreift man das vielfältige Angebot aller Richtungen hete­rodoxer Ökonomik als einen großen und perma­nenten Inventionsschub für die Standardöko­nomik, so wirkt die vieltausendfache Anzahl von Professoren- und Wissenschaftlerköpfen weltweit  – trotz gewisser multinationaler Gleich­schaltungen von der angloamerikanischen Ökonomik her – per verfassungsmäßiger Wissen­schaftsfreiheit als Inno-

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Einleitung

vationsfilter und Inno­vationshemmnis. Die Wissenschaftler müssten bereit sein, Fortschrittsimpulse – nach eigener Überzeugung – aufzunehmen, mit dem Ziel (a) bislang geltendes Wissen zu substituieren, (b) zusätzliches Wissen kumulativ einzuführen und (c) zirkulär erneute Bearbeitungen altbekann­ter Fragen zur Kenntnis zu nehmen. Von nicht geringer Bedeutung erscheinen mir dabei Um­deutungen („Framing“) und Fehldeutungen durch das Publikum. Ein Filter der Wissenschafts­ freiheit berufener Leute ist ebenso beacht­lich wie ein ständiger Wettlauf von Vergessen, Verdrängen, Erneuerung und Wiederentde­ckung. Wissen ist jene Erkenntnis, die der Wahrheit ihres Gegenstandes oder Sachverhaltes gewiss ist, indem sie dessen Tatsächlichkeit feststellt und sich der natürlich-einsichtigen Gründe seines Da- und Soseins versichert. Fachwissen der Nationalökonomik über das Funktionie­ren von Volkswirtschaften wird stets nur raum-zeitlich relativiert als gültig betrachtet. Man akzeptiert eine „begrenzte Wahrheitsfähigkeit“ sozialwissenschaftlicher Natur. Altes und neues Wissen halten sich nebeneinander und ergeben auf diese Weise oftmals ein Koexis­tenzparadoxon.

Neues Wissen wird als Invention erfunden oder gefunden. Vieles wird der Vorteile für die Menschen wegen unternehmerisch über die Marktmechanismen oder politisch über die De­mokratiemechanismen als gewerbliche Innovation umgesetzt. Vorrangig bekannt ist ein Wis­sen, das unternehmerisch – soweit es sich kurz- oder mittelfristig mit Kostendeckung oder mehr rechnet – in Produkt- oder Prozessinnovationen umgesetzt wird. Prozessinnovationen senken die Herstellungskosten und oft auch den Kaufpreis altbekannter Produkte für die Nachfrager, die Konsumenten oder anderweitige Investoren. Produktinnovationen führen zu völlig neuen oder merklich verbesserten Produkten, die latente neue oder auch alte Bedürfnis­se befriedigen. Produkt- und Prozessinnovationen werden in der angloamerikanischen Litera­tur neuerdings gelegentlich als „Business-Innovations“ oder B-Innovationen bezeichnet. Dar­über hinaus veranschlagt man – über Joseph A. Schumpeter (1883–1950) hinaus – die bislang vernachlässigten „Common-Innovations“ oder C-Innovationen des privaten Haushaltssektors, die „Finance-Innovations“ oder F-Innovationen sowie insgesamt alle letztendlichen „System-Innovations“ oder S-Innovationen.

„Die Vertreibung des Menschen als lebendiges Wesen aus den Modellwelten der Ökonomik hat dramatische Folgen.“ Joachim Güntzel (geb. 1961)

Teil A

Menschen und Bevölkerungen 1. Veränderliche Menschen und Bevölkerungen 1.1 Das vorrangige Studium des Menschen Das Studium des Menschen sei die wichtigste Seite der Nationalökonomik (so Alfred Mars­hall, 1842–1924, und Carl Jentsch, 1833–1917) neben dem Studium ­ ustafsson, der Wohlfahrt. Doch nie­mand weiß genau, was ein Mensch ist (so Lars G 1936–2016). „Der Mensch kennt alle Dinge der Erde, aber den Menschen kennt er nicht“ (so Johann H. Pestalozzi, 1746–1827), wobei der Mensch für den Menschen das Interessanteste sein sollte (so Johann W. von Goe­the, 1749–1832). Nachwachsende und Zuwandernde bedürfen einer Sozialisierung und Zäh­mung (so Arthur Schopenhauer, 1788–1860, Frédéric Le Play, 1806–1882, und Joan Robin­son, 1903–1983). 1.2 Die Typenvielfalt der Menschen Menschen darf man nicht zu simpel auf Arbeitskräfte oder Konsumenten reduzieren. Die „ökonomischen Menschenfunktionen“ sind graduell von Person zu Person abgestuft (Wagner 2012, S. 302): Alle sind (1.) potenzielle Verbraucher und Nachfrager, viele sind alters- und gesundheitsbedingt (2.) Nutzer staatlicher Einrichtungen. (3.) Potenzielle Arbeitskräfte wer­den alters- und gesundheitsabhängig gezählt. (4.) Wissensträger, (5.) potenzielle Erfinder und (6.) Unternehmer sind in der Demografie angelegt. (7.) Kulturträger, (8.) potenzielle Elterntei­le und (9.) Staatsbürger sowie (10.) Träger von Aufgaben in allen Institutionen sind die Men­ schen auch. Liest man bei Michel de Montaigne (1533–1592) von der einhelligen Weltmei­nung, „dass Vergnügen unser Zweck sei, obgleich man über die Mittel verschieden denkt“, so stößt man auf die Typenvielfalt, die Lionel Robbins (1898–1984) im Jahre 1932 mit Blick auf die „Innenleitung“ der Menschen erkannte: Bei verbreitetem Luststreben sind die Argumente der imaginären Nutzenfunktionen höchst unterschiedlich: „our economic subjects can be pure egoists, pure altruists, pure ascetics, pure sensualists or – what is more like – mixed bundles of all these impulses“. Beabsichtigte Nutzenmaximierung durch vieles an höchst Unterschied­lichem könnte also gemeint sein – nach Montaigne, nach Robbins und nach vielen anderen.

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Teil A: Menschen und Bevölkerungen

1.3 Das Staatsvolk der Staatsangehörigen wird unscharf Staat und Volkswirtschaft ruhen auf der Bevölkerung, dem Staatsvolk, als der wichtigsten von drei Säulen neben Staatsgebiet und Staatsgewalt (so Georg ­Jellinek, 1851–1911). „The ulti­mate resource is people  – skilled, spirited, and hopeful people – who will exert their wills and imaginations for their own benefit.“ And: „Population growth has long-term benefits, though added people are a burden in the short run“ (so Julian L. Simon, 1932–1998). Betriebe sind dann am produktivsten, wenn ihre Belegschaft zusammen­steht und sich durch einen „Corps­geist“ oder eine „Corporate Identity“ verbunden fühlt. Ver­gleichbares gilt auch für die Be­völkerung einer „Volks“-Wirtschaft und insbesondere für die Staatsangehörigen (das Staats­volk). Man weiß es lange schon von Ernest Renan (1823–1892) und Joan Robinson (1903–1983): „A society cannot exist unless its members have common feelings about what is the proper way of conducting its affairs, and these common feelings are expressed in ideology.“ Man spricht biswei­len vom Wertekonsens einer Gesellschaft, von Verfas­sungskultur oder auch von Leit­kultur. Der juristische Begriff des Staatsvolks als der Gesamtheit der Staatsangehörigen ist für die ökonomische Argumentation unscharf geworden. Nach axiomatischer Ökonomik bestimmt der wahlberechtigte Teil des Staatsvolks zwar mit seinen Präferenzen und Vorlieben das ge­samtwirtschaftliche Dispositionsgleichgewicht („top-level equilibrium“), doch stören dabei Mehrfach-Staatsbürgerschaften sowie grundsätzliche Probleme: Darf sich ein Staatsvolk zum eigenen Nutzen eine Unterschicht (z. B. „Gastarbeiter“) in das Land holen? – habe ich 1975 vergeblich auf einer wissenschaftlichen Tagung gefragt. Jagdish Bhagwati (geb. 1934) und Paul Krugman (geb. 1953) stellten 1992 bzw. 1991 die Frage, welche Gruppen von Einwoh­nern (ungeachtet der Staatsangehörigkeit) – da und dort – überhaupt in der nationalen oder sozialen Wohlfahrtsfunktion eine Rolle spielen sollten. Die Freizügigkeit in der EU hat derlei Fragen noch dringlicher gemacht. 1.4 Eine soziologisch-demografische Begriffsbestimmung der Bevölkerung N. Gregory Mankiw (geb. 1958) und Mark P. Taylor stellen lapidar fest: „An economy is just a group of people interacting with one another as they go about their lives.“ Beliebige statis­tisch ortsanwesende Men­schenmassen da und dort können den Vo­raussetzungen eines inte­grierten Staatsvolks kaum jemals genügen. Der Tü­binger Rechtswissenschaftler Michael Ronellenfitsch (geb. 1945) schrieb ausführli­cher zur Identität des Staatsvolks: „Deutschland ist ein zugleich pluralistischer und wertge­bundener Staat. Er ist Kulturstaat auch in dem Sinn, dass durch über­komme­ne kultu­relle Wertvorstellungen, die in das Grundgesetz und die Ver­ fassungen der Länder eingeflossen sind, Identität des Staatsvolks er­zielt wird.“ Feindselige innere Spaltun­gen der Bevölkerung sind in je­dem Fall zu vermeiden, ebenso nach Möglichkeit akkulturierte Zuwanderung (Kaufmann 1975, S. 209).

1. Veränderliche Menschen und Bevölkerungen

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1.5 Fakten der Populationsdynamik Ein Blick auf den großen Rahmen sowie auch auf die Evolution der Bevölkerung: Auf der Erde gibt es derzeit nahezu 7,5 Milliarden Menschen, die alle gut und glück­lich leben wollen sowie ausnahmslos alle staatlich eingebunden sind. In freiheitlichen Gesellschaften ist effizi­entes Wirtschaften zur Zu­friedenheit der Bevölkerung dem­nach wesentlich von guten staatli­chen Rahmenbedingungen abhängig. In Deutsch­land belief sich die Bevölke­rung Ende 2017 auf 82,8 Millionen Menschen, und zwar auf 73,1 Millio­nen Staatsangehörige (juristisch das Staatsvolk) und 9,7 Millionen sons­tige legal ortsanwesende Menschen (Ausländer). Insgesamt weist das „Volk“ der deutschen Volkswirtschaft im Generationenmaßstab mit einer statisti­schen Nettore­produktionsrate (NRR) von nur 0,758 (des ungefäh­ren Ersatzes der Mütter- durch die Töchtergeneration) eine Schrump­fungstendenz auf, die wesentlich auf der absehba­ren Schrumpfung der staatsangehörigen Altbevökerung (mit einer NRR von 0,703) beruht, wo­hingegen der ausländische Bevölkerungsanteil (ohne alle weiteren Zuwan­derungen) wach­sen wird (mit einer NRR von 1,038). Nach Erkenntnissen des Bevölkerungsmathematikers Nathan Keyfitz (1913–2010) ist die langfristige Bestandserhaltung einer Bevölkerung nur endogen durch eine hinreichende Neigung der Ansässigen zum Kinderhaben möglich (NRR = 1). Dafür treten Oswald von Nell-Breuning (1890–1991), Herwig Birg (geb. 1939) und viele andere nachdrücklich ein, damit Staat und Nationalökonomie ohne Turbulenzen erhalten wer­den können. 1.6 Solidaristische Menschen, Satisfizierungsverhalten und Umgestaltung der Welt Oswald von Nell-Breuning schwebt der Typ eines solidaristischen Menschen vor, d. h. einem Mittelding zwischen einem individualistischen und einem kollektivistischen Menschentyp. Spätestens seit der Ehrung von Herbert A.  Simon (1916–2001) ist begrenzte oder beschränkte Rationalität aller Entscheider zu unterstellen, womit einerseits den beschränkten perzeptio­nellen, kognitiven und intellektuellen Verarbeitungs- und Speicherungskapazitäten Rechnung getragen wird und andererseits die unerfüllbare Verhaltensannahme einer simultanen Maxi­mierung einer Zielfunktion durch das empirisch plausiblere Satisfizierungsverhalten (d. h. des Suchens und Auswählens einer halbwegs befriedigenden Alternative) ersetzt wird. Mit weit­reichenden Konsequenzen verbunden ist die Überzeugung, Menschen seien nicht nur Anpas­ser an vorfindliche Lagen, sondern selbst aktive Betreiber einer wünschenswerten Umgestal­tung der Faktenlage. Man braucht nicht zu betonen, wie unkalkulierbar ein zukünftiges Ver­halten von Wirtschaftseinheiten ist, die gelegentlich künftiger Entscheidungen zugleich das Entscheidungsfeld umzugestalten trachten. Aus dem von Hans Küng (1928–2021) gegründeten Tübinger „Weltethos-Institut“ heraus reg­te Claus Dierksmeier (geb. 1971) „Refraiming Economic Ethics“ an

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Teil A: Menschen und Bevölkerungen

(Dierksmeier 2016b). Dierksmeier griff dabei tief in die philosophiegeschichtlichen Vorräte hinein, ohne wichtige ökonomische Denkfiguren korrekt nachzeichnen und einschätzen zu können. „Bottom up“ hätte man von Tübingen aus gewiss den weltbekannten Friedrich List (1789–1846) mit zu Wort kommen lassen müssen; denn er war und ist dem Volke sprachnäher, als er z. B. gegen die sieben christ­ lichen Todsünden wetterte. Eugen Wendler (geb. 1939), der weithin bekannte ListForscher, übermittelt sie uns in dieser Fassung (Wendler 2020, S. 58): (1) Willkür der Beamtenaristokratie und Krebsgeschwür der Korruption, (2) Körperliche Schwerstarbeit, insbesondere von Frauen und Kindern, (3) Ausbeutung von Arbeitnehmern durch die Unternehmerschaft, (4) Sklaven- und Drogenhandel, (5) Habgier und Spekulationssucht, (6) Natur- und Umweltzerstörung, (7) Nationale Hybris und nationaler Egoismus.

Für Eugen Wendler qualifizierte sich Friedrich List zu seiner Zeit bereits als ein „Ökonom mit Weitblick“ und ein „Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft“. Als beachtliche Erkenntnisse werte ich das Eintreten gegen Natur- und Umweltzerstörung (6.) und die erkennbare machtpo­litische Ablehnung von Eroberungskriegen (7.). 1.7 Sachpolitik und öffentliche Meinung Sachpolitik stellte man sich in etwa so vor: Diagnose der Lage aufgrund empirischer For­schung, Vergleich des Lagebildes mit parlamentarisch festgelegten MakroZielen, Entschei­dung für zielführende wirtschaftspolitische Maßnahmen aufgrund erfahrungsgestützten Sys­temwissens, Erfolgskontrolle und Politikbewertung. Dieser Standpunkt begegnet entschei­dungstheoretischen und politikwissenschaftlichen Einwänden. Für Gruppen lässt sich kein schlüssiges Zielsystem aus den Präferenzen der Mitglieder ableiten, wie man von Kenneth J. Arrow (1921–2017) und dem Arrow-Paradoxon oder dem älteren Condorcet-Paradoxon weiß. Gruppenentscheidungen und Mehr-Personen-Entscheidungen überhaupt lassen sich nicht streng rational begründen. Hinzu kommen auf lange Sicht die demografischen Veränderungen des Wählerpotenzials, die alte Mehrheiten schwinden und neue Mehrheiten entstehen lassen. Ganz im Sinne des US-Politikwissenschaftlers Murray Edelman (1919–2001) kommt es zu einer verän­derten Auffassung von Wirtschaftspolitik, die der Schweizer Nationalökonom Alf­red Meier (geb. 1937) bereits im Jahre 1988 als ein bloßes Management der öffentlichen Mei­nung umschrieb: „Zweck allen wirtschaftspolitischen Handelns ist es letztlich, die Leute zu­frieden zu stellen, indem ein wahrgenommenes Problem verschwindet. Wirtschaftspolitik kann in diesem Sinne

2. Eine Veblen-Schopenhauer-Bevölkerung und Gesellschaft

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auch als Management der öffentlichen Meinung gesehen werden, das auf der Erzeugung realer (Veränderung der Umweltbedingungen) und symbolischer Effekte (Beeinflussung von Wahrnehmung und Ordnungsvorstellungen) beruht“ (Wagner 2009c, S. 34). Meier würde wohl zustimmen, wenn man seine Position so deutet: Sachpolitik alter Art plus Meinungsmache. In der Standardökonomik weiß man um eine Makroökonomik des Ungefähren (Wagner 2012, S. 345–346), die aus einer Überforderung der Aggregationstheorie herrührt, aber auch auf Plä­nekompatibilität und Strömesynchronität zurückgeht (Wagner 2009a, S. 20) sowie unver­meidlich die unscharfen Begriffe der Theorie und die ungenaue statistische Adäquation be­r ücksichtigt. Die hier erwähnten politikwissenschaftlichen und entscheidungstheoretischen Umstände stellen einen weiteren grundsätzlichen Beitrag zum Ungefähren dar. „Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft.“ Friedrich Schiller (1759–1805)

2. Eine Veblen-Schopenhauer-Bevölkerung und Gesellschaft 2.1 Ein Blick auf das Ganze Der US-Politikwissenschaftler Murray Edelman (1919–2001) schrieb: „Was der Mensch ist, ganz zu schweigen davon, was er will, ist zum Teil Produkt des poli­ tischen Systems, wie er umgekehrt das System auch bedingt. Das ‚Wesen des Menschen‘ und das Funktionieren des Systems sind Teil ein und desselben Zusammenhangs“ (Edelman 2005, S. 16). Drückt Edel­man damit eine bekannte Überzeugung von Karl Marx (1818–1883) aus, wonach das Sein das Bewusstsein bestimmt? Von daher darf man fragen, ob die Typenvielfalt der juristischen und soziologischen IstGesellschaft in bestimmter Weise mit dem Kapitalismus korreliert ist, der in jeder Form nach Adam Smith (1723–1790) „the best government policy for the growth of a nation’s wealth sees in a policy which governs least“. Gewiss zählt hierbei die besondere Kenntnis von Thorstein Veblen (1857–1929), einem Vor­läufer der Nationalökonomik und der Soziologie, erworben unter Zeitgenossen der USA und formuliert mit Blick auf Einstellungen zur Zufriedenheit mit Einkommen und Vermögen. Veb­len schrieb 1899 in seiner „Theorie der feinen Leute“ („Theory of the Leisure Class“), das Streben nach Reichtum könne schwerlich eine individuelle Erfüllung finden, und eine Befrie­digung des Wunsches nach Wohlstand offensichtlich auch nicht – wie die Verteilung auch immer sei. Damit ist nicht nur ein Urteil über die Unerheblichkeit nationalökonomischer Ver­ teilungstheorien festgelegt, sondern mehr noch: ein Wesenszug dominanter Teile der Bevölke­rung – systembedingt vom Sein in einem bestimmten System. Immer, immer mehr, ungeachtet des bereits Erreichten und ungeachtet des Erfolgs der Mitmenschen, auf deren Mit- und Zu­sammenleben man sich eingelassen hat.

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Teil A: Menschen und Bevölkerungen

Überhöht wird die alltägliche Bedeutung dieser unbegrenzt erwerbsgeneigten Bevölkerung  – auch in einer Marktwirtschaftlichen Demokratie  – durch einen durchsetzungswilligen und kämpferischen Bevölkerungsteil, den der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) als zivilisatorisch ungezähmt einschätzt. Im Demokratieteil einer „Marktwirtschaftlichen Demo­k ratie“ beobach­tet man immer wieder neue Formen der kämpferischen Vorgehensweise von Gruppen. 2.2 Konflikthafte evolutorische Wirtschaftsbevölkerung? Man glaubt es kaum, was man aus der nachkolonialen Welt hört: „In most thirdworld coun­tries, the state itself has been hijacked by gangsters, with every key institution (judiciary, ban­king, military, press etc.) debauched“ – schrieb George Ayittey (1945–2022), der afrikanische Präsident der „Free Africa Foundation“ aus Washington an den „Economist“. Gangstertum als banalisierte Form von Staatsmissbrauch im Gruppeninteresse ist nicht neu. 2.3 Opferbereite, rechtschaffene bürgerliche Gesellschaft? Die opferbereite, integrationsbesessene bürgerliche Gesellschaft, die unausgesprochen den Anfangspunkt der Nationalökonomik bildet, kann nicht generell als verwirklicht gelten. Der individualistische Charakterzug kann in kapitalistischen Systemen wie der Marktwirtschaftli­chen Demokratie sehr verstärkt ausgeprägt sein. Eine Balance im Sinne des „solidaristischen Menschen“ nach Oswald von Nell-Breuning wird man nicht leicht als dominant vorfinden. „Die Erfahrung war, dass kaum ein Mensch verstand, was man ihm sagte. Dabei wollte jeder verstehen: alle waren ärgerlich wenn man ihnen diesen Erfolg vorenthielt.“ Sten Nadolny (geb. 1942)

3. Macht haben und Macht ausüben Als mein verehrter Münchener Diplom-Vater Erich Preiser (1900–1967) in seinem vielver­kauften Büchlein „Nationalökonomie heute“ schrieb, die „Monopolpreisbildung“ sei „das sicherste Lehrstück der ganzen Preistheorie“ (Preiser 1992, S. 67), veranlasste er seine Leser zum Nachdenken, zur Ergänzung und zur Korrektur. Preiser dachte bei seiner Feststellung an Augustin Cournot (1801–1877), nicht aber an seinen Fakultätskollegen Bernhard Pfister (1900–1987). Für den voll informierten Cournot-Monopolisten mit dem Versuch einer Maxi­mierung des Periodengewinns und die allermeisten Lehrbücher trifft Preisers Feststellung zu; für den

3. Macht haben und Macht ausüben

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moderneren Pfister-Monopolisten mit einem bescheideneren „Satisfizierungsverhal­ ten“ jedoch nicht. Am Vergleich des Cournot-Monopolisten und des Pfister-Monopolisten bricht das Problem der Überschrift auf. Wollen und werden Leute in einer Position der Marktmacht oder der Macht schlechthin diese Macht stets und ganz selbstverständlich auszunutzen, ja aus­ zureizen versuchen? Ja, nach Cournot. Nein, nach Pfister. Cournot sucht dabei eine Schreib­tisch-Lösung des Mathemati­kers umzusetzen, Pfister regt zur Umschau in der Praxis an. Die Spaltung durchzieht auch die gesamte Oligopoltheorie, bei der die Informationserfordernisse um einiges höher liegen: Es geht den Oligopolisten um eine „konjekturale Strategie“, d. h. um eine Mengen- oder Preis­ setzung bei Berücksichtigung der vermuteten Konkurrentenreaktion mit Blick auf die Ge­samtnachfrage oder die gemeinsame Preis-Absatz-Funktion. Mit Blick auf die Demokratie­mechanismen vermisst man Ethische Verhaltensregeln für die Ab­ geordneten sämtlicher Par­lamente. In beiden Mechanismen können Konstellationen von Macht ange­legt sein (einerseits Marktmacht und andererseits politische Macht), die oftmals unerwähnt bleiben und der empi­r ischen Analyse überlassen sind. Die bekannte britische Fachkollegin Joan V. Robinson (1903–1983) schätzte den Monopolis­ten, der oftmals der obsiegende „letzte“ Wettbewerber ist, ähnlich vernünftig und zurückhal­tend für aktuelles und zukünftiges Wirtschaften ein. Sein konkretes Verhalten des „Sufficing“ sei allerdings eine Sache der empi­rischen Klärung, keine Angelegenheit der Mathematik in der Studierstube wie bei Cournot. Die verzweigteste Diskussion über das absehbare Verhalten eines Monopolisten stieß Helmiut Arndt (1911–1997) an, ein früherer Kollege des Arbeitsfel­des „Evolutorische Ökonomik“ (Arndt 1994, S. 159–192). Sein Ausgangspunkt war die „Ver­harmlosung der Macht“ durch den Zuschnitt der volkswirtschaftlichen Mikroökonomik. Das Gesamtbild „Cournot-, Pfister- und Arndt-Robinson-Monopol“ wird nach Meinung des US-Politikwissenschaftlers Murray Edelman (1919–2001) allenfalls unvollständig und ver­zerrt analysiert, weil hinter einer scheinbar um Objektivität bemühten Wissenschaft still­schweigend Machtkampf und Täuschung darüber ablaufen. Er vertritt ein düsteres Bild politi­schen Geschehens und zieht Schlüsse von einer „Zweiwirklichkeitenebene“ aus (Edel­man 2005). Der Schweizer Kollege Alfred Meier vertrat eine dazu passendes, neues Ver­ständnis von „Wirtschaftspolitik“: „Zweck allen wirtschaftspolitischen Handelns ist es letztlich, die Leute zufrieden zu stellen, indem ein wahrgenommenes Problem verschwindet. Wirtschafts­politik kann in diesem Sinne auch als Management der öffentlichen Meinung gesehen werden, das auf die Erzeugung realer (Veränderung der Umweltbedingungen“ und symbolischer Ef­fekte (Beeinflussung von Wahrnehmung und Ordnungsvorstellungen) beruht“ (Meier / Mettler 1988, S. 20). „Symbolische Politik“ steht für falschen Schein, bewusste Täu­schung, eine Poli­tik des „Als-ob“, für Placebopolitik, Verschleierung, Verstellung, Über­tünchung, Verdrän­gung, für Politik als Unterhaltungsshow, als ästhetische Inszenierung, als Medienspektakel und Massenmanipulation.

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Teil A: Menschen und Bevölkerungen „Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse.“ Bertolt Brecht (1898–1956)

4. Globalisierung, Wirtschaftsunion und Neo-Kolonialismus 4.1 Altbekannte Erscheinungen Die sogenannte „Globalisierung“ ist kein völlig neues Phänomen. Bereits 1927, als Oskar Morgenstern (1902–1977) vergleichende Konjunktur- und Wachstumsforschung betrieb, stell­te er fest (Morgenstern 1927, S. 261): „Das Objekt der Konjunkturforschung kennt keine nati­onalen Grenzen, es handelt sich vielmehr wesentlich um ein international-weltwirtschaftliches Problem. Die theoretische Analyse der Wirtschaftsschwankungen, wie ihre deskriptive Dar­stellung, ihre statistische Erfassung und ihre rein historische Wiedergabe, haben diesem Tat­bestande Rechnung zu tragen.“ Eine Zwischenbilanz des IAW Tübingen für das Bundeswirt­schaftsministerium im Jahre 1974 ergab einen ähnlichen, kaum veränderten Stand (Ma­jer / Wagner 1974, S. 6). Im Sinne der zu bevorzugenden saldenmechanischen Zusammenhänge ging man bei der IAW-Untersuchung zunächst von diesen Mechanismen aus (Wagner 2009c, S. 284): (1) Waren- und Dienstleistungshandel, (2) Zahlungsverkehr und Kreditgewährung sowie Vermögenstransfer, (3) a) Bevölkerungswanderungen sowie b) Unternehmensmigrationen, (4) Informationsströme (als sozialpsychologische und entscheidungstheoretische Bindungen, insbesondere bei multinationalen Unternehmungen, aber auch zwischen Regierungen). (5) Übertragungen von Teilen der Rechts- und Wirtschaftsordnungen kommen bei der Bil­dung von Großterritorien vor (z. B. bei der Europäischen Union, mit der Gefahr der qualitati­ven „Herabmittelung“). Erst im Anschluss an die Mechanismen (1) bis (3) können weitere Modellteile sinnvoll einge­führt werden, wie man am Beispiel der Großmodelle MEMMOD der Deutschen Bundesbank und QUEST der Europäischen Kommission sieht. 4.2 Der zweckmäßige und haltbare Zuschnitt eines Wirtschaftsgebietes Was eine Volkswirtschaft ist, glaubt jeder zu wissen. Sie ist im Großen zumeist – wie ein Staat (nach der Dreierlehre von Georg Jellinek, 1851–1911) – aus (a) Staatsgebiet, (b) Staatsvolk der Staatsangehörigen und (c) Staatsgewalt mit dem

4. Globalisierung, Wirtschaftsunion und Neo-Kolonialismus

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Rechtssystem aufgebaut. In Deutschland leben rund 82,2 Millionen Menschen auf einer Fläche von 357 Tausend Quadratkilometern, in Frankreich kommen 62,3 Millionen auf eine Fläche von 544 Tausend Quadratkilometern und in den USA leben 314,7 Millionen Menschen auf 9,373 Millionen Quadratkilometern Staats­gebiet. Zu (a): Die befriedende Respektierung der Grenzen von Staatsgebieten bildete im Eu­ropa der Nachkriegszeit bis zum aktuellen Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 kein Problem. Zu (b): Zuflucht und Einwanderung sind die großen Probleme in Mitteleuropa und in den USA. Eine wahre „Völkerwanderung“ in die entwickelten und demografisch schrump­fenden Länder war bereits 1992 vorausgesagt worden (Prof. Michael Stürmer). Rege­lungen dafür stehen noch aus. Im Kleinen sind Bundesländer, Bezirke und Kreise sowie Städte und Sondergebiete mit ge­meint. Ökonomisch sind jedoch Akzente zu setzen. Herausragend wich­tig ist das Staatsvolk der Verfassung (Nation), das man sich – ökonomisch – als Gruppe von Menschen vorstellen soll, die bei ihrer Lebensgestaltung zusammenwirken wollen. Das gilt für Ost- und Westdeut­sche, für West- und Ostukrainer, für Katalanen und die übrigen Spanier sowie für viele, viele andere. Die frühere Sowjetunion und das alte Jugosla­wien haben sich in souveräne National­staaten zergliedert, weil die Völker nicht mehr „zu­sammenwirken woll­ten“. Staatsgebiete und Volkswirtschaften kann man nicht auf dem Reißbrett bestimmen, etwa nach dem geflügelten Wort des US-amerikanischen Soziologen Daniel Bell (1919–2011), wonach Nationalstaat und nationale Volkswirtschaft mittlerweile zu klein für die großen und zu groß für die kleinen Probleme des Lebens wären. Zwischen der Zweckmäßigkeit einer kontinenta­len und einer regionalen Dimensionierung von Wirtschaftsgebieten besteht also ein Span­nungsfeld. Eine historisch zufällig entstandene statistische Bevölkerung auf einem Gebiet reicht nicht aus für die Kennzeichnung einer groß- oder kleinräumigen Volkswirt­schaft. Nach Ausführungen des französischen Religionshistorikers Ernest Renan von 1882 müsse man eine Nation oder ein Staatsvolk als eine Solidargemeinschaft mit gegenseitiger Opfer- und Umver­teilungsbereitschaft verstehen. Ähnlich folgert man für eine regionalistische Position nach Georg W. F. Hegel, dass Zusammengehörigkeit nur eine begrenzte Reichweite hat, in der Sitt­lichkeit konkret in überschaubarer Gemeinschaft ausgelebt werden kann. Im Übrigen sollte eine Rechtsordnung bestehen, die positives Verhalten anregt und negatives verhindert, dem­nach so etwas wie „Enabling rules“ aufstellt. Die gute Ordnung einer Volkswirtschaft soll den Menschen gedeihliches Wirtschaften er­möglichen, ihnen aber auch die Zuversicht zur Familiengründung vermitteln. Den in Frei­heit agierenden Menschen muss eine Rechtsordnung als Rahmen vorgegeben sein, die Anreize für positives Verhalten zulässt oder setzt, aber auch negatives und gemeinschaftsschädliches Ver­halten verhindert. Die anzustrebende gute wirtschaftliche Ordnung, die mit allerlei wirt­schaftspolitischen Maßnahmen herbeigeführt wird, ist generell nichts anderes als der zentrale Erkenntnisgegenstand des Fachs „Law and Economics“. Beispielsweise ist ein Patentrecht erforderlich, das unternehmerische Neuerer und Erfinder vor sofortiger Nachah-

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Teil A: Menschen und Bevölkerungen

mung und Enteignung schützt, aber auch nach gewisser Zeit eine ent­geltliche Diffusion des Neuen in die Breite der Volkswirtschaft ermöglicht. Für Familien muss eine gute Wirtschaftsordnung den potenziellen Elternpaaren Optimismus über jeweils eine Zwanzig-Jahres-Periode hinaus vermitteln (u. a. auf auskömmlich bezahlte Beschäftigung), so dass sie trotz erheblicher Unsicherheit den „Schattenpreis“ eines Kindes (also die absehbare Differenz eines Lebens mit Kind und eines Lebens ohne Kind) mit Blick auf die Kinderfreuden auf sich nehmen, damit die Bestandserhaltung einer Bevölkerung (bei einer Netto­ reproduktionsrate von etwa Eins) möglich wird. Mit Einwanderungen ist eine per­ manente Kompensation demografischer Schrumpfung eines Staatsvolkes nicht möglich (wie ein Bevölkerungsforscher namens Keyfitz bereits 1971 geklärt hat). Eine ungebrochene de­mografische Schrumpfungstendenz kann m. E. summarisch auf ein bestehendes ordnungs­politisches Defizit sämtlicher Politikbereiche sowie des Unternehmenssektors zurückgeführt werden. Wie Joan V. Robinson 1965 in ihrem Buch über Wachstumstheorie schrieb, müsse die tiefsitzende, betrübliche Malaise unzulänglicher demografischer Stabilisierung in jedem Falle näher untersucht und überwunden werden. Den Bevölkerungsstatistiker Gerhard Gröner bewegte dazu in seiner Habilitationsschrift von 1976 die Vermutung, es gebe in der Abfolge der historischen Phasen nach Gerhard Mackenroth (1903–1955) für entwickelte, moderne Länder künftig eine prägende „Phase V“ der Schrumpfung (mit einem Fruchtbarkeitsniveau unterhalb der Bestandserhaltung) (Gröner 1976, S. 11). Interessant ist eine rechtswissenschaftliche Akzentuierung der Ordnungspolitik, die ganz ak­tuell vom Vorsitzenden der Monopolkommission Daniel Zimmer aus dem Bereich Law and Economics heraus formuliert wurde. Man solle die Rechtsordnung als eine Infrastruktur für die Ausübung von Freiheiten begreifen und eher weniger politische Eingriffe zulassen. Ord­nungspolitik aus dem Blickfeld der Wirtschaftstheorie: Makroökonomische Wirt­schaftstheorie für bestimmte Regionen und Zeiten manifestiert sich in Viel-Gleichungs-Mo­dellen, die mit statistischen Vergangenheitsdaten auf empirische Gültigkeit geprüft sind. Verhaltensglei­chungen, Technologiegleichungen, Institutionengleichungen sowie Real- und sons­tige Defini­tionsgleichungen für Gruppen von Wirtschaftseinheiten enthalten (a) Variablen für Einfluss­nahmen sowie (b) parametrische Konstanten und teilweise stillschweigende Rahmen­bedingungen. Ordnungspolitik zielt formal auf die verbessernde Ein­f lussnahme im Sinne von (b); Prozesspolitik setzt dagegen bei Variablen im Sinne von (a) an. Für (b) liefert die Öko­nomik plausible Vermutungen, die im Einzelnen nicht durch empirische Studien belegt sind. Für (a) dient das konkrete, jeweils vorliegende makroökonometrische Modell als Vorlage für nachvollziehbare Wirkungsrichtungen. Manche sagen zur Prozesspo­litik auch: Der Staat greift unmittelbar in die Güter-, Geld- und Arbeitsmärkte ein (etwa mit Straßenbauinvestitio­nen). Entgegen allem Anschein und gewagter Andeutungen bei Adam Smith (1723–1790) ist eine Nationalökonomie keine wirkliche „Maschine“, die man zukunftsgültig aus der Vergan­genheit heraus erforschen könnte!

4. Globalisierung, Wirtschaftsunion und Neo-Kolonialismus

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4.3 Auf dem Weg zu einem EU-Staatsvolk Die Grundstimmung in den 27 Ländern der Europäischen Union ist beileibe nicht so, dass man von jedem einzelnen Parlament die Zustimmung zu einem denkbaren „EU-Grundgesetz“ mit Aufgabe des nationalstaatlichen Vaterlandes erwarten könnte. Das einheitliche Heer müsste nach der Meinung vieler Leute den Anfang eines europäischen Einheitsstaates bilden – nichts anderes. Im Hinblick auf den oben erwähnten Angriff Russlands auf europäisches Staatsgebiet ist Verteidigung gefordert, aber auch Autarkie in das Blickfeld zu nehmen (vor allem bei Energie und Grundstoffen), wie es nach älterer Außenwirtschaftstheorie üblich war. Als Projektleiter des ersten umfassenden „Gastarbeiter“-Gutachtens von 1972 aus dem IAW Tübingen, das mit der Empfehlung regelrechter Einwanderungen endete, hatte ich mich mit dem „Rotationsprinzip“ auseinanderzusetzen, das der damalige Ministerpräsident Hans Fil­binger (1913–2007) vertrat: Die angeworbenen „Arbeitsmigranten“ sollten nach einer ge­wissen Zeit in ihre Heimatländer zurückkehren und sodann durch andere Personen ersetzt werden – jeweils ohne Familien. Später hat ein anderer Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Lothar Späth (1937–2016), in Vorträgen und Schriften wiederholt vor „Ein­wanderungen in die Sozialsysteme“ gewarnt. Beide Ministerpräsidenten – Filbinger und Späth – waren noch von einer gewissen „Fremdenfeindlichkeit“ bewegt. Bei Späth schwang aller­dings eine demografische Sachkenntnis mit, die Nathan Keyfitz (1913–2010) be­kanntgemacht hatte: Nur bei einer Nettoreproduktionsrate von Eins der Alteingesessenen könne die Bevölkerung der Staatsangehörigen stabilisiert und gleichmäßig strukturiert werden – permanente Zuwanderungen vermögen das nicht zu leisten. Mit Doppel- oder Mehrfachstaatsbürgerschaften – auch über das EU-Gebiet hinaus – ist das brüchig geworden, was der Bundespräsident Walter Scheel (1919– 2016) einst mit diesen Wor­ten klarstellte: „Die gewachsenen Elemente Europas sind die Nationen. Die Nation ist nicht überholt. Überholt ist die uneingeschränkte Souveränität des Nationalstaates.“ 4.4 Gibt es Tendenzen zu Imperialismus und zu Neo-Kolonialismus? „Ungewollt zur Größe“ gelangen, wie es Bodo Spiethoff (1918–2000) in seinem historischen Abriss den bayerischen Sparkassen 1955 bescheinigte, ist nicht bei allen erfolgreichen Län­dern die zutreffende Deutung der Entwicklung. Bereits jährliche Berichte der Bundesländer lassen es erkennen, wenn man stets bei diesem und jenem Kriterium den Platz Eins haben will. Imperialismus wird zwar nicht offiziell eingeräumt, aber im Stillen gelebt. Man will doch schwächere Bundesländer und Staaten gezielt politisch, wirtschaftlich oder kulturell abhängig oder gefügig machen. Als Neo-Kolonialismus setzt sich der geschichtlich überwun­dene Kolonialismus fort, sofern Staaten und Länder der Industrienationen den „globa-

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Teil A: Menschen und Bevölkerungen

len Sü­den“ die Abhängigkeit spüren lassen. Nötigenfalls werden nach fruchtlosen Forderungen – bisweilen über viele Jahre hinweg – Sanktionen verhängt (von USA aus denke man an Kuba sowie den Iran). Die Vergrößerung eines Staatsgebietes alleine ergibt keinen Zuwachs an wirtschaftlicher Stärke, eher schon die Intensivierung der „Bewirtschaftung“. Insofern bleiben manche Versuche zur Unterwerfung und Einverleibung anderer Staaten (z. B. Tibet, Ukraine) ökonomisch rätselhaft.

Galoppierende Inflation: „Nach meiner Geigenstunde musste die Frau des Musiklehrers jeweils sofort mit dem Geld zum Kaufmann laufen; denn nach der nächsten Stunde hatte das Geld bereits wieder weniger Kaufkraft.“ Werner Bauer (1912–2003)

Teil B

Geld, Zeit und Machtzuteilung 5. Geldwohlstand und Zeitwohlstand 5.1 Arbeitsfreude und Zeitwohlstand Tagediebe und Anfangssemester der Wirtschaftswissenschaften, aber auch Philosophen, ver­kennen die Arbeit als reine Beschwernis, deren „Arbeitsleid“ man kalkuliert auf sich nimmt, um zu Geld zu kommen, mit dem man sich sodann die eigentlich schönen Dinge des Lebens leisten kann. Beide könnten sich auf angesehene Irrlichter des Geisteslebens berufen. Die Phi­losophen Friedrich Schlegel (1772–1829) und Ortega y Gasset (1883–1955) bezeichneten nämlich die Faulheit als das letzte dem Menschen vom Paradies verbliebene Gut. Auch Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue (1842–1911) wie der Theologe Erich Benz (1907–1978) konstatierten sogar ein „Recht auf Faulheit“. Der geläuterte Marxist und Philosoph André Gorz (1923–2007) leitete daraus eine veränderte Sicht auf Arbeitszeitverkürzung und Arbeits­losigkeit ab: Man solle diese als „befreite Zeit“ begreifen – beim Übergang in eine neue, an­dere Zivilisation, bei der das „Volkseinkommen“ irgendwie anders anfällt. Vielleicht suchte man damals schon nach dem Phänomen des Zeitwohlstands, wie er schließlich von dem Sozi­ologen Harald Welzer (geb. 1958) und zuvor insbesondere von Gerhard Scherhorn (1930–2018) und anderen (vgl. Biervert / Held 1995) angesprochen wurde: Nutzen- und Wohlstands­ steigerung durch Wegfall der Zeit des Arbeitsleids? Es kann ja für die Volksmassen nicht die Lebensweise des Rentiers gemeint sein, die auf ei­nem stattlichen Vermögenseinkommen beruht. Gleichwohl führt eine Spur dorthin, die Thor­stein Veblen (1857–1929) gelegt hat: Die Befreiung von der Arbeit (Veblen 1971, S. 141 ff). Bei meiner Antrittsvorlesung am 9. Dezember 1986 an der Universität Tübingen sowie zuvor schon in wissenschaftlichen Veröffentlichungen habe ich die Zeitbudgets der Menschen the­matisiert. Unmittelbar angeregt hat mich seinerzeit Staffan B. Linder (1931–2000) mit seiner Abhandlung über die „Leisure Class“ (Linder 1970). Ich hätte damals ebenso gut Thorstein Bunde Veblen (1857–1929) mit seinem bekannten Buch „The Theory of the Leisure Class“ von 1899 heranziehen können (Veblen 1971). Die Zeitbudgets einzelner erwachse-

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Teil B: Geld, Zeit und Machtzuteilung

ner Men­schen sowie von ganzen Volkswirtschaften und ihren Bevölkerungszahlen werden noch immer viel zu wenig in der Nationalökonomik beachtet. 5.2 Der Mensch lebt nicht vom Brot allein Als „Politische Ökonomik“ umfasst die Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomik viel mehr, als herkömmliche Einführungslehrbücher ansprechen. Es geht um eine umfassende „Gesellschaftstheorie“ sozialökonomischer Zusammenhänge  – bis hin zu den mentalen Moti­vationen und ideologischen Wurzeln der Politik. „Der Mensch als Träger und Zweck der Volkswirtschaft“, wie Carl Jentsch (1831–1917) titelte, fordert und verdient eine weit gefasste Einschätzung seiner Bedürfnisse, nämlich 1. Gesundheit und Vitalität, 2. Ansehen und Respekt in der Gemeinschaft (mit Kontakt und Nähe zu den Menschen), 3. Vermögensbildung, 4. erfüllende Arbeitsaufgaben und 5. ein auskömmliches Einkommen zur Verwirklichung der materiellen Freiheit, 6. Vermeidung von Kriegen und innergesellschaftlichen Konflikten. Zu 1.: Aufgefallen war diese Selbstverständlichkeit bereits einem Heinrich von Storch (1766–1834). Unter dem Blickwinkel des Human- und Vitalvermögens einer Volkswirtschaft haben Theodore W. Schultz (1902–1998) und Günter Krüsselberg (1929–2018) dazu besondere Analysen vorgelegt. Querverbindungen ergeben sich zur Ressource Bevölkerung als der Gesamtheit menschlichen Zeitpotenziale einer Nationalökonomie (vgl. 1.5) sowie zum Bevölkerungsdenken („Population think­ ing“) der Evolutorischen Ökonomik, das auf Ernst Mayr (1904–2005) aus Kempten zurück geht. Die Gesellschaft als ein Verbund einmaliger, einzigartiger Individuen“ spricht m. E. für die Setzung der Annahme „aggregativer Stabilität“ (vgl. 11.4). Zu 2.: kann man Adam Smith (1723–1790) zu Wort kommen lassen: „Dass man uns bemerkt, dass man auf uns Acht hat, dass man mit Sympathie, Wohlgefallen und Billigung von uns Kenntnis nimmt.“ So hat Joachim Frohn (geb. 1941) im Jahr 2011 folgerichtig versucht, sein Makromodell mit Blick auf soziale Befindlichkeiten durch „soziale Variablen“ zu erweitern. Verbunden sind damit m. E. auch der „sozialpsychologische Kernprozess“ der Konjunkturen nach Walter A. Jöhr (1910–1987) sowie das Phänomen des „Systemvertrauens“ nach Niklas Luhmann (1927–1998), die sich in gesellschaftlichen Wellen von Optimismus und Pessimis­mus zeigen. Zu 3.: Der süddeutsche Volksmund sagt: „Hast Du was, so bist Du was.“ Ansehen hängt auch am Vermögen, wie die völlig verarmten Nachkriegs-Vertriebe-

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nen in der unfreiwilligen dörfli­chen Lebenswelt in Oberbayern erfahren mussten: Man blickte auf sie herab wie auf die früheren „Armenhäusler“ des Ortes, und die tonangebenden Großbauern nahmen wiederum die Kleinbauern nicht ernst. Im freiheitlichen Menschenbild von Erich Preiser (1900–1967) waren Selbstbestimmung und Entfaltung der Persönlichkeit stets auch mit Eigentum verbun­den. Nicht zufällig sah er jedoch in übergroßen Vermögen, die er als „Klassenmonopol“ ein­stufte, ein Ärgernis. Das Streben nach Vermögensbildung (z. B. durch Sparen) ist also zu­gleich ein Streben nach Ansehen in der Gemeinschaft. Dies hat Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) nicht erkannt, als er die „Akkumulation des Kapitals“ mit Zügen eines Messie-Syndroms in Verbindung brachte: sich statt im Müll in eigenen Milliarden einzumauern (En­zensberger 2019, S. 105). Um genau zu sein: Vermögensbildung durch Sparen dient (a)  dem Zukunftskonsum, aber auch (b) pauschal dem Ansehen des Vermögenden. Zu 4.: Siehe oben 5.1. Zu 5.: Die Massen der Habenichtse sind auf Arbeitseinkommen angewiesen, das ihr Budget für Konsumgüter aller Art und für die Vermögensbildung hergeben muss. Als einem potenzi­ellen Verbraucher und Nachfrager werden dem Menschen profunde Kenntnisse der Waren und Dienstleistungen zugeschrieben. Nur Gutes und Sinnvolles für die Lebensführung interes­siert vernünftige Verbraucher und Nachfrager. Schädliches, Ungutes „wird nicht angerührt“. Auf diese Weise soll sich Konsumentensouveränität in der Volkswirtschaft auswirken: Nur jene Güter, die vernünftige Verbraucher annehmen und nachfragen, bestimmen das Produkti­ ons- und Handelsgeschehen. Für die Gesamtheit der Bevölkerung soll sich alles Wirtschafts­geschehen nach den Nützlichkeitsvorstellungen der einzelnen regeln. Nachdenklich stimmen in diesem Zusammenhang das Nachfrageprofil aus dem Ausland und die darauf ausgerichte­ten Exportgeschäfte (z. B. Waffengeschäfte abseits ethischer Normen). Darüber hinaus: Schädlich in zweifacher Hinsicht – individuell sowie unternehmerisch – sind Führungs- und Organisationsdefizite, die zu der von Harvey Leibenstein (1922–1994) erforschten X-Ineffizienz führen. Die „Standard-Mikroökonomik“ setzt die vereinfachende Annahme, dass es für den Nachfrager und Konsumenten auf Konsumgüter ankommt, die in der betrachteten Wirtschaftsperiode entstehen und per Verbrauch untergehen. Der – nicht messbare – Nutzen leite sich aus diesen (4a) Private Goods ab. Es gibt weder Lagerbestände aus vergangenen Perioden noch Restbestände für die Zukunft. Bei mehr Realitätsnähe der Mikroanalysen ist der Blick zu erweitern auf anderes, das den Menschen Nutzen verschafft: (4b) Public Goods aller Art, die von allen Seiten der demokratischen Institutionen bereitgestellt werden (Sicher­heit, Krankenversorgung, Bildungseinrichtungen), (4c) Infrastruktur (Verkehrswege, Strom- und Wasserleitun­gen u. dgl.), (4d) Klimatische Lebensbedingungen (Wasser, Luft und mehr). Ferner im Privatbereich: (4e) Dauerhafte Konsumgüter (mit Nutzung über mehrere Perioden hinweg, etwa Maschinen im Haushalt), (4f) Immobilien (privat genutzt, in der Volks­wirtschaftsrechnung als private Investitionen registriert, etwa Eigenheime und Eigen­tumswohnungen), (4g) Vermögen (Ersparnisse) schlechthin,

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dessen Vorhandensein den Men­schen positive Ge­fühle verschafft (siehe Ansehen und Respekt oben, Selbstwertgefühl). Eine „Fortgeschrittene Mikroökonomik“ wäre demnach konzeptionell erheblich zu erweitern, wo­bei die Hürde der NichtMessbarkeit in verstärkter Form bestehen bliebe. Staatsbürgerlich eingebundene Wirtschaftsmenschen müssen neben der eigenen Freiheit und dem eigenen Wohlstand auch Freiheit und Wohlstandserwartungen der anderen Menschen (evtl. sogar der Weltbevölkerung) einbeziehen. Dies zu erwarten, ent­spricht am ehesten dem „solidaristischen Menschenbild“ eines Oswald von Nell-Breuning (1890–1991). Zu 6.: Dies ist als ein selbstverständliches Lebensziel zu verstehen. Es wird in der Gegenwart durch den schändlichen Angriff Russlands auf die Ukraine allen Leuten bewusst, aber auch durch allerlei innergesellschaftliche Konflikte anderswo. 5.3 Geldoptimale und zeitoptimale Konsumpläne Die Zeit des Genusses kann sich ein Konsument nicht sinnvoll durch einen Stellvertreter er­kaufen. Er muss sie im Rahmen seines Zeitbudgets selbst aufbringen. Zeitbudget und Geld­budget sind deshalb unabhängige Restriktionen. Für zwei Konsumgüter (x1 und x2) kommen deshalb bei Ausschöpfung des Geldbudgets (C) zwei Geld-Preise (p1 und p2) oder bei Aus­schöpfung des Zeitbudgets (Z) zwei Konsumzeit-Inputkoeffizienten (z1 und z2) zum Ansatz (Wagner 2009b, S. 436): C = p1x1 + p2x2  und  Z = z1x1 + z2x2

Könnte man empirisch (!) jeweils eine einschlägige (substitutionale)  Nutzenfunktion einer Person für die beiden Güter kennen, so wäre man in der Lage, die lehrbuchüblichen „optima­len Konsumpläne“ für zwei Güter zu bestimmen (geldoptimal bzw. zeitoptimal) sowie ein­zelwirtschaftliche Nachfragefunktionen abzuleiten. Tatsächlich ist dies nicht möglich. Inso­fern ist „Freiheit“ nicht rechenhaft verfügbar. Insofern muss man die tatsächlichen Konsu­mentscheidungen im Rahmen der Budgets der Empirie überlassen. Oftmals besteht bei den Massen der Konsumenten mit Blick auf ihre Budgets Geldillusion, indem man die oft „schleichende Inflation“ über die Jahre hinweg nicht als eine Verminde­rung des Realeinkommens und des realen Geldvermögens wahrnimmt. Unübersehbar wird das Problem der Geldillusion oft erst dann, wenn man „galoppierende Inflation“ erlebt: „Nach meiner Geigenstunde musste die Frau des Musiklehrers jeweils sofort mit meinem Geld zum Kaufmann laufen; denn nach der nächsten Stunde hatte das Geld bereits wieder weniger Kaufkraft“ (so Werner Bauer, 1912–2003). Anzumerken ist, dass eine begründete und verwirk­ lichte Geldillusion in der Rechtswissenschaft ihren Platz hat: Das „Mark-gleichMark-Prinzip“ früherer Tage sowie das „Euro-gleich-Euro-Prinzip“ seit 2002 solle gewährleisten, dass Schuldverhältnisse ohne Gewinne oder Verluste durch Inflation oder Deflation für einen der beiden Vertragspartner von Schuldverhältnissen eintreten.

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5.4 Heteronome Änderungen der Spar- und Konsumquoten Empirisch handhabbar sind die Budget-Gleichungen für die Auswirkungen struktureller Ver­änderungen in der erwachsenen Bevölkerung („Staatsvolk“ der Staatsangehörigen plus legal ortsanwesende Ausländer). Einerseits kann man autonome Sparquoten-Änderungen von Gruppen betrachten, und andererseits sind heteronome Sparquoten-Änderungen zu registrie­ren, sofern sich die Gruppenanteile und -gewichte in der Bevölkerung verändern. Übliche Gruppen sind entweder Unternehmerhaushalte und Arbeitnehmerhaushalte oder aber Haus­halte mit einschneidender Geldbudget-Restriktion („Haushalte in Geldnot“) und Haushalte mit einschneidender Konsumzeit-Restriktion („Haushalte in Zeitnot“). Wir greifen den zweiten Fall der erwähnten Strukturen auf: „Haushalte in Geldnot“ (Anteil h) und „Haushalte in Zeitnot“ (Anteil q). Im Laufe des Wachstums von Wohlstand und Volks­einkommens kann man sich einen Übergang der Konsumenten über drei Strukturepochen vorstellen: Epoche A (mit h = 1 & q = 0) Epoche B (mit 0