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German Pages [427] Year 2020
Benedikt Brunner
Volkskirche Zur Geschichte eines evangelischen Grundbegriffs (1918-1960)
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte
Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 77
Vandenhoeck & Ruprecht
Benedikt Brunner
Volkskirche Zur Geschichte eines evangelischen Grundbegriffs (1918–1960)
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0874 ISBN 978-3-666-54080-6
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Hinführung zum Thema und Fragestellung . . . . . . 1.2 Theorie und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Quellenlage und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . 1.4 Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Begriffsgeschichte der Volkskirche bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Volkskirche in der langen Krise der Weimarer Republik . . . . . . 2.1 Die evangelischen Kirchen in der Weimarer Republik . . . . . 2.2 Theologiehistorische Entwicklungen des Zeitraums . . . . . . 2.3 Spannungsfeld I: Kirche und Staat . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Kriegsende und Volkskirchenbewegung . . . . . . . . . . 2.3.2 Die drohende Trennung von Kirche und Staat und ihre Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Spannungsfeld II: Kirche und Gesellschaft . . . . . . . . . . . 2.4.1 Volkskirche in der demokratischen Gesellschaft . . . . . 2.4.2 Der Nutzen der Volkskirchlichkeit . . . . . . . . . . . . . 2.5 Spannungsfeld III: Binnenkirchliche Debatten . . . . . . . . . 2.5.1 Der Streit um das Bekenntnis der Volkskirche . . . . . . 2.5.2 Volkskirche als Motiv in den Auseinandersetzungen um die neuen kirchlichen Verfassungen . . . . . . . . . . . 2.5.3 Zwischen „ecclesia triumphans“ und der Dämonie der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Monografische Systematisierungen und lexigrafische Verfestigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Volkskirche in den Auseinandersetzungen während der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der nationalsozialistische Staat und die evangelischen Kirchen . 3.2 Theologiegeschichtliche Entwicklungen im „Dritten Reich“ . . 3.3 Spannungsfeld I: Kirche und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Herausforderungen durch den neuen Staat . . . . . . . . . 3.3.2 Radikalisierung und Neubewertung nach 1935 . . . . . .
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Inhalt
3.4 Spannungsfeld II: Kirche und Gesellschaft . . . . . . . . . . . 3.4.1 Volkskirche und die spannungsreichen Verortungen zur „Volksgemeinschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 „Kirche im Angriff“? – der Streit über das Verhältnis von „Volkwerdung“ und Volkskirche . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Kontinuität nach Barmen? . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Der anhaltende volksmissionarische Impetus . . . . . . . 3.5 Spannungsfeld III: Binnenkirchliche Debatten . . . . . . . . . 3.5.1 Der Streit über die „Theologische Existenz heute“ und seine Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Volkskirche als umstrittenes Identitätskonzept . . . . . . 3.5.3 Systematisierungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Begriffliche Alternativen und Konkurrenzen innerhalb und außerhalb der Landeskirchen . . . . . . . . . . . . 3.6 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. 212 . 217 . 224 . 227 . 230
4. Restitution der Volkskirche auf tönernen Füßen? Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Ende der 1950er Jahre . . . . . . . . . 4.1 Die evangelischen Landeskirchen zwischen „Restauration“ und Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Theologisches Denken auf alten und neuen Pfaden . . . . . . . 4.3 Spannungsfeld I: Kirche und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen des „Kirchenkampfes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Volkskirche als Öffentlichkeitskirche . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Volkskirche und demokratischer Staat . . . . . . . . . . . 4.3.4 Ein neuer „Kirchenkampf“? . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Spannungsfeld II: Kirche und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Vom Volk zur Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Volkskirche als diakonische Aufgabe . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Volkskirche als missionarische Aufgabe . . . . . . . . . . . 4.4.4 Volkskirchlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft . . . . 4.5 Spannungsfeld III: Binnenkirchliche Debatten . . . . . . . . . . 4.5.1 Konfessionelle Differenzierungen im Verständnis der Volkskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Der Blick von außen: Volkskirche als spezifisch deutsche Organisationsform von Kirchlichkeit . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Inkubationszeit des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 „Kirche – wohin?“ Die Diskussionen in der DDR . . . . . . 4.6 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
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Inhalt
6. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 7. Quellen- und Literaturverzeichnis 7.1 Zeitschriftensample . . . . . 7.2 Quellen . . . . . . . . . . . . 7.3 Literatur . . . . . . . . . . . .
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8. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Vorwort Die hier vorgelegte Monografie basiert auf den ersten vier Kapiteln meiner 2017 in Münster verteidigten Dissertationsschrift (Die Ordnung der Kirche. Eine Geschichte der Volkskirche im deutschen Protestantismus, 1918–1991).1 Für die Drucklegung wurde die Arbeit gekürzt und an einigen Stellen überarbeitet. Literatur, die nach 2017 erschien, konnte nur vereinzelt noch eingearbeitet werden. Ich danke den Herausgebern der „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“, Prof. Dr. Siegfried Hermle und Prof. Dr. Harry Oelke für die Aufnahme in die Reihe und Ihnen sowie den Gutachtern für viele wertvolle Hinweise. Auch wenn das Schreiben eines Buches in der Tat viele einsame Stunden am Schreibtisch bedeutet, so geht es doch nicht allein. Deswegen ist die Drucklegung eine willkommene Gelegenheit, Dank zu sagen. Die Reise nahm ihren Anfang in Münster im Kontext des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“. Der erste Dank gebührt darum meinem Doktorvater Prof. Dr. Thomas Großbölting, der mich als wissenschaftlichen Mitarbeiter in sein Clusterprojekt holte. Er ließ mir große Freiheit bei der Auswahl und Gestaltung der Arbeit. Für die vielfältige Förderung und die fortwährende Ansprechbarkeit und Diskussionsbereitschaft bin ich ihm sehr dankbar. Prof. Dr. Albrecht Beutel erklärte sich bereit, das Zweitgutachten zu erstellen und unterstützte mich dabei, ein kirchenhistorisches Profil zu entwickeln. Am Cluster war ich Teil der dortigen Graduiertenschule. Mein Mentor war dort Prof. Dr. Klaus Große Kracht. Bei ihm hatte ich schon meine erste Stelle als Studentische Hilfskraft. Sein Mentorat ging weit über die Jahre an der Graduiertenschule hinaus. Ich habe sehr viel von ihm gelernt und bin dafür sehr dankbar. Nicht zuletzt stieß er mich bei einem Kaffee auf den Begriff der Volkskirche. Wer hätte damals gedacht, dass daraus ein Buch entsteht. Noch vor Abschluss der Dissertation durfte ich als Assistent an den Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte, insbesondere Reformationsgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität nach Bonn wechseln. Für die Ermöglichung dieses Schrittes, mit dem sich auch mein Wechsel in die Kirchengeschichte vollzog, bin ich Frau Prof. Dr. Ute Mennecke ebenso dankbar, wie für die inhaltlichen Anregungen. Das Lehrstuhlteam um Helen Siegburg hat mich in vielfältiger Weise auf meinem Weg unterstützt und Bonn zu einer neuen Heimat werden lassen. Dankbar bin ich auch für die entstandenen 1 Das fünfte Kapitel, das sich in deutsch-deutscher Perspektive mit dem Zeitraum zwischen 1960 und 1991 beschäftigt, soll separat erscheinen.
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Vorwort
Freundschaften aus dieser Zeit, die mich hoffentlich noch weiter begleiten werden. Die dritte Etappe, die vor allem die Korrektur der Fahnen beinhaltete, fand dann am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz statt. Ich danke besonders Frau Prof. Dr. Irene Dingel von der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte sowie den Mainzer Kolleginnen und Kollegen, dass ich ein Teil dieses intellektuell hochanregenden Forschungsstandortes werden durfte. Frau Dingel danke ich dafür, dass sie mir den Freiraum für den Abschluss dieses Buches ermöglichte. An verschiedenen Orten durfte ich Teile meines Projektes zur Diskussion stellen, vor allem in den Oberseminaren bei Prof. Albrecht Beutel in Münster und bei Prof. Harry Oelke in München konnte ich meine Ideen einem konstruktiv-kritischen Publikum präsentieren. Die Graduiertenschule des Exzellenzclusters war auch in dieser Hinsicht ein wichtiges intellektuelles Umfeld. Besonders gerne denke ich an die Gespräche mit Dr. Sarah Thieme, Dr. Ulrike Stockhausen und Alexander Dölecke zurück. Freunde und Kollegen (oftmals in Personalunion) halfen bei der Lektüre des Manuskripts und wiesen auf Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten hin. Ich danke Dr. Henning Bühmann, Dr. Andrea Hofmann, Dr. Claudia KühnerGraßmann, PD Dr. Christoph Lorke, Dr. Jonas Stephan und Dr. Julia Winnebeck. Das gesamte Manuskript hat Julia Emmy Reinartz-Rains gelesen und sich darüber hinaus mit unzähligen Hilfen für den Erfolg des Unterfangens verdient gemacht. Ihr danke ich ebenso wie der Neusser „Wahlverwandtschaft“, Elisabeth Reinartz Rains und der leider viel zu früh verstorbenen Susanne Reinartz (1960–2018). Ein früher Förderer, der meine Begeisterung für das historische Fragen und Arbeiten weiter entfachte, ist mein Geschichtslehrer Dr. Günter Hommer, der mir den unwiderstehlichen Reiz des Faches deutlich machte. Meinen Freunden Carina Baedorf, Dr. Rainer Eckel, Sebastian Kirschner, Jonas Stephan, Gabriel Rolfes, Fabienne N’Siela, Charly und Tibor Schaarschmidt, Timo und Roni Panke, Gianna Zipp sowie vor allem meiner Frau Lena Brunner danke ich für vielfältige willkommene Ablenkungen. Caspar und Minca taten das Ihrige dazu. Meine Schwiegerfamilie hat mich mit weit geöffneten Armen willkommen geheißen: Danke! Allen danke ich dafür, dass Sie mir immer mit viel Geduld und Wohlwollen begegneten, wenn ich mich wieder in allzu lange Exkurse ergab und ungefragt ellenlange Quellen- und Literaturreferate zum Besten gab. Der wichtigste Dank geht an meine Familie. Meine Mutter tut seit jeher alles, was sie kann, und erfreut sich an meinem Vorankommen. Als alleinerziehende Mutter hat sie mir und meinem Bruder gezeigt, was man mit großem Durchhaltevermögen und Kämpfergeist erreichen kann. Sie ist die Beste. Mein Großvater Theodor Enkrodt (1934–2012) erzählte mir, dem ständig Fragenden, die ersten Geschichten, meistens vom Krieg. Sein geduldiges Antworten und anschauliches Erzählen haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In großer Dankbarkeit denke ich an Ihn und meine Großmutter Johanna
Vorwort
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Enkrodt (1936–2019) zurück, die mich in jeglicher Form gefördert haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Zu Beginn der Arbeit war nicht absehbar, dass der wichtigste Einschnitt in meinem Leben nach Abschluss des Promotionsverfahrens eintreten sollte: Ich lernte Lena kennen und lieben. Ihr gehört mein größter Dank, der sich nur schwer in Worte fassen lässt. Ostern 2020 Benedikt Brunner
1. Einleitung Die Einleitung expliziert zunächst die Fragestellung dieser Arbeit sowie die erkenntnisleitenden Frageachsen (1.1). Anschließend werden das theoretische und methodische Gerüst vorgestellt (1.2), die Quellen und der aktuelle Forschungsstand referiert (1.3), sowie die Vorgehensweise erörtert (1.4). Abschließend wird ein Exkurs die Begriffsgeschichte der Volkskirche bis zum Beginn des Untersuchungszeitraums nachzeichnen (1.5).
1.1 Hinführung zum Thema und Fragestellung Volkskirche ist vielleicht kein blindes, aber doch ein undeutliches Wort.1 Am Anfang dieser Untersuchung steht die Beobachtung, dass die Rede von der Volkskirche seit den Anfängen um das Jahr 1800 bis heute nicht an ihr Ende gekommen ist.2 Dies vermag in einer Zeit, in der die Bezugnahme auf das „Volk“ lange Zeit als anachronistisch galt, umso mehr erstaunen. Somit stellt sich die Frage, was die deutschen Protestanten des 20. Jahrhunderts unter Volkskirche verstanden haben, was dieser Begriff repräsentierte und worin schließlich sein „Erfolg“ begründet lag. Und nicht zuletzt: Welche Geschichte(n) erzählte man von sich selbst, wenn man sich des Volkskirchenbegriffs bediente?3 Die Theologen, kirchenleitenden Persönlichkeiten und „Laien“, die sich im 20. Jahrhundert immer wieder, in unterschiedlichen Kontexten und mit oftmals divergierenden Intentionen zum Thema äußerten, teilen in ihren Aussagen einen wesentlichen Bestandteil ihres Selbstverständnisses mit. Die „Identitätsgeschichte des Protestantismus“ kann für das 20. Jahrhundert ohne eine Berücksichtigung der zentralen Selbstbeschreibungen und Grundbegriffe nicht geschrieben werden.4 Die gegenwärtige Relevanz des Themas lässt sich anhand von zwei exemplarischen Bereichen verdeutlichen: zum einen fällt die anhaltende Verwendung des Begriffs in der Praktischen Theologie ins Gewicht. Thomas Schlag fragt in seiner Studie zur „Öffentlichen Kirche“: „Wie spät ist es für die 1 Vgl. für dieses Bonmot Grundmann (Hg.), Heckel. Hierbei handelt es sich um ein Luther-Zitat aus dessen 1539 erschienener Schrift „Von den Konziliis und Kirchen“ (WA 50,625,60), wo dieser, bezogen auf die Kirche, von einem blinden Wort spricht. 2 Vgl. Sarx, Ursprüngen, 113. 3 Vgl. zum Ursprung dieser Sentenz Geertz, „Deep Play“. 4 Vgl. Beutel, Spurensicherung.
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Einleitung
Volkskirche?“5 In ähnlicher Weise spricht der Titel einer Aufsatzsammlung Kristian Fechtners dann feststellend von der „[s]päten Zeit der Volkskirche“.6 Gleichzeitig gibt es aber zum anderen noch positivere Konnotationen des Begriffs. So sehen Bernd-Michael Haese und Uta Pohl-Patalong im „Weiterdenken“ der Volkskirche einen Impuls, um „Zukunftsperspektiven der Kirche in einer religiös pluralen Gesellschaft“ zu entwickeln.7 Auch auf der Ebene der Kirchenleitungen, zumindest bei vielen westdeutschen Landeskirchen, lassen sich leicht zahlreiche Belege für ein anhaltendes Bekenntnis zur Volkskirche aufzeigen. Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, äußerte sich kurz nach ihrer Wahl auf die Frage, wie sie sich ihre Kirche am Ende ihrer Amtszeit vorstelle, folgendermaßen: „Kleiner, das Kleid passt, aufrecht, stark, immer noch Volkskirche und konzentriert auf das Wesentliche.“8 Der Rekurs auf die Volkskirche scheint für viele Kirchenleitungen noch immer eine identitätsstiftende Funktion zu besitzen und ein zentrales Moment der Selbstbeschreibung zu sein. Martin Hein, der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, betonte etwa, dass die Kirche, deren Bischof er ist, „nach wie vor am Konzept der ,Volkskirche‘“ festhalte. „Wir wollen sowohl eine Kirche im Volk als auch für das Volk und aus dem Volk sein. Wobei das Wort ,Volk‘ besser durch ,Bevölkerung‘ ersetzt oder zumindestens interpretiert werden sollte, damit dieser Begriff nicht eine historische Schieflage bekommt. Das meint: Wir wollen auch weiterhin als Kirche für die gesamte Gesellschaft Verantwortung übernehmen und mittragen. […] Vereinskirchliche, freikirchliche oder sonstige, eher selbstbezogene Formen der Organisation von Kirche kommen für uns nicht in Frage, da wir den Auftrag des Evangeliums so verstehen, wahrhaftig ,unter alle Völker zu gehen‘ (Mt. 28). Das wird und soll auch unter den möglicherweise sich einstellenden Bedingungen einer ,Minderheitenkirche‘ geschehen, wobei wir – wenn man die Zahlen in entsprechende Kontexte setzt – von einer solchen Situation noch weit entfernt sind.“9
Zumindest in den westdeutschen Landeskirchen verortet man sich also noch immer „volkskirchlich“ und eben ausdrücklich in Abgrenzung zu „eher selbstbezogenen“ Konkurrenzkonzeptionen wie der Freikirche. So wird schnell deutlich, dass, wer den deutschen Protestantismus der Gegenwart verstehen will, die Geschichte der volkskirchlichen Semantiken kennen muss.10 Weitaus geringere Bedeutung hatte der Begriff hingegen für den 5 Vgl. Schlag, Kirche, 11–18 sowie jüngst Anselm / Albrecht, Protestantismus. 6 Vgl. Fechtner, Zeit. 7 Vgl. Haese / Pohl-Patalong, Volkskirche; vgl. außerdem Hermelink, Organisation, 103–110; Klessmann, Anmerkungen, 2–19; L mmlin, Religionspraxis; Kohli Reichenbach / Krieg, Volkskirche; Schulz, Ort, 89–106; Hermelink, „Volkskirche“, 3–12; Huber, Volkskirche. 8 O. A., Präses, 17. 11. 2011, 4. 9 Brief von Bischof Martin Hein an den Verfasser, 03. 04. 2014. 10 Dies gilt auch und gerade trotz des auffälligen Befundes, dass das Konzept in den Landeskirchen
Hinführung zum Thema und Fragestellung
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deutschen Katholizismus, weshalb katholische Stimmen in dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden. Ähnliches gilt für die Positionen aus dem freikirchlichen Spektrum. Es sind jedenfalls, wie noch weiter auszuführen sein wird, nicht zuletzt die Gegenbegriffe zur Volkskirche, bzw. deren Feindbegriffe11, in ihrer Bedeutung für die Begriffskonstruktion zu untersuchen. Den Forderungen aus der Religionsgeschichte, die die Erforschung zentraler Begriffe auf die Agenda gesetzt haben, wurde bislang noch kaum Folge geleistet, selbst bei einem Beispiel von so augenfälliger Relevanz wie der Volkskirche. Eine Geschichte der kirchlichen und religiösen Grundbegriffe mit Blick auf das 20. Jahrhundert ist jedenfalls ein noch weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld. Friedrich Wilhelm Graf hat in den letzten Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass die Interpretation der Theologiegeschichte ein ernstzunehmendes Desiderat darstellt.12 Außerdem forderte er mehr „analytische Kompetenz zur Erschließung der Binnenseiten des christlich-religiösen Bewußtseins […]“13, die auf diesem Wege zu erreichen ist. Daneben war es vor allem Lucian Hölscher, der überzeugend das Forschungspotenzial begriffshistorisch orientierter Religionsgeschichte deutlich gemacht hat.14 Wenn man zeithistorische Forschung im Anschluss an Hans Günter Hockerts als eine Tätigkeit versteht, die dem Aufspüren der „Vorgeschichte heutiger Problemkonstellationen“15 dient, dann ist die Aufarbeitung der Geschichte der Volkskirche ein längst überfälliges Unterfangen. Historisch relevant sind die zahlreichen Querverbindungen zwischen Kirche und Staat,
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der neuen Bundesländer kaum mehr eine Rolle spielt. Gleichwohl entwickelten sich die ostdeutschen Kirchenkonzeptionen als Weiterentwicklung der Volkskirche. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass es den Protestantismus ebenso wenig gegeben hat, wie die eine, alle anderen dominierende Volkskirchenkonzeption. Ersteren schränke ich in zweierlei Weise ein: zum einen konzentriere ich mich lediglich auf den landeskirchlich organisierten Protestantismus, womit alle freikirchlichen und freien protestantischen Gruppierungen und Kirchen außen vor bleiben. Zum anderen konzentriert sich die Arbeit auf Personen der protestantischen Elite aus Theologie, Kirche und Gesellschaft. Die hier vorgelegte Arbeit setzt keinen Volkskirchenbegriff voraus, von dem sie dann die historischen normativ abgleicht. Gleichwohl interessiert sie sich dafür, welche begrifflichen Konstruktionen und damit verbundenen Konzeptionen wann und wie Dominanz gewinnen, respektive verlieren. Vgl. Koselleck, Feindbegriffe; Hçlscher, Begriffe. Vgl. Graf, Euro-Gott, 250–253. Graf, Baustelle, 10. Graf führt weiter aus: „Vielleicht ist es ein entscheidendes Problem der […] derzeit betriebenen Religionsforschung, dass hier sehr viel von Milieu, Nation, Identität und Vergemeinschaftung die Rede ist, aber der Glaube der Frommen, ihre Frömmigkeit […], ihr religiös codierter Habitus und nicht zuletzt ihre konfessorischen Selbstzeugnisse nur selten zur Sprache kommen.“ (ebd.). Vgl. Hçlscher, Baupläne, vor allem in der Einleitung, in der er die Signifikanz des Begriffs der Volkskirche betont (ebd., 10); ferner Hçlscher, Religion. Das Potenzial für die historische Forschung verdeutlicht auch ein Aufsatz der den protestantischen Volkskirchendiskurs mit den katholischen Konzeptionen des „Volk Gottes“ in ausgewählten Zeitschriften miteinander vergleicht, vgl. Gettys, Kontroversen. Hockerts, Zeitgeschichte, 124.
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Einleitung
sowie Kirche und Gesellschaft, die von den Theologen und in der Kirchenleitung tätigen Personen im Modus der Selbstbeobachtung hergestellt wurden. Die Konjunktur religionshistorischer Themen in den letzten Jahren hat deutlich gemacht, dass für ein angemessenes Verständnis der modernen Gesellschaften eine umfassende Berücksichtigung der religiösen Akteure nötig ist.16 Ausgehend von diesen Überlegungen sollen die Geschichte des Konzepts der Volkskirche und die mit dieser Geschichte verbundenen Semantiken im 20. Jahrhundert in drei Bereichen untersucht werden. Die erste Ebene fragt nach den Selbstverortungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, während die zweite das Verhältnis zwischen der Kirche und der Gesellschaft in den Blick nimmt. Drittens wird dann die Bedeutung der innerkirchlichen Debatten im Vordergrund stehen, in denen die Volkskirche auf vielfältige Art und Weise eine Rolle spielte. Buchstabiert man die mit diesen Ebenen verbundenen Fragestellungen noch genauer aus, wird es auf der ersten vor allem darum gehen, wie sich die unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftsformen auf den Volkskirchenbegriff ausgewirkt haben. Hier zeigt sich in konzentrierter Form, wie die Akteure sich zur Weimarer Demokratie, zum Nationalsozialismus, zur neugegründeten Bundesrepublik usw. positionieren wollen und welche Rolle nach Überzeugung der Protagonisten der Kirche in der jeweiligen Staatsform zugedacht wird. Die zweite Ebene fokussiert hingegen stärker die Selbstverortung der Kirche als Volkskirche in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Oft gehen mit dem Wechsel der Staatsform auch gesellschaftliche Wandlungsprozesse einher. Es soll hier aber vor allem darum gehen, wie sich die gesellschaftlichen Dispositionen zur Kirche veränderten und welche kirchlich-theologischen Reaktionen hierauf durch den methodischen Zugriff der Begriffsgeschichte ermittelt werden können. Verändert sich die Semantik des Begriffs im Zuge gesellschaftlichen Wandels? Welche Anpassungs- oder Abwehrmaßnahmen werden unternommen? Auf der dritten Ebene soll untersucht werden, wie die Deutungskämpfe in den innerkirlichen Debatten abliefen und auf welche Weise und mit welchen Intentionen hier über die Volkskirche gestritten wurde. Dass es dabei dennoch zu Überschneidungen auf den drei Frageachsen kommt, zeigt die Vielschichtigkeit des Begriffs und der Debatten um ihn und wird darum auch bewusst in Kauf genommen. Im Rahmen der Arbeit gilt es, den Begriff, die Idee und das Konzept der Volkskirche analytisch zu trennen. Die begriffliche Analyseebene zielt auf den Diskurs „Volkskirche“ ab und die eher abstrakten und oftmals ephemeren Gebrauchsweisen des Wortes. Der Volkskirchenbegriff beinhaltet die Elemente, die die „Volkskirche“ abstrakt gesehen konstituieren.17 Die Untersuchung der Volkskirchenidee meint hingegen das Ideal der „Volkskirche“ als 16 Vgl. etwa Grossbçlting, Himmel; Dipper, Religion sowie die Beiträge in dem Sammelband von Graf / Grosse Kracht, Religion. 17 Vgl. Stolzenberg, Begriff.
Theorie und Methodik
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„gedachte Ordnung“ (M. Rainer Lepsius). Folglich geht es darum, wie theologische Denker die ihrer Ansicht nach bestmögliche Form kirchlicher Gemeinschaft in die Vorstellung einer „Volkskirche“ implementierten.18 Mit dem Volkskirchenkonzept sind schließlich die tatsächlichen Umsetzungsversuche der Volkskirchenidee gemeint, also die konkreten Entwürfe von volkskirchlichen Strukturen. Die identitätsstiftende Funktion der Volkskirche zeigt sich selbst dort, wo man sich gegen sie wendet.19 In der Historischen Semantik des Begriffs spiegelt sich der Wandel der Selbstbeschreibungen20 im deutschen Protestantismus des 20. Jahrhunderts wider.21
1.2 Theorie und Methodik Es gibt keinen Königsweg für die Untersuchung eines Begriffs und der mit ihm verbundenen Verwendungszusammenhänge. Angebote aus dem Bereich der „Neuen Ideengeschichte“ – der man auch die Begriffsgeschichte und Historische Semantik zuordnen kann – gibt es freilich genug.22 Die hier zur Anwendung kommende Theoriekomposition nimmt ihren Ausgang bei der Begriffsgeschichte Koselleck’scher Prägung. Sie folgt der Prämisse, dass die jeweilige Quellensprache, die dem Historiker begegnet, und die zentralen Begriffe, die er in seinem Untersuchungszeitraum in den Quellen ausmachen kann, „selbst auf ihre Geschichtlichkeit hin zu befragen und [auf] ihre Rolle im und für den historischen Wandel zu bestimmen“23 seien. Koselleck24 definierte sie einmal wie folgt:
18 Vgl. hierzu Graf, Ideengeschichte. 19 Man könnte also auch von einer „imagined community“ sprechen, vgl. Anderson, Communities. 20 Vgl. Pohlig, Wandel. 21 Der Frage, ob die evangelischen Landeskirchen auch „von außen“ als Volkskirchen angesehen worden sind, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgegangen werden; es ist aber zu vermuten, dass die Begrifflichkeit in den Beschreibungen staatlicher, bzw. nicht-kirchlicherseits eine geringer Bedeutung hatte. 22 Die drei einflussreichsten Programme sind die französische Mentalitätsgeschichte, die Cambridge School der politischen Ideengeschichte sowie die vor allem in Deutschland entwickelte Sozialgeschichte der Ideen. Frank Becker ordnet darüber hinaus die Historische Diskursanalyse der Mentalitätsgeschichte und die Politische Kulturforschung nach Rohe der deutschen sozialhistorischen Ideengeschichte zu (Becker, Weg). Allen drei Richtungen sind verschiedene Stärken und Schwächen zu Eigen, auf die an dieser Stelle aber nicht weiter eingegangen werden muss. Vgl. aber die ausgewogene Darstellung der Stärken und Schwächen bei Becker, Weg und Stollberg-Rilinger, Einleitung sowie die Ausführungen bei Schorn-Sch tte, Ideen-, Geistes-, Kulturgeschichte, M ller, History und M ller / Schmieder, Begriffsgeschichte. 23 Kollmeier, Begriffsgeschichte, 420. 24 Zu Koselleck vgl. Daniel, Kompendium, 166–194; Olsen, History.
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Einleitung „Als ,Begriffsgeschichte‘ (engl. conceptual history) bezeichnet man seit den 1950er Jahren ein Konzept geschichtswissenschaftlicher Forschung, das Sprache nicht als Epiphänomen der sogenannten Wirklichkeit […], sondern als methodisch irreduzible Letztinstanz versteht, ohne die keine Erfahrung und keine Wissenschaft von der Welt oder von der Gesellschaft zu haben sind. Für die Begriffsgeschichte ist Sprache einerseits Indikator der vorgefundenen ,Realität‘, andererseits Faktor dieser Realitätsfindung. Die Begriffsgeschichte ist weder ,materialistisch‘ noch ,idealistisch‘; sie fragt sowohl danach, welche Erfahrungen und Sachverhalte auf ihren Begriff gebracht werden, als auch danach, wie diese Erfahrungen oder Sachverhalte begriffen werden. Die Begriffsgeschichte vermittelt insofern zwischen den Sprach- und den Sachgeschichten.“25
Eine der verschiedenen Aufgaben einer begriffsgeschichtlichen Zugangsweise sieht Koselleck in der „Analyse von im Lauf der Geschichte auftretenden Konvergenzen, Verschiebungen oder Diskrepanzen des Verhältnisses von Begriff und Sachverhalt“.26 Das hohe Anwendungspotenzial für die Analyse der „Volkskirche“ wird unmittelbar augenfällig, da ein begriffshistorischer Zugriff „isolierte, verdichtende Stichwörter [wählt], denen eine Schlüsselstellung zugesprochen wird, um sprachfördernde Konzeptualisierungen zu erfassen und zu kontextualisieren“.27 Diese grundlegenden definitorischen Ausführungen lassen sich noch weiter spezifizieren. So wurde hervorgehoben, dass Begriffe gerade „nicht einzelne isolierte Wörter oder Wortverbindungen [sind], sondern semantische Einheiten, in denen in Kurzform ganze Kontexte von Erfahrungen, theoretischen Annahmen, Problemen etc. zu einem sprachlichen Ausdruck zusammengefaltet sind.“28 Begriffe stünden in Feldern, „im Konnex mit und in Abgrenzung zu anderen Begriffen“29. Zu den Desiderata führt Ulrich Dierse weiter aus: „Wieso, so wäre zu fragen, ändern sich Begriffe in ihrem Bedeutungsgehalt; warum bekommen sie einen neuen Stellenwert, werden sie vergessen, wiederentdeckt o. ä.? Diese Prozesse vollziehen sich weniger (aber selbstverständlich nicht ausschließlich) als immanent wirksame, quasi organische Entwicklungen, sondern häufig in Widerspruch zu und in Reaktion aufeinander.“30
Mit anderen Worten: Die Konstitution eines Begriffs hängt in nicht geringem Maße von der Auseinandersetzung mit seinen Gegen- und Alternativbegriffen
25 Koselleck, Stichwort, 99. 26 Ebd. 27 Kollmeier, Begriffsgeschichte, 420. Begriffsgeschichte zeichnet sich ferner, wie insbesondere die von Willibald Steinmetz angeregten Studien zeigen, durch ein explizites Interesse an den Sagbarkeitsregeln einer Gesellschaft aus, vgl. Steinmetz, Sagbare sowie Brunner, Blasphemieverbot. 28 Dierse, Begriffsgeschichte, 57. 29 Ebd., 58. 30 Ebd., 59.
Theorie und Methodik
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ab.31 Auch die eingangs formulierte These, dass der „Erfolg“ des Volkskirchenbegriffs gerade davon abhing, dass er sowohl integrierend, als auch abgrenzend instrumentalisiert werden konnte, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Zumindest für den im landeskirchlich organisierten Protestantismus verwendeten Volkskirchenbegriff lässt sich konstatieren, dass er sowohl unverzichtbar als auch umkämpft war (und ist).32 Wie Carsten Dutt ausführt sind „Grundbegriffe nach Koselleck diejenigen Begriffe, ohne deren kontrovers interpretierbares (und typischerweise kontrovers interpretiertes) Orientierungs-, Verständigungs- und Selbstverständigungspotenzial keine der in einem bestimmten Zeitraum interagierenden Handlungseinheiten der politisch-sozialen Welt auskommt.“33 Folgt man dieser Definition, so wird man Volkskirche sicher als einen religiös-kirchlichen Grundbegriff des 20. Jahrhunderts bezeichnen können. Koselleck verband mit den Bedingungen der zeitgleichen Unabkömmlichkeit und der strittigen Elemente eines Begriffs die Beobachtung einer „temporalen Binnenstruktur“, die Grundbegriffen inhärent sei. Jeder von ihnen „enthält verschieden tief gestaffelte Anteile vergangener Bedeutungen sowie verschieden gewichtete Zukunftserwartungen. Damit generieren diese Begriffe, gleichsam immanent sprachlich, unbeschadet ihres Realitätsgehalts, zeitliche Bewegungs- und Veränderungspotenziale.“34 Diesen zeitlich dynamischen, transformativen Charakter von Grundbegriffen hatte er bereits in seinen „Richtlinien“ von 1967 herausgearbeitet, in denen er für den Zeitraum zwischen 1750 und 1850, den Ansatz einer „Sattel-Zeit“ postulierte.35 In der Einleitung des ersten Bandes der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ bündelte Koselleck seine Beobachtungen dann in den vier Hypothesen der Demokratisierung, Ideologisierbarkeit, Politisierung und Verzeitlichung.36 Was war damit gemeint? Kathrin Kollmeier hat dies komprimiert wie folgt zusammengefasst: „Mit den vier strukturierenden Vorannahmen einer Demokratisierung – der sozialen Ausdehnung des Anwendungsbereichs vieler Begriffe –, einer Verzeitlichung der Bedeutungsgehalte durch Aufladungen mit spezifischen Erwartungen und Zielen, ihrer Ideologisierbarkeit sowie schließlich ihre Politisierung durch die 31 Die Grenzen zwischen Idee und Begriff sind einigermaßen durchlässig, wobei sich die theoretischen Arbeiten stärker auf den „Begriff“ konzentrieren, worin diese Arbeit ihnen folgt. Zusätzlich wird aber immer wieder auf die konzeptionelle Ebene eingegangen werden. 32 Vgl. Koselleck, Geschichte, 68: „Alle Grundbegriffe sind nicht nur unaustauschbar und deswegen strittig – sie haben ebenso eine temporale Binnenstruktur.“ Vgl. hierzu auch Richter, Koselleck. 33 Dutt, Begriffsgeschichte, 76 [Hervorhebung durch mich, BB]. 34 Koselleck, Geschichte, 68. Zur Theorie der historischen Zeiten, auf die hier nicht in extenso eingegangen werden braucht, vgl. u. a. Dipper, „Geschichtlichen Grundbegriffe; Jordheim, Periodization. 35 Vgl. Koselleck, Richtlinien, 91. Vgl. auch Jordan, Sattelzeit. 36 Vgl. Bçdeker, Reflexionen, hier 81.
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Einleitung Vervielfältigung der Standortbezogenheit des Wortgebrauchs entsprechend der gesellschaftlichen Pluralisierung zielen die einzelnen begriffsgeschichtlichen Studien [der Geschichtlichen Grundbegriffe, BB] darauf, den Zusammenhang einer Transformationsepoche im Medium der politisch-sozialen Sprache zu erfassen.“37
Der Geltungsanspruch dieser Prozesse wird von Koselleck und den beiden anderen Herausgebern der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, Otto Brunner und Werner Conze, vor allem mit Blick auf die Sattelzeit postuliert.38 Wenige Artikel reichen bis in die Zeit nach 1900.39 Ein Hauptkritikpunkt an der Begriffsgeschichte besteht seit jeher darin, dass die von Koselleck durchaus angedachte sozialhistorische Grundlegung der begriffshistorischen Studien de facto meist unterblieb und sich die Aufsätze der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ vor allem auf die sog. Höhenkamm-Texte bezogen,40 die zu den „intellektuellen Gipfelwanderungen“ geführt hätten.41 Diese beiden einander nicht unähnlichen Kritikpunkte weisen auf die Frage nach der sozialhistorischen Grundierung der Begriffsgeschichte hin.42 Eine hiermit verbundene Leerstelle ist die der Quellenproduzenten, die in der klassischen Begriffsgeschichte kaum angemessen berücksichtigt werden. Theologen, Kirchenleitungen und (kirchlich orientierte) Publizisten, die gewissermaßen die „Hauptproduzenten“ der hier untersuchten Quellen sind, können im weitesten Sinne als Intellektuelle verstanden werden. Als solche konkurrieren sie, um mit Bourdieu zu sprechen, um die Durchsetzung ihrer semantischen Ziele im Bereich des religiösen Feldes. Wie alle anderen Felder auch hat das religiöse Feld eine eigene Logik mit eigenen Spielregeln. Analog zum sozialen Feld insgesamt, ist das religiöse Feld ein Raum der Auseinandersetzungen.43 Auch wenn diese Arbeit nicht beansprucht, eine umfassende Sozialgeschichte protestantischer Intellektueller zu schreiben, sollen doch soweit wie sinnvoll und nötig, die biografischen Hintergründe der einzelnen Quellenproduzenten auf Basis vorhandener Forschungen in die Analyse einfließen. Für die Debatten, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, gilt nämlich, dass die hier sich einmischenden, eingreifenden Intellektuellen44 alle drei von Volkhard Krech vorgeschlagenen Funktionen übernommen haben und als Motoren, als Kri37 38 39 40 41 42
43 44
Kollmeier, Begriffsgeschichte, 427; vgl. auch Berding, Begriffsgeschichte, 103 f. Vgl. Koselleck, Einleitung. Vgl. die gelungene Bestandsaufnahme bei Steinmetz, Jahre. Vgl. Koselleck, Sozialgeschichte; zu dieser Stoßrichtung der Kritik vgl. auch Reichardt, Semantik. Kollmeier, Begriffsgeschichte, 428; vgl. hierzu auch Sheehan, Begriffsgeschichte. Vgl. hierzu Dipper / Koselleck, Begriffsgeschichte. Dipper macht hier deutlich, dass die Idee, die Begriffsgeschichte mit einer unterstützenden Funktion für die damals dominante Sozialgeschichte zu versehen, von Koselleck zunächst so formuliert worden war, um im „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ Zustimmung zu finden (vgl. ebd., 189). Vgl. Bourdieu, Feld, vor allem 77–95; Bourdieu, Gen se; M ller, Pierre Bourdieu, 72–91. Vgl. Gilcher-Holtey, Denken, 7–14. Als Anwendungsbeispiel vgl. Brunner, Gollwitzer.
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tiker sowie als Transformatoren tätig wurden.45 Als solche übernahme sie einen zum Teil erheblichen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung des Volkskirchenbegriffs. Die oben angedeutete Rede vom Feld der Kirche hat ihren Niederschlag auch in der theologischen Arbeit gefunden.46 1957 sprach der Praktische Theologe Otto Haendler47 vom „Feld der Kirche als Seins- und Wirkungsfeld“48. Dieses „ist in der Natur ein abgesteckter, d. h. gegen das andere abgegrenzte und als solcher bezeichneter Raum. Im Zusammenleben der Organismen des menschlichen Bereiches ist es zur Erkenntnis eines Organismus (hier der Kirche) von Bedeutung, daß er auch als Feld betrachtet wird. Wir fragen dabei nicht in erster Linie nach seinem Charakteristikum, sondern nach seinen Beziehungen.“49
Die von Haendler angeführten Beziehungen beinhalten aber auch Momente des Streites und der Auseinandersetzung, es wird also um Deutungshoheit gekämpft. Das religiöse Feld, in diesem Fall die Kirche, ist in gleicher Weise mit Machtbeziehungen durchzogen, wie andere Felder auch.50 Ein zweites Mittel um die Defizite der Begriffsgeschichte abzufedern, stellt das Bezugsfeld der kirchlichen Öffentlichkeit dar. Im Anschluss an Christina von Hodenberg wird hier unter Öffentlichkeit ein Medium der Selbstreferenz der Kirche verstanden, „als Arena, in der kollektive Deutungsmuster generiert, Werte ausgehandelt und Interessenskonflikte ausgetragen werden. In dieser Arena erfolgt die Auswahl von Themen für die gesamtgesellschaftliche Debatte […].“51 Von Hodenberg weist ferner darauf hin, dass es in einer Gesellschaft verschiedene Teilöffentlichkeiten gebe, die sich überlappen und gegenseitig beeinflussen würden und die es voneinander zu unterscheiden gelte.52 Die hier in den Blick zu nehmende kirchliche Öffentlichkeit konstituiert sich in dem weiten Feld der kirchlich gebundenen Publizistik, auf die sich diese Arbeit quellenmäßig stützt.53 Es interessieren also nicht die De45 Zur Definition vgl. Krech, Motor; vgl. auch die andere Schwerpunkte setzende Typologie von Kreisky, Intellektuelle. Für ein konkretes Anwendungsbeispiel vgl. neben Brunner, Gollwitzer noch Brunner, Avantgarde. 46 Zu solchen Metaphern insgesamt vgl. W thrich, Raum; Brunner, Räume. 47 Zu Haendler vgl. Voigt, Haendler. 48 Haendler, Grundriss, 85. 49 Ebd. 50 Vgl. die methodischen Anmerkungen bei Karstein, Konflikte, 31–78. 51 von Hodenberg, Konsens, 17. 52 Vgl. F hrer / Hickethier / Schildt, Öffentlichkeit; sowie Requate, Öffentlichkeit. Für die Zeit nach 1945 hat Nicolai Hannig eine Medialisierung der Religion nachzeichnen können, die auch die binnenkirchliche Umgangsweise mit dem Thema zu beeinflussen verstand, vgl. Hannig, Religion; das Verhältnis von Öffentlichkeit und Kirche zeitgenössisch reflektierend: Dçrger, Religion, 11–57. 53 Zur Quellengrundlage vgl. die Auflistung vor dem Quellen- und Literaturverzeichnis. Hier sei nur der Hinweis gegeben, dass die Arbeit auf der Basis eines umfangreichen Samples kirchlich
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Einleitung
batten und Auseinandersetzungen über die Volkskirche etwa auf den Synoden, sondern ausschließlich die in der weiteren kirchlichen Öffentlichkeit kommunizierten Begriffsbildungen. Denn die Synoden beispielsweise sind zwar ein Teil dieser Öffentlichkeit, Stichproben haben aber gezeigt, dass sie vor allem die außerhalb von ihnen stattfindenen Diskussionen rezipiert haben statt umgekehrt in die Öffentlichkeit hinein zu wirken.54 Drei Ebenen der Öffentlichkeit sind voneinander zu unterscheiden: Zunächst ist die Encounter-Öffentlichkeit zu nennen. Unter diesem Begriff wird „spontane öffentliche Kommunikation“55 gefasst. Als zweites ist dann von der „Themen- oder Versammlungsöffentlichkeit“56 die Rede, wie sie beispielsweise im kirchlichen Kontext auf Synoden und Kirchentagen zu finden ist.57 Während diese beiden Öffentlichkeitsformen nicht im Fokus der Arbeit stehen werden, ist für den hier zu konturierenden Analyserahmen die kirchliche Medienöffentlichkeit und die sich in dieser vollziehenden Identitäts- und Imagearbeit entscheidend.58 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass trotz dieser pragmatischen Entscheidung die Übergänge insbesondere von der zweiten zur dritten Öffentlichkeitsebene fließend sind. Donges und Imhof charakterisieren die Medienöffentlichkeit wie folgt: „Die Medien sind als Organisationen auf Dauer existent, die Differenzierung von Leistungs- und Publikumsrollen ist hier am meisten ausgeprägt […]. Die Bereitstellung und Herstellung von Themen erfolgt von spezialisierten Personen (z. B. Journalisten), die dauerhaft und auf der Basis spezifischer Berufsregeln arbeiten. Im Unterschied zu den anderen Formen der Öffentlichkeit verfügt die Medienöffentlichkeit über ein mehr oder minder dauerhaft vorhandenes Publikum, da Medien potentiell alle Mitglieder der Gesellschaft erreichen.“59
Funktional sprechen viele Öffentlichkeitstheoretiker von Transparenz-, Validierungs- und Orientierungsfunktionen.60 Diese drei Aspekte zielen zunächst
54
55 56 57 58 59 60
orientierter Zeitschriften und Zeitungen basiert, zuzüglich der anderweitigen Veröffentlichungen, die sich dem Thema widmen und in den entsprechenden Debatten eine Rolle spielen. Worauf diese Arbeit nicht abzielt ist eine Mediengeschichte des protestantischen Zeitungs- und Zeitschriftenwesens, so lohnenswert dieses Vorhaben auch scheint. Vgl. aber Rosenstock, Presse sowie Mehnert, Presse. Dies ließe sich etwa anhand der Freiburger „Volkskirchensynode“ von 1975 exemplarisch zeigen. Damit soll freilich nicht ausgeschlossen werden, dass Synoden öffentliche Diskussionen anstoßen, sondern nur zum Ausdruck gebracht werden, dass dies im Fall der Volkskirche meist nicht geschah. Donges / Imhof, Öffentlichkeit, 151. Ebd., 152. Vgl. Mittmann, Akademien. Vgl. zu „Images“ Lorke, Armut. Donges / Imhof, Öffentlichkeit, 151. Sie beziehen sich hierbei auf den wichtigen Beitrag von Neidhart, Öffentlichkeit. Vgl. aber auch Imhof, Öffentlichkeitstheorien.
Theorie und Methodik
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auf die Offenheit und Zugänglichkeit der Öffentlichkeit.61 Die zweite weist auf den diskursiven Umgang mit „Themen und Meinungen“ hin und vertritt die Ansicht, dass das bessere Argument zur Revision anderer Ansichten innerhalb der Öffentlichkeit führen könne.62 Zur Orientierungsfunktion notiert Neidhard schließlich: „Öffentliche Kommunikation, die von den Öffentlichkeitsakteuren diskursiv betrieben wird, erzeugt ,öffentliche Meinungen‘, die das Publikum als überzeugend wahrnehmen und akzeptieren kann[.]“63 Mit anderen Worten ließe sich also die Aufgabenstellung dieser Arbeit auch dahingehend formulieren, dass sie nach den „öffentlichen Meinungen“ über die Volkskirche fragt, sowie deren Entstehung und Transformation ebenso wie die öffentlichen Auseinandersetzungen über dieselben in den Blick nimmt.64 Dabei versucht die Arbeit Schwächen der bisherigen begriffsgeschichtlichen Methode dadurch aufzufangen, indem sie zum einen akteurszentriert vorgeht, zum anderen sich auf die öffentlichen Begriffsbildungs- und Umformungsprozesse konzentriert. Auf die neueren Impulse, die zur Theorie der Begriffsgeschichte in den letzten Jahren gemacht worden sind, kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden.65 Man kann sie aber als eine Ausweitung zu einer historischen Semantik zusammen fassen, wie dies Kathrin Kollmeier im Sinne einer „undogmatische[n] Sammelbezeichnung für die Erforschung semantischer Veränderungsprozesse […]“66 auf den Punkt gebracht hat. Die Intention einer Historischen Semantik bestehe in der Überwindung einer „isolierten Betrachtung von Einzelbegriffen“.67 Stattdessen bestehe „der erste Schritt in der Identifikation prominenter Themen, Begriffe, Topoi und Figuren, Chiffren oder ganzer ,Sprachen‘ (mit je eigenem Vokabular, eigener Grammatik und Rhetorik) in einem Zeit- und Sprachraum.“68 Es empfiehlt sich in Bezug auf die Volkskirche also sicherlich, den Blick zu weiten auf all die Themen, Topoi und Figuren, die mit diesem Begriff verbunden worden sind. Methodisch jedenfalls berücksichtigt eine Historische Semantik neben diesem weiteren Blick auf die jeweiligen Wortkontexte auch 61 Auf die umfangreichen Forschungen, die durch Jürgen Habermas‘ Habilitationsschrift über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft“ aus dem Jahre 1962 angestoßen worden sind, muss an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, vgl. lediglich Calhoun, Habermas; Gestrich, Konzept. 62 Vgl. Donges / Imhof, Öffentlichkeit, 155. 63 Zitiert nach ebd., 156. 64 Vgl. auch Bonfadelli, Kommunikation. Instruktiv ist auch Gabriel, Religion; Bçsch / Hçlscher, Kirchen. 65 Vgl. für weitere Hinweise M ller / Schmieder, Begriffsgeschichte, sowie die Zeitschrift Contributions to the History of Concepts. 66 Kollmeier, Begriffsgeschichte, 435. Insofern sollte dieses Verständnis nicht mit der germanistischen Historischen Semantik in eins gesetzt werden, zu dieser vgl. Fritz, Semantik; Fritz, Einführung; Welbers, Semantik. 67 Kollmeier, Begriffsgeschichte, 435. 68 Ebd.
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die Sprachpragmatik stärker, als es die Begriffsgeschichte für gewöhnlich tut. An welchen Stellen wird der Begriff in welcher Art von welchen Akteuren verwendet? Wie werden die „semantischen Kämpfe“ geführt und mit welchem Ausgang?69 Für den Historiker lässt sich mithilfe dieser Methode ablesen, wie eine gesellschaftlich einflussreiche Gruppe sich selbst verstand, welche Ziele in diesem Selbstverständnis transportiert wurden und schließlich auf welche Weise man auf Politik und Gesellschaft Einfluss zu nehmen versuchte. Insgesamt fällt auf, dass in der erneuerten Begriffsgeschichte vor allem einem Methodenpluralismus das Wort geredet wird.70 Dies ist freilich Stärke und Schwäche zugleich. In Anlehnung an Beobachtungen des Tübinger Zeithistorikers Anselm Doering-Manteuffel stehen die Debatten über die Volkskirche paradigmatisch für Suchbewegungen nach „Ordnung“ im 20. Jahrhundert, die auch in eklatanter Weise den deutschen Protestantismus betroffen haben.71 Dabei erscheint ein Abgleich des kirchlichen Ordnungskonzepts Volkskirche mit gesamtgesellschaftlich angelegten Ordnungsvorstellungen wie z. B. Organismus, „Volksgemeinschaft“, „formierte Gesellschaft“ und ähnlichem mehr, vielversprechend. Hier ist vor allem an Paul Noltes Habilitationsschrift über die Ordnungskonzeptionen innerhalb der Soziologie zu denken, die eine geeignete Folie erarbeitet hat, vor der die im Begriff der Volkskirche transportierten Ordnungsvorstellungen gesehen werden können.72 Friedrich Wilhelm Graf war es, der dafür plädierte, theologische Grundbegriffe immer auch als „Leitbegriffe einer ,gedachten politischen Ordnung‘ zu entschlüsseln.“73 Es erscheint darum ratsam, die Volkskirche nicht allein im Sinne einer enger gefassten Begriffsgeschichte zu untersuchen, sondern ihr im Rahmen einer Historischen Semantik beizukommen. Durch kulturwissenschaftliche und sprachgeschichtliche Impulse ist „die begriffsgeschichtliche Methodik sowohl hinsichtlich des untersuchten Kommunikationsprozesses wie der historischen Analyse“ zu erweitern, um „die isolierte Betrachtung von Einzelbegriffen zu überwinden.“74 Im Folgenden wird die „analytische Sonde“ folglich auf „Begriffscluster, semantische Netze, Felder und Argumentationen“75 ausgeweitet. Diese Arbeit versteht sich in einem solchen pragmatischen Sinne als eine Diskursgeschichte. Die bisherigen Modelle, wie sie vor allem von Achim 69 Vgl. hierzu Felder, Kämpfe. 70 Anders Hans Erich Bödeker, der Begriffsgeschichte mit Koselleck als eine „spezialisierte Methode der Quellenkritik“ verstanden wissen will (Bçdeker, Reflexionen, 77). 71 Vgl. Doering-Manteuffel, Konturen; Doering-Manteuffel, Geschichte; Doering-Manteuffel, Suchbewegungen. Zur Kritik am Konzept der Zeitbögen vgl. Hoeres, Westernisierung. 72 Vgl. Nolte, Ordnung. 73 Graf, Einleitung. Dort auch der Verweis auf Emerich Francis und M. Rainer Lepsius, die das Konzept der „gedachten Ordnungen“ maßgeblich entwickelt haben. 74 Beide Zitate Kollmeier, Begriffsgeschichte, 435. 75 Ebd.
Quellenlage und Forschungsstand
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Landwehr erarbeitet wurden, sind zwar zur Orientierung nützlich, aber keineswegs für jede Studie unverändert anwendbar.76 Dies schlägt sich auch im konkreten Umgang mit den zahlreichen Quellen nieder. Denn es wird darum gehen, verschiedene Nuancen und Schattierungen in der Begriffsgeschichte darzustellen, sowie die dominanteren Paradigmen dessen, was Volkskirche sein soll, herauszuarbeiten.
1.3 Quellenlage und Forschungsstand Ausgehend von der Fragestellung sowie der methodischen Herangehensweise der vorliegenden Arbeit fußt diese ausschließlich auf publizierten Quellen. Hierfür wurde ein umfassendes Sample theologischer Zeitschriften und kirchlich gebundener, respektive kirchlich orientierter Zeitungen systematisch durchgesehen, soweit sie den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit betrafen. Bei der Auswahl wurde Wert darauf gelegt, die unterschiedlichen kirchlichen und kirchenpolitischen Ausrichtungen im Protestantismus ungefähr gleichermaßen zu berücksichtigen und zugleich Zeitschriften aus verschiedenen Landeskirchen zu analysieren. Ferner sollten die unterschiedlichen innerkirchlichen Ebenen abgedeckt werden, also nach Möglichkeit nicht nur die Kirchenleitungen und die Hochschultheologie, sondern auch Pfarrer und „Laien“ und eben dezidiert liberale, wie auch konservative und vermittelnde Positionen integriert werden. Ähnliches gilt für den zweiten Quellenbestand, auf dem die Arbeit aufbaut. Ausgehend von den thematischen Schwerpunkten der einzelnen Kapitel konnte jeweils eine erhebliche Menge von Monografien, Sammelbänden, Traktaten und auch grauer Literatur berücksichtigt werden. Die Forschungslage ist einigermaßen disparat, eine das gesamte 20. Jahrhundert abdeckende Studie gibt es nicht.77 Da auf die Entstehung des Begriffs und seine Ausprägung bis zum Ende des 1. Weltkriegs in einem gesonderten Kapitel eingegangen wird, werden hier nur die Arbeiten vorgestellt, die sich in ihrer Gesamtheit dem Thema widmen. Einen solchen Überblick bietet die theologische Dissertation Andreas Leipolds, die sich auf die Funktionalität des Begriffs konzentriert und diesen Aspekt von Schleiermacher bis in die späten 1990er Jahre untersucht.78 Diese Arbeit gibt wertvolle Hinweise über die
76 Vgl. Landwehr, Diskursanalyse. 77 Während diese Studie die grundlegende Entwicklung vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der „religiösen Krise“ um 1960 herum herausarbeitet, wird eine Folgestudie, die Teil der ursprünglichen Dissertationsschrift gewesen ist, den Faden dort aufnehmen und die Zeit der „Volkskirchendämmerung“ bis in die 1990er Jahre untersuchen. 78 Vgl. Leipold, Volkskirche, 9 f: „Diese Studie möchte sich dabei der Aufgabe stellen, in systematischer Weise den Begriff der Volkskirche in seiner Funktion für ekklesiologische Entwürfe
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Einleitung
Verwendung des Begriffs der Volkskirche, weist aber aus der Sicht des Historikers einige Defizite auf. Zunächst lässt Leipold die historischen Kontexte, in denen der Begriff gebildet wird, weitestgehend außer Acht. Er liefert zwar eine lange Liste an theologischen Figuren und deren Verwendungsweisen, berücksichtigt die entscheidende Rolle, die der Begriff in zahlreichen binnenkirchlichen Debatten gespielt hat, jedoch kaum. Leipold fällt somit hinter die Arbeiten des Kirchenhistorikers Kurt Meier zurück. Dieser hatte in zwei luziden Studien aus den frühen 1980er Jahren das Verhältnis zwischen der kirchlichen Lehre von der Kirche und der Zeitgeschichte im Zeitraum untersucht.79 Zu nennen sind auch die Ergebnisse der Troeltsch-Forschung, in denen der Volkskirchenbegriff eine gewisse Rolle spielte.80 In den Studien Meiers stellt dieser die verschiedenen kirchenpolitischen Richtungen und ihre volkskirchlichen Konzeptionen ebenso vor, wie zumindest im Ansatz die sich hieraus ergebenden konfliktären Konstellationen. Im Hinblick auf die Volkskirche kann die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere die Weimarer Zeit wohl als am besten erforschter Zeitabschnitt gelten. Der amerikanische Historiker Daniel R. Borg hat die Volkskirche ins Zentrum seiner Forschungen zur Evangelischen Kirche der altpreußischen Union gestellt.81 Eine ähnliche Studie verfasste David Diephouse am Beispiel Württembergs.82 Wie weitere Forschungsbeiträge, die zwischen den späten 1950ern und den 1980er Jahren erschienen sind, steht vor allem das Verhältnis zwischen den evangelischen Kirchen und der Revolutionsregierung sowie den späteren demokratischen Regierungen, mit anderen Worten die politische Orientierung des Protestantismus, im Mittelpunkt.83 Die Arbeiten zu den in dieser Zeit entstehenden Kirchenverfassungen erwähnen die Volkskirche eher am Rande.84 Erika Eschebachs Göttinger Dissertation aus dem Jahr 1987 trägt den Begriff zwar im Titel, macht ihn aber analytisch kaum nutzbar.85 Henning Bühmanns kürzlich veröffentlichte Dissertation zur „Volksmission“ hat deutlich gemacht, wie sehr die Volkskirchensemantik in diesem Bereich kirchlichen Handelns wirksam geworden ist und sich wechselseitig beeinflusste.86 Nennenswert ist darüber hinaus noch die Arbeit Eckhard Lessings zum
79 80 81 82 83 84 85 86
nach 1945 zu erörtern, um anschließend eine Hermeneutik der empirischen Kirche zu entfalten.“ Vgl. Meier, Volkskirche; Meier, Bedeutung; Greschat, Kirche, 1991. Vgl. vor allem Fechtner, Volkskirche sowie Molendijk, Theologie. Vgl. Borg, Church; Borg, Volkskirche; Gordon, Churches, 91–154. Vgl. Diephouse, Pastors; zur Bedeutung der Pfarrer, die in seiner Arbeit eine wichtige Rolle spielen vgl. auch Dahm, Pfarrer. Vgl. Mehnert, Kirche; Christ, Protestantismus; Kçhler, Auswirkungen; Motschmann, Kirche; Jacke, Kirche; Wright, Parteien; H rten, Kirchen; Nowak, Kirche; Bockermann, Kirche. Vgl. z. B. Oxenius, Entstehung. Vgl. Eschebach, Volkskirche. Vgl. B hmann, Stunde.
Aufbau der Untersuchung
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„theologischen Werk der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union“.87 Lessing stellt umfassend die ekklesiologischen Überzeugungen der einzelnen kirchenpolitischen Gruppierungen sowie der vertretenen theologischen Richtungen dar. Seine Arbeit reicht dabei bis in die Nachkriegszeit. Auch wenn die Relevanz des Volkskirchenkonzepts immer wieder deutlich wird, so ist sein primäres Erkenntnisinteresse doch ein anderes. Ein weiteres Manko dieser verdienstvollen Arbeit besteht darin, dass sie nicht so sehr auf die Analyse von Debatten abhebt, sondern vielmehr die jeweiligen Positionen rekonstruiert. Mit Ausnahme von Lessing nehmen aber wenige Arbeiten den Volkskirchenbegriff für die späteren Jahre überhaupt in den Blick. Für die Zeit des Nationalsozialismus ist hier erneut die kleinere Arbeit von Kurt Meier zu nennen. Er stellt hierbei die Konzeptionen der Deutschen Christen denen der Bekennenden Kirche gegenüber. Erstere hätten sich vornehmlich als Volksmissionskirche und Volksgemeinschaftskirche verstanden, wobei oft die exkludierenden Kriterien der nationalsozialistischen Weltanschauung übernommen worden seien. Für die Zeit ab 1945 gibt es im Grunde keine genuin historischen Studien.
1.4 Aufbau der Untersuchung Die einzelnen Kapitel ordnen sich um zentrale Debatten und „Deutungsmachtkonflikte“ (Martin Laube), die die Geschichte des Protestantismus im 20. Jahrhundert maßgeblich prägten. Die Gliederungen der einzelnen Kapitel orientieren sich wiederum an den in 1.1 dargelegten Analyseebenen. Wie in 1.2 dargestellt, beginnen alle Kapitel mit einer kurzen Beschreibung der wichtigsten politischen und kulturellen Kontexte, in denen sich die Konflikte auf dem religiösen Feld, respektive innerhalb der kirchlichen Teilöffentlichkeit zutrugen. Dabei wird es dann immer auch um die dominierenden gesamtgesellschaftlichen Ordnungsmuster gehen. In nuce wird dann auf das kirchenund theologiegeschichtliche Profil des jeweiligen Abschnitts einzugehen sein. Das zweite Kapitel widmet sich dem Volkskirchenbegriff vom Ende des 1. Weltkrieges bis zu den letzten Jahren der Weimarer Republik. Dabei wird sich ein erster Abschnitt mit den unmittelbaren Reaktionen auf das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments auseinandersetzen, sowie die sich in diesem Kontext entwickelnden Artikulationen des Selbstverständnisses in der neuen Republik darstellen. Zum einen wird es hier darum gehen, wie man das kirchliche Selbstverständnis in konkrete Ordnungskonzepte zu gießen versuchte. Zum anderen offenbaren die Diskussionen in diesem Zusammenhang auch, wie die Kirchen ihre neue gesellschaftliche Umgebung wahrnahmen und welche Handlungskonsequenzen sie hieraus ziehen zu müssen glaubten. In 87 Lessing, Bekenntnis.
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den Jahren der sog. „relativen Stabilisierung“ wird diese Auseinandersetzung um das Wesen und den Weg der Kirche noch verschärft. Otto Dibelius‘ „Das Jahrhundert der Kirche“ auf der einen, und die kritischen Äußerungen Karl Barths auf der anderen Seite bilden den Mittelpunkt der Diskussionen über die Volkskirche von Mitte bis Ende der 1920er Jahre. Im Anschluss wird sich das nachfolgende Kapitel den Vereinnahmungen des Volkskirchenbegriffs im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen kirchenpolitischen Gruppierungen in der Zeit des Nationalsozialismus widmen. Anhand der Leitfragen der Arbeit wird danach zu fragen sein, wie sich die nationalsozialistische Diktatur auf die kirchlichen Selbstthematisierungen auswirkte. Dabei sollen auch mögliche Wechselwirkungen berücksichtigt werden. Das vierte Kapitel versucht die „Restauration“ des Volkskirchenbegriffs und der mit ihm verbundenen Konzepte nach 1945 zu erklären. Dabei ist Restauration durchaus wörtlich zu verstehen, da Volkskirche doch recht zügig wieder zu einer Leitidee kirchlicher Ordnungsvorstellungen wurde, die gut zu der gesellschaftlichen Außenwahrnehmung und Binnensicht der evangelischen Kirchen in diesem Zeitraum passt. Freilich blieb diese Sichtweise nicht unwidersprochen; im Modus der Historischen Semantik kann eine differenziertere Perspektive auf die Verortungen der Kirche im Hinblick auf Staat und Gesellschaft, sowie auf die semantischen Kämpfe im binnenkirchlichen Raum eingenommen werden. Auch wenn der historischen Semantik des Begriffs in den signifikant unterschiedlichen Kontexten nicht über den gesamten Zeitraum nach 1945 gerecht werden kann, so drängt sich eine deutsch-deutsche Betrachtungsweise an einigen Punkten regelrecht auf. Diese Perspektive soll demnach im vierten Kapitel auch Berücksichtigung finden. Aufgrund der Quellengrundlage dieser Arbeit ergibt sich eine nicht zu leugnende Asymmetrie, die hier aber nicht als Manko gesehen wird, sondern vielmehr methodisch reflektiert werden muss.88 Darum folgt diese Arbeit pragmatisch dem von Christoph Kleßmann geprägten Konzept einer „asymmetrisch verflochtenen Beziehungsgeschichte“.89 Dass sich der Protestantismus in besonderer Weise für eine „integrierte“ deutsche Geschichte eignet, wurde durch zahlreiche Studien in den letzten Jahren hinlänglich belegt.90 Thomas Großböltings Plädoyer für eine „Wahrnehmungsgeschichte der Zweistaatlichkeit“, soll im Hinblick auf die historische Semantik der Volkskirche Anwendung finden.91 Eine solche Vorgehensweise, die die Prozesse der Verflechtung und der Abgrenzung gleichermaßen in den Blick zu nehmen versucht, stellt eine 88 Vgl. Lepp, Wege, 16: „In Rechnung zu stellen ist jedoch […] der von der Forschung herausgearbeitete, ausgeprägt asymmetrische und hierarchische Charakter dieser Beziehung, da die Bundesrepublik eine größere Rolle für das politische Verhalten und den Alltag der DDR spielte als umgekehrt.“ 89 Vgl. Klessmann, Verflechtung; Klessmann, Spaltung. 90 Vgl. nur Lepp, Wege; Lepp, Tabu; aus theoretischer Sicht Jarausch, Teile; Heydemann, Nachkriegsgeschichte. 91 Vgl. Grossbçlting, Geteilter Himmel.
Die Begriffsgeschichte der Volkskirche bis zum Ersten Weltkrieg
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fruchtbare Ergänzung zur bisherigen Geschichtsschreibung des Protestantismus in deutsch-deutscher Perspektive dar.92
1.5 Die Begriffsgeschichte der Volkskirche bis zum Ersten Weltkrieg Zwei kürzlich erschienene Beiträge des Kirchenhistorikers Tobias Sarx haben Klarheit in Bezug auf die historischen Wurzeln des Volkskirchenbegriffs gebracht.93 Er weist zunächst darauf hin, dass die Entstehung des Begriffs mit der großen Bedeutung des Wortfeldes „Volk“ zusammenhängt. Aber auch andere in der Aufklärungszeit rezipierte Begrifflichkeiten wie der „Volksgeist“ und die „Volksseele“, die in dieser Zeit – etwa durch Johann Gottfried Herder – eine starke Popularisierung erlebten, beeinflussten die Ursprungssemantik des Begriffs. Folgt man Sarx, so gab es drei Kontexte, in denen zuerst von ihm gesprochen wurde und in denen dieser mit unterschiedlichen Funktionen und Zielsetzungen in Verbindung gebracht worden ist. Er sei zunächst „bei von der Aufklärung beeinflussten pädagogisch interessierten Predigern“94 aufgetaucht, die der einfachen Landbevölkerung die Anliegen der Aufklärung nahe bringen wollten. Sehr frühe Nennungen macht Sarx in einer Veröffentlichung des katholischen Priesters und Schulinspektors Franz Xaver Niedermayer aus. Die Volkskirche sei für ihn „der Ort, an dem sich die einfachen Gläubigen im Unterschied zu den Klerikern einerseits und zu den nicht Getauften andererseits aufhalten“95 gewesen. Da im gleichen Zeitraum der Begriff in diesem Sinne auch von evangelischen Pfarrern verwendet wurde, lassen sich die Ursprünge nicht eindeutig einer Konfession zuordnen. Insofern zeigt der erste Entstehungszusammenhang das Bemühen von Gemeindepfarrern, kirchenfernere Gruppierungen, die keinen Bezug zu akademischer Theologie haben, in die Kirche zu reintegrieren. Zweitens wurde der Begriff seinen Ursprüngen nach als „Ausdruck eines erwachenden Nationalbewusstseins“96 verstanden. Johann Gottfried Herders Werk ist für das Verständnis der semantischen Ursprünge der Volkskirche insofern relevant, als dass bei ihm die Verbindung von „Volk“ mit religiösen Motiven und Elementen besonders intensiv und folgenreich vollzogen wurde. Dem Philologen Ernst Christian von Trautvetter, selbst durch Schelling und Herder beeinflusst, schwebte in einer Publikation von 1819 die Überwindung der Konfessionskirchen in Form einer Volkskirche vor. Dafür habe er versucht eine „Synthese aus christlicher Tradition und germanischer Mythologie zu 92 93 94 95 96
Vgl. Wentker, Abgrenzung. Sarx, Ursprüngen; Sarx, Konzepte. Vgl. Sarx, Ursprüngen, 115. Ebd., 116. Ebd., 120.
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schaffen“.97 Durch die Vermischung von germanischem Brauchtum und christlichen Festen hätten die Deutschen zu einer „volkseigenen Art der Religionsausübung gefunden“98. Man müsse, so Trautvetter weiter, sowohl das Christentum in seinen jüdischen und hellenistischen Ursprüngen, wie auch das Deutschtum in seinen germanischen Wurzeln kennen, um eine wahre Volkskirche zu gestalten. Neben Trautvetter gibt es noch weitere Beispiele, die unter dem Begriff der Volkskirche eine überkonfessionelle völkisch-deutsche Nationalkirche verstehen.99 Drittens wird von der Volkskirche in der Zeit um 1800 als einem „Gegenbegriff zur obrigkeitlich reglementierten Staatskirche“100 Gebrauch gemacht. Sarx liefert den wichtigen Hinweis, dass es dieser dritte Bedeutungsgehalt ist, der sich bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher findet. Er hat den Begriff also nicht erfunden, noch findet er sich zum ersten Mal bei ihm, wie in der Forschung bislang behauptet wurde. Was ist nun in diesem Sinne mit Volkskirche gemeint? Bei Schleiermacher taucht der Begriff erst in der 1822/23 veröffentlichten Vorlesung über die „Christliche Sittenlehre“ auf. Es erfolgt hier aber keine tiefergehende Reflexion über den Terminus, der im Übrigen auch eher en passant eingeführt wird: „Die evangelische Kirche hat den Grundsatz – er ist zwar nicht symbolisch aufgestellt, gilt aber doch in der Praxis ganz allgemein, und das hat eigentlich denselben Wert –, daß jede Landeskirche und jede Volkskirche ein Ganzes für sich bilden.“101 Auch in der zweiten Auflage bleibt der Begriff unbestimmt: „Die Christen, welche einerlei Sprache reden und zu demselben Volk gehören, [bilden] eine besondere Kirchengemeinschaft […]; aber solche Volks- und Landeskirchen sind nur die Form, unter welcher allein nach göttlicher Ordnung eine größere Gemeinschaft möglich ist, und sie involvieren keineswegs eine Aufhebung der Gemeinschaft mit anderen Christen, welche vielmehr nach wie vor stattfindet, sobald die natürlichen Bedingungen dazu gegeben sind.“102
Neben der eher pragmatischen Verwendung des Volksbegriffs im Sinne Herders wird hier deutlich, dass es sich bei Schleiermacher um keinen programmatischen Begriff handelt, der weiter entfaltet werden würde.103 Volksund Landeskirchen stehen hier eng beieinander und können regelrecht als Synonyme füreinander gebraucht werden. Die Volkskirche ist für Schleiermacher aus diesem landeskirchlichen Kontext heraus entwickelt worden. Die Stoßrichtung der hier angelegten Semantik ergibt sich vor allem aus dem (kirchen)obrigkeitlichen, kritischen Impetus. Dies wird etwa in der Forde97 98 99 100 101 102 103
Ebd., 127. Ebd. Vgl. ebd., 127–132. Ebd., 134. Schleiermacher, Sittenlehre, Bd. 2, 180 f, zitiert nach Sarx, Ursprüngen, 141. Schleiermacher, Glaube, 438, zitiert nach Sarx, Ursprüngen, 142. Zur Herder-Rezeption bei Schleiermacher vgl. von Scheliha, Religion.
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rung, die innere Organisation der Kirche nicht durch den Staat reglementierten zu lassen, deutlich. Demnach ist die Volkskirche als „Gegenbegriff zur obrigkeitlich-konsistorialen Kirche“104 zu verstehen. Dies verdeutlicht ein Zitat aus der Praktischen Theologie Schleiermachers: „Das Grundübel ist dies, daß in unseren Staaten jeder Bürger gezwungen ist, sich zu einer Kirchengemeinschaft zu halten. […] Darum glaubt dann auch der Staat das Richtige in der Lehre der Kirche vorschreiben zu müssen. Dies ist ein Zustand völliger Dienstbarkeit und des Mechanismus, und so zerstört der Staat grade was er festhalten will. Die Hauptwirksamkeit muß ausgehen von der öffentlichen Stimme, von den geistigen Autoritäten im Volk und von den Repräsentanten derer, die das religiöse Prinzip anerkannt in sich tragen.“105
Eine Wirkungsgeschichte für diese drei Grundmotive im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, die dem Volkskirchenbegriff seinen Ursprüngen nach inhärent sind, ist ein Desiderat der Forschung, das im Rahmen dieser Arbeit nicht aufgearbeitet werden kann. Gleichwohl sollen noch einige Aspekte dieser Geschichte bis in die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs angedeutet werden. Sarx referiert den Ansatz des Schaffhausener Predigers und späteren Basler Theologieprofessors Daniel Schenkel. Dessen Volkskirchenkonzept habe sich in einem Spannungsfeld von politischem Konservatismus und liberalem Fortschrittsdenken befunden. Nur eine Volkskirche, „aber keine Staatskirche“106 könne vor dem Atheismus und dem um sich greifenden Unglauben retten. Schenkel habe nach einem dritten Weg gesucht „als Alternative zur obrigkeitlich reglementierten Staatskirche auf der einen Seite und einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche auf der anderen Seite.“107 Von der Basis her solle eine Volkskirche aufgebaut werden, die wohl unter dem Schutz des Staates stehe, aber die religiösen Gefühle des Einzelnen frei zur Entfaltung kommen lasse – Schenkel legt das Schleiermachersche Religionsverständnis zu Grunde. Der Aufbau der Volkskirche soll also im staatlichen Rahmen „von unten“ her erfolgen. Auch auf der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 wurde der Begriff verwendet. Bei der Diskussion über die „Grundrechte des deutschen Volkes“ thematisierte man nämlich diverse Religionsfragen. Eingeführt wurde der Begriff vom Hallenser evangelischen Theologen Karl Schwarz. Die Volkskirche stand bei ihm im Gegensatz zur Geistlichkeitskirche; die „Heranbildung von mündigen Kirchenmitgliedern [sei] das größte Defizit der gegenwärtigen Kirchenstruktur“108 und seiner Ansicht nach nur durch religiöse Erziehung und Religionsunterricht zu erreichen. Während sich Schenkels Konzeption gegen die 104 Sarx, Ursprüngen, 143. 105 Schleiermacher, Theologie, 677 [Hervorhebungen im Original, BB], zitiert nach Sarx, Ursprüngen, 144. 106 Schenkel, Zeitkämpfe, 475, zitiert nach Sarx, Konzepte, 191. 107 Sarx, Konzepte, 191. 108 Ebd., 195.
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Staatskirche richtete, wendete sich Schwarz also gegen eine sich allzu sehr auf die Pastorenschaft verlassende Konzeption. Auf lange Sicht wirkmächtig war die berühmte Rede, die Johann Hinrich Wichern109 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag hielt. In dieser formulierte er: „Es muß und wird zum Bewußtsein kommen, daß unsere evangelische Kirche eine Volkskirche werden muß und kann, indem sie das Volk durchs Evangelium in neuer Weise und Kraft zu erneuern und mit neuem Lebensodem aus Gott zu durchdringen hat.“110
Bei Wichern verbanden sich die Angelegenheiten der Inneren Mission mit der Vorstellung einer Volkskirche, die nur durch umfassende diakonische Arbeit die breiten Massen wieder für die Kirche zurückgewinnen könne. Sein Ansatz fand wohl nicht zuletzt deshalb breite Akzeptanz, weil Wichern es verstand, die „Anliegen der Erweckungsbewegung mit Impulsen der Volksaufklärung des 19. Jahrhunderts“111 zu verbinden. Wichern ist vermutlich die Figur des 19. Jahrhunderts, deren volkskirchliches Konzept in der darauffolgenden Zeit, bis weit in das nachfolgende Säkulum am breitesten rezipiert worden ist.112 Während es in den folgenden zwanzig Jahren nach Wichern keine umfangreiche Diskussion in der kirchlichen Öffentlichkeit gegeben zu haben scheint, nahm diese ungefähr seit den 1860er Jahren wieder Fahrt auf.113 Ein wichtiger Marker ist Theodosius Harnacks Schrift „Die freie lutherische Volkskirche“, die 1870 erschien. Harnack war Vertreter einer „freikirchlichen Volkskirche“, in der er Luthers Kirchenideal angemessen verwirklicht sah.114 Es sei so, dass die Wörter Volkskirche und Gemeindekirche derzeit einen „sehr üblen Klang bei den ernsten Christen unsrer Tage“115 hätten, sei es doch „das Losungswort des Pseudoprotestantismus, welches dieser als Lockspeise den Kindern der Zeit herausgegeben hat und welches die Menge um so mehr zu täuschen geeignet ist, als es ihr schmeichelt und der politischen Zeitströmung zusagt, und als die Unbestimmtheit dieser Parole, die Jedem gestattet, sich bei ihr zu denken, was er will […].“116 Die von ihm gemeinte freie Volkskirche sei hingegen ihrem Wesen und ihrem Prinzip nach nichts Neues, sondern sei 109 110 111 112 113
Zu Wichern vgl. nur Kaiser, Wichern; Sturm, Sozialstaat; Kramer, Nation. Wichern, Erklärung, 155, zitiert nach Sarx, Konzepte, 196 f. Sarx, Konzepte, 194 mit Verweis auf Kaiser, Entstehung; vgl. auch Wu, Gospel. Vgl. beispielsweise Mahling, Ziel; Reimpell, Idee. Vgl. Rocholl, Volkskirche, 37: „Ich habe nur darzuthun gehabt, daß die Volkskirche unserm Volke Schutz und Schirm, daß sie eine sociale Nothwendigkeit für den Bestand deutschen Wesens, daß der deutsche Staatsmann, steht er nicht abstract über Land und Leuten, sagen muß: Hätten wir keine Volkskirche, wir müßten sie schaffen um jeden Preis!“ Vgl. auch M hlh usser, Staatskirche; Kliefoth, Verhältniß. 114 Vgl. schon Harnack, Kirche. 115 Harnack, Volkskirche, 150. Die Anspielung auf diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen, bezieht sich wohl auf pietistische Strömungen. 116 Ebd.
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„während der landeskirchlichen Periode […] latent, […] in ihrem dogmatischen Grunde immer schon vorhanden.“117 Harnack ist an einer positiven Konnotation des Begriffs gelegen: „Wir nennen sie Volkskirche, weil unsre Kirche nicht eine Kirche der Priester und Theologen, noch des großen gemischten Haufens, oder der sogenannten Gebildeten, oder auch eines besonderen Kreises von Gläubigen, sondern Kirche des Volkes Gottes ist und sein will, die als solche sich auch nicht auf eine bestimmte Form christlicher Frömmigkeit beschränken und diese allein pflegen darf, sondern die weit und fest genug sein muß, die ganze Mannichfaltigkeit [!] individuell und volksthümlich bedingter Typen und Gestaltungen gesunden evangelischchristlichen und kirchlichen Lebens zu umfassen, zu fördern und einheitlich zu verbinden.“118
In diesem längeren Abschnitt zeigen sich einige grundlegende Frontstellungen, gegen die sich Harnacks Volkskirchenidee wendet. Zunächst wendet er sich gegen die „Pastorenkirche“, also den als zu groß empfundene Einfluss von Pfarrpersonen und kirchenleitenden Persönlichkeiten innerhalb der Kirche. Ferner ist die hier definierte Volkskirche nicht auf eine bestimmte kirchliche Gruppe konzentriert, sondern versucht ihrem Anspruch nach oft ganz unterschiedliche Gruppierungen – und damit auch Interessen und Frömmigkeitsstile – zu integrieren und unter ihrem Dach zu vereinigen. Kurt Nowak hat die Jahre des Deutschen Kaiserreichs mit Blick auf die Kirchen als einen Kampf um die Leitkultur umschrieben.119 Sicherlich ließen sich zahlreiche Belege aufzeigen in Bezug auf die Rolle, die der Volkskirchenbegriff und die ihn umgebende Semantik im Kaiserreich gespielt haben. Einige sollen hier kursorisch angefügt werden. Der Berliner Praktische Theologe Friedrich Mahling fragte 1899 danach, ob Wicherns Ziel der Volkskirche erreicht worden sei. Er wies darauf hin, dass zu unterscheiden sei „zwischen der Volkskirche in realem Sinne – (Wichern nennt sie einmal: ,Die bisherige Volkskirche‘, und sagt von ihr: ,die haben wir, solange wir die Kindertaufe und unsre Kinderstuben und unsere christlichen Volksschulen besitzen‘) und der Volkskirche in idealem Sinne – (,der wahren Volkskirche‘, wie Wichern sie nennt), deren Wesen sich in der sauerteigartigen Durchdringung des gesamten Volkskörpers und Volkslebens mit den Kräften des Reiches Gottes darstellt […].“120
Um zu wahrer Volkskirchlichkeit zu gelangen, sei die Innere Mission erforderlich; das Ziel Wicherns sei nicht erreicht worden. Semantisch ist hier die 117 118 119 120
Ebd., 151. Ebd., 153 f. Nowak, Geschichte, 149. Mahling, Ziel, 81 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Mahling war zu dieser Zeit noch Pastor und Vorsteher der Hamburger Stadtmission. Vgl. Bloth, Kleinert.
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Dopplung von Volkskirche interessant, einerseits als Status Quo, andererseits als Zielvorgabe, oder wie Martin Doerne später sagen würde, als Seins- und Sollensbegriff.121 Ebenfalls um die Jahrhundertwende äußerte sich Adolf Stoecker122 im Zusammenhang mit seinen Forderungen zu Änderungen über die Konfirmationspraxis zum Thema Volkskirche. Stoecker diagnostiziert 1901, „daß die Volkskirche in Gefahr stehe.“123 Sowohl die Befürworter einer Veränderung der Konfirmationspraxis, wie auch die Gegner kämen seiner Ansicht nach hierin überein. Stoecker sieht sich zu der Aussage veranlasst, dass ihm nichts ferner liege, als die Volkskirche zu gefährden, denn: „Mir ist diese Kirchenform die gottgewollte und schriftgemäße, durch die Geschichte und Sitte gegebene Gestalt der Reformationskirche wie der Kirche überhaupt. Sie unserem Volke zu erhalten, ist mein ernsthaftes Bestreben und mein heißestes Bemühen.“124 Stoecker unterstreicht im Anschluss die Bedeutung, die ein volkstümlicher, gläubiger Protestantismus für die deutsche Zukunft habe. Die Zukunft der Volkskirche sei seiner Ansicht nach mit der Zukunft des deutschen Volkes verknüpft. „Eine wirkliche Volkskirche, die das nötige Maß von Freiheit besitzt, ist aber unzweifelhaft geeigneter [als eine Freikirche, BB], die Aufgaben des Reiches Gottes zu erfüllen. Mir ist es immer von Bedeutung gewesen, daß Vinet, ehe ihn die Macht der Verhältnisse aus der Volkskirche hinaustrieb, die glise libre nationale, d. h. die freie Volkskirche, als sein Ideal hinstellte. Die Volkskirche darf also weder ein Sprechsaal für alle möglichen Richtungen des Volksgeistes sein, gleichsam nur die religiöse Seite des Staatslebens, noch soll man von ihr erwarten, daß alle ihre Glieder lebendige Christen seien. Das erste widerstreitet der Natur der Kirche, das zweite findet sich in keinem Kirchentum und ist im Volkskirchentum erst recht unmöglich.“125
Hier finden sich gleich drei zentrale Motive der Semantik, die Freiheit der Volkskirche, ihre Einschränkung, dass in ihr nicht Beliebigkeit herrscht, sowie die Konzession, dass nicht alle ihre Glieder lebendige Christen sein können. Der Theologieprofessor Karl Eger126 unterstreicht wenige Jahre später nicht unähnlich zu Stoeckers Position: „Das kennzeichnende Merkmal der deutsch-evangelischen Volkskirche ergibt sich aber erst daraus, daß diese Volkskirche auf den innigsten Zusammenhang mit dem gesamten geistigen und sittlichen Leben des deutschen Volks evangelischen Teils
121 Vgl. hierzu unten den Abschnitt im Kapitel 3.4.4. 122 Zu Stoecker vgl. Brakelmann / Greschat / Jochmann, Protestantismus. Eine umfassende, moderne Stoecker-Biografie steht noch immer aus. 123 Stoecker, Volkskirche, 1. 124 Ebd., 1 f. 125 Ebd., 5. 126 Vgl. von Rabenau, Eger.
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und auf die stetige, geordnete Beeinflussung dieses Volkslebens mit Kräften des Evangeliums abgezweckt ist.“127
Wiederum begegnet hier ein Rekurs auf den geradezu organischen – Eger spricht von einem „lebendigen“128 – Zusammenhang zwischen Volk und Kirche, der auf diese Weise auf den Begriff gebracht werden soll. Damit einher geht die positive Bestimmung des Verhältnisses der Volkskirche zum Staat, die bis zu der Behauptung gesteigert werden kann, dass eine solche ohne den staatlichen Zwang, der sie zusammenhalte, überhaupt nicht bestehen könne. Ernst Troeltsch schließlich beschreibt das Verhältnis von Kirche und Staat 1907 als ein „kompliziertes System, das die alten Volkskirchen als staatlich privilegierte Kirchen gleichmässig anerkennt, eng mit den eigensten Interessen des Staates verbindet, aber zugleich doch ihnen eine vom Staat verschiedene, im religiösen Kern staatlich unantastbare Selbstständigkeit gibt, deren Gefahren dann aber wieder durch ein Ueberwachungs- und Einschränkungssystem begegnet wird.“129
Troeltsch scheint diese enge Verbindung von Kirche und Staat durchaus kritisch zu sehen, aber eben auch als charakteristisch für die Situation der Volkskirchen im Deutschen Kaiserreich zu empfinden. Die Kirche sei „eine große Heils- und Wunder- und Gnadenanstalt, in der die Wahrheiten fertig sind, in der die Heils- und Lebenskräfte bereit liegen, und wo alles nur auf die Aneignung des sozusagen objektiv verkörperten Gnadenschatzes eingerichtet ist, völlig unabhängig von der subjektiven Leistung oder von der subjektiven Nichtleistung.“130
Nur wenn dies gegeben sei, könne es Volkskirche geben, denn in „der Volkskirche, in der Massenkirche hat man mit einer unendlich variierenden Intensität der sittlichen Leistung zu tun, man hat sich tausend Dingen anzubequemen.“131 Ihr gegenüber steht die Vereinskirche, deren Leugnung der Kindertaufe als das deutlichste Zeugnis der Leugnung der Volkskirche angesehen wird.132 Kristian Fechtner hat in seiner Dissertation über Troeltsch herausgearbeitet, dass sich hier als Antwort auf zeitgenössisch ablaufende gesellschaftliche und kirchliche Transformationen der Gedanke einer „elastisch gemachten Volkskirche“133 finden lässt. Troeltsch habe, so Fechtner, eine 127 Eger, Wesen, 5 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. auch Eger, Vorbildung. Ähnlich argumentiert in der Schweiz Mezger, Eigenart; vgl. ferner Naumann, Segen. 128 Eger, Wesen, 18. 129 Troeltsch, Trennung, 42. Vgl. auch Troeltsch, Kirche; Troeltsch, Religion. 130 Troeltsch, Individualismus, 7. 131 Ebd. 132 Vgl. ebd., 8. Für das Verständnis seines Volkskirchenbegriffs ist auch die Auseinandersetzung mit Schleiermacher wichtig, vgl. Troeltsch, Schleiermacher. Vgl. auch Troeltsch, Rezension. Vgl. hierzu Molendijk, Troeltsch. 133 Fechtner, Volkskirche, 189 [Im Original kursiv hervorgehoben, BB].
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offene Volkskirche im Blick gehabt, in der sich drei Begründungslinien zusammenführen ließen: „Die Volkskirche ist kulturell anschluß- und ausgleichsfähig mit den Lebensbedingungen und Entwicklungsformen der modernen Gesellschaft; volkskirchliche Praxis erscheint soziologisch als ein institutionell abgestützer, auf Gemeinschaft bezogener und individuell praktizierter Aneignungs- und Gestaltungsprozeß christlicher Religion; der Lebenszusammenhang des volkskirchlichen Christentums schließlich repräsentiert und realisiert seiner religiösen Dimension nach den ,die Individuen tragenden und hervorbringenden Gemeingeist[]‘ als ,frei sich äußernde christliche Geistesmacht‘.“134
Vermutlich noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen einige weitere systematische Überlegungen zum Begriffsfeld von Friedrich Mahling. Er unterscheidet zunächst zwischen einer Volkskirche im empirischen Sinne, also der tatsächlich existierenden, und der Volkskirche im idealen Sinne.135 Für konstitutiv hält er ferner den Unterschied zur Organisationsform der Sekte. Volkskirche sei gegenüber den Zutrittsmodi der Sekte, oder auch der Missionskirche jene, die sich als Zuwachskirche durch die Kindertaufe Mitglieder verschaffe. Damit gehe eine für die Volkskirche seiner Ansicht nach enorm wichtige Erziehungsaufgabe einher, weswegen der durch den Staat durchgeführte Religionsunterricht ein weiteres charakteristisches Merkmal für die Volkskirche sei.136 Eng damit verknüpft ist als dritter Aspekt die staatliche Unterstützung, die einer Volkskirche zuteilwerde, ohne dass sie dadurch zur Staatskirche werden dürfe. Diese sei seiner Ansicht nach unentbehrlich, wenn man überhaupt von einer Volkskirche sprechen wolle.137 Besonders bedeutsam sollte nach dem Ersten Weltkrieg das vierte von Mahling angeführte Merkmal werden: „Die Volkskirche liefert dem Staat das höchste sittliche Ideal, das er seiner Gesetzgebung zugrunde legen kann, den höchsten sittlichen Maßstab, den er zur Korrektur des sittlichen Bestandes des Volkes anlegen kann, das höchste sittliche Ziel, zu dem er als Kulturstaat das Volksganze leiten kann.“138 Und weiter heißt es dann „Hier muß gerade die Arbeit der Volkskirche einsetzen: ihre eigenen Glieder müssen so von dem Geiste Jesu durchdrungen sein, daß sie die sittlichen Wirkungen dieses Geistes auch im Volksleben zur Darstellung bringen, auf diese Weise das Geistesleben des Volkes sittlich beeinflussen, und so auch dem Staat 134 Ebd., 190 [Hervorhebungen im Original, BB]. Diese Aspekte sind für das liberale Volkskirchenverständnis in der Folgezeit von nicht geringer Bedeutung und werden von Trutz Rendtorff und seinen Schülern seit der Mitte der 1960er Jahre wieder aufgegriffen. 135 Mahling, Volkskirche, 85. Den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich Henning Bühmann, Göttingen. 136 Vgl. ebd., 91–95. 137 Vgl. ebd., 96. 138 Ebd., 97. Die Vorstellungen von Volkskirchen wurden im Übrigen auch durch die evangelische Mission international transportiert, vgl. hierzu insbesondere Wu, Christ, 138–151.
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dazu helfen, seine Rechtskodifizierung von einem immer feineren und fortschreitenden sittlichen Geiste zu durchwirken. So ist die Volkskirche diejenige Instanz, welche durch ihren inneren Geistesbesitz den Staat zur Normierung seiner sittlichen Prinzipien und zur Entfaltung derselben in der Rechtskodifizierung beeinflußt.“139
Diese Argumentation wurde nach Kriegsende und in den Revolutionswirren von den Protestanten begierig als Argument aufgegriffen und variiert. Von dieser empirischen Kirche unterschied der Berliner Praktische Theologe aber noch eine „ideale“ Volkskirche: „Die Volkskirche im idealen Sinn ist diejenige Kirche, welche es dahin gebracht hat, daß der Geist Jesu Christi alle Glieder des Volkes in Besitz nimmt, und so durch diese auch alle Institutionen des Volkslebens dem Wesen und der Herrschaft dieses Geistes entsprechend gestaltet werden.“140
Die Aufgabe bestehe nun darin, „die vorhandene Volkskirche zu einer solchen im idealen Sinn umgestalten zu helfen. Die Volkskirche soll sich zu einer Einheit mit einem christlichen Volkstum entwickeln.“141 Dieser Abschnitt hat zum einen deutlich gemacht, dass eine Erforschung der Historischen Semantik der Volkskirche im „langen 19. Jahrhundert“ ebenfalls ein lohnenswertes Unterfangen darstellten würde. Zum anderen ließen sich schon einige grundlegende Konfigurationen des Begriffs ableiten, die auch in den folgenden Dekaden wieder aufgerufen werden konnten.
139 Mahling, Volkskirche, 98 [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 140 Ebd., 103 [Im Original durch Sperrung hervorgehoben, BB]. 141 Ebd. Auch während des Krieges wird der Begriff einige Male verwendet, auch wenn noch ausführlichere Studien zur Verwendung der Volkssemantik im Protestantismus dieses Zeitraums ausstehen. Meist handelt es sich um kursorische Ausführungen, die lediglich konstatieren, dass die derzeitige Kirche eben auch als Volkskirche zu bezeichnen sei. Vgl. Meyer, Kirche, 11 und Rade, Kirche, 8; Haack, Volkskirche; Schowalter, Bedeutung, 58.
2. Volkskirche in der langen Krise der Weimarer Republik Die Erfahrungen der Weimarer Zeit waren von konstitutiver Bedeutung für die Begriffsgeschichte der Volkskirche. Insofern kommt den Ergebnissen der vier folgenden analytischen Kapitel (2.3–2.6) eine besondere Bedeutung zu. Die institutionellen Auswirkungen der deutschen Revolution auf das innere Gefüge des Protestantismus sind kaum hoch genug zu veranschlagen, was sich auch auf die Relevanz, die der Begriff in dieser Zeit erlangte, niederschlug. Der Weimarer Protestantismus lässt sich ohne die Berücksichtigung der Bezüge zur Volkskirche kaum adäquat verstehen.
2.1 Die evangelischen Kirchen in der Weimarer Republik Am Anfang stand ein Ende. Oder genauer gesagt, mehrere Enden. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden Kaiser Wilhelm II. und mit ihm die anderen Fürsten in Deutschland zum Rücktritt bewegt bzw. gezwungen.1 Mit der Abdankung der Fürsten endete auch die Form des landesherrlichen Kirchenregiments2, die sich in der Frühen Neuzeit ausgebildet hatte, für die evangelischen Landeskirchen. So war etwa der summus episcopus der preußischen Landeskirchen Wilhelm II. gewesen. Alle kirchlichen Amtsträger wurden von den Fürsten ernannt, die Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen waren eng; ein überkommener Sachverhalt, der seine Ursprünge in dieser Form im konfessionellen Zeitalter hatte.3 Wie stark dies auf die Mentalität des deutschen Protestantismus gewirkt hat, kann kaum überschätzt werden. Anstatt die Potenziale zu sehen, die das neue Staatswesen schon bald für die Kirche bereithalten sollte, gelang es vielen Protestanten nicht, ihre Vorbehalte gegenüber Weimar zu überwinden. Die Weimarer Reichsverfassung, die im Artikel 137, Absatz 1 festlegte, dass es keine Staatskirche gebe, führte jedenfalls zu einigen staatsrechtlichen Neuerungen, auf die man sich kirchlicherseits einzustellen hatte.4 Zunächst 1 Vgl. Machtan, Abdankung; Machtan, Untergang. 2 Vgl. de Wall, Kirchenregiment; Krumwiede, Kirchenregiment. 3 Die eigentlichen Wurzeln einer engen Verbindung zwischen Staat und Kirche sind freilich schon in der sog. „Konstantinischen Wende“ zu sehen, vgl. als Überblick Zippelius, Staat. Vgl. auch vom Anfang des 20. Jahrhundert die Studie von Rothenb cher, Trennung. 4 Einen noch immer konzisen Überblick zur Revolution von 1918/19, der die Kirchen aber gänzlich
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wurde das politische Geschehen von den sozialdemokratischen Parteien bestimmt, in denen man „Feinde“ der Religion und damit auch der Kirchen sah. Die Fragen des Religionsunterrichts, der Kirchensteuer und der tatsächlichen Umsetzung der Trennung von Kirche und Staat, sowie nicht zuletzt die Arbeit an neuen Kirchenverfassungen sollten die Kirchen intensiv beschäftigen.5 Ursula Büttner konstatierte für den landeskirchlich organisierten Protestantismus dieser Jahre „erschwerte Bedingungen“. Zwar habe das Erleben des Weltkrieges „ein verstärktes Bedürfnis nach religiösem Rückhalt“ ausgelöst, doch sei dieser nun auch verstärkt in Sekten, okkulten Kreisen und anderen utopischen Lebensstilen gesucht worden.6 Zusätzlich sei „die mit dem Vordringen rationaler Strukturen im Zeichen der Industrialisierung und Urbanisierung verbundene Tendenz zur Entkirchlichung“ weiter fortgeschritten.7 Die starken Zulauf bekommende Kirchenaustrittsbewegung wurde nicht zufällig zu einem wichtigen Thema der kirchlichen Debatten.8 Im Umgang mit der neuen Staatsform machte sich auch die nationalkonservative Prägung weiter Teile des deutschen Protestantismus bemerkbar. Die Reichsgründung 1870 als Geburtsstunde eines „heiligen protestantischen Reiches deutscher Nation“ habe man ebenso wie „die konservative Ordnung von Staat und Gesellschaft immer mehr mit dem Willen Gottes gleichgesetzt.“9 Auf Grundlage dieser ausgeprägten „nationalprotestantischen Mentalitäten“ kam es bei vielen Evangelischen im Angesicht der Revolution zu einem Gefühl des Traumas.10 Jedenfalls ist es nicht sehr überraschend, dass viele Protestanten nur sehr langsam mit der Weimarer Demokratie ihren Frieden machten, die meisten jedoch ihre politische Heimat in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) fanden. Darüber kann auch das Engagement einer Reihe von prominenten evangelischen Theologen nicht hinwegtäuschen, die in der Weimarer Nationalversammlung an der Entstehung der Verfassung mitgearbeitet hatten.11 In der größten deutschen Landeskirche, in Preußen, schienen die schlimmsten Befürchtungen durch den neuen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung der USPD, Adolph Hoffmann, der sich dieses Amt mit dem moderateren Konrad Haenisch von der MSPD teilte12, bittere Realität zu
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vernachlässigt, bietet Kluge, Revolution; neue Perspektiven eröffnet der Sammelband von Gallus, Revolution in dem die Kirchen aber ebenfalls keine besondere Rolle spielen. Ideengeschichtlich ist diese Idee freilich sehr viel älter und geht mindestens auf die Französische Revolution zurück, vgl. Zippelius, Staat, 136–141. Vgl. hierzu auch die interessante Studie von Linse, Propheten. Alle Zitate aus B ttner, Weimar, 268 f. Für ein Beispiel unter vielen vgl. L[aible], Kirchenaustrittsbewegung. B ttner, Weimar, 269. Den protestantischen Beitrag zum „Erfolg“ der Dolchstoßlegende erörtert Barth, Dolchstoßlegenden, 150–172. Vgl. Kuhlemann, „Traumatisierungen“. Vgl. Nowak, Theologen; Nowak, Kirche, 85–105. Alle Ministerien wurden zu dieser Zeit paritätisch von MSPD und USPD besetzt, vgl. Peukert, Republik, 39 f.
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werden. Hoffmanns Religionspolitik zielte darauf, eine gründliche Trennung von Kirche und Staat, die ja zu den Grundüberzeugungen der meisten Sozialdemokraten gehörte, programmatisch umzusetzen.13 Es waren vor allem drei Entscheidungen Hoffmanns, die die Empörung der Kirchen hervorriefen. Am 16. November 1918 dekretierte er, ohne die Zustimmung Haenischs einzuholen, dass zum 1. April 1919 alle bisher gewährten Staatszuschüsse zu streichen wären. Diese Zuschüsse machten nicht weniger als die Hälfte des Etats der evangelischen Landeskirchen aus.14 Die Wirkung dieser Erklärung war verheerend. Eine zweite Verlautbarung zielte auf die Erleichterung des Kirchenaustritts ab, während er mit der dritten den „Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach für sämtliche Schulen Preußens aufhob und den christlichen Charakter der Schulen“15 zu beseitigen gedachte. Auch wenn diese radikale Trennungspolitik der sozialistischen Regierung in Preußen schließlich nicht durchgeführt und das Ruder schon bald darauf allein in die Hände des wesentlich gemäßigteren Haenisch gelegt wurde, sollte man die Auswirkungen dieser frühen Konflikte auf die protestantische Mentalität nicht unterschätzen. Bei den meisten Zeitgenossen gerade in den eher konservativen Kirchenleitungen in Preußen und andernorts blieb eine große Skepsis gegenüber dem neuen Staat. Daran änderte sich auch wenig durch die in der Weimarer Reichsverfassung schließlich „in sehr maßvoller Weise“16 vollzogene Trennung von Kirche und Staat.17 Auf institutioneller Ebene kam es recht schnell zu einer „Konsolidierung der kirchlichen Institutionen unter Wahrung der überkommenen landeskirchlichen Strukturen“18, ob dies aber, wie Ursula Büttner behauptet, tatsächlich wenig Raum für Neues gelassen habe, wäre noch genauer zu überprüfen. Diese Behauptung ist besonders kritisch zu betrachten, wenn man die theologischen Neuaufbrüche dieser Zeit im Blick behält, auch wenn hier freilich nicht der Frage nachgegangen werden kann, welche Auswirkungen diese auf der kirchenleitenden Ebene im Einzelnen gehabt haben mögen. Vor allem aber boten auch die kirchlichen Institutionen nunmehr einen demokratischen Aufbau, wie sie ihn in ihrer Geschichte bislang nicht gekannt hatten. Es lässt sich festhalten, dass zumindest institutionell die evangelischen 13 Vgl. B ttner, Weimar, 270; Scholder, Kirchen, Bd. I, 19–22; Jacke, Kirche, 44–47; H rten, Kirchen, 37–73 sowie die beiden älteren Studien von Kçhler, Auswirkungen, 17–37 und Motschmann, Kirche, 27–32. 14 Vgl. Scholder, Kirchen, Bd. I, 20; zum Einkommen vgl. Troschke, Kirchenstatistik, 94 f. 15 Scholder, Kirchen, Bd. I, 20. 16 B ttner, Weimar, 270. 17 Allerdings sollte auch nicht verschwiegen werden, dass insbesondere von liberalen Theologen die Demokratie enthusiastisch begrüßt wurde und man an die Umsetzung einer Demokratisierung der Landeskirchen dachte, oftmals unter expliziter Verwendung des Begriffs „Volkskirche“. Aus rechtshistorischer Sicht vgl. Link, Staatskirchenrecht. 18 B ttner, Weimar, 271.
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Landeskirchen sich mit der neuen Republik arrangierten und in den Zeiten der „relativen Stabilität“ die Möglichkeiten des neugestalteten staatlichen Umfeldes zu nutzen wussten. Kurt Nowak hat in seiner bis heute nicht überholten Studie die wichtigsten Elemente des protestantischen Verhaltens in diesem Zeitraum herausgearbeitet. Lösungsvorschläge, wie die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen seien, gab es in der ganzen Spannbreite von „marxistisch bestimmten Einsichten in das Klassengefüge der damaligen Gesellschaftsordnung bei den religiösen Sozialisten über christlich-soziale und evangelisch-soziale Impulse […], bis hin zu mehr konservativerer Programmatik mit teilweise antikapitalistischer und antiliberalistischer Vorstellungswelt […].“19 Einheitliche evangelische Positionierungen gab es in diesen Fragen also noch weniger, als sich das mit Blick auf den politischen Katholizismus sagen ließe. Dies schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass es nicht gelang, eine protestantische Partei zu gründen.20 Das Verhältnis von Kirche und Staat hat sich nach den eklatanten Spannungen der Übergangszeit entspannt. Das Bestreben, sich der Republik zu öffnen war „von der Einsicht getragen, daß die evangelische Kirche, wenn sie in ihrer geistig-politischen Oppositionsstellung verharrte, einen immer geringeren Einfluß auf das öffentliche Leben würde ausüben können.“21 Wenn man gewillt ist, diesen Wunsch nach Öffentlichkeitseinfluß mit einem volkskirchlichen Selbstverständnis in Verbindung zu bringen, so ist die Annäherung an den Staat in der Zeit der stabileren Phase der Republik auch so zu erklären, dass man auch in der anderen Staatsform Volkskirche bleiben wollte.22 Insgesamt habe sich jedenfalls in der preußischen Kirchenleitung ein „konservativer Vernunftrepublikanismus“ entwickelt, der aber von dem „demokratisch-liberalen Republikanertum“ wie es Ernst Troeltsch, Otto Baumgarten, Martin Rade, Hermann Mulert und einige andere praktizierten, weit entfernt gewesen ist.23 Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das insgesamt kirchenfreundliche Klima ist die kontinuierliche Regierungsbeteiligung der Zentrumspartei, die gegen die Kirchen gerichtete Maßnahmen wie in den Revolutionsjahren schon früh zu unterbinden verstand.24 Erwähnenswert ist die sogenannte „Vaterländische Kundgebung“ auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Königsberg 1927. Die beiden Hauptreferate, die Paul Althaus über „Kirche und Volkstum“ und Wilhelm Kahl über „Kirche und Vaterland“ hielten, thematisierten die für die 1920er Jahre nicht untypischen Grundlinien „Obrigkeitsgehorsam, Vaterlandsliebe
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Nowak, Kirche, 126. Vgl. ebd., 144–157, dort auch zu dem Wählerverhalten 157–171. Ebd., 172. Vgl. Kaiser, Protestantismus, vor allem 190–193. Vgl. Nowak, Kirche, 172. Vgl. zu den genannten Wolfes, Demokratiefähigkeit. Vgl. für einen Überblick Thierfelder, Religionspolitik; Wollstein, Kirche.
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und Volkstumsideologie“25. Auf der Kundgebung sei man bestrebt gewesen, den altkonservativen Vaterlands- mit dem neokonservativen Volkstumsgedanken und den protestantischen Staatsgehorsam zu verbinden.26 Sie ist wohl auch deshalb ein aufschlussreiches Ereignis, weil dieses Bündnis auch für das Verhältnis von Protestantismus und Nationalsozialismus folgenreich werden sollte.27 Ob Helmut Gecks Beschreibung des Verhältnisses als eines von „Distanz und Loyalität“28 wirklich zutrifft, kann zumindest angezweifelt werden, sie bräuchte aber in jedem Fall mehr Tiefenschärfe. Wie Matthias Pöhlmann gezeigt hat, lässt sich insbesondere am Umgang mit dem Begriff „Volk“ ein Weltbildwandel im protestantischen Milieu nachzeichnen.29 Hierdurch erklärt sich auch die Relevanz der begriffsgeschichtlichen Untersuchung der Volkskirche, die hiervon ja, so wäre zu vermuten, wohl in ihrer semantischen Entwicklung nicht unbeeinflusst gewesen sein mag. Im Folgenden sollen also einige Aspekte des Staats- und Gemeinschaftsverständnisses der Weimarer Jahre skizziert werden, um sie danach mit den Implikationen der Volkskirchensemantik abzugleichen. Jörn Retterath hat in seiner Münchener Dissertation instruktive Hinweise über die Vorstellungen von Volk und Gemeinschaft zwischen 1917 und 1924 gegeben.30 Er versucht die bisher geläufige Dichotomie von demokratischen und antidemokratischen Volksvorstellungen durch eine Einteilung von pluralistischen Konzepten auf der einen und holistischen auf der anderen Seite zu ersetzen. „Während unter ,pluralistischem‘ Denken eine Haltung verstanden werden kann, welche die Heterogenität einer ausdifferenzierten Gesellschaft zur Kenntnis nahm und dem Dissens Raum bot, basierten ,holistische‘ Sichtweisen auf der Vorstellung einer allumfassenden Ganzheit. Sie erwuchsen häufig aus einem tiefen Unbehangen an der industrialisierten Moderne und suchten den Ausweg daraus unter Rückgriff auf organische Ideen.“31
Es wird im Folgenden zu überprüfen sein, inwiefern sich diese Analysekategorien auch auf den Weimarer Volkskirchenbegriff anwenden lassen können. Dies gilt auch für ein weiteres Differenzierungsmerkmal der nachfolgenden semantischen Analyse, nämlich der Unterschied zwischen Gesellschaft und 25 Vgl. Nowak, Kirche, 173; Althaus, Kirche, 1927 sowie Althaus, Kirche, 1928. Vgl. auch die Studie von Kurz, Denken. 26 Vgl. Nowak, Kirche, 176 f. 27 Man sollte sich aber davor hüten, mit dieser Charakterisierung den gesamten Protestantismus der Zwischenkriegszeit zu beschreiben, hier ließen sich sicherlich noch weitere Schattierungen in das Gesamtbild einzeichnen, wie überhaupt eine neue Gesamtstudie des Weimarer Protestantismus ein Forschungsdesiderat darstellt. 28 Vgl. Geck, Distanz; Wolfes, Vernunftrepublikanismus. 29 Vgl. Pçhlmann, Weltbildwandel. 30 Retterath, Volk. Insbesondere im ersten Kapitel gibt der Verfasser aber auch Hinweise, die über seinen thematischen Zuschnitt hinausgehen. 31 Ebd., 12 f.
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Gemeinschaft, den Retterath zu Recht hervorhebt. In der Zwischenkriegszeit bezog man sich hierbei vor allem auf das erstmals 1887 erschienene Hauptwerk Ferdinand Tönnies‘ „Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie“, welches zu dieser Zeit intensiv rezipiert wurde.32 Mit welchen Konnotationen wurden diese Begrifflichkeiten in der Weimarer Zeit verbunden? Retterath hat folgende Charakteristika herausgearbeitet. Tönnies hatte die Gemeinschaft mit organischen Formationsvorstellungen verbunden, das „Prinzip der ,Gemeinschaft‘ war für ihn durch die ,lebendig-organische, natürlich-gewachsene, durch Neigung und Gewohnheit bejahte, familienhafte Verbundenheit von Menschen‘ geprägt.“33 In der Gesellschaft stünden die Individuen hingegen unverbunden nebeneinander, sie sei ein „Hort des individualistisch-egoistischen Handelns“.34 Retterath kann dann zeigen, dass die „Gemeinschaft“ zum Gegenentwurf der modernen „Gesellschaft“ geworden war.35 Wichtig erscheint die Erkenntnis, dass die Verklärung des Gemeinschaftsgedankens „keineswegs nur im konservativen oder gar ,völkischen‘ Milieu statt[fand]“, sondern auch von anderen „politisch-gesellschaftlichen Strömungen“36 vertreten worden sei. Er spricht schließlich von pluralistischen und holistischen Potenzialen des Volksbegriffs; inwieweit diese auch die Volkskirchensemantik betrafen und beeinflussten, wird aufzuzeigen sein.37 In der Zwischenkriegszeit bildeten sich zwei staatsrechtliche Schulen heraus, die noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein die Diskussionen prägen sollten. Auf der einen Seite ist hier an die vor allem durch Carl Schmitt geprägte Richtung des Dezisionismus zu denken. Auf der anderen Seite der von Rudolf Smend geprägte Harmonismus, der das Moment der Integration in den Vordergrund rückte. „Wo Schmitt versuchte, seine wissenschaftlichen Theoreme durch polemische Zuspitzung auf politische Extremsituationen – speziell auf den Bürgerkrieg und den Ausnahmezustand – zu gewinnen, hatte Smends Denken die Vision eines friedlichen und von allgemeiner Harmonie geprägten Normalzustandes zum Ausgangspunkt, welche er scharf vom polarisierenden politischen Meinungskampf der Weimarer Zeit abgrenzte.“38
32 Vgl. u. a. Lichtblau, Einleitung; Osterkamp, Gemeinschaft sowie die Beiträge in Carstens, Ferdinand Tönnies. 33 Retterath, Volk, 49. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd., 62–64. 36 Beide Zitate ebd., 64. 37 Dies gilt auch für den von Retterath aufgezeigten Mechanismus der Integration und Abgrenzung des Volksbegriffs, der ja auch für den Ansatz dieser Arbeit erkenntnisleitend ist, vgl. ebd., 54–56. 38 G nther, Denken, 35.
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Beide Juristen standen dabei in einem kritisch-distanzierten Verhältnis zur Weimarer Demokratie. Smend wurde für viele Kirchenrechtler der nächsten Jahrzehnte zu einer wichtigen Lehrerfigur.39 Diese unterschiedlichen Optionen sollten jedenfalls im Hinterkopf behalten werden, wenn es darum gehen wird, die protestantischen Selbstverortungen als Volkskirche zum Staat der Weimarer Republik zu rekonstruieren.40
2.2 Theologiehistorische Entwicklungen des Zeitraums In theologiegeschichtlicher Hinsicht gehört die Zwischenkriegszeit sicherlich zu den schillerndsten und spannendsten Zeiträumen des 20. Jahrhunderts, die eng mit der kulturellen Entwicklung der Republik von Weimar verbunden ist.41 Das Erlebnis des Ersten Weltkrieges, sowohl im Blick auf seinen Beginn als auch auf sein Ende, spielte für viele Theologen eine kaum zu überschätzende Rolle und lässt sich wohl mit Recht als eine „Epochenwende“ bezeichnen.42 Freilich sollte der zäsurale Charakter von 1918 auch nicht überschätzt werden, wie die Persistenz konservativer Gruppierungen und Richtungen innerhalb der protestantischen Theologie und Kirchen zeigt. Insbesondere die „nationalprotestantische Mentalität“ blieb in weiten Kreisen in erheblichem Maße verbreitet.43 Hermann Fischer führt in seinem einschlägigen Werk die Dialektische Theologie, den Religiösen Sozialismus sowie die Lutherrenaissance und das Jungluthertum als drei Neuansätze der theologischen Arbeit an, die hier kurz konturiert werden sollen.44 Aufs Ganze gesehen war die Ausbildung dessen, was man heute Dialektische Theologie nennt, sicherlich der folgenreichste Neuanfang theologischer Art. Ihre Entstehung ist eng mit dem geradezu omnipräsenten Krisenbewusstsein der Weimar Jahre verbunden, weshalb der katholische Theologe Karl Adam und mit ihm andere diese Strömung auch als „Theologie der Krisis“45 bezeichneten.46 Insbesondere Karl Barths zweite Auflage seines Römerbriefkommentars wurde zum Signum einer Theologie, die in ihr Zentrum die „Neuentdeckung der Souveränität Gottes“ stellte.47 Die entscheidenden 39 Er selbst kam aus einem protestantischen Elternhaus als Sohn des gleichnamigen Alttestamentlers, zu seinen Prägungen vgl. ebd., 39 f. 40 Vgl. aber Tanner, Verstaatlichung. 41 Vgl. Hoeres, Kultur; Schwan, Philosophie. 42 Vgl. Fischer, Theologie, 9 mit der Überschrift: Probleme zeitlicher Abgrenzung: Der Erste Weltkrieg als Epochenwende; H rle, Aufruf sowie Rohls, Theologie. 43 Vgl. Kurz, Denken, 21–102. 44 Vgl. ferner Kupisch, Strömungen. 45 Vgl. Adam, Theologie; Brunner, Theology; Piper, Developments; Kr ger, Theology. 46 Vgl. jetzt auch den in vielerlei Hinsicht aufschlussreichen Forschungsüberblick von Goering, Friedrich Gogarten, 395–446; Goering, System. 47 Fischer, Theologie, 21; ferner H rle, Dialektische Theologie; Chalamet, Karl Barth.
Theologiehistorische Entwicklungen des Zeitraums
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Ideen sind in der Bezeichnung Gottes als den „ganz Anderen“ und der Konstatierung eines „unendlichen qualitativen Unterschied“ zwischen Gott und Mensch zu finden. Barth, Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann, Emil Brunner und andere fanden ihr vereinigendes Element zum einen in der Kritik, zum anderen in einer „Neubesinnung auf die biblische Botschaft“ im Sinne einer „Theologie des Wortes Gottes“.48 Von großer Bedeutung ist die anthropologische Akzentsetzung der frühen Dialektischen Theologie. Der Mensch stehe immer mit leeren Händen vor Gott und auch im Blick auf die dem Menschen eigene Kultur, sowie sein Denken und Erleben, bleibe Gott souverän. Somit ist dieser theologische Aufbruch auch eine Absage an die Überzeugungen vieler liberaler Theologen, die offener waren für eine Synthese von Christentum und Kultur, beziehungsweise diese auch offensiv propagierten.49 Der Religiöse Sozialismus hat seine Wurzeln in der Schweiz, wo er um die Jahrhundertwende von Theologen wie Hermann Kutter und Leonhard Ragaz entwickelt wurde. Unter dem Begriff „versteht man diejenige Bewegung innerhalb des Protestantismus, die unter dem Rückgriff auf den Reich-Gottes-Gedanken der Verkündigung Jesu das Verhältnis des christlichen Glaubens und Ethos zu den sozialen Problemen, wie sie in besonderer Dringlichkeit in der Arbeiterschaft zutage traten, in enger Anlehnung an parteipolitische Aktivitäten neu zu bestimmen suchte.“50
Die Ausbildung des Religiösen Sozialismus ist eng verwoben mit der „sozialen Frage“, also der Herausforderung, die die Industrielle Revolution an die Kirchen in Form von Pauperisierung und Verelendung herantrug. Man versuchte die an die „Sozialisten“ verlorene Arbeiterschaft durch die Konzeptualisierung einer christlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung zurückzugewinnen. Zum einen stritt man darum, ob die Volkskirche ein geeignetes Konzept zur Rückgewinnung der Arbeiter sei, zum anderen wurden die der Kirche fernstehenden Arbeiter auch zu einem Lackmustest für die Sinnhaftigkeit der Verwendung des Begriffs. Führende deutsche Vertreter eines religiösen Sozialismus nach 1918 waren Paul Tillich, Eduard Heinemann, Emil Fuchs, Georg Wünsch und Carl Mennicke. Fischer führt ferner die Ideen der „Lutherrenaissance“ an. Um das Lutherjahr 1917 hatte sich die Beschäftigung mit dem Werk des Reformators verdichtet. Vor allem die Arbeiten des Berliner Kirchenhistorikers Karl Holl51 sowie dessen Schülerkreis sind mit diesem Begriff verbunden, der zunächst vor allem eine stark intensivierte Auseinandersetzung und Erforschung Lu48 Vgl. Fischer, Theologie, 22. 49 Vgl. Grass, Liberalismus III.; weniger ausführlich ist der neuere Beitrag von Gr b, Liberalismus IV. Religiös; Jacobs, Theologie. 50 Fischer, Theologie, 39; Ruddies, Sozialisten; aus forschungsgeschichtlicher Sicht interessant ist der Beitrag von Schrey, Sozialismus, 181–186. 51 Vgl. Walter, Karl Holl.
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thers meint.52 Allerdings wurden aus dieser Lutherdeutung durchaus auch kirchenpolitische Schlussfolgerungen gezogen. Anders akzentuiert ist die Bezeichnung „Jungluthertum“, der man durchaus eine Nähe zur „Konservativen Revolution“ attestieren kann.53 Die Kategorien des Volkes und der Ordnung, mithin ein genuin nationalistischer Zug, geraten beispielsweise bei Emanuel Hirsch und Paul Althaus d. J. stark in den Vordergrund, was womöglich auch ihre spätere Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus miterklären kann.54 Von diesen theologischen Typisierungen abgesehen, gab es auf der Ebene der einzelnen Landeskirchen eine Reihe von unterschiedlichen kirchenpolitischen Fraktionen. Die Positive Union als größte Gruppierung sammelte die kirchlich-konservativen Kreise hinter sich. Die Volkskirche war für sie ein zentraler Begriff. Das Ziel sei eine vom Staat unabhängige und auf das Volk in seiner Gesamtheit ausgerichtete Kirche gewesen.55Als weitere große Kirchenpartei führt Lessing die Volkskirchliche Evangelische Vereinigung an. Für die Mitglieder dieser Gruppierung war die Gemeinde „ein grundlegendes Verfassungsprinzip der Kirche“.56 Er charakterisiert sie als Mittelgruppe mit dem Ziel, die Volkskirche auf der Basis des Gemeindeprinzips zu verwirklichen.57 In beiden Gruppierungen stellte die Volkskirche im Laufe der Weimarer Republik einen theologischen Wert dar. Eine führende Gestalt der Volkskirchlichen Vereinigung war der Greifswalder Kirchenrechtler Günter Holstein.58 Positive Union und Volkskirchliche Evangelische Vereinigung seien laut Lessing die „tragenden Kräfte der Preußischen Landeskirche“59 gewesen. Die konfessionellen Gruppen, also Lutheraner und Reformierte, legten naheliegender Weise eine größere Betonung auf das jeweilige Bekenntnis. Gleichwohl spielte der Begriff der Volkskirche bei dezidiert lutherischen Theologen eine gewichtige Rolle. Ob tatsächlich Lutheranern wie Reformierten „das Desinteresse an der Volkskirche als ekklesiologische[m] Problem“60 gemein war, wird noch zu überprüfen sein. Als kleinste Gruppe sind schließlich die „Freunde der freien Volkskirche“ zu nennen, die Lessing im linken Spektrum der Generalsynode verortet. Wie der Name schon andeutet, ist sie dem liberalen Protestantismus zuzuordnen, mit engen Verbindungen zur „Christlichen Welt“ Martin Rades.61 Als Ziel hat 52 Vgl. Fischer, Theologie, 45–47 sowie vor allem Assel, Aufbruch; außerdem die Beiträge in Helmer / Holm, Lutherrenaissance. 53 Zur Konservativen Revolution vgl. Breuer, Anatomie und Greiffenhagen, Dilemma, 241–257. 54 Vgl. Ericksen, Theologen; Ericksen, Complicity, 24–60. 55 Vgl. Lessing, Bekenntnis, 40–68. 56 Ebd., 69. 57 Vgl. ebd., 73. 58 Vgl. dessen Opus magnum Holstein, Grundlagen; vgl. ferner Holstein, Gegenwartsaufgaben. 59 Lessing, Bekenntnis, 103. 60 Ebd., 162. 61 Zur Christlichen Welt vgl. Bock, Christliche Welt.
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man sich den Ausbau der Landeskirchen zu freien Volkskirchen gesetzt, womit ein Plädoyer für die Bekenntnisfreiheit verbunden wird. Seine weiteren Postulate, gedacht als Teil der Verwirklichung der Volkskirche sind das Gemeindeprinzip, die Lehrfreiheit und die Toleranz gegenüber anderen Gruppe sowie die Verkündigung eines „einfachen“ Evangeliums.62 Grosso modo lassen sich diese Gruppierungen nicht nur in Preußen, sondern auch, mit unterschiedlichen Profilbildungen, in den meisten anderen deutschen Landeskirchen wiederfinden. Allerdings kann insbesondere für die Zeit bis 1945 festgehalten werden, dass sowohl nominell als auch hinsichtlich des theologischkirchenpolitischen Standpunktes die preußische Landeskirche mitsamt ihren Provinzialkirchen ein „Schwergewicht“ gewesen ist.63 Die Weimarer Jahre wurden in der evangelischen Theologie zu einer Phase „protestantischer Zeitdeutungskämpfe“.64 In deren Vordergrund stand die „Auseinandersetzung um das angemessene Verständnis der Kirche und ihre institutionelle Gestalt“ wobei „insbesondere die heftigen Kontroversen um den Begriff der ,Volkskirche‘, einen Dauerkonflikt in den bemerkenswert polemisch geführten protestantisch-theologischen Debatten nach 1918 [bezeichnen].“65 Dadurch, dass alle hier genannten Gruppierungen die Volkskirche zumindest nicht ablehnten und mit unterschiedlicher Verve und Akzentsetzungen vertraten, zeigt sich schon die allgegenwärtige Relevanz, die der Begriff auf der Ebene der Theologie und der Kirchenleitungen hatte.
2.3 Spannungsfeld I: Kirche und Staat „Der Vorhang ist gefallen. Das Spiel ist zu Ende, das lange grausame Spiel des Weltkriegs. Die Ouvertüre spielte ein halbzivilisiertes Volk, bei dem der Meuchelmord zu Hause ist, den Schlußakkord ein hochzivilisiertes Volk, in dem der Mammon herrscht wie in sonst keinem der Erde. Die Waffen ruhen, die Grausamkeit geht weiter. Leise beginnen die Friedensglocken zu läuten im Deutschen Reich, die langersehnten. Und doch nicht die ersehnten. Die hatten einen hellen Klang. Die wir heute hören, klingen dumpf, fast wie Grabgeläute.“66
So wie für den hier zitierten lutherischen Theologen und Generalsuperintendenten Theodor Kaftan war das Kriegsende 1918 sowie die damit einher62 Vgl. Lessing, Bekenntnis, 184. Zu den führenden Köpfen dieser Gruppe gehörten u. a. Hermann Mulert und Hans von Soden. 63 Wie aus dem Quellensample ersichtlich, wurde versucht, auch regional eine möglichst repräsentative Auswahl zu treffen. 64 Christophersen, Kairos. 65 Graf, Einleitung, 9. Aus zeitgenössischer juristischer Sicht vgl. Kumpmann, Bedeutung. 66 Kaftan, Was nun?, 5; vgl. die Rezension von Schubring, Rezension zu Kaftan, Was nun? sowie Schian, Was ist jetzt zu tun?
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gehende Revolution für viele Protestanten ein gravierender Einschnitt. Die Kirchen waren im Grunde ohne rechtliche Leitung, auch wenn die synodalen Ansätze zur Umgestaltung der kirchlichen Verfassung aus der Zeit des Kaiserreichs diesen Effekt abmildern konnten.67 Nichtsdestotrotz waren nicht geringe Teile der protestantischen Bevölkerung in dieser Weise auf den Staat bezogen gewesen, weshalb man hier wohl, zumindest tendenziell, von einer eher konservativen Tendenz sprechen kann.68 In den Bemühungen, sich angesichts dieser einschneidenden Veränderungen zu orientieren, steht der Begriff der Volkskirche im Zentrum. 2.3.1 Kriegsende und Volkskirchenbewegung Nach dem Kriegsende entwickelte sich eine „Volkskirchenbewegung“, die sich über nahezu alle Landeskirchen erstreckte und den Begriff kirchenpolitisch zu instrumentalisieren versuchte. Der zu diesem Zeitpunkt als Pfarrer in Berlin tätige Otto Dibelius69 sah die Initialzündung für diese Bewegung in der Revolution von 1918: „Da kam der 9. November 1918. Das Sturmsignal der Revolution gellte durch die deutschen Lande. Auch die evangelischen Kirchen Deutschlands erzitterten unter den Erschütterungen dieser schicksalsschweren Tage. Und in den Herzen derer, die an ihrer Kirche hingen, blitze die Überzeugung auf: nun ist auch für die Kirche neue Zeit! Nun muß aus dem unvolkstümlichen Bau der früheren Tage endlich, endlich eine wahre, freie, kraftvolle Volkskirche erstehen!“70
Sowohl die Befürworter der Revolution, wie auch deren Gegner hätten in der Revolution dazu beigetragen, dass sich diese Forderung so stark habe entfalten können. Die erste Gruppe habe die Chance gesehen, ähnlich wie auf staatlicher Ebene nun auch die Kirche von unten nach oben aufbauen zu können und sie somit „am Geschenk des neuen Geistes“71 teilhaben zu lassen. Auf der anderen Seite machte man sich die Forderung nach der Volkskirche zu Eigen um die Kirche „vor der Zerstörung durch den neuen Geist“72 zu retten. Nur „wenn das Volk seine Kirche wiederfindet und die Kirche ihr Volk“73, so 67 Vgl. vor allem Winnebeck, Apostolikumsstreitigkeiten; zu den Hintergründen vgl. Geck, Schleiermacher. 68 Dies gilt es freilich weiter zu differenzieren. Auch demokratische und religiös-sozialistische Gruppen drängten nach vorne, um ihren mit der „Volkskirche“ verbundenen Überzeugungen zur Durchsetzung zu verhelfen. Grosso modo scheinen aber die konservativen Richtungen, zumindest in Preußen, erfolgreicher geblieben zu sein. 69 Vgl. Fritz, Otto Dibelius; Beutel, Otto Dibelius. 70 Dibelius, Volkskirchenräte, 203; Lohmann, Volkskirchenbund. 71 Dibelius, Volkskirchenräte, 203. 72 Ebd. 73 Ebd.
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Dibelius‘ Charakterisierung der Motivation dieser Gruppe, sei eine Wahrung des Erbes der Vergangenheit möglich. Hier stehen gemeinschaftliche, organische Vorstellungen im Vordergrund und zwar im Sinne eines engen Konnexes zwischen Kirche und Volk. Der Staat bleibt an dieser Stelle zunächst außen vor. Die religionsfeindliche Stoßrichtung der Revolutionsregierung habe dann schließlich ihr Übriges getan, um eine gewisse Geschlossenheit in kirchlichen Kreisen entstehen zu lassen, sei es doch für die Kirche „um Tod und Leben“74 gegangen. „Kein Wunder, wenn sie sich rüstete zum Kampf! Kein Wunder, wenn die Geister aus den verschiedensten Lagern einander die Hand reichten zur gemeinsamen Arbeit! Kein Wunder, wenn eine Volkskirchenbewegung entstand, an den verschiedensten Stellen zu gleicher Zeit, in gleicher Absicht, in gleichem Geist!“75
Freilich überzeichnet Dibelius die Einigkeit und Geschlossenheit der Gruppierungen, die er dann vorstellt. Zwar gab es einen breiten Konsens in Bezug auf die Volkskirche, aber die Definitionen, sofern man sich die Mühe machte, konnten doch ganz erheblich divergieren.76 Eindrucksvoll sind aber in jedem Fall die Zahlen, die er zum Beleg heranzieht. Seiner Ansicht nach hätten sich in kürzester Zeit allein in Preußen 500 000 Christen in „Volksbund-Vereinen“77 organisiert. Er verweist hier zunächst auf die federführend von Martin Rade78 angestoßene Gründung von Volkskirchenräten, deren Name sich an die zeitgenössischen Arbeiter- und Soldatenräte anlehnt. Einflussreicher sei der vom Göttinger Theologen Arthur Titius79 ins Leben gerufene Volkskirchenbund gewesen, während sich in Berlin ein Volkskirchendienst gründete, der sich bald in „Deutscher Volkskirchendienst“ umbenannte.80 Den Ertrag dieser Bewegung bewertet Dibelius ambivalent. Eine Belebung der Arbeitsgemeinschaften oder eine neue positive Einstellung zur Kirchlichkeit habe die Bewegung bislang nicht gebracht. „Was sie aber gebracht hat, das ist des Dankes wert, das wird dazu helfen, daß unsere Kirche Volkskirche bleibt, daß wir voll Vertrauen der Stunde entgegen74 Ebd., 204. 75 Ebd. 76 Es gab also eine umfängliche Bezugnahme auf den Begriff der Volkskirche, wenn auch die Einzelheiten der Idee und der damit verbundenen Konzepte erheblich divergieren konnten. 77 Dibelius, Volkskirchenräte, 208. 78 Aus der weitläufigen Literatur hervorzuheben sind neben der älteren materialreichen Studie von Rathje, Welt die neueren Arbeiten von Schwçbel, Martin Rade und Nagel, Martin Rade hervorzuheben. 79 Vgl. Henning, Arthur Titius. 80 Vgl. Dibelius, Volkskirchenräte, 206. Für einen konzisen, zeitgenössischen Überblick vgl. Zscharnack, Arbeitsorganisationen; Hinderer, Volkskirchenbünde. Mit diesen Konzepten verband sich die Vorstellung eines genossenschaftlichen, von den Gemeinden ausgehenden Aufbaus der Kirche, vgl. in diesem Sinne auch Curtius, Kirche; Hermelink, Kirchen.
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Volkskirche in der langen Krise der Weimarer Republik harren dürfen, wo das Erbe der Väter sich zu neuen Formen hindurchringen wird, und empor vom alten Grunde, frei die neue Kirche steigt!“81
Auffällig ist, dass in der als Verein organisierten Volkskirchenbewegung liberale, bzw. moderate theologische Positionen ein gewisses Übergewicht hatten. Rade nutzte seine Zeitschrift „Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände“82, um die Idee der Volkskirche zu popularisieren. Im Dezember-Heft 1918 formuliert er die Position seiner Zeitschrift und den Sinn und Zweck der Volkskirchenräte. Er lehnt die Rückkehr der bisherigen Staats- bzw. Landeskirche ab und sieht stattdessen die Zeit gekommen für eine „Freie Evangelische Volkskirche, in der christliche Frömmigkeit und christliches Gemeindeleben besser aufgehoben sein soll als zuvor.“83 Ein „Volkskirchen-Rat“ soll dabei der Mittelpunkt sein, um den sich alle Befürworter sammeln könnten. Die „Pastorenkirche“ solle „der Laienkirche, die Konsistorialkirche der Gemeindekirche“ weichen.84 Dieses Ziel gelte es auf einem allgemeinen Kirchentag geschlossen zu vertreten. Mit abgedruckt sind im Anschluss an diesen Aufsatz „Vorschläge für die Volkskirchen-Räte“.85 In den dort aufgeführten „Ziellinien“ wird die Volkskirche prominent genannt und das, was damit gemeint sein soll, ein Stück weit konkretisiert: „1. Wir wollen eine ,Freie Evangelische Volkskirche‘, d. h. eine Kirche, die dem ganzen deutschen Volke dient, aber dem Staate gegenüber ihr Eigenleben führt in größtmöglicher Unabhängigkeit von Staatsgesetz und Staatsregierung. […] 3. Welche Art die Einheit der Freien Evangelischen Volkskirche sein wird, muß sich aus den Verhandlungen aller Berufenen ergeben. Innerhalb ihrer Verfassung soll jedenfalls für konfessionelle, geschichtliche und völkische Mannigfaltigkeit weitester Spielraum sein.“86
Die starke Betonung der Trennung vom Staat sollte sich später auch unter liberalen Intellektuellen noch abschwächen, während die Offenheit für unterschiedlichste Strömungen, die sich unter dem Dach der Volkskirche zusammenfinden könnten, ein fester Bestandteil der Semantik blieb. Anknüpfend an die Terminologie Retteraths könnte man also sagen, dass man eher zu einem pluralistischem Volkskirchenverständnis tendierte. 81 Dibelius, Volkskirchenräte, 213. 82 Zur Christlichen Welt vgl. neben Bock, Christliche Welt; Schmidt-Rost, Christliche Welt. 83 R[ade], Welt, 499; vgl. auch als konservative, sich auf Adolf Stoecker beziehende Deutung Mumm, Volkskirche. 84 R[ade], Welt, 499. Zum Motiv der Pastorenkirche vgl. Dahm, Pfarrer, 57–60; vgl. auch schon Paarmann, Weg und die Reflektionen im Pfarrerblatt von Baumann, Wesen. 85 Vgl. R[ade], Welt, 500 f. 86 Ebd., 501. Rade merkt hier an, dass diese Sätze von niemandem beschlossen worden sind, er sie aber gerne zur Diskussion stellen möchte.
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1919 wurden die „Programmsätze“ des liberalen Frankfurter Theologen Erich Foersters87 in der „Christlichen Welt“ publiziert, bei dem die Volkskirche schon stärker in den Hintergrund trat und dem es um praktische Vorschläge zur Neuordnung der Gemeinden, des Pfarramtes, der Kirchenämter und eben auch der Kirche selbst ging.88 Der Marburger Systematische Theologe Horst Stephan89 sah Volkskirche und Sonderkirche90 als die beiden möglichen Organisationsformen des Protestantismus. In der Volkskirche passe sich „die religiöse Organisation […] der natürlichen, d. h. der ortsgemeindlichen und der völkischen oder staatlichen an […] und [gibt] innerhalb dieses Rahmens den persönlichen oder gruppenmäßigen Besonderheiten irgendwie Raum […].“91 Die Sonderkirche hingegen mache ihre Besonderheiten zum „Gesetz der Organisation“92, was zu der Vielzahl der unterschiedlichen Sonderkirchen geführt habe. Seiner Ansicht nach liege der Weg der Volkskirche der lutherischen Theologie näher, während das Sonderkirchentum vor allem aus dem reformierten Denken entstanden sei. Stephan plädiert für einen integrativen Ansatz von Kirche, dem die Vorstellungswelt der Volkskirche am nächsten komme, da die derzeitige Lage des Protestantismus eine solche Kirchenform erforderlich mache. „Die religiösen, kirchlichen und theologischen Verschiedenheiten schienen vor dem Kriege riesengroß, sie drohten die Landeskirchen zu sprengen. Das wäre die Abirrung auf den amerikanischen Weg. Gehen wir ihn heute in der Stunde der allgemeinen Zerrüttung, so ist die Volkskirche gesprengt, ist sogar der volkskirchliche Charakter des deutschen Protestantismus dahin.“93
Zur Vermeidung dieser „Abirrung“ dränge „[a]lles […] zur Volkskirche hin.“94 Man müsse sie, oder zumindest „einen Bau mit volkskirchlichem Charakter“95 erstreben, solange man noch irgendwie auf deren Weiterbestehen hoffen könne.96 Ein sowohl in publizistischer als auch in theologisch-begrifflicher Hinsicht 87 Vgl. Stoodt, Theologie; Wolfes, Foerster. 88 Vgl. Foerster, Programmsätze, 349: „Die Kirche ist eine Volkskirche, sofern ihr Ziel ist, das ganze Volk mit der Kraft evangelischen Christentums zu durchdringen. Sie ist eine Freiwilligkeitskirche, sofern sie als Mitglieder nur solche anerkennt, die zu ihr gehören wollen.“ 89 Vgl. Wolfes, Theologie, 95–188. 90 In einer Anmerkung erklärt Stephan, dass er diesen Begriff denen der Denomination und der Sekte vorziehe. 91 Stephan, Neubau, 482. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd., 483. 95 Ebd. 96 Ebd.: „Also ein volkskirchliches Gebilde mit reicher Gruppenbildung, zu kultischen, dogmatischen, karitativen oder ähnlichen Zwecken. Beispiele gibt es, etwa bei den dänischen Nachbarn. Nach allen Seiten müssen wir lauschen, um endlich zu lernen, wie man die Einheit mit der Freiheit verbindet, oder wie man eine wahrhaft große protestantische Kirche schaffen kann ohne ein Papsttum einzelner Gruppen und ohne schematisierenden Bürokratismus.“
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eng mit dem Projekt Rades verbundener Ableger war die Zeitschrift „Die freie Volkskirche“, die aus der bis 1918 erschienen Zeitschrift „Christliche Freiheit für Thüringen und Sachsen“, dem Organ der liberal orientierten Mittelpartei der thüringischen und sächsischen Kirchen entstanden war. Hier publizierten mit Rade eng verbundene Theologen wie der Religiöse Sozialist Emil Fuchs und der Jenaer Neustestamentler Heinrich Weinel.97 Letzterer legte schon in im Dezember 1918 veröffentlichten Leitsätzen eine Reihe von Reformvorschlägen dar, wie die bisherige Staatskirche zu einer Volkskirche werden könne. Als Grundvoraussetzung für diese sei die Trennung zwischen Kirche und Staat anzusehen, da die Kirche sich dann nicht mehr als „Dienerin der herrschenden Staatsgewalt“98 verstehen und sich endlich entschieden dem „religiösen Bedürfnis der Massen der Arbeiter“ zuwenden könne, damit diesen der Weg zurück in die Kirche gewiesen würde. Die konkreten Reformvorschläge Weinels fordern eine umfassende Demokratisierung der Kirche und eine Ausweitung des Wahlrechts – analog zu den sich anbahnenden Veränderungen im politischen System der in der Entstehung begriffenen Weimarer Republik. All dies war meist mit einem missionarischen Impetus verbunden.99 Ähnliche Ziele wie Weinel verfolgte auch Arthur Titius mit dem unter seinem Vorsitz stehenden 1918 gegründeten Volkskirchenbund. Der Bund verstehe sich als Vertretung der Kirche in der Öffentlichkeit und diene dem Zweck, den Übergang der Kirchen zu „staatsfreien“ Gebilden zu begleiten.100 Daneben solle die Kirchenfeindschaft im Land bekämpft werden. Offen blieb erneut, was mit den „wahren Volkskirchen“, zu deren Ausgestaltung der Bund beitragen wollte, gemeint war.101 Neben der regionalen kirchenpolitischen Zeitschrift „Die freie Volkskirche“, ist noch auf die Neugründung „Volkskirche. Deutsch-evangelische Monatsschrift“ hinzuweisen, die sowohl liberale als auch nationalkonservative Einschläge in ihren Beiträgen zuließ und damit schon von ihrem Ansatz her versuchte, ein integrierendes Volkskirchenverständnis zu verbreiten. Der Herausgeber Otto Everling102 war von 1912 bis 1922 zum einen Präsident des Evangelischen Bundes103, zum anderen Mitglied des Reichstages für die Deutsche Volkspartei. Leopold Zscharnack, der ebenfalls als ein profiliert 97 98 99 100 101 102 103
Vgl. Bezzel, Weinel; Koch, Christentum; Spencer, Theology. Weinel, Volkskirche. Vgl. auch die Beiträge von Fuchs, Weg; Fuchs, Volkskirche. Vgl. Titius, Zukunft. Vgl. auch den Bericht von Just, Tagung. Vgl. Titius, Christentum. Zu Everling vgl. Fleischmann-Bisten, Bund, 92–95. Der Evangelische Bund war der größte freie Verband innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland. Seine Gründung war 1886 erfolgt um zum einen die Frage des Nebeneinanders von Protestantismus und Katholizismus zu klären, zum anderen um „deutsch-protestantische Interessen“ in der Gesellschaft zu wahren. Der Bund suchte also nach Wegen, wie die Gesellschaft in deutsch-protestantischer Weise gestaltet und beeinflusst werden könne. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete der Evangelische Bund 1947 das Konfessionskundliche Institut in Bensheim. Zum Bund vgl. Fleischmann-Bisten, Protestanten.
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liberaler Theologe gelten kann, fungierte als Schriftführer des Blattes.104 Nach Walter Fleischmann-Bisten zeigte die Zeitschrift für die Zeit nach 1918 „das Bemühen des EB [d.i. Evangelischen Bundes, BB] um Einfluß innerhalb der evangelischen Kirche“105. Die Gründung einer solchen Zeitschrift und ihre institutionelle Zuordnung zum Evangelischen Bund können, wie auch weitere publizistische Initiativen, verdeutlichen wie groß die Bedeutung war, die man der hiermit verbundenen Diskussion zumaß. Auf lutherischer Seite wurde der revolutionäre Umbruch weitaus kritischer beurteilt als unter Liberalen. Gleichwohl überwog auch hier die Überzeugung, dass man einen Umbau der Kirche vornehmen müsse. Zeittypisch für das Luthertum waren die Äußerungen Theodor Kaftans, der sich schon 1918 zur „staatsfreien Volkskirche“ äußerte und um weitere Veröffentlichungen im Folgejahr ergänzte. Kaftan war der Ansicht, dass sich das gegenwärtige Kirchentum als Staatskirchentum schon lange überlebt habe. Was man nun anstreben solle, sei aber nicht eine Freikirche, sondern die staatsfreie Volkskirche. Denn „Luthertum und Volkskirche sind im Grunde kongenial. Wir, die wir unser Volk lieben, möchten auch kirchlich nicht von ihm lassen. Uns Protestanten steckt die Staatsfreundlichkeit im Blut […] und der Staat braucht die Volkskirche. Aber nicht der Staat nur, sondern – und das ist uns das Größere – nicht minder die Kirche Jesu Christi. Die Volkskirche bahnt ihr für ihr Wirken Wege, die keine Freikirche ihr bieten kann.“106
Für den Erhalt einer „volkskirchlichen Gestaltung der Kirche“107 sei die Unterstützung des Staates aber nicht entscheidend, denn das „Rückenmark einer Volkskirche ist die kirchliche Sitte.“108 Ursächlich für die Zerfallserscheinung ist seiner Ansicht nach das Wachsen eines „individuellen, persönlichen Christentums“109, das der Volkskirche ihr Fundament beraubt habe. Staatsfrei bedeute aber keinesfalls staatslos. Die Kirche müsse stattdessen nun in rechtlich geordneten Verhältnissen zum Staat stehen. Elementar sei außerdem die Kirchensteuer, ohne die es keine Volkskirche geben könne.110 Abschließend fordert er dazu auf, sich für die Zukunft in dreifacher Hinsicht zu rüsten. Man solle zunächst an der Selbstverwaltung, die man bereits besitze, sorgsam festhalten.111 Zweitens solle schrittweise eine finanzielle Unabhängigkeit der Kirche herzustellen versucht werden. Drittens sollten die Gemeinden mehr 104 105 106 107 108 109 110
Vgl. Conrad, Lexikonpolitik. Fleischmann-Bisten, Bund, 37. Kaftan, Volkskirche, 17. Ebd., 18. Ebd. Vgl. M ller, Neubau. Kaftan, Volkskirche, 18. Vgl. ebd., 19: „In einer Volkskirche ist eine Kirchensteuer unerläßlich. Von freien Beiträgen kann keine Volkskirche leben.“ 111 Ebd., 28.
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und mehr Träger der Kirche werden durch ein „in Weisheit und Kraft zu vollziehende[s] Aufklären.“112 In seinem Mitte Dezember 1918 ergänzten Nachwort wird deutlich, was Kaftan von der „von den sozialistischen Massen uns aufgezwungenen Diktatur“113 hält. Durch diese „eigenartige Situation“114 sei die Kirche zur Zurückhaltung aufgefordert. Es sei allerdings erforderlich, die „besonnenen Sozialdemokraten“ im Kampf gegen ihre radikalen Gruppierungen zu unterstützen.115 Die derzeitigen Verhältnisse seien ungeklärt, auch eine Freikirche sei möglich.116 Kaftan hält ein reines „Hinüberretten“ des Bisherigen für falsch – so käme man „vom Regen in die Traufe.“117 Seine Umgestaltungsvorschläge blieben aber recht abstrakt. In späteren Artikeln betont er dann eher die Gefahren, die die kirchliche Neubildung mit sich bringe.118 Der Kirche gefährlich wären vor allem die „kirchenfeindlichen Sozialdemokraten“119, die nun nicht mehr auf ein unabhängiges Kirchenregiment stoßen würden, sondern selbst Regierungsverantwortung übernommen hätten. In Kaftan konkretisiert sich das Bemühen im Rekurs auf die eigene „Volkskirchlichkeit“ weiter in gewohnter Weise Einfluss auf Staat und Gesellschaft zu beanspruchen, ohne dabei den neuen Staat per se befürworten zu müssen. In konservativen lutherischen Kreisen überwog diese kritische Bewertung des neuen Staatswesens und es ist auch wohl nicht zufällig, dass protestantische Stimmen mitverantwortlich waren für die Ausbildung und Überzeugungskraft der Dolchstoßlegende.120 Die „Reformation“ meldete noch im Dezember 1919: „Kulturkampf in Sicht!“121 Der einflussreiche Schriftleiter der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung, Wilhelm Laible, behauptete hingegen, dass die Erhaltung der Volkskirche weniger aufgrund von äußeren Faktoren gefährdet sei, sondern aufgrund innerer: „Die Kirche, wenn sie stirbt, wird nicht am Staat, sondern an sich selbst sterben.“122 Neben der Unentschlossenheit in der Bekenntnisfrage seien es vor allem „die Versuche der Umbildung der Volkskirche zu einer Volksherrschaft in der Kirche“123, von denen aus der Kirche Schaden drohe. Hier sei der Einfluss der Revolution, die 112 113 114 115 116
117 118 119 120 121 122 123
Ebd., 29. Von einer Demokratisierung der Kirche ist bei Kaftan allerdings nicht die Rede. Ebd., 31. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 32: „Aber so lange wir können, sollen wir an der Volkskirche festhalten, wie um des Volkes willen, so um der Arbeitsmöglichkeit willen, die sie uns bietet. Vorausgesetzt, daß die Volkskirche Kirche bleibt und nicht in einen religiösen Mischmasch umgewandelt wird, kraft wüster, den politischen nachgebildeter Agitationen.“ Ebd., 37. Vgl. Kaftan, Gefahren; zuvor schon Kaftan, Grundsätzliches. Kaftan, Volkskirche, 260. Vgl. Barth, Dolchstoßlegenden, 150–171, 339–359. Philipps, Kulturkampf; ähnlich auch o. A. [vermutlich Laible], Kulturkampfsturm. L[aible], Klärungen, 163. Ebd., 164 [Im Original gesperrt, hier kursiv markiert, BB].
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Laible aus einer Vielzahl von Gründen entschieden ablehnt, besonders deutlich auszumachen. In einer Ausweitung der bei den Kirchenwahlen Wahlberechtigten, sieht er aber keineswegs einen Fortschritt in der Umgestaltung der Kirche zur Volkskirche, denn „eine Herrschaft des vulgus in der Kirche“124 ist seiner Ansicht nach kein vielversprechender Weg.125 Wenn Laible das gemeinschaftskonstituierende „Wir“ anschlägt, sind damit vor allem konservative Lutheraner gemeint.126 Die Königsmacht, so erläuterte Laible einige Monate später, sei „ein wesentlicher Faktor zur Erhaltung des Volkskirchentums“127 gewesen. Ohne den Erhaltungswillen der preußischen Könige sei diese Aufgabe schwieriger durchzuführen. Die Loyalität der Christen gelte aber paradoxerweise nicht gegenüber der „feindlichen“ Sozialdemokratie. „Wir sind verloren, wenn wir noch mit der Welt paktieren, und die Kirche ist verloren, wenn sie mit der Welt paktiert.“128 Laible redete also einer entschiedenen Abwehrhaltung gegenüber der Sozialdemokratie das Wort. Und mehr noch: da man noch nicht wisse, welche Gestalt Gott seiner Kirche geben möchte, „gilt es, Widerstand [zu] tun gegen alles, was sich der Kirche jetzt aufdrängen will, ohne aus der Schrift bewährt zu sein.“129 Zu den entschieden abzulehnenden Entwicklungsmöglichkeiten zählt seiner Ansicht nach vor allem die Freikirche. Man habe kein Mandat für die Gründung einer solchen.130 In gleicher Weise habe man sich aber auch gegen die „unbedingte Forderung: Volkskirche!“131 zu positionieren, da hier die Gefahr drohe, das Evangelium selbst preis zu geben. Gebe man das Bekenntnis frei, sei der Preis zu hoch, den man für den Erhalt der Volkskirche bezahlen müsse, auch wenn Laible diese präferiert.132 An einer Volkskirche, die um jeden Preis alle integrieren will, bestand also kein Interesse.133 124 Ebd., 165. 125 Vgl. ebd.: „Die eigentliche Kirche, die Pflegerin des reinen Wortes und der Sakramente, würde in den Winkel gedrückt; sie, die immer die Brunnenstube für die Erhaltung und Erneuerung der Volkskirche war, hätte nichts mehr zu sagen. Es rächt sich auch hier, daß man zu schnell das Bekenntnis in die Ecke stellte.“ 126 Vgl. Rieske-Braun, Zwei-Bereiche-Lehre mit weiterer Literatur. 127 L[aible], Gedanken, 688. 128 Ebd., 717. 129 Ebd. 130 Vgl. ebd.: „Darum Widerstand gegen die Losung: Freikirche! Nicht als sei uns die Freikirche nicht lieb und wert, sie ist uns so lieb, daß wir sie lieber heute als morgen haben möchten. Wir sehen dabei nicht nur die viel gesegnete lutherische Freikirche an, wir wissen auch, daß die Kirche zu Anfang Freikirche war und nach den Weissagungen des Herrn am Ende wieder Freikirche sein wird. Aber daß jetzt der Moment für uns sei, eine große Freikirche zu gründen, dafür haben wir kein Mandat. Das Mandat des Herrn ist außerordentlich einfach: ,Wo sie euch nicht aufnehmen, da flieht.‘ […] Noch sind wir nicht ausgewiesen, noch nimmt man uns auf; darum dürfen wir noch nicht gehen.“ 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Vgl. ebd.: „Auch wir möchten die Volkskirche halten, wiewohl wir erkennen, daß das Wort
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Gut 75 Jahre vor den ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen und ohne auf empirisches Material zurückgreifen zu können, formuliert Laible hier eine beliebte Wortkritik an der Volkskirche, die in unterschiedlichen Variationen das gesamte Jahrhundert hindurch Verwendung finden wird. Abschließend grenzt sich Laible noch uneingeschränkter als Kaftan von jeglicher Demokratisierung der Kirche ab. Es gebe wohl keinen sichereren Weg, die Volkskirche zu zerstören, als die Volksherrschaft, das meint, die Herrschaft der Massen in der Kirche zu etablieren.134 Auf liberaler Seite hingegen, etwa im „Protestantenblatt“135, der Zeitung des Protestantenvereins, war man anderer Meinung.136 Der Verfasser wirft den Gegnern einer Demokratisierung der Kirchen explizit vor, die breiten Maßen des Volkes einfach fahren zu lassen. Der Weg zur Volkskirche gehe nur über den Weg einer Urwahl zur verfassungsgebenden Kirchenversammlung.137 2.3.2 Die drohende Trennung von Kirche und Staat und ihre Auswirkungen Die Diskussionen über die Gestaltung der Trennung von Kirche und Staat waren ein wichtiger Bestandteil der Debatten zur „Kirchenfrage“. Auf diesen Rekurs auf die Jahre unmittelbar nach der Revolution, die im Zentrum des vorherigen Kapitels standen, baut dann die Analyse der Verwendungsweisen des Volkskirchenbegriffs im Kontext der kirchlichen Verfassungsdebatten zwischen ungefähr 1920 und 1924 auf, der an anderer Stelle nachgegangen werden wird.138 Die Trennungsfrage brachte eine Vielzahl protestantischer Voten hervor. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem, welche Rolle der Begriff der Volkskirche für die Autoren gespielt hat. Auch wenn es sich hierbei um kein völlig neues Thema handelte, sondern diese Diskussionen auf einige Vorläufer zurückgreifen konnten – man denke nur an Ernst Troeltschs Heidelberger Rektoratsrede von 1907139 – stellte sich die Frage danach, wie mit der als
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139
nicht mehr stimmt, daß die Kirche das Volk nicht mehr hat, und der Name Volkskirche bereits vielfach zu einer Täuschung geworden ist.“ Vgl. ebd., 718; vgl. schon ein Jahr zuvor Laible, Demokratisierung; Rumpf, Kirche. Hierbei handelt es sich um den Nachfolger des „Deutschen Protestantenblatts“. Vgl. zum Protestantenverein Lepp, Protestantenverein; Kirn, Protestantenverein. Vgl. Spaeth, Weg. Die Frage nach den Urwahlen zur verfassungsgebenden Versammlung der Evangelischen Kirche in Preußen wurde intensiv diskutiert, vgl. nur die Hinweise bei Jacke, Kirche, 158–165. Vgl. unten 80–86. Dort wird es nicht darum gehen, die synodalen Debatten zu rekonstruieren, sondern es wird gemäß der Vorgehensweise dieser Arbeit darum gehen, die öffentlichen Auseinandersetzungen im Brennpunkt „Volkskirche“ zu untersuchen. Dabei kann es allerdings nicht darum gehen, die kirchlichen Verfassungsdebatten auch nur in Preußen in Gänze zu rekonstruieren; vgl. aber hierzu Jacke, Kirche, 246–304; Borg, Church, 97–115. Troeltsch, Trennung; vgl. hierzu auch Fechtner, Volkskirche, 127–135; Kim, Vorgeschichte, 147–149.
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„kirchenfeindlich“ wahrgenommen sozialistischen Regierung umzugehen sei, nach der Revolution mit neuer Dringlichkeit.140 Wilhelm Kahl141, der für die Deutsche Volkspartei in der Weimarer Nationalversammlung saß und sich schon früh im Berliner Volkskirchendienst engagierte, versuchte Ende 1918 die Gemüter zu beruhigen. Es sei doch keineswegs so, dass die Kirchen der angedrohten Trennung wehrlos gegenüberstünden.142 Die Inhaber der politischen Gewalt „werden sich wohl hüten, neben dem sozialen Kampf zugleich einen aussichtslosen religiös-kirchlichen Kampf auf sich zu ziehen.“143 Die „Kirchenfrage“ ließe sich nur durch eine völlig neue Kirchenverfassung lösen, „die sich ungleich stärker als bisher auf das Gemeinde- und Synodalprinzip“144 zu gründen habe. Bis dies möglich sei, solle man die Arbeit vertrauensvoll in die Hände von evangelischem Oberkirchenrat und Generalsynodalvorstand legen, zumal diese sich durch „Vertrauensmänner aller kirchlichen Richtungen“145 verstärkt hätten, um die nötigen Maßnahmen vorzubereiten. Auf dem Spiel stehe die „Erhaltung der Volkskirche. Auch unter der Trennung von Staat und Kirche kann das Volkskirchentum nicht nur bestehen, sondern wenn durch den richtigen Geist zusammengehalten, mehr noch, als unter anderer Verfassungsform, den vollen Reichtum seiner geistigen und geistlichen Kräfte entfalten. Der Zerfall des Protestantismus in kleine Kirchlein muß vermieden werden.“146
Kahl sieht in der Trennung zwar eine Prüfung, aber eine, aus der Segen entstehen könne.147 Das Potenzial für eine positive Umgestaltung der Kirchen betonte auch Heinrich Weinel in den bereits zitierten „Leitsätzen“. Das französische und amerikanische Modell lehnt er ausdrücklich ab. Durch ersteres drohe der Zerfall und die völlige Zersplitterung der Kirchen, letzteres zerreiße das Band zwischen den Kirchen und der Kultur- und Geistesentwicklung.148 Das seiner Ansicht nach anzustrebende Vorbild sieht Weinel in der Schweiz
140 141 142 143
144 145 146 147 148
Vgl. Thimme, Verhältnis; Olimart, Trennung; Kulemann, Trennung. Vgl. Achenbach, Recht, 169–212. Kahl, Trennung, 1918, 568; Kahl, Trennung, 1919; Kahl, Weg. Kahl, Trennung, 1918, 568. Damit lag Kahl freilich nur zur Hälfte richtig, da, wie oben geschildert, Adolph Hoffmann von der USPD es als Kultusminister zunächst durchaus darauf ankommen ließ, den Konflikt mit den Kirchen zu suchen. Vgl. Jacke, Kirche, 45–47; Motschmann, Kirche, 27–62. Kahl, Trennung, 1918, 569. Ebd., 570. Dem Gremium gehörten u. a. Julius Kaftan, Hermann Kapler, Wilhelm Kahl und E. Evers, Otto Everling, W. Kraemer, H. Lisco, Friedrich Mahling, Wilhelm Philipps, G. Streiter, R. von Sydow und Gottfried Traub an. Ebd. So auch wenig später in Kahl, Kirche, 16: „Auch hier also schließt die Rechnung hoffnungsvoll ab. Mit dieser Osterhoffnung für die deutsche Kirche im deutschen Staat treten wir gefestigt und getröstet über die Schwelle der neuen dunklen Zeit!“ Vgl. Weinel, Volkskirche.
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umgesetzt; dort sei an die Stelle der alten Staatskirche eine Volkskirche getreten. Er liefert auch eine Anleitung, wie dies umgesetzt worden sei: „Der Staat stellt unter Achtung des Vermögens der Kirche nur nach und nach seine Zahlungen ein und läßt ihr Zeit, ihre Geldverhältnisse durch Erhebung von Kirchensteuern immer geordnet zu erhalten. Die Kirche bleibt sonst in dem Umfang und den Einrichtungen, die sie hatte, bestehen. Der Staat sichert nur die Freiheit der religiösen Überzeugung und die Rechte der Minderheiten. Mitglied der Kirche bleibt, wer nicht austritt. Die Austrittsbedingungen werden freilich so einfach wie möglich: Anzeige beim Standesamt. Die Richtungen und Bekenntnisse sind in der Kirche nebeneinander vertreten und gleichberechtigt.“149
Eine solche Wendung könne der Kirche nur zum Segen sein und sei auch in Deutschland denkbar.150 Als drittes Beispiel in dieser Reihe von liberalen Stimmen sei auf Leopold Zscharnack verwiesen. Die Forderung, die Tätigkeiten der Kirche weiterhin nicht nur sicherzustellen, sondern auch zu fördern sei geradezu im Interesse des eigenen Volkes zu erheben, „deren Zukunft mit der Zukunft der Religion und der Sittlichkeit und der beide pflegenden Gemeinschaften aufs engste verknüpft“151 sei. „[W]ir fordern es als moralische Pflicht des Staats auf Grund dessen, was die Kirche dem Volksganzen bisher geleistet hat, was ihre Vergewaltigung schlechthin verbietet, und was ihre möglichste Erhaltung als Volkskirche gebietet. Als Volkskirche, auch wenn sie durch die Ereignisse als Landeskirche zertrümmert ist und ,staatsfreie‘, ,freikirchliche‘ Organisationsform annimmt! Das soll das Ziel bleiben. Keine ,Vereinskirche‘, auf Grund besonderen Eintritts und besonderer Eintrittsbedingungen wie Bekenntnis oder Konfirmation anstatt der bisherigen Kindertaufe!“152
Zscharnack betont an dieser Stelle den besonderen Wert der Kirche für das Gemeinwesen unabhängig von der Staatsform, in der es sich konkretisiert. Ferner unterstreicht er den Charakter der Volkskirche als Kindertaufkirche; er lehnt alternative Organisationsformen ab. Es erhärtet sich also der Verdacht, dass die Volkskirche auch deshalb ein beliebter Begriff in der frühen Phase der Weimarer Republik gewesen ist, weil man damit den Anspruch vertreten konnte, wie bisher auf das Ganze der Gesellschaft Einfluss nehmen zu können, ohne dabei gewungenermaßen den demokratischen Staat befürworten oder gutheißen zu müssen. Otto Dibelius äußerte sich 1919 mit einer eigenen Schrift zur Kirchentrennungsfrage, die bezeichnenderweise in einer Reihe erschien, die sich dem 149 Ebd. Es folgen dann noch genauere Ausführungen, wie mit den Minderheiten in der Kirche umzugehen ist. 150 Für ein Schweizer Modell plädiert ebenfalls Pfannkuche, Kirchenverfassung. 151 Zscharnack, Trennung, 46; Zscharnack, Frage. Vgl. auch Lieschke, Trennung. 152 Zscharnack, Trennung, 46.
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„christlich-sittlichen Wiederaufbau des deutschen Vaterlandes“ verschrieben hatte.153 Er referiert zunächst relativ frei die enge Verbindung, die lange Zeit zwischen Kirche und Staat bestanden habe. Die Forderung nach der Trennung dieser beiden Sphären sei aber auch von Protestanten schon früher vertreten worden; als prominentestes Beispiel nennt er Adolf Stoecker. Aber selbst diese „kampfesfrohe […] Persönlichkeit“ sei damit nicht durchgedrungen, denn „[z]u groß war die Besorgnis der anderen, daß eine Kirche, die sich vom Staat getrennt hätte, sehr bald aufhören würde, eine Kirche zu sein, die das ganze Volk umfasse. Aus der Volkskirche könnte eine ärmliche Freikirche werden.“154 Nun habe die Revolutionsregierung allerdings die Losung übernommen und es sei davon auszugehen, dass die Trennung kommen werde. Er konstatiert, dass „der Weg zur neuen Kirche […] über die alte führen [muß]“155 und es nicht angehe, nun etwas gänzlich Neues entstehen lassen zu wollen. Es sei wichtig, den Rechtszusammenhang zwischen der vor- und der nachrevolutionären Kirche zu wahren, damit der Staat nicht auf die Idee komme, die alte Kirche bestehe gar nicht mehr. Somit seien die Versuche „durch ,Volkskirchenräte‘ in den Gemeinden ,von unten her‘ eine neue Kirche aufbauen zu wollen“156 abzulehnen. Er schließt mit einem Aufruf, sich nun „inniger, fester, bewußter als bisher“157 um die Kirche zu scharen. Denn diese sei die „einzige Macht“, die einer umfassenden Entchristlichung der Gesellschaft „wirksamen Widerstand“ entgegensetzen könne.158 Noch energischer äußerte sich Arnold Hein, der Mitglied der Volkskirchlichen Evangelischen Vereinigung war, also der preußischen kirchenpolitischen Mittelpartei.159 Ob der Protestant sich für die staatskirchliche, oder aber für die freikirchliche Option entscheiden müsse, hänge vom Wesen des Staates ab: „Ist der Staat Kulturstaat, Reich-Gottes-Staat, so wählt der Protestant die staatskirchliche Lösung. Ist der Staat Machtstaat, Rechtsstaat, Wohlfahrtsstaat, so wählt der Protestant die freikirchliche Lösung. Der christliche Staatsgedanke führt zur Staatskirche; der atheistische Staatsgedanke führt zur Freikirche.“160 Hein bekennt im selben Aufsatz freimütig, dass der 9. November 1918 sein „LebensIdeal“, nämlich die preußische Staatskirche, die als Kirche die Seele des Staates gewesen sei, zerschlagen habe. Es bleibe also im neuen Staatswesen, das er als atheistisch und kirchenfeindlich ablehnt, nichts anderes übrig als die Freikirche und die Trennung von Kirche und Staat zu fordern, mit der Einschränkung: „es tut uns leid um den Staat, denn er verliert dabei seine
153 154 155 156 157 158 159 160
Dibelius, Trennung. Vgl. Fritz, Dibelius, 79–89. Dibelius, Trennung, 8. Ebd., 18. Ebd., 19. Ebd., 28. Beide Zitate ebd. Vgl. auch Holl, Pflicht. Vgl. Lessing, Bekenntnis, 68–102. Hein, Kirche, 70.
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Seele.“161 Heins dezidierte Forderung nach einer Freikirche blieb allerdings eine sehr vereinzelte, ja marginale Stimme im deutschen Protestantismus. Es ist aber in allen kirchenpolitischen und theologischen Richtungen die Tendenz vorhanden, die neue Staatsform abzulehnen. Diese Ablehnung verbindet sich bei Hein mit der Ablehnung der Staatskirche, die er als Pendant zur Volkskirche sieht. Der Theologe und ausgewiesene Kulturprotestant Otto Baumgarten162 sah im Ende der Staatskirche das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung. Er parallelisiert die Demokratisierungsentwicklungen im Staat und in der Kirche als grundsätzlich positive Prozesse.163 Schon Ende des 19. Jahrhunderts seien Klagen laut geworden, dass „der christlich gleichgültige Staat […] die Gleichgültigkeit innerhalb der Kirche [beschütze]“.164 Die vom Staat dotierte Volkskirche müsse sich von diesem immer wieder in ihre eigenen Angelegenheiten hineinreden lassen, dadurch werde sie zum „just milieu, zur lauen Mitte der Toleranz gegen Unglaube und Unsitte verurteilt“165. Dies sei jedoch abzulehnen, der Staat solle sich vielmehr darauf beschränken, alle „Kulturbewegungen“ zu beschützen und ihnen möglichst große Handlungsfreiheiten zuzusichern. Baumgarten wagt dann die Prognose, dass der Staat die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts definieren wird, mit dem Auftrag „der Erziehung des Volkes zu idealer Gesinnung und straffer Zucht“166. Zur Erreichung dieses Zieles müsse der Staat sie so ausstatten, „wie es ihrer Würde und Leistungsfähigkeit als Volkskirche entspricht. Er wird sie nicht zu Frei-, Winkel- und Sektenkirchen herabdrücken dürfen; denn dadurch würde er sich selbst am meisten schädigen.“167 Was er hier im Grunde fordert, korreliert mit einer pluralistischen Staatsvorstellung, die in der Weimarer Staatsrechtslehre und in dem protestantischen Denken über den Staat zwar durchaus vorhanden war, aber keinesfalls zu den dominanten Überzeugungen gezählt werden kann. Er konstatiert schließlich, dass niemand hinter die Revolution zurückgehen wollen könnte, da durch diese nur abgestreift worden sei, was zum Abfallen schon lange reif gewesen sei. Der Staat wird von ihm 161 Ebd. 162 Vgl. von Bassi, Otto Baumgarten. Vgl. auch Retterath, Volk, 83 f; Graf, Kulturprotestantismus. 163 Vgl. Baumgarten, Ende, 73: „Der eben skizzierte Auflösungsprozess ward endlich beschleunigt durch die akute Demokratisierung des Begriffes ,Volk‘ seit 1867. […] Diese Demokratisierung bedeutet aber für den Christen zunächst Entleerung des Volksbegriffs: auch der protestantische Christ will jeden einzelnen zur Mündigkeit führen; aber er sieht in dieser Mündigkeit nicht ein Naturgewächs, sondern Gottesgabe und Aneignung des Geistes, das viel berufene allgemeine Priestertum ist aristokratisch-idealistisch, gehört nur denen, die sich der Priesterpflicht annehmen.“ Zur Bedeutung des lutherischen Konzepts des allgemeinen Priestertums vgl. Rade, Priestertum. 164 Baumgarten, Ende, 74. 165 Ebd. 166 Ebd., 82. 167 Ebd.
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gewarnt, dass „wer die Kirche zum Feind hat, seine eigene Kulturkraft bricht.“168 Wichtig für die weiteren Debatten war ein Zusammentreffen lutherischer und liberaler Theologen und Kirchenführer zu einer „Freien Besprechung über die gegenwärtige Lage der Kirche“, die im Februar und März 1919 stattfand und im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für den ersten deutschen evangelischen Kirchentag stand.169 Martin Schian170, der die dort formulierten Sätze zum „innerkirchlichen Neubau“ verfasst hatte, plädierte dafür, dass man sich an eine weiterbauende Umgestaltung der Gemeindeverfassung machen sollte und lehnte eine völlig Neugestaltung damit ab.171 Die einzelnen von ihm aufgeführten Vorschläge tendierten allesamt zu einer Ausweitung des Gemeindewahlrechts und einer umfassenderen Teilnahme der Laien am Gemeindeleben.172 Alfred Jeremias173 schließlich stellte auf dieser Konferenz volkskirchliche Themen noch deutlicher in den Vordergrund. Die neue Landeskirche müsse von der Verfassung der Einzelgemeinden ausgehen. Neben die von den Einzelgemeinden gewählte Landessynode müsse ferner ein „auf breiter Grundlage zusammentretender, jährlich einmal tagender Volkskirchenrat“ treten.174 Ein „nach volkskirchlichen Grundsätzen zu wählende[r] Kirchenvorstand“175, der die soziale Schichtung der Gemeinde widerspiegeln solle, würde die Selbstverwaltung der Gemeinde leiten und ihre Rechte nach außen vertreten. Die Vermutung liegt nahe, dass mit einem volkskirchlichen Wahlmodus die Verhältniswahl, wie sie die Weimarer Reichsverfassung eingeführt hatte, gemeint ist.
2.4 Spannungsfeld II: Kirche und Gesellschaft Das zweite Spannungsfeld untersucht, wie die Kirchen auf die zunehmend pluralistische Gesellschaft mit Bezugnahmen auf die Volkskirche reagierte. 168 Ebd., 82 f. 169 Vgl. Niederschrift. Die Leitsätze der „Freien Besprechung“ sind dokumentiert in o. A., Besprechung. Neben den im Folgenden genannten nahmen auch Carl Mirbt, Horst Stephan, Erich Förster, Ernst Bunke, Wilhelm Kahl und Max Berner an diesem Treffen teil. Außerdem war Otto Schmitz anwesend, der den von ihm und Karl Heim entwickelten Bekenntnisvorschlag vorstellte, vgl. zu diesem unten 59–73. 170 Jan Hermelink charakterisiert Schian als Vertreter einer „,modernen‘, empirie- und subjektbezogenen Praktischen Theologie“ (Hermelink, Schian). Für eine nuancierte Analyse seiner Theologie vgl. Hermelink, Organisation. 171 Vgl. Schian, Verfassung, 7. Vgl. auch Schian, Neugestaltung. Vgl. auch aus demselben Jahr Schian, Christ, darin auch ein Kapitel zum Thema „Wir evangelischen Christen und die Kirchengemeinde“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schwarzlose, Neugestaltung. 172 In dieser Betonung der Gemeinde, die sich auch in anderen Schriften Schians findet, mag sich die Rezeption Emil Sulzes wohl besonders deutlich niedergeschlagen haben. 173 Vgl. Lehmann, Jeremias.
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Volkskirche in der langen Krise der Weimarer Republik
Wie wurde die „Gesellschaft“, respektive „das Volk“ wahrgenommen und welche Ziele verfolgte man kirchlicherseits mit der Verwendung des Begriffs der Volkskirche und der von ihm ausgehenden Konzepte? 2.4.1 Volkskirche in der demokratischen Gesellschaft In den meisten Quellen wird auf die Volkskirche als anzustrebendes Kirchenideal rekurriert. Es gibt nur vereinzelte Stimmen, vor allem aus der Gemeinschaftsbewegung, die sich Ende 1918 für die Alternative der Freikirche einsetzten.176 Otto Dibelius steht also für viele andere mit seinem freudig geäußerten Bekenntnis „zu der viel angefochtenen und für uns doch schlechthin unentbehrlichen Volkskirche!“177 Wer sein deutsches Volk lieb habe, müsse die Volkskirche wollen; deren Zerschlagung zu fordern, sei eine ungeschichtliche Betrachtungsweise denn „Gebilde, die in Jahrhunderten aufgebaut worden sind, zerschlägt man nicht mit eigener Hand. […] Auf deutschem Boden ist die Volkskirche gewachsen, wie auf amerikanischem Boden die Freikirche. Die amerikanischen Kirchen, getrennt durch allerlei Unterschiede, oft nur verfassungsmäßiger Art, sind einig in ihrer geistigen Atmosphäre. Sie haben dem Volksleben eine ganz bestimmte christliche Sitte aufgeprägt. Sie bilden in ihrer Gesamtheit dort eine Volkskirche, der sich niemand so leicht entzieht. In Deutschland ist das ganz anders. Eine Zerstörung unserer Volkskirche würde das Aufhören der christlichen Volkssitte bedeuten.“178
Volk und Sitte standen hoch im Kurs. Dies mag wohl, obschon dieses Thema selten explizit angeschnitten wird, mit den extremen Gewalterfahrungen des Ersten Weltkrieges zusammenhängen, die nun ein sittliches Einwirken der Kirche auf das gesamte Volk umso erforderlich zu machen schienen.179 Wilhelm Hähnelt, ein Propst der sich ebenfalls zur „Positiven Union“ rechnete, konstatierte in diesem Sinne, dass es keinen Wiederaufbau des Volkslebens ohne sittliche Erneuerung geben könne und weiter: „es gibt keine Erneuerung ohne religiöse Beleben, es gibt keine Belebung der Religion ohne die Kirche – also keinen Aufstieg für unser Volk ohne die Kirche.“180 Für den Aufstieg des 174 175 176 177 178 179
Jeremias, Verfassung. Ebd. Vgl. Engler, Freikirche. Dibelius, Für die Volkskirche, 5. Ebd. Diese Forderung ist in höchstem Maße ambivalent wenn man in Betracht zieht, dass die Kirchen nicht unerheblich Anteil nahmen an den politisch statthaften Durchhalteparolen, etwa in den sog. Kriegspredigten. Pazifistische oder kriegskritische Stimmen blieben seltene Ausnahmen. Vgl. Pressel, Kriegspredigt; Kampmann, Gottesoffenbarung. Die Kirchenhistorikerin Andrea Hofmann bereitet eine Habilitationsschrift zu diesem Thema vor, vgl. schon jetzt Hofmann, Überlegungen; Hofmann, Themen. 180 H hnelt, Volk, 90.
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eigenen Volkes und damit die „Quellen seines Trostes, seiner Kraft und seines Friedens“181 nicht verstopft werden, darum wolle man die Volkskirche.182 Durch die Parallelisierung von Volksliebe und Liebe zur Volkskirche unterstrichen Dibelius und mit ihm andere die enge Verknüpfung und geradezu organische Zusammengehörigkeit dieser beiden Sphären. In den Arbeiten von Paul Althaus183 wird der enge Konnex zwischen Kriegserlebnis und -erfahrungen und Gegenwartsdeutung besonders deutlich. Das „Vaterlandserlebnis“ sei jetzt (d. i. 1919) völlig verschüttet. Zwar habe man erlebt, was es bedeutet ein Volk und Erbe einer opferreichen Geschichte zu sein, aber das Volk verstehe nichts mehr davon, was Kirche sei.184 Ohne Althaus‘ Ausführungen an dieser Stelle weiter nachgehen zu können, so macht sein Beitrag doch ganz deutlich, dass die „Kirchenfrage“ in all ihrer Vielgestaltigkeit mit aller Macht auf die kirchenpolitische Agenda drängte.185 Intensiv diskutiert wurde in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die bereits zitierte Schrift Theodor Kaftans mit dem eingängigen Titel: „Was nun?“. In den ersten 38 Seiten seiner „christlich-deutschen Zeitbetrachtung“ beschreibt Kaftan zunächst die gegenwärtige Lage Deutschlands sowie die Genese derselben. Ohne die Argumentation hier im Einzelnen zu rekonstruieren, sieht Kaftan die Ursachen für den Zustand des Trümmerfeldes, „das Deutschland heißt“186 in der Gottlosigkeit und genauer noch im Abfall von den Lehren Luthers. Als erstes, so Kaftan, habe das deutsche Volk nun Buße zu tun, womit gemeint sei, dass es seinen Sinn zu ändern habe.187 Zwar sei auszuschließen, dass jeder einzelne diese Buße vollziehe, entscheidend sei aber, „daß in dem Ganzen des Volks sich eine andere öffentliche Meinung durchsetzen, daß ein anderer, ein besserer Geist die Herrschaft gewinnen soll im Volksleben und sich dann auf den verschiedenen Gebieten praktisch auswirken soll.“188 Die Summe der Buße sei „Rückkehr zu ernster Religiosität und zu sittlichem Lebensernst.“189 Damit ist ein wichtiges Thema der frühen Diskussionen über die Volkskirche genannt; viele Autoren verbinden wie Kaftan mit der Idee einer Volkskirche die Garantie für den Erhalt der gesellschaftlichen Sittlichkeit und sehen diese als Bollwerk gegen den sittlichen Verfall an. Breche das alte Kirchenwesen jetzt zusammen, so gelte es, ein neues zu bauen. Das bisherige sei ein Volkskirchenwesen gewesen, denn: „Wir Deutschen 181 Ebd. 182 Freilich spielt auch hier der missionarische Impetus eine Rolle, da der Zweck der Volkskirche darin bestehe, „auch das letzte Glied des Volkes zu erreichen.“ (ebd.). 183 Vgl. Jasper, Paul Althaus. 184 Althaus, Erlebnis. Vgl. Fischer, Wahrnehmung. 185 Freilich plädierte auch Althaus für den Erhalt der Volkskirche, Althaus, Erlebnis, 906: „Wir wollen die Volkskirche nicht zerschlagen, solange sie noch mit Wahrhaftigkeit unser Ziel sein kann.“ Zu Althaus in der Weimarer Zeit vgl. Fischer, Zeugnis. 186 Kaftan, Was nun?, 38. 187 Vgl. ebd., 39. 188 Ebd., 40. 189 Ebd.
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haben in unserem Vaterlande das Kirchenwesen gar nicht anders gekannt als, ob auch in wechselnder, so doch in ständiger Verbindung mit dem Staat.“190 Mit der Revolution sei über das bisherige aber das Gericht gesprochen worden, weshalb der Neubau nicht eine Staatskirche zum Ziel haben solle. Gleichwohl sei der „Neubau […] in volkskirchlicher Gestalt [zu] vollziehen“.191 Es sei höchst unsicher, ob es überhaupt gelänge, an der Volkskirche festzuhalten.192 Die Freikirche sieht er lediglich als eine „ultima ratio“193 an. Die Aufgabe der Gemeinde besteht für ihn also darin, diesen Neubau zu vollziehen. Wichtig scheint ihm aber auch, dass für einen gelingenden Neubau der Kirche ein Bewusstsein wächst „in den Gemeinden wie unter den Christen: die Sache der Kirche ist unsere Sache; tragen wir nicht das Kirchenwesen, geht es zugrunde.“194 Die umfangreiche Publizistik zur Volkskirche, die zum zentralen Schlagwort der Debatten zur „Kirchenfrage“ wurde, macht deutlich, dass es nicht zuletzt um Deutungshoheit ging, und man für die eigenen Ordnungsvorstellungen Anhänger und Unterstützer suchte. 2.4.2 Der Nutzen der Volkskirchlichkeit Johannes Schneider195 veröffentlichte noch 1918 einen im August – also vor den revolutionären Umbrüchen – gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Was leistet die Kirche dem Staat?“. In seinen Leitsätzen betont Schneider, dass sowohl die Kirche als auch der Staat „gottgewirkte Institutionen“ seien „jede in bestimmter Eigengesetzlichkeit“.196 Es sei von einer „Wesensverwandschaft“ der beiden auszugehen, wobei eine „Wesens-Mischung“ als „Trübung“ anzusehen sei.197 Ferner hätten beide „gleichartige sittliche Strebungen“; schließlich gebe es „prinzipielle Scheidungen – aber auch unzerreißbare Beziehungen.“198 Seiner Ansicht nach, wie er auch mit statistischen Daten belegt, sei die Kirche „das Fundament des Staates, der Regulator aller ethischen Vorstellungen im Volksleben.“199 Davon ausgehend müsse die Kirche sowohl als „das Gewissen des Volkes“, als auch als „Mörtel im staatlichen Aufbau“ angesehen werden .200 Ersteres könnte man als den „Öffentlichkeitsauftrag“ 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200
Ebd., 45. Ebd., 46. Vgl. hierzu das folgende Kapitel. Vgl. Kaftan, Was nun?, 47. Ebd. [Hervorhebungen im Original, BB]. Vgl. Claussen, Schneider. Schneider, Kirche, 1; ähnlich Schneider, Trennung, vor allem 58–60 sowie Schneider, Staat. Vgl. auch Schian, Kirche zur Eigengesetzlichkeit vgl. Honecker, Problem; Honecker, Eigengesetzlichkeit. Vgl. Schneider, Kirche, 1. Ebd. Ebd., 16. Vgl. ebd., 1.
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der Kirche, also ihre gesellschaftliche Präsenz in ethischen Fragen auffassen. Letzterer Punkt wird von ihm hingegen vor allem auf das diakonische Handeln der Kirche bezogen. In Schneiders Schrift finden sich die wesentlichen Argumente gebündelt, mit denen auch andere Autoren für die Kirche Partei ergriffen. So der Reutlinger Prälat Jakob Schoell201, der noch 1925 betonte, dass die Kirche sich „als hochverdiente Erzieherin der Völker und reiche Segenspenderin für unzählige einzelne erwiesen hat.“202 Der sächsische Pastor Karl Helbig unterstrich hingegen vor allem die diakonische Arbeit der Kirche und nannte die Tätigkeiten von Diakonissen, Kleinkinderlehrerinnen, die Flussschifffahrtsseelsorge, sowie die Jugendarbeit der Kirche. Das Volk, so Helbig, könne nicht ohne Religion leben „und damit nicht ohne ihre Trägerin, die Kirche“.203 Zuletzt sei noch auf die Veröffentlichung des in der Inneren Mission tätigen Theologen Martin Hennig204 hingewiesen, die sich schon in ihrem Untertitel zum Ziel gesetzt hatte „Tatbeweise“ des Lebens der Kirche darzustellen. Hennig legte ein Augenmerk auf die diakonische und soziale Arbeit der Kirche. Auch er bezeichnet die Kirche als „Pflegerin der Sitte“.205 Es klingen in diesem Zusammenhang vielfach Vorstellungen an, dass die Kirche einen wesentlichen Beitrag für die Gesundheit des „Volkskörpers“ zu übernehmen habe und dieser ohne die Kirche und ihre „Leistungen“ in erhebliche Gefahr geraten könne.
2.5 Spannungsfeld III: Binnenkirchliche Debatten Die Zwischenkriegszeit gehört sicherlich zu den dynamischsten und facettenreichsten Epochen der neueren Kirchen- und Theologiegeschichte, wie bereits im Kapitel 2.2 dargestellt worden ist. Folglich wird hier danach zu fragen sein, welche Rolle die Volkskirche in diesem Zusammenhang gespielt hat und ob mit ihr eher integrierend oder aber abgrenzend verfahren worden ist.
201 Zu Schoell vgl. L chele, Schoell. 202 Schoell, Kirche, 3 f. 203 Helbig, Volk. Die ungeheuer hohe Auflage der Schrift steht im starken Kontrast zu dem Wenigen, was heute noch über Helbig bekannt ist. In jedem Fall zeigt dies, dass der hier diskutierte Themenkomplex auf großes Interesse stoßen konnte. Vgl. auch die ähnlich gelagerte Schrift von Weichert, Kirche. 204 Zu Hennig vgl. Sch rmann, Hennig; Herrmann, Mission. 205 Hennig, Kirche, 64–70.
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2.5.1 Der Streit um das Bekenntnis der Volkskirche Während viele der bislang genannten Autoren den Begriff vor allem integrativ verwendeten, kam es um die Frage des Bekenntnisses der Volkskirche zu einer ersten großen Kontroverse. Ausgelöst wurde diese durch einen Vorschlag der Münsteraner Theologen Karl Heim206 und Otto Schmitz. Mit diesen geraten zwei Vertreter der Gemeinschaftsbewegung in den Blick, zu der sich beide mehr oder weniger eng zugehörig fühlten.207 Sie hatten einen Aufruf publiziert, in dem sie zur Bildung einer freien evangelischen Volkskirche aufriefen, der gleich an mehreren Orten Ende 1918, Anfang 1919 abgedruckt wurde, zuerst aber in der Zeitschrift „Licht + Leben. Evangelische Monatszeitschrift“ erschien.208 Datiert waren die Ausführungen auf den 15. November 1918, sechs Tage nach dem Ausbruch der deutschen Revolution.209 Ähnlich wie die Gruppe um Rade bezeichneten die Autoren das anzustrebende Kirchenideal als freie evangelische Volkskirche, „die alle bestehenden Landeskirchen umfaßt und doch die geschichtliche Eigenart der Einzelkirchen unangetastet lässt, soweit sie sich dem Ganzen einfügt.“210 Im Folgenden präsentieren sie dann einige Änderungsvorschläge für das kirchliche Handeln. So sei zwar an der Kindertaufe festzuhalten, sofern sie von den Eltern gewünscht werde, doch solle „keine kirchliche Verpflichtung zur Kindertaufe“211 mehr bestehen. Gleichwohl müsse die Taufe notwendige Bedingung für die Teilnahme am Abendmahl bleiben.212 Daneben sei der Pfarrer künftig kein Staatsbeamter mehr, aber doch nach wie vor Vorsteher der Gemeinde.213 Außerdem sei den Einzelgemeinden eine sehr viel höhere Bewegungsfreiheit einzuräumen als bisher. In politischer Hinsicht sei absolute Neutralität zu wahren, was ihrer Ansicht nach auch bedeute, dass „jedes Glied der Kirche, 206 Vgl. Kçberle, Karl Heim. 207 Mit diesem Begriff bezeichnet man die modernen Formen des Pietismus in Deutschland. Als Kennzeichen kann man den Entscheidungscharakter der Verkündigung nennen, eine persönliche Beziehung zum Glauben wird als notwendig betrachtet. Man unterscheidet somit meist recht deutlich zwischen den Wiedergeborenen und Nichtwiedergeborenen, ein persönliches Bekehrungserlebnis wird vorausgesetzt. Man versammelt sich in kleineren Gruppen, verbleibt aber innerhalb der Landeskirchen. In diesen Kleingruppen (Stichworte wären hier: collegia praxis oder auch ecclesiola in ecclesia) wird eine intensive Frömmigkeit praktiziert. Zur Gemeinschaftsbewegung vgl. Brandenburg, Gemeinschaftsbewegung; Cochlovius, Gemeinschaftsbewegung sowie Ohlemacher, Reich. 208 Die Zeitschrift wurde von der „Evangelischen Gesellschaft für Deutschland“ herausgegeben. Hierbei handelt es sich um eine christliche Missionsgesellschaft, die Gemeinschaftsgruppen aus landeskirchlichem und freikirchlichem Kontext miteinander verbindet. 209 Vgl. Schmitz / Heim, Volkskirche. 210 Ebd., 576. 211 Ebd. [Im Original gesperrt, BB]. 212 Dieser Vorschlag wurde unter dem Stichwort „Freigabe der Taufe“ intensiv diskutiert. 213 Zum Zeitpunkt der Abfassung und im Grunde bis zur Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung war der Rechtstatus der evangelischen Landeskirchen durchaus unklar.
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einschließlich der Gemeindeleiter, jeder politischen Partei angehören“214 könne.215 Anders aber lägen die Dinge im Inneren der Kirche, sie dürfe kein Sprechsaal für entgegen gesetzte Glaubensüberzeugungen sein, sondern vielmehr „ein Organismus von ausgeprägter Eigenart“ bzw. eine „Glaubensgemeinschaft“216. „Der Augenblick der Trennung von Kirche und Staat wird die Feuerprobe für die evangelische Christenheit Deutschlands sein. Es wird sich dabei herausstellen, wie viel oder wie wenig evangelische Volksgenossen da sind, denen das Bekenntnis zu Christus so viel wert ist, daß sie mit Freuden bereit sind, Opfer dafür zu bringen, auch wenn dieses Bekenntnis keine staatliche Bedeutung mehr hat.“217
Damit kommen sie zu dem besonders kontroversen Punkt des Bekenntnisses innerhalb einer so gedachten Volkskirche. Sie äußern die Hoffnung, dass „in der Stunde des Zusammenbruchs der Staatskirche eine große Schar deutscher Christen sich aus freier Überzeugung um das neutestamentliche Grundbekenntnis ,Jesus ist der Herr‘ [!] sammeln wird […].“218 Diejenigen, die dem urchristlichen Bekenntnis nicht von Herzen zustimmen könnten, raten Heim und Schmitz an, eigenständige Verbände neben der Kirche zu gründen. Man müsse den Versuch wagen, ohne den staatlichen Bekenntniszwang auszukommen. Viele würden nämlich die in dieser Kirche zugestandenen Freiheiten als Schwierigkeiten empfinden. Um diese Bedenken zu entkräften, versuchen sie deutlich zu machen, dass dieses Bekenntnis nur scheinbar freier sei, als die bisherigen: „In Wahrheit schließt er [der Glaube, ,Jesus Christus sei mein Herr‘, BB] eine größere Gebundenheit in sich als irgend ein anderes Bekenntnis. Denn er bindet den ganzen Menschen mit seinem Wollen und Denken an Christus.“219 Abschließend betonen sie, dass „sofort“ gehandelt werden müsse.220 Alle evangelischen Männer und Frauen sollten zusammenkommen, um über die kirchliche Lage zu beraten und den vorgelegten Vorschlag zu überprüfen. Diejenigen, die dem Aufruf in ihren Grundzügen zustimmen, sollten dann wiederum einen „Evangelischen Rat der 214 Schmitz / Heim, Volkskirche, 577. 215 Diese Schlussfolgerung war durchaus revolutionär, gab es doch einige spektakuläre Fälle aus dem Kaiserreich, in denen Pfarrer, die sozialdemokratisch oder sozialistisch orientiert waren, ihr Pfarramt verloren. 216 Beide Zitate Schmitz / Heim, Volkskirche, 577. 217 Ebd. [Im Original gesperrt, BB] 218 Ebd. [Im Original gesperrt, BB]. Zur urchristlichen Christologie, aus deren Kontext das Bekenntnis zu Jesus als Kyrios, also als Herrn, stammt vgl. zeitgenössisch schon Seeberg, Lehrbuch, Bd. 1, 79 f; ferner Cullmann, Christologie, 200–244. 219 Schmitz / Heim, Volkskirche, 579 [Im Original gesperrt, BB]. Sie führen noch weiter aus „Das Bekenntnis zu Christus als unserem Herrn kann darum niemals mit der Unterwerfung unseres äußeren Verhaltens unter ein Staatsgesetz auf eine Linie gestellt oder als bloß verstandesmäßiges Führwahrhalten von Sätzen mißverstanden werden. Es ist ein rein religiöses Bekenntnis, das den ganzen Menschen verpflichtet.“ 220 Vgl. ebd.; Heim, Schicksalsstunde, dieser Aufsatz erschien auch als Flugschrift; Heim, Not.
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Kirchenfreunde“ bilden, Keimzellen der hiervon auszugehenden „Volkskirchenbewegung“.221 Die beiden Verfasser ließen diesem Aufruf schnell Taten folgen. Am 5. Januar 1919 fand in Elberfeld eine „vertrauliche Beratung der Kirchenfrage“ statt, zu der sich Theologen und Nicht-Theologen verschiedenster Gruppen zusammengefunden hatten.222 Vertreter der Inneren Mission, der Gemeinschaftsbewegung sowie liberale Theologen wie Martin Rade und Arthur Titius kamen hier zusammen.223 Auch der eher konfessionell-lutherische Generalsuperintendent der westfälischen Provinzialkirche, Wilhelm Zoellner224, der sich insbesondere an der Diskussion über die „kirchliche Gewissensfreiheit“225 beteiligt hatte, nahm daran teil. Man diskutierte dort vor allem den Vorschlag von Heim und Schmitz, was zu folgender Entschließung führte: „Die Versammlung erklärt es für eine Notwendigkeit, bei der jetzigen Neubildung der Kirchenverfassung den Schutz der kirchlichen Minderheiten zu sichern und beauftragt den Einladungsausschuß, diesen Antrag an die maßgebenden Stellen der preußischen Landeskirche und der übrigen deutschen Landeskirchen zu richten.“226 Im Anschluss habe man dann in „wohltuender Offenheit und Sachlichkeit“ die Bekenntnisfrage diskutiert.227 Da man keine Detailfragen hinsichtlich der Neugestaltung der Kirchenverfassungen in Ermangelung an Zeit klären konnte, schloss die Versammlung mit einem Plädoyer für eine umfassende Volkskirchenbewegung des „lebendigen Kirchenvolkes“, die gemeinsam mit den bestehenden Organen zusammenarbeiten solle.228 Abgesehen von der Volkskirchenbewegung, die nicht allein auf die Initia221 Vgl. Schmitz / Heim, Volkskirche, 579. 222 Vgl. Schmitz / Heim, Geburtstag, 26. 223 Teilgenommen hätten die Direktoren des Arbeitsausschusses der Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen, A. W. Schreiber und Gerhard Füllkrug, der Marburger Ausschuss zur Vorbereitung eines Kirchentages, vertreten durch Martin Rade, Ludwig Thimme und einen Pfarrer Herpel sowie der Göttinger Volkskirchenbund, für den Arthur Titius und Carl Mirbt anwesend waren. Organisiert und durchgeführt wurde diese Versammlung durch den Herausgeber von Licht + Leben, den Elberfelder Pfarrer Gauger. Leitende Aufgaben übernahmen außerdem der Vorsitzende des Gnadauer Verbandes für Evangelisation und Gemeinschaftspflege Theodor Haarbeck, sowie der im Deutschen Studentendienst und in der Gemeinschaftsbewegung engagierte Walter Michaelis. 224 Vgl. Philipps, Wilhelm Zoellner. Die RGG weist Zoellner als „Führer der kirchlichen Rechten […] in der verfassungsgebenden Kirchenversammlung für eine luth. gegründete, zeugniskräftige Kirche“ aus, vgl. Hohlwein, Zoellner; ausgewogener urteilt Lessing, Bekenntnis, 115–119. 225 Der Bericht notiert zum Stichwort kirchliche Gewissensfreiheit: „(,Alles, was zur Herstellung einer wahrhaften Glaubensgemeinschaft des ganzen Kirchenvolkes in Heilserkenntnis und gottesdienstlichem Handeln beiträgt, ist auf jede Weise zu fördern; wo aber eine solche Glaubensgemeinschaft unmöglich erscheint, ist Recht und Möglichkeit zur Befriedigung ihrer kirchlichen Bedürfnisse zu gewähren‘)“ (Schmitz / Heim, Geburtstag, 26). 226 Schmitz / Heim, Geburtstag, 26. 227 Ebd. 228 Ebd., 26 f.
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tive der Münsteraner Professoren zurückzuführen ist, schlug also insbesondere die Bekenntnisfrage in praktisch allen kirchenpolitischen und theologischen Lagern hohe Wellen und zwar auch noch in den folgenden Jahren. Hier wurden Vertreter der Gemeinschaftsbewegung, in deren Kontext diese Bemühungen ja in ihrem Ursprung zu sehen sind, zu treibenden Kräften. In der Redaktion von „Licht + Leben“ seien beispielsweise „[f]ast täglich […] Zuschriften ein[gegangen], deren Verfasser/innen sich einverstanden erklären mit den Grundzügen dieses Aufrufes.“229 Von einer einheitlichen Zustimmung der Gemeinschaftskreise230 kann jedoch keine Rede sein.231 Insbesondere die von Karl Möbius232 herausgegebene Zeitschrift „Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichsgottesarbeit in allen Ländern“ positionierte sich sehr kritisch. Möbius selbst trug Anfang 1919 die Gefahren des „neuen“ Bekenntnisses zusammen. Bedenkenswert ist für ihn vor allem die absichtliche Unklarheit der Formel, um damit „den Liberalismus mit in die neue Volkskirche hinüberretten zu können.“233 Dass es jedem selbst überlassen werden sollte, was er unter dem Bekenntnis verstehen könne, habe er „aufs Tiefste erschrocken“ zur Kenntnis genommen.234 Während man bislang noch mit gutem Gewissen Teil der zumindest theoretisch am Bekenntnis orientierten Landeskirche bleiben konnte, sieht er diesen Status durch das Münsteraner Bekenntnis fundamental in Frage gestellt: „Ich frage […], ob nicht ein Zusammenschluß aller Christgläubigen in einer Bekenntniskirche viel tiefere und gesegnetere Wirkungen in unserem Volke auslösen würde, als in einem Sammelsurium, genannt Volkskirche, unterzugehen, welche Dreiviertel ihrer Kraft in Versuchen verbrauchen wird, unüberbrückbare Gegensätze im eigenen Lager auszugleichen.“235
Was hier Bekenntniskirche genannt wird, ist letztlich nichts anderes als eine Freikirche, auch wenn Möbius die organisatorischen Aspekte nicht weiter ausführt. Auf diesen Punkt geht Theodor Haarbeck236, der Vorsitzende des 229 Spçrri, Wege. Spörri liefert auch einen detaillierten Bericht des Treffens vom 5. Januar 1919 sowie zu den Vorläufern und Folgen desselben. 230 Die Gemeinschaftsbewegung hat ihre Wurzeln im Pietismus und in der Erweckungsbewegung, wodurch auch ihr Frömmigkeitsstil geprägt ist. Sie ist also als „organisatorische Gestaltung“ (Geldbach, Gemeinschaftsbewegung, 645) pietistischer Frömmigkeit zu verstehen. Zusätzlich wurde der Evangelisation eine große Bedeutung beigemessen. Zu den Landeskirchen standen sie in einem gewissen Spannungsverhältnis, sie fühlten (und fühlen) sich meist an diese gebunden, ohne von ihr abhängig sein zu wollen. Allerdings wollte die Gemeinschaftsbewegung zu ihrem größten Teil keine Freikirche sein, sondern ein „freies Werk“ im Raum der evangelischen Landeskirchen. 231 Für einen instruktiven zeitgenössischen Beitrag vgl. Fleisch, Stellung. 232 Möbius war Buchhändler und Vorsitzender der Schleswig-Holsteinischen Gemeinschaftsbewegung; ansonsten ist über ihn wenig bekannt. Vgl. den Eintrag in: Jahn, Presse, 716. 233 Mçbius, Jesus. 234 Ebd., 6. 235 Ebd. 236 Vgl. Printz, Haarbeck; Brandenburg, Haarbeck. Vgl. auch Haarbeck, Theodor Haarbeck.
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Gnadauer Verbandes237, in seiner Erwiderung kritisch ein. Die in den Gemeinschaftskreisen kursierende Alternative zur Volkskirche „wäre einfach ein erweiterter Gemeinschaftsverband oder eine Freikirche im engsten Sinne des Wortes. Unsere Gemeinschaftsverbände hätten in ihr keinen Platz und keine Aufgabe, und die ,draußen‘ würden für uns kein Missionsobjekt mehr sein wollen, nachdem wir sie von der ,Kirche‘ ausgeschlossen haben.“238 Das erklärte Ziel der Mission ist seiner Ansicht nach also gerade in einer Volkskirche möglich, nicht aber in einer mit engen Grenzen versehenen Freikirche. Haarbeck macht sich sodann für das von Heim und Schmitz vorgeschlagene Bekenntnis stark, habe die Kirche doch ein unerschütterliches und unabänderliches Bekenntnis, nämlich eben diesen Jesus.239 Es bestehe kein Gegensatz zwischen Bekenntnis- und Volkskirche, denn letztere „ist nicht gleich dem bekennenden Volk, sondern sie umfaßt das Volk, das zu der bekennenden Kirche gehören will.“240 Haarbeck denkt an eine Abstufung innerhalb einer offenen Volkskirche. Jeder, der das Bekenntnis – und damit sind in erster Linie die historischen Bekenntnisse des Protestantismus, wie die Confessio Augustana gemeint – „aus Überzeugung zu dem seinigen macht“241 erlange dadurch Kirchenmündigkeit, während gleichzeitig nur die ausgeschlossen blieben, die selbst diesen Schritt vollziehen wollten.242 Auf den Einwand, ob es nicht doch besser wäre, auf die Volkskirche zu verzichten und stattdessen eine „Zusammenschluß von wirklichen Bekennern“243 zu gründen, erwidert er, dass auch dieses Unterfangen vor Problemen stünde. Denn wer wolle denn kontrollieren, wie der Einzelne glaubt und zu welcher Art von Bekenntnis er sich stellt? Vor allem ist es aber das große Potenzial zur Missionierung, das ihn für die Volkskirche eintreten lässt. Umso mehr, als es doch in der jetzigen Situation sehr fraglich sei, ob sich die breiten Massen überhaupt noch zur Kirche hielten. Darum sei man „verpflichtet, die Tür allen zu öffnen, die noch nicht endgültig mit Christus und dem Evangelium gebrochen haben.“244 Die Volkskirche wurde also in der Interpretation 237 Der Gnadauer Verband „umfaßte die wesentlichen Werke und Verbände der Gemeinschaftsbewegung“ (Geldbach, Gnadauer Konferenzen). 238 Haarbeck, Volkskirche, 2. 239 Im Übrigen nimmt er sie auch dezidiert gegen Vorwürfe in Schutz, wie sie beispielswiese von Karl Möbius geäußert worden sind, ebd.: „wer die Professoren Schmitz und Heim kennt, der weiß, daß sie nur aus heiligen Motiven und aus brennender Liebe zu den Seelen die Tür auch für solche offen lassen wollen, die mit Christus noch nicht ganz gebrochen haben.“ 240 Ebd. 241 Ebd. 242 In diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit Ludwig Thimmes zu sehen: Thimme, Kirche. 243 Haarbeck, Volkskirche, 2. Damit korrigiert Haarbeck die Schlussfolgerung Möbius‘, dass der Gnadauer Verband nur in der Volkskirche bleiben wolle, wenn diese den Bekenntnisstand wahre, zumindest tendenziell, vgl. Mçbius, Verband; Haarbeck, Stellung. 244 Haarbeck, Volkskirche, 3. Weiter unten betont er dann nochmals: „Für uns Gemeinschaftsleute ist die Hauptsache, daß wir in der künftigen Kirche, wie sie sich auch nur gestalten möge, volle Bewegungsfreiheit zu unserer Entwicklung für unsere Missionsarbeit und zur Feier des heiligen Abendmahls bekommen.“
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der Gemeinschaftsbewegung – sofern man gegen die freikirchliche Option votierte – zur Missionsgelegenheit.245 Diese Argumentation, keinen auszuschließen, der nicht aus eigenen, freien Stücken aus der Kirche austritt, weil man ihn noch für das Evangelium gewinnen könne oder Ähnliches, wirkt im Grunde bis in die Gegenwart fort.246 Es vermag wenig überraschen, dass auch in liberalen Kreisen, die ja zur Avantgarde der Volkskirchenbewegung in dieser Zeit gehörten, die Bekenntnisfrage sowie der Münsteraner Vorschlag intensiv diskutiert worden sind. Wenn beispielsweise Martin Rade „Jesus der Herr“ als „einmütiges Bekenntnis des deutschen kirchlichen Protestantismus“ bezeichnete, so war dies sicher mehr als Zustimmung und Plädoyer zu verstehen, denn als eine Feststellung. Dieser Vorschlag sei seiner Ansicht nach „von allen Vorschlägen und Vorarbeiten […] der originellste, einschneidendste und frömmste.“247 Rade gab allerdings zu bedenken, ob man es nicht eher vermeiden sollte, von Bekenntnissen zu sprechen. „Denn mit dem, was die Kirchen bisher als ihre ,Bekenntnisse‘ verehrten, hat das, was die Münsterer meinen, wenig zu tun. Diese Bekenntnisse sind Dokumente einer Vergangenheit, die als Rechtsgrundlagen für den Bestand unsrer bisherigen Landeskirchen eine dauernde Bedeutung hatten und haben. Niemand kennt sie, niemand liest sie. Aber wenn daran gerührt wird, fühlen nicht Wenige den Boden unter unsern Füßen wanken. Nur: sie zu ,bekennen‘ fällt Niemandem ein.“248
Die Bekenntnisschriften könnten schon deswegen keine wirklichen Bekenntnisse sein, da sie der Gemeinde nicht bekannt wären. Diese bekenne vielmehr ihren Glauben im Gottesdienst, sowie durch die Teilnahme am Abendmahl und an den Kasualien, im besten Fall noch durch einen öffentlich wahrnehmbaren Lebenswandel.249 Die „Sammellosung“ von Heim und Schmitz gehe aber an diesen individuellen Glaubensbekenntnissen der Gemeinde gerade vorbei, da sie sich auf etwas ganz und gar von politischen Rahmenbedingungen Unabhängiges beziehe und die Herzen und Gewissen der Mitglieder nicht ausreichend berücksichtige. 245 Vgl. in diesem Sinne auch ganz in der Linie von Haarbeck argumentierend v[on] Peinen, Anregungen; Fabianke, Stellung. Auch Walter Michaelis ergriff Partei für den Vorschlag von Heim und Schmitz, vgl. Michaelis, Volkskirche; Michaelis, Bekenntnisfrage; Michaelis, Bekenntnisfrage. 246 Vgl. aber auch schon Heim, Bedeutung. 247 R[ade], Jesus, 147, dort auch das vorherige Zitat im Satz. Auch Friedrich Niebergall griff in diese Diskussion ein, vgl. Niebergall, Jesus; Niebergall, Volkskirche. Vgl. zu diesem jetzt auch Sarx, Volkskirche. 248 R[ade], Jesus, 148. Diese Diskussionen scheinen auch ein Reflex zu den Streitigkeiten um das Apostolikum zu sein, zu diesem vgl. Winnebeck, Apostolikumsstreitigkeiten. 249 R[ade], Jesus, 148: „Die Gemeinde bekennt, indem sie den Gottesdienst besucht, die Lieder mit singt, mit betet, die Predigt hört, zum heiligen Abendmahl geht, taufen, konfirmieren, trauen, begraben läßt, Pfarrer und Presbyter wählt und je nachdem [!] öffentlich ein christliches Leben führt.“
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Auch wenn sein Optimismus insgesamt verhalten ist, hofft Rade dennoch, dass eventuell ein Deutscher Evangelischer Kirchentag sich den Münsteraner Vorschlag zu eigen machen könnte, dem oben angemahnten Schwachpunkt zum Trotz. Was sich allerdings in jedem Fall als schädlich erweisen würde, wäre „das Markten, Streiten und Deuten, für den kirchenpolitischen und kirchenrechtlichen Gebrauch.“250 Auch der Dortmunder Pfarrer Hans Tribukait251 lehnt die Forderung nach einer Volkskirche „im engen Rahmen einer sektenhaften Bekenntnisgemeinschaft“252 ab. Für Tribukait ist die Volkskirche mehr als eine „Denkgemeinschaft“, es gehe in ihr also nicht ausschließlich um das intellektuelle Nachdenken über die Kirche, sondern um eine „Lebensgemeinschaft.“253 Und er schließt dann: „Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die im Namen und Geist Jesu leben wollen. Solchen Lebenswillen bekennt jeder auch ohne Bekenntnis dadurch, daß er zur Kirche gehört und in ihr bleibt. Die bekenntnislose Kirche, in der doch allen ein Lebensideal leuchtet und deren Aufgabe und Zweck es recht eigentlich ist, dies Lebensideal Jung und Alt vorzuhalten, das eben ist die Volkskirche.“254
Die bekenntnisorientierten Gruppen, also vor allem Lutheraner, aber auch reformierte Theologen, standen dem Münsteraner „Bekenntnis“ naturgemäß äußerst skeptisch gegenüber, wie eine Äußerung der hannoverschen Bekenntnisfreunde verdeutlicht. Die Volkskirche könne zur Teufelskirche werden, wenn „der Unglaube offen und ungehindert auftreten und sein Unwesen treiben darf […]“255. In der „Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung“ erschienen 1919 gleich mehrere Aufsätze, die sich entschieden für eine Beibehaltung der bestehenden Bekenntnisse einsetzten. Nach lutherischer Lehre gebe es einen engen Zusammenhang zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche.256 Für erstere sei es „von entscheidender Bedeutung, daß sie auf das lautere Evangelium sich gründe.“257 Kirche könne gemäß der Confessio Augustana258 nur dort entstehen, wo das Evangelium rein gepredigt werde.259 Abschließend wird der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen
250 Ebd., 150. Zum Dresdener Kirchentag von 1919 siehe weiter unten. 251 Zu Tribukait vgl. Brinkmann, Kirche, 182–200. 252 Tribukait, Volkskirche, 580; Tribukait, Naumann; vgl. auch Fuchs, Volkskirche. Eine ablehnende Haltung äußerte außerdem Schmidt, Pastoren- und Bekenntnis-Kirche; Schmitz, Bekenntnis. Der spätere Beitrag deutet bereits an, dass auch in der Verfassungsdiskussion die Bekenntnisfrage eine wichtige Rolle spielte, vgl. unten 80–86. 253 Tribukait, Volkskirche, 589. 254 Ebd. 255 o. A., Vereinigung. 256 Vgl. Kunze, Bestand, 141; Kunze (1865–1927) war ein lutherischer Theologe und Professor in Greifswald. Vgl. auch Kunze, Symbolik; Barth, Kirche, 2008. 257 Kunze, Bestand, 141. 258 Zur Rezeption der Confessio Augustana vgl. Hauschild, Geltung, 172–206. 259 Kunze zitiert CA VII. Zur frühneuzeitlichen Bekenntnisbildung vgl. Kaufmann, Bekenntnis.
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Landeskirche in Sachsen, Ludwig Ihmels260 zustimmend zitiert, „daß die Volkskirche bei aller grundsätzlichen Weite zugleich Bekenntniskirche sein“261 müsse. Ihmels war Vertreter des Neuluthertums und profilierte sich mit zahlreichen Veröffentlichungen und Stellungnahmen, die die Bedeutung und den Wert des lutherischen Bekenntnisses für die kirchliche Neuorientierung hervorhoben.262 Er stellte heraus, dass es weitestgehend unumstritten sei, dass man im Bereich der Landeskirchen an der Volkskirche festhalten wolle. Umstritten sei hingegen, wie dies geschehen solle. Viele seien der Ansicht, dass das Bekenntnis nun für den Erhalt der Volkskirche zurückgestellt, oder ganz aufgelöst werden müsse.263 Er macht jedoch klar, dass es ohne Bekenntnis keine Kirche geben könne. Es sei ein Gefühl zu spüren, das er als „Hunger nach Autorität“ beschreibt; dieser könnte möglicherweise von einem Bekenntnis gestillt werden.264 Es sei seiner Ansicht nach auch klar, dass es immer Personen in der Kirche geben werde, die „dem Bekenntnis innerlich fremd“ gegenüberstünden. Nun aber einfach das Bekenntnis zurückzustellen, um „die Tür möglichst weit auf[zu]tun und alle willkommen [zu] heißen, die noch irgendwie zu uns gehören“ sei keine angemessene Lösung des Problems.265 Diese läge vielmehr in der Art und Weise, wie man das Bekenntnis der Kirche in dieser Situation „zur Geltung“ bringen könne: „Hier scheint mir für alle, welche die Volkskirche wollen, ein Doppeltes feststehen zu müssen. Einmal allerdings dies, daß die Volkskirche freilich darauf rechnen muss, daß zahlreiche ihrer Mitglieder zum Bekenntnis eine mehr oder weniger gebrochene Stellung einnehmen. Sodann aber, daß die Volkskirche gleichwohl auch allen diesen nur so dienen kann, daß sie Bekenntniskirche bleibt.“266
Der Dienst der Kirche sei also nur soweit möglich, wie die Mitglieder ihn sich von der „bekennenden Kirche“ gefallen ließen. Das Spannungsfeld bestehe also darin, dass auf der einen Seite niemand das Gefühl bekommen dürfe, dass das Bekenntnis die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Volkskirche darstelle. Auf der anderen Seite dürfte aber auch nicht der Eindruck entstehen, dass das Bekenntnis etwas Gleichgültiges wäre.267 Auf diesem Wege sollten 260 Zu diesem vgl. Haufe, Ihmels. 261 Ihmels, Zukunft, zitiert nach Kunze, Bestand, 160. 262 Zum Neuluthertum vgl. Kantzenbach / Mehlhausen, Neuluthertum. Diese Position wird auch deutlich in: Ihmels, Glaube. 263 Vgl. Ihmels, Wirren, 619. Der Artikel erschien im selben Jahr auch noch separat als Sonderdruck. 264 Ebd., 639. 265 Beide Zitate ebd. 266 Ebd. 267 Ebd., 639 f: „Will die Kirche Volkskirche sein, so darf sie sich nicht den Anschein geben, als setze sie bei all ihren Gliedern eine innere Uebereinstimmung mit dem kirchlichen Bekenntnis voraus. Aber will sie zugleich Volkskirche bleiben, so darf sie ebensowenig den Anschein
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„alle Glieder der Gemeinde […] in den ganzen Reichtum des Evangeliums, wie er im kirchlichen Bekenntnis ausgeprägt wird […]“268 hineingeführt werden. Ihmels Lavieren, also der Versuch, den Wert des Bekenntnisses zu betonen, ohne dadurch aus der Volkskirche eine Freikirche machen zu lassen, scheint typisch für die Äußerungen lutherisch-konfessioneller kirchenleitender Persönlichkeiten gewesen zu sein. Auffällig ist jedenfalls, dass er keine Lösungen anbietet für das Kernproblem, die hierarchischen Abstufungen innerhalb der Volkskirche.269 Sekundiert wurde Ihmels vom Rostocker Theologe Gerhard Hilbert, der in dieser Zeit wichtige kirchentheoretische Arbeiten vorlegte.270 Der „Kampf um die Geltung des Bekenntnisses innerhalb der Volkskirche“, so diagnostizierte er im Oktober 1919, stehe unmittelbar bevor.271 Hilbert war der Überzeugung, dass man zunächst klarstellen müsse, was man unter Kirche versteht, ehe man mehr zu der Entscheidung zwischen Volkskirche und Bekenntniskirche sagen könne. Seiner Definition zufolge ist Kirche die Gemeinschaft derer, die an Jesus Christus glauben. Konstitutiv seien also der Glaube und das Bekenntnis zum Glauben.272 Über diese – sich im Übrigen auf ein berühmtes Luther-Zitat beziehende – Aussage hinausgehend, sei die Kirche als „Gesinnungs- und Arbeitsgemeinschaft“273 zu verstehen und für ihre Arbeit brauche sie ein Bekenntnis; ein Verzicht darauf würde geradezu „kirchensprengend“ wirken.274 Ebenso wichtig sei es, auch das Wesen der Volkskirche genauer zu bestimmen,
268 269 270 271 272 273
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erwecken, als wäre auch für sie das Bekenntnis etwas mehr oder weniger Gleichgültiges, über das man eben verschiedener Meinung sein könne.“ Ebd. Ähnliche Kritik äußerte Bunke, Volkskirche. Vgl. Beyreuther, Hilbert. Hilbert, Volkskirche, 930. Die Beiträge erschienen ebenfalls als Sonderdruck. Vgl. auch Hilbert, Kirche. Vgl. Hilbert, Volkskirche, 931. Hilbert stimmt hier mit Ihmels völlig überein: „Ohne Bekenntnis kein Glaube, und darum auch ohne Bekenntnis keine Kirche. Gibt die Kirche das Bekenntnis auf, so gibt sie sich selbst auf.“ Ebd., 947. Luther hielt im zwölften der Schmalkaldischen Artikel fest: „Wir gestehen ihnen [gemeint sind die Anhänger der Papstkirche, BB] nicht zu, dass sie die Kirche seien, und sie sind es auch nicht, und wir wollen auch nicht hören, was sie unter dem Namen der Kirche gebieten oder verbieten; denn es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ,die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören‘ (Joh 10, 3)“ (BSLK, 776). Vgl. Hilbert, Volkskirche, 947 sowie 948: „Fassen wir zusammen: das Bekenntnis ist für die Kirche, wenn sie wirklich eine Gemeinschaft des Glaubens und des Lebens sein will, unentbehrlich, und zwar 1. als das lebenschaffende Zeugnis der Väter, auf Grund des Urbekenntnisses der Schrift, 2. als das richtungsgebende Losungswort für den Zusammenschluß der Gemeindeglieder und für Unterricht und Erziehung der werdenden Christen und endlich 3. als die gegebene Rechtsgrundlage zur Selbstbehauptung der Kirche gegenüber grundstürzenden Bestrebungen. Das Bekenntnis ist für die Kirche eine Notwendigkeit. Die Kirche Christi ist ihrem Wesen nach Bekenntniskirche.“ Vgl. auch die Schrift des Hamburger Pastors Glage, Scheidewege.
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da dies unter „bibel- und bekenntnistreuen Gliedern der Kirche“275 oftmals missverstanden werde. Dieses Wesen erkläre sich vor allem aus dem „Gegensatz zur Freiwilligkeitskirche“276, auch wenn alle Kirchen ihrem Ursprung nach zwar solche gewesen seien, hätten sie sich alle nach und nach zu Volkskirchen entwickelt, denn „auch die Kinder christlicher Eltern mußten irgendwie der Gemeinde eingegliedert werden; die Kirche erhält und vermehrt sich selbst nicht so sehr durch die persönliche Willensentschließung des Einzelnen als vielmehr im Wesentlichen durch die natürliche Geburt; sie wird zur Zuwachskirche, zur Kindertaufkirche; so allein kann sie schließlich mehr oder minder das ganze Volk auffassen, so allein wird sie zur ,Volkskirche‘.“277
Dieser Modus bringe ungemeine Vorteile mit sich, da man die großen Anstrengungen von Missionskirchen in diesem Fall nicht aufbringen müsse. Hilbert führt es sogar so weit aus, zu behaupten, dass letztlich jeder, der sein Volk lieb habe, die Volkskirche wollen müsse.278 Die Volkskirche als Möglichkeit möglichst breite Volksschichten mit der christlichen Botschaft zu erreichen ist also ein wichtiger positiver Aspekt, wobei dies natürlich kein theologisches, sondern eher ein pragmatisch-kirchenpolitisches Begründungsmuster darstellt. Das Wesen der Volkskirche als Zuwachskirche, so Hilbert dann weiter, stehe zwar im Widerspruch zur Freiwilligkeitskirche, nicht aber zur Bekenntniskirche, denn „es ist durchaus möglich, daß das Bekenntnis so in Geltung steht, daß nicht alle Kirchenglieder darauf verpflichtet werden, sondern nur diejenigen, die es freiwillig begehren, besonders wenn sie ein Amt in der Kirche bekleiden, also Subjekte des kirchlichen Handelns sein wollen. Auch die Volkskirche kann wirklich Kirche im Sinne von Bekenntnisgemeinschaft sein.“279
Ihm scheint jedoch klar zu sein, dass diese Feststellung primär theoretischer Natur ist, da die gegenwärtigen Verhältnisse überaus kompliziert seien. Die „Massen“ seien in religiöser Hinsicht selbstständiger geworden und es erscheine doch zumindest fraglich, ob sie sich mit dem bisherigen Bekenntnischarakter abfinden würden. In der gegenwärtigen Situation könnte zweierlei passieren: entweder der Ausbruch einer gewaltigen Austrittsbewegung oder aber die Forderung, das „demokratische Prinzip“ in der Kirche durch275 276 277 278
Hilbert, Volkskirche, 948. Ebd. Ebd. Zum Motiv der „Kindertaufkirche“ vgl. Rendtorff, Kirche, 1911. Hilbert, Volkskirche, 984: „In der Tat: Volk und Kirche, beide haben an der Volkskirche das allerstärkste Interesse: dem Volke reicht sie die sittlichen Kräfte dar, ohne die es nicht bestehen kann; der Kirche aber dient sie zur Ausrichtung des göttlichen Gnadenangebots in seiner Universalität. Wenn irgendwo, so gilt hier das Wort: ,Verdirb es nicht, es ist ein Segen drin‘.“ 279 Ebd., 949 f. Auch Ihmels forderte eine Bekenntnispflicht für kirchliche Amtsträger, vgl. Ihmels, Wirren, 639.
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zusetzen und alle Strömungen in der Volkskirche unterschiedslos zu akzeptieren.280 Um die Volkskirche zu retten, würde nun von vielen Stellen gefordert, die Bekenntnisse der Kirche aufzugeben. Er macht eine Reihe von Gründen geltend, die gegen die Abschaffung der Bekenntnisse sprächen. Diese seien nämlich mehr noch als die Verfassungen konstitutiv für die Kirchen gewesen. Außerdem sei fraglich, ob bekenntnislose Landeskirchen überhaupt als Rechtsnachfolger der bisherigen Kirchen anerkannt werden würden.281 Die Kirche sei kein Verein, in dem man per Mehrheitsentschluss Satzungen erlassen oder ändern könne. „Das kirchliche Bekenntnis ist nichts anderes als ein Bekenntnis zum Evangelium und über das rechte Verständnis des Evangeliums; das Evangelium aber steht über der Gemeinde und ist unabhängig von der Gemeinde. So ist vom Standpunkte des Rechtes wie vom Standpunkte des Glaubens die Aufhebung des Bekenntnisstandes der Kirche durch Massenentscheidung oder um die Massen bei der Kirche zu erhalten, unzulässig: wir haben in keiner Weise das Recht dazu.“282
Seine Ablehnung einer bekenntnisfreien Volkskirche begründet sich nicht zuletzt auch in der Ablehnung demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse.283 Den Vorschlag von Heim und Schmitz qualifiziert er schließlich dahingehend ab, dass man hier „eine neue Kirche neben und zwischen den bestehenden“284 gründen wolle. Außerdem sei es ja nicht so, dass das „Volk als Ganzes“285 mit seiner Kirche brechen wolle und es gebe nach wie vor keine bessere Schule für Charakterbildung des Einzelnen wie des Volkes „als die dieses tiefsten und volkstümlichsten Bekenntnisses unserer Kirche.“286 Für den Erhalt der Volkskirche nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments sei es schließlich sogar erforderlich, dass sich die Reichweite des Bekenntnisses vergrößere über den Kreis der Amtsträger hinaus. Er ruft zu diesem Zweck „zur Bildung von Kerngemeinden innerhalb der volkskirchlichen Einzelgemeinden“ auf.287 Ohne Bekennergemeinde gebe es keine Volkskirche als Bekenntniskirche; man müsse deshalb bemüht sein, die „bekenntnistreuen Glieder der Volkskirche […] zu wirklichen Bekennerge280 Die Befürchtung, dass es nach der deutschen Revolution und der etwaigen Trennung von Kirche und Staat zu einer enormen Austrittsbewegung kommen würde, war in den protestantischen Gegenwartsdiagnosen allgegenwärtig, vgl. nur L[aible], Kirchenaustrittsbewegung; Schubert, Kampf; Boeck, Kirche. 281 Auch an dieser Stelle besteht wiederum eine frappierende Ähnlichkeit zu den Aussagen von Dibelius, vgl. oben 58 f. 282 Hilbert, Volkskirche, 950. 283 Ebd., 951: „Vor allem aber: wenn durch den Einfall des Bekenntnisses die Majorität die entscheidende Größe innerhalb der Kirche wird – was wird das Ende sein?“ Zum problematischen Verhältnis zur Demokratie vgl. Wolfes, Demokratiefähigkeit. 284 Hilbert, Volkskirche, 970. 285 Ebd., 971. 286 Ebd., 971 f. 287 Ebd., 974.
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meinden“288 zusammenzuschließen. Die Hoffnung auf die Bildung von Kerngemeinden war also ein Ansatz, um die Alternative von Volkskirche oder Bekenntniskirche zu umgehen. Dieser Ansatz lässt sich unter dem Stichwort „ecclesiola in ecclesia“ bis zum Kirchenverständnis Martin Luthers zurückverfolgen. Die Idee wurzelte zudem in der pietistischen Vorstellung von Konventikeln und Gemeinschaften als Keimzellen der Erneuerung der Kirche und Vertiefung der Frömmigkeit.289 Hilbert verlieh 1920 seiner Überzeugung Ausdruck, dass „die Umbildung der bloßen Parochien zu lebendigen Gemeinden die entscheidende Lebensfrage der Volkskirche geworden“ sei.290 Um die Gefahr zu umgehen, dass solche „ecclesiolae in ecclesia“ den organischen Gesamtzusammenhang der Gemeinde aufzulösen drohten, „ist man […] zu dem Versuche gezwungen, die volkskirchlichen Gemeinden als solche zu wirklichen Gemeinden umzugestalten.“291 Er verwies unter Bezugnahme auf Troeltschs Soziallehren auf Johannes Calvin, der das „Sektenideal“ mit der „Anstaltskirche“ zu verbinden versucht habe. Auch Emil Sulze sei als weiterer Gewährsmann heranzuziehen.292 Es sei aber absolut aussichtslos, dass sich volkskirchliche Gemeinden vollständig in lebendige umwandeln ließen. Man dürfe nicht mehr den Anschein erwecken wollen, dass die Zuwachskirchen „dasselbe Aussehen nach innen und außen haben müßten wie Freiwilligkeitskirchen!“293 Vielmehr könne man nur eine „Sammlung“, einen „Kern ernster Christen“ in dieser Weise umformen – man solle sich demzufolge nicht an Calvin, sondern an Luther orientieren.294 Unter Verweis auf den Pietismus und die Gemeinschaftsbewegung führt Hilbert aus, dass die Bildung von solchen Kerngemeinden mitnichten zur Sprengung der Volkskirche geführt habe, noch führen werde, sondern vielmehr deren „Ver288 Ebd. 289 Vgl. zu Luther Neebe, Kirche. Zu pietistischen Vorstellungen, die seit Spener auch unter dem Stichwort der Collegia pietatis diskutiert wurden und werden vgl. Wallmann, Pietismus, 66–102; Wallmann, Anfänge, 253–282. 290 Hilbert, Ecclesiola, 51. Vgl. die Besprechung von Ludwig, Kerngemeinden. Für weitere Arbeiten Hilberts zu dieser Thematik vgl. Hilbert, Stufengang; Hilbert, Bildung. Zur Bedeutung der Parochie äußerte er sich ausführlicher in einer späteren Schrift, die unter dem Titel „Bezirk und Gemeinde“ 1926 in Leipzig erschien und die er vor allem unter dem Gesichtspunkt des Organismus‘ untersucht (Hilbert, Bezirk); vgl. Hermelink, Organisation, 126–133. 291 Hilbert, Ecclesiola, 52 [Im Original gesperrt, BB]. 292 Sulze habe geglaubt, so Hilbert, dass sich das allgemeine Priestertum der Gläubigen in den volkskirchlichen Gemeinden verwirklichen könne zu einer Arbeit aller an allen. Kirche müsse, einem Zitat Sulzes zufolge „die organisierte christliche Liebestätigkeit werden (vgl. ebd.). Hilbert zitiert aus Sulze, Reform, 96). Zu Sulze vgl. Lorenz, Kirchenreform. 293 Hilbert, Ecclesiola, 54. Auf die Massen der Volkskirche oder deren Durchorganisation sollte man hierbei nicht hoffen, sondern stattdessen sich an die innere Organisation der Sammlung derer, die in jeder Parochie ernsthaft Christen sein wollen, orientieren (ebd., 60). 294 Gut die erste Hälfte seiner Schrift beschäftigt sich mit der Entwicklung des Gedankens der ecclesiolae in ecclesia bei Luther, insofern ist diese Wendung in der Argumentation nicht besonders überraschend.
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lebendigung“ diene.295 Zum einen mache die gegenwärtige Lage der Kirche ein solches Vorgehen unbedingt erforderlich. Zum anderen drängten die äußeren Gegenbenheiten der Kirche dazu: „sie kann ohne den Zusammenschluß der ihr treuen Glieder nicht als Volkskirche sich behaupten, sie kann als bloße ,Pastorenkirche‘ ohne die Mitarbeit der Laien ihre gottgegebene Arbeit nicht erfüllen; sie bedarf demnach der inneren Organisation!“296 Bezogen auf das Innere der Kirche werde es für den einzelnen Christen „je länger je mehr zu einer Lebensnotwendigkeit, daß er der seelischen Vereinsamung innerhalb unserer jetzigen volkskirchlichen Gemeinden entrissen wird und die bewahrende und stärkende Macht brüderlicher Gemeinschaft erfahren kann.“297 In der Verwirklichung dieser Forderungen sah er die zentrale Schicksalsfrage für die deutschen Volkskirchen, deren Wert er weiter unten in seiner Schrift nochmals ausdrücklich betont und die im Grunde seinen Ausführungen aus der 1919 erschienen Arbeit zur „Volkskirche und Bekenntniskirche“ entsprechen. Gleichwohl nimmt er hier zwei wichtige semantische Spezifizierungen vor. Auch wenn er nochmals herausstellt, dass es einen sich wechselseitig ausschließenden Widerspruch zwischen Volks- und Bekennerkirche gebe, so sei dies doch nicht mit einem Wesensgegensatz zwischen Volks- und Bekenntniskirche zu verwechseln.298 Außerdem macht er sich dafür stark, dass die Volkskirche nicht Kindertaufkirche sei, „sondern Nachwuchskirche: nicht erst durch die Taufe, sondern durch die Geburt werde man ihr Glied; denn nicht die Unterlassung der Taufe, sondern erst die bestimmte Austrittserklärung hebt die Gliedschaft an ihr auf.“299 Insgesamt hoffte Hilbert auf eine gut funktionierende Volksmission, durch die solche Kerngemeinden entstehen könnten.300 Abschließend muss noch auf die reformierten Stellungnahmen zur Volkskirche auf der einen Seite und der Bekenntnisfrage auf der anderen Seite eingegangen werden. Es fällt auf, dass aus reformierten Kreisen keine eigenen Initiativen bekannt sind, die explizit sich die Volkskirche als Modell der kirchlichen Neubildung zu eigen machen.301 Der emeritierte Barmer Pastor
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Vgl. Hilbert, Ecclesiola, 58. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., 64. Vertreter der Gemeinschaftsbewegung kritisierten, dass Hilbert versuche, „biblische Gemeindegrundsätze in das System der Volkskirche einzuordnen“ (M[çbius], Kerngemeinden, 309). 299 Hilbert, Ecclesiola, 88. 300 Zur Volksmission vgl. die Arbeit von B hmann, Stunde. Vgl. auch Behm, Belebung, der einen zeitgenössischen Überblick über verschiedene Ansätze gibt. 301 So auch das Urteil von Lessing, Bekenntnis, 139: „Das Problem der Volkskirche wird kaum aufgegriffen.“ Sowie der Hinweis ebd., 140: „Indem das Thema Volkskirche zurückgestellt wird, koppelt man sich freilich von der Diskussionslage in beträchtlichem Umfang ab.“ Sicher richtig ist auch der Hinweis Lessings, dass es den Reformierten vor allem darum ging, ihre kirchlichen Minderheitenrechte zu sichern (ebd., 139).
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Stokmann302 widmeten dem Aufruf der Münsteraner Professoren einen ausführlichen Beitrag, in dem er vom evangelisch-reformierten Standpunkt aus deren Vorschläge beurteilte. Die von diesen angestoßene öffentliche Besprechung der Thematik sei grundsätzlich zu begrüßen. Die Differenzierung zwischen unterschiedlich intensiv gebundenen Gruppen innerhalb der Volkskirche – mit diesem Punkt beginnt Stokmann – stelle aus reformierter Sicht keine Schwierigkeit dar, da man schon früher zwischen den Abendmahlsgenossen und den „bloß Getauften“ unterschieden habe.303 Er unterstreicht aber auch, dass der gegenwärtige Zustand der kirchlichen Lage unhaltbar sei und eine „neue Daseinsform“ für die Kirchen gefunden werden müsse.304 Die Umbildung der Landeskirchen zu „in ihrer Vereinzelung erlahmende[n] und zerbröckelnde[n] Freikirchen“305 wird von ihm abgelehnt. „Wollen aber unsere Landeskirchen sich auch unter den veränderten politischen Verhältnissen ihren segensreichen Einfluß auf das Volksganze erhalten, um möglichst viele Glieder unsres Volkes mit der Verkündigung ihrer Heilsbotschaft zu erreichen, so gibt es schwerlich einen anderen gangbaren Weg zu diesem Ziel als den, daß sich die Landeskirchen zu einer freien evangelischen Volkskirche zusammenschließen.“306
Diese Schlussfolgerung schränkt Stokmann dann aber sogleich mit Blick auf die Bekenntnisfrage erheblich ein. Insbesondere die Auslegung des Wortes „Herr“ in „Jesus ist Herr“ bereite Probleme, da unterschiedlichste Auslegungsmöglichkeiten existierten. Insgesamt würden einer Umwandlung nach Münsteraner Grundsätzen „auf evangelisch-reformirter Seite schwerlich unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen.“307 Da die bisherigen Bekenntnisse der einzelnen Kirchen erhalten bleiben sollen und lediglich auf die rechtliche Bindung an das Bekenntnis verzichtet werde, ist damit auch die Möglichkeit zum reformierten Gemeindeleben gesichert. Und gerade auf ein lebendiges, reformiertes Gemeindeleben im Rahmen der freien Volkskirche scheint es Stokmann anzukommen.308 Das Gegenüber von Volks- und Freikirche ist also nicht so dominant in diesem frühen Diskurszeitraum, wie man vielleicht erwartet hätte.309 Nur ganz vereinzelte Stimmen werden in den Monaten unmittelbar nach Kriegsende und Revolution, die Bildung von Freikirchen begrüßen; zu groß werden vielerorts die Möglichkeiten, weite Teile der Bevölkerung zu erreichen und zwar Vgl. das kurze Biogramm von Ulrichs, Calvin-Jubiläum. Stokmann, Aufruf, das Zitat auf 62. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 64. Vgl. auch M ller, Bekenntnisparagraph; Marsson, Bekenntnis, Union; Marsson, Bekenntnis, Kirche. 308 Vgl Stokmann, Aufruf, 63 f. Für einen Überblick vgl. auch Lang, Richtlinien. 309 Vgl. aber Herz, Volkskirche. Zu Herz vgl. Schmutzler, Lebensaufgabe.
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als Volkskirche und um Volkskirche zu bleiben, eingeschätzt. In semantischer Hinsicht explodierten die Bezugnahmen auf den Begriff zwischen November 1918 und März/April 1919, die sich allerdings vor allem auf die ephemere Idee und den Begriff der Volkskirche konzentrierten und erst zögerlich konkrete Konzeptionen hieraus zu entwickeln begannen. 2.5.2 Volkskirche als Motiv in den Auseinandersetzungen um die neuen kirchlichen Verfassungen Mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung am 11. August 1919 und damit der grundsätzlichen Klärungen des Verhältnisses von Kirche und Staat, die durchaus nicht zum Nachteil der Kirchen ausgefallen waren, begann sich die Aufmerksamkeit nun stärker auf die verfassungsmäßige Neuordnung und Konsolidierung der Landeskirchen zu richten.310 Während es bislang vor allem darum ging, die Entstehung der Volkskirchensemantik in den Revolutionsjahren 1918/19 zu rekonstruieren und die wesentlichen semantischen Konstellationen und ihre Funktionen herauszuarbeiten, wird in diesem Abschnitt der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die Volkskirche in den Jahren nach der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung bis etwa zur Mitte der 1920er Jahre im Zusammenhang mit der kirchlichen Verfassungsgebung gehabt hat. Die preußische verfassungsgebende Kirchenversammlung tagte erst 1921 und 1922. Die diskursiven Entwicklungen bis 1921 beeinflussten die Debatten auf der Kirchenversammlung jedoch erheblich.311 Es geht vor allem um die folgenden Fragen: Wie nun aber wurde der Volkskirchenbegriff zum Konzept gemacht? Gelang dies überhaupt? Und wenn ja, welche konkreten Ordnungsvorstellungen hat man mit ihm im Zusammenhang zur kirchlichen Verfassungsgebung verbunden? Martin Rade fragte 1920 in seiner „Christlichen Welt“, ob man eine Volkskirche haben werde. Ausgangspunkt für diese Fragestellung war die rechtliche Entwicklung in Preußen im Sommer 1920, in der die Regierung auf die Ausübung des landesherrlichen Kirchenregiments verzichtete. Für eine Volkskirche müssten nämlich die Bedingungen sowohl von Seiten des Volkes als auch von Seiten der Kirche erfüllt sein. Auf das Volk könne man dabei kaum zählen, da wichtige Schichten nicht mehr zu ihr gehörten, wie die sozialdemokratische Arbeiterschaft, die Volksschullehrer und die Gebildeten.312 Er diskutiert dann, ob denn von den Kirchenleitungen die Volkskirche wirklich gewollt sei. Dabei bezieht er sich zunächst auf die Frage nach den 310 Vgl. Link, Rechtsgeschichte, 172–179 sowie schon Ansch tz, 618–657. Für eine aktuelle Würdigung vgl. Gusy, Reichsverfassung. 311 Zum historischen Kontext vgl. Jacke, Kirche, 151–303; sowie zeitgenössisch Bredt, Kirchenrecht, Bd. 3 und von Schubert, Lage, 142–162. 312 Vgl. Rade, Volkskirche, 600 f.
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Urwahlen, die zu heftigen Kontroversen zwischen den kirchenpolitischen Parteien geführt hatte.313 Urwahlen durchzuführen hätte Rades Ansicht nach bedeutet, das Volk nach seiner Stellung zur Kirche zu befragen und damit womöglich „den Willen zur Volkskirche dokumentieren“314 zu können. Er beklagt aber, dass die gut organisierten konservativen Gruppierungen schnell die Wahlen für ihre eigenen kirchenpolitischen Zwecke instrumentalisiert hätten.315 Auch der Streitpunkt „Volkskirche“ oder „Bekenntniskirche“ werde für die Verhandlungen auf der verfassungsgebenden Synode Bedeutung behalten. Für die Liberalen sei es keine Frage: „die deutsche Volkskirche kann nicht im strengen konfessionellen Parteisinn eine Bekenntniskirche sein. Hier stehen unsere Orthodoxen vor einem Scheidewege. Wollen sie die neuen Kirchenverfassungen so anlegen und ausbilden, daß sie vor allem die theologischen, kirchenrechtlich und kirchengeschichtlich fundierten Lehrunterschiede zum konstitutiven Moment machen, so verzichten sie auf die Volkskirche.“316
Betrachtet man verschiedene Äußerungen Theodor Kaftans, so scheint diese Beobachtung Rades durchaus zutreffend zu sein, hatte Kaftan doch insistiert, dass es das Bekenntnis sei, „das jede einzelne empirische Kirche in ihrer Eigenart konstituiert.“317 In einer Fußnote kanzelt Kaftan die Vorschläge der Liberalen harsch ab: „Hoffentlich gelingt es nicht dem Treiben von D. Rade und Genossen, eine neue Staatsherrschaft – und was für eine! – in der evangelischen Kirche zu etablieren. Wissen diese Leute, was sie tun? Sie wollen die Volkskirche und tragen Sprengstoff in diese. Sie wissen sich als Protestanten und sind unbezahlbare Assistenten Roms.“318
Nichtsdestotrotz übernimmt die Vorstellung der Volkskirche auch in Kaftans Überlegungen zur wesensgemäßen Gestaltung der Kirchenverfassung eine wichtige Funktion. Er definiert Kirche und Gemeinde als „im wesentlichen identische Begriffe“, unter Kirche sei demnach die Gesamtgemeinde zu verstehen, wovon die Gemeinde als Einzelgemeinde zu unterscheiden sei. Die 313 Im Grunde ging es um die Frage, nach welchen Wahlmodalitäten die Mitglieder der verfassungsgebenden Kirchenversammlung zu wählen seien, vgl. Oxenius, Entstehung, 60–69; für Westfalen vgl. Bockermann, Kirche, 173–188. Gegen die Urwahlen votierten meist konservative lutherische Theologen wie z. B. Ihmels, Lage; für Urwahlen setzten sich vor allem liberale Theologen ein. 314 Rade, Volkskirche, 617. 315 Vgl. ebd., 617 f. 316 Ebd., 618. Rade betont aber gleichwohl, dass auch die Volkskirche auf ihrer Vergangenheit ruhe: „sie hat ihr gemeinsames Fundament in dem Ereignis der Reformation und ihren Kanon in der Bibel.“ (ebd.). 317 Kaftan, Kirche, 53. 318 Ebd., 51.
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Verfassung der Kirche sei aus der „Korrelativität von Genossenschaft und [Amt]“ zu entwickeln.319 Dies müsse „[s]elbstverständlich unter sorgfältiger Beachtung der Wirklichkeit, d. h. der Lage der Dinge, wie sie in einer Volkskirche, wie in jeder, die mehr oder weniger Massenkirche ist, naturgemäß vorliegt […]“320 geschehen. Er konzediert aber dennoch, dass die Volkskirche grundsätzlich weitherzig sein solle. Diese Weitherzigkeit dokumentiere sich darin, „daß sie alle in der Kirche bleiben läßt, die sich noch den Dienst der Kirche gefallen lassen; die auch das nicht mehr tun, hat sie freilich auszuschließen.“321 Mit Blick auf die Urwahlen sei aber sicherzustellen, dass nicht die Gleichgültigen oder Feindseligen in der Kirche bestimmen dürften. Andere Stimmen plädieren für einen Mittelweg „zwischen dem streng monarchisch-hierarchischen System der katholischen Kirche und dem politisch-demokratischen System eines Volksstaates […].“322 Dies sei der Weg, den man für eine moderne evangelische Kirchenverfassung bestreiten müsse. „Wir glauben an eine religiös-sittliche und nationale Wiedergeburt unseres deutschen Volkes und Reiches nach seinem äußeren und inneren Zusammenbruch. Ein wesentlicher Anteil an dem inneren Gesundungsprozeß wird der evangelischen Kirche zufallen, der staatsfreien deutsch-evangelischen Volkskirche.“323 Diese Ausführungen Kochs, der zu dieser Zeit Konsistorialrat der westfälischen Provinzialkirche war und als Privatdozent an der Universität Münster lehrte, zeigen zum einen, dass man glaubte, dass eine vitale Volkskirche ihren Beitrag zum Wiedererstarken Deutschlands werde leisten können und somit ihrer richtigen Verfassung eine hohe Bedeutung zugemessen werde müsse. Zum anderen hält er es für notwendig, dass die neue Kirchenverfassung „in wachsendem Maße Teilnahmerechte“324 gewähren müsse. Das palingenetische Element im Volkskirchenbegriff, wie es sich hier im Motiv der Wiedergeburt des Volkes durch das Wirken der Kirche artikuliert, war also keinesfalls ein Phänomen, welches nur in der Zeit des Nationalsozialismus begegnet. Eine andere Variation findet sich im „Protestantenblatt“. Dort heißt es, dass der Weg zur Volkskirche „durch die Pastorenkirche“ gehen müsse.325 Mit der Pastorenkirche ist ein Begriff genannt, der häufig als Gegenüber zur Volkskirche fungierte.326 Damit verband man oftmals die Forderung nach einer 319 Ebd., 54. Im Original steht anstatt Amt, „Kirche“, jedoch wird auf Spalte 74 von der Schriftleitung darauf verwiesen, dass es sich hierbei um einen Druckfehler handelt. 320 Ebd. 321 Ebd., 55. 322 Koch, Grundlagen, 47; Koch, Weg. 323 Koch, Grundlagen, 47. 324 Koch, Volkskirche, 183. Vgl. aber insbesondere auch Mahling, Wille. 325 Vgl. Paarmann, Weg. 326 Vgl. zum einen die Arbeit von Dahm, Pastorenkirche sowie Braun, Recht; Czygan, Pastorenkirche; Heine, Pastorenkirche und vor allem Krueger, Volkskirche, besonders 251: „Die Spalten der protestantisch-kirchlichen Presse sind erfüllt von der Parole ,Volkskirche‘. Man will mit ihr zum Ausdruck bringen, daß bei der bevorstehenden Neuordnung der kirchlichen
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Ausweitung der kirchlichen Laienrechte und der Umsetzung eines Priestertums aller Gläubigen. Paarmann behauptet deswegen „Demokratisierung und Laisierung der Kirche sind unentbehrlich, wenn wir es zu einer Volkskirche bringen sollen, die in ihrem Gesamtkörper wie in dessen Zellen, den Gemeinden, als lebendig zu bezeichnen ist.“327 Wie schon diese Positionen zeigen, standen sich hier zum Teil diametral unterschiedliche Überzeugungen gegenüber, die sich aber alle positiv auf die Volkskirche bezogen. Auf die einzelnen Kontroversen und Debatten der Verfassungsgebung in Preußen soll hier nicht eingegangen werden. Auffällig ist jedoch, dass kaum eine der Schriften, die sich mit der Verfassung beschäftigte, den Volkskirchenbegriff unberücksichtigt ließ. Der Greifswalder Theologieprofessor Eduard Freiherr von der Goltz328 ist hierfür ein besonders prägnantes Beispiel. In Art. 109 der Verfassungsurkunde der evangelischen Kirche der altpreußischen Union heißt es „1. Die Generalsynode ist berufen, dem äußeren und inneren Aufbau der Kirche und ihrer Erhaltung und Ausgestaltung als Volkskirche auf dem Grunde des evangelischen Bekenntnisses zu dienen.“329 Von der Goltz führt aus, dass der Charakter der Kirche folglich auf den einer Volkskirche festgelegt sei, „d. h. einer Kirche, die dem Volksganzen dienen will, zu der alle getauften evangelischen Christen gehören, die sich nicht ausdrücklich für eine andere Religions- oder Kirchengemeinschaft entscheiden.“330 Er empfiehlt, nun nicht weiter über Formeln und Worte zu streiten.331 Es genüge vielmehr, dass der Charakter der Kirche als Volkskirche „im Gegensatz zu einer ,Freiwilligkeitskirche‘“ einschließlich der Gründung im Evangelium festgelegt worden sei. Dies lässt wohl darauf schließen, dass von der Goltz dem Begriff eine hohe Integrationskraft unter gleichzeitiger angemessener Abgrenzung zum nicht gewünschten Ordnungskonzept beimisst. Ähnlich urteilt der Bericht des „Kirchlichen Jahrbuchs“ über die neuen Kirchenverfassungen. Der volkskirchliche Gedanke habe zu den vorherrschenden Motiven gehört, durch den diese bestimmt worden seien. Dieser ziele darauf hin „innerhalb des Bereichs der Kirche möglichst das ganze Volk mit den Kräften des Evangeliums zu durchdringen und zu einer Einheit zusammenzufassen; zu einer Einheit, in der die einzelnen Glieder der Kirche nicht nur Objekt, sondern auch
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Verhältnisse mit der alten Pastoren- und Professorenkirche endgültig aufgeräumt werden und an ihre Stelle eine kirchliche Institution treten soll, die sich, wie die übliche Floskel lautet, ,auf breitester Grundlage‘ aufbaut […].“ Paarmann, Weg, 35. Vgl. Ohlemacher, Goltz. Verfassungsurkunde, 105 [Im Original gesperrt, BB]. Vgl. außerdem Bunke, Kirchenverfassung und Fischer, Parlamentarismus. Verfassungsurkunde, 105. Dabei bezieht er sich auf den vorausgegangenen „Präambelstreit“, vgl. hierzu Jacke, Kirche, 286–298. Vgl. ebd.
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Volkskirche in der langen Krise der Weimarer Republik zugleich Subjekt kirchlichen Handelns werden, in der die Gläubigen selbst an der Arbeit, Verwaltung und Leitung der Kirche tätigen Anteil nehmen.“332
Demnach finde dieser Gedanke seinen stärksten Ausdruck in der hervorgehobenen Stellung der obersten Synoden, die mit einer ganzen Reihe von neuen Aufgaben und Rechten ausgestattet worden seien. Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch gewesen, durch die neuen Verfassungen die Kirchen als Träger der Kirchengewalt zu bezeichnen, um deutlich zu machen, dass der Staat nicht mehr diese Funktion innehabe. Noch eine weitere Schrift muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, da sie die Implikationen der neuen Verfassung kritisch verarbeitet und dabei auf die Bedeutung der Volkskirchenidee abhebt. Hans von Soden, zu dieser Zeit Professor für Kirchengeschichte in Breslau, befürchtete nämlich, dass das Ergebnis der Verfassungsgebung das Ende der preußischen Volkskirche bedeuten würde. Als ursächlich hierfür sei zunächst das „orthodox-pastorale Gepräge“ des Verfassungsausschusses auszumachen.333 Dieses sorge dafür, dass das versagt bleibe, „was wir von Herzen wünschen und aus höchster Not brauchen: eine evangelisch-volkskirchliche Verfassung!“334 Es gehe aktuell nicht um eine Neuschöpfung, sondern vielmehr um die Reorganisation des überkommenen Kirchenwesens. Dessen Bestand lasse sich mit einem Wort als „Volkskirche“ bezeichnen.335 Er definiert sie zunächst recht konventionell als die Kirche, in die der evangelische Teil des Volkes hineingeboren werde und in der er verbleibe, wenn er nicht durch Austritt sich aus ihr herausbegebe. Trotz dieser Austritte habe die Kirche ihren volkskirchlichen Charakter bislang noch nicht verloren. Die Staatskirche hingegen sieht von Soden durch die Abdankung der Hohenzollern abgeurteilt, die noch offene Frage bestehe vielmehr darin, ob mit ihr auch die Volkskirche falle. Und weiter: „Fällt sie von selbst, oder wollen wir sie fallen lassen?“336 In einem weiteren Schritt fragt er danach, ob die Volkskirche womöglich „der evangelische Kirchengedanke“337 sei und demzufolge aus dem Evangelium entwickelt werden könne. Er rekurriert dabei letztlich auf Luthers Kirchenbegriff, welchen er bestimmt als „die Volkskirche, wie sie sich in der Gemeinde als örtlicher Gemeinschaft zu Gottesdienst, Seelsorge, Liebestätigkeit zusammenschließt, das Amt oder die Ämter aus ihrer Mitte setzt und nach dem Grundsatz vom allgemeinen Priestertum danach strebt, das Ideal religiöser Gemeinschaft zu verfolgen, daß jeder 332 Karnatz, Neuordnung, 7. Der Autor war zu diesem Zeitpunkt Geheimer und Oberkonsistorialrat. 333 von Soden, Ende, 6. Teile der Schrift wurden unter demselben Titel abgedruckt in: PrBl 55 (1922), 68 f; vgl. auch Schubring, Kampf. Hans von Soden gehörte politisch der DVP an. 334 von Soden, Ende, 6. Der Satz nach dem Doppelpunkt ist im Original fett gedruckt. 335 Von Soden ergänzt ebd., 6: „Er ist es leider nicht im Sinn der Nationalkirche; wir sind eine kirchlich gespaltene Nation.“ 336 Ebd., 9 [Im Original gesperrt, BB]. 337 Ebd. [Fettsetzung und gesperrt im Original, BB].
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Christ dem anderen zum Christus werde; es ist die Volkskirche, wie sie sich in gläubiger Zuversicht und demütiger Bescheidung zum Gefäß der Kirche Christi macht, wissend, daß nicht der Becher, sondern der Trank den Durst stillt, daß aber ohne Becher der Trank verschüttet wird.“338
Die Vorstellung, dass Luthers Kirchenbegriff die Volkskirche meine, war besonders prominent von Karl Holl vertreten worden.339 Mit dieser kraftvollen Referenz kann von Soden schließlich sagen, dass, wer „die Kirche des Evangeliums will“, die Volkskirche wolle.340 Der volkskirchliche Charakter sei durch die neue Verfassung auch dahingehend gefährdet, als dass man den Gemeinden darin nicht die gebührende Stellung zugewiesen habe. Dies wiege umso schwerer, da es auf der Hand liege, dass der Umbau der kirchlichen Organisationen nur auf synodaler Grundlage erfolgen könne. Auch lägen die Bedingungen für eine staatsfreie, synodale Kirche völlig anders als für eine Staatskirche, da ihr Organismus nicht vom Staat erhalten werde.341 Der Abbau der staatskirchlichen Elemente mache eine Stärkung der Gemeinden unabdingbar. Damit eng verbunden sieht er die Fragen nach dem kirchlichen Wahlrecht, dem ein weiterer Abschnitt gewidmet ist. Wenig überraschend stimmt von Soden für die Urwahlen und eine Ausweitung des Wahlrechts.342 Das evangelische Kirchenvolk stehe nun vor der Wahl zwischen Paulus, der das Christentum zu einer Weltreligion gemacht habe und „seinen judenchristlichen Gegnern, die es zu einer jüdischen Sekte werden zu lassen im Begriff waren.“343 Nur der volkskirchliche Charakter der Landeskirchen sei legitim, alles andere hingegen „stehengebliebener oder wieder eingedrungener Katholizismus.“344 Daraus folgert er, dass rechtmäßig vor allem der Abbau der katholischen Reste und ein Ausbau der evangelischen Volkskirche seien: „Die Kirchenversammlung hat den Auftrag, die Volkskirche zu verfassen; sie hat schlechterdings kein Recht, sie zu liquidieren. […] Du willst nicht das Ende der evangelischen Volkskirche? So rühre dich und fordere deine Kirche, evangelisches Volk!“345 338 Ebd., 11. 339 Vgl. Holl, Entstehung sowie Holl, Luther. Ähnlich auch R ckert, Verfassung, 4 f. 340 Von Soden, Ende, 11. Dies ist eine ganz andere Aussage als jene, dass derjenige, der sein Volk lieb habe, die Volkskirche wollen müsse. 341 Ebd., 31. In diesem Zusammenhang sind auch die Forderungen nach intensiverer Zusammenarbeit zwischen „Geistlichen und Laien“ zu sehen, vgl. Koch, Volkskirche. Der Titel bezieht sich auf Pfennigsdorf, Volkskirche. 342 Vgl. insbesondere von Soden, Ende, 35: „Als die allein tragfähige Basis für den synodalen Aufbau der Volkskirche erscheinen Urwahlen, also Wahl aller Synoden oder doch mindestens der mit souveräner Gewalt ausgestatteten obersten Synode, der Generalsynode, durch die wahlberechtigten Mitglieder der Kirche und aus ihnen. Dadurch würde eine unmittelbare Verbindung zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk und damit der Einfluß dieses auf jene wie die Volkstümlichkeit jener bei diesen gesichert sein.“ 343 Ebd., 40. 344 Ebd. 345 Ebd. [Im Original gesperrt, BB].
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Deutliche Kritik erfolgt auch von Otto Schmitz. Dieser hatte sich 1921 in einer Artikelserie für den vorbildlichen Charakter der Urgemeinde eingesetzt.346 Schmitz berichtet in der Zeitschrift „Die Furche“ über die Verhandlungen der verfassungsgebenden Kirchenversammlung, in dem er sich durchaus kritisch zu sämtlichen Organisationsformen der Kirche äußert: „Damit wir aber zu echtem kirchlichen Handeln kommen, müssen alle unsere Kirchenideale in den Tod, mit Christus gekreuzigt werden, nicht nur das Ideal der ,Volkskirche‘, die allzu leicht Kulturkirche wird, sondern auch das Ideal der ,Bekenntniskirche‘, die allzu leicht eine Gesetzeskirche wird.“347 Man kommt nicht umhin, die Resignation abzulesen, mit der über die Volks- und Bekenntniskirche an dieser Stelle gesprochen wird. Die hitzigen Debatten über diese beiden Konzepte hatten wohl auch bei Schmitz ihre Spuren hinterlassen. In die Ablehnung einer solchen „Kulturkirche“ sollten bald auch Vertreter der im Entstehen begriffenen dialektischen Theologie einstimmen. In die Reihe der Kritiker reihten sich auch mehrere reformierte Theologen und Publizisten ein, allen voran der angesehene Jurist Johann Victor Bredt.348 In einem Verfassungsentwurf des Preußischen Oberkirchenrates sieht er die Vorstellung einer Volkskirche nur ungenügend umgesetzt, bestehe doch hier das ganze Wesen der Volkskirche darin, dass das „bisherige Kirchenregiment des Königs nunmehr zu einem Kirchenregimente aus eigener Kraft umgewandelt“349 werde. Insgesamt war der Volkskirchenbegriff nach 1919 bei den Reformierten sehr viel weniger in der Diskussion, als bei Lutheranern und Unierten; jedoch stritt man heftig darüber, ob die neue Landeskirche eine bischöfliche Spitze haben sollte, oder nicht. Auch die anderen Landeskirchen gaben sich in den 1920er Jahren neue Verfassungen und in unterschiedlicher Heftigkeit war auch der Begriff der Volkskirche in diesen Zusammenhängen von Bedeutung. Besonders in der Thüringer Evangelischen Kirche, die aus der Fusion von sieben Landeskirchen350 entstand, wurden zahlreiche Elemente volkskirchlicher Kirchenvorstellung in die Verfassung implementiert.351 So setzte sich das Synodalprinzip in vielen Landeskirchen endgültig durch, einhergehend mit Bemühungen, die Relevanz und Mitsprachemöglichkeiten der „Laien“ in den einzelnen Kirchen zu stärken.352 346 347 348 349
Vgl. Schmitz, Vorbildlichkeit. Schmitz, Entgegnung, 40; Schmitz, Kirchenversammlung. Zu Bredt vgl. Milatz, Bredt sowie Schumacher, Erinnerungen. Bredt, Entwurf, 198. Dort auch weiter: „Die verfassungsgebende Versammlung soll dieses Kirchenregiment auf Lebenszeit einsetzen, und damit hat sie dann die ,Volkskirche‘ geschaffen (ebd., im Original gesperrt, BB). Zu Bredt vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in Hein, Foerster. 350 Vgl. Koch, Kirche. 351 Vgl. auch Neuberg, Neubau. 352 So etwa die Stoßrichtung bei Bredt, Frage; Bredt, Kirchenordnung sowie auch in dessen „Neuen Preußischen Kirchenrecht“. Vgl. ferner Bredt, Bedeutung. Auch Walther Wolff, Präses der rheinischen Provinzialsynode, unterstrich die Bedeutung des „Schlagwortes“ Volkskirche
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2.5.3 Zwischen „ecclesia triumphans“ und der Dämonie der Kirche Nachdem sich die evangelischen Landeskirchen Verfassungen und Kirchenordnungen gegeben hatten, begann auch für sie eine Zeit relativer Stabilität. Die Kirchen waren zwar, wie die Weimarer Reichsverfassung deutlich machte, keine Staatskirchen mehr, sondern regelten ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich. Zugleich waren sie aber noch immer Körperschaften des öffentlichen Rechts und daher in verschiedener Hinsicht rechtlich privilegiert, weshalb man bekanntlich eher von einer „hinkenden“ Trennung von Kirche und Staat sprechen kann.353 Da man sich institutionell mit den neuen Rahmenbedingungen nolens volens eingerichtet hatte, stritt man innerkirchlich zum Teil heftig darüber, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden sollten. Die Debatten in der Zeit zwischen der Verabschiedung der kirchlichen Verfassungen und der Machtübernahme der Nationalsozialisten zeigen das Bild einer großen binnenprotestantischen Zerrissenheit darüber, wie das Wesen der (Volks)Kirche zu bestimmen sei. Grosso modo lassen sich zwei unterschiedliche Einstellungen hinsichtlich der Positionierung zur Volkskirche ausmachen. Auf der einen Seite sah man das „Jahrhundert der Kirche“ anbrechen. Losgelöst von allzu engen staatlichen Bindungen, aber noch immer in privilegierter und verheißungsvoller Position, um weite Kreise der Bevölkerung zu erreichen, gab es eine Strömung im deutschen Protestantismus, die diese neue Lage begrüßte und für kirchliche Zwecke nutzen wollte. Von ihren Gegnern wurde dies als „Triumphalismus“ bezeichnet. Diese warnten auf der anderen Seite vor der „Dämonie“ der Kirche, also dem allzu großen Vertrauen in die „sichtbare Kirche“. Auch wenn in diesen Auseinandersetzungen nicht ständig expressiv verbis von der Volkskirche gesprochen wird – vor allem Barth benutzt den Begriff zu dieser Zeit kaum – so geht es in der nachfolgend dargestellten Debatte doch ganz deutlich um sie sowie den mit ihr verbundenen Implikationen. Beide Positionen lassen sich anhand zweier doch recht unterschiedlich verlaufender Lebensläufe auf einen gewissen Nenner bringen. Für die zuerst genannte Position steht Otto Dibelius, der seit 1925 Generalsuperintendent der Kurmark war und mit seinem in sechs Auflagen verlegten Buch „Das Jahrhundert der Kirche“ für die Wahrnehmung des seiner Ansicht nach großen Wirkungspotenzials der Kirche plädierte. Karl Barth und mit ihm weitere Vertreter der Dialektischen Theologie legten theologisch andere Schwerpunkte und warnten vor dem, was sie „kirchlichen Triumphalismus“ in seiner Diskussion der Entwürfe einer preußischen Kirchenverfassung, vgl. Wolff, Vergleich, 10–12. 353 Vgl. Stutz, Diplomatie, 54. Diese Beschreibung ist im Übrigen bis heute zutreffend, da das Grundgesetz die entsprechenden Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat, vgl. Grossbçlting, Himmel, 50–55; Zippelius, Staat, 164–170.
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nannten.354 Auch wenn diese Auseinandersetzung im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht, soll doch soweit wie möglich auch die sie umgebende Debattenlage im deutschen Protestantismus der späten Weimarer Jahre dargestellt werden. Wie im Kapitel 2.1 bereits angedeutet, entwickelte sich in den öffentlichen Selbstverständigungsdebatten der deutschen Protestanten ein ausgeprägtes Bewusstsein für den krisenhaften Charakter ihrer Zeit. Nur vor diesem Hintergrund, der wohl unlöslich mit den Implikationen der Niederlage im Ersten Weltkrieg verbunden ist, kann die Debatte zwischen Karl Barth und Otto Dibelius verstanden werden. Der Krisendiskurs war in der Zwischenkriegszeit jedenfalls geradezu omnipräsent. So haben Moritz Föllmer, Rüdiger Graf und Per Leo vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass das Krisenbewusstsein „sich zu einem Komplex von Assoziationen, Stereotypen und Erwartungen [verdichtete], der die Wahrnehmung der Realität bestimmte und dadurch immer wieder bekräftigt wurde.“355 Der Krisenbegriff ist ein „Dauerbrenner“ der Weimar-Forschung und wurde bereits auf vielfältige Art und Weise nutzbar gemacht, bzw. problematisiert.356 Allerdings sollte man, auch dies legen Föllmer, Graf und Leo überzeugend dar, den Begriff nicht allein im Sinne einer Verfallsdiagnose verwenden. Vielmehr vereine der Begriff der Krise „diagnostische und prognostische Elemente“.357 Das produktive Moment und der „Möglichkeitsraum“358 der Zwischenkriegszeit lassen sich auch mit Blick auf den Protestantismus nachweisen.359 Die religiöse Lage der Gegenwart zeige sich dergestalt, dass man aus einer gottlosen Zeit komme und in einer gottlosen Welt stehe. Heinz-Dietrich Wendland, von dem diese Diagnose stammt, sieht in dieser Gottlosigkeit die „Sinnentleerung des menschlichen Lebens- und Kulturganzen“360 sich vollziehen. Sie sei „nichts Ruhendes, Statisches, sondern eine ruhelose Bewegung, die von Ort zu Ort, von Lage zu Lage rastlos und unbefriedigt forteilt.“361 Die
354 Vgl. etwa die aus Württemberg stammende Darstellung des Konflikts von Daur, Theologie, der von einem „schroffen Gegensatz“ zwischen den beiden Positionen spricht (ebd., 75). 355 Fçllmer / Graf / Leo, Einleitung, 9. 356 Vgl. den Literaturüberblick von Saunders, Weimar; ferner Koselleck, Fragen; Graf, EitherOr; Graf, Krise; Hardtwig, Krise. 357 Fçllmer / Graf / Leo, Einleitung, 13 f. 358 Ebd., 14. 359 Für eine anderes Beispiel vgl. Brunner, Stotterer, sowie für das liberale Spektrum Meier, Krisenbewältigung. 360 Wendland, Lage, 1927, 2. Dass Wendland mehrmals auf Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ Bezug nimmt, ist sicherlich kein Zufall, vgl. Schneider, Untergang; Weir, Front. 361 Wendland, Lage, 1927, 2. Genau aus dieser Ruhelosigkeit sieht Wendland die neuen Sekten, Propheten und Kulte entstehen. Das Interesse hierfür stammt wohl aus seiner Tätigkeit bei der Apologetischen Centrale, in deren Publikationsorgan „Wort und Tat“ er mitarbeitete. Zur Centrale vgl. Pçhlmann, Kampf; Pçhlmann, Spiegelbild.
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Ursache für diese Prozesse sei wie zu allen Zeiten in der „Krisis der Kultur“362 zu finden. Mit Nietzsche sei die Krisis des Unglaubens ausgebrochen, die wiederum eine Wende in der Krisis der Kultur darstelle.363 Macht, Tiefe und Unergründlichkeit des Lebens würde die Menschen wieder überwältigen, allerdings in Form des Irrationalismus, der die Menschen zum Spiritismus und Okkultismus führe. Das religiöse Gefühl sei wieder lebendig geworden, auch wenn es noch keine neue Heimat gefunden habe. Diese Heimatlosigkeit, so Wendland weiter, habe zu zwei falschen Synthesen geführt; auf der einen Seite die Gegenwartsynthese der Mystik, etwa in Form der Theosophie und Anthroposophie, auf der anderen Seite die Zukunftssynthese der Eschatologie, womit aber die immanenten Eschatologien des Sozialismus und Kommunismus gemeint sind.364 Die Kritik an den zeitgenössischen religiösen Strömungen sei „am schärfsten, eindringlichsten und wuchtigsten in der sogenannten ,dialektischen‘ Theologie […] oder der Theologie der Krisis“365 dargestellt. Diese sei als Antwort auf die Verfälschungen der Religion innerhalb und außerhalb des Christentums zu verstehen, indem sie den falschen Synthesen die absolute Diastase gegenüberstelle.366 Die religiöse Lage der Gegenwart unter dem Eindruck der dialektischen Theologie dränge zur Entscheidung, denn „die Theologie der Krisis ist der notwendige Ausdruck für die Krisis der Religion in der Gegenwart.“367 Hinsichtlich „der Entzweiung des Geisteslebens“ in eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen unterstrich man auf der Ebene der Kirchenleitungen vor allem die Idee der Sammlung.368 Kultur, so Heinrich Behm, der Landesbischof von Mecklenburg-Schwerin, „bedeutet die Erfüllung des uralten Gebotes an die Menschheit, sich die Erde untertan zu machen und die Geschöpfe
362 Wendland, Lage, 3: „Diese entsteht immer dann, wenn einer Kultur der absolute Sinngehalt verloren geht, der alle Teile zu einem Lebensganzen umschließt – anders gesagt: wenn die Kultur nicht mehr Schöpfung ist, wenn sie aus der Schöpfungsbeziehung herausgefallen ist dadurch, daß der Nach- und Mitschöpfer Mensch sich zum selbstherrlichen Alleinschöpfer befreit hat.“ 363 Vgl. ebd., 4: „Eine andere Wendung ist die gegen die Mechanisierung und Rationalisierung des Lebens, die immer mit der Herrschaft des Materialismus verbunden sind. Dagegen erhebt sich die Bewegung, deren Kennwort das ,Leben‘ ist, nicht nur als Lebensphilosophie (Bergson, Simmel), sondern auch in der Literatur und Kunst. Die mächtigste Wirkung hat Nietzsche, dieser glühende Prophet des Lebens, gehabt. […] In seiner Gestalt zerbricht symbolisch die ganze Dekadenz moderner ,Wissenschaft‘ und ,Ethik‘; er ist rasend vor Sehnsucht nach einer neuen Gestalt des Lebens; aber er kann nicht selbst ihr Schöpfer sein. Noch liegt der Atheismus über der heimlich verborgenen Gläubigkeit. Immerhin: eine Bresche ist gebrochen, die Fülle neuen Lebenswillen flutet hindurch.“ 364 Vgl. ebd., 6. 365 Ebd., 7 [Kursive Stellen sind im Original gesperrt, BB]. 366 Vgl. Fischer, Theologie, 15–38, vor allem 26 f und 36. 367 Wendland, Lage, 7. 368 Behm, Kulturkrisis, 1207. Behms Nachfolger im Amt des Landesbischofs äußerte sich ebenfalls in diesem Zusammenhang, vgl. Rendtorff, Kirche, 1930.
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zu beherrschen.“369 Sie liege also auf dem „Gebiete der Beziehung des Menschen zur Welt“370, wobei sie sich im Einzelnen mit der Auswertung und Ausschöpfung der in der Welt angelegten Kräfte und Güter zu beschäftigen hat. Die Krisis wiederum stehe für „Scheidung, Spaltung, Zerfall“ und zwar in der Hinsicht, als dass die Menschen sich im Prozess der Ausschöpfung und Auswertung auseinandergelebt hätten. So bestünde weder „eine Harmonie in der Pflege der geistigen Anlagen der einzelnen noch ein Band gemeinsamer Ideale“, so dass nunmehr ein allgemeiner Zusammenbruch drohe. In der Kulturkrisis seien die „Folgen des Kampfes dreier Geistesmächte des 19. Jahrhunderts“, nämlich des Materialismus, des Idealismus und der Kirche zu beobachten.371 Besonders der Materialismus habe die Auswüchse der kulturellen Krise seiner Ansicht nach zu verantworten, habe dieser doch „Klassenegoismus und Klassenkampf“ zur Signatur des Volkslebens gemacht.372 Und dies mit verheerenden Folgen, die antisemitische Invektiven einschließen: „Nicht bloß die Volksgemeinschaft wird dadurch gesprengt, sondern auch die wurzelhaften Volksempfindungen von Heimat- und Nationalgefühl werden bedroht. […] Die internationale Klasse geht über alles. Dabei war es nicht zufällig, daß die geistigen Väter der Sozialdemokratie, Lasalle und Marx, Juden waren. Der Wille zur Klasse wird mächtiger als der Wille zum Volksbestand.“373
Auch auf die öffentliche Sittlichkeit und den Familiensinn des Volkes habe sich der Materialismus negativ ausgewirkt.374 Auf die Frage, warum die Kirche in den Kampf der Geister schließlich selbst hineingezogen worden sei, antwortet Behm, dass hierfür die enge Bindung an den Staat ursächlich gewesen sei. Allerdings dürfe man nicht verkennen, wie er zuvor unterstreicht, „daß Christentum und Kirche im 19. Jahrhundert Großes im Volksleben gewirkt haben. Daß wir heute noch eine Volkskirche haben als volkserhaltende Macht, als Macht eines gewissen geistigen Bandes unter allen Spannungen, danken wir der kirchlichen Restauration des vorherigen Jahrhunderts.“375 Es sei zwar nicht unbegründet, vom „Untergang des Abendlandes“ zu sprechen, entscheidender scheint aber für ihn die Frage zu sein, ob es Grund 369 370 371 372 373 374
Behm, Kulturkrisis, 1207. Ebd. Zitate ebd., 1208. Ebd., 1209. Ebd. Ebd.: „Die Grundlage des Volkslebens ist die Familie. Die Quelle der Volkskraft sind kinderreiche Familien. Diese waren ein Segen und ein Ruhm Deutschlands. Unter der Vorherrschaft der materiellen Interessen litt der Familiensinn; Kinderreichtum beschränkt den Lebensgenuß. […] Andererseits erstreckte sich der Sinnengenuß mit besonderer Stärke auf das Gebiet des geschlechtlichen Lebens. Literatur, Theater, Kino werden Mittel, um die Lüsternheit zu erregen, und die Schamlosigkeit wagt sich in die breiteste Öffentlichkeit. Bis in die Dörfer hinein zehren die sexuellen Laster und Krankheiten am Mark der Volkskraft.“ 375 Ebd., 1235.
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zur Hoffnung gebe, dass diese Krise überwunden werden kann. Im Wort Krisis stecke auch die Bedeutung Gericht, bzw. Gottesgericht. In diesem sieht Behm die Chance auf Besserung, da die Krise die Menschen vor eine „große sittliche Entscheidung“376 stelle, in der man lernen müsse, dass der Mensch sich nicht um sich selbst zu drehen habe, sondern mit seinem ganzen Sein auf Gott ausgerichtet sein muss.377 Der Kulturwille der Christenheit dränge zur Kultureinheit. Kirche und Staat, ebenso wie Kirche und Schule, müssten zu „äußerlich unabhängige[m], innerlich gebundene[m] Zusammenwirken“ zusammenfinden und eine solche Beziehung müsse um der Zukunft willen gepflegt werden. Die Gemeinde habe durch „christliche Persönlichkeitskräfte ihrer Glieder das Gewissen des kulturellen Lebens darzustellen.“378 All dies transportiert im Grunde volkskirchliches Gedankengut: die Christen haben gesellschaftlich Einfluss zu nehmen und auf eine christliche Ordnung hinzuwirken, mithin als Wächter des kulturell Adäquaten zu fungieren. Behm instrumentalisiert die Rede von der Kulturkrise also zu einem Plädoyer für eine Rechristianisierung von Kultur und Gesellschaft. Gerhard Hilbert war es, der im Zeichen der Kultur- und Kirchenkrise zu einer inneren Stärkung der Kirche aufgerufen hat. Die äußerliche Festigung, die er als ein Ergebnis der Trennung von Kirche und Staat festhält, genüge nicht.379 Die Bahn zur selbstständigen Entwicklung der Kirche sei nun frei, sie könne endlich wieder ihre Rolle als „Stimme des Gewissens für das Volk“380 übernehmen. Da in der Volkskirche das geistliche Amt immer von entscheidender Bedeutung sei, gelte es die Seelsorge an den Seelsorgern zu stärken. Hierfür sei die Bildung von „Kerngemeinden“ erforderlich, in denen sich angeführt von ihren Geistlichen jene sammeln, die mit Ernst Christen sein wollen, um durch Bibelkurse und -lektüre sowie durch Freizeiten „weitere Vertiefung und Stärkung des inneren Lebens“381 zu suchen. Die Lage der Kirche fordere also „von allen lebendigen Christen dringender, unbedingter denn je, bewußte und entschlossene Kirchlichkeit.“382 Sowohl im Inneren müssten sie für eine Belebung aller Glieder der Kirche sorgen und zugleich den Kampf gegen die äußeren Feinde der Kirche führen. Die deutsche Christenheit sei reif für echte Kirchlichkeit und diese, so kann man wohl schlussfolgern, ein
376 Ebd., 1236. 377 Vgl. auch Christophersen, Kairos für weitere instruktive Beispiele der protestantische Zeitdeutung. 378 Behm, Kulturkrisis, 1239 [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 379 Hilbert, Lage, vor allem 674: „Die Kirche hat den Kampf ums Dasein siegreich überdauert; sie hat die Freiheit sich erstritten vom Staat und zum ersten Male im Laufe unserer Geschichte sich eine Verfassung selbstständig gegeben; der innere Ausbau ist vollzogen und der Zusammenschluß der deutschen Landeskirchen im allgemeinen Kirchenbund Wahrheit geworden.“ 380 Ebd. 381 Ebd., 675. 382 Ebd.
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notwendiges Element für siegreiches Christentum inmitten der Kulturkrise Weimars. Es scheint in den Diskursen dieses Zeitabschnitts eine enge Verbindung zwischen der Wahrnehmung einer kulturellen Krise und einer Krise der Kirche bzw. der Gemeinde gegeben zu haben.383 Der schwedische Lutheraner Manfred Björkquist, der 1942 zum Bischof von Stockholm gewählt werden sollte, setzte in einem Aufsatz in der „Zeitschrift für systematische Theologie“ Volkskirche und Kulturkrise in einen expliziten Zusammenhang. Hinsichtlich der Letzteren hebt er vor allem den Relativismus als einen grundlegenden Aspekt hervor, der die bisherige kulturelle Einheit auflöse. Die Einheit der Geschichte zerbreche ebenso wie die der „Weltarbeit“, mit fatalen Folgen für das Persönlichkeitsleben der Christen, welches durch die „Wertanarchie“ gefährdet sei.384 Der Volkskirche dürfe diese Krisenphänomene nicht einfach ignorieren. Der „Volksgeist“ sei nicht zufällig da, „sondern infolge der Schöpfungsordnung Gottes.“385 Wenn die Kirche nicht die Welt erobere, werde die Welt die Kirche erobern und damit beide ins Verderben stürzen. Björkquist hat hohe Anforderungen an die Volkskirche in der Kulturkrise, so müsse sie zum Beispiel eine „immer tiefere Gemeinschaft der Innerlichkeit bauen“386 und „im Meere des Relativismus einen wachsenden Zusammenhang geistigen Schaffens und Lebens bilden.“387 Und „je weiter der Zersetzungsprozeß ringsum fortgeht, desto mehr wird die Lebensund Kultursynthese der Kirche sichtbar werden. Sie wird ein Halt für die, welche einen Halt begehren – eine Hinweisung auf den ewigen Felsen. Die Schöpfung einer solchen Kultursynthese liegt als Glaubensvoraussetzung für die echte Volkskirche vor. Sie ist ja von einem Gesichtspunkte aus betrachtet das Volk selbst, insofern es sich zur Klarheit über seinen Gottesgedanken und seine Berufung in Gottes Geschichte hindurchringt.“388
In seiner Ineinssetzung von Volkskirche und Volk treibt Björkquist sicherlich einige in diesen Begriffen angelegte Motive auf die Spitze. Er ist ein vehementer Verfechter der Volkskirche gerade in der vermeintlich zersetzenden Kulturkrise, da nur sie Einheit schenken kann, wo alles andere auseinanderzubrechen scheint.389 Es gab aber natürlich auch Positionen, die die Kirche selbst in der Krise 383 Vgl. Eger, Bedeutung; Forsthoff, Kirchennot; Thiessen, Not. Zur Kirchenfrage insgesamt vgl. Z nker, Kirchenfrage; Althaus, Kirche, 1924/25; Kuhlmann, Krisis. 384 Bjçrkquist, Volkskirche, die Zitate 777 f; Janetzky, Kulturkrisen. 385 Bjçrkquist, Volkskirche, 782. Vgl. Rosenau, Schöpfungsordnung. 386 Bjçrkquist, Volkskirche, 784. 387 Ebd. 388 Ebd., 784 f. 389 Vgl. auch ebd., 786: „Die Zeit der evangelischen Volkskirche ist wahrlich nicht zu Ende. Sie hat eben begonnen. Kaum ahnen wir noch ihre Gestaltung. Die Kirche kommt – insoweit sie die Kirche des inneren kommenden Gottes bleibt.“
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sahen. Diese sei dadurch entstanden, dass Kirche und Religion in einem Land nicht länger zusammenfielen, sondern vielmehr in einer „zum Gegensatz gesteigerten Spannung“390 stünden. In einem historischen Überblick legt Hans von Soden dar, dass die eigentliche Krisenzeit der Volkskirche erst in der Gegenwart begonnen habe, seit es zur Trennung von Kirche und Staat gekommen sei. „Die Kirche der Krisis ist letztlich und wesentlich unsere Krisis; die Kirche ist ja nicht ein Etwas für sich, dessen Schicksal uns so interessant und dabei doch so gleichgültig sein kann wie das irgend eines [!] anderen Volkes in zeitlicher oder räumlicher Ferne, das nicht das unsere ist. […] Die Krisis der Kirche, d. h. die Entscheidung über sie, liegt bei jedem von uns, die wir die Kirche sind und deren Schwäche die der Kirche ist, sie ist die Entscheidung über uns und, wenn wir in ihr fehlen, gegen uns: darin wenigstens wird die Kirche […] unbedingt Recht behalten.“391
Im Kontext dieser hier exemplarisch geschilderten Debatten über das Wohl und Wehe, die Potenziale und Gefahren der Kirche steht die Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Otto Dibelius, die mithin als ein Kulminationspunkt angesehen werden kann. Dibelius hatte 1926 ein Buch mit dem Titel „Das Jahrhundert der Kirche“392 veröffentlicht, welches binnen zweier Jahre in sechs unveränderten Auflagen erschien und wohl zu den am meisten diskutierten theologischen Büchern der Zwischenkriegszeit zählen kann.393 Das Buch selbst ist in vier Bücher aufgeteilt, von denen das erste „Buch der Geschichte“ heißt. In einem Parforceritt beschreibt er hierin die Geschichte der Kirche vom Vorabend der Reformation bis zum Ende des Ersten Weltkrieges auf gerade einmal 65 Seiten. Bemerkenswert ist vor allem seine Bewertung der Revolution von 1918/19, die einen ganz anderen Ton anschlug, als denjenigen, den man sonst aus protestantischer Feder zu hören gewohnt war. „[…] man spürt: die Zeit der Träume und der Utopien ist vorbei. Die Arbeit an der Kirche hat jetzt sicheren Grund. Ecclesiam habemus! Wir haben eine Kirche! Wir stehen vor einer Wendung, die niemand hatte voraussehen können. Das Ziel ist erreicht! Gott wollte eine evangelische Kirche! Seinem Willen mußten beide dienen, die da aufbauen und die da zerstören wollten. Wenn Gott will, muß sich immer wiederholen, was seine Schöpfungsordnung von Anbeginn gewesen ist […].“394
390 391 392 393 394
von Soden, Krisis, 25. Ebd., 52. Dibelius, Jahrhundert. Vgl. Fritz, Dibelius, 187–264 für eine ausführliche Diskussion. Dibelius, Jahrhundert, 77, vgl. ähnlich auch ebd., 97: „Die deutsche Reichsverfassung von 1919 hat das protestantische Kirchenwesen aller Länder tief innerlich berührt. Wir hatten eben keine Kirche im vollen Sinne des Wortes. Jetzt haben wir sie!“
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Auch wenn einige Formulierungen Aussagen Dibelius‘ aus früheren Jahren ähneln395, gehört das euphorische „Ecclesiam habemus“ sicher zu den am häufigsten und deutlichsten kritisierten Stellen im „Jahrhundert der Kirche“. Im zweiten Buch führt Dibelius so etwas wie eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage der Kirche durch. Er plädiert dafür, dass man die Kirche als ein „soziologisches Problem“ wahrnehmen müsse; die Definition der Confessio Augustana, zu der er sich unumwunden bekennt, sei für die Gegenwartsanalyse der Kirche nicht in gleicher Weise nützlich.396 In der konkreten Umsetzung beschreibt er die Kirche dann als eine „selbstständige Lebensform“, die sich im Unterschied zur Sekte dadurch auszeichne, dass man in sie hineingeboren werde.397 Schon an dieser kurzen definitorischen Anmerkung wird deutlich, dass Dibelius die Volkskirche meint, wenn er von der Kirche spricht. Auch der Organismus-Gedanke spielt eine hervorgehobene Rolle in seinem Kirchenverständnis: „Was ist eine Kirche? Sie ist ein Organismus, der als eine in sich selbstständige Form religiösen Lebens eine Gesamtheit von Menschen umfassen will, ein Organismus, der sich auf ein Bekenntnis und auf einen Kultus gründet, ein Organismus, dessen Einheit und Tradition sich zusammenfassen in einem bischöflichen Amt!“398 Neben einigen schon häufig aufgetauchten Faktoren wie dem Bekenntnis und des Kultus, sowie dem umfassenden Erfassungsanspruch der Volkskirche, kommt das Bischofsamt als neuer Aspekt dazu, der nicht nur in reformierten Kreisen zu erheblichem Widerspruch führte.399 Im bischöflichen Amt verkörpere sich Tradition und Eigenleben der Kirche.400 Der kurmärkische Generalsuperintendent greift die kulturkritische Gegenwartsdeutung expressis verbis auf, indem er auf den aus seiner Sicht schädlichen Individualismus hinweist, der das deutsche Volk schon viel gekostet habe.401 Die Zeiten würden die Kirche besonders fordern und nur diese könne leisten, was nötig sei. „Warum Kirche? Weil die Schicksalsgemeinschaft der Menschen da ist! Weil der Ruf Jesu, wie die Welt heute gestaltet ist, umfassende Missionsarbeit verlangt. Und weil diese umfassende Missionsarbeit nur von einer volksumspannenden Kirche geleistet werden kann. Wir ziehen nicht die Kirche der Sekte vor, weil wir sie für besser halten. Wir ziehen nicht vor, wir wägen nicht, wir vergleichen nicht – wir
395 396 397 398 399
Vgl. auch aus dem Jahr 1925: Dibelius, Zeit. Vgl. Dibelius, Jahrhundert, 81 f. Vgl. ebd., 86 f. Ebd., 97 [Im Original durch Sperrung hervorgehoben, BB]. Dibelius reagierte darauf, wie auch auf andere Kritiken in Dibelius, Nachspiel, zur Bischofsfrage dort 59–86. 400 Vgl. Dibelius, Jahrhundert, 101, mit einem Verweis auf die skandinavischen Volkskirchen. 401 Ebd., 121: „Deutschland ist das lebende Beweisstück dafür, daß der Individualismus in Reinkultur Chaos und Anarchie bedeutet. Das ist der Fluch, den Deutschland durch sein Leben schleppt, den noch niemand zu lösen gekommen ist!“
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müssen. Im Namen dessen, den das Volk in seiner Schicksalsgemeinschaft jammert – wir müssen! Wir müssen Kirche sein!“402
Dibelius vertritt hier einen zeitgenössisch nicht untypischen Dezesionismus.403 Auch das Merkmal der missionierenden, auf eine „Durchchristlichung“404 abzielenden Kirche, wird im „Jahrhundert der Kirche“ geradezu idealtypisch ausgeführt.405 Im dritten Buch, dem der Umschau, vertritt Dibelius die These einer weltweiten „Welle der Kirche“, die sich global über die europäischen bzw. westlichen Nationen erstrecke. Er ist dabei in seinem Optimismus kaum zu überbieten: „Das ist das Jahrhundert der Kirche. Daß in Deutschland eine evangelische Kirche ins Leben tritt, ist nicht Zufall. Es ist nicht Einzelschicksal des deutschen Volkes. Es ist eine Auswirkung weltumspannender Zusammenhänge. Die junge evangelische Kirche Deutschlands wird emporgetragen von einer Welle der Kirche, die spürbar ist auf der ganzen Welt!“406
Von dieser Sichtweise ist auch das „Buch der Ziele“ geprägt. Die Kirche müsse sich vor allem an der Bibel orientieren, als evangelische Kirche müsse sie „Kirche der Bibel sein“.407 Ferner nennt er die Belebung des Bekenntnisses, wobei er vor allem die Relevanz des Apostolikums für die erneuerte evangelische Kirche betont. Begleitet werden solle dies von einem umfassenden, von starkem Missionsgeist belebten Kulturprogramm. Die heftigen Debatten mit zustimmenden und ablehnenden Stimmen, die Dibelius‘ Werk, ausgelöst hat, können hier nicht alle dargestellt werden.408 Sein positiver, euphorischer Grundton wurde auch von anderen vertreten, wobei hier besonders an Johannes Schneider, den Herausgeber der „Kirchlichen Jahrbücher für die evangelischen Landeskirchen“ zu denken ist. Dieser hatte für das Jahr 1929 zur „Kirchlichen Zeitlage“ notiert: „,Die evangelische Kirche hat die ungeheure Bedrohung ihres Daseins lebenskräftig überwunden‘, so schreibt mit vollem Recht Präses D. Wolff in dem Sam402 Ebd., 130 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 403 Vgl. für das juristische Pendant, vor allem durch Carl Schmitt und seine Schülerschaft angestoßen G nther, Ordnen. 404 Vgl. Dibelius, Jahrhundert, 130 f: „Nicht um Verkirchlichung der Kultur, sondern nur um eine Durchchristlichung kann es sich handeln.“ 405 Etwa ebd., 130: „Die Kirche ist Mittel zum Zweck, die Kirche ist das Instrument, mit dem der Wille Jesu auf Erden vollstreckt werden soll. […] Die Kirche kann nie Selbstzweck sein. […] Nicht Siege der Kirche sollen erkämpft werden, sondern Siege Jesu Christi!“ 406 Ebd., 141. 407 Ebd., 207. 408 Hier kann nur ein Ausschnitt aus der Debatte zumindest bibliografisch notiert werden: Kaftan, Jahrhundert; M ller, Jahrhundert; Hein, Jahrhundert; Schmaltz, Jahrhundert; M ller, Jahrhundert, 1927b; Bockem hl, Jahrhundert; Hesse, Jahrhundert; Hesse, Jahrhundert, 1927b, 122–124; L psen, Jahrhundert; M ller, Jahrhundert, 1928; Hein, Foerster, 1928.
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Volkskirche in der langen Krise der Weimarer Republik melwerk: ,Zehn Jahre deutscher Geschichte 1918–1928‘. Es hat doch in der Tat eine Zeit gegeben, da ihr – wenigstens ihrem äußeren Organismus – buchstäblich die Zerschlagung drohte, eine Zeit, in der der Atheismus sich schon brav und bieder anschickte, ihr die Leichenrede zu halten. […] Das ,Volk‘ war eigentlich zuerst merkwürdig still, wie gelähmt, all das Erlebte sofort zu fassen. Aber dann merkte man doch, daß es noch ein ,Kirchenvolk‘ gab. […] Gezeigt hat sich, daß der religiöse Gedanke doch tiefer in der deutschen Volksseele verwurzelt war, als nach außen hin in Erscheinung trat. Das heilige ,Dennoch‘ hat sich durchgesetzt. Bewährt hat sich das, was wir empirische Kirche nennen, sowohl in seiner Dauerkraft als auch in seiner Elastizität. Die Kirchenführung des letzten Jahrzehnts war ein Meisterstück […]. Aber die Tatsache, daß die Kirche dageblieben ist – allen Gewalten zum Trotz erhalten –, daß sie neue Freiheit und neue Kraft gewonnen hat, daß sie bei der ,Umwertung aller Werte‘ ihren Wert behauptet, ja gesteigert hat, soll und darf uns nicht blind machen gegenüber den Wirbeln der Gegenwart. Wir sind noch lange nicht über den Berg, aber wir sind aus dem Engpaß heraus und sehen vor uns ein freies Feld.“409
Barths Reaktion auf diesen Text, den er stellvertretend für eine größere Tendenz heranzieht, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es sei ein zum Himmel schreiender Skandal, dass die deutsche evangelische Kirche andauernd diese Sprache rede. Diese Sprache werde vor allem von den verantwortlichen Vertretern der Kirche verwendet, die damit andere Stimmen, die es auch gebe, übertönten. Die anderen aber, das „Kirchenvolk“, müssten sich dagegen verwahren, durch diese Sprache nach außen vertreten zu werden. Über Schneiders Ausführungen, die Barth auch zitiert, urteilt er dann in aller Schärfe: „Und so werde ich grob und sage, wo diese Sprache geredet wird, da ist Catilina, da ist die eigentliche, gefährliche Verschwörung gegen die Substanz der evangelischen Kirche. Gefährlicher als das Gefährlichste, was Katholiken, Juden und Freidenker nach den Schauernachrichten, mit denen ihr je und je euer ,Kirchenvolk‘ außer Atem zu halten sucht, gegen sie im Schilde führen können. Gefährlicher als Alles, was etwa der Sowjet-Atheismus gegen das ,Christentum‘ unternehmen und vollbringen kann.“410
Barth nimmt die kirchliche Gegenwart gänzlich anders wahr, als Schneider dies seiner Ansicht nach tut. Die evangelische Kirche sei schon heute von einer finsteren Wolke des Mißtrauens umgeben. Die Führer der Kirche sind seines Erachtens blind und sehen es nicht, obschon jeder andere, der nicht blind sei, es sehen könne. Sie würden sich über das Häuflein „Kirchenvolk“ freuen, das allsonntäglich zu ihren Füßen sitze, ohne dabei zu verstehen, dass es sich auch hier nur noch um ein Restvertrauen handele, das ebenfalls schon sehr bald verschwinden könne. Diese Art der „Führung“, Barth setzt hier Anfüh409 Schneider, Zeitlage, vgl. auch die kritische Edition bei Barth, Quousque tandem, 526–528. 410 Ebd., 528 f.
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rungszeichen, sei schon deswegen unerträglich, weil sie in solchen Aussagen vor allem nur sich selber wolle, und dies im Anspruch, die Sache Gottes zu vertreten, „viel ungebrochener, viel pausbackiger, viel hemmungsloser“411 tue als andere. Der Theologieprofessor nimmt dann die Äußerungen Schneiders, eine nach der anderen, auseinander: „Wenn es ihr um die Sache Gottes ginge, dürfte sie dann mit der Gemächlichkeit, mit der man auf eine überstandene Grippe zurückblickt, reden von der glücklichen vergangenen Zeit, da ihr ,buchstäblich die Zerschlagung drohte‘? Und mit diesem selbstzufriedenen Spott (als ob der große Abfall etwa nur die Schuld der Anderen wäre!) von jenen Atheisten, Intellektuellen und Schwätzern, die sich damals so gründlich geirrt haben sollen? Und mit diesem breiten Behagen (als ob das nicht eine elende Phrase wäre) von dem tief in der deutschen Volksseele verwurzelten ,religiösen Gedanken‘? Und mit dieser ans Lästerliche streifenden Sicherheit von der Durchsetzung des heiligen ,Dennoch‘? Und mit dieser Eitelkeit von dem nach 10 Jahren vollendet oder doch nahezu vollendet dastehenden ,Meisterstück‘ von ,Kirchenführung‘? Und mit dieser Hartherzigkeit (als ob es keine Wohnungsnot und keine Arbeitslosigkeit gäbe in Deutschland) davon, daß sie, sie, die Kirche, ,aus dem Engpaß heraus‘ sei?“412
Zwar könne ein tüchtiger Reklame-Chef wohl zu Recht so sprechen, für die Kirche sei dies aber schlichtweg empörend. Man könne nicht Gott dienen und mit Teufel und Welt Rückversicherungen eingehen. Nichts würde helfen, auch kein „Jahrhundert der Kirche“, auf das sich Barth hier ausdrücklich bezieht, denn eine Kirche, die damit beschäftigt sei, ihren Wert zu steigern oder zu erhalten könne „in keinem Wort ihrer Weihnachts- und Oster- und Sonntagspredigt glaubwürdig sein.“413 Es ist wenig überraschend, dass auch Barths Ausführungen nicht unwidersprochen blieben, ja sogar zu heftigem Widerspruch führten.414 In diesem Zusammenhang ist Barths 1931 gehaltener und im selben Jahr in „Zwischen den Zeiten“ veröffentlichten Vortrag „Die Not der evangelischen Kirche“ zu sehen, der insofern aufschlussreich ist, als dass Dibelius sehr zeitnah auf ihn reagierte.415 Die Not der evangelischen Kirche, so Barth, sei eine doppelte. Sie bestehe zunächst in ihrem Wesen. Genau in dieser Not der Kirche, die wesensmäßig ein Teil von ihr sei, „wohnt die Verheißung, der Segen, die Herrlichkeit der evangelischen Kirche.“416 Der Christ müsse von ihr mitbetroffen sein, an ihr
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Ebd., 531. Ebd., 531 f. Vgl. zu diesem Punkt auch Zoellner, Kirche. Barth, Quousque tandem, 534. Vgl. Schian, Quousque tandem, 207: „Barth hat also nicht recht. Vielmehr lädt er eine schwere Schuld auf sich, wenn er dauernd unsere gesamte kirchliche Arbeit, abgesehen von der Verkündigung des Wortes Gottes, als ,Betrieb‘ bekämpft.“ 415 Zur Vorgeschichte der Vorträge vgl. die Einleitung in Barth, Vorträge, 64–73. 416 Barth, Not, 73 f. Zu Barths Ekklesiologie vgl. aus der umfangreichen Literatur: Greive,
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mitleiden und mittragen und „nichts sonst.“417 Die zweite Form bestehe in der Not um ihre heutige Existenz. Diese ist für Barth nun gerade nicht ihr wesensmäßig und darum auch nicht unabänderlich. „Gegen sie kann und muss seitens eines Jeden, der zur evangelischen Kirche Ja sagt, Nein gesagt und diesem Nein entsprechend gedacht, geredet und gehandelt werden.“418 Entscheidend sei ferner, dass man gegen diese Art der Not etwas unternehmen könne. Beide Nöte stünden in einem Zusammenhang, der darin bestehe, dass die Ablehnung der ersten Not, die zweite überhaupt erst hervorrufe.419 Barth baut seinen Kirchenbegriff durch und durch christozentrisch auf. Es sei „unauslöschlich bezeichnend für das Wesen der evangelischen Kirche: dass sie Kirche unter dem Kreuz ist.“420 Darum geschieht, was in der Kirche geschehen soll, nicht als Selbstzweck, sondern „damit das Eigentliche, das geschehen muss, von Gott getan werde.“421 „Evangelische Kirche weiß: Das, wovon sie lebt (wenn sie lebt“) und was sie anzubieten hat (wenn sie etwas anzubieten hat!), ist Gottes Verheißung. Gottes in Christus erfüllte, d. h. aber vollständig und endgültig gewordene, abschließend ausgesprochene Zusage. Gott haben heißt für uns in der Zeit und nicht in der Ewigkeit lebende Menschen: seine Zusage haben und durch sie in Anspruch genommen sein. Diese Zusage ist der Besitz der evangelischen Kirche.“422
Etwas anderes als diese Zusage, von der sie zeugen müsse, habe sie nicht anzubieten; die Kraft und die Wirkung dieses Zeugnisses „sind nicht in ihrer Macht und sind ihr nicht offenkundig.“423 Worin sieht Barth die Kirche, hinsichtlich der zweiten Not, am meisten gefährdet? Zunächst empfiehlt er die „Flucht vor der Sichtbarkeit der Kirche“, sei es doch seiner Ansicht nach unerträglich, dass diese sich immer wieder „in Sichtbarkeit, in Bestimmtheit, in jener ganzen Menschlichkeit“ als Verkörperung des Versöhnungsangebots
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Kirche; Herms, Entdeckung sowie jetzt Grosshans, Kirche, 2016. Vgl. auch Grosshans, Kirche, 2003. Barth, Not, 74. Dort weiter: „Weil diese Not im Wesen dieser Sache gründet, weil diese Sache nie anders da ist, zu sehen und zu haben ist, als indem diese Not da ist, gesehen und aufgenommen wird, darum kann man von dieser Not der evangelischen Kirche theoretisch-theologisch reden. Man wird, in welcher Begriffssprache, Formulierung und Zuspitzung das im Einzelnen geschehen mag, zu allen Zeiten von ihr reden müssen, solange es eine evangelische Kirche überhaupt gibt.“ Ebd., 74 f. Ebd., 75: „Sie hängen so unter sich zusammen: die erste Not der evangelischen Kirche, also die in ihrem Wesen begründete, ist groß und schwer erträglich, aber heilsam und hoffnungsvoll, weil notwendig. Wenn das verkannt und wenn diese Not deshalb verleugnet, vermieden und beseitigt wird, dann ist eben das die zweite Not, die die der heutigen Existenz der evangelischen Kirche ist.“ Ebd. Ebd., 82. Ebd., 83 f. Ebd., 84.
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Gottes mit den Menschen ansehen würde.424 Mit vielen Zeitgenossen weiß Barth sich darin einig, dass man sich so „das Göttliche nicht vermenschlichen, das Unbedingte nicht dämonisieren, den Geist nicht verdinglichen“425 lassen wolle. Das Interesse an der Kirche gehe fast vollständig in der Kritik an derselben auf. Aber auch die Kritik gehe nahezu vollständig in dem Wunsch auf, dass die Kirche als Kirche bestenfalls gar nicht mehr sichtbar in Erscheinung trete, sondern so etwas wie eine „Kirche des Geistes“, eine „unsichtbare Kirche“ werde.426 Während die Empfehlung zur Flucht vor der Sichtbarkeit sich eher gegen die liberalen Kulturprotestanten richtet, die von der sichtbaren Kirche Abstand nehmen, bzw. diese als nicht notwendig ansehen – eine Position, die Barth im Übrigen ablehnt427 – zielt die zweite Gefahr, die Flucht in die Sichtbarkeit der Kirche, explizit auf den kolportierten Triumphalismus von Schneider und Dibelius ab. „Es steht heute so in der evangelischen Kirche, dass der Eifer, das Nachdenken und die Liebe der wirklich in der Gegenwart Lebenden, der Jugend und derjenigen unter den Älteren, die die Zeichen und den Zug der Zeit verstanden haben, gerade ihrer Sichtbarkeit gelten. Kein Wunder: die Erschütterungen der Kriegs- und Nachkriegszeit hatten ja nichts weniger und nichts anderes als das Dasein der evangelischen Kirche ernstlich zum Problem gemacht.“428
Die Kirche habe, was Barth durchaus konzediert, vor existenziellen Fragen gestanden. Zusätzlich habe das ganze Volk in seiner aufs Stärkste empfundenen Bedrängnis nach einer „lebendigen, handelnden Kirche oder sagen wir: nach einer aktiven religiösen und moralischen Leitung“429 geschrien. Die 424 Die beiden Zitate ebd., 90. 425 Ebd. Die Herausgeber verweisen in der Anmerkung 63 auf Paul Tillichs 1929 gehaltenen Vortrag über „Protestantische Gestaltung“, den Barth in Münster gehört hatte. Vgl. Tillich, Gestaltung. 426 Zitate bei Barth, Not, 90. 427 Vgl. ebd., 92: „Denn das ist sicher: die Flucht vor der sichtbaren in die unsichtbare Kirche hat mit der Situation des mit dem gekreuzigten Christus konfrontierten Menschen nichts zu tun. Dieser Mensch kann diese Flucht nicht antreten. Von seiner Situation aus, wie sie für die evangelische Kirche konstitutiv ist, wüsste man erstens, dass die Aufrichtung des Zeichens und also die sichtbare Existenz der Kirche mitten in der Welt geboten und also notwendig ist, werde daraus, was wolle. […] Von da aus wüsste man zweitens, dass gerade der Mensch in seiner ganzen Menschlichkeit, der geschichtliche Mensch in und mit der Problematik alles dessen, was sein Werk ist, zur Aufrichtung dieses Zeichens, zum Hören und Reden, Reden und Hören des Zeugnisses, zur Kirche aufgerufen ist, dass also alles, aber auch alles, was man gegen die Fragwürdigkeit der sichtbaren Kirche sagen kann, mit dem Wesen der Kirche selber schon gesagt ist. […] Und von da aus wüsste man drittens, dass die ganze menschliche Problematik, von der die Sichtbarkeit der Kirche in der Tat noch mehr umgeben ist als alle anderen menschlichen Sichtbarkeiten, an dem ihr gegebenen Gebot und auch an der ihr gegebenen Verheißung nichts ändern kann, dass vielmehr gerade das offene Zutagetreten ihrer Schwachheit und Anfechtbarkeit ein Präjudiz dafür ist, dass der Gott, der nun einmal in die Niedrigkeit gegangen ist, hier gegenwärtig, hier zu verkündigen und zu hören ist.“ 428 Ebd., 96. 429 Ebd., 97.
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prägnante und bissige Gegenwartsanalyse Barths verdient es ausführlicher zitiert zu werden: „Es kam dazu, dass gleichzeitig in der Philosophie das Problem der Form und der Gestalt auch und gerade im Blick auf die soziologische Wirklichkeit und in der Theologie das Problem des gottmenschlichen Du, der überlegenen Wirklichkeit der Geschichte als Grenze aller Ichhaftigkeit der Erkenntnis und des Willens, wieder lebendig wurden. Es kam hinzu der allgemeine, gerade in dieser chaotischen Zeit so verständliche Ruf nach Ordnungen, nach Zucht und Sachlichkeit, nach sturmfrei autoritativen Positionen, nach nüchterner Unterordnung des Einzelnen gegenüber dem Ganzen und seinen Notwendigkeiten.“430
Außerdem noch hinzugekommen sei „dass das Wort ,Schicksal‘ auf einmal wieder einen tiefen ernsthaften Klag zu bekommen begann, bei Christen, Juden und Heiden. Es kam hinzu, dass gerade in dieser zerrissenen Zeit auffallend Viele und Verschiedene allen Ernstes behaupteten, so oder so das Wunder der ,Gemeinschaft‘ erlebt zu haben.“431
Unbenommen wie eng diese einzelnen Faktoren miteinander zusammenhängen, in der Gegenwart sei aufs Neue der Wille zur Sichtbarkeit der Kirche erwacht. Barth wünscht sich, er könnte seine in „Quousque tandem…?“ formulierte Klage zurücknehmen, wovon ihn die Rhetorik in der Art von Dibelius und anderen aber abhalte.432 Er stellt vielmehr ans Ende seines Aufsatzes einen Fragenkatalog hinsichtlich der Art von Rhetorik, die er ja kurze Zeit vorher so scharf kritisiert hatte. Als erstes sei zu fragen, warum man sich des Stichworts der Sichtbarkeit überhaupt bediene. Sei es nicht schon ein ernstes Problem, „dass die Wendung nach rechts innerhalb der Kirche wieder einmal so genau zusammenfällt mit allerlei entsprechenden Weltbewegungen derselben Zeit?“433 Die zweite Frage Barths beschäftigt sich mit den Forderungen nach einem Öffentlichkeits- und Tatwillen der evangelischen Kirche. Es sei entscheidend, was im Einzelnen an die Öffentlichkeit gebracht und was getan werden solle.434 Auf diese Frage antworte man meist, dass die Kirche das
430 Ebd., 97 f. Die Herausgeber der „Vorträge und kleineren Arbeiten“ meinen, dass Barth sich hier explizit auf Dibelius‘ „Jahrhundert der Kirche“ bezieht, was auch plausibel erscheint. 431 Ebd., 98. 432 Ein weiteres beliebtes Beispiel ist der Ausspruch Walther Wolffs „Der Protestantismus wird Kirche sein, oder er wird nicht sein“, den dieser schon 1919 auf einer Synode geäußert hatte, wie die Anm. 81 auf ebd. 99 mit einem Verweis auf M lhaupt, Kirchengeschichte, 371 belegt. 433 Barth, Not, 101. Und er fragt dann weiter: „Handelt es sich denn bei der neu zu betonenden Sichtbarkeit der Kirche wirklich so einfach um Geschichte, Schicksal, Wirklichkeit, soziologische Notwendigkeit, Gemeinschaft, Gestalt, Ordnung, Gegebenheit, Leibhaftigkeit und wie die Schibboleths des neuen Realismus alle heißen mögen?“ (ebd.). Seiner Ansicht nach solle in der Kirche vielmehr „die Situation des mit dem gekreuzigten Christus konfrontierten Menschen“ (ebd.) sichtbar werden. 434 Ebd., 102: „Warum kümmert man sich offenbar nur um die Existenz der Kirche als solche, um
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Evangelium besitze. Barth mahnt hier zu mehr Demut, wenn die Sichtbarkeit der Kirche nicht nur durch die „Schar in ihrer Geistlichkeit offenbar sehr reicher, mit vollen Händen aus einem wohlgefüllten Schatz austeilender Leute“435 begründet sein solle. Im vierten Fragekomplex436 spricht Barth dann das differierende Evangeliumsverständnis an. Man müsse Acht geben, dass die evangelische Kirche, bestrebt die ganze Welt zu gewinnen, nicht an ihrer Seele Schaden nehme und zu einer schlechten Kopie der römischen Kirche werde.437 Er fragt fünftens danach, ob die Machtfrage – gemeint ist die Konkurrenz mit der römisch-katholischen Kirche – nicht zum entscheidenden Interesse kirchlichen Handelns geworden sei? Das Streben nach Macht, nach Sichtbarkeit im Allgemeinen führe dazu, dass das Wesen der Kirche preisgegeben werde. „Wäre es nicht an der Zeit und wäre es nicht schließlich auch praktischer und im besten Sinn realistischer, wenn die Kirche wieder anfinge, wirklich am Ersten nach dem Reiche Gottes zu trachten?“438 Zuletzt stellt er die enge Verbindung von Christentum und Volkstum in Frage. Diese sei heute zum eigentlichen Kriterium kirchlicher Orthodoxie geworden. „Meint man wirklich, es gebe irgend eine nationale Not und Hoffnung, die die Kirche berechtige, in dieser Weise fremdes Feuer auf den Altar zu bringen? Sollte nicht schließlich auch und gerade einem ernsthaft nationalen Denken die Erwägung möglich und notwendig sein, dass das, was das deutsche Volk heute nötig hat, die Existenz einer evangelischen und gerade nicht einer deutsch-evangelischen Kirche ist? Aber freilich, wie sollte das Spiel mit dem fremden Feuer nicht notwendig sein, wenn man die Sichtbarkeit der Kirche um ihrer selbst willen begehrt und die Frage nach dem Zentrum, nach der Substanz der Kirche beharrlich offen lässt? Irgend etwas Fremdes, heute dieses, morgen vielleicht jenes, wird dann notwendig diesen leeren Raum ausfüllen müssen.“439
Zusammenfassend beschreiben diese sechs in den Fragen genannten Bewegungen eine Flucht in die Sichtbarkeit440, die entschieden abzulehnen sei. Sechs Tage nach Barth, am 6. Februar 1931, sprach Dibelius in der Neuen Aula der Berliner Universität. Dibelius hatte geplant, entsprechend seiner ursprünglichen Absicht in Ergänzung zu dem Vortrag Barths441, eine theolo-
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Charakter, Öffentlichkeit, Tat der Kirche an sich und gar nicht um das Was, dessen Existenz man will?“ Ebd., 104. Ebd., 105. Vgl. ebd., 106 f. Ebd., 109 [Hervorhebung im Original, BB]. Vgl. zu dieser Thematik bereits Piper, Machtwillen. Barth, Not, 113. Zur Sichtbarkeit der Kirche vgl. zeitgenössisch Winkler, Wesen; Schian, Kirche. Vgl. auch Barth, Sichtbare Kirche. Dibelius, Verantwortung, 5: „Was ich über die Verantwortung der evangelischen Kirche zu sagen habe, war als Ergänzung zu dem gedacht, was Karl Barth über die Not der evangelischen
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gische Rechtfertigung der sichtbaren Kirche zu bieten. Grundsätzlich gebe die Lehre Barths von der Kirche Luthers Kirchenbegriff richtig wieder. Als Leib Christi sei die Kirche dort, „wo Wort und Sakrament sind; die Aufgabe der Kirche [ist] das Wort vom Kreuz und immer nur wieder das Wort vom Kreuz.“442 Da es aber im Unterschied zur Zeit Luthers keine christliche Obrigkeit mehr gebe, sei die Kirche nun aufgefordert „aus christlicher Liebe zu tun, was ihr als Kirche eigentlich zu tun nicht zusteht.“443 Wie weit dürfte die Kirche in ihrem Tun gehen? Hier kommt Dibelius zufolge der Theologie eine Aufgabe zu, diese könnte nämlich die Kirche bei ihrem Tun beobachten und beraten, „damit sie über dem Handeln ihrem vornehmsten Beruf nicht untreu wird.“444 In seiner theologischen Grundlegung beschränkt sich Dibelius darauf, den biblischen Befund herauszustellen, dass „die Arbeit der verantwortlich helfenden Liebe wesensnotwendig zur Kirche gehört.“445 Dafür, dass sie arbeite und kämpfe, habe sich die Kirche „unserer Tage“ nicht zu entschuldigen, denn sie „wäre nicht mehr Kirche Jesu Christi“446 wenn sie nicht mehr arbeiten und kämpfen würde. Abschließend geht Dibelius dann auf die fünf Barthschen Fragen ein, die ihm bekannt waren.447 Auf den ersten Einwand entgegnet er, dass Kirche nicht isoliert neben dem sonstigen geistigen Leben der Menschheit stehe.448 Bezüglich des zweiten Fragekomplexes unterstreicht Dibelius seine Überzeugung, dass sich der Wille zur Öffentlichkeit „aus der Verantwortung der Kirche für die Verkündigung des Evangeliums mit unentrennbarer Notwendigkeit“ ergebe.449 Für unseren Zusammenhang ist hier schließlich noch seine Erwiderung auf die Frage hinsichtlich des von Barth so bezeichneten Bindestrichchristentums von Bedeutung. Der kurmärkische Generalsuperintendent sieht eine Übereinkunft in der Ablehnung der Parole „deutsch, deutsch und
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Kirche ausführen würde. Nicht als Antwort. Es ist zwar eine sehr bequeme Position, wenn man das letzte Wort hat. Aber es wäre nicht ritterlich, diese Position auszunutzen – zumal einem Mann gegenüber, dessen Bedeutung für die notwendige Selbstbesinnung der evangelischen Kirche ich sehr ernst zu würdigen weiß.“ Ebd., 10. Ebd., 13 [Im Original gesperrt, BB]. Ebd. Ebd., 21 [Im Original gesperrt, BB]. Ebd. Der folgende Abschnitt des veröffentlichen Vortrages stellt dann die Verantwortungen, derer sich die Kirche annehmen müsse, genauer dar: „Sie muß das Evangelium verkündigen und muß dieser Verkündigung irgendwie Raum schaffen; sie muß Seelsorge üben, damit das Wort in den Herzen Gestalt gewinnen kann; und sie muß die Taten der Barmherzigkeit tun, die sich aus der Nachfolge Jesu mit Selbstverständlichkeit ergeben.“ [Im Original gesperrt, BB] (ebd., 22). Die sechste Frage wurde erst nach Dibelius‘ Vortrag hinzugefügt. Vgl. ebd., 28: „Verhängnisvoll wird diese Einstellung erst dann, wenn sie zu dem Schlusse führt, daß die Kirche eine Kulturerscheinung sei wie andere auch und daß ihre inneren Bewegungen unter den Kategorien der Kulturgeschichte restlos begriffen werden können.“ Ebd., 29.
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nochmal deutsch, und daneben auch christlich“450, die in der Kirche nichts verloren habe. Das Entscheidende sei aber, dass die evangelische Kirche in die „Schöpfungsordnung des Volkstums“451 hineingestellt sei, „daß sie mit ihrem Volke lebt, mit ihrem Volk leidet, für ihr Volk kämpft und für ihr Volk betet. Denn die Verantwortungen der evangelischen Kirche gehen, wie wir gezeigt haben, auf das Volk, mit dem sie verbunden ist.“452 Er hält also daran fest, dass die nationalen Kirchen mit einem bestimmten Volk verbunden sind und eine, wenn auch nicht ausschließlich, so doch in erster Linie auf dieses Volk bezogene Aufgabe haben.453 Dibelius schließt dann mit nicht geringem Pathos: „Wir sind in einen Kampf gezwungen, wie er so folgenschwer nicht geführt worden ist, seit das Kreuz Jesu Christi auf deutschen Boden getragen worden war. In diesem Kampf werden Entschuldigungszettel wegen theologischer Hemmungen nicht geschrieben. In diesen Kampf werden wir alle hineingefordert. Und wir führen ihn – dankbar dafür, daß Gott uns inmitten dieser Welt ohne Hoffnung und ohne Liebe unsere Kirche gegeben hat als die Gemeinschaft, in der wir miteinander glauben und hoffen und in ungebrochener Freudigkeit dienen dürfen. Der Dank für dies Geschenk unseres Gottes ist es, der uns immer wieder aufs Neue den Ruf erheben läßt, um den wir alle sammeln möchten, die mit uns dem Gekreuzigten dienen wollen: ecclesiam habemus! Wir haben eine Kirche!“454
Barth replizierte in einem Nachwort, das nach der Veröffentlichung von Dibelius Vortrag erschien, auf dessen Ausführungen.455 Er äußert „tiefstes Befremden“456, das der Vortrag bei ihm ausgelöst habe. Zu den meisten Punkten führt er hier nochmals aus, dass beide keinesfalls so nah beieinander stünden, wie Dibelius dies an einigen Stellen darstellen wolle. Besonders gegen das „Ecclesiam habemus“ wendet er sich dabei, indem er sich darauf beziehend deutlich macht, dass es keine Mitte zwischen seiner und der Position Dibelius‘ gebe, sondern nur ein klares Entweder-Oder: „Ich protestiere jedenfalls für mich selbst im Voraus gegen jedes Geschichtsbild, das mir eine andere Stellung zuweist als die des ganzen Protestes gegen das ganze, die Sprache von D. Dibelius redende Kirchentum. ,Ecclesiam habemus‘ – Sie haben recht, Herr Generalsuperintendent, eben darum kann ich mich gegen die 450 Ebd., 31. 451 Ebd. 452 Ebd. Auch eine Invektive auf die Nationalität Barths bleibt nicht aus, wenn Dibelius großmütig konzediert: „Wir machen dem Deutsch-Schweizer keinen Vorwurf daraus, daß er das, was da in deutschen Herzen vorgeht, nicht in der Tiefe mitempfinden kann.“ (ebd., 32). 453 Wohl direkt gegen Barth und die von ihm vertretene theologische Richtung wendet sich der Vorwurf, dass durch „zersetzende, theoretische Rechthaberei“ (ebd.) das neue Verantwortungsgefühl sofort wieder zerstört werden könne. Vgl. auch Pachali, Belange. 454 Dibelius, Verantwortung, 32. 455 Dort notiert Barth, Dibelius Vortrag habe acht Tage nach seinem stattgefunden (Barth, Not, 114). 456 Ebd.
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heute noch ungebrochene Herrschaft Ihres Geistes und Ihrer Art in der Kirche nur auflehnen. Ich hoffe auf einen anderen, neuen Tag der deutschen evangelischen Kirche.“457
Wie insbesondere die hier zuletzt angeführten Äußerungen deutlich machen, kam es in dieser Auseinandersetzung keineswegs zum Konsens, sondern eher zu einer ostentativen Betonung der eigenen Überzeugungen. In der kirchlichen Publizistik wurde dieser Disput sehr stark wahrgenommen und intensiv fortgeführt.458 Unterstützt wurde Dibelius durch eine Veröffentlichung Martin Schians, die dabei helfen sollte, „der Schädigung der kirchlichen Arbeit zu begegnen, die durch Karl Barths vehemente Angriffe nur gar zu leicht herbeigeführt werden kann.“459 Die Diskussion über das Wesen der Kirche wurde schon bald, spätestens ab Sommer 1932, durch die Erfolge der „Deutschen Christen“ in ein neues Stadium geführt. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Dibelius und Barth handelt es sich um einen „Stellvertreterkrieg“ zweier kirchlicher Positionen, die sich gegenseitig als jeweils ausschließend wahrnahmen. Auf der einen Seite wurde das Potenzial der neuen Situation stark in den Vordergrund gehoben. Und auch wenn der Begriff der Volkskirche erstaunlicherweise in diesen Schriften selten fällt, enthielten sie doch zahlreiche durchaus typische Charakterisierungen derselben, wenn auch mit bestimmten Spezifika, wie einer starken Betonung des Bischofsamtes. Barth auf der anderen Seite lehnte eine solche Haltung als „Triumphalismus“ ab und rekurrierte auf die Unverfügbarkeit Gottes, die einen leichtfertigen Umgang mit der Kirche als eine in der Welt arbeitende Institution verbot.460 2.5.4 Monografische Systematisierungen und lexigrafische Verfestigungen In keiner anderen Zeit äußerten sich Protestanten so umfangreich monografisch zum Thema Volkskirche wie in der Zwischenkriegszeit. Diese Form der Veröffentlichung zeigte zumindest tendenziell einen anderen Charakter 457 Ebd., 122. 458 So wurden die veröffentlichten Vorträge beispielsweise rezensiert, vgl. R[ade], Verantwortung; R[ade], Not; R[aack], Verantwortung; Schubring, Vortrag. Das liberale Protestantenblatt hatte auch schon vor der Drucklegung kritisch über Barths Berliner Vortrag berichtet: Schubring, Laienprotest; Schubring, Herrlichkeit. 459 Schian, Ecclesiam. Vgl. zuvor schon die Kritik an Barth von Hein, Ecclesia; Hein, Tertium; Hein, Dämonie. 460 Vgl. zum Hintergrund Grosshans, Kirche, 2016, 368: „Zu Beginn der 1920er Jahre hatten Barths ekklesiologische Überlegungen noch sehr viel mehr paradoxen Charakter, insofern Kirche – die immer konkrete, raumzeitlich existierende, sichtbare Kirche ist – prinzipiell etwas Falsches anzuhaften und sie doch zugleich für den christlichen Glauben unvermeidlich zu sein scheint.“ Später entwickelt sich dann eine christologisch begründete Ekklesiologie, die die Kirche als „die irdisch-geschichtliche Existenzform Jesu Christi“ verstand (vgl. ebd., 372).
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als die stärker situativen Beiträge in den kirchlichen Zeitschriften und Zeitungen, zugleich wirkten sich die systematischen Entwürfe ihrerseits auch auf die tageskirchenpolitischen Debatten aus. Diese Wechselwirkung soll anhand einiger zentraler Exponenten dargestellt werden. Es ist aber auch schon ein Befund für sich, dass das Thema Volkskirche in der Zwischenkriegszeit so virulent war, dass es zu monografischen Bearbeitungen angeregt hat. Dies sollte sich in späteren Zeiten nicht wiederholen.461 Anhand dieser Schriften lassen sich einige wesentliche Grundmerkmale des Volkskirchenbegriffs dieser Zeit zusammenfassen. Bereits 1919 erschienen erste Arbeiten, die systematisch den Volkskirchenbegriff zu operationalisieren versuchten. August Wilhelm Hunzinger veröffentlichte in diesem Jahr eine tour d’horizon der mit der Volkskirche verbundenen Implikationen und Bedeutungszusammenhänge. Er ging von der These aus, dass die Volkskirche „die vom Staate völlig getrennte Kirche“462 sei. Als Staatskirche sei sie „innerlich und äußerlich gebunden an die jeweils herrschenden Klassen“463 gewesen und habe durch diese Begrenzung schon keine Volkskirche sein können.464 Eine weitere Entwicklung, die die Kirche auf dem Weg zur Volkskirche durchlaufen müsse, sei die von der Wortkirche zur Tatgemeinschaft. Hierfür müsse sie „die religiösen Lebensbewegungen, Willensimpulse, Arbeitskräfte mit offenen Armen empfangen“465, sodass sie sich neu in ihr sammeln könnten. „Aus einem schlafenden Organismus, der ruht und träumt, muß sie ein wacher Organismus werden, in dem sich alle Glieder zu einer großen Wechselwirkung unaufhörlich bewegen. Aus einem Sitz- und Stehorganismus muß sie zu einem Geh- und Lauforganismus werden, dessen Seele eine große Vorwärtsbewegung ist. […] Nicht Lehr- und Predigt-, sondern Lebens- und Tatgemeinschaft. Die Kirche muß eine Kirche der schaffenden Kräfte werden.“466
Organismus und Gemeinschaft sind bei Hunzinger die entscheidenden Bezugspunkte, die auch in anderen Wissenschaften in diesem Zeitraum wirkmächtig wurden.467 Überhaupt könne man nur dann zur Volkskirche werden, 461 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Adam, Nationalkirche, auf die im folgenden Kapitel noch einzugehen sein wird. Gleichwohl gibt es in jeder Epoche systematische Überlegungen zur Volkskirche, die aber in anderen Kontexten stehen und nur noch selten zu so umfangreichen monografischen Bemühungen führten. 462 Hunzinger, Volkskirche, 3; vgl. auch Arenfeld, Landeskirche. 463 Hunzinger, Volkskirche, 5. 464 Ebd., 6: „Von Volkstümlichkeit und Volkskirche konnte also gar keine Rede sein, da der größte Teil des Volkes sich prinzipiell als von der Kirche ausgeschlossen betrachtete, wenn er auch noch bestimmte Beziehungen zur Kirche rein äußerlich, aus Gründen der Trägheit oder des Eigennutzes weiter unterhielt.“ 465 Ebd., 11. 466 Ebd. 467 Vgl. Nolte, Ordnung, 159–186; Vgl. zeitgenössisch die Heidelberger Antrittsvorlesung von Wendland, Begriff sowie zuvor mit etwas anderer Stoßrichtung Wendland, Wahrheit.
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wenn man endlich lerne, „daß wirkliche Gemeinschaft nur durch Freiheit möglich“468 sei. Es ist durchaus auffällig, dass sich hier kein Bezug zu einer wie auch immer pluralistisch gestalteten Gesellschaft findet, auf die die Volkskirche bezogen werden soll, sondern der tendenziell holistische Gemeinschaftsgedanke aufgerufen wird. Noch im selben Jahr erschien die Schrift „Von Innen nach Außen“ des Erlanger Theologieprofessors Philipp Bachmann.469 Für die Kirche gilt seiner Ansicht nach die Devise „Aus dem Geiste heraus zur Form – von der Seele zum Leibe – von innen nach außen.“470 Er skizziert im Folgenden zunächst „die Grundbedingungen für die Ordnung des kirchlichen Lebens, wie sie mit dem Grundverhältnis zwischen pneumatischer Lebensbewegung und organisierender Ausformung gegeben sind“471, um sogleich darauf hinzuweisen, dass sich hieraus im Einzelnen durchaus sehr unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten ergeben. In der Gegenwart sieht Bachmann für die Kirche eine geradezu eschatologische Situation im Entstehen begriffen. Die Kirche der Endzeit sei die kleine Herde, die die Volks- und Massenkirche nicht mehr kenne. Dass man dem Ende näher gerückt sei, bedeute aber nun keineswegs, die Volkskirche selbst zu zerbrechen oder preiszugeben: „Wir halten an der Volkskirche fest und hoffen und harren doch der Einzelgemeinde.“472 Wie der Übergang von der Volkskirche zur Endkirche stattfinde, das könne niemand sagen, weswegen es auch nicht die Aufgabe der Evangelischen sein könne, „äußerlich die Volkskirche abzubauen.“473 Klar sei aber auch Folgendes: „Ihr Gepräge hat die Existenzform der Volkskirche in der ausgedehnten, fixierten, rechts- und gesetzesartigen Organisation, die Existenzform der Endkirche dagegen, der kleinen Herde, in der in Erscheinung tretenden pneumatisch-charismatischen Kraft. Wir bereiten uns gegenwartsgemäß für das Ende vor, indem wir um Verstärkung der pneumatisch-charismatischen Kraft in der Gesamtexistenz der Kirche in Theologie, Amt, Diakonie, Verwaltung, Frömmigkeit, Liebe, Hoffnung, Glauben ringen. Darin liegt also auch hinsichtlich aller Organisationsfragen die besondere Aufgabe der Gegenwart: sie sollen so geordnet werden, daß die Geltung des pneumatisch-charismatischen Elements zum Vorschein kommt und die Kraft desselben verstärkt wird.“474
468 Hunzinger, Volkskirche, 15. 469 Bachmann vertrat die Fächer Systematische Theologie und Neutestamentliche Exegese an der Universität in Erlangen. In der Weimarer Republik engagierte er sich vor allem für die Erhaltung christlicher Schulformen und des Religionsunterrichts. 470 Bachmann, Gedanken. 471 Ebd., 32. 472 Ebd., 37. 473 Ebd. 474 Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB].
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Mit dieser starken Betonung des „pneumatisch-charismatischen Elements“ im Rahmen der Volks- und Massenkirche als Dienst der „Endzeit“ steht Bachmann einigermaßen alleine da.475 Der Rekurs auf die Idee eines wohlgeordneten Organismus findet sich besonders prominent bei Erich Stange476, dem langjährigen Herausgeber der „Pastoralblätter“, Reichswart der Evangelischen Jungmännerverbünde und späteren Begründer der Telefonseelsorge. In einer ersten Schrift, die 1925 in dritter, völlig neubearbeiteter Auflage erschien, arbeitete Stange die Konturen einer „kommenden Kirche“ aus.477 Seiner Ansicht nach bestehe das Grundproblem der gegenwärtigen Kirche in der Herausforderung, „Abstand“ zur „Welt“ zu behalten, da dieser Abstand nötig sei, um die eigene Identität darstellen zu können. Die organisatorischen Formen, in denen sich ein solches seiner Überzeugung nach notwendig erforderliches „Abstandsgefühl“ niederschlagen könne, seien sehr verschieden: „von der Herauslösung eines kleinen Kreises wahrhafter Bekenner aus der Masse der bloßen Namenchristen bis zu dem Versuche der völligen Durchdringung eines Volkskörpers mit den Maßstäben des Evangeliums.“478 Zwar sei die „Darstellung des Abstandsbewußtseins“ im Kontext der Volkskirche nicht unmöglich gewesen, jedoch habe sie hierdurch vielfältige Hemmnisse erfahren, insbesondere durch die Ausbildung des Territorialsystems der protestantischen Landeskirchen, „bei dem auch die Organisation der Kirche, also dasjenige, in dem sich das „Abstandsbewußtsein“ innerhalb der Volkskirche sonst noch am stärksten hatte manifestieren können, einfach zu einer staatlichen Einrichtung wurde, ohne jegliche Eigengesetzlichkeit. Jetzt fielen nicht nur „im äußeren Umfang Kirche und Volk völlig zusammen […], sondern jetzt fehlt auch auf Seiten des Staates […] der ernsthafte Wille, ein Reich Gottes darzustellen […].“479 Mit der Trennung von Kirche und Staat sei die bislang latente Krise der Kirche akut geworden.480 Aufs Ganze gesehen könne „man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die kommende Gestalt der Kirche sich durchaus noch im Ringen mit alten Formen befindet […].“481 Für die Zukunft der Kirche misst er der Jugend eine entscheidende Rolle bei, unbenommen der vielfältigen Spannungen, die es zwischen ihr und der Kirche gebe. Diese Spannungen sind Stange zufolge „Auswirkung derselben großen Krisis, die das gesamte Leben unserer Volkskirche heute durchzieht.“482 Freilich würden die Krisis und die 475 Vgl. ebd., 39–41. 476 Vgl. Siekmann, Stange. 477 Stange, Kirche. Die erste Auflage erschien 1924 und hatte nur etwa ein Viertel des Umfangs der dritten Auflage von 1925, nach der im Folgenden zitiert wird. 478 Ebd., 28. 479 Ebd., 28 f. 480 Stange weist vor allem auf die Austrittsbewegung sowie den Religionsunterricht hin. 481 Stange, Kirche, 62 f. 482 Ebd., 65.
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mit ihr verbundenen Spannungen in der Jugend besonders stark empfunden werden, wofür drei Gründe genannt werden. Zunächst würde die junge Generation Übergangszeiten intensiver durchleben als die ältere Generation, verkörpere sie doch „stets in gewissem Maße bereits ein Stück des kommenden Tages.“483 Zweitens seien neue Formen des Gemeindelebens vor allem auch aus Bewegungen in der christlichen Jugend hervorgegangen, mit allen Konflikten und Hindernissen, die dies in der organisierten Kirche bedeutet habe. Drittens sei dann noch die Stellung der christlichen Jugend innerhalb der allgemeinen Jugendbewegung der Gegenwart zu berücksichtigen.484 Stange entwickelt die vier Elemente der werdenden, kommenden Kirche ausgehend von der Kritik der christlichen Jugend an der Kirche. Als ersten Punkt nennt er die „Erneuerung des evangelischen Bischofsamtes“.485 Zweitens sei ein neues Konfirmationsgesetz zu erlassen, das die Impulse Wicherns und Stoeckers, sowie Hilberts, Rendtorffs und Le Seurs aufgreife und die vorhandenen Missstände behebe. Den dritten Punkt bezeichnet er als „Anwendung lutherischer Grundsätze auf Zeitfragen“486, womit er avant la lettre den – hier allerdings noch konfessionell gebundenen – Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen beschreibt. Ein besonders wichtiges Anliegen stellt für ihn der vierte Punkt dar, in welchem er die missionarische Sendung der kommenden Kirche in ihren Konturen darstellt. Ein Dilemma bestehe darin, dass das Subjekt der Mission in Gestalt von Volkskirchen nahezu deckungsgleich auch das Objekt der missionarischen Bemühungen darstelle, denn „Träger der missionarischen Aufgabe sind religiöse Gemeinschaften, die selbst noch fast das gesamte Volk, also auch den heillosen Teil desselben und die säkularisierten Formen des Lebens irgendwie umspannen, ja die durch ihr Handeln durchaus die Fiktion aufrechterhalten, als ob das ganze Volk christlich wäre.“487 Während also der organische Zusammenhang von Volk und Kirche an vielen Stellen in Stanges stark rezipierter Schrift aufblitzt, rückt er die Vorstellung des volkskirchlichen Organismus ins Zentrum einer Studie, die wenige Jahre später erschien und im Untertitel darauf hinwies, das Gespräch über die kommende Kirche fortführen zu wollen.488 Der Kasseler Theologe 483 Ebd. 484 Ebd., 69: „Das Verständnis der Jugendbewegung ist heute noch vielfach umstritten. Mehr und mehr ringt sich aber die Erkenntnis durch, daß ihr Wesen nicht in einzelnen mehr zufälligen und teilweise äußerlichen Inhalten zu suchen sei, sondern daß sie zuletzt als nichts anderes anzusprechen ist als ein Symptom der großen Kulturkrisis, die die Jahrhundertwende charakterisiert.“ Zum weitern vgl. auch Stange, Weg; Ulfert, Volkskirche. 485 Stange, Kirche, 75. Insbesondere von reformierter Seite waren die Pläne eines preußischen Bischofsamtes massiv bekämpft worden, etwa in der Reformierten Kirchenzeitung. 486 Ebd., 90. 487 Ebd., 101. 488 Stange, Volkskirche. Gleich zu Beginn weist der Verfasser darauf hin, dass „Die kommende Kirche“ eine Auflagenstärke von 10 000 erreicht habe (ebd., 5). Vgl. auch Stange, Auseinandersetzung; Stange, Kirche, 1924; Bruns, Zustimmendes.
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bekräftigt nochmals seine Überzeugung, dass der „Ausgangspunkt, nämlich der Blick auf eine offenbare Not in der Struktur unserer Volkskirchen und das Ringen um ihre Überwindung“489 für das Nachdenken über die Lage in der Kirche der Gegenwart kennzeichnend sein solle. Es sei ein Merkmal tiefgreifender geschichtlicher Bewegungen, dass „ihre Flammen zumeist an verschiedenen Stellen […] aus dem Boden des Volkslebens“490 emporschlügen. Dies bringe mit sich, dass diese Bewegungen keine einheitliche, starre Form hätten, sondern ihnen eine verwirrende Mannigfaltigkeit zu eigen sei: „Was aber so auf den ersten Blick Schwäche zu sein scheint und der zeitgenössischen Kritik eine Fülle von Angriffspunkten bietet, erweist sich im Urteil der Geschichte als Quelle besonderer Kraft und Widerstandsfähigkeit: nicht gemacht, sondern gewachsen und darum mit dem Boden der Geschichte verwurzelt bricht das neue Werden fast mit einer elementaren Wucht herein und setzt sich durch, mögen seine Ideen oft auch ungeschickt genug vertreten worden sein.“491
An diese geschichtlichen Tatsachen erinnere auch das heutige Ringen um die Volkskirche, wie Stange anschließend behauptet. Blicke man etwas tiefer hinter die große Vielfalt unterschiedlicher Meinungen und Positionen, so werde bei allen gemeinsam deutlich, dass mit der Entscheidung für eine staatsfreie Kirche das letzte Wort über das eigentliche Wesen der Volkskirche noch nicht gesprochen sei.492 Aus seinem Verständnis der Volkskirche als eines Organismus ergibt sich auch die Ablehnung der radikalen Lösung, als welche er die Bildung von Freikirchen bezeichnet. Diese verzichte nämlich darauf, „die Verbindung zwischen Volk und Kirche festzuhalten“ beschränke sich „bewußt auf den Zusammenschluß derer, die sich durch eigenen Willenentschluß anschließen, ohne dabei allerdings auf eine missionarische Beeinflussung des Volksganzen zu verzichten.“493 Es ist wenig überraschend, dass Erich Stange diese Lösung ausdrücklich ablehnt. Seine historische Begründung für die Ablehnung findet er in der Behauptung, dass die Verbindung zwischen Volk und Kirche auf dem Boden der deutschen Landeskirchen so tief verwurzelt sei, dass man kein inneres Recht habe, diese Bande willkürlich aufzulösen.494 Aber auch der zweite Weg, den er „Weg des Liberalismus“ nennt, überzeugt ihn nicht ganz. Den Liberalen wirft er nämlich vor, dass sie „mit allerlei Rezepten an dem kranken Körper der Kirche herum [experimentieren]“495, sich aber der Erkenntnis verschlössen, dass es sich um eine chronische Krankheit handele. Der von ihm präferierte Weg besteht darin, die Volkskirche als Organismus auszubilden. „Das ist 489 490 491 492 493 494 495
Stange, Volkskirche, 6. Ebd., 7. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., 10 f. Vgl. ebd., 11. Ebd.
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der Organismus, der in sich selbst die Spannung der Kräfte hat, die sich gegenseitig Widerpart halten und dadurch ihm eine einzigartige Elastizität und Standfestigkeit geben.“496 Man könne hierfür Analogien aus dem Bereich des individuellen Organismus ziehen oder „von dem Organischen im Bereich des Körperlichen ausgehen“497, auch wenn man sich bewusst sein müsse, dass die Struktur des Organischen im Bereich des Geistigen und Sozialen sehr viel komplizierter sei. Zu den von ihm formulierten Grundsätzen seines Verständnisses des Organischen gehört, dass lebende Körper nicht einfach nur geometrische Formen seien, sondern typisch kombinierte Formen, sie bestünden also aus einfacheren Teilen verschiedener Arten, die in Bezug aufeinander in besonderer Weise gelagert seien.498 Im Anschluss an Carl Niedner und Eduard Spranger499 behauptet Stange, dass man zwischen einer sinnvollen und einer sinnlosen Einordnung der Glieder in das Ganze des Organismus unterscheiden müsse. Für die Beantwortung der Frage, wie hier vorzugehen sei, zitiert er dann Sprangers Psychologie des Jugendalters: „Die Teile, die an einem Ganzen zu unterscheiden sind, haben nur dann Sinn, wenn erstens dieses Ganze unter einen Wertgesichtspunkt gerückt werden kann, zweitens die Verbindung der Teile zum Ganzen eben durch diesen Wertgesichtspunkt bestimmt ist; wenn sie also den Wert mit ermöglichen und als wesentliche, geordnete, nicht beliebig auswechselbare Teile angesehen werden.“500
Wende man diese Grundsätze auf die reformatorische Idee der Kirche an, so könne es keinen Zweifel darüber geben, welche „Wertgesichtspunkte“ für sie konstitutiv wären: „die reine Predigt des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente nach dem Evangelium“501 kennzeichneten die Versammlung aller Gläubigen als Kirche.502 Von dieser Definition aus habe die Landeskirche der Reformation ihre organische Gliederung erhalten. Der Organismus der reformatorischen Kirche sei ausgehend von der Lehre der Rechtfertigung des Menschen durch das Wort Gottes gebildet worden. Die Folgezeit sei von einer fortschreitenden Auflösung dieses Organismus gekennzeichnet gewesen. Vor allem der Staat habe das Interesse an der Förderung der Kirchen nach und nach verloren. Dadurch sei es schließlich zu einer völligen Gleichstellung aller Glieder im Gesamtorganismus gekom496 Ebd. Beides, so Stange weiter, würden die Volkskirchen in den Stürmen der nächsten Zeit dringend benötigen. Die elastische Volkskirche ist eine Begriffsbildung Ernst Troeltschs, vgl. Kapitel 1.5. 497 Ebd. Vgl. für einen zeitgenössischen Vergleich etwa die Arbeiten Johann Plenges, z. B. Plenge, Vorlesungen; vgl. hierzu Schildt, Prophet. 498 Vgl. Stange, Volkskirche, 12. 499 Spranger ist einer der Begründer der modernen Pädagogik, vgl. Drewek, Eduard Spranger. Stange bezieht sich vor allem auf Sprangers 1924 erschienene „Psychologie des Jugendalters“. 500 Spranger, Psychologie, 4, zitiert nach Stange, Volkskirche, 12. 501 Ebd. 502 Das ist im Grunde die Definition, die das siebte Kapitel der Confessio Augustana von 1530 gibt. Vgl. Grane, Confessio.
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men.503 Die Tatsache bliebe bestehen, „daß die Masse der Kirchenglieder wie ein unorganischer Haufe nebeneinander gelagert ist.“504 Und weiter: „Man sieht nun wohl deutlich, wo der Schaden liegt. Er liegt nicht darin, daß die heutige Volkskirche Massen von Menschen sich eingegliedert hat, deren Willigkeit zur Teilnahme am Leben der Kirche auf ein Mindestmaß gesunken ist; er liegt vielmehr darin, daß sie diesen Gliedern die gleiche Stellung gibt wie allen anderen. Ja, darin liegt der Schaden, daß die Kirche darauf verzichtet, ihr konstitutives Prinzip, nämlich die Stellung zu Wort und Sakrament zum durchgreifenden Prinzip ihrer Organisation zu machen.“505
Die neue Organisationsform der Kirche soll aber nicht zwischen den Gläubigen und Ungläubigen unterscheiden, sondern im Blick auf die Aufgaben und die Stellung des Einzelnen im Bau der Volkskirche differenzieren, wofür er das Bild von dem Hoch- und Querbau der Kirche verwendet. Der Hochbau, der die breite Masse des volkskirchlichen Querbaues durchziehe, sei nichts anderes als die Sammlung derer, „die sich mit Wort und Tat bewußt zur Sache des Evangeliums bekennen“506; man könne sie auch als die „Dienstwilligen“ bezeichnen. Hiervon ausgehend liege der Weg zur weiteren Entwicklung klar vor Augen. Die Volkskirche müsse organisch durchgebildet werden, „durch die Gestaltung von konzentrischen Kreisen auf Grund freiwilliger Willensverpflichtung gegenüber Wort und Sakrament.“507 Seine Ausführungen zielen im Grunde, ähnlich wie die Arbeiten Gerhard Hilberts und Paul Le Seurs508, auf die Bildung von Kerngemeinden ab, die durch die Neubildung der Konfirmationsordnung ermöglicht, sowie durch die Mission und Schule befördert werden sollen.509 Er wehrt sich dabei gegen den Vorwurf, wie er etwa von Vertretern der Berneuchener Bewegung gegen ihn in Anschlag gebracht worden ist, dass seine Pläne unweigerlich zu einer Freikirche führen würden, da diejenigen in der Kirche, denen man nicht die vollen Rechte zuspreche, dies nicht mit sich machen lassen würden.510 Stange ist der Überzeugung, dass die betreffenden Kir503 Stange, Volkskirche, 14: „Es bleibt schließlich nur noch die Masse der einzelnen Kirchenglieder, die vom Minister bis zum Tagelöhner grundsätzlich dieselbe Stellung im Gesamtorganismus der Kirche einnehmen, soweit sie nicht freiwillig aus ihr ausgeschieden sind.“ Hier findet sich eine zeittypische Idealisierung der reformatorischen Kirche, die mit deren Realität und Genese nur wenig gemein hat. 504 Ebd. 505 Ebd., 15. 506 Ebd. 507 Ebd. Der Weg, der hierfür beschritten werden müsse, könne nur über die Neugestaltung der Konfirmationspraxis erfolgen. 508 Vgl. Le Seur, Meisterfrage. 509 Vgl. außerdem Burkhardt, Organismus, erschienen in der Rubrik „Handreichung für Vorträge“. 510 So habe es Karl Bernhard Ritter in einer Rezension zur „kommenden Kirche“ behauptet. Zur Berneuchener Bewegung, einer aus der Jugendbewegung hervorgegangenen Reformbewegung
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chenmitglieder, die der Kirche eher fern stünden, es vielmehr als eine innere Befreiung empfinden würden, „wenn diese Kirche sie nicht ohne weiteres in der gleichen Weise behandelt und in Anspruch nimmt, wie jene anderen, die sich innerlich voll hinter die Aufgaben der Kirche stellen können.“511 Außerdem hätte die Revolution auch dazu führen können, dass die Volkskirche endgültig zerschlagen worden wäre und nichts anderes als die Option zur Freiwilligkeitskirche übrig gelassen hätte. Eine einzige Welle des „Bolschewismus“ würde genügen, um die Volkskirche in ihrer jetzigen Gestalt als Zuwachskirche für immer zu zertrümmern. Gerade darum gelte es, die Kirche für die möglichen Stürme der Zukunft zum lebendigen Organismus auszugestalten. „Unter dem Ansturm äußerer Gewalten zerbricht und zerbröckelt die ungegliederte Masse nur zu rasch. Den lebendigen Organismus können sie wohl umgestalten, aber zu zerbrechen vermögen sie ihn nicht!“512 Häufig waren es im weitesten Sinne liberale Theologen, die sich in monografischer Form zur Volkskirche äußerten. Hier ist beispielsweise der in Kiel lehrender Walter Bülck513 zu nennen, der 1922 ein Überblickswerk über den Begriff und seine Aufgaben veröffentlichte und dessen Relevanz er wohl kaum höher hätte einschätzen könnte: „Im Mittelpunkt aller kirchlichen Verhandlungen, der praktisch-theologischen Theorie und Betätigung steht die Frage nach dem Wesen und dem Recht der Volkskirche. […] Es steht für unseren volksseelsorgerlichen Standpunkt außer Frage, daß wir die Volkskirche wollen. Die große Frage ist jedoch, ob in unserer Zeit eine Volkskirche möglich ist, und in welchem Sinn wir unsere evangelische Kirch eine Volkskirche nennen oder von ihr erhoffen dürfen, daß sie volkskirchliche Wirksamkeit entfalte.“514
Seiner Ansicht nach sei eine rein ideologische, abstrakte Auseinandersetzung mit der Volkskirche nicht ausreichend. Ausgehend von ihrer historischen Genese beabsichtigt er einen aktuell gültigen Begriff der Volkskirche zu entwickeln, um „die ihr in der Gegenwart obliegenden Aufgaben festzustellen.“515 Es geht ihm also um empirische Erkenntnisse, die nicht lebensfremd sein sondern der kirchlichen Praxis den richtigen Weg weisen sollen. Im Anschluß an Ernst Troeltschs „Soziallehren“ unterscheidet Bülck zunächst drei Grundtypen „christlicher religiöser Organisationen“, namentlich die An-
511 512 513 514 515
vgl. Bloth, Berneuchen, dort auch der Hinweis, dass man sich auch innerhalb der Berneuchener Bewegung „von Anfang an der ,kommenden Kirche‘ verpflichtet“ habe (ebd., 1327). Das Zitat stammt wohl aus dem 1926 erschienen Berneuchener Buch, einem Gemeinschaftswerk dieser Bewegung. Stange, Volkskirche, 19. Ebd., 21. Vgl. Binswanger, Bülck. B lck, Begriff, 1. Vgl. auch die Besprechungen von Schian, Begriff und Baumgarten, Begriff. B lck, Begriff, 1. Vgl. auch B lck, Landeskirche.
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staltskirche, die Sekte, bzw. Freiwilligkeitskirche – letzteren Terminus präferiert er – sowie den mystischen Spiritualismus. Das fünfte Kapitel liefert einen gerafften Überblick der geschichtlichen Entwicklung seit der Reformation. Bülck meint drei Entwicklungsstufen aus der historischen Betrachtung ablesen zu können. Die erste entspreche dem Zustand des kollektivistischen Denkens und sei in der Einheitskirche des Mittelalters zu finden. In der Reformation sei das „universale Anstaltskirchentum“ zwar im Prinzip erhalten geblieben, jedoch de facto auf den territorialen Rahmen beschränkt worden.516 In der zweiten Entwicklungsstufe sei das kollektivistische Denken immer stärker vom individualistischen durchbrochen worden. Staat und Kirche seien begrifflich getrennt worden, „das gesellschaftlich-willkürliche Denken faßt beide auf als ihrem Zwecke nach verschiedene, auf der Basis des Kontrakts beruhende Vereine.“517 In der dritten Entwicklungsstufe schließlich, in der man sich seit der Revolution befinde, werde auch der in der zweiten Entwicklungsstufe noch existierende Rahmen einer „allgemeinen Christlichkeit des Staates“ durchbrochen und die Verbindung zwischen Kirche und Staat aufgelöst: „Das Moment der Freiwilligkeit in religiösen Dingen hat sich vollkommen durchgesetzt im Zeitbewußtsein.“518 Das Ende der Anstaltskirche, welches er unweigerlich gekommen sieht, müsse nicht ohne weiteres auch das Ende der Volkskirche bedeuten. Dafür sei die Lösung der Bekenntnisfrage von entscheidender Bedeutung. In jedem Fall aber könne die Volkskirche der Zukunft nicht im bisherigen Sinne eine Massenkirche sein. „Wir haben zur Zeit nur einen Staat, nicht eine Volksgemeinschaft, auf der die Volkskirche sich aufbauen könnte. Große Teile des Volkes ermangeln jedes Volksgefühls. Die Gemeinschaft des Blutes, des Bodens und des Geistes ist für sie zurückgetreten hinter der ganz anders begründeten Gemeinschaft von Interessen.“519 Insbesondere das Proletariat, das er als einen Volksteil ansieht, „der sich keiner Zusammengehörigkeit mit den anderen Volksschichten bewußt“520 sei, sei für die Volkskirche verloren, die allein schon aus diesem Grund keine das gesamte Volk umfassende Organisationsform mehr werden könne.521 Unter solchen Umständen könne der Begriff in der Gegenwart nur den Sinn haben „daß man unter Volkskirche die Kirche versteht, welche das ganze Volk umfassen will und an der Christianisierung des gesamten Volkslebens arbeitet. Die Volkskirche ist also nicht zu denken als eine von den Massen getragene Kirche und 516 517 518 519 520 521
Vgl. B lck, Begriff, 41, dort auch das Zitat. Ebd., 42. Ebd. Ebd., 45 [Hervorhebung im Original, BB]. Ebd. Ebd., 46: „Es ist keinerlei Hoffnung auf den Willen dieser teils ausgesprochen feindseligen, teils absolut gleichgültigen Volksschicht zur Mitarbeit an der Kirche berechtigt, obwohl die äußere Scheidung nur von einem Teile bisher vorgenommen ist.“ [Hervorhebung im Original, BB].
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ebensowenig als Bekenntniskirche im Sinne des Altprotestantismus, sondern als Arbeitsgemeinschaft aller lebendigen religiösen Kräfte des deutschen Protestantismus zur Pflege christlichen Glaubenslebens und zu christlicher Volkserziehungsarbeit. In dieser Fassung des Begriffs der Volkskirche ist schon der Doppelcharakter ausgedrückt, der ihr notwendig eigen sein muß: sie muß einerseits Feierkirche und andererseits Missionskirche sein.“522
Aus diesem Doppelcharakter ergeben sich Bülck zufolge die Aufgaben einer solchen Kirche, einerseits erhaltende und erbauende, andererseits die erwerbende und gewinnende Arbeit. Als drittes kämen die Aufgaben gegenüber dem Volksganzen und der Menschheit hinzu. Das Zentrum der kirchlichen Arbeit solle auch in der Folgezeit die Erbauung und Pflege der sich um das Wort sammelnden Gemeinde sein. Die Feiergemeinde solle Herz und Rückgrat der Volkskirche bleiben. In ihr obliege dem Pfarrer523 weiterhin eine ganz zentrale Rolle: „Hauptträger aller seelsorgerlichen Arbeit in ihr wird […] auch in Zukunft der Pfarrer bleiben. Die Art, wie wir seine Bedeutung aufgefaßt haben, stellt uns zu denen, welche den Pfarrer unter möglichster Entlastung von Verwaltungsgeschäften und sozialen Arbeiten als Pfleger der Religion wollen. Dabei soll durch ihn der Zusammenhang mit edler Humanität und der Bildung der Zeit aufrecht erhalten bleiben, damit der Feiergemeinde ein allem Sektentum abholder Zug in die Weite eigen ist.“524
Die Missionsaufgabe der Volkskirche diene dem Existenzerhalt derselben. Dabei richte sich diese Tätigkeit eher auf Erweckung der „ihr nur äußerlich zugehörigen toten Massen zu bewußter Gliedschaft“, also auf die Rückgewinnung der verloren gegangenen Kreise der Kirche.525 Durch Apologetik und Evangelisation müsse die Volkskirche beweisen, dass das Christentum eine das gesamte Leben durchdringende und erneuernde Macht ist. Nur diejenige Kirche, die sich als eine soziale Macht und als ein Hort des Friedens und der Gerechtigkeit erweise, könne erfolgreich Volksmission betreiben. Eine Restauration des „Zwangs-, Staats- und Einheitschristentums“ werde es nicht geben, es helfe auch nicht, der Vergangenheit nachzutrauern, da dies den Blick auf die Aufgaben der Zukunft verschließe. Arbeiten und nicht verzweifeln müsse deswegen die Devise für die Volkskirche der Gegenwart heißen. Die Betonung des Organischen im Sinne einer völkischen Kategorie begann sich Anfang der 1930er Jahre noch weiter zu intensivieren.526 522 Ebd., 48 [Alle Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 523 Die Dominanz männlicher Nomen hat insbesondere in den ersten drei Kapiteln und zum Teil auch noch in Kapitel 4 ihre Ursache nicht in der mangelnden sprachlichen Sensibilität des Autors, sondern ist stattdessen der Quellensprache geschuldet. 524 B lck, Begriff, 59. 525 Das Zitat ebd. 526 Vgl. K nneth, Sinn.
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Eine Art Summe des liberalen Volkskirchenverständnisses hält das in der zweiten Auflage des Lexikons „Religion in Geschichte und Gegenwart“ abgedruckte Lemma „Volkskirche“ bereit. Für Jakob Schoell ist die Volkskirche zunächst einmal eine „bestimmte Form von Organisation und Gestaltung des Kirchenwesens.“527 Sie habe insgesamt vier Wesensmerkmale. Zu ihr gehörig werden alle betrachtet, die von ihren Gliedern abstammen, in die Volkskirche werde man also hineingeboren.528 Diesem Aspekt lägen zwei Voraussetzungen zu Grunde. Zum einen die Selbstverständlichkeit der Kirchenzugehörigkeit, zum anderen, dass die Zugehörigkeit zu der Kirche bestehe, „in die man durch seine Herkunft nach Gottes Fügung hineingestellt“529 sei. Dem Vollsinn des Wortes nach müsste die Volkskirche das gesamte Volk umspannen. Dies sei allerdings nur noch in einigen skandinavischen Ländern der Fall. In Deutschland könne sich dies nur auf den evangelischen Volksteil beschränken, dieser müsse dann aber auch ohne Unterschied von der Kirche gemeint sein.530 Da die Volkskirche sich für das Volksganze verantwortlich fühle und auf dieses wirken wolle, könne sie „keine Standes-, Richtungs- oder Parteikirche“531 und auch keine „Winkelkirche“532 sein. „Ohne zu meinen, daß jemals ein ganzes Volk in jeder Hinsicht ein christliches Volk sein werde, will sie den gesamten Volksgeist beeinflussen, Volkssitte und Volkssittlichkeit mitgestalten, auf die rechtlichen und sozialen Ordnungen des öffentlichen Lebens in christlichem Geist einwirken und sich mit alledem als eine volkserzieherische Macht ersten Ranges ausweisen.“533
Um dieses Ziel zu erreichen müsse sie nicht zuletzt „volkstümlich“ sein, als eine „bodenständige Gemeinschaft“ und durchaus auch „in einer der nationalen Art entsprechenden Form und Weise“.534 Dass man sich nach der Revolution nicht für eine grundlegende Neuorganisation der Kirchen ent527 Schoell, Volkskirche, 1660. 528 Ebd.: „Sie betrachtet ohne weiteres als ihr zugehörig alle diejenigen, die von Gliedern der Kirche abstammen, und das insolange, als sie nicht ausdrücklich erklären, daß sie nicht zu ihr gehören wollen. Man wird in die Kirche hineingeboren.“ [Hervorhebungen im Original, BB]. 529 Ebd., 1661. 530 Ebd.: „In Deutschland kann es sich nur um den evg. Volksteil handeln, aber dann auch wirklich um diesen ganzen Volksteil ohne Rücksicht auf die Unterschiede des Standes, der Bildung, des religiösen und sittlichen Reifegrades, ja selbst mit Einschluß derer, die der Kirche entfremdet sind oder ihr Unehre machen, solange sie sich irgendwie den Dienst der Kirche noch gefallen lassen.“ 531 Ebd. 532 Ebd. 533 Ebd. 534 Alle Zitate ebd., der vollständige Abschnitt lautet: „Nicht als Fremdkörper steht sie da, sondern als bodenständige Gemeinschaft, die in der Gestaltung ihrer Gottesdienste und kirchlichen Handlungen auch die eigene Volksart mit zum Ausdruck bringt und darüber hinaus an allem, was das Volk in Freude und Leid bewegt, lebendigen Anteil nimmt. Vorausgesetzt ist dabei, daß die Kirche Recht und Pflicht hat, das seinem Wesen nach universale Christentum in einer der nationalen Art entsprechenden Form und Weise zu verkündigen und zu vertreten.“
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schieden habe, liegt Schoell zufolge an den besonderen Vorzügen, die die volkskirchliche Organisationsweise habe. Zunächst sei sie die „im Volkstum eingewurzelte, geschichtlich gegebene Kirchenform“.535 Aufgrund ihres umfassenden Charakters sei sie für eine planmäßige Jugend- und Volkserziehung unentbehrlich. „Es will doch etwas heißen, daß die V[olkskirche] offenen Zugang zu den allerverschiedensten Schichten und Personen hat, daß sie insbesondere auch die Verantwortung für die wirtschaftlich Schwachen und religiös Gleichgültigen nicht ablehnen kann; daß sie durch eine alle erreichende planmäßige Erziehung trotz allem noch am ehesten eine Gemeinsamkeit des weltanschaulichen Fühlens und Denkens im Volke schafft; daß sie bei aller Bestimmtheit im Wesentlichen der Mannigfaltigkeit christlicher Erfahrung und Denkweise Rechnung tragen muss und dadurch vor Verengung und Verknöcherung bewahrt wird […].“536
Die Volkskirche richte sich also an alle Schichten, die sich noch irgendwie zu ihr zugehörig fühlen und erfülle ihren Auftrag zum einen an den wirtschaftlich Schwachen und religiös Gleichgültigen, zum anderen aber auch durch die Erziehung des gesamten Volkes. Schoell gibt aber auch die Schattenseite der Volkskirche zu bedenken. So werde sie durch die „Masse der bloßen Mitläufer und Unchristen“537 schwer belastet. Dadurch, dass Kirchenzucht in der Volkskirche tatsächlich kaum praktiziert werde, mache man die Kirche für das Verhalten von Wucherern, Ehebrechern, Trinkern und ähnlichen Personen mitverantwortlich, da sie diese nicht aus ihrer Mitte ausschließe. Die Würde der Kirche werde ferner im hohen Maße dadurch gefährdet, dass mit Blick auf die „kirchlichen Handlungen“, also hinsichtlich der Kasualien, nicht differenziert werde.538 Eine weitere Gefahr sieht er in einer Weitherzigkeit, die über ein gesundes Maß hinaus gehe und die Volkskirche so zu einem Sprechsaal werde „wo jeder jedes sagen und glauben dürfte, und niemand recht wüßte, was eigentlich die Kirche lehre und wolle.“539 Auch wenn Schoell diese Schattenseiten nicht überbewerten möchte, referiert er in einem weiteren Abschnitt dann die gegenwärtig kursierenden Reformvorschläge. Am weitesten gehe der Vorschlag, sie zu einem bloßen Zweckverband zu machen.540 535 Ebd.: „Sie zu sprengen hätte man nur dann das Recht gehabt, wen äußere oder innere Gründe dazu gezwungen hätten, oder man ganz gewiß gewesen wäre, an Stelle des geschichtlich Gewordenen etwas besseres Neues setzen zu können.“ 536 Ebd., 1661 f. 537 Ebd., 1662. 538 Ebd.: „Damit hängt der die Würde der Kirche gefährdende Zustand zusammen, daß die kirchlichen Handlungen auch bei solchen vorgenommen werden, die ehrlicherweise sie ablehnen müßten. Unterschiedslose Taufen, Massenkonfirmationen, Massenabendmahlsfeiern und kirchliche Bestattungen gehören zum Kreuz der V[olkskirche, BB] und können gewissenhaften Geistlichen zu Anstoß und Aergernis werden.“ 539 Ebd. 540 Ebd., 1662 f: „Das würde bedeuten, daß die Kirche als zusammenfassender Organismus nur die mehr äußerlichen Aufgaben einer gemeinsamen Verwaltung und Finanzierung behielte,
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Damit höre die Kirche aber seiner Ansicht nach auf, Kirche im Sinne einer Glaubensgemeinschaft zu sein, weshalb er diesen Weg recht unverhohlen ablehnt. Des Weiteren diskutiert er den Vorschlag, zwei Arten von Mitgliedschaften einzuführen, „Mitglieder im engeren Sinn, die die Kerngemeinde […] bilden würden und besondere Rechte und Pflichten hätten und um sie herum ein weiterer Kreis derer, die zwar auch zur Kirche gehören wollten, aber vorläufig nicht willens oder nicht würdig wären, der Kerngemeinde anzugehören.“541 Skepsis bezüglich dieses Vorschlages sei angebracht, da sich in den Volkskirchen ja immer schon Gemeindekerne herausbildeten, die sich von den weniger Engagierten unterscheiden würden. Ob die formelle Trennung dieser beiden innergemeindlichen Gruppen den entscheidenden Durchbruch bringen werde, sei fraglich, für wahrscheinlicher hält er es, dass diese Verbindung zwischen vereins- und volkskirchlichen Strukturelementen die Volkskirche sprengen könnte. Nötig und auch umsetzbar sei aber nicht die völlige Umgestaltung der Kirche, sondern die Bereitwilligkeit, aus dem volkskirchlichen Gedanken entschlossen die entsprechenden Folgerungen zu ziehen. Bei aller Berechtigung der Bekenntnisse gehöre hierzu das Eingeständnis, dass es im Rahmen der Volkskirche auf Grundlage der Bekenntnisse „eine Mannifaltigkeit von Anschauungen und Gestaltungen“ gebe, die zwar einen unterschiedlichen „inneren Wert“ haben mögen, aber doch in diesem Rahmen ihr Daseinsrecht finden können.542 Über die Aussichten, die die Volkskirche in der Zukunft habe, zu streiten, ist Schoells Meinung nach ein Unterfangen von geringem Wert. Noch hätten die Vereinskirchen, also die Freikirchen, nicht den Erweis gebracht, die bessere Organisationsform zu sein. Natürlich könne aber eine fortschreitende Säkularisierung die Volkskirche obsolet machen. Es könne aber stattdessen „geradesogut auch der andere Fall eintreten, daß die V[olkskirche, BB] eine innere Belebung erfährt und sie in kommenden Stürmen erst recht Heimat und Halt für Unzählige wird. Sie zu untergraben und aufzulösen, hat in der jetzigen Lage niemand Befugnis und Recht, und die Hoffnung ist nicht unbegründet, daß, gerade wenn sie bedroht ist, sie sich als weit lebenskräftiger erweist, als ihre Gegner in den verschiedensten Lagern ihr zutrauen.“543
Die zahlreichen monografischen Wortmeldungen verdeutlichen die enorme Bedeutung des Begriffs der Volkskirche in den Jahren der Weimarer Republik. Es bestand ganz offensichtlich ein enormer Klärungsbedarf, was aus ihm während das religiöse Leben seine Pflegestätten in beliebig vielen jeweils eigenartig gestalteten Gemeinden und Gemeinschaften hätte. Der Rahmen wäre einheitlich und weit, der Inhalt mannigfaltig und jeweils besonders.“ 541 Ebd., 1663. 542 Beide Zitate ebd. 543 Ebd., 1664.
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konzeptionell entwickelt werden könnte. Bedeutsam ist überdies, wie intensiv die semantischen Aspekte des Volksbegriffs und mit ihm verbundener Konzepte wie des Organismus und der Gemeinschaft in diesen Abhandlungen rezipiert worden sind.
2.6 Ergebnisse Kurt Nowak hat in seiner „Geschichte des Christentums“ von einer „Explosion der Moderne“ gesprochen, die die Weimarer Jahre geprägt habe.544 In diesem Zusammenhang kann man aber noch eher mit Detlev Peukert von „Krisenjahren der klassischen Moderne“545 sprechen, die, wie dieses Kapitel exemplarisch zeigen konnte, große Anpassungsschwierigkeiten für die aus dem Deutschen Kaiserreich kommenden evangelischen Christen mit sich brachte. Die bisherigen Ordnungsvorstellungen waren in der Krise und dieses Bewusstsein wirkte sich auch auf die semantischen Ordnungsversuche aus, die sich mit der Volkskirche verbanden. Von Anfang an bestanden für die Mehrheit der in diesem Kapitel untersuchten Diskursteilnehmer erhebliche Vorbehalte gegen die als kirchenfeindlich wahrgenommene neue Staatsregierung. Mit der Volkskirche konnte man sich nun weiterhin positiv auf alles zum Staatswesen Zugehörige beziehen, ohne dabei die Staatsform, also die Demokratie, bejahen zu müssen. Somit entstand auch nicht zufällig als Reaktion auf die befürchteten, als existenzbedrohend wahrgenommenen Maßnahmen, die sog. Volkskirchenbewegung. Die Anfangsjahre waren durchaus von einem defensiven Gestus geprägt, in dem die Begrifflichkeit der Volkskirche verwendet wurde, um die bleibende Bedeutung der Kirche als sittlichem Zement, dessen der Staat bedürfe, zu unterstreichen. Ferner verwies man explizit auf das diakonische Handeln der Kirche und ihren Öffentlichkeitsauftrag, beides, um den Status als Volkskirche zu verdeutlichen. Auch wenn auf der Ebene der kirchlichen Verfassungen ein Umbau gemäß demokratischer Prinzipien stattfand, kann jedoch kein grundlegender Mentalitätswandel hinsichtlich der protestantischen Dispositionen zum Staat wie zur Demokratie konstatiert werden. Positionen wie jene Martin Rades, die sich auf eine dezidiert demokratische Grundlage stellten und analog zum politischen Geschehen zur Bildung von Volkskirchenräten aufriefen, blieben in der Minderheit und konnten sich letztlich nicht durchsetzen. Auf der zweiten Analyseachse treten vor allem die zahlreichen Bezugnahmen auf das Volk sowie die Betonung eines Gemeinschaftsgedankens hervor, für den die Kirche als Volkskirche sorgen könne. Mehrfach artikulierte sich in unterschiedlichen kirchenpolitischen Lagern die Überzeugung, dass, wer sein 544 Nowak, Geschichte, 205. 545 Peukert, Republik.
Ergebnisse
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Volk liebe, die Volkskirche wollen müsse. Der Aufbau des neuen Gemeinwesens könne ohne die Kirchen nur scheitern, so waren zahlreiche Protestanten überzeugt. Die Volkskirche galt ihnen als Garant der „Volkssitte“, als Zement, der für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unabdingbar sei. Im Kontext der Debatten über die neuen kirchlichen Verfassungen lässt sich deutlich erkennen, dass der Volkskirchenbegriff ein palingenetisches Bedeutungselement erhält, also die Wiedergeburt des Volkes in eine enge Beziehung zum Wirken der Kirche gestellt wird. Dieser Aspekt taucht also keinesfalls erst in der Zeit des Nationalsozialismus auf.546 Im Hinblick auf diese Grundkonstellationen, die in den beiden entsprechenden Kapiteln untersucht worden sind, gewinnen die binnenkirchlichen Auseinandersetzungen in diesem Fall besonderes Gewicht. So wurde vor allem das Verbundenheits- und Gemeinschaftsgefühl in der Volkskirche hervorgehoben. Damit wurden die Zugangskriterien zur Volkskirche sowie die Pluralität der Zugehörigkeitsformen zu einem Problem, das schon 1918/19 mit den Diskussionen über das von Karl Heim und Otto Schmitz vorgeschlagene Bekenntnis „Jesus ist Herr“ aufbrach. Ein solch „liberales“ Verständnis der Volkskirche, in dem im Grunde jeder der sich nicht bewusst von der Kirche abwendet, dazugehören darf, wurde aber insbesondere von Lutheranern abgelehnt, die eine stärkere Betonung des (reformatorischen) Bekenntnisses forderten und somit die Bekenntniskirche als Gegenbegriff in Anschlag brachten. Populärer als die Bekenntniskirche waren aber jene Vorschläge, die ein Stufenmodell vorschlugen, welches mit der Bildung von „Kerngemeinden“ arbeitete. Ausgehend von einer solchen Gruppe jener, die „mit Ernst Christen sein“ wollen, würden sich dann weitere Zugehörigkeitsformen angliedern können, wobei der missionarische Impetus, möglichst viele in ein möglichst enges Verhältnis zur Kirche zu bringen, stark ausgeprägt war, etwa bei Gerhard Hilbert. Ab Mitte der 1920er Jahre konnten die institutionellen Ausformungen der Kirche als abgeschlossen und stabil angesehen werden. Die nur hinkende Trennung von Kirche und Staat ließ den Kirchen große Entfaltungsmöglichkeiten, in die von den Obrigkeiten nicht mehr hineinregiert wurde. Gleichzeitig gab es mit der Dialektischen Theologie eine Bewegung, die scharf kritisierte, den Fokus allzu sehr auf die Sichtbarkeit der institutionalisierten Kirche zu legen. In diesem Kapitel wurden die Auseinandersetzungen zwischen Otto Dibelius und Karl Barth als eine Art Stellvertreterkrieg rekonstruiert. Das „Ecclesia habemus“ von Dibelius und anderen, welches sich auf die Volkskirche bezog, stand in scharfem Kontrast zum Kirchenverständnis der Vertreter einer „Theologie der Krise“. Im Kontext der nationalsozialistischen Diktatur sollten sich diese Fronten in veränderten personellen Konstellationen fortführen. Von großer Attraktivität für jene, die sich mit dem Volkskirchenbegriff 546 Vgl. unten z. B. 191 f.
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auseinandersetzten, waren organische Vorstellungen. Die Volkskirche als Organismus sollte eine Gemeinschaft des Lebens und der Tat sein, wie es etwa August Wilhelm Hunzinger formulierte. Allerdings sollte nicht nur ihr Aufbau organisch sein, sondern sie sollte in eine organische Verbindung mit dem Volk gelangen. Hier sind wohl die Anknüpfungspunkte für die fatalen Homogenisierungstendenzen, die dann ab 1933 noch verstärkt Popularität erhalten sollten. Am Beispiel des liberalen Theologen Walter Bülck konnte gezeigt werden, dass auch die Volksgemeinschaft als semantisches Element der Volkskirche schon eine gewisse Bedeutung in dieser Zeit hatte. Sie war allerdings weit entfernt davon, das Verständnis derselben zu dominieren. Die zuletzt benannten Punkte wurden von Erich Stange besonders prononciert dargestellt, etwa in seinem Werk „Volkskirche als Organismus“, in der er diese Verbindung programmatisch zum Ausdruck brachte.
3. Die Volkskirche in den Auseinandersetzungen während der Zeit des Nationalsozialismus Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 begannen sich die Umstände kirchlichen Handelns und kirchlicher Identitätsfindung erneut grundlegend zu wandeln. Die Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, also das Setting der kirchlichen Entwicklung im „Dritten Reich“, wird im nächsten Kapitel zunächst skizziert (3.1). Danach sollen kurz die theologiegeschichtlichen Veränderungen und Konflikte vorgestellt werden (3.2). Da diese Arbeit vor allem nach den begriffsgeschichtlichen Entwicklungen in der kirchlichen Öffentlichkeit fragt, erstreckt sich der Untersuchungszeitraum dieses Kapitels nur bis ungefähr 1941, weil nach diesem Zeitpunkt, mit wenigen Ausnahmen keine solche Öffentlichkeit mehr existierte.1 In den sich anschließenden Kapiteln 3.3 und 3.4 wird dann entsprechend der beiden Frageachsen dieser Arbeit das Verhältnis von Kirche und Staat, respektive Kirche und Gesellschaft, so wie es sich in der historischen Semantik der Volkskirche niederschlägt, analysiert werden. Das Kapitel 3.5 schließlich wird die Relevanz des Volkskirchenbegriffs in den binnenkirchlichen Auseinandersetzungen untersuchen.
3.1 Der nationalsozialistische Staat und die evangelischen Kirchen2 Das Ende von Weimar ist der Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen, weswegen die letzten Jahre der Republik in ihrer protestantischen Wahrnehmung auch in diesem Kapitel immer wieder eine Rolle spielen werden.3 Sie fallen insgesamt in den ersten der Zeitabschnitte, in die man die Kirchengeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus einteilen kann, nämlich in etwa von der Machtergreifung der Nationalsozialisten – die Vorgeschichte eingeschlossen – bis zur Barmer Bekenntnissynode. Stichwörter, mit denen man diesen ersten Abschnitt umschreiben kann, sind etwa „Illu-
1 Zu diesen wenigen Ausnahmen gehört die von August Hinderer bis 1945 herausgegebene Zeitschrift „Das evangelische Deutschland“. Zu Hinderer vgl. Hçckele-H fner, Hinderer; MeierReutti, Hinderer; vgl. außerdem Brunotte, Auswirkungen. 2 Für einen Überblick vgl. Link, Staat; Link, Spielräume. 3 Zum Ende der Weimarer Republik ist noch immer grundlegend Bracher, Auflösung; Schulz, Brüning; Mommsen, Aufstieg, 593–644.
122 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus sionen“4, „Hoffnung und Ernüchterung“, oder aber auch „Gleichschaltung und Widerstand“5. Weite Kreise des Protestantismus haben den Machtwechsel 1933 zunächst euphorisch begrüßt.6 Die Übertragung des Kanzleramtes auf Hitler durch Hindenburg geschah in einer Zeit tiefer politischer Unsicherheit. In dem Aufstieg der NSDAP kulminierte die Krise der Weimarer Republik. Spätestens seit der Kanzlerschafts Heinrich Brünings, der bereits durch die Umgehung der demokratischen Grundstrukturen regierte, gewannen radikalere „Lösungen“ für den Umgang mit der „ungeliebten Republik“7 an Auftrieb. Der Aufstieg Hitlers, der am Ende der „Auflösung der Weimarer Republik“ stand und diese vollendete, soll hier aber nicht weiter thematisiert werden.8 Die dramatischen und ereignisreichen Jahre 1932 bis 1934 erhielten ihre besondere Dynamik durch das Aufkommen und Erstarken der „Deutschen Christen“. Hierbei ist eine ganze Reihe von unterschiedlichen Gruppierungen zu unterscheiden. In Thüringen hatte sich bereits 1927 um die beiden Pfarrer Siegfried Leffler und Julius Leutheuser die Kirchenbewegung „Deutsche Christen“ gegründet.9 Die Kirchenbewegung agitierte von Anbeginn ihrer Gründung an für dezidiert nationalsozialistische Ziele.10 Hiervon zu unterscheiden ist die 1932 gegründete und zunächst ungleich einflussreichere Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, die ursprünglich eine NSDAP-affine „Kirchenparteibewegung“ für die preußischen Kirchenwahlen im November 1932 war. Nach dem „Sportpalast-Skandal“ im November 1933 kam es zu verschiedenen Abspaltungen von der Glaubensbewegung, die dazu führten, dass man sich unter einer neuen Leitung den Namen „Reichsbewegung Deutsche Christen“ gab.11 1938 erfolgte noch eine weitere Umbenennung in „Luther-Deutsche“, die mit einem Wandel des Organisationsprinzips vom Zentralismus zum Föderalismus einherging.12 Zum vorrangigen Ziel der Gruppierungen der „Deutschen Christen“ in der Frühphase des „Dritten Reiches“ gehörte die Bildung einer deutschen 4 Scholder, Kirchen, Bd. I, 277–299; zu Scholder vgl. auch Ruff, Streitschrift. 5 Die letzten beiden werden von Strohm, Kirchen verwendet. 6 Hierbei ist insbesondere auch an Otto Dibelius zu denken, der am „Tag von Potsdam“ als Generalsuperintendent der Kurmark die Predigt über Röm 8, 31 (Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?) hielt und damit der feierlichen Stimmung, die genau auf der Linie der propagandistischen Ziele der Nationalsozialisten lag, entsprach. Dibelius erinnert dies in seinen Memoiren freilich ganz anders vgl. Dibelius, Christ, 170–173; vgl. zudem Gailus, Tag; Freitag, Mythen; zur autobiografischen Verarbeitung dieses Ereignisses vgl. Brunner, Geschlechterordnung, vor allem 103. 7 Vgl. Michalka / Niedhart, Republik. 8 Vgl. die umfangreiche Forschung zu diesem Thema zusammenfassend Evans, Reich. 9 Dies und das Folgende ist zu entnehmen der Arbeit von Meier, Christen, 1967, 2. sowie Meier, Christen, 1981. Eine neuere, instruktive Charakterisierung dieser Gruppierungen liefert Bergen, Cross. Vgl. außerdem Schuster, Kirchenbewegung. 10 Vgl. Bçhm, Christen. Vgl. auch die Beiträge in von der Osten-Sacken, Evangelium. 11 Die Abspaltungen von den „Deutschen Christen“ spielten kirchenpolitisch im Grunde keine Rolle. 12 Vgl. Meier, Christen, 1967, 2.
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Reichskirche unter Führung eines Reichsbischofs. Man kann insbesondere die Glaubensbewegung als einen „kirchlichen Ableger“ einer politischen Partei verstehen, mit dem Ziel der direkten Einflussnahme auf die Belange der Kirche.13 In ihrem Inneren war sie freilich in hohem Maße disparat und verstand sich analog zum Nationalsozialismus als eine „Bewegung“.14 Zusammengehalten wurde sie neben der Forderung nach einer Reichskirche vor allem durch die umfänglichen volksmissionarischen Bemühungen, die von ihr ausgingen.15 In diesem Zusammenhang ist auch auf den expliziten, aggressiven Antisemitismus hinzuweisen, der in der Forderung nach einer „rassisch reinen“ Kirche und der Einführung des „Arierparagraphen“16 in den evangelischen Landeskirchen seinen Ausdruck fand.17 Für die Position der „Deutschen Christen“ sind insbesondere deren „Richtlinien“ von Interesse.18 In den Gründungsrichtlinien vom Sommer 1932 war der für die Folgezeit Konfliktpotenzial bietende Abschnitt in verschärfter Form enthalten, der die Judenmission als eine „schwere Gefahr für unser Volkstum“ und als „Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper“ bezeichnete.19 Ferner hieß es dort, dass diese nicht praktiziert werden dürfte, „solange die Juden das Staatsbürgerrecht besitzen und damit die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastardisierung“20 bestehe. Verbunden mit der Forderung nach einer Reichskirche, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird21, forderte man in den Richtlinien eine im Volkstum wurzelnde evangelische Kirche; den Geist des „christlichen Weltbürgertums“ lehnte man ausdrücklich ab.22 Rasse, Volkstum und Nation wurden hier als „von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen“ angesehen, für deren Erhal13 Das Zitat bei Hauschild, Lehrbuch, Bd. 2, 864. 14 Vgl. ebd.; Bergen, Christen, 2003; Bergen, Christen, 2001 sowie Schulze Wessel, Christen. Daneben gibt es noch einige neuere Regionalstudien, von denen zu nennen sind: Buss, Kirche; Bçhm, Christen sowie zuletzt Kunze, Gott. 15 Vgl. Hermle, Aufstieg. 16 Als „Arierparagraphen“ bezeichnet man Bestimmungen aus dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, mit dem die nationalsozialistische Regierung das Ziel verfolgte, alle nicht „arischen“ Beamten aus dem Staatsdienst zu entfernen. Vgl. zu deren Entstehung Adam, Judenpolitik, 51–64; ferner Essner, Gesetze sowie in nuce Wildt, Geschichte, 116–118. 17 Vgl. Bergen, Troopers. Nur am Rande kann erwähnt werden, dass man im Auswärtigen Amt unter Rücksichtnahme auf außenpolitische Bedenken empfahl, den „Arierparagraphen“ nur auf dem Verwaltungswege anzuwenden und nicht offiziell als ein Gesetz zu verabschieden, da dies insbesondere in den skandinavischen Ländern zu Zerwürfnissen führen könne, vgl. Schreiben des Auswärtigen Amtes an die Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche, 22. September 1933. In: Kretschmar, Dokumente, Bd. 1, 131. 18 Die „Richtlinien“ sind deswegen so wichtig, weil die Glaubensbewegung zumindest in den Anfangsjahren des „Dritten Reichs“ die tonangebende Gruppierung aus diesem kirchenpolitischen Segment gewesen ist. Es wurde also reichsweite Geltung für diese beansprucht. 19 [Hossenfelder], Richtlinien, 136. Vgl. auch Meier, Kirchenkampf, Bd. 1, 116–121. 20 [Hossenfelder], Richtlinien, 136. 21 Denn schon zu Beginn der Richtlinien fällt das für unseren Zusammenhang entscheidende Stichwort „Volkskirche“, worauf aber in dem entsprechenden Unterkapitel eingegangen wird. 22 [Hossenfelder], Richtlinien, 136.
124 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus tung man sorgen müsse.23 Daher sei die „Rassenvermischung“ zu bekämpfen, bzw. rundweg abzulehnen mit Konsequenzen auch für die „Äußere Mission“.24 Als im Mai 1933 über die Verfassung einer Deutschen Evangelischen Kirche, als eine alle Landeskirchen zusammenfassende Reichskirche verhandelt wurde, machte der Reichsleiter der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, Joachim Hossenfelder eine Eingabe an Hermann Kapler, den Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses.25 Er bekräftigt darin, dass die künftige „evangelische Reichskirche […] die Kirche der Deutschen Christen, d. h. der Christen arischer Rasse “26 sei. Insbesondere die Bestimmungen zum Ausschluss „nicht-arischer Christen“ waren es, die zu Widerspruch führten. Als direkte Reaktionen hierauf kann man die „Jungreformatorische Bewegung“ sowie den Pfarrernotbund ansehen.27 Im Gründungsaufruf der ersteren hieß es unter Punkt 7: „Wir bekennen uns zu dem Glauben an den Heiligen Geist und lehnen deshalb grundsätzlich die Ausschließung von Nichtariern aus der Kirche ab; denn sie beruht auf einer Verwechslung von Staat und Kirche. Der Staat hat zu richten, die Kirche hat zu retten.“28 Es findet sich an dieser Stelle eine ganz klare, geradezu klassische Aufgabenverteilung statt mit dem Ziel, die Anwendung „weltlichen“ Rechts im Raum der Kirche abzuwehren. Der Preis, den man dafür zahlte, bestand allerdings darin, dass man seine eigene Kritikfähigkeit gegenüber dem Staat dafür einzubüßen schien. Was dieser nämlich in seiner Sphäre richtet, darüber hat die Kirche also nun noch allenfalls recht zögerlich zu urteilen. Ihre Gegner sahen in den Positionen der „Deutschen Christen“ eine Verletzung des christlichen Bekenntnisses, gegen die man sich zur Wehr setzen müsse.29 Da man aber nicht in den Augen des neuen Regimes politisch unzuverläßig erscheinen wollte, betonte man „zugleich umso emphatischer“30 die eigene Ergebenheit zur Reichsregierung. Karl Barth kritisierte nun die Vertreter der Jungreformatorischen Bewegung noch schärfer als die „Deutschen Christen“, die er theologisch nicht ernst nehmen konnte. Er sah die Gefahr, nun „doch wieder politische Entwicklungen religiös zu überhöhen, indem man geschichtliche Ereignisse oder 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Zur Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) vgl. Meier, Kirchenkampf, Bd. 1, 90–108; Hauschild, Kirche. 26 [Hossenfelder], Grundsätze, 145 [Hervorhebung bei Schmidt als Sperrung, BB]. So auch Grundmann, Religion, 1933 und Grundmann, Religion, [1933]. 27 Zur Jungreformatorischen Bewegung vgl. Neumann, Bewegung. Zum Pfarrernotbund, mit freilich einschlägiger Prägung, vgl. Niemçller, Pfarrernotbund sowie die Quellensammlung Niemçller, Texte. 28 Gründungsaufruf der Jungreformatorischen Bewegung (12. Mai 1933). In: Hermle / Thierfelder (Hg.): Herausgefordert, 110. 29 Vgl. Strohm, Kirchen, 27: „Man nannte sich programmatisch ,Jungreformatorische Bewegung‘, um deutlich zu machen, dass es um die Wahrung der reformatorischen Bekenntnisse ging, nicht jedoch um ein rückwärtsgewandtes Ausweichen vor den Herausforderungen der neuen Zeit.“ 30 Ebd., 29, vgl. auch Neumann, Bewegung, passim.
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Sachverhalte dieser Welt zu Schöpfungsordnungen erklärte.“31 In jedem Fall gelang es nicht, in der Abwehr gegen die „Deutschen Christen“ erfolgreich um die Stimmen bei den Kirchenwahlen zu werben, da diese einen durchschlagenden Erfolg erzielen konnten. Es bildeten sich deutschchristliche Kirchenleitungen in Anhalt, Hessen, der Pfalz, Thüringen und Sachsen sowie – mit Ausnahme Westfalens – in sämtlichen Provinzen der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union.32 Nach den Wahlen versammelten sich die neugewählten Kirchenvertreter zu den konstituierenden Sitzungen. In der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union sprach man von der „braunen Synode“, die am 5. und 6. September 1933 in Berlin zusammentrat. Hier „beschloss man unter anderem die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche, das heißt, die Versetzung aller Pfarrer und Kirchenbeamten mit einem jüdischen Eltern- oder Großelternteil in den Ruhestand.“33 Ende September fand dann die erste deutsche Nationalsynode statt, die sich symbolträchtig in der Lutherstadt Wittenberg versammelte. Hier traten die Synodalen der DEK zusammen und akklamierten den Wehrpfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof.34 Es gelang allerdings nicht, den „Arierparagraphen“ auch auf der Ebene der Reichskirche einzuführen, da sich unmittelbar nach der „braunen Synode“ der Protest gegen diese Maßnahmen weiter zu formieren begann.35 In diesen neuen kirchlichen Gesetze sah ein nicht geringer Anteil des nicht deutsch-christlichen Protestantismus „eine elementare Verletzung grundlegender Bekenntnisinhalte der evangelischen Kirche […]“.36 Am 12. September 1933 rief Martin Niemöller37, der zu diesem Zeitpunkt Pfarrer in Berlin-Dahlem war, zur Bildung des bereits angesprochenen Pfarrernotbundes auf. Mit dem Beitritt zum Bund verpflichtete man sich auf die folgenden vier Punkte: „1. Ich verpflichte mich, mein Amt als Diener des Wortes auszurichten allein in der Bindung an die Heilige Schrift und an die Bekenntnisse der Reformation als die rechte Auslegung der Heiligen Schrift. 2. Ich verpflichte mich, gegen alle Verletzung solchen Bekenntnisstandes mit rückhaltlosem Einsatz zu protestieren. 3. Ich weiß mich nach bestem Vermögen mit verantwortlich für die, die um solchen Bekenntnisstandes willen verfolgt werden.
31 32 33 34 35
Strohm, Kirchen, 30. Vgl. ebd., 35. Ebd. Zu Müller vgl. Scheider, Reichsbischof. Hier spielte die oben erwähnte Jungreformatorische Bewegung ebenfalls eine wichtige Rolle, vgl. Neumann, Bewegung, 160–173. 36 Strohm, Kirchen, 36 f. Zur großen Bedeutung des Bekenntnisses vgl. noch immer die wichtige Arbeit von Reese, Bekenntnis. 37 Vgl. Schmidt, Niemöller.
126 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus 4. In solcher Verpflichtung bezeuge ich, daß eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arier-Paragraphen im Raum der Kirche Christi geschaffen ist.“38
Doch waren es nicht die Bemühungen der innerkirchlichen Opposition, die die Stellung der DC ins Wanken brachten, sondern die Spannungen innerhalb der Bewegung selbst. Gemeint ist der sog. „Sportpalast-Skandal“, der sich am 13. November 1933 auf einer DC-Tagung in „Großberlin“ ereignete.39 Der Gauobmann Reinhold Krause40 hielt das Hauptreferat.41 Durch die zahlreich anwesenden leitenden Persönlichkeiten der DC erhielt die gesamte Veranstaltung „ein kirchlich offizielles Gepräge.“42 Krause gehörte zum radikalen, antisemitischem Flügel der DC, wie dem Inhalt seines Referats leicht zu entnehmen ist. Hierin forderte Krause „eine heldische Frömmigkeit aus dem Geist Luthers und ein artgemäßes Christentum“43; die unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen müssten in einer alles umfassenden Volkskirche gebündelt werden.44 Diese Ausführungen allein hätten für sich genommen wohl noch keinen Skandal ausgelöst. Krause plädierte in seinem Vortrag dann aber für „die Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen, [und für die] Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten […]“.45 Seiner Ansicht nach sei es erforderlich, dass aus dem Raum der Kirche „,alle offenbar entstellten und abergläubischen Berichte des Neuen Testaments entfernt‘ würden und daß ,ein grundsätzlicher Verzicht auf die ganze Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus ausgesprochen werde […]‘“.46 Diese „Reinigung“ des Christentums sah Krause als erforderlich an, um die Menschen zurück in die Kirchen zu bringen. Der Antisemitismus hatte für ihn und andere DCler also eine missionarische Zielsetzung.47 Krauses Vortrag wurde mit einigem Applaus bedacht, es kam auf der Tagung selbst zu keiner kritischen Auseinandersetzung über seine Äußerungen, zu einem Skandal kam es erst, als durch die Medien die dort 38 Martin Niemöller ruft zur Unterschrift unter eine Verpflichtungserklärung eines „Pfarrernotbundes“ auf (12. September 1933). In: Hermle / Thierfelder, Herausgefordert, 129. Vgl. auch Kupisch, Genesis; Schmidt, Studien. 39 Zur Rekonstruktion der Ereignisse noch immer nützlich ist Meier, Sportpalastkundgebung. 40 Krause war ein führender Vertreter im „Bund für Deutsche Kirche“, dessen Ziel eine völkische Reform der Kirche war. Vgl. Prolingheuer, Sportpalast. Krause gründete später seine eigene „Bewegung“, die den bezeichnenden Titel „Deutsche Volkskirche“ trug, kirchenpolitisch aber wirkungslos blieb. 41 Vgl. [Krause], Rede. 42 Meier, Kirchenkampf, Bd. 1, 132. 43 Ebd., 133. 44 Vgl. ebd. 45 Ebd., 134. 46 Ebd. 47 Zum völkischen Einfluss bei den DC vgl. Kaiser, Christen sowie Gailus, Diskurse. Zu den Wurzeln der völkischen Theologie vgl. L chele, Protestantismus.
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artikulierten Inhalte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht worden waren. Meier zufolge führten die Ereignisse im Berliner Sportpalast zu einer „gefährlichen Krise“48 der DC-Bewegung, es habe sich ein „Sturm der Entrüstung innerhalb weiter kirchlicher Kreise“49 erhoben. Klaus Scholder hat in seiner Studie über die evangelischen Kirchen im „Dritten Reich“ die vielschichtigen Auswirkungen des Skandals herausgearbeitet.50 Dieses Urteil wurde von Christoph Strohm in seiner kürzlich erschienenen Arbeit wieder übernommen.51 Laut Strohm sind für die kirchliche Opposition drei Folgen zu konstatieren. Zunächst erhielt der Pfarrernotbund einen erheblichen Mitgliederzuwachs. Zweitens sei der Protest nun offensiver in die Gemeinden getragen worden und drittens hätten die Landesbischöfe Hans Meiser und Theophil Wurm ihre Zurückhaltung aufgegeben. So kam es zu einer, zumindest vorübergehend, geschlossenen kirchlichen Opposition zwischen dem Pfarrernotbund und den intakten Landeskirchen.52 Reichsbischof Müller verfügte Ende 1933 schließlich eigenmächtig die Eingliederung der Evangelischen Jugend in die Hitler-Jugend, wodurch er bei vielen Protestanten jegliche Glaubwürdigkeit verlor. Über Müller, so wurde durch die hierdurch ausgelösten innerkirchlichen Verwerfungen klar, würde Hitler die Gleichschaltung der Evangelischen Landeskirchen nicht mehr gelingen. Die völkischen Umgestaltungsversuche der DC, der Versuch, den „Arierparagraphen“ auf den Raum der Kirche anzuwenden, sowie die Eingliederung der Evangelischen Jugend in eine Parteiorganisation der NSDAP waren für die kirchenpolitischen Diskussionen dieser Zeit von großer Bedeutung.53 Nichtsdestotrotz trieb Müller die Eingliederung der Landeskirchen in die Reichskirche weiter voran. Unterstützt wurde er hierbei von August Jäger, der ab April „Rechtswalter der Deutschen Evangelischen Kirche“ war und außerdem zum Leiter der neu errichteten Kirchenkanzlei des Reichsbischof ernannt wurde sowie dessen alleiniger kirchenpolitischer Vertreter war.54 Im Zusammenhang mit diesen Initiativen gilt es die bisherige Struktur der evangelischen Kirchen zu berücksichtigen. Es war nämlich in den Jahren 48 49 50 51
Meier, Kirchenkampf, Bd. 1, 136. Ebd. Ähnlich schon der Abschnitt in Meier, Christen, 1967, 34–44. Vgl. Scholder, Kirchen, Bd. I, 705–728. Vgl. Strohm, Kirchen, 38: „Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung los und in weiten Teilen des deutschen Protestantismus kam es zu massiven Protesten. Sogar gemäßigte Deutsche Christen schlossen sich dem an und traten in großer Zahl aus der Glaubensbewegung aus.“ Nüchterner äußert sich Blaschke, Kirchen, 108: „Aber der Schaden war kaum noch zu reparieren. Es folgte eine Austrittswelle aus der Glaubensbewegung. Der Pfarrernotbund, Keimzelle der später sog. Bekennenden Kirche, erhielt Zulauf, wobei es durchaus Doppelmitgliedschaften gab […]. Der Novembereklat war nicht das Ende der Deutschen Christen, aber sie hatten ihren Popularitätszenit überschritten. Von nun an befanden sich die Bekennenden im Aufschwung.“ 52 Vgl. Strohm, Kirchen, 39. 53 Vgl. Hauschild, Lehrbuch, Bd. 2, 872 f. 54 Vgl. Strohm, Kirchen, 42.
128 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus der Weimarer Republik nicht gelungen, eine reichsweite Organisationsform zu erlangen. Zwar hatte man sich in einem Bund organisiert, dieser war aber keine Kirche im formalen Sinne; die Eigenständigkeit der vielen, zum Teil auch sehr kleinen Landeskirchen, blieb ein Bestandteil der kirchlichen Landkarte. „Mit der ihm eigenen Brutalität und ohne jede Bereitschaft, Kompromisse zu schließen, setzte er [gemeint ist August Jäger, BB] die Pläne Müllers um und suchte ihnen rechtliche Legitimation zu verschaffen. Gleich nach seiner offiziellen Ernennung kam es zu einer folgenreichen Zuspitzung der Konflikte […].“55 Im Zuge dessen kam es zum Zusammenschluss der oppositionellen Kräfte, die in der Ersten Bekenntnissynode kulminierte, die vom 29. bis zum 31. Mai 1934 in Barmen tagte und als deren historisches Ergebnis die Verabschiedung der Barmer Theologischen Erklärung zu gelten hat.56 Der hier gefundene Konsens war bedeutsam, aber zugleich fragil. Das heißt aber auch, dass die Erklärung kein „Zeugnis einer radikalen Opposition“57 war und auch nicht sein wollte.58 Nachdem in Bayern und Württemberg die Kirchenleitungen gewaltsam beseitigt werden sollten, riefen die bekenntnisorientierten Kräfte am 19. und 20. Oktober 1934 zur zweiten reichsweiten Bekenntnissynode in Dahlem zusammen. Dort entwickelte man das kirchliche Notrecht, „eine neue, durch die aktuelle Notlage erzwungene Rechtsordnung.“59 Hiermit einhergehend wurden alternative Leitungsorgane etabliert, namentlich der „Bruderrat“, der sich schon in Barmen konstituiert hatte und „ein aus seiner Mitte gebildeter geschäftsführender ,Rat der Deutschen Evangelischen Kirche‘“.60 Ohne die Komplexität der Ereignisse hier rekonstruieren zu können, ist als Ergebnis festzuhalten, dass fortan auf Reichsebene zwei konkurrierende Kirchenleitungen parallel zueinander bestanden mit all den Konflikten, die eine solche Situation mit sich brachte.61 Da die „intakten“ Landeskirchen das kirchliche Notrecht doch nicht als notwendig erachteten nachdem die Eingliederungsgesetzgebung annulliert worden war, wurde ein weiterer Kompromiss zwischen diesen Landeskirchen und dem Reichsbruderrat nötig, der in der Etablierung der „Vorläufigen Kirchenleitung der DEK“ mündete.62 Die 55 Ebd. 56 Die Details sind in diesem Zusammenhang nicht weiter von Belang. Aus der umfangreichen Literatur vgl. u. a. Nicolaisen, Weg; Honecker, Erklärung; Wolf, Barmen. Vgl. jetzt auch Schneider, Weg; Schneider, Barmen. 57 Jung, Protestantismus, 177. Vgl. die Beiträge in Immer, Bekenntnissynode. 58 Vgl. Stein, Stellenwert. 59 Jung, Protestantismus, 178. Zum Kirchlichen Notrecht vgl. Kersting, Kirchenordnung; Luther, Notrecht; Till, Einfluss. 60 Jung, Protestantismus, 178. 61 Vgl. auch das Material in Niemçller, Bekenntnissynode. 62 Den Vorsitz hatte der Hannoveraner Landesbischof August Marahrens inne, der freilich keine ganz unproblematische Figur ist. Thomas Breit, Klaus Koch und Paul Humburg sowie Wilhelm Flor waren weitere Mitglieder. Als Reaktion auf die führende Rolle Marahrens in der VKL legten Niemöller und Barth ihren Sitz im Reichsbruderrat nieder. (Vgl. Jung, Protestantismus, 178).
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Bekennende Kirche hatte also zu diesem Zeitpunkt schon erste Risse erhalten, was vor allem an den großen Unterschieden der theologischen Richtungen in ihr lag.63 Auf der dritten reichsweiten Bekenntnissynode in Augsburg, die dort Anfang Juni 1935 tagte, wurden der Reichsbruderrat und die VKL aber nochmals bestätigt. Sie erließ ein „Wort an die Gemeinden“, in der sie zu einem klaren Bekenntnis aufrief, sowie ein „Wort an die Obrigkeit“. In letzterem protestierte man „gegen ,Ausweisungen und Redeverbote‘, ,Presse- und Versammlungsverbote‘ und dagegen, dass Pfarrer wie ,Feinde des Staates‘ behandelt würden […]“64, freilich ohne Erfolg. Im Gegenteil, die Etablierung der kirchlichen Strukturen blieb durch die staatlichen Restriktionen stark eingeschränkt. So wurden die „Kirchlichen Hochschulen“ verboten und mussten im Untergrund ihre Arbeit fortsetzen. Auch die Predigerseminare der BK, beispielweise jenes in Finkenwalde, in dem Dietrich Bonhoeffer tätig war, mussten ihre Arbeit illegal fortführen. Nachdem Karl Barth 1934 den Beamteneid auf Hitler nicht oder nur in einer modifizierten Form leisten wollte, nahm er 1935 einen Ruf nach Basel an, einen Tag nach seiner Zwangspensionierung.65 Auch wenn er von dort weiter am Geschehen des Kirchenkampfes teilnahm, verlor die BK in Deutschland einen ihrer wichtigsten Köpfe. 1935 erfolgte ein erneuter Kurswechsel in der nationalsozialistischen Kirchenpolitik durch die Bildung des Reichskirchenministeriums, welches von Hanns Kerrl geleitet wurde.66 Im Oktober setzte Kerrl mit seiner ersten Verordnung einen Reichskirchenausschuss an, dem bald dann auch Landes- und Provinzialkirchenausschüsse folgten. Damit sollten zugleich der Reichsbischof und die anderen deutsch-christlichen Kirchenführer entmachtet werden, aber auch die Bekennende Kirche sollte ihre Arbeit einstellen. An der Frage, ob in den Kirchenausschüssen mitzuarbeiten sei, zerbrach diese weiter, wie sich auf der Vierten Bekenntnissynode in Bad Oeynhausen (17. bis 22. Februar 1936) zeigte. Marahrens empfahl dort die Zusammenarbeit unter genau festzulegenden Voraussetzungen, wogegen Martin Niemöller im Namen des Reichsbruderrates scharf protestierte.67 Die VKL trat in Bad Oeynhausen zurück und ermächtigte den Reichsbruderrat zur Wahl der zweiten VKL.68 Die „intakten“ Landeskirchen arbeiteten nun nicht mehr in der BK mit und schlossen sich gemeinsam mit einigen lutherischen Bruderräten in Leipzig zum „Rat der Evangelisch-Lutherischen 63 64 65 66
Vgl. Besier, Kirchen, 337–429. Jung, Protestantismus, 179. Vgl. Assel, Barth. Vgl. die Studie von Kreutzer, Reichskirchenministerium; zuvor schon: Gr nzinger / Nicolaisen, Kirchenpolitik. 67 Jung, Protestantismus, 182. 68 Dieser gehörten Friedrich Müller, Hans Böhm, Bernhard-Heinrich Forck, Otto Fricke und Martin Albertz an, vgl. Meier, Kirchenkampf, Bd. 2, 105.
130 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Kirche Deutschlands“ zusammen.69 „1936 stand erneut und in bisher nicht da gewesener Schärfe zur Diskussion, was Kirche sei. Die Bekennende Kirche, insbesondere ihr radikaler Flügel, sah sich nicht als eine unter vielen kirchlichen Gruppen in einem pluralistischen Kirchengefüge, sondern als die wahre, die eigentliche, die einzige Kirche.“70 Die Ära der Reichskirchenausschüsse endete Anfang 1937, nachdem Kerrl an ihnen das Interesse verloren hatte.71 Auf der Ebene der Kirchenleitungen bestanden 1937 fünf konkurrierende Institutionen: Neben der genannten 2. VKL und dem Lutherrat bildete sich unter Marahrens eine „Kirchenführerkonferenz“ zur Leitung der DEK. Im März 1937 beauftragte Kerrl „Friedrich Werner […], den Präsidenten der Kirchenkanzlei und des preußischen Oberkirchenrates, die laufenden Geschäfte der DEK wahrzunehmen.“72 Die verbliebenen deutsch-christlichen Bischöfe bildeten ebenfalls eine Arbeitsgemeinschaft. Staatlich anerkannt war freilich nur Friedrich Werner. Zur gleichen Zeit verschärften sich die Maßnahmen zur „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“, zu der der Reichsinnenminister Wilhelm Frick schon 1935 aufgerufen hatte. Neben zahlreichen Einzelmaßnahmen wurde die antikirchliche Propaganda wieder stärker forciert. Die „weltanschaulichen Distanzierungskräfte“ waren nun auf dem Vormarsch.73 Die BK wurde von diesen Maßnahmen besonders hart getroffen und immer stärker in den Untergrund gedrängt.74 Neben der Theologenausbildung wurden auch die Möglichkeiten für eine kirchliche Öffentlichkeitsarbeit immer stärker eingeschränkt und nach und nach immer mehr kirchliche Publikationsorgane verboten, ebenso auch kirchliche Zeitschriften. Dies wurde mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges noch weiter forciert, allein die von August Hinderer herausgegebene Zeitschrift „Das evangelische Deutschland“ konnte mit erheblich reduziertem Umfang und unter ebenso erheblicher Selbstzensur bis 1945 erscheinen.75 Von Interesse hat an dieser Stelle zuletzt noch die Positionierung des nationalsozialistischen Programms zum Katholizismus und Protestantismus in Deutschland zu sein, also vor allem die Rede vom „Positiven Christentum“. Im 24. Artikel des Parteiprogramms der NSDAP heiße es:
69 70 71 72 73 74 75
Auch als „Lutherrat“ bekannt, vgl. Jung, Protestantismus, 182. Ebd. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Bd. 2, 142–148. Vgl. auch Niesel, Kirche, 129–133. Jung, Protestantismus, 185. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Bd. 3, 15–26. Vgl. Jung, Protestantismus, 187 sowie Niesel, Kirche, 181–186. Vgl. Schwarz, Hinderer, 148–158. Dies mag wohl ein Zugeständnis gewesen sein, da Hinderer bis Kriegsende Mitglied der Reichsschrifttumskammer gewesen ist. Eine kirchliche Öffentlichkeit im eigentlichen Sinne gab es während des Zweiten Weltkrieges allerdings nicht mehr. Zu den Hintergründen vgl. Meier, Kirchenkampf, Bd. 3, 101–586 und Brakelmann, Kirche sowie Hermle, Predigt. Zur kirchlichen Presse im „Dritten Reich“ vgl. außerdem Retter, Protest, 10–13; Gailus, Kirche.
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„Wir fordern die Freiheit aller religiöser Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauerhafte Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.“76
Hitler verstand es anfangs geradezu virtuos, die Kirchen dahingehend zu beruhigen, dass sie von ihm keine kirchenfeindliche Politik – wie man sie etwa mit dem „Bolschewismus“ verband, zu befürchten hatten. Die Rede vom „Positiven Christentum“, ein Begriff im Übrigen, der nur selten genauer definiert worden ist, wurde von Christen, die dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstanden, begierig aufgenommen um die Vereinbarkeit mit der Kirche zu verdeutlichen.77 Man wird allerdings zu berücksichtigen haben, dass sich die nationalsozialistische Weltanschauung nicht auf wenige Begriffe reduzieren lässt – erst recht nicht hinsichtlich ihrer religiösen bzw. quasi- oder pseudoreligiösen Überzeugungen – sondern von einer Pluralität auszugehen ist.78 Dies gilt auch im Hinblick auf die Bedeutung und zeitgenössische Relevanz der „Volksgemeinschaft“, die auch in jüngerer Zeit wieder intensiver diskutiert worden ist.79 Ulrich Herbert beschreibt sie wie folgt: „Die ,Volksgemeinschaft‘ war das gesellschaftspolitische Ordnungsideal der Nationalsozialisten. Es verband die Abwertung sozialer Interessenskonflikte mit einer integrativen Sozialpolitik, der propagandistischen Postulierung der Egalität und der Ausgrenzung ,Rasse- und Volksfremder‘.“80
Für das Verständnis des Staates in der Zeit des Nationalsozialismus war insbesondere das von Carl Schmitt und Ernst Forsthoff geprägte Motiv des „totalen Staates“ wirkmächtig. Für Hitler bestand ein enger Zusammenhang „zwischen der ,Wiederwehrhaftmachtung‘ des deutschen Volkes und der in76 Das 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vom 24. Februar 1920 ist online einsehbar unter: http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-pro gramm.html [zuletzt abgerufen am 18. 08. 2018]. Vgl. zum Gesamtkomplex Horn, Führerideologie, 30–98. 77 Vgl. beispielsweise den zeitgenössischen Kommentar von Schrçder, § 24; Andresen, Christentum. Die neuere Debatte wurde angestoßen durch Steigmann-Gall, Reich und kontrovers diskutiert in einem „Special Issue“ des Journal of Contemporary History 42, 2007 im Heft 1. Aus jüngerer Zeit vgl. vor allem Koehne, Nazism; Koehne, Yardstick; Koehne, Reich. 78 Vgl. Raphael, Pluralities. 79 Vgl. z. B. Kershaw, Volksgemeinschaft, auch abgedruckt in: Steber / Gotto, Visions; Welch, Propaganda; Schmiechen-Ackermann, Volksgemeinschaft; Bajohr / Wildt, Volksgemeinschaft. 80 Herbert, Geschichte, 493; vgl. auch Herbert, Echoes; Wildt, Geschichte, 72–133, der die einzelnen Aspekte der Definition von Herbert ausführlich darstellt.
132 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus neren Gestaltung des autoritären Führerstaates“.81 Da der nächste Krieg ein totaler Krieg sein würde, müsse zur Führung dieses Krieges auch der Staat ein totaler sein.82 Die Nationalsozialisten strengten also einen Gleichschaltungsprozess an, dem sich dem Anspruch nach alle gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen zu unterwerfen hatten. Hier zeigt sich schon der enge Zusammenhang von Staat und Gesellschaft. Auf beiden Ebenen verbanden sich nämlich konstruktive mit destruktiven Ausrichtungen: „Die konstruktive Komponente sah die Übertragung der Ordnungsstrukturen des Heeres auf das Zivilleben vor. Klare Befehlsverhältnisse, orientiert an den Schlüsselbegriffen ,Führer‘ und ,Gefolgschaft‘, waren zu etablieren. Soziale Gegensätze sollten durch die Schaffung gleicher Bedingungen für alle beseitigt, der Klassengegensatz durch eine propagandistisch und ideologisch überhöhte ,Volksgemeinschaft‘ eingeschmolzen werden, wobei einer charismatischen Führergestalt eine Schlüsselrolle zugedacht war. Die Trennung von politischer und militärischer Ebene sollte vor allem durch den Typus des ,Führers‘ überwunden werden, der den Willen und die Fähigkeit zum Handeln nicht zuletzt aus der Nähe zum Volk und zu einfachen, allen einsichtigen Handlungsmaximen bezog. Die destruktive Komponente beschrieb den Weg, den Staat und Gesellschaft zurücklegen mußten, um die bestehenden pluralistischen, offenen Strukturen zu überwinden um im Wege der Reduktion zu jenem einfachen, geschlossenen und gleichgerichteten Staatsmodell zu gelangen, das einseitige Erfahrungsevaluation und Kriegswille nahelegten.“83
In dieser Darstellung des Berliner Historikers Ludolf Herbst rückt die Person Hitlers in den Mittelpunkt, als der, dem man und der sich die Verwirklichung des totalen Staates zugetraut habe.84 Der nationalsozialistische Staat barg also zahlreiche verführerische Aspekte und agierte zugleich mit radikalem völkisch-rassischen Ausgrenzungs- und Vernichtungswillen.85 Wie haben die deutschen Protestanten darauf reagiert? 81 Herbst, Deutschland, 59. 82 Ebd., 59 f: „Er hatte das ,Volk‘ dazu zu befähigen, Krieg zu führen und den Kampf um das Dasein in seiner extremsten Form zu bestehen. Vor allem in Deutschland verschmolzen militärische Erkenntnisse mit völkischen und sozialdarwinistischen Ideologielementen zu einer neuen Staatstheorie, wie sie Carl Schmitt und Ernst Forsthoff Anfang der dreißiger Jahre auszuformen begannen.“ 83 Ebd., 61. Dort weiter: „Unter den historischen Bedingungen der Weimarer Republik hieß das: Beseitigung der parlamentarischen Demokratie, der Parteien, unabhängigen Gewerkschaften und Verbände, Kampf insbesondere gegen die Linksparteien und die marxistische Ideologie, Ausschaltung von Juden, Pazifisten, Freimaurern und international Gesinnten, sowie von allen, die sich dem rassisch-völkischen Normierungs- und Formierungsprozeß vermutlich widersetzen würden oder von ihm ausgeschlossen werden sollten, weil sie im Verdacht standen, die Homogenität und Geschlossenheit des ,Volkskörpers‘ zu beeinträchtigen.“ 84 Vgl. auch den bezeichnenden Titel der Monografie von Frei, Führerstaat. Zum Staatsverständnis vgl. außerdem die Ausführungen in Stolleis, Geschichte, Bd. 3, 316–341. 85 Vgl. Thamer, Verführung.
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Die Volksgemeinschaft „funktionierte“ ähnlich wie das Staatsverständnis durch Mechanismen von Inklusion und Exklusion, durch die eine diffuse Gesellschaftsordnung hergestellt werden sollte, eine „imagined community“ wenn man so will, mit nicht selten tödlichen Folgen für jene, die nicht dazu gehörten und kulminierend in den Massentötungen des Holocaust.86 Die Anziehungskraft der Volksgemeinschaftsidee wirke sicherlich auf den deutschen Protestantismus, da er in großen Teilen Gemeinschaftsvorstellungen vor der „Gesellschaft“ den Vorzug gegeben hat. Auf diese beiden Aspekte hat Michael Wildt hingewiesen: „Seit dem 19. Jahrhundert bildet ,Gemeinschaft‘ den Gegenbegriff zu ,Gesellschaft‘ – als Ausdruck für die Kritik an der rasanten Dynamisierung und Pluralisierung von Sozialverhältnissen im Zuge von Industrialisierung, Säkularisierung, Marktorientierung und politischem Liberalismus. ,Die Sehnsucht nach prämodernen Gemeinschaftsmodellen‘, hielt G rard Raulet 1993 fest, ,entspringt immer der Reaktion gegen eine als schlecht empfundene Gegenwart, so daß die eigentliche Realität der Gemeinschaft nicht in einer bestimmten vergangenen Epoche zu suchen ist, wie sehr man sich auch auf sie beruft, sondern in der gegenwärtigen Wirklichkeit, gegen welche sie ausgespielt wird.‘“87
Freilich gilt dies schon für die Zeit der Weimarer Republik, in der die Gemeinschaft Helmuth Plessner zufolge das „Idol dieses Zeitalters“88 gewesen sei. Die sich mit dem Gemeinschaftsgedanken verbindenden Hoffnungen und Wünsche hätten die Nationalsozialisten genutzt, um möglichst viele Menschen auf ihre Seite zu bringen. Auch dem Protestantismus war die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Ablehnung der modernen Gesellschaftsweise nicht fremd. Der Begriff funktionierte, ähnlich wie die Volkskirche, durch verschiedene Zuschreibungsmechanismen der Exklusion und Inklusion. Es wird im Folgenden also u. a. zu überprüfen sein, welche dieser Mechanismen die Semantik der Volkskirche übernommen hat, und von welchen diskursiven Vorgaben man sich distanzierte. Im Zwischenfazit wird darauf zurückzukommen sein. Die im vorherigen Kapitel referierten Aussagen zur pluralistischen sowie holistischen Verwendung des Volksbegriffs, die Relevanz organischer Gedankenexperimente sowie die Differenz von Gemeinschaft und 86 Vgl. Nolte, Ordnung, 187–207, vor allem 192: „Wenn das in vieler Hinsicht diffuse und zwiespältige nationalsozialistische Gemeinschaftsbild einen Kern, einen gemeinsamen Nenner hatte, dann ist er am ehesten in der Vorstellung der ,Volksgemeinschaft‘ zu suchen. Was man früher eher für eine simple Propagandaformel gehalten hat, ist in letzter Zeit wieder stärker beachtet und auch in seiner Wirkmächtigkeit auf die deutsche Gesellschaft der dreißiger Jahre ernst genommen worden: nicht so sehr im Sinne einer praktischen Realisierung dieser Utopie einer Gesellschaft jenseits von Klassenspaltung, Hierarchien und Zerrissenheiten, sondern eher im Hinblick auf den erfolgreichen ,Appeal‘ der Volksgemeinschaftsidee in weiten, nicht nur bürgerlichen Kreisen der Bevölkerung, die sich von dem zwanghaften Leiden an der Gesellschaft befreien wollte.“ 87 Wildt, Volksgemeinschaft, 103. Er zitiert hier Raulet, Modernität, 73. 88 Plessner, Grenzen, 28, zitiert nach Wild, Volksgemeinschaft, 103.
134 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Gesellschaft blieben auch in der Zeit des Nationalsozialismus von Bedeutung und verschärften sich zum Teil sogar noch.
3.2 Theologiegeschichtliche Entwicklungen im „Dritten Reich“ Der theologische Kern des Problems, um den sich die Auseinandersetzungen in den frühen Jahren des „Dritten Reiches“ drehten, war Hermann Fischer zufolge die „natürliche Theologie“. Hier entwickelten sich theologische Positionen fort, die in der Weimarer Republik entstanden waren: die Wort-Gottes-Theologie auf der einen und eine neulutherische Ordnungstheologie auf der anderen Seite.89 In beiden Strömungen findet sich eine Zuordnung von Kirche und Staat.90 Die damit verbundenen Implikationen sind unterschiedlich. Die BK insistierte auf die Reinheit der Lehre, gemäß CA VII, eingedenk des reformatorischen Schriftprinzips zur Bewertung theologischer „Innovationen“. Vermischungen von Kirche und Staat lehnte sie ab. Im Umfeld der DC war man hier in unterschiedlichen Schattierungen sehr viel offener. Das Volk wurde zu einem Kriterium für die theologische Urteilsfindung, da es als Ordnung Offenbarung sein konnte. In der Spielart der Volksnomostheologie, zu deren Vertretern neben Wilhelm Stapel auch bekannte Universitätstheologen wie Emanuel Hirsch, Friedrich Gogarten, Paul Althaus und Werner Elert gehörten, versuchte man, die Verbindung zwischen Kirche und Volk als möglichst eng und organisch gewachsen zu verstehen, sowie daraus Schlussfolgerungen für den Neubau der Kirche wie ihn die nationalsozialistische „Volkwerdung“ erforderlich mache, zu ziehen.91 Diese Analogie zwischen Volk- und Kirchwerdung, stieß, wie noch zu zeigen sein wird, auf nicht unerheblichen Widerspruch. Die völkische Theologie, mit der man sich spätestens 1933 auseinandersetzen musste, geht in ihren Wurzeln freilich schon weit in das 19. Jahrhundert zurück. Es scheint so, als sei sie dann aber vor allem in den späten 1920er Jahren auf breiter Fläche salonfähig geworden. Dies gilt cum grano salis für die evangelische Theologie.92 Zahlenmäßig und auch hinsichtlich ihres Einflusses sollten diese Gruppierungen jedoch nicht überbewertet werden. Allerdings nahmen die „Deutschen Christen“ viele Elemente der völkischen Bewegung in sich auf und können als ein Teil derselben angesehen werden; der Einfluss darf folglich auch keineswegs unterschätzt werden.93 Hermann Fischer hat bereits vor einigen Jahren die Vermutung geäußert, dass der theologische Streit während der Zeit des „Kirchenkampfes“, nicht 89 90 91 92 93
Vgl. Fischer, Theologie, 62–76. Vgl. von Scheliha, Ethik, 183. Vgl. Tilgner, Volksnomostheologie. Vgl. zeitgenössisch: Olimart, Begriff. Vgl. etwa Gerstner / Hufenreuter / Puschner, Protestantismus; Nanko, Spektrum. Vgl. Gailus, Diskurse; vgl. auch Hartung, Ideologie.
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allein von inneren Logiken der jeweiligen Ansätze geprägt worden sei, sondern dass die Argumentationen „insgeheim auch von politischen Grundannahmen und Urteilen geleitet sind.“94 Allerdings greifen Gegenüberstellungen, die politisch-weltanschauliche Dispositionen nur der einen oder der anderen „Seite“ zuschreiben wollen, sicherlich zu kurz.95 In der tatsächlichen, zeitgenössischen Rhetorik war für solche Schattierungen und Nuancierungen allerdings in der Regel kein Platz. Mit großer Entschiedenheit sprach man der jeweils anderen Gruppe das Recht ab, Kirche zu sein und stellte sich selbst als „wahre“ Kirche dar. Die Rolle, die die Volkskirche in diesen oft zu ähnlichen Teilen politisch wie theologisch motivierten Selbstbeschreibungsprozessen gespielt hat, gilt es im Folgenden ebenfalls nachzuvollziehen.96 Hinsichtlich der kirchlichen Presse waren es vor allem Neugründungen, in denen sich aufschlussreiche diskursive Entwicklungen abspielten. Die „Deutschen Christen“ veröffentlichten schon seit 1932 eine eigene Zeitung mit dem Titel „Evangelium im Dritten Reich“. Neben einer ganzen Reihe von regionalen Zeitungen, auch von einzelnen Abspaltungen der Gruppe ist hier zudem die Zeitschrift „Deutsche Theologie“ zu nennen, die seit 1934 erschien und in der beispielsweise Emanuel Hirsch häufiger Beiträge veröffentlichte.97 Die Freiheit der Presse wurde seit 1935 immer weiter stark eingeschränkt. Die Jungreformatorische Bewegung und in Zusammenhang mit ihr die im Entstehen begriffene BK zogen durch die Gründung der „Junge Kirche“ und der „Evangelische Theologie“ nach. Viele ältere, zum Teil liberale Zeitschriften wie das „Protestantenblatt“ oder auch die „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung“ erschienen weiterhin, obschon sie oft mit sinkenden Verkaufs- und Abonnentenzahlen zu kämpfen hatten.98
3.3 Spannungsfeld I: Kirche und Staat Lässt sich der Volkskirchenbegriff im Kontext einer Diktatur mit totalem Anspruch auf Staat und Gesellschaft überhaupt noch verwenden, ohne in Gefahr zu geraten, sich als Kirche damit in ein Konkurrenzverhältnis zu diesem Staat zu manövrieren? Wie gestalten sich die Selbstverortungen zu einem solchen Regime, das ja in ausdrücklicher Gegnerschaft zu Demokratie und Pluralismus stand und dadurch für viele konservative Protestanten zunächst ausgesprochen attraktiv war? 94 Fischer, Theologie, 71. So auch wiederaufgegriffen von von Scheliha, Ethik, 175: „Die Politisierung der Theologie in der Staatskrise“. 95 Vgl. Jacobs, Kirche. 96 Vgl. die spannende Frage von Mehlhausen, Kirchenkampf. 97 Zur zuerst genannten vgl. Hering, Evangelium. 98 Vgl. zu den Hintergründen Rosenstock, Presse, 123–133.
136 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus 3.3.1 Herausforderungen durch den neuen Staat Im Kirchenwahlkampf im Juli 1933 bediente sich Joachim Hossenfelder99, „Führer“ der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, schon früh und in aller Entschiedenheit der Volkskirchensemantik. Bei dem Ausgang der Wahlen gehe es seiner Ansicht nach um die Volkskirche. Diese sei „etwas Heiliges und ganz Großes“.100 Sie bestehe dort „wo Gottes heiliger Geist ein ganzes Volk bis in die Tiefen durchwaltet. Volkskirche ist da, wo Gottes Geist nicht nur hier und da einen Einzelnen ergriffen hat, sondern wo ein Strom geheiligten Gebens und Nehmens alle einzelnen zu einem lebenden Körper verbindet. Volkskirche ist ein Stück Reich Gottes auf Erden, in dem Wahrheit und Liebe die Macht haben.“101
Ohne Wahrheit und Liebe sei ein Gemeinschaftsleben nicht möglich.102 Ein Volk, das leben wolle, könne die Kirche nicht entbehren. Deswegen sei die Kirche „die Brunnenstube des Volkes, aus der es Kraft um Kraft nimmt und schöpft sie doch nicht leer, denn Gottes Wort, das in der Kirche lebt, ist nicht auszuschöpfen. Volk ohne Kirche – ein sterbender Körper. Volk in der Kirche – unaufhörlich erneuertes Jung- und Starksein. Wenn die erneuernde Kraft des Gotteswortes unserem Volke zuteil werden soll, so müssen Volk und Kirche eins sein in einer wirklichen Volkskirche.“103
Was in diesem Abschnitt schnell deutlich wird, ist die Bezugnahme auf die Körpermetaphorik. Die Gesundheit des Volkskörpers – dieses Motiv klingt hier deutlich an – hängt für Hossenfelder von der engen Beziehung zwischen Kirche und Volk ab. Den breiten Graben, der sich zwischen den beiden Sphären gebildet habe, gelte es zu schließen. Aufschlussreich ist dann die von Hossenfelder durchgeführte Parallelisierung der nationalsozialistischen Bewegung und einem in der Kirche zu verortenden Äquivalent. Während dort „die breiten Volksmassen sich entschlossen dem Marsch in den Untergang entgegengeworfen haben“, so scharten sich „auch auf dem Boden der evangelischen Kirche die Volksgenossen Glied um Glied zusammen, um der Zerstörung der letzten Fundamente entschlossen entgegenzutreten.“104 Die Glaubensbewegung der Deutschen Christen habe im ganzen Reich ihre Pio99 Eine wissenschaftliche Biografie Hossenfelders steht noch immer aus, vgl. aber Vehse, Leben; Selbmann, Politik. 100 Hossenfelder, Volkskirche, 1. Zum Kontext vgl. Baranowski, 1933; Gailus, Machtergreifung. 101 Hossenfelder, Volkskirche, 1. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Beide Zitate ebd.
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niere, „die die Ufer des kulturellen Lebens neu befestigen und die Fenster der Seele freimachen, damit der Blick auf die Ewigkeit wieder frei wird.“105 In der Verwirklichung der DEK, also der alle 28 Landeskirchen zusammenfassenden, einheitlichen Reichskirche, sieht er das Verheißungsvolle, das ein Eingreifen des Staates in kirchliche Belange mit sich bringe. „Für den Unterschied zwischen der vergangenen und der neuen Zeit unserer evangelischen Kirche ist folgendes von typischer Bedeutung: bis dahin hatte man sich innerhalb der Kirche mit vielen gewiß sehr ernsthaften Gedanken um die Vereinigung der deutschen Landeskirchen gemüht, aber ohne nennenswerten Erfolg. […] Warum? Das Volk stand nicht dahinter. Nun aber ist die Lage eine völlig andere geworden: typischer Ausdruck dafür ist es, daß jetzt die Staatsgewalt als Treuhänderin der Volkssehnsucht sich der Sache annahm […] und binnen Kurzem stand die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche da.“106
Hossenfelder machte aus seiner Neubewertung des Staates keinen Hehl.107 Mit der Selbsteinschätzung des Staates sei deutlich geworden, dass die Zeit der Volkskirche nun gekommen sei.108 Aus dem Nebeneinander von Kirche und Staat könne nun wieder ein einheitlicher Körper, also eine Volkskirche werden. In seinem abschließenden Wahlaufruf bringt Hossenfelder die Volkskirche nochmals argumentativ in Anschlag: „Wenn am 23. Juli das ganze evangelische Volk sein Ja zu diesem neuen Abschnitt deutscher Geschichte gesprochen haben wird, so wird der Garten deutscher Seele ganz neu erblühen, wird das Evangelium mit ganz neuer Kraft lebenszeugend und lebenumformend wirksam werden können, wird echte Volkskirche da sein, Volk und Kirche zum Heil.“109
Auf Hossenfelders Wahlaufruf erfolgte in der „Jungen Kirche“ eine direkte Replik, die von dem zu dieser Zeit als Rechtsanwalt in Hamburg tätigen [Hermann?] Ehlers verfasst worden war. Ehlers konzediert, dass es zwar durchaus richtig sei, dass sich zwischen Kirche und Volk ein Graben gebildet habe. Allerdings sei entschieden der Darstellung zu widersprechen, dass „an dieser Kluft […] einseitig und ausschließlich die Kirche die Schuld trage“110, weil das Volk bei der Kirche keine Hilfe gefunden habe. Die Rückkehr weiter Teile der Volksmassen in die Kirche sei aber kein Verdienst der „Deutschen Christen“, sondern habe schon früher begonnen.111 Der Forderung nach 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Vgl. z. B. Henneberger, Ruf, später auch in: Kirche und Volkstum in Niedersachsen erschienen, sowie Henneberger, Gemeinschaft. 108 Vgl. Hossenfelder, Volkskirche: „In dieser Mitwirkung der Staatsführung hat sich die neue Zeit der Kirche deutlich angekündigt: daß Volk und Kirche wieder eins werden wollen […].“ 109 Ebd. 110 Ehlers, Volkskirche. 111 Vgl. ebd., 126. Ehlers zweifelt auch die theologische Argumentation Hossenfelders als frag-
138 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus einem organischen Zusammenwachsen von Kirche und Staat, für das die geeinte Volkskirche den Rahmen bieten könne, widerspricht Ehlers aber nicht, was wohl auch mit dem zumindest ambivalenten Staatsverständnis der Jungreformatorischen Bewegung zu diesem Zeitpunkt zusammenhängen mag.112 Bei diesem ersten Schlagabtausch sollte es freilich nicht bleiben, er zeigt aber, dass spätestens im Zuge der kirchlichen Neuordnungsversuche und im Kontext der protestantischen Euphorie, mit der man den Nationalsozialismus begrüßte, die Diskussionen um die Volkskirche wieder an Fahrt aufnahmen, wobei insbesondere die sich auch institutionell anbahnende Reichskirche Bedeutung erlangte.113 Dabei wurde besonders über die Frage nach der möglichen oder womöglich nötigen Einheit von Evangelium und Volkstum gestritten.114 In eine ähnliche Stoßrichtung wie der Beitrag Hossenfelders zielten einige Veröffentlichungen des Bonner Theologieprofessors Emil Pfennigsdorf, der den Weg der Kirche ins Volk imaginieren wollte. Er verbindet dies mit einer geradezu feindselige Abrechnung mit der Weimarer Zeit.115 Wie andere nationale Erschütterungen ziehe auch die gegenwärtige „eine Zeit der religiösen Vertiefung und Erweckung nach sich“.116 Die Kirche habe sich dabei ganz neu dem Volk zugewandt, was zugleich einer Wendung des Staates zur Kirche entspreche.117 Man verdanke dem neuen Staat nicht nur die Möglichkeit, frei wirken zu können, sondern vielmehr auch die „eigene Existenz als Volkskirche“118. Denn wäre die „Bolschewisierung“ des deutschen Volkes wie bisher weitergegangen, hätte man eine Revolution nach russischem Muster erleben müssen, die die Kirche zerschlagen hätte. In der vorhergegangenen Zeit sei es nicht gelungen, eine Verbindung zwischen Kirche und Volk herzustellen, die
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würdig an. Eine spätere, womöglich sich direkt auf den Hossenfelderschen Vorwurf beziehende Replik ist Wurm, Auftrag, 7–9. Vgl. auch o. A., Nationalsynode. Vgl. Neumann, Bewegung, 88–107. Vgl. u. a. Langenfass, Kirchenkrise, 55: „Der Wille zur Reichskirche brach wie von selber durch. Er fand willige Ohren und empfängliche Herzen.“ Ferner Diestel, Reichskirche; Hahn, Werden; Strathmann, Kirchenkrise; eine tendenziöse Zusammenfassung von Quellen liefert Franke, Christentum. So der Titel einer Schrift von Gogarten, Einheit. Pfennigsdorf, Weg, 404: „Die Götzen der verwichenen Epoche sind zertrümmert. Der Intellektualismus mit seiner Verherrlichung der Wissenschaft, d. h. des zergliedernden Denkens, ist als Feind des Lebens und aller organischen Entfaltung, der individualistische, der Demokratie zugrunde liegende Freiheitsgedanke als Trugbild der wirklichen Freiheit, die immer nur in bestimmten Bindungen möglich ist, erkannt worden.“ Ebd., 401. Vgl. ebd., 402. „Und nun haben wir einen Staat, der mit seinem kraftvollen Willen zur Ordnung, Sauberkeit und Gerechtigkeit in die Korruption einer zersetzenden Kultur wie ein reinigendes Gewitter hineingebrochen ist und damit Hemmungen ausgeschaltet hat, die dem Dienst der Kirche schier unüberwindliche Schwierigkeiten bereiteten.“ (ebd.). Ebd.
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für die Volkskirche nötig sei. Die Zeit sei noch nicht reif gewesen.119 Der „nationale Aufbruch“ habe aber für die Kirche eine neue Lage geschaffen. Denn die Stellung zur Kirche sei für die „nationale Bewegung“ selbst eine Schicksalsfrage.120 Dies stellt natürlich eine Abrechnung mit den Weimarer Jahren dar, in denen seiner Ansicht nach keine richtige Volkskirchlichkeit entstehen konnte. „Die Kirche aber, die Volkskirche sein will, kann ihre Aufgaben nur dann erfüllen, wenn sie das Beste, was sie hat, ihre Botschaft, in die drängende Unruhe des nationalen Kampfes hineinträgt, ihm seine letzten Ziele zeigt, um seine Lauterkeit ringt und ihn mit dem Geist tiefster Verantwortung zu erfüllen sucht.“121
Die evangelische Kirche habe es sehr viel leichter als die katholische, da diese „Hand in Hand mit der Sozialdemokratie vierzehn Jahre hindurch einem Internationalismus gehuldigt“ habe und sich „das Gesetz des Handelns von außen diktieren ließ“122. Der Bonner Theologe spielt hierbei auf die zahlreichen Koalitionen zwischen Zentrumspartei und SPD an und wärmt gleichzeitig ultramontanistische Vorurteile über den politischen Katholizismus auf.123 Es ist nicht überraschend, dass Pfennigsdorf, zumindest bis zum „Sportpalast-Skandal“, die DC unterstützte, gerade weil sie eine größtmögliche Nähe zum nationalsozialistischen Staat suchten.124 Die mit dieser Nähe zum Staat verbundenen Intentionen wurden verschiedentlich von Vertretern der DC deutlich artikuliert. Man ging von dem Eindruck aus, dass der neue Staat die Kirche wolle.125 Der geschichtliche Augenblick, in dem man sich nun befinde, stehe auch für die Kirchen im Zeichen der Gleichschaltung: „Das kann und darf nichts anderes heißen, als daß auch sie den Liberalismus mit Stumpf und Stiel auszurotten hat.“126 Diese Gleichschaltung, die von den Verfassern in Anführungszeichen gesetzt wird, sei für beide Seiten, also für die Kirche wie für den Staat, unerlässlich. Es wurde 119 Vgl. ebd., 404. Die Frage nach dem Wesen der Kirche als Volkskirche ist seiner Ansicht nach lebenswichtig, vgl. Pfennigsdorf, Bekenntnis, 241. Die von Pfennigsdorf herausgegebene Zeitschrift „Der Geisteskampf der Gegenwart“ stellte sich schon recht früh auf die Seite der DC und öffnete ihr Organ auch für Beiträge aus diesem Lager, vgl. etwa Schairer, Theologie. Ähnlich hinsichtlich der Bekämpfung des Materialismus argumentiert auch Fassmann, Kirche. 120 Pfennigsdorf, Aufbruch, 161. Vgl. auch die Diskussion bei Schott, Revolution und die Berichte von Schubring, Kirche. 121 Pfennigsdorf, Aufbruch, 161. 122 Beide Zitate ebd. 123 Im weiteren Verlauf des Artikels findet sich dann der Hinweis, dass die Kirche der „deutschen Freiheitsbewegung“ ihre Rettung zu verdanken habe, da sonst der Bolschewismus ihr ein Ende bereitet hätte, vgl. besonders ebd., 163 f. 124 Vgl. Pfennigsdorf, Christen, 321. 125 Vgl. Pohlmann, Leitsätze, 1: „Die Stunde der Nation ist auch ihre Stunde. Denn der neue Staat will die Kirche.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 126 Ebd. In religiös-sozialistischen Kreisen wurde allerdings schon früh vor diesen Tendenzen gewarnt, vgl. Oswald, Gleichschaltung.
140 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus offensiv der Schulterschluss mit den neuen Machthabern gesucht, der auch auf der institutionellen Ebene durch eine Anpassung an den nationalsozialistischen Staat nachvollzogen werden sollte. Im Zentrum der Kritik stand dabei der insgesamt in die Defensive geratene kirchliche Liberalismus, den man für das vermeintliche Chaos der Weimarer Jahre verantwortlich machen wollte. Die unter „Ausscheidung des Liberalismus gleichgeschaltete Deutsche Evangelische Kirche“127 müsse ihrem Wesen entsprechend eine Bekenntniskirche sein. Zugleich aber „muß und wird sie Volkskirche sein.“128 Diese Kirche könne von ihrem Aufbau her nicht demokratisch-parlamentarisch organisiert sein, sondern in ihr müsse sich vielmehr das Führerprinzip einer „in Gott ruhenden Autorität“ niederschlagen.129 So wie der Staat ein Bekenntnis habe, das „Volk“ heiße, dürfe auch die Kirche von ihrem Bekenntnis, nämlich „,Gott‘ bzw. ,Christus‘“ nicht ablassen.130 Streng genommen ist der doch recht allgemeine Bezug auf Gott oder Christus nicht im eigentlichen Verständnis des Wortes ein Bekenntnis.131 Ähnlich aber wie die Initiative von Otto Schmitz und Karl Heim nach dem Ersten Weltkrieg, das Bekenntnis der Volkskirche mit „Jesus ist Herr“ möglichst offen und integrativ zu gestalten, sollte der allgemeine Bezug möglichst Wenigen den Weg in die neue „nichtliberalistische Kirche“ versperren. Sie sei in demselben Maße Volkskirche, wie sie Bekenntniskirche sei. Dafür gebe es einen doppelten Grund. Zum einen könne ein Volk nie ohne Kirche sein.132 Zum anderen aber könne auch eine Kirche niemals ohne Volk sein. Die entscheidende Frage sei die, wie die Elemente der Bekenntnis- und der Volkskirche miteinander in Einklang zu bringen seien. Die Lösung liege in der Idee der Gemeinschaft: „Ist Kirche Gemeinschaft, was sie ihrer Stiftung nach sein soll, dann ist damit wesensmäßig gegeben, daß in dieser Gemeinschaft die einze[l]nen Glieder nicht gleich und gleichberechtigt sein können […]. Damit ist die Unterscheidung zwischen Führer und Geführte gegeben. Unter diesem Gesichtspunkt ist Kirche Bekenntniskirche und Volkskirche in einem.“133
Die Mitgliedschaft zur Volkskirche definiere sich nicht allein dadurch, dass man auf dem Boden des Bekenntnisses stehe, sondern sie bestehe darin, „daß man den Willen zur Kirche und zur Führung durch die Kirche beweist und dabei bemüht sei, mehr und mehr in diese Gemeinschaft hineinzuwachsen.“134 Abschließend betonen die Verfasser nochmals, dass man eine autoritäre Was damit gemeint ist wird Pohlmann, Leitsätze, 2–6 erläutert. Das Zitat ebd., 6. Ebd., 6 [Hervorhebung im Original, BB]. Vgl. Stoll, Idee. Zitat Pohlmann, Leitsätze, 6. Ebd., 7. Vgl. H rle, Bekenntnis sowie einige Beiträge in Lohse / Pesch, Bekenntnis. Vgl. Pohlmann, Leitsätze, 7: „Das Bekenntnis des Staates zum Volk schließt in sich ein das Bekenntnis des Volkes zu Gott. 133 Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 134 Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB].
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Kirchenverfassung fordere. Die damit verbundene Anpassung an die neue Staatsform sei aber keine Konzession an den Zeitgeist, „sondern sie erwächst aus dem Wesen der Kirche heraus, die zugleich Bekenntnis- und Volkskirche ist, erwächst aus dem articulus stantis et cadentis ecclesiae, d. h. aus der Rechtfertigung.“135 Schon in den wohl im Mai 1932 vor allem von Hossenfelder verfassten Richtlinien der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ waren die Grundelemente der deutschchristlichen Überzeugungen enthalten. Auch hier konstatierte man, dass sich der Parlamentarismus im Staat wie in der Kirche überlebt habe. Kirchenpolitische Parteien seien demnach abzulehnen, weil sie dem „hohen Ziel […], ein Kirchenvolk zu werden“136 entgegenstünden. Deswegen fordere man eine „lebendige Volkskirche, die Ausdruck aller Glaubenskräfte unseres Volkes ist.“137 Dabei stehe man auf dem Boden des „positiven Christentums“ und das heiße: „Wir bekennen uns zu einem bejahenden artgemäßen Christusglauben, wie er deutschem Luthergeist und heldischer Frömmigkeit entspricht.“138 Die Richtlinien münden in der Forderung nach einer „evangelischen Reichskirche, die unter Wahrung konfessionellen Friedens die Kräfte unseres reformatorischen Glaubens zum Besten des deutschen Volkes entwickeln wird.“139 Die Forderung nach der Gründung einer Reichskirche, die ja unter staatlichem Druck schon bald erfolgte, wurde von den DC mit besonderem Nachdruck vertreten, wie ein ebenfalls auf der ersten Reichstagung formulierter Beschluss deutlich machte: „Gott hat mich als Deutschen geschaffen. Deutschtum ist Geschenk Gottes. Gott will, daß ich für mein Deutschtum kämpfe. […] Der Gläubige hat einem Staate gegenüber, der die Mächte der Finsternis fördert, das Recht der Revolution; dieses Recht hat er auch einer Kirchenbehörde gegenüber, die die nationale Revolution nicht vorbehaltlos anerkennt. […] Das Ziel der Glaubensbewegung ,Deutsche Christen‘ ist eine Evangelische Deutsche Reichskirche. Der Staat Adolf Hitlers ruft nach der Kirche, die Kirche hat den Ruf zu hören.“140
Anfang Mai 1933 verfasste man dann schließlich „Grundsätze“, nach denen die evangelische Reichskirche im deutschchristlichen Sinne zu gestalten sei. 135 Ebd., 8 [Hervorhebung im Original, BB]. Wie die Rechtfertigung mit der Behauptung zu harmonisieren ist, dass die Anpassung der kirchlichen Verfassung an die neue Staatsform aus dem Wesen der Kirche entspringt, wird von den Verfassern nicht weiter ausgeführt. Deutlich ist zu diesem Zeitpunkt aber schon, dass die so imaginierte Kirche eine genuin lutherische Prägung bekommen sollte. 136 Die Richtlinien der Glaubensbewegung Deutsche Christen. In: o. A., Volk, 61; auch abgedruckt in: Schmidt, Bekenntnisse, Bd. 1, 135 f und in Hermle / Thierfelder, Herausgefordert, 47 f. 137 Richtlinien, 61. 138 Ebd. 139 Ebd., 62. 140 „Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ fordert in einer Erklärung die Schaffung einer Reichskirche und die vorbehaltlose Anerkennung der nationalen Erhebung (5. April 1933), abgedruckt in: Hermle / Thierfelder, Herausgefordert, 93.
142 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Hierin wird die lutherische Prägung derselben gefordert; die reformierten Gemeinden würden unter Gewährleistung ihrer Eigenart in dieses Gebilde eingegliedert werden. Man wolle weder eine Staatskirche, noch eine Kirche, die Staat im Staate sei, „sondern eine evangelische Reichskirche, die die Hoheit des nationalsozialistischen Staates aus Glauben anerkennt und das Evangelium im Dritten Reich verkündigt.“141 Ein Positionspapier der EvangelischLutherischen Landeskirche des Freistaates Sachsen, das unter der Ägide des deutschchristlichen Landesbischofs Friedrich Coch publiziert worden war und damals recht breit diskutiert wurde, führt diese Programmatik weiter aus. In diesem Kontext spielt der Begriff der Volkskirche eine prominente Rolle. Zunächst konstatiert das Papier, die DEK dürfe im neuen Staat kein Winkeldasein führen, wie christentumsfeindliche Gruppierungen dies forderten. Sie könne aber auch nicht „in neutraler Haltung gegenüber dem Staate verharren, wie das die Kreise wollen, die dem nationalsozialistischen Staat mit Mißtrauen begegnen. Sie kann nicht über dem Staate sein, wie es katholischer Haltung entspricht. Sie kann auch nicht Kirche unter dem Staate sein, wie es im alten Staatschristentum war. Nur als Kirche im Staate ist sie Volkskirche. So werden Luthers ursprüngliche Gedanken über Staat und Kirche Wirklichkeit.“142
Hier wird mit dem Begriff der Volkskirche semantisch ein Vertrauen in den neuen Staat zum Ausdruck gebracht.143 Deswegen könnten Kirchenführer auch nur solche Personen sein, die das Vertrauen des Staates genießen. Eine Entsprechung findet diese Überzeugung auch in den Ausführungen über die Mitgliedschaft in dieser Volkskirche. Sie bekenne sich zu „Blut und Rasse“, da auch das Volk eine „Bluts- und Wesensgemeinschaft“ sei. Deswegen könne auch nur jemand Mitglied der Volkskirche sein, der „nach dem Rechte des Staates Volksgenosse ist.“144 Wie für andere staatliche Beamte gelte auch für Amtsträger in der Kirche der „Arierparagraph“.145 Nicht zuletzt müsse auch der Volkskirche daran gelegen sein, „die Rasse rein und gesund zu halten“, sei
141 Hossenfelder, Reichskirche. 142 O. A., Thesen, 134 f. Den Thesen vorangestellt ist der Hinweis, dass die Thesen 1 bis 5, die sich mit dem Verhältnis von Kirche und Staat auseinandersetzen, „vom Punkt 24 Absatz 2 des Programms der NSDAP“ ausgingen, „nach dem die Partei und damit auch der Staat als solche den Standpunkt eines positiven Christentums vertreten.“ (ebd., 134). Vgl. auch Schubring, Lage, 9–12. 143 Vgl. o. A., Thesen, 135: „Als Volkskirche steht sie im Vertrauen zu diesem Staate.“ 144 Beide Zitate ebd. 145 Dies wird allerdings wie folgt eingeschränkt: „Volkskirche bedeutet nicht Ausschluß von Christen anderer Rasse von Wort und Sakrament und von der großen christlichen Glaubensgemeinschaft. Der Christ anderer Rasse ist nicht ein Christ minderen Ranges, sondern ein Christ anderer Art. So macht die Volkskirche Ernst damit, daß die christliche Kirche noch nicht in der Vollendung göttlicher Ewigkeit lebt, sondern an die Ordnungen gebunden ist, die Gott diesem Leben gegeben hat. (ebd.).
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dies doch Gottes Gebot.146 Gott habe den Menschen in die Lebensordnungen von Familie, Volk und Staat gestellt. Deswegen erkenne die Volkskirche „im Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates den Ruf Gottes zu Familie, Volk und Staat.“147 Gegen diese Anbiederungsversuche, die den Nationalsozialisten zwar entgegenkamen, aber die in Verkennung der wirklichen Lage der Kirchen geschehen waren, regte sich freilich auch vielfach Widerspruch. Zuerst ist hier wohl das sog. „Altonaer Bekenntnis“ zu nennen, das maßgeblich von Hans Asmussen148 formuliert worden ist und sich ebenfalls zum Verhältnis von Kirche und Staat äußert.149 Dieses Bekenntnis war eine Reaktion auf den „Altonaer Blutsonntag“, in dessen Verlauf bei einer „Werbeveranstaltung“ der SA am 17. Juli 1932 18 Personen erschossen und viele weitere verwundet worden waren.150 In der Vorrede zu den fünf dort formulierten Artikeln heißt es, dass die offenbar werdenden Schäden des öffentlichen Lebens dazu führten, dass man nun nach der Kirche frage. Es werden dann drei Gruppen genannt, die nach ihr rufen würden. Zunächst die, die vor allem materielle Hilfe von der Kirche erwarteten. Dann diejenigen, die „ihre Bundesgenossenschaft im politischen Kampf“ suchten, sowie schließlich jene, die von „ihr Weihe und Rechtfertigung“ ihres politischen Handelns erwarteten. Keinen dieser Ansprüche könne die Kirche jedoch befriedigen, da ihre Aufgabe vielmehr darin bestehe „die Gewissen zu schärfen und das Evangelium zu verkündigen.“151 Das Wort Gottes sei das Korrektiv, an welchem der Staat, die Parteien, aber auch der Einzelne erkennen könne, wo sie „die von Gott gewollte und gesetzte Ordnung durchbrochen habe.“152 Auch wenn man die Not nicht beheben könne, so könne man dem Volk doch zumindest den Dienst erweisen, dass man ihm das Wort Gottes von der rechten Ordnung sage. Im Artikel 1 formuliert das „Bekenntnis“ eine Definition von Kirche, die auf das verkündigte Gotteswort fokussiert und andere Bestimmungsfaktoren für das Wesen der Kirche ablehnt.153 Wer sich unter einer Kirche vor allem eine Organisation vorstelle, habe nicht recht verstanden, was eine Kirche sei. Trotzdem sei der organisatorische Aspekt einer Kirche auch nicht wertlos, müsse allerdings immer weiter verbessert werden.
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Ebd. Vgl. hierzu auch Hossenfelder, Kampf, 15–17. O. A., Thesen, 135. Vgl. Lehmann, Hans Asmussen. Vgl. jetzt J rgensen, Bekenntnis. Vgl. Schulze, Weimar, 372–391. Das Wort und Bekenntnis Altonaer Pastoren in der Not und Verwirrung des öffentlichen Lebens. In: Schmidt, Bekenntnisse, Bd. 1, 19–25, alle Zitate auf 19. Vgl. auch den Bericht von Asmussen, Bekenntnis. 152 Ebd., 20. 153 Ebd.: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß die Kirche die durch Gottes jetzt geschehendes Wort aufgerufene Schar ist, in welcher Christus wahrhaftig gegenwärtig ist. […] Darum kann die Kirche weder vom Staat, noch von einer Partei, noch von der Wissenschaft, noch von irgendeiner Weltanschauung in ihrem Wesen bestimmt und getragen werden.“
144 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus „Sie muß der Art des Volkes und den Forderungen der Zeit gemäß gestaltet werden. Von der Verkündigung darf dabei nichts preisgegeben werden. Wir scheiden uns von Allen, welche die Kirche auf eine bestimmte Schicht des Volkes beschränken wollen. Denn die Kirche ist für alle da, und ihr Wort richtet sich an alle Schichten und Parteien.“154
Diese so definierte Kirche wird also von den Altonaer Pastoren in ein anderes Verhältnis zum Staat gesetzt, als es die Vertreter der DC propagierten. Der Staat müsse als eine Schöpfung Gottes verstanden werden. Grundsätzlich schulde der Christ der Obrigkeit Gehorsam. Der Gehorsam habe allerdings seine Grenzen dort, wo der Staat entgegen der Maxime, „der Stadt Bestes“ zu suchen (Jeremia 29, 7), handele. In diesem Fall müsse jeder Einzelne entscheiden, ob man den Menschen mehr gehorchen solle als Gott.155 Die Vergöttlichung des Staates wird explizit verworfen, denn wenn sich eine Staatsgewalt zum Herrn über das Gewissen aufwerfe, werde sie antichristlich. Auf das Bekenntnis der Altonaer Pastoren nahm auch der dem Umfeld Barths zugehörige Theologe Georg Merz Bezug. Das Gebot der Stunde bestehe nicht in der Etablierung einer gleichgeschalteten Staatskirche. Die Autorität des Staates müsse vielmehr „an dem Worte Gottes, an dem freien Bekenntnis des sich Gott hingebenden Menschen“156 ihre Grenze finden. Das freie Bekenntnis des Glaubens müsse ferner davor bewahrt werden, eine „der staatlichen Pflicht gleichgeordnete Bürgertugend“157 zu werden. Allerdings habe die „bekennende Kirche […] durch ihre Verkündigung, durch ihre Unterweisung, durch ihre Seelsorge klar und hell und deutlich herauszustellen, daß der Staat eine Ordnung Gottes ist, daß der Obrigkeit zu gehorchen christliche Pflicht ist, daß das Volkstum zu den von Gott dem Schöpfer gegebenen Gaben gehört. Je ernster und unerbittlicher die Kirche an diesem Punkte lehrt, umso größer wird ihre Bedeutung auch im Staate sein.“158
Weiter stellt Merz heraus, dass politische Ereignisse der Kirche keine neuen Inhalte im Hinblick auf ihre Verkündigung geben könnten. Sie wären aber dazu in der Lage, wie sich nun zeige, der Kirche zu einer neuen Gestalt zu verhelfen. Die letzte Rede des Reichskanzlers gebe Anlass zur Hoffnung, dass Kirche und Staat „im neuen Reich ohne Kampf zu leben vermögen.“159 Leopold Cordier, ein reformierter Theologe und Religionspädagoge, äußerte sich 154 Ebd., 21. Und dort weiter: „Wer die Kirche in ihrer Verkündigung dem Einfluß einer politischen Macht unterstellen will, macht damit die politische Macht zu einer dem Christentum feindlichen Religion.“ 155 Vgl. ebd., 23. Vgl. auch Hasselmann, Weg; Hasselmann / Asmussen, Reichskirche. Gegen die Reichskirche votieret Fleisch, Reichskirche. 156 Merz, Kirche, 176 f. Vgl. für eine weitere positive Bezugnahme Albertz, Aufbruch, 130. 157 Merz, Kirche, 178. 158 Ebd., 178 f. 159 Ebd., 179.
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ähnlich in seinen Überlegungen zur homiletischen Relevanz des Verhältnisses von Volk und Staat. Zwar sei die evangelische Predigt „Verkündigung der Kirche in der Zeit […]“160 und könne auch nur „Predigt an den deutschen Menschen in der konkreten Situation des deutschen Volkes sein.“161 Dabei sei die folgende Einschränkung zu machen: „Die Predigt von Volk und Vaterland steht und fällt nicht mit der Frage der Verknüpfung mit dem Gegenwartserleben und Zeitbewußtsein, so wichtig diese Verknüpfung auch ist. Sie steht und fällt mit ihrem Charakter als Christuspredigt. Sie ist auch heute nur dann Predigt im Geist der Reformation, wenn wir nicht nur von innerweltlichen Erlebnissen und Bezügen, nicht nur von natürlichen Ordnungen, nicht nur von ethischer Neuorientierung wissen […], sondern in erster Linie von der Ausrichtung auf Christus und sein Reich.“162
Noch deutlicher artikuliert Hans Asmussen selbst diese Überzeugung einige Zeit nach der Veröffentlichung des Altonaer Bekenntnisses. Eine Kirche nämlich, die ein staatliches Propagandamittel werde, könne nicht mehr die Heimat eines Christen sein. „Die Kirche ist nicht mehr als der Staat. Ihre Schätze, wo sie noch solche hat, ihre Liegenschaften mag der Staat nehmen. Sie gehören dem Volk, wenn die Not es fordert. Aber die freie Predigt kann der Staat nur zu seinem eigenen Schaden einengen.“163
Trotzdem rückt auch er nicht von der Treue und Gehorsamspflicht gegenüber der staatlichen Obrigkeit ab. In ordnungstheologischen Kreisen wurde auf die nötige Eingrenzung gegenüber der neuen staatlichen Macht hingewiesen. Heinz-Dietrich Wendland164 deutete einerseits auf die Gefahr hin, die „der allmächtige und ,totale‘ d. h. allumspannende Staat, der alles in sich aufsaugt“165 für die Kirche bedeuten könne, wenn der Staat im alten „heidnischen“ Sinne über sie herrschen wolle. Andererseits und eng damit verbunden bestehe die Gefahr, dass der Staat sich nun selbst „als die letzte, höchste und allbestimmende Macht ausgäbe […].“166 Gegenüber diesen Gefahren müssten die Kirchen gegebenenfalls Stellung beziehen, was der positiven Bewertung der „nationalen Revolution“ bei Wendland zumindest zu diesem Zeitpunkt kein Abbruch tut.167 Einen etwas anderen Umgang mit der Volkskirchensemantik findet sich in 160 161 162 163 164 165 166 167
Cordier, Volk, 73. Ebd., 74. Ebd., 92. Asmussen, Christ. Vgl. Graf, Wendland. Wendland, Wandlung, 73. Vgl. auch Wendland, Staat. Wendland, Wandlung, 74. Vgl. vor allem ebd.: „Die Umwandlung des Staates, die sich heute wie ein elementarer Vorgang vollzieht, ist etwas Großes und Notwendiges.“
146 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus liberalen Kreisen. Wilhelm Schubring beispielsweise zitiert das Altonaer Bekenntnis mit der Aufforderung, dort nachzulesen, was es gegen „den Traum von dem kommenden irdischen Weltreich der Gerechtigkeit, des Friedens und der allgemeinen Wohlfahrt in allen seinen Abarten“168 zu sagen habe. Freikirche, Volkskirche, Juristenkirche und andere mehr, gehören seiner Ansicht nach zu den hier genannten „Abarten“. „Die Kirche soll allen das Evangelium verkündigen. Damit die Leute es hören und aufnehmen – sagen die einen – muß die Kirche […] ihnen so weit entgegenkommen, daß die Menschen willig werden zum Hören; sie muß auf ihre Art eingehen, ihr Interesse wecken, sie mitreden und mitarbeiten lassen. Das alles ist Psychologie, also menschliche Betrachtungs- und Handlungsweise – sagen die anderen –, das widerstreitet dem evangelischen Grundsatz, daß der Glaube Gottes Geschenk ist; die Kirche hat das Evangelium, das alte Evangelium zu verkündigen – ob die Menschen es aufnehmen, das ist Gottes Sache.“169
Mit dem ersten Standpunkt könne man nun das volkskirchliche Ideal beschrieben sehen, während der zweite eine Theologenkirche beschreibe. Schubring bekennt sich entschieden zur Volkskirche und will zweierlei zur Verteidigung derselben sagen. Zum einen würde die Beachtung der Psychologie den Glauben nicht automatisch zu einer menschlichen Angelegenheit machen. Zum anderen bedeute eine volkskirchliche Verfassung keineswegs Parlamentarismus. In den DC, die voraussichtlich Gemeindevertretungen abschaffen und einen „Führer“ an der Spitze der Kirche installieren wollten, sieht er jedenfalls eine große Gefahr.170 Einige Spalten weiter unten forderte man im Protestantenblatt, der führenden liberalen Kirchenzeitung, „eine große deutsche evangelische Volkskirche“171, die aus der gegenwärtigen sozialen und nationalen Revolution hervorgehen müsse. Diese müsse aber noch mehr als bloß eine Reichskirche sein, nämlich eine „deutsche Kirche, die möglichst alle evangelischen Deutschen auch außerhalb des Reichs umfaßt.“172 Das Verhältnis zum neuen Staat sei durch Gebet und Dank für das „erneuerte Vaterland“ zu bestimmen; wohingegen die Parteipolitik, der Streit um politische Einzelfragen, aber auch jede Stellungnahme gegen den Staat „aus der Kirche aufs Strengste verbannt werden muß.“173 Die Volkskirche müsse ferner als ein Mittel dienen, eine weitere Zersplitterung zu vermeiden.174 Die Gegner einer die Freiheit der Kirche bedrohenden Allianz zwischen den 168 169 170 171
Schubring, Reform, 184. Ebd. Vgl. ebd., z. B. 201. Schmied-Kowarzik, Erneuerung, 277. Schmied-Kowarzik war im Mai 1933 der NSDAP beigetreten. Vgl. auch Schmied-Kowarzik, Glaubensbekenntnis. 172 Schmied-Kowarzik, Erneuerung, 277. 173 Ebd. 174 Vgl. ebd., 278.
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beiden Sphären Kirche und Staat, die sich zunächst im Rahmen der Jungreformatorischen Bewegung, des Pfarrernotbundes sowie später der im Entstehen begriffenen Bekennenden Kirchen organisierten, sammelten sich ab Mitte des Jahres 1933 vor allem in der Zeitschrift „Junge Kirche“. Nachdem das Verfassungswerk der DEK verabschiedet worden war, veröffentlichten Walter Künneth175 und Martin Niemöller dort eine „Kundgebung“. Der Jungreformatorischen Bewegung gehe es „um die deutsche Kirche, die gerade als Volkskirche wirkliche Kirche des Evangeliums sein und immer wahrhafte Gemeinschaft der Gläubigen, von der das Neue Testament zeugt und welche die Augsburgische Konfession bekennt“176 werden müsse. Zu den von ihr vertretenen Forderungen gehört u. a., dass die gegenwärtige Gültigkeit der Bekenntnisse anzuerkennen sei und sie als Maßstab für die Verkündigung ernstgenommen werden müssten. „Die Bekenntnisse der Kirche sollen nicht als tote Museumstücke verehrt werden, sondern als klassische Zeugnisse des reformatorischen Glaubens für Lehre und Leben der gegenwärtigen Gemeinde richtungsweisend sein. Eine der dringendsten Aufgaben dieser Vergegenwärtigung der Bekenntnisse besteht darin, die grundlegenden Gedanken des Evangeliums über den Staat und über das Verhältnis von Staat, Volk und Kirche lebendig und wirksam zu machen.“177
Der Staat werde nur dann recht verstanden, so die Kundgebung weiter, wenn man ihn als eine Schöpfung Gottes und aus Gottes Gesetz heraus verstehe. Nur eine Kirche, die von beidem zu reden wisse, „kann unserem Volke den Dienst leisten, den sie ihm schuldig ist.“178 Das Verhältnis zum Staat schlägt sich sodann noch in zwei weiteren Forderungen nieder. Zum einen dürfe nämlich, so der Punkt Fünf, die Mitgliedschaft in kirchlichen Körperschaften nicht von politischen oder kirchenpolitischen Gesichtspunkten bestimmt werden.179 Zum anderen wird eine Entpolitisierung des Pfarrerstandes gefordert, damit der Wortverkündigung und dem Seelsorgedienst in den Gemeinden nichts im Wege stehe.180 175 Zu Künneth vgl. Pçhlmann, Kampf, 17–25; Piper, Rosenberg, 219–221; Piper, Nationalsozialismus; Kummer, Ethik; zum Kontext vgl. auch Iber, Glaube; zeitgenössisch Putz, Nationalsozialismus. 176 K nneth / Niemçller, Kundgebung, 45 [Hervorhebung im Original fett, BB]. Dort heißt es weiter: „Allein aus diesem Kampf für die Reinheit und Freiheit der Kirche erwuchs unser Widerstand gegen die Übergriffe der Deutschen Christen in Preußen, und um des Evangeliums willen muß unsere Auseinandersetzung mit allem, was das Wesen der Kirche bedroht, weiter gehen. (ebd.). [Hervorhebungen im Original fett, BB]. Vgl. im Übrigen auch K nneth, Denkschrift. Im Münsteraner Exemplar der „Junge Kirche“ (Signatur Z 2530) des Jahrgangs 1 von 1933 ist die sechsseitige Denkschrift vor dem ersten Heft des Jahrgangs zu finden. 177 K nneth / Niemçller, Kundgebung, 45 f [Hervorhebungen im Original fett, BB]. 178 Ebd., 46. 179 Vgl. ebd. 180 Vgl. ebd., 47. Ähnlich auch der Wahlaufruf o. A., Kirche, 1933, 59: „Politische und kirchenpolitische Reaktion dürfen in ihr [der Kirche, BB] keinen Raum haben.“
148 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus In der Befürwortung eines starken Staates, von dem die Kirche nur profitieren könne, standen viele Vertreter der Jungreformatorischen Bewegung den „Deutschen Christen“ in nur wenig nach. So betonte der Berliner Pfarrer Ernst Gürtler in einem Flugblatt, das auch in der Zeitschrift der Bewegung veröffentlicht wurde, dass es einen starken Staat geben solle und die Kirche ihm nicht dreinzureden habe.181 Eine Macht- oder Staatskirche wird abgelehnt, da Gürtler mit gleicher Emphase, mit der er die Notwendigkeit eines starken Staates unterstreicht, die Freiheit der Kirche fordert, da eine unfreie Kirche dem Volke nichts nütze. Der Vorwurf, „Pastorenkirche“ zu sein respektive die Ablehnung dieses Status, findet sich ebenfalls in dem Aufsatz von Gürtler, wie auch an anderer Stelle.182 Diesem Phänomen sei es nämlich zuzuschreiben, wie etwa der zur DC gehörige NSDAP-Landrat Gottfried Krummacher herausstellte, dass der Dienst am Volke in der Kirche bislang eine Nebensache gewesen sei, weil die evangelische Pfarrerschaft ihren Schwerpunkt in der Theologie gesehen habe.183 „Wer sich aber gegen diese große Wandlung, die die Kirche aus eigener Kraft nicht durchzuführen vermochte, sträubt, wer in den Eingriffen des Staates nicht auch ein Gericht Gottes an der Ohnmacht der Pharisäer und Schriftgelehrten sieht und darum glaubt, sich eine papierne Märtyrerkrone aufsetzen zu müssen, indem er Protest erhebt, der soll wissen, daß er sich dann für den Liberalismus und Marxismus, für die Zersplitterung und Ohnmacht der evangelischen Kirche einsetzt, daß er wirbt für eine volksferne Pastorenkirche […].“184
Für das zu dieser Zeit in der „Jungen Kirche“ vorherrschende Verständnis der Volkskirche ist die Replik auf eine Anfrage eines Laien aufschlussreich, die mit Antworten versehen in der Zeitschrift erschien. Die erste Frage erkundigt sich danach, ob die Jungreformatorische Bewegung „auf dem Boden einer bekenntnistreuen Freiwilligkeitskirche bzw. Freikirche“ stehe, oder „sie eine bekenntnistreue Volkskirche für gottgewollt […]“ halte.185 Darauf wurde entgegnet, dass die geistliche Heimat der Bewegung und ihr Entstehungsraum die Volkskirche sei. Innerhalb derselben kämpfe man dafür, dass diese sich zu ihrer Grundlage, die in Gottes Wort und den Bekenntnissen der Reformation liege, wieder wende und von hier aus erneuert werde. Man habe sich nicht davon überzeugen können, dass in den Freikirchen beide Aspekte weniger gebrochen seien als in der Volkskirche. So lange man die Volkskirche habe, 181 Vgl. G rtler, Kampf, 18. 182 Vgl. ebd., 19: „Sorge ein lebendiges Kirchenvolk endlich dafür, daß die vielbeschriene ,Pastorenkirche‘ verschwindet.“ [Hervorhebung im Original fett, BB]. 183 Vgl. Krummacher, Staat, 52 f. Vgl. auch die Replik von von Bodelschwingh, Antwort. 184 Krummacher, Staat, 54. 185 O. A., Volkskirche, 110. Da die Antwort von der Schriftleitung der „Jungen Kirche“ formuliert worden ist, kommt als Verfasser insbesondere Fritz Söhlmann in Frage. Zu diesem vgl. Retter, Protest, 38–67 sowie Retter, Revolution.
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wolle man Gottes Wort gemäß den Bekenntnissen verkündigen und „dazu dienen, daß die Volkskirche mehr als bisher zu der Kirche des ganzen evangelischen deutschen Volkes werde.“186 Zweitens fragt der Laie, warum man die Volkskirche denn für biblisch halte, sei diese doch dauernd in Gefahr „zu einer Kulturorganisation des Staates zu werden“ und dieser Gefahr auch schon des Öfteren erlegen.187 Die Schriftleitung der „Jungen Kirche“ konzediert, dass es eine biblische Begründung der Volkskirche ebenso wenig geben könne, wie eine der Kindertaufe. „Und doch halten wir an dieser in der Volkskirche ebenso, wie es in zahlreichen Freiwilligkeitskirchen geschieht, fest, weil Gott die Kinder durch ihre Geburt in das christliche Haus hineingestellt hat und ihnen all seine Gnade beweisen will. Nicht ob eine Kirche Volkskirche oder Freiwilligkeitskirche ist, entscheidet darüber, wie weit sie in Gefahr ist oder der Gefahr unterliegt, zu einer Kulturorganisation des Staates zu werden.“188
Die Kirche müsse weiterhin „auch vom Evangelium her zu den kulturellen Dingen des Staates Gottes Willen als das höchste Gesetz deutlich“189 artikulieren und zur Wirksamkeit bringen. Man sollte angesichts dieser Ausführungen nicht davon ausgehen, dass bis zur Barmer Bekenntnissynode diejenigen Christen, die sich am Diskurs über die Volkskirche beteiligten, im Hinblick auf das Staat-Kirche-Verhältnis eine besondere Distanz zum Staat befürwortet hätten. Worin sich die Vertreter der Jungreformatorischen Bewegung einig sind, ist, dass die Kirche in ihrer Verkündigung frei bleiben müsse, was auch tendenziell Kritik am Staat miteinschließen kann.190 In der Barmer Theologischen Erklärung gelang den dort versammelten Teilen des deutschen Protestantismus zum ersten Mal seit der Confessio Augustana, also nach knapp 400 Jahren, eine Definition des Wesens der Kirche, die für die Diskussionen über die Volkskirche weit über das eigentliche historische Ereignis hinaus Bedeutung erlangen sollte. Die Rezeptionsgeschichte nach 1945 verdeckte aber zumindest teilweise die Tatsache, dass die hier formulierten Ansichten keineswegs zu den dominanten Interpretamenten dieser Zeit gehörten.191 Prominente Theologen wie Paul Althaus schrieben unberührt den Diskurs fort, der sich in der unmittelbaren Euphorie nach der nationalsozialistischen Machtergreifung gezeigt hatte. Althaus konzedierte emphatisch:
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O. A., Volkskirche, 110. Zitat ebd. Ebd. Ebd., 111. Ganz anders konnotiert ist der Freiheitsbegriff bei Hirsch, Freiheit, 1933a; Hirsch, Freiheit, 1933b. 191 Vgl. Schneider, Barmen.
150 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus „Staat und Kirche sind auf nahe Verbundenheit und auf Gemeinschaft der Arbeit am Volke angewiesen, sofern und solange der Staat das Christentum als eine geschichtliche Grundlage des Volkstums anerkennt und das Volksleben der Einwirkung der christlichen Gedanken und Kräfte offenhalten will; sofern die Kirche sich das Volk als Ganzes anvertraut weiß, vollends sofern und solange die Kirche ,Volks-Kirche‘ sein kann, d. h. den ganzen Nachwuchs des Volkes tauft und grundsätzlich als Verband und Ordnung das ganze Volk umfasst, im Dienste ihrer letzten Aufgabe, der wirksamen Verkündigung des Evangeliums an alle. Bei diesem Ziele und in dieser Gestalt als ,Volks-Kirche‘ gehört die Kirche bei aller Selbstständigkeit mit dem Staate in enger Verbundenheit zusammen. Beide, Staat und Kirche, bedürfen einander.“192
Auffällig ist jedoch, dass hier die Volkskirche prominent als Kirche eines gesamten Volkes verstanden wird, was, wenn man andere Positionen des Verfassers dieser Zeilen hinzu zieht, die evangelischen Christen mit jüdischen Vorfahren nicht notwendigerweise inkludiert.193 Die Vorstellung der Volkskirche als Kirche des gesamten Volkses vertrat prominent Rudolf Hermann, der wie dieser auch von der „Lutherrenaissance“ wesentliche Prägungen erhielt194 und diesem in der Zuordnung der Kompetenzen im Wesentlichen folgt. Zugleich hat er aber ein genuin anderes Verständnis davon, was die Volkskirche sei: „Im Lande der reformatorischen Kampftat Luthers gibt es eine Mehrheit von Volkskirchen und darf es sie geben. Trotzdem sind wir ein einiges deutsches Volk. Was solcher Einigkeit hierüber an Glätte abgehen mag, ist ihr an Tiefe zugewachsen. Aber die Entmischung von Politik und Konfession, von Politik und christlichem Glauben, liegt wiederum auf dem Wege eines ,positiven Christentums‘ und christlicher Volkskirchen.“195
Hier findet sich nun die Vorstellung einer Mehrzahl von Volkskirchen, ohne dass völlig klar wird, über welche Konfessionen diese sich erstrecken sollen. Auch betont Hermann eher die Trennung der beiden Sphären, selbst wenn sie aufeinander bezogen bleiben.196 Seine Behauptung, dass eine solche Trennung 192 Althaus, Staatsverständnis, 8 f. Als einen weiteren Punkt für das rechte Verhältnis von Kirche und Staat, auch im „totalen Staat“, nennt Althaus die Freiheit der Kirche, die zum einen in der Freiheit der Verkündigung bestehe und zum anderen darin, die Ordnung der Kirche gemäß ihrem Wesen und ihrem Auftrag zu gestalten. Konventionell bleibt Althaus‘ Volkskirchenbegriff darin, dass er damit eine Mitverantwortung der Kirchen für die Sittlichkeit des Volkes durch die Erziehung fordert. 193 Althaus war am Gutachten der Erlanger Fakultät über den „Arierparagraphen“ beteiligt; gemeinsam mit Werner Elert und anderen Fakultätskollegen sprach er sich für die Einführung aus. Vgl. Ericksen, Theologen, 155 f. 194 Zum Staats- und Obrigkeitsverständnis dieser Gruppe vgl. Assel, Aufbruch, 202–211. 195 Hermann, Kirche, 1934a, 113. Vgl. auch Hermann, Kirche, 1934b, 655; Hermann, Wesen. 196 Vgl. Hermann, Kirche, 1934a, 113: „Der nationalsozialistische Staat stellt sich laut Programm der NSDAP auf den Boden des positiven Christentums. […] Die Kirche wird dabei dem Staat
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aber auf dem Wege der christlichen Volkskirche liege, kann nur als eine Agenda für die Zukunft gemeint sein, da bislang vielmehr der Wunsch überwog, auch auf den staatlichen Bereich gemäß einem volkskirchlichen Selbstverständnis Einfluss zu nehmen.197 Diese der BK nahestehende Position wurde aber ihrerseits vielfach kritisiert. Der Jurist Hans Gerber198, betont in einem Aufsatz, der sich mit der Kirchenreform der jüngeren Vergangenheit beschäftigt, dass der Nationalsozialismus „die Kirche zur Volkskirche machen“ könne.199 Seiner Ansicht nach könne es sich bei der Ausdeutung dieses Begriffs nur „um die allgemeine Grundbewertung des Religiösen im Zusammenhange der Weltwirklichkeit handeln.“200 Und weiter: „Die deutsche Revolution will, indem sie bestrebt ist, aus den mannigfachen evangelischen Landeskirchen in Deutschland eine deutsche Volkskirche zu machen, unser Volk aus christlichem Gewissen heraus anrufen, sich klar zu sein, daß dem Gebote Gottes nicht genügt ist, wenn deutsche Menschen als Einzelne, wie es der geschichtliche Zufall fügt, sich zu christlichen Gemeinden vereinigen und darin Kirche bilden, sondern daß ihnen auch aufgegeben ist, als ein Volk eine christliche Gemeinde zu sein und sich in ihrer Schicksalsverbundenheit vor Gott zu stellen. Ein Gott, ein Glaube, ein Volk, eine Kirche.“201
In Abwandlung einer Stelle aus dem Epheser-Brief202 ergibt sich für Gerber aus der Existenz eines deutschen Volkes die Notwendigkeit, nur noch eine einzige Volkskirche zu haben.203 Wiederum zeigt sich, dass die Maßgaben des nationalsozialistischen Staates auch zur Gestaltung kirchlicher Ordnung hinzugezogen werden, mit zum Teil recht unterschiedlichen Ergebnissen im Einzelnen. Der Begriff der Volkskirche scheint sich dabei in besonders guter Weise für solche Vorhaben zu eignen, nicht zuletzt durch die leicht herstellbaren Anklänge zu „völkischen“ Semantiken. Eine Vielzahl von deutschchristlichen Amtsträgern und Bischöfen setzte sich die Etablierung einer Volkskirche zum Ziel. Franz Tügel gab nach seiner
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aus allen Kräften helfen. Religionsunterricht, Volksmission, öffentliche Moral, Einfluß auf Sitten und Bräuche, auf Presse und Rundfunk, liegen auf diesem Wege.“ Hermann hatte ein durchaus ambivalentes Verhältnis zur Bekennenden Kirche, die er ab 1935 aus kirchen- und wissenschaftspolitischen Gründen kritisierte. Vgl. Assel, Hermann. Vgl. Stolleis, Geschichte, Bd. 3, 285 ff. Aus diesem Zeitraum vgl. auch Gerber, Idee. Gerber war ein Vertreter der NS-Rechtslehre. Gerber, Kirche, 62. Ebd. Ebd., 62 f. Eph 4, 5: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“ Vgl. Gerber, Kirche, 63: „Die deutsche Revolution, von der Idee des einheitlichen deutschen Volkes getragen, nimmt Anstoß an der differenzierten Verfassung des Deutschen Reiches als eines Bundesstaates; um wieviel mehr an der weit stärker differenzierten Verfassung des deutschen kirchlichen Lebens!“
152 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Ernennung zum Hamburger Landesbischof die Parole aus: „Wir wollen Volkskirche bauen“.204 Diese sei man nämlich dem nationalsozialistischem Staat schuldig. Die Zeit der Vorrangigkeit des Bekenntnisses oder von Lehrfragen überhaupt scheint für ihn vorbei zu sein, wenn er konstatiert: „Wir wollen in leidenschaftlichem Mühen und in leidenschaftlicher Liebe versuchen, die Volkskirche der evangelischen Glaubensgemeinschaft zu schaffen. Diese Volkskirche im Dritten Reich ist keine Kirche der neuen Lehre oder des neuen Bekenntnisses, sondern eine Kirche des neuen Willens – eine Kirche des neuen Geistes – eine Kirche mit einem ganz neuen Lebenswillen als zuvor.“205
Von dieser Volkskirche „im Staate Adolf Hitlers“ verlangt er eine neue Lebenshaltung, die diese dem Staat gegenüber zeigen müsse, in „unbedingte[r] treue[r] Kameradschaft.“206 Seine Rede schließt mit einer Drohung an alle „Feinde“, die deutlich macht, welche Implikationen diese enge Allianz zwischen Volkskirche und „Volksstaat“ ebenfalls, zumindest aus Sicht vieler deutschchristlicher Persönlichkeiten mit sich brachte: „Ich kenne nur einen Feind, auch in der Kirche, und das ist nicht, der theologisch oder kirchlich anders denkt, der ist nicht mein Feind, der ist mein Freund, der morgen überwunden wird – ich kenne nur einen Feind, und das ist der, der diesen Staat Adolf Hitlers nicht will. Mit solchen Feinden werde ich sehr kurz fertig werden: das bin ich nicht nur meiner Kirche schuldig, sondern meinem Staat, meinem Volk und meinem wunderbaren Führer.“207
Tügel lässt im Grunde auch innerhalb der Kirche keinen Raum für Dialog oder für alternative Vorstellungen und Ansätze. Auf diese Weise versuchte man nicht zuletzt auch, innerkirchliche Gegner unter Druck zu setzen.208 Erneut wird der nationalsozialistische Staat mit seinen – manchmal ja auch nur antizipierten, weil gar nicht weiter ausformulierten – „Glaubenssätzen“ zum Maßstab für das Wesen der Kirche gemacht. In seinen Liebes- und Treuebekundungen zu Hitler ist Tügel zwar ein Extrem-, aber keinesfalls ein Einzelfall im kirchlichen Kontext.209 Der DC-Landesbischof der Evangelisch-Lutheri204 T gel, Volkskirche. Vgl. auch den deutschchristlichen Bericht anläßlich seiner Ernennung: o. A., Synode. 205 T gel, Volkskirche, 71. 206 Ebd.: „Es genügt nicht, daß sie gelegentlich Spaziergänge oder Sonntagsausflüge ins Dritte Reich unternimmt, es genügt aber, daß sie zu jeder Stunde und Minute auf dem Wege des Dritten Reiches mit seinem Führer und mit der großen deutschen Volksbewegung Hand in Hand geht.“ 207 Ebd., 73. 208 Vgl. Grundmann, Lage. 209 Vgl. auch die abschließenden Segensworte Tügel, Volkskirche, 73: „Gott der Herr segne Volk und Vaterland, er segne unseren heißgeliebten Führer, den Kanzler der Nation, er segne das ehrwürdige Haupt der Nation, er segne auch unsere Vaterstadt, unseren Reichsstatthalter, unseren Regierenden Bürgermeister und unseren Senat, er segne unsere Bewegung, er segne unsere Kirche, er segne Sie und mich in seiner unendlichen Gnade. Eine Losung haben wir, und
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schen Landeskirche Sachsens, Friedrich Coch, meinte Volkskirche „kann in unseren Tagen nur aus dem Nationalsozialismus heraus geschaffen werden“210, seien durch diesen doch überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen worden. Das entscheidende Verdienst Hitlers bestehe darin, dass er „die Bedeutung der Rassenfrage erkannt und in eindringlicher Weise dem Volke auch klargemacht“211 habe. Dafür könne die Kirche nur dankbar sein. Der Einklang zwischen den Ergebnissen der Rassenforschung mit dem christlichen Glauben sei nicht irgendwie mühsam herbeizuführen, denn seiner Ansicht nach sei er bereits „in der Tiefe vorhanden.“212 Gott habe nicht nur die Einzelwesen, sondern „auch die Völker mit ihrer Eigenart und mit ihrer Volksseele geschaffen“, weshalb die Rassenmischung nicht nur eine Gefahr für das Volk darstelle, sondern eine „Sünde wider das Blut“ sowie gegen „Gottes Schöpfungsordnung“ sei.213 Es ist dann auch nicht weiter überraschend, dass Coch die Einführung des „Arierparagraphen“ befürwortet. Allerdings habe die Kirche zur Lösung der „Judenfrage“, wenn sie denn wirklich Volkskirche sein wolle, das Ihrige beizutragen.214 Den Vorwurf, dass man sich hierbei einfach nationalsozialistischen Forderungen füge, weist er entschieden zurück. Dafür bezieht er sich explizit auf die „28 Thesen der sächsischen Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche“.215 Friedrich Delekat216, ein Religionspädagoge der sich der Bekennenden Kirche zurechnete, hält den Begriff der Volkskirche hingegen für „unbiblisch“, weshalb er für „Aufgabe und Arbeit der Kirche nicht richtungsgebend sein“ könne.217 Die kleine Schrift, in der sich diese Zeilen finden, will den „wirklichen Aufbau“ der DEK darstellen; wobei die Ablehnung des Volkskirchenbegriffs einen zentralen Punkt der Schrift darstellt. Das Hauptkriterium sei die mangelnde biblische Begründbarkeit des Begriffs. Beide mit ihm verbundenen Bedeutungsmöglichkeiten seien seiner Ansicht nach abzulehnen:
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die heißt: Mit Luther und Adolf Hitler für Kirche und Volk, daß beide ein Herz und eine Seele werden.“ Solche Bezugnahmen auf Luther finden sich auch besonders häufig bei Wolf MeyerErlach, z. B. in Meyer-Erlach, Kirche. Vgl. für die Hintergründe Kaufmann, Lutherflorilegien. Coch, Rasse, 2. Ebd., 3. Ebd. Alle Zitate ebd. Vgl. auch Dinter, Sünde; hierzu Roelcke, Roman. Coch führt allerdings nicht weiter aus, worin im Einzelnen dieser Beitrag bestehen könne. Zunächst aber wohl durch die Akzeptanz „rassischer“ Unterschiede auch im Raum der Kirche. Vgl. über Coch auch aus deutschchristlicher Sicht: Seck, Jahr, 9: „Vom ersten Tage seiner Amtsführung an hat Landesbischof Coch sich bekannt zu der Volkskirche des Dritten Reiches.“ Vgl. auch aus dem sächsischen Kontext die hochgradig tendenziöse Materialsammlung von Poppe, Kampf. Vgl. Simojoki, Erziehungsverantwortung. Delekat, Aufbau, beide Zitate 7. Delekat reagiert mit dieser Schrift direkt auf die „28 Thesen der sächsischen Landeskirche“.
154 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus „Entweder ist mit ihm gemeint, daß die Wesenseigentümlichkeiten eines bestimmten Volkes eine dogmatische Lehrquelle für die nähere Bestimmung des Begriffs der Kirche Jesu Christi sein sollen. […] Oder der Begriff der Volkskirche hat die Bedeutung, daß das liberalistische Ideal eines demokratischen Volksstaates auf die Kirche übertragen wird.“218
Die Benutzung des ersten Verwendungszusammenhangs wird abgelehnt mit dem Hinweis auf die Nähe zur „jüdischen Lehre, daß die Zugehörigkeit zum jüdischen Volke und die Übernahme der äußeren Zeichen desselben (Beschneidung) eine Bedingung für die Teilhabe an den göttlichen Verheißungen sei.“219 Eine solche Lehre habe aber Jesus Christus selbst bestritten. Auch den anderen Bedeutungsaspekt widerlegt er mit einem zumindest tendenziell antijudaistischen Argument, wenn er behauptet, dass Jesus diesem Ideal widersprochen habe mit dem Satz, dass zwar viele berufen seien, aber nur wenige auserwählt, „wie auch die Tatsache, daß es selbst ihm nicht gelungen ist, das ganze jüdische Volk zu gewinnen.“220 „Eine kirchliche Propaganda, die, von diesem falschen Ideal der Volkskirche geleitet, die christliche Verkündigung den jeweiligen Volksbedürfnissen und -neigungen angleicht, bringt sich in die Gefahr, die Perle der christlichen Wahrheit zu veruntreuen. Dem deutschen Volke dient die Kirche am besten, wenn sie ihm das Wort Jesu entgegenhält, das er zu den ungläubigen Juden gesagt hat: ,Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht auf, der hat schon seinen Richter; das Wort welches ich geredet habe, das wird ihn richten am jüngsten Tage.“221
Letztlich sei auch das Verbot, zwischen unterschiedlichen „Rassen“ eine Ehe einzugehen, „eine im nachexilischen Judentum herrschend gewordene Lehre.“ Die dringlichste Aufgabe bestehe in der „Reinerhaltung“ ihrer Botschaft, nicht aber in der „Reinerhaltung“ der Rasse. Sorge man sich aber um Ersteres, dann sorge die Kirche indirekt aber auch für Letzteres. Allerdings, auch dies macht er am Ende seiner Schrift deutlich, seien Gottes Verheißungen im Gegensatz zu den Behauptungen der sächsischen „28 Thesen“ nicht an Rasse und Volkstum gebunden.222 Unabhängig davon, ob der hier auftretende Antijudaismus nur eine strategische Rolle gespielt hat, um die Positionen der DC als „jüdische Lehre“ und damit als Irrlehre zu diskreditieren, zeigt dies doch, wie weit verbreitet dieses Phänomen in unterschiedlichen Schattierungen über die Grenzen kirchenpolitischer Fraktionen hinweg gewesen ist.223 Christliche Verkündigung und politische Existenz gerieten in ein Spannungsverhältnis zueinander. Der Nationalsozialismus pendelte nämlich zwischen „politischer 218 219 220 221 222 223
Ebd., 7 f. Ebd. Ebd., 8. Vgl. Lindemann, Antijudaismus. Delekat, Aufbau, 8. Vgl. ebd., 11. Vgl. auch die Monografie von Delekat, Kirche Vgl. z. B. Gerlach, Zeugen.
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Ordnung und politischer Religion.“224 Auch wenn er seinem Ursprung nach Gestaltung und Ordnung innerhalb der Grenzen des Politischen sein wolle, mehrten sich die Zeichen für eine Radikalisierung zur politischen Religion.225 Davor zu warnen sei ein Teil des Dienstes der Kirche am Staat, so der Lausitzer Pfarrer Günter Jacob226, denn der Prediger „ist der Träger der christlichen Verkündigung, die einen letzten Warnruf vor der politischen Religion in sich schließt und allein die politische Ordnung als sich selbst bescheidende weltliche Daseinsgestaltung allererst möglich macht.“227 Vor diesem Diskussionszusammenhang sind die Aussagen der Barmer Theologischen Erklärung zu sehen. Interessanterweise beruft man sich in einer Einleitung zu den Thesen auf die Verfassung der DEK, in deren Artikeln 1 und 2,1 festgehalten worden war: „Art. 1: Die unantastbare Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist. Hierdurch werden die Vollmachten, derer die Kirche für ihre Sendung bedarf, bestimmt und begrenzt. Art. 2,1: Die Deutsche Evangelische Kirche gliedert sich in Kirchen (Landeskirchen).“228
Man erklärt daraufhin zunächst, dass die zur Bekenntnissynode vereinigten Vertreter „lutherischer, reformierter und unierter Kirchen, freier Synoden, Kirchentage und Gemeindekreise“ gemeinsam auf dem Boden der DEK als einem „Bund[] der deutschen Bekenntniskirchen“ stünden.229 Die Gemeinsamkeit dieses Bekenntnisses und auch die Einheit der DEK seien aber durch die DC und das von ihnen ausgeübte Kirchenregiment „aufs schwerste gefährdet“230. In der ersten These231 bekennt man sich zu Jesus Christus als dem Jacob, Verkündigung, 318. Vgl. ebd., dort mit einem Verweis auf Carl Schmitts Schrift „Der Begriff des Politischen“. Vgl. H ttenhoff, Günter Jacob. Jacob, Verkündigung, 319. O. A., Erklärung, 114. Vgl. jetzt die vorzügliche Edition der Erklärung und zahlreicher verwandter Dokumente in: Beintker / H ttenhoff / Zocher, Barth. 229 Zitate o. A., Erklärung, 114. 230 Ebd. Vgl. auch die Begründung ebd.: „Sie ist bedroht durch die in dem ersten Jahr des Bestehens der Deutschen Evangelischen Kirche mehr und mehr sichtbar gewordene Lehr- und Handlungsweise der herrschenden Kirchenpartei, der Deutschen Christen, und des von ihr getragenen Kirchenregiments. Diese Bedrohung besteht darin, daß die theologische Voraussetzung, in der die Deutsche Evangelische Kirche vereinigt ist, sowohl seitens der Führer und Sprecher der Deutschen Christen als auch seitens des Kirchenregiments dauernd und grundsätzlich durch fremde Voraussetzung durchkreuzt und unwirksam gemacht wird.“ 231 Ebd., 115: „,Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.‘ (Joh. 14, 6.). ,Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden.‘ (Joh. 10, 1.9) Jesus Christus, wie er 224 225 226 227 228
156 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus einzigen geoffenbarten Wort Gottes. Man lehnt also die weit verbreitete Überzeugung ab, dass es noch andere Offenbarungsquellen, aus denen sich christliche Verkündigung schöpfen könnte, geben dürfe.232 Damit positioniert man sich also auch gegen solche Vorstellungen, die in der durch die Nationalsozialisten angestoßenen „Volkwerdung“ Implikationen für eine Volkskirchenwerdung ableiten wollen, allerdings nicht gegen den nationalsozialistischen Staat als solchen.233 Die zweite These234 scheint sich gegen die Gleichwertigkeit von Nationalsozialismus und christlichem Glauben zu wenden. Es wird versucht, die Relationen zwischen Kirche und Welt wieder in das rechte Verhältnis zu setzen, mit dem Hinweis auf die „gottlosen Bindungen dieser Welt“ artikuliert sich auch recht deutliche Kritik. Aus politischen Überzeugungen das Wesen und die äußere Gestalt der Kirche zu beeinflussen oder zu bestimmen zu versuchen ist im Sinne der zweiten These zu verwerfen. Der Sache nach wird hier wohl die Lehre von der „Königsherrschaft Christi“ präfiguriert, die ihre stärkste Wirkung aber erst nach dem Ende des „Dritten Reichs“ entfalten sollte.235 Wie deutlich man der Überzeugung gewesen ist, dass auch im weltlichen Regiment Jesus Christus herrsche, bedürfte noch einer genaueren Untersuchung. Wie nötig aber eine Klärung des als orthodox
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uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Diese Grundsatzentscheidung liegt m. E. doch recht klar auf der Linie Barths, vgl. Barth, Dogmatik, I, 1, § 11: „Der eine Gott offenbart sich nach der Schrift als der Versöhner, d. h. als der Herr mitten in unserer Feindschaft gegen ihn. Er ist als solcher der zu uns gekommene Sohn oder das uns gesagte Wort Gottes, weil er als der Sohn oder das Wort Gottes des Vaters zuvor in sich selber ist.“ [ebd., 419]. Vgl. auch ebd., § 8: „Gottes Wort ist Gott selbst in seiner Offenbarung. Denn Gott offenbart sich als der Herr und das bedeutet nach der Schrift für den Begriff der Offenbarung, daß Gott selbst in unzerstörter Einheit, aber auch in unzerstörter Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein ist.“ [Ebd., 311] Vgl. hierzu ausführlich Kreck, Grundentscheidungen, 96–119. Vgl. Asmussen, Vortrag, 17: „Wenn wir dagegen protestieren, dann protestieren wir nicht als Volksglieder gegen die jüngste Geschichte des Staates, nicht als Staatsbürger gegen den neuen Staat, nicht als Untertanen gegen die Obrigkeit, sondern wir erheben Protest gegen dieselbe Erscheinung, die seit mehr als 200 Jahren die Verwüstung der Kirche schon langsam vorbereitet hat.“ O. A., Erklärung, 115: „,Jesus Christus ist uns gemacht zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.‘ (1. Kor. 1, 30.). Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unsrer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gäbe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Vgl. von Scheliha, Ethik, 179 f.
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zu verstehende Kirchenverständnisses war, zeigt die Tatsache, dass die dritte These insgesamt der Ekklesiologie gewidmet ist: „,Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist.‘ (Eph. 4, 15.16) Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte. Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugung überlassen.“236
Die Barmer Theologische Erklärung bestimmt zunächst positiv, im Grunde zum ersten Mal seit der Confessio Augustana in Bekenntnisform, was die evangelische Kirche sei. Deutlich im Vordergrund stehen hierbei die Definitionselemente, die das siebte Kapitel der Confessio Augustana beschrieben hatte.237 Jeglichem kirchlichen Triumphalismus wird durch die Selbstbezeichnung als „Kirche der begnadigten Sünder“ eine Absage erteilt. Vermutlich wird hier mit dem Gedanken der Bruderschaft auch „das egalitäre Prinzip der Reformationszeit beschworen.“238 Diese Gemeinde von Brüdern ist Gottes Eigentum, so die These und darf sich nicht anderen Herren unterordnen. Dies wird in der Verwerfungsthese deutlich, die man vor dem Hintergrund der volkskirchlichen Umbauarbeiten deutschchristlicher Provenienz sehen muss. Dies verdeutlicht im Übrigen auch die vierte These239, die den Gedanken der brüderlichen Gemeinde konkretisiert und gleichzeitig das Führerprinzip im Raum der Kirche ablehnt.240 Damit wird ein weiterer Eckpfeiler der deutschchristlichen Volkskirchenkonzeption verworfen. Während die Vertreter der DC ja Staat und Kirche möglichst eng zusammenzudenken versuchten und 236 O. A., Erklärung, 116. [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 237 BSLK, Bd. 1, 59 f: „Item docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.” 238 Von Scheliha, Ethik, 181. 239 O. A., Erklärung, 116: „,Ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten herrschen und die Oberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch; sondern so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener.‘ (Matt. 20, 25.26) Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 240 Vgl. auch von Scheliha, Ethik, 181.
158 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus hieraus auch Schlussfolgerungen für die Ordnung der Kirche ableiteten, nimmt die BK in der fünften These doch eine recht deutliche Trennung dieser beiden Sphären vor: „[,Fürchtet Gott, ehret den König.‘] (1. Petr. 2, 17.) Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche anerkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“241
Zum einen wird hier deutlich gemacht, dass der Staat selbst nicht zur Kirche, also auch nicht zu einer irgendwie gearteten „Ersatzreligion“ werden dürfe.242 Dem nationalsozialistischen Totalitätsanspruch wird eine deutliche Grenze gesetzt, was den meisten deutschchristlichen Vertretern in ihrer Euphorie nicht gelang.243 Allerdings dürfe sich zum anderen auch die Kirche nicht staatliche Aspekte zu eigen machen – dies geht dann wohl zum einen in die Richtung radikaler „Deutscher Christen“, zum anderen aber ist es auch wohl als eine Abgrenzung zur „Deutschen Glaubensbewegung“ und anderen völkischen Gruppen zu verstehen. Ob hier tatsächlich „vorsichtig die These vom Wächteramt der Kirche vorbereitet“244 wird, ist nicht ganz eindeutig; jedoch ist die Gefahr einer Rückprojektion in diesem Fall groß. Die letzte These245 241 O. A., Erklärung, 116 f [Hervorhebungen im Original, BB]. 242 Vgl. zu diesen Überlegungen schon sehr früh die Arbeit von Voegelin, Religionen. Vgl. auch Beckmann, Einheit sowie schon 1933: Vogel, Gleichschaltung; Vogel, Kirche. 243 Vgl. auch Asmussen, Vortrag, 22: „,Totaler Staat‘, das kann nur heißen: ein Staat, der sich bemüht, innerhalb der von Gott gesetzten Grenzen das gesamte Leben des Volkes zu umfassen. Wollen die Deutschen Christen eine Umfassung über diese Grenze hinaus, dann verleugnen sie die Realität und die Aktualität des göttlichen Gebotes.“ Dies war freilich nicht die Art, wie man unter Nationalsozialisten den Begriff verstanden wissen wollte, vgl. etwa Forsthoff, Staat, sowie hierzu Meinel, Jurist, 50–100. Aus den Reihen der DC vgl. Grundmann, Kirche, 1934b. 244 Von Scheliha, Ethik, 181. 245 O. A., Erklärung, 117: „,Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.‘ (Matth. 28, 20). ,Gottes Wort ist nicht gebunden.‘ (2. Tim. 2, 9). Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes
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schließlich weist den im kirchlichen Auftrag Handelnden darauf hin, dass er sich durch die Predigt und die Sakramente „an alles Volk“ zu richten habe. Die „Botschaft von der freien Gnade Gottes“ wird als Inhalt dieser Verkündigung spezifiziert. Arnulf von Scheliha meint, die sechste These schärfe „den christologischen Grund allen kirchlichen Handelns ein, der nicht als Instrument politischer, ideologischer oder rassischer Zwecke missbraucht werden darf.“246 Während dies unmittelbar einleuchtet, ist es doch fraglich, ob sich die Ausrichtung „an alles Volk“ tatsächlich gegen den zeitgenössisch vorherrschenden Antisemitismus richtet, wie der Münsteraner Ethiker meint247 – davor waren ja auch Vertreter der BK nicht gefeit – oder nicht vielmehr subkutan hier der Anspruch formuliert wird, ebenfalls sich in einem volkskirchlichem Sinne missionarisch verkündigend an alle Menschen zu richten. In seinem Synodalvortrag in Barmen, der ebenfalls noch im selben Jahr veröffentlicht wurde, erklärt Asmussen genauer, welche Vorstellungen von Kirche mit den Barmer Thesen verbunden seien. Die Kirche sei von ihrem biblischem Verständnis her keine „menschliche Gesellschaftsform“, sie entstehe nicht aus „bürgerlicher Rechtschaffenheit und blutmäßiger Liebe“, sondern durch „Christi Gerechtigkeit und Christi Liebe.“248 Er unterstreicht überdies den missionarischen Auftrag der „Gemeinschaft der Brüder“.249 Damit bleibt ein Versatzstück des Volkskirchenverständnisses, wie es sich in der Weimarer Zeit herauskristallisierte, ohne dass der Begriff hier fällt, auch in den Reihen der BK erhalten. Seine Ausführungen zur fünften These betonen die Treue zur „Obrigkeit“ deutlicher, als die These für sich stehend, wenn Asmussen die Glieder der Bekenntnisfront als „im Gehorsam und in der Treue gegen Volk und Staat durch ein göttliches Gebot gehalten“250 bezeichnet. Auf der Barmer Synode schloss sich am Abend des 30. Mai 1934 nach dem Vortrag von Asmussen noch ein Vortrag des Juristen Eberhard Fiedler251 zum Thema „Bekenntnisgemeinschaft und Reichskirchenverfassung“ an.252 Der Leipziger Rechtsanwalt unterstreicht in diesem Vortrag die Überzeugung,
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durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählten Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.“ [Hervorhebung im Original, BB]. Von Scheliha, Ethik, 182. Vgl. ebd. Zitate bei Asmussen, Vortrag, 19. Vgl. ebd.: „Sie [die Kirche, BB] bezeugt, in diesem Trost und in dieser Weisung so reich geworden zu sein, daß sie auch nicht mehr anders leben möchte. In dieser Weise ist die Kirche Missionarin der Welt, indem sie unter allen menschlichen Gesellschaftsformen als besonderes Zeichen in die Augen fällt, und in ihrer Verkündigung deutet, warum es so und nicht anders mit ihr bestellt ist.“ Ebd., 22. Vgl. Niemçller, Bekenntnissynode, Bd. I, 72. Ebenfalls abgedruckt in: Immer, Bekenntnissynode, er war also auch für die Veröffentlichung gedacht.
160 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus dass nur die Verkündigung des Wortes und die Verwaltung der Sakramente Aufgaben der Kirche seien und die äußere Ordnung der Kirche im Dienste dieser zu stehen habe. Der grundsätzliche Fehler der Reichskirchenregierung liege – und dazu habe es der zahlreichen Rechts- und Verfassungsbrüche gar nicht bedurft – in dem Versuch, die „äußere Ordnung als etwas Selbstständiges zu behandeln“.253 Sie habe außerdem den Maßstab für die äußere Ordnung „einem kirchenfremden Gebiete entnommen.“254 Der Gegenseite wirft er vor, eine „Deutsche Nationalkirche“ schaffen und damit neben der Einheit des Volkes auch die Einheit der Kirche herstellen zu wollen. Aber „eine Einheit, die den Bekenntnischarakter der Kirche verleugnet, zerstört die Kirche. Man vergißt, daß die nationalsozialistische Haltung keine christliche Haltung, auch keine heidnische Haltung, sondern eine rein politische Haltung – als solche selbstverständlich berechtigt und heilsam – ist. Die Bekenntnisse sollen nach dem ausgesprochenen Willen der Reichskirchenregierung verschwinden […]. Wenn das so wird, so haben wir vielleicht ein einheitliches Kirchengebilde, so haben wir vielleicht sogar eine Staatskirche: wir haben aber ganz bestimmt keine christliche Kirche mehr.“255
Zunächst muss konstatiert werden, dass auch auf der Ersten Barmer Bekenntnissynode der Nationalsozialismus in politischer Hinsicht durchaus positiv bewertet wurde. Die Gegner waren diejenigen, die innerkirchlich Protestantismus und Nationalsozialismus derart vermischen wollen, dass daraus Implikationen für die Gestaltung der kirchlichen Ordnung entstehen. Dort bilde sich, so Fiedler, eine „Pseudo-Kirche“256, die keinen Bestand haben werde. Ekklesiologisch müsse vielmehr die Bekennende Gemeinde im Zentrum stehen, von der aus, also „von unten“, die Bekennende Kirche entstehen könne.257 Auch in der an den Vortrag angehängten „Erklärung zur Rechtslage der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche“ erklärt man den hierarchischen Aufbau der Kirche für unvereinbar mit dem Bekenntnis.258 In der Aussprache über die Erklärung – der zunächst noch ein weiteres Referat des Reichsgerichtsrats Wilhelm Flor gefolgt war259 – wurde besonders über den fünften Satz260 der eingangs erwähnten Erklärung diskutiert. Dabei ging es 253 Fiedler, Bekenntnisgemeinschaft, 32. 254 Ebd. Vgl. auch ebd., 33: „Niemals aber darf […] die weltliche Organisationsform in der Kirche Selbstzweck sein. Vor allem darf […] es nicht Aufgabe der Kirche sein, weltliche Macht zu erringen.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 255 Ebd., 35. 256 Ebd. [Im Original durch Sperrung hervorgehoben, BB]. 257 Vgl. ebd., 36: „Nur von der Gemeinde, nicht von obenher, kann der Neuaufbau der Deutschen Evangelischen Kirche, die Erfüllung ihrer Verfassung mit dem Geist des Evangeliums erfolgen.“ 258 Vgl. ebd., 37. 259 Flor, Studium; Flor, Kirchenstreit. 260 O. A., Rechtslage, 38: „5. Ihre echte kirchliche Einheit kann die Deutsche Evangelische Kirche nur auf dem Wege gewinnen, daß sie a) die reformatorischen Bekenntnisse wahrt und einen
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vor allem um die Rolle, die die Gemeinde in der Kirche einzunehmen habe, wenn denn tatsächlich von ihr ausgehend diese gebaut werden solle.261 Zu den Vorstellungen von der richtigen Verfassung der DEK gehöre es, „die Aufgabe und das Eigenleben der Kirche gegenüber dem Staate darzustellen und zu sichern.“262 Zwar sei damit keine Gegnerschaft zum Staate gemeint, aber doch müsse man deutlich machen, dass die Einsetzung eines Staatskommissars wie August Jäger für die Kirche unerträglich sei. Das Kirchenbild, wie es sich in der BK hier abbildet, stellt die Bekenntniskirche ins Zentrum. Diese bleibt aber durchaus im volkskirchlichen Setting bestehen. Es geht nicht um grundlegende Veränderungen am Bau der Kirche, sondern vielmehr um eine nicht auf den Staat bezogene oder vom Staat Legitimität beziehende evangeliumsgemäße und an den Bekenntnissen orientierte Verkündigung und Verwaltung der Sakramente.263 Die Reichskirche wird hingegen zum semantischen Gegenpol, von dem man sich durch die Betonung der Gemeinde als grundlegendes Element im Aufbau der Kirche abzugrenzen versucht.264 Die Reaktionen auf die Theologische Erklärung der Barmer Bekenntnissynode waren vielfältig.265 Besonders deutlich und mit einer nicht unerheblichen Resonanz wurde die Ablehnung der Barmer Thesen im sog. „Ansbacher Ratschlag“266 artikuliert, den Paul Althaus und Werner Elert, Fakultätskollegen in Erlangen, sowie sechs fränkische Pfarrer verfasst hatten und der in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung erschien.267 Im Gegensatz zum in der Barmer Theologischen Erklärung angedeuteten Offenbarungsverständnis stellen sich die Verfasser des Ratschlags dezidiert auf den Boden einer natürlichen Theologie.268 Das Wort Gottes rede zu den Menschen in Gesetz und Evangelium. Während das Evangelium „die Botschaft von dem für unsere Sünden gestorbenen und um unserer Gerechtigkeit willen aufer-
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organischen Zusammenschluß der Landeskirchen und Gemeinden auf der Grundlage ihres Bekenntnisstandes fördert, b) er der Gemeinde als Trägerin der Wortverkündigung den ihr gebührenden Platz läßt. […].“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. Niemçller, Bekenntnissynode, Bd. II, 101–105. Meinzolt, Vorstellung, 54. Vgl. auch Reese, Bekenntnis, 255–268. Dies wird auch erneut in der Aussprache über den Vortrag von Meinzolt deutlich. Karl Koch, der Vorsitzende der Barmer Bekenntnissynode und Präses der westfälischen Provinziallandeskirche etwa, weist darauf hin, dass eine lebendige Gemeinde durch ein entsprechendes Wahlrecht verantwortlich mitgestalten müsse. Der Marburger Buchhändler Karl Sonnenschein verleiht danach seiner Hoffnung Ausdruck, dass „das, was wir jetzt von Gott aus neu bauen, nun wirklich Gemeinde wird, lebendige Gemeinde.“ (Niemçller, Bekenntnissynode Bd. II, 136. Vgl. Reese, Bekenntnis, 268–277. Diese Bezeichnung spielt auf den vom Reformator Johann Rurer 1524 verfassten Ansbacher Evangelischen Ratschlag an, einen Vorläufer der Confessio Augustana. Vgl. Tçllner, Frage, 102–112. Damit ist der Versuch gemeint, stark verkürzt gesprochen, aus natürlichen Quellen Erkenntnisse über Gott zu erlangen. Vgl. Kock, Theologie.
162 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus weckten Jesus Christus“269 sei, begegne das Gesetz dem Menschen in der Gesamtwirklichkeit des Lebens, so wie diese durch die Offenbarung Gottes ins Licht gesetzt werde: „Es bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d. h. Blutzusammenhang). Und zwar sind wir einer bestimmten Familie, einem bestimmten Volk und einer bestimmten Rasse zugeordnet. Indem uns der Wille Gottes ferner stets in unserem Heute und Hier trifft, bindet er uns auch an den bestimmten historischen Augenblick der Familie, des Volkes, der Rasse, d. h. an den bestimmten Moment ihrer Geschichte. […] Als Christen ehren wir mit Dank gegen Gott jede Ordnung, also auch jede Obrigkeit, selbst in der Entstellung, als Werkzeug göttlicher Entfaltung, aber wir unterscheiden auch als Christen gütige und wunderliche Herren, gesunde und entstellte Ordnungen.“270
Die natürlichen Ordnungen geben dem „Ratschlag“ zufolge den fordernden Willen Gottes wieder. Trotz der konzedierten Unterscheidungen schuldet der Christenmensch also jeder Obrigkeit Gehorsam. Über die Bewertung der aktuellen Führung lassen sie allerdings keinen Zweifel aufkommen: „In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als ,frommen und getreuen Oberherrn‘ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ,gut Regiment‘, ein Regiment mit ,Zucht und Ehre‘ bereiten will. Wir wissen uns daher vor Gott verantwortlich, zu dem Werk des Führers in unserem Beruf und Stand mitzuhelfen.“271
Die ordnungstheologischen Implikationen sehen also im nationalsozialistischen Staatswesen zumindest das Potenzial ihrer Erfüllung. Hier zeigt sich meines Erachtens eine Denkweise, die durch die Beobachtung der „Welt“ auch Schlussfolgerungen für die Gestaltung der Kirche ableiten will. Die Kirche habe, so schließt dann der „Ansbacher Ratschlag“, eine dreifache Aufgabe. Sie habe erstens das „Gesetz Gottes“272 zu verkündigen. Zweitens seien die Glieder der Kirche „selbst den natürlichen Ordnungen unterworfen.“273 Ihre aktuelle Verpflichtung gegenüber ihrem Volk erhalte ihren Inhalt durch die „gegenwärtige völkische Staatsordnung.“274 Schließlich und drittens „trägt die Kirche 269 270 271 272
Althaus / Elert u. a., Ratschlag, 103. Vgl. auch Elert, Bekenntnis. Althaus / Elert u. a., Ratschlag, 103. Ebd. Ebd., gemeint sind damit eben die natürlichen Ordnungen wie Familie, Volk und Rasse. Vgl. Wendland, Lage, 1933 für aufschlussreiche Ausführungen über das theologische Ordnungsverständnis, außerdem Schreiner, Rasse. 273 Althaus / Elert u. a., Ratschlag, 103. 274 Ebd. Dort auch der Satz „In dieser Hinsicht unterliegt die Beziehung der Kirchenglieder auf die natürlichen Ordnungen der geschichtlichen Veränderung. Unveränderlich ist dabei nur das Verpflichtetsein als solches.“
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selbst Ordnungsmerkmale, die auch den natürlichen Ordnungen anhaften. So folgt sie z. B. in der Sprache ihrer Verkündigung der Mannigfaltigkeit der Volkssprachen.“275 Auch in dieser Hinsicht sei sie dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Da sich die „Beziehungen zu den konkreten Ordnungen“276 wandeln, sei die Kirche immer neu vor die Aufgabe gestellt, ihre Ordnung zu überprüfen. Zwar würde man auf Seiten der BK wohl nicht behaupten, dass auch die Kirche von historischem Wandel betroffen ist, zumal in ihrer „sichtbaren“ Form. Wogegen man sich aber doch recht deutlich positioniert hat, ist die hier vertretene Ansicht, dass „konkrete Ordnungen“277 das Wesen und die Gestalt der Kirche bestimmen dürften. Das „ecclesia semper reformanda“ auf das die Erlanger sich berufen, wird hier für eine Annäherung an gesellschaftspolitische Positionen des Nationalsozialismus missbraucht. 3.3.2 Radikalisierung und Neubewertung nach 1935 In den Jahren seit 1935 begann sich, wie in der Einleitung zu diesem Kapitel bereits erläutert, die von strategischen Gesichtspunkten ausgehende Zurückhaltung der nationalsozialistischen Kirchenpolitik zu wandeln. Welche Rolle spielte der Volkskirchenbegriff in einer Zeit, die weitere Anpassungen erforderlich zu machen schien? Zunächst ist festzuhalten, dass im Vergleich zu den vorherigen Jahren die Äußerungen über den Staat zurückgehen und sich eher ein Fokus auf die Wirkungen der Volkskirche im Volk beobachten lässt. In den unterschiedlichen Abspaltungen der DC versuchte man sich gegenseitig darin zu übertreffen, wer das bessere Verhältnis zum Staat habe, ungeachtet der Repressionen, die die Kirche trafen. Bei Hans Gerber etwa zeigt sich die Überzeugung, dass die spezifischen Vorstellungen darüber, was das Volk sei, auch Auswirkungen auf das Verständnis des Staates haben sollten. Er rezipiert dabei Vorstellungen eines Volksstaates, die in dieser Zeit recht weit verbreitet gewesen waren.278 In diesem Volksstaat habe auch der Volkskir275 Ebd., 104. 276 Ebd. 277 Dies ist ein Begriff aus der Rechtslehre Carl Schmitts, vgl. Schmitt, Arten; vgl. hierzu auch R thers, Recht; Anter, Macht, 194–204 sowie schon Bçckenfçrde, Ordnungsdenken. 278 Vgl. Gerber, Recht, z. B. 98: „Volksstaatsdenken gründet in der Vorstellung des Volkes als einer vorgegebenen Lebenseinheit unter einer Vielzahl von Menschen. Es meint also, daß wir Menschen jeweils kraft nicht gewillkürter Bestimmtheit gruppenweise notwendig zueinander gehören. Dabei wird angenommen, daß wir diese Zuordnung untereinander als Artprägung in unserem Wesen tragen, ob es kreatürlich, geistig oder sittlich in Erscheinung tritt. Diese Bestimmtheit als Artgebundenheit ist, vor allem soweit sie auf unwandelbare Urelemente zurückzuführen ist, das entscheidende Rassische am Volk und macht jeden Einzelnen ohne weiteres zu eines Volkes Glied.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Vgl. später auch Gerber, Verständnis. Zum Begriff vgl. auch Binder, Volksstaat. Kritisch äußert sich K nneth, Gefahren, 337: „Dieser Volksstaat kann wesensmäßig nicht christlich sein, gleichviel welche Stellung er sonst den christlichen Konfessionen gegenüber einnehmen mag.“
164 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus chengedanke seine spezifische Aufgabe. Gerber behauptet fälschlicherweise, wie das zweite Kapitel dieser Arbeit hinreichend gezeigt hat, dass man vor 1933 den Begriff der Landeskirche verwendet habe, um die religiöse Gemeinde und die politische Wirklichkeit in Beziehung zueinander zu setzen. Es sei dann „besonders seit 1933 der Grundsatz der Volkskirche für diese Beziehung entwickelt worden.“279 „Das bedeutet einen neuen Hinweis aus dem irrationalen in den rationalen Bereich unter Aufnahme der uns heute bestimmenden Einsicht, daß als Grundgegebenheit des sozialen Lebens die Anlage zum Volke erscheint. Der Volkskirchengedanke will die religiöse Haltung ebenso von einem abstrakt personellen Gemeindebegriff lösen wie von einem solchen, der sich mitbestimmen läßt von politisch-staatlichen Gegebenheiten, die entwicklungsmäßig überholt sind.“280
Was heißt das konkret? Gerber wendet sich hier vor allem gegen demokratische Strukturen innerhalb der Kirche. Stattdessen sollte diese nach dem Gedanken des Führerprinzips geordnet werden und sich „das christlichkirchliche Bekenntnis mit der im Dritten Reich maßgebenden nationalsozialistischen Weltanschauung“ decken.281 Überdies wird ein „organischer“ Zusammenhang von Staat, Volk und Gesellschaft vorausgesetzt, der für seine Schlussfolgerungen entscheidend ist. Zum totalen Staat, wie ihn Hitler definiere, sei die sachgemäße und angemessene Haltung, die die evangelische Kirche einzunehmen habe, die einer „freudigen Bejahung und nachdrücklichen Förderung.“282 Von der „Herstellung des positiven Verhältnisses zwischen Kirche und Staat“ macht an anderer Stelle ein führendes Mitglied der Reichsbewegung „Deutsche Christen“ gar die Fortexistenz der Kirche abhängig.283 Wilhelm Rehm, der zu dieser Zeit Leiter der Reichsbewegung war, sah zwei Ursachen für das Elend, welches seit 1933 über die evangelische Kirche hineingebrochen sei. Zum einen sei die evangelisch-reformatorische Grundsubstanz der Kirche angetastet worden, zum anderen führt er „den Widerwillen gewisser Theologen- und Pfarrerkreise, sich zum Nationalsozialismus und damit zum Dritten Reich positiv einzustellen“284 an. Anlässlich einer angekündigten, aber nie durchgeführten Kirchenwahl nach dem Ende der Kirchenausschüsse285, beschwor Rehm die Volkskirche als ein Integrationskonzept, mit dem die in den letzten Jahren entstandenen Ressentiments und Vorurteile überwunden werden sollten. Denn die evangelische Kirche
279 280 281 282 283 284 285
Gerber, Recht, 117. Ebd. Ebd. Vgl. ferner Gerber, Verständnis. Wobbermin, Kirche; Wobbermin, Staat. Vgl. Rehm, Sein. Ebd. Vgl. Kreutzer, Reichskirchenministerium, 286–300.
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„wird als Volkskirche nur gerettet, wenn ein starker kirchentragender Wahlblock sich bildet: ,Treu zu Kirche und Staat!‘ Für die Erhaltung der evangelisch-reformatorischen Grundsubstanz unserer Kirche und des Glaubens unserer Väter! Für die Herstellung des positiven Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, zwischen Christenglauben und Nationalsozialismus.“286
In der kommenden Wahl sei eine Einheitsfront nötig, die es verkörpere, dass man ganz evangelischer Christ und ganz Nationalsozialist sei. Die Überzeugung, dass für die Entstehung der Volkskirche auch die staatlichen Rahmenbedingungen von Bedeutung sind, findet sich aber auch an anderen Stellen.287 Der Kirchenrechtler Otto Thümmel formulierte diese Überzeugung so, dass wahre Kirchlichkeit mit wahrem Nationalsozialismus gleichzusetzen sei.288 Der Begriff wurde allerdings nicht ganz einheitlich verwendet. Mal war die Volkskirche im Werden begriffen als Teil der Volkwerdung, mal war sie der Weg, den das evangelische Christentum bisher gegangen sei.289 Emanuel Hirsch bediente sich des Volkskirchenbegriffs vor allem um das Verhältnis von Kirche und Staat näher zu bestimmen und stellte klar, dass zum Wesen der Volkskirche eine enge Bindung an die politische Ordnung gehöre, der man überdies zugestehe, über die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Ordnung zu entscheiden. Der Staat sei der Kirche also eindeutig übergeordnet. Als Volkskirche ist das evangelische Christentum seiner Ansicht nach immer mehr gewesen, als nur ein Ort der Predigt. Sie habe viele „irdische Dienste“ erfüllt.290 Durch das „nationalsozialistische deutsche Regiment“ sei es zu einiger Verwirrung im evangelischen Christentum gekommen, da das „freiwillige Sichhinüberfinden zur Eingliederung der kirchlichen Ordnung in die 286 Rehm, Sein. 287 Vgl. Eger, Frage, 52: „Ob nun aber solches möglich wird, ob die Kirche in einem bestimmten Volke und in einer bestimmten Zeit die Gestalt der Volkskirche gewinnt, das hängt wesentlich ab von der Umgebung, in der der Lebensvorgang der Kirche sich vollzieht. Hier wird in jedem einzelnen Falle entscheidend sein die Stellung, die der Staat, das Wort in ganz weitem und allgemeinem Sinne gebraucht, zu dem Lebensvorgang der Kirche einnimmt. Will der Staat diesen Lebensvorgang, so ist und wird die Kirche Volkskirche. Duldet er ihn nur mehr oder weniger gleichgültig, so ist und wird die Kirche Freikirche.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 288 Vgl. Thümmel, Kirche. 289 Vgl. Hirsch, Christliche Freiheit, 91. Vgl. auch Meyer, Kirche. Mit Stoecker verband sich der Aufruf der Kirche zu einem „unbedingten Öffentlichkeitswillen“, vgl. Sommerlath, Wort, 277 sowie Schreiner, Kampf; Herberger, Stöcker; Lçber, Hofprediger. 290 Vgl. Hirsch, Christliche Freiheit, 92: „Es hat von Anfang an das irdische Leben nach Stand, Beruf und Schicksal so wie die politische Ordnung als Regiment und als Dienst mit getragen und ist so eine Macht der Zucht und Ordnung, der Lebensbewahrung und Lebensheiligung in unserem Volke geworden. Es ist wesentliche Prägerin des neueren deutschen Nationalcharakters, Erhalterin und Erneuerin des Volksdaseins in politischen Zusammenbrüchen, und letzter religiöser Untergrund alles deutschen Dichtens und Denkens gewesen. Es hat die neuere deutsche Universität und das deutsche Beamtentum mit schaffen und gestalten helfen. [!] Es hat im 19. Jahrhundert, als die öffentliche politische Ordnung versagte, auf sozialem und karitativem und erzieherischem Gebiete einen großen unersetzlichen Notdienst getan.“
166 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus neue volklich politische Ordnung“ gehemmt worden sei.291 Das Folgende stellt er aber am Ende seiner Schrift ausdrücklich klar: „jeder Weg ist ein der Lage nicht gemäßer Irrweg, wenn er nicht als Ziel und Ende hat die Herstellung eines deutschen evangelischen Volkskirchentums, das in die öffentliche politische Ordnung sich freiwillig und gern hineinstellt. Es muß auf dem Boden der […] geschilderten neuen Formung des deutschen Lebens durch das nationalsozialistische Regiment ein auf neue Weise staatsverbundenes deutsches evangelisches Kirchentum verwirklicht werden, das vom deutschen Volk als ein geliebtes und unveräußerliches Stück deutschen Lebens und deutscher Geistigkeit empfunden wird. Die Lösung dieser Aufgabe ist möglich, ohne daß der Bindung der Kirche unter das reine lautere Evangelium das Geringste abgebrochen wird.“292
Dafür sei es aber wiederum erforderlich, dass man nun im Willen zur gemeinsamen Arbeit zusammenfinde. Die Geduld des Staates mit der Kirche verpflichte zu Dankbarkeit, aber auch zu schnellem Handeln, um zu verhindern, dass der Staat einen Schlussstrich ziehe und damit das Ende der Volkskirche besiegele.293 Es findet sich wenige Jahre später eine Fortschreibung dessen, was man schon aus der Zwischenkriegszeit und auch in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in moderateren deutschchristlichen Kreisen formuliert hatte. Kirche und Staat seien in gewissen Dingen voneinander getrennt, aber zugleich miteinander verbunden. Die Kirche brauche den Staat, so Paul Althaus, um am und im Volk wirken zu können: „eine Kirche, die das ganze Volk sich von Gott anvertraut weiß, bedarf für die Erfüllung ihrer Aufgabe am Volksganzen einer Stellung in der Volksordnung, die nur der Staat ihr geben und erhalten kann: die Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, Schutz der Feiertage und des Gottesdienstes, Religionsunterricht in den Staatsschulen, kirchliche Seelsorge im Heere und in den Staatsanstalten.“294
In einem totalitären Staat stehe die Kirche besonders in der Gefahr, zu einer Winkelsache zu werden. Gleichwohl benötige auch der Staat die Kirche für die Etablierung der richtigen moralischen Maßstäbe, wie auch für die Erziehung der Jugend, in der Kirche und Staat zusammenwirkten.295 Die Forderungen nach Einheit blieben allerdings, zumindest was die Initiativen von Vertretern 291 292 293 294 295
Beide Zitate ebd., 94. Ebd., 95. Vgl. ebd., 96. Althaus, Kirche, 1937, 32. Vgl. auch Brunst d, Kirche, 38 f: „Der totale Staat, der den gesamten Lebensbestand des Volkes in Führung zur Nationwerdung zusammenfassen will, findet in dem Lebensbereich des Volkes Christentum und Kirche vor, Kirche, die Volkskirche sein soll und will.“ Vgl. auch Althaus, Staat, 1934; Althaus, Obrigkeit.
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der DC betrifft, nahezu folgenlos.296 Noch bis Mitte der 1930er Jahre finden sich Äußerungen, die auf die politische Verantwortung der Kirche hinweisen, womit ja der Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen in politischen Dingen gemeint war.297 Der Rostocker Systematische Theologe Friedrich Brunstäd298, der sich zur Bekennenden Kirche zugehörig fühlte, charakterisierte diese Positionen so, dass dort behauptet werde, es könnte aus weltanschaulichen Gründen die Notwendigkeit geben, dass das Christentum zu einer Volksreligion werde und als solche sich in die Nation und in den Staat einordnen müsse. Religion sei für diese Vertreter die „Bewegung des Menschen auf das Ursein zu, die in den Urgrund volkhaften Daseins hineinführt.“299 Die Meinung der BK zu diesen Themen sei nicht als reaktionäre „Opposition gegen den Führungsstaat“300 misszuverstehen, man habe dort vielmehr ein unterschiedliches Urteil über Christentum und Kirche getroffen. Letztere sei nämlich „nicht die Organisation des Volkes zur Erfüllung seiner religiösen Aufgabe, sondern die Gemeinde des Herrn.“301 Die evangelische Wahrheit dürfe nicht verkürzt werden, denn aus „dem Bekenntnisse zu ihr […] ergibt sich dann die Antwort, welche die Kirche dem totalen Staat schuldig ist, als ein verpflichtendes Ja zu dem Staat, der weiß, was echte Herrschaft, Volk und Nation, volkstümliche Gerechtigkeit ist und dem allen geschichtsmäßig Bahn bricht und Gestalt gibt.“302
Ihm ist es wichtig, dass von Staats wegen der Status der Kirche als öffentlichrechtliche Korporation anerkannt bleibe. Dies sei nötig, damit sie in die Volksordnung hineinwachsen könne.303 Denn so „wird die Kirche Volkskirche. Das heißt nicht, daß sie Staatskirche wird, auch nicht, daß sie Kirche des Volkes ist in dem Sinne der religiösen Organisation des Volkes. Die Kirche ist und bleibt die Gemeinde des Herrn, Bekenntniskirche. […]
296 Vgl. auch Pfennigsdorf, Einigung, 56: „Nachdem der neue Staat die früheren Landesgrenzen niedergelegt hat, sind die darauf gegründeten Kirchentümer, geographisch und volkspolitisch gesehen, haltlos geworden. Die nationale und religiöse Entwicklung weisen also in dieselbe Richtung: Die kommende Kirche kann in Deutschland nur die einheitliche evangelische Volkskirche sein.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. auch Asmussen, Einheit. 297 Vgl. vor allem Althaus, Verantwortung, 309–312. 298 Vgl. Assel, Brunstäd. 299 Brunst d, Kirche, 39. 300 Ebd. 301 Ebd. 302 Ebd., 40. 303 Er nennt dann ganz ähnliche Punkte wie Hirsch: „Gewährleistung der kirchlichen Feiertage, Schutz des öffentlichen Gottesdienstes, Schutz kirchlichen Lebens in der Volkssitte, religiöse Erziehung in den Staatsschulen, theologische Fakultäten an den staatlichen Universitäten, Dienst am geistlichen Amt (Seelsorge), in der Wehrmacht und anderen staatlichen Einrichtungen usw.“ (ebd., 45). Ähnlich auch Zoellner, Neuordnung, 11.
168 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Weil sie sich zum lebendigen Schöpfergott bekennt, weil sie Bekenntniskirche ist, darum ist die Kirche Volkskirche.“304
Brunstäd grenzt sich also von der Vorstellung ab, dass die Volkskirche die religiöse Organisation eines ganzen Volkes zu bewerkstelligen habe; die semantische Nähe zu den Positionen Hirschs, was die Bewertung des Staates und die Schutzaufgaben desselben für die Kirche betrifft, sind allerdings auffällig. Den Vorwürfen, dass Mitglieder der BK keine zuverlässigen Staatsbürger mehr sein könnten, tritt Brunstäd unter Zuhilfenahme des Volkskirchenbegriffs mit einigem Pathos entgegen: „Wenn der Herausgerufene [Christ, BB] im Glauben Gerechtigkeit empfängt aus Gottes Gnade um Christ willen (propter Christum), dann geschieht es zu guten Werken, zur Bezeugung und Übung von Gerechtigkeit in aller Wirklichkeit des Lebens, d. h. zum vollen Einsatz im Staate und in der durch ihn aufgerichteten Volksordnung mit dankbarer Fügung unter die notwendige Rechtshoheit des Staates, die sein Auftrag von Gott und seine Verantwortung vor Gott ist, wie ihm [!] die Kirche nach der Schrift bezeugt. Kirche ist Volkskirche, weil in ihrem Glaubenszeugnisse Liebe zu Volk und Vaterland in jenem unbedingten Sinne entspringt, und sie ist Volkskirche, weil die Menschen des Volkes, darin ihres Volkstums und seiner Art in aller Treue gewiß und der Lebensverbundenheit im Volke wahrhaft fähig werdend, sich zum Herrn Jesus Christus bekennen. Je mehr dieses Bekennen wirkliches Bekennen des Herzens ist, je mehr bekennende Kirche da ist, desto mehr Volkskirche.“305
Von diesen Zeilen lässt sich recht viel über die Vorstellung von Volkskirche in BK-affinen Kreisen hinsichtlich der damit artikulierten Stellung zum nationalsozialistischen Staat lernen. Brunstäd verbindet auf originelle Weise die lutherische Rechtfertigungslehre – als den Ausgangspunkt, der den Einzelnen zur tatkräftigen Wirksamkeit in Staat und Gesellschaft befähigt – mit der Vorstellung, dass durch diese Wirksamkeit die Kirche als Volkskirche diesen Dienst besonders gut erfüllen kann. Deutlich wird am Ende des Abschnittes die Vorstellung, dass letztlich die Bekennende Kirche prädestiniert dafür sei, um in diesem Sinne Volkskirche zu sein.306 Die Freikirche wurde mit wenigen Ausnahmen negativ gesehen und grosso modo von beiden kirchenpolitischen Gruppierungen abgelehnt.307 Karl Barth unterstrich 1936 diese Überzeugung, dass Volkskirche, Freikirche und Bekenntniskirche Angebote seien, „die der 304 Brunst d, Kirche, 40. Vgl. auch Brunst d, Offenbarung; vgl. hierzu Wendland, Offenbarung. 305 Brunst d, Kirche, 46. 306 Freilich gab es eben auch kritischere Positionen. Vgl. Jacob, Kirche, 1936, 9: „Eine ,Volkskirche‘ hinter den Mauern der Öffentlichkeit, eine ,Volkskirche‘, an deren Ausfalltoren zur Zeit und zur Gegenwart die Wächter der politischen Bewegung auf Posten stehen, ist in Wahrheit zur Sekte geworden. Denn ihre Verkündigung ist eben des Weltbezuges, des Öffentlichkeitsbezuges beraubt.“ 307 Vgl. etwa Wolf, Neugestaltung, 1076 sowie Wolf, Kirche, 1936; Bornkamm, Kirche, 28–30.
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Kirche nur von außen gemacht werden können und mit denen sie sich dann, wachend über ihrem Heiligtum, über ihrer Botschaft, über ihrem Zeugnis auseinanderzusetzen hat, ohne daß das eine oder das andere von ihnen ihrem Wesen angemessener oder ihrem Wesen durchaus fremd wäre.“308 Es gebe kein Schriftwort und kein Dogma, das der Kirche verbiete Volks-, Landes- oder Staatskirche zu sein, aber auch keines, „das den Charakter der Kirche als Volkskirche nun geradezu notwendig oder gar – wie manche mancherorts noch immer zu denken scheinen – heilsnotwendig machte.“309 Die Volkskirche, die er durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion unter Konstantin dem Großen begründet sieht310 erfordere einige Glaubensüberzeugungen, die Barth dann kritisch referiert. So müsse man in der Volkskirche beispielsweise den Vorgang einer Wiederherstellung der alttestamentlichen Ordnung sehen und zugleich die Erfüllung der in Offenbarung 20 formulierten Weissagung, „wonach dereinst nach überstandener Verfolgungszeit der Satan gebunden und in den Abgrund verschlossen werde“311 und das Tausendjährige Reich, in dem die Christen mit Christus herrschen würden, angebrochen sei. Es handelt sich an dieser Stelle unzweifelhaft um eine Anspielung auf das von den Nationalsozialisten ausgerufene 1000jährige Reich sowie auf die entsprechenden deutschchristlichen Kirchenvertreter. „Die Kirche, die es annimmt, Volkskirche zu sein, muß des Glaubens sein, daß sie es in dem Walten des ihr gegenüberstehenden Staates mit einem willigen Dienst Jesu Christi hinsichtlich der weltlichen Ordnung und des menschlichen Rechtes zu tun habe, mit welchem sie sich also unter Wahrung ihres eigenen besonderen Amtes und Auftrages über die befohlene äußere Unterordnung und Fürbitte hinaus wohl zu gemeinsamem Wirken zusammenschließen könne.“312
Man kann schon implizit erahnen, dass Barth dies nicht für einen geeigneten Weg hält. Freilich äußert sich Barth in aller Fragwürdigkeit, in der ihm die 308 Barth, Volkskirche, 415. Vgl. ebd. auch Barths Definition von Volkskirche: „Wenn der Staat die Kirche mehr oder weniger direkt und ausdrücklich bejaht als ein auch von ihm nicht nur zu anerkennendes, sondern positiv zu förderndes Aufgabengebiet, und wenn die Kirche es verantworten kann, ihren Aufgaben in Solidarität mit denen des Staates, in Unterordnung unter dessen Organe oder im Zusammenwirken mit ihnen, mehr oder weniger teilnehmend an seiner Öffentlichkeit und Hoheit und mehr oder weniger übereinstimmend mit seinen Zielen nachzugehen, dann reden wir von Volkskirche, von Landeskirche oder auch ausdrücklich von Staatskirche.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Es handelt sich hierbei um einen Vortrag, den Barth in Ungarn gehalten hatte. Gleichwohl hat er natürlich die deutsche Situation im Blick, wofür auch der Veröffentlichungsort spricht. 309 Ebd. 310 Das ist historisch nicht ganz korrekt. Zwar beginnt unter Konstantin sicherlich eine neue Zeit für das Christentum im Römischen Reich, in dem es nicht nur nicht verfolgt wird, sondern vielmehr gezielte und vielfältige Förderungen erfährt, aber zur Staatsreligion im eigentlichen Sinne wird es erst im Jahre 380 durch Theodosius den Großen gemacht. Vgl. Link, Rechtsgeschichte, 15–18; M hlenberg, Epochen, 44–54; Wallraff, Sonnenkönig. 311 Barth, Volkskirche, 415. 312 Ebd., 415 f.
170 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Volkskirchlichkeit erscheint, recht vorsichtig.313 So nimmt er folgende Akzentuierung vor, unter der sie möglich sein könnte: „Wer die Volkskirche im Glauben bejaht, der muß sie als freie, d. h. ihrer Sache als Kirche unentwegt nachgehende Volkskirche, der muß darum auch das prophetische Gegenüber von Kirche und Staat, wie wir es aus dem Alten Testament kennen, bejahen: das in aller Ehrerbietung offene Worte der Kirche an Volk und Obrigkeit, hervorgehend aus einer unbedingten kirchlichen Sachlichkeit, die sich gerade im volkskirchlichen System auf keinen Fall hinter die Lehre von der Trennung der Gewalten zurückziehen wird. Die ganze heilsame Beunruhigung der Kirche durch ihren Herrn wird sich bei diesem System notwendigerweise auch auf ihr Verhältnis zum Staat und damit auch auf diesen selbst übertragen müssen.“314
Hier findet sich also in Konturen das, was man nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Blick auf die Erfahrungen des „Kirchenkampfes“ als „prophetisches Wächteramt“ der Kirche bezeichnen sollte.315 Nochmals wendet sich Barth gegen die Synthese von Volk und Kirche, wie sie in nicht wenigen deutschchristlichen Publikationen offensiv vertreten worden ist. Die Kirche müsse sich, gerade als Volkskirche, die Möglichkeit offener, kritischer, korrigierender Einsprüche vorbehalten. Spannend ist, dass Barth hier das Motiv der „freien Volkskirche“ wieder aufgreift, welches ja in den frühen Jahren der Weimarer Republik einige Prominenz erlangt hatte.316 Damals war der Begriff bereits verwendet worden, um einer gewissen Distanz zum neuen Staatswesen Ausdruck zu verleihen, ohne darauf zu verzichten, dass die Kirche Einfluss auf das ganze Volk behalten solle. Vom Verhalten des Staates hängt Barths Ansicht nach die Ausbildung der sichtbaren Gestalt der Kirche ab. Aber unabhängig davon, ob der Staat nun der Kirche gegenüber positiv oder gleichgültig eingestellt sei, müsse sie in jedem Fall den Staat „an seine ihm von Gott auferlegten Verantwortlichkeiten“317 erinnern und ein prophetisches Gegenüber darstellen. Barth sieht die Freikirche nun durchaus weniger kritisch als etwa Asmussen, auch wenn er an dieser Stelle nicht explizit zur Bildung solcher Freikirchen auffordert. Denn: „Kann eine Freikirche, die wirklich Kirche ist, etwas anderes sein als freie Volkskirche? Und stellt sich dann nicht auch für sie jene Frage nach dem Glauben, dessen die Kirche bedarf, um so oder so Volkskirche zu sein? Also: es kann wohl sein, daß die Kirche auf den Weg der Freikirche gedrängt wird. Dieser Weg wird aber nicht der Weg einer Flucht vor ihrer Aufgabe als Kirche sein dürfen.“318 313 Vgl. vor allem ebd., 416. 314 Ebd., 416 f. 315 Vgl. auch von Scheliha, Ethik, 180 f, der auf die Bedeutung der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung hinweist. 316 Vgl. oben 46 f. 317 Barth, Volkskirche, 419. 318 Ebd.
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Im Grunde wiederholt Barth damit nur die Bestimmung dessen, was eine freie Volkskirche sein soll, wenn auch sicherlich mit einer klareren dogmatischen Bestimmung, als dies bei Schmitz und Heim der Fall gewesen ist.319 Aber was wäre nun, wenn der Staat zum Verfolger der Kirche werden sollte und seine wohlwollende und schützende Haltung sich in ihr Gegenteil verkehrte? Dann, so Barth, wäre die Kirche genötigt zu einer Bekenntniskirche zu werden.320 Die „harte Gestalt der von Vielen verlassenen Bekenntniskirche“321 sollte nicht als „Unbill“ angesehen werden, sondern vielmehr als Zeichen dafür, dass sie zur Teilnahme an den Leiden Christi als würdig erachtet worden seien. Außerdem gelte, dass Gott treu sei: „Gerade als echte Bekenntniskirche wird die Kirche nicht untergehen, sondern leben, in tröstlicher Weise befreit von vielen Sorgen, derer sie als Volkskirche wie als Freikirche nicht ledig werden kann. Daß sie sich nicht selbst regiert, sondern regiert wird, daß ihre Sache nicht ihre Sache, sondern, wie sie es ja auch als Volkskirche oder Freikirche glaubt und sagt, tatsächlich die Sache ihres Herrn ist, das wird sich dann ganz neu offenbaren und bewähren. Die Kirche dränge sich also nicht dazu, aber sie fürchte sich auch nicht davor, Bekenntniskirche zu werden.“322
Die Bekenntniskirche wird also zumindest im Ansatz zur „besseren“ Kirchenform, die dogmatisch „richtiger“ erscheint und Probleme, die Volks- und Freikirche mit sich brächten, nicht birgt. Man sollte allerdings Barths Positionen, erst recht nach 1935, in ihrer Bedeutung retrospektiv nicht überbewerten. Schon zeitgenössisch artikulierte sich nämlich Kritik im „eigenen Lager“ und nicht nur seitens eher lutherisch geprägter Persönlichkeiten.323
3.4 Spannungsfeld II: Kirche und Gesellschaft Im folgenden Abschnitt wird danach gefragt, wie sich die Protestanten zur von den Nationalsozialisten immer stärker umgeformten „Volksgemeinschaft“ positionierten. Ferner soll untersucht werden, welche Aufgaben man mit dem eigenen Status noch immer verbunden sah und zu welchen Konzessionen man bereit war, um weiterhin Einfluss auf die Gesellschaft ausüben zu können.
319 Vgl. oben 60 f. 320 Barth, Volkskirche, 420: „Bekenntniskirche ist die Kirche, die auch in der Versuchung durch den Staat ihrem Wesen treu bleiben und die auch in der Verfolgung durch den Staat ihre Existenz behaupten möchte. Auch hier gilt: Die Kirche kann es sich weder wünschen, noch kann sie sich dagegen wehren, Bekenntniskirche zu werden.“ Vgl. auch Kolfhaus, Kirche. 321 Barth, Volkskirche, 422. 322 Ebd. 323 Vgl. Wolf, Kirche, 1936.
172 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus 3.4.1 Volkskirche und die spannungsreichen Verortungen zur „Volksgemeinschaft“ In einem Kommentar zu den bereits erwähnten „28 Thesen“ konstatiert Walter Grundmann, durch die nationalsozialistische Machtergreifung sei die Kirche zur „Kirche im Staat“ geworden, habe also eine völlig neue Stellung gewonnen. Dies allein mache sie erst wirklich zur Volkskirche.324 Die Existenz einer Volkskirche wird vom nationalsozialistischen Staat geradezu abhängig gemacht. Staat und Volk werden oftmals kaum noch voneinander getrennt, es kommt immer wieder zu Überschneidungen.325 Das Erleben der Volkseinheit sowie das Zusammenfinden in einer „Volksgemeinschaft“ sind für Grundmann „innere Voraussetzung[en]“326 dafür, dass die Volkskirche neu werden könne, denn: „Als Nationalsozialisten verstehen wir Volk als eine Gemeinschaft von Menschen gleichen Bluts und gleicher Art und nicht nur als eine Gemeinschaft von Menschen, die die gleiche Sprache sprechen. Blut und Rasse sind also die Grundlagen des neuen Volkserlebens und der neuen Volksgemeinschaft. Damit ist wieder verstanden, was Volk eigentlich bedeutet. Aus den Naturgegebenheiten von Blut und Rasse formt die Geschichte ein Volk.“327
Damit ist näher bestimmt, welches Volk zur deutschchristlichen Volkskirche gehört, diese ist nämlich völkisch exklusiv. Erst wo Volk werde, könne auch Volkskirche werden, so Grundmann weiter. Die „Volkwerdung“, die die Nationalsozialisten in Gang gebracht haben, bedeute „die Erfüllung eines göttlichen Schöpferwortes: Es werde Volk! Und es ward Volk.“328 Da Gott hier am Werke sei, müsse man sich ganz in diese „Volkwerdung“ hineinstellen: „Das bedeutet aber, daß wir eine Volkskirche schaffen, die sich bekennt zu Blut und Rasse als den Schöpfergaben Gottes, aus denen heraus immer wieder Volk entsteht.“329 Das habe aber nun Folgen für die Gestaltung der Volkskirche. Als Glieder dieser Volkskirche sollen nämlich all diejenigen gelten, die „wirklich Volksgenossen“330 seien. Wer dies sei, werde im Einzelnen vom staatlichen Recht bestimmt. Das ist freilich, ob Grundmann dies bewusst ist oder nicht, eine ungeheuer weitreichende Konzession die staatlichem Recht hier über die
324 325 326 327
Vgl. Grundmann, Thesen, 12. Vgl. auch M ller / Grundmann, Kurs. Dies galt wohl besonders für das Bürgertum, vgl. Herbert, Geschichte, 364 f. Grundmann, Thesen, 14. Grundmann, Thesen, 15. Vgl. auch Grundmann, Religion sowie die Monografie mit demselben Titel. 328 Grundmann, Thesen, 15. Vgl. zu diesem Stichwort auch: Heinze, Volkwerdung. 329 Grundmann, Thesen, 16. 330 Ebd. Vgl. auch noch einige Jahre später: Grundmann, Gesetz.
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Mitgliedschaftsrechte der Kirche entgegengebracht wird.331 Denjenigen, die keine Volksgenossen sind, will Grundmann aber ein „unbedingte[s] Gastrecht“ zuerkennen, auch wenn ihm eine klare Unterscheidung zwischen beiden Mitgliedschaftsformen wichtig ist.332 Eine solche Vorgehensweise hält er für gut lutherisch. „Einen getauften Juden hat Luther in einem Brief an Justus Jonas einmal bezeichnet als ,einen Gast in der Volkskirche und als einen Hausgenossen in der Kirche der Juden‘. Damit ist dieselbe Unterscheidung vollzogen, wie wir sie zu vollziehen versuchen. Mit dieser Entscheidung zugleich ist die andere verbunden, daß geistlicher Amtsträger innerhalb der Volkskirche nur sein kann, wer nach dem Recht des Staates Beamter sein kann.“333
Grundmann führt dies nochmals im Hinblick auf die fünfte These aus.334 Die Rein- und Gesundhaltung der Rasse sei eine Verpflichtung für das kirchliche Handeln, welches sich ebenfalls aus dem „Volkserleben“ heraus ergebe. Sie sei eine der Gaben, die Gott der Kirche geschenkt habe. Deswegen „kann eine Volkskirche, die wirklich um Volk weiß [!], dieser Regierung dabei nicht in die Arme fallen, im Gegenteil: sie muß eine solche Regierungshandlung in jeder Weise unterstützen.“ Zu den Voraussetzungen einer „gesunden Ehe“ gehöre es darum auch, „daß die Zugehörigkeit zur selben Rasse vorhanden“335 sei. Ein Eheschluss zwischen Angehörigen unterschiedlicher Rasse sei darum „gegen die Ordnung, die Gott diesem Leben gegeben hat, und wird von einer Volkskirche deshalb als Vorstoß gegen Gottes Willen erkannt. Gerade an dieser Stelle wird eine Volkskirche zeigen können und zeigen müssen, daß sie wirklich Ernst macht mir ihrem Glauben an Gott den Schöpfer, und daß aus diesem Glauben heraus volkserhaltende und volksgestaltende Kräfte entspringen.“336
An der Einhaltung von staatlichen Gesetzen kann also in der Vorstellung von Grundmann die Volkskirche ihren Glauben an Gott erweisen. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass aus diesem Glauben „volkserhaltende und volksgestaltende Kräfte“ entspringen müssten. Die Unterordnung unter den na-
331 Man denke hier an die im Kapitel 2 diskutierte Unterscheidung zwischen ius circa sacra und ius in sacra, vgl. hierzu Heckel, Cura. 332 Das Gastrecht beinhaltet die Teilnehme an Wortverkündigung und Sakramentsdarbietung, „aber es öffnet nicht den Zugang zum kirchlichen Amt und zur Mitbestimmung in der Kirchengestaltung, in Kirchenvorstand und Synoden.“ (Grundmann, Thesen, 16). 333 Ebd., 16 f. Dass es sich hierbei um ein wörtliches Luther-Zitat handelt, kann wohl ausgeschlossen werden, da diesem der Begriff überhaupt nicht bekannt gewesen ist. 334 Diese lautet nach ebd., 19: „Weil die deutsche Volkskirche die Rasse als Schöpfung Gottes achtet, erkennt sie die Forderung, die Rasse rein und gesund zu erhalten, als Gottes Gebot. Sie empfindet die Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Rassen als Verstoß gegen Gottes Willen.“ 335 Ebd., dort auch das vorherige Zitat. 336 Ebd., 19 f.
174 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus tionalsozialistischen Staat war also eine wichtige Voraussetzung für den Glaubenserweis des „Deutschen Christen“. Zu den theologischen Köpfen der DC, von denen es auf hohem theologischen Niveau nicht allzu viele gegeben hat, gehörte der zu dieser Zeit in Göttingen lehrende Emanuel Hirsch.337 Hirsch erörtert 1933 die „wirkliche Lage unsrer Kirche“.338 Die Bewegung der „Deutschen Christen“ habe zweierlei offenbart. Zum einen habe sie aufgrund der unsicheren Lage der kirchlichen Führung, sich die Forderung nach einer Reichskirche zu eigen gemacht. Hier habe man den entscheidenden Stoß zu wirklichen Veränderungen gegeben. Zum anderen hätten sie gezeigt, „daß wir bisher […] eine Kirche, die ein Volk hat, und ein Volk, das eine Kirche hat, nicht hatten.“339 Das Kirchenvolk liege vor der Bewegung der „Deutschen Christen“ „als eine nicht gestaltete und leicht zu formende Masse da.“340 Zu den Idealen seiner Generation habe die „wahrhaft eigenständige Kirche“ gehört. Allerdings stehe man nun vor der einfachen Tatsache, dass derzeit alle Bedingungen für die Verwirklichung einer solchen Kirche fehlten. Somit gebe es „also keinerlei inneres Recht, uns dagegen zu wehren, daß die evangelische Kirche ,Kirche im nationalsozialistischen Staate‘, Reichskirche werde.“341 Die widerstrebenden Kräfte hätten keine Aussicht auf Erfolg, die „Deutschen Christen“ aufzuhalten.342 Da man gegenwärtig eine neue Volkswerdung erlebe, werde auch die neue Kirche keine Staatskirche im alten Sinne werden. Es gehe den DC vielmehr um eine „volksverbundene Kirche“, die dadurch zu verwirklichen sei, dass man die Kirche in „innerer Gleichartigkeit zum nationalsozialistischen Staate“ aufbaue, „also vor allem den Führungsgedanken in ihr durchsetzen und die Menschen, die in ihr führen sollen richtig auslesen und ausbilden“ müsse. Erst dann könne die evangelische Kirche „wahrhaft eine deutsche Volkskirche werden, d. h. eine Kirche, die vom Volke geliebt wird als seine eigene Kirche und die ihrerseits das Volk mit ihrem Worte zu bewegen vermag.“343 Hirsch sieht jedenfalls große Möglichkeiten darin, nun keine halben
337 Vgl. Ericksen, Theologen, 167–267. Das Kapitel zu Hirsch trägt den Titel „Der Nazi-Intellektuelle“. Vgl. auch von Scheliha, Hirsch und kürzlich nochmals Ericksen, Hirsch. 338 Hirsch, Lage. Vgl. H ttenhoff, Kirche; Huxel, Kirchentheorie. 339 Hirsch, Lage, 183. 340 Ebd. 341 Beide Zitate ebd. 342 Vgl. ebd., 184: „Es ist einmal die im Ganzen ahnungslose Kirchenbürokratie, welche beim Kirchenneubau überhaupt nur organisatorische und technische Probleme zu erledigen für nötig hält und meint, der Stunde mit irgendeinem Verfassungsentwurf, welcher dem Kirchenvolk von oben übergestülpt wird […] Genüge zu tun. Es sind zweitens Theologen […], welche eine Position theologisch unangreifbarer Korrektheit beziehen und sich dadurch vor jeder Berührung mit der Gefahr und der Möglichkeit der gegenwärtigen Stunde sichern. […] All das hat keine Kraft.“ 343 Alle Zitate ebd.
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Sachen zu machen, sondern die Kirche energisch im deutschchristlichen Sinne umzugestalten.344 Zwei Wochen später veröffentlichte er einen Artikel im „Völkischen Beobachter“, in dem er das Verhältnis zwischen Kirche und nationalsozialistischem „Volksstaat“, erneut äußerst positiv darstellte. Es sei nicht gleichgültig für den Neubau des Volkes und des Staates, was aus der evangelischen Kirche werde. Da der Nationalsozialismus eine innere Verwandlung des Menschen beabsichtige, habe er mit der Kirche ein gemeinsames Arbeitsfeld und ihr einiges zu bieten.345 Nicht zuletzt habe kein anderes Volk der Welt einen führenden Staatsmann, „dem es so ernst um das Christliche ist“.346 Nochmals eine Woche später führt Hirsch weiter aus: „Es ist unser Anliegen als Deutsche Christen, daß unser evangelisches Christentum den Ruf des Führers nach rechter Mitarbeit an der neuen Volkwerdung der Deutschen nicht überhöre. Darum fordern wir Neubildung der Anschauungen von Volk, Staat und Kirche im Sinne unsrer Richtlinien. Eine zu tatkräftigem Handeln bereite Kirche, die aus eigener Verantwortung hingegeben ist zum Dienst an Volk und Staat, das ist unser Losungswort.“347
In diesem Zusammenhang ist auch eine Schrift Karl Heims zu sehen, der sich 1933 wieder der Thematik der Volkskirche zuwandte. Heim war in den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges der Wortführer einer liberal orientierten Volkskirche gewesen. Nun legte er dar, dass, auch wenn das Volk nun nach der Kirche rufe, diese nicht zu einem Sammelbecken für alles, was nun im Volk an Gottesglauben erwache, werden dürfe.348 In Fragen der Kirchenverfassung dürfe man nicht – wie dies die DC forderten – die Mehrheit entscheiden lassen. Dies würde nämlich zu einem Sieg des religiösen Ichs des natürlichen Menschen führen, wenn auch nicht zum Ende des Evangeliums. Vielmehr stünde am Ende eines solchen Verfahrens, über das „Herr Omnes“ bestimme, „eine deutsche Staatsreligion […].“349 Heim ist der Ansicht, dass der Staat der Kirche bedürfe „als der Kraftquelle, aus der ihm innerste Kräfte der Hingabe zufließen.“350 Im weiteren Verlauf seiner Schrift bleibt aber offen, 344 Vgl. ebd., 185. 345 Vgl. Hirsch, Nationalsozialismus, im Folgenden zitiert nach Hirsch, Wollen. Vgl. ebd., 23 f: „Eine Bewegung, welche Kameradschaft, Opferbereitschaft und Brüderlichkeit allen Volksgenossen anerziehen will, eine Bewegung, welche weiß, daß nur aus der Verantwortung eines letzten Glaubens recht gehandelt werden kann, hat ein inneres positives Verhältnis zu den ethischen und religiösen Grundvoraussetzungen des christlichen Glaubens.“ 346 Ebd., 24. Vgl. auch die Ausführungen in Hirsch, Wort. 347 Hirsch, Volk, 27. 348 Vgl. Heim, Staatsreligion, 9. Vgl. auch die Rezension Bach, Politik. Heim griff in einer Monografie das Bekenntnis der von ihm und Otto Schmitz angedachten „freien Volkskirche“ wieder auf, vgl. Heim, Jesus, der als zweiter Band seiner Studie „Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung“ erschien. 349 Heim, Staatsreligion, 9. 350 Ebd., 10.
176 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus was mit der evangelischen Volkskirche, die wohl die von ihm zu befürwortende Alternative zu sein scheint, gemeint ist. Allerdings ruft er dazu auf, Personen zu suchen, die den Kampf zum Heil des Volkes auf sich nehmen würden.351 Gerade am Beispiels Heims zeigt sich, zu welch Neu- und Umorientierungen sich mancher Theologe im Kontext des Nationalsozialismus berufen sah. 3.4.2 „Kirche im Angriff“? – der Streit über das Verhältnis von „Volkwerdung“ und Volkskirche Für die „Kirche im Angriff“, wie sich die DC in einem ihrer Publikationsorgane selbst bezeichneten, sei die „Einheit von Evangelium und Volkstum“ die zentrale Forderung der Gegenwart, die man sich zu eigen gemacht habe.352 Popularisiert wurde dieser Slogan von Friedrich Gogarten, der zu den Mitbegründern der Dialektischen Theologie gehörte, 1933 aber den „Deutschen Christen“ beitrat.353 Die Forderung der gegenwärtigen Stunde, so Gogarten, könne nicht durch Verfassungsänderungen oder Ähnliches erfüllt werden. Mit dem Ruf nach einer Reichskirche sei noch mehr gemeint. In ihm artikuliere sich gewissermaßen „die deutsche Forderung schlechthin […].“354 Der Sinn der Parole „Einheit von Evangelium und Volkstum“ bestehe darin, beide „in ein sehr viel näheres Verhältnis“ zu bringen, als dies bisher der Fall gewesen sei. Durch die Reichskirche wolle man von Seiten der nationalsozialistischen Christen eine Änderung an der Substanz der Kirche vornehmen, „die nur durch eine Bewegung, die der nationalsozialistischen Bewegung entspräche und die, wie jene aus dem tiefsten Quell der politischen Existenz bricht, so aus dem tiefsten Grund der kirchlichen Existenz bräche.“355 Im Unterschied zu Barth, von dessen Schrift „Theologische Existenz heute!“ er sich klar abgrenzt, war Gogarten der Überzeugung, „daß wir allerdings unsere ,theologische Existenz‘ verwirken […], wenn wir nicht mit allem Ernst darüber nachdenken, in welcher Weise uns Gottes Führung durch die politischen Ereignisse Anlaß gibt, seinem Wort neues Gehör zu schenken.“356 Durch den Totalitätsanspruch des Staates würde man nun „tiefer und elementarer“357 von diesen 351 Vgl. ebd., 15. Heim liebäugelt allerdings auch mit der Rezeption von rassekundlichen Erkenntnissen für die Gestaltung der Kirche und im Hinblick auf die Verkündigung des Evangeliums (vgl. ebd., 13–15). 352 Vgl. Frçhlich, Kirche, 15; vgl. auch Frçhlich, Offensive. Fröhlich war der Superintendent von Leipzig-Land sowie Pfarramtsleiter der dortigen Petersgemeinde, vgl. Wilhelm, Diktaturen, 256. Vgl. auch noch Hossenfelder, Christentum. 353 Zu Gogarten vgl. neben der älteren Arbeit von Kroeger, Gogarten jetzt vor allem Goering, Gogarten. 354 Gogarten, Einheit, 5. 355 Dieses wie auch das vorherige Zitat ebd., 6. 356 Ebd., 7. 357 Ebd. Vgl. auch ebd., 9: „Seine [gemeint ist der Staat, BB] Totalität meint nicht nur die äußere
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Ereignissen betroffen sein, als dies für gewöhnlich der Fall sei. Gogarten argumentiert im Weiteren dann vor allem ordnungstheologisch: Staat und Volk seien „die Grundfesten der menschlichen Existenz“358 und diese allein könnten den Menschen „bewahren vor der Gefahr der Zerstörung und Entartung, die sie von innen sowohl wie von außen, ständig bedrohen.“359 Diese Entwicklungen könnten nun seiner Überzeugung nach nicht ohne Einfluss auf die Kirche bleiben. Dass diese so ängstlich auf die nationalsozialistische Herrschaft reagiert habe, sei wahrlich kein Ruhmesblatt für sie.360 Für die Verkündigung des Evangeliums im neuen Staat, ja sogar für die Zukunft des deutschen Volkes komme alles darauf an „daß das Volkstum in seinem Charakter als sittliches Gesetz, das soll heißen, als Gesetz, das Zucht verlangt, rein erhalten bleibt. Volkstum ist nie etwas naturalistisch Gegebenes, sondern es ist immer etwas sittlich, in Zucht Aufgegebenes. Und auch Rasse und Blut, die gewiß von Volkstum nicht zu trennen sind, sind von hier aus zu verstehen.“361
Die Arbeit am Volkstum als sittlichem Gesetz, also als einem Gesetz Gottes ist für Gogarten eine wesentliche Aufgabe der Kirche. Aufschlussreich für viele DC-affine Stimmen ist das Resumee Gogartens: „Die einzelnen Gebote des Gesetzes verlieren unfehlbar ihren Sinn und hören auf, verpflichtende Gebote zu sein, wenn sie nicht immer wieder aus dem Inbegriff des Gebotes erfüllt und lebendig werden. Und ebenso verlieren die Übertretungen der Gebote, die Sünden, ihren Ernst, und werden nicht mehr als die Verderberinnen des menschlichen Lebens erkannt, wenn ihre Sündhaftigkeit nicht immer neu aus der Sünde verstanden wird. Damit das aber geschieht, ist es nötig, daß die Kirche das Evangelium verkündigt. Denn nur in der Verkündigung des Evangeliums wird das Gesetz rein und lauter als das Gesetz Gottes […] gepredigt. Darum darf auch unser Volkstum, damit es wieder rein und gesund wird, darum bedarf auch unser Staat, damit sein Herrschaftsanspruch Kraft und Begründung erhält, der Predigt des Evangeliums. Und zwar der Predigt des reinen, unverfälschten Evangeliums, aus dem heraus allein die Predigt des reinen und lauteren Gottesgesetzes möglich ist und aus dem heraus der Anspruch und die Souveränität von Staat und Volk als der Anspruch und die Souveränität des Gottes erkannt werden, der um seines ewigen Heilsplanes willen diese irdische Welt erhält.“362
358 359 360 361 362
Existenz des Menschen, nicht nur sein Hab und Gut und sein leibliches Leben, sondern sie meint sein höchstes irdisches Gut, die Ehre. Sie meint also den Menschen in einem durchaus innerlichen, geistigen Sinn, so gewiß die Ehre des Menschen eine innerliche, geistige Angelegenheit ist und seine innerliche geistige Existenz meint.“ Ebd., 9. Ebd., 10. Vgl. ebd., 13. Ebd., 22. Ebd., 30. Vgl. auch die instruktive Studie von Holzbauer, Nation.
178 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Unter ordnungstheologisch orientierten Theologen war man zu der Überzeugung gelangt, dass in „der Kirche […] der Zusammenhang zwischen Christus und dem Volksnomos lebendig und gegenwärtig wirksam“363 werde. Darum spreche man von Volkskirche. Hierbei handele es sich allerdings um einen „viel mißbrauchten Begriff“364. „Wir haben es hier weder mit dem Gegensatz von Volkskirche und Bekenntniskirche, noch mit dem Gegensatz von Volkskirche und obrigkeitlich regiertem Staatskirchentum, noch endlich mit dem Gegensatz von Volkskirche und Pastorenkirche zu tun. Denn in diesen drei Entgegensetzungen handelt es sich um polemisch verzerrte Gedanken und unhaltbar schiefe Gegensätze, die durch zweierlei gekennzeichnet sind: erstens durch die Entleerung des Glaubens an die Kirche, wie ihn das Neue Testament und die Reformation verkündigen, auf dem Boden der modernen Welt, zweitens um das Eindringen der demokratischen Volksherrschafts- und Verfassungsordnungen in das Leben der Kirche seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.“365
Heinz-Dietrich Wendland bestimmt die Volkskirche folglich dialektisch, zunächst durch „ein Unterschiedensein von Volk und Kirche“366 auf deren Grundlage eine Verbundenheit der beiden zu konstatieren sei. Während das Volk seinen Ort in der Schöpfung habe, liege der Ursprung der Kirche in dem Erlösungshandeln Gottes. Ein Volk könne niemals aus sich selbst heraus Kirche sein.367 Volk und Kirche gehörten „zwei verschiedenen Ordnungen des göttlichen Handelns an“368; da das Volk Gottes aus vielen Völkern berufen worden sei, könne es folglich keine Identität der beiden mehr geben. „Wirkliche volksgebundene Menschen“ rufe Gott durch den Glauben in seiner Kirche zusammen. Dabei gehe die Kirche in den Volkstümern und Völkern nicht auf, sondern „sie geht mit ihrer Botschaft in die Völker ein.“369 So erst entstehe Volkskirche. Sie sei „der Ort, da diesem Volke göttliches Gericht und Heil verkündet und gegenwärtig werden, und aus der Gegenwart des Heils in der Verkündigung in diesem Volke eine Gemeinschaft der Glaubenden“370 entstehe. Ihre Aufgabe bestehe in dem Priesterdienst an dem Volke, „indem sie fürbittend für dieses Volk hintritt vor Gott und dienend hineintritt in die Not und die Leiden dieses Volkes.“371 Im Anschluss an Emil Brunner meint 363 Wendland, Volk, 133. Der Sammelband indem dieser Beitrag erschien wurde sehr stark rezipiert, bis 1937 erschienen fünf Auflagen. 364 Ebd. 365 Ebd., 133 f. 366 Ebd., 134. 367 Ebd.: „Leben und Erlösung empfangen wir nicht durch die menschlich-sündige Volksreligion, sondern durch Christus, der die Volksreligionen zugleich richtet und erfüllt.“ 368 Ebd., 135. 369 Beide Zitate ebd. 370 Ebd. 371 Ebd., 136.
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Wendland, dass die Kirche „nicht eine nur-göttliche, sondern immer eine göttlich-menschliche“372 sei. Als Kult- und Lebensgemeinschaft werde sie durch das Volkstum bestimmt: „Zu dieser ihrer Volksgebundenheit sagt die Kirche ja; denn sie kann ohne diese nicht eine Wirklichkeit im Leben des Volkes werden.“373 Durch die Zerstörung des Volkstums auf der einen Seite und der „Verwandlung des Evangeliums in humanitäre Moral“374 auf der anderen Seite, habe sich die Volksgebundenheit des Volkes aufgelöst. Darin sieht er aber eine große Gefahr: „für die Kirche Loslösung von der Wirklichkeit, für das Volk Verfall in der Verweltlichung. Darum ist Volksgebundenheit der Kirche Anliegen und Aufgabe der Kirche um ihrer Verkündigung und ihres gesamten Dienstes willen. In der Kirche, als Kirche tritt Volk vor Gott.“375
Kirche und Volk sind seiner Ansicht nach zwei füreinander bestimmte und aufeinander bezogene Ordnungen. Ihre jeweils eigene Substanz mache dieses Füreinander möglich. „Als Volks-Kirche hat die Kirche die geschichtliche Wirklichkeit und Gestalt wie den Ort ihres Dienstes. In der Kirche wird die natürliche Religiosität des Volkes befreit und erfüllt, sein Unglaube gerichtet. Im gegenwärtigen Sichentscheiden zur Volks-Kirche tritt ein Volk vor Gott, begegnet es dem Evangelium. Das ist die höchste Würde, derer ein Volk als Gottes Kreatur teilhaftig wird.“376
Bei Wendland, der den Volkskirchendiskurs auch nach 1945 mitprägen wird, findet sich wohl die elaborierteste ordnungstheologisch begründete Auseinandersetzung mit dem Begriff zu Beginn des „Dritten Reiches“, die auf „rassische“ Begründungsmuster weitestgehend verzichtet. Die Ineinssetzung von Volk und Kirche wird von ihm zwar abgelehnt, man weiß aber nicht wie weit die Konzessionen an den neuen Staat gehen sollen, tritt doch mit der Volkskirche „ein Volk vor Gott.“377 Die sittliche Arbeit am eigenen Volk, untermauert durch den ordnungstheologischen Überbau des Staates, wird so zum eigentlichen Auftrag der christlichen Verkündigung gemacht. Es war zudem der volksmissionarische Impetus, verbunden mit einer starken Betonung der Männlichkeit, der sich in den frühen Veröffentlichungen der DC – und zum Teil auch darüber hinaus – niedergeschlagen hat.378 In dem Artikel von Andreas Fröhlich, der eingangs zitiert worden ist, werden alle diese Elemente miteinander verbunden. Die geforderte Einheit von Evange372 373 374 375 376 377
Ebd. mit Verweis auf Brunner, Gebot, 512–524. Wendland, Volk, 136. Ebd., 136 f. Ebd., 137. Ebd. Ebd. Dies blieb ein Grundproblem, an dem sich Wendland auch nach dem Krieg abarbeiten wird, dann unter der Bezeichnung „Kirche und Gesellschaft“, vgl. Laube, Theologie, 17–31. 378 Vgl. Hermle, Aufstieg sowie Bergen, Cross, 61–81.
180 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus lium und Volkstum wird mit dem Auftrag verbunden, sittlich auf das Volk einzuwirken; insgesamt tritt ein großer Eifer für die Volksmission zutage.379 Zusätzlich werden aber auch ganz bestimmte Voraussetzungen unter denen diese durchgeführt werden soll, genannt. Volksmission müsse nämlich „national sein und ganz auf dem Boden des Dritten Reiches stehen.“380 Ferner habe sie sich der deutschen Sprache zu bedienen und zwar in einer Weise, die nicht auf die Tränendrüsen drücke, stattdessen müsse „ein Appell mannhafter Art“ ertönen.381 Auch Walter Grundmann382 sieht in der volksmissionarischen Arbeit die „wichtigste Aufgabe der Stunde“383 für die Kirche. Denn da die Größe der gegenwärtigen Stunde eine politische sei, befürchteten einige eine Politisierung der Kirche. Aber die NSDAP sei „ja nicht, wie heute jedem deutlich geworden sein sollte, Partei, sondern die Organisation des Staatsvolkes als Bewegung und Kerntruppe, denn national sein heißt heute nationalsozialistisch sein“384; ferner sei „Politik […] heute Volkwerdung.“385 Grundmann argumentiert mit der Unterscheidung von Evangelium und Gesetz. Die Kirche sei durch die doppelte Verkündigung dieser beiden Aspekte „beides zugleich: Ordnung im Volke, die das Gesetz als Ordnungswillen Gottes verkündigt und Kirche Jesu Christi, die das Evangelium als Vergebung und Leben verkündigt.“386 Praktisch resultiere daraus für die volksmissionarische Arbeit, dass sie nicht Apologetik, sondern „Kerygmatik“ sein müsse. Apologetik sieht Grundmann mit einer defensiven Haltung verbunden, die er als nicht mehr zeitgemäß betrachtet. Das Kerygma hingegen stehe unter dem obersten Leitsatz: „Unsere Aufgabe ist es um der zu treibenden Volksmission willen, daß wir den Deutschen von 1933 Deutsche von 1933 sind und werden.“387 Das impliziert zunächst eine Konzentration auf den „Deutschen“ allein, was mit einer „arischen Herkunft“ gleichgesetzt wird und zielt ferner darauf ab, dass die Kirche ebenso nationalsozialistisch werden soll, wie der Rest des Deutschen Reiches.388 379 Unter Volksmission ist historisch vor allem die auf Wichern zurückgehende Innere Mission zu verstehen, die „als ,Evangelisation‘, als ,missionarischer Gemeindeaufbau‘ die Beziehungen der Kirche zum Volk, zumal zu den in soziale Not Geratenen“ (Knobloch, Volksmission, 1196) zu intensivieren beabsichtigte. Vgl. zum Verhältnis von Volkskirche und Volksmission ferner Riesener, Volksmission, 21–38 380 Frçhlich, Kirche, 16. Vgl. auch Wieneke, Volksmission. 381 Frçhlich, Kirche, 16. Vgl. auch Frçhlich, Volkskirchen. 382 Vgl. Heschel, Theology; Heschel, Theologen; Heschel, Jesus; Heschel, Karrieren; Heschel, Rassismus; Adam, Werdegang. Zu Gerhard Kittel, dem akademischen Lehrer Grundmanns vgl. Ericksen, Theologen, 47–114. 383 Grundmann, Volksmission, 14. 384 Ebd., 15. 385 Ebd. 386 Ebd., 17. 387 Ebd., 18. 388 Wobei Grundmann wohl der Vorstellung anhängt, dass alle Deutschen, oder zumindest der überwiegende Teil damit gemeint sein muss.
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„Evangelische Theologie und Arbeit der evangelischen Kirche kann im Dritten Reiche nicht ohne weiteres sich so fortsetzen wie der Horengesang von Maria Laach (Karl Barth). Das bedeutet für unsere Verkündigung zuerst: daß wir die Sprache des Volkes sprechen, sodann: daß wir die Sprache des Volkes mit dem Erleben des Volkes in das Erleben unseres Volkes [hinein] sprechen.“389
Das Ziel dieser Verkündigung macht Grundmann dann zum einen in der Etablierung einer „neue[n] deutsche[n] Glaubensfrömmigkeit“390 aus. Zum anderen aber müsse eine neue deutsche Kirche gebaut werden, für die die DEK nur den Rohbau darstellen könnte. Kirche sei vielmehr wirklich da, „wo lebendige, in Bekenntnis und Tat lebendige Gemeinde Jesu Christi“391 sei. Das deutsche Volk hier hineinzuführen, sei das Ziel der volksmissionarischen Arbeit. Grundmann führt diese Bestimmungen noch näher aus. „Wir sind ein Volk geworden und stehen mitten drinnen in der Volkwerdung. Wir haben dabei und darin die Stimme unseres Blutes gehört. Volk entsteht immer aus Rasse und Geschichte. Die Geschichte formt aus dem Naturstoff Rasse Volk. Über alle Geschichte aber steht Gottes: Es werde. […] Nun sollen wir Kirche werden. Kirche werden wir dann, wenn wir die Stimme des Blutes Christi hören: für uns vergossen! Die Stimme des rassischen Blutes hören heißt glauben. Aus Glauben aber entsteht die Kirche. So öffnet sich im Erleben des Blutes innerhalb der deutschen Volkwerdung ein neues Verständnis für die Kirche. Im neuen Volk soll Kirche werden, Kirche, entstehend aus Christi Blut, bekennend Christi Namen, vollbringend Christi Willen.“392
Er nimmt eine folgenreiche Neubestimmung des Wesens der Kirche vor, die auch die deutschchristlichen Überzeugungen über die Volkskirche in ihrem Verhältnis zur deutschen Gesellschaft bestimmen sollte. Auch wenn es von ihm an dieser Stelle noch nicht thematisiert wird, erscheint es doch zu diesen Annahmen passend, wenn er sich entschieden für die Einführung des „Arierparagraphen“ innerhalb der Kirche einsetzte. Emanuel Hirsch trat diesbezüglich mit besonders eindeutigen Ausführungen hervor. Er meint, dass die Auslese der Menschen, die zum Dienst der Kirche bestellt werden, nicht durch die Brauchbarkeit zu diesem Dienst bestimmt werde dürften.393 „Wenn jetzt im deutschen Volke und im deutschen Staate ein Ethos und eine Ordnung aufgerichtet wird, welche zwischen Menschen deutschen Blutes und Menschen nichtdeutschen Blutes einen tief in das Leben eingreifenden Unterschied machen, so kann das für die Ordnung innerhalb der deutschen evangelischen Kirche nicht gleichgiltig [!] bleiben. Die Volksordnung, die die verfaßte
389 390 391 392 393
Grundmann, Volksmission, 18 f. Ebd., 21. Ebd., 22. Ebd., 23. Hirsch, Arier, 17. Vgl. auch Mischner, Prägungen.
182 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Kirche darstellt, muß sich in irgendeinem Sinn in die allgemeine Volksordnung hineinstellen.“394
Die Kirche, als Volkskirche, wird hier selbst zu einer auf „rassischen“ Prinzipien aufbauenden „Volksordnung“. Für die Zukunft der Kirche sei die „Auslese“ des Nachwuchses deswegen nach genau diesen Kriterien zu gestalten, wie sie der Nationalsozialismus für die Gesellschaft insgesamt beabsichtige.395 Im Erlanger Gutachten über die Einführung des „Arierparagraphen“ argumentieren die Verfasser Paul Althaus und Werner Elert explizit mit der Volkskirche. Das deutsche Volk empfinde die „Juden in seiner Mitte mehr denn je als fremdes Volkstum.“396 Die Frage nach dem „völkischen Verhältnis von Deutschtum und Judentum“ sei „biologisch-geschichtlicher Art“ und könne nur vom Volk selbst „im Blick auf seine besondere biologisch-geschichtliche Lage beantwortet werden.“397 Das Volk habe die Bedrohung seines Eigenlebens durch das emanzipierte Judentum erkannt und gegen diese Gefahr Maßnahmen ergriffen: „Im Ringen um die Erneuerung unseres Volkes schließt der neue Staat Männer jüdischer und halbjüdischer Abstammung von führenden Ämtern aus. Die Kirche muß das grundsätzliche Recht des Staates zu solchen gesetzgeberischen Maßnahmen anerkennen. Sie weiß sich selber in der gegenwärtigen Lage zu neuer Besinnung auf ihre Aufgabe, Volkskirche der Deutschen zu sein, gerufen.“398
In der Volkskirche der Deutschen könne also nur derjenige ein Amt übernehmen, der den „rassischen“ Kriterien der nationalsozialistischen Staatsführung entspricht. Es wird eine völkische exklusive Kirche imaginiert, auch wenn man in der Regel nicht so weit geht, den Christen jüdischer Herkunft die Mitgliedschaft zu entziehen. Diese wurden allerdings nur noch als Mitglieder niederer Klasse angesehen. Frappierend ist auch das große Verständnis, das man den auf staatlicher Ebene bereits durchgeführten Maßnahmen entgegenbringt. Die von Althaus und Elert verwendeten Begründungsmuster könnten in gleicher Weise auch im Völkischen Beobachter stehen. Es paart sich hier, wie schon bei Hirsch und Grundmann und vielen anderen, ein 394 Hirsch, Arier, 18. 395 Vgl. ebd., 19 f. 396 Althaus / Elert, Gutachten, 185. Es handelt sich hierbei sozusagen um ein Gegengutachten zum „Gutachten der Theologischen Fakultät der Universität Marburg über den Arierparagraphen in der Kirche“, in dem diese sich für die „volle Einheit zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen in der Kirche“ aussprach (abgedruckt in: Hermle / Thierfelder, Herausgefordert, 178–182, das Zitat auf 182 und im Original gesperrt). Diese Gutachten erschienen u. a. auch in der „Jungen Kirche“ und wurden dort diskutiert. 397 Althaus / Elert, Gutachten, 185. 398 Ebd. Die Mitgliedschaft in der Kirche würde davon nicht angetastet werden, sondern gleiche sich denen an, die ebenfalls nicht die Voraussetzungen für die Zulassung zu kirchlichen Ämtern erfüllten.
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historisch perpetuierter Antisemitismus mit hingebungsvoller Obrigkeitstreue.399 Grundmann sah in der „nationalen Bewegung der Gegenwart“ große Chancen für die Kirche als Volkskirche. In Gottesdiensten für „kleinere und größere Formationen der Nationalsozialisten, des Stahlhelms, des Jungdo [d. i. Jungdeutschen Ordens, BB] und anderer vaterländischer Verbände“400 könne eine wirkliche „Begegnung zwischen Volk und Kirche stattfinden“401, eine Möglichkeit, die in den sonntäglichen Gottesdiensten so nicht bestehe. Man habe es in solchen Veranstaltungen mit Menschen zu tun, die die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft ihres Volkes wollten. „Wenn anders es die Aufgabe der Kirche als Volkskirche ist, in prophetischer Vollmacht das Wort Gottes in das Leben eines Volkes hineinzusprechen, handelt es sich hier um die Möglichkeit der Erfüllung einer wesentlichen Aufgabe, die so in der heutigen Form der Gemeindegottesdienste oft nicht erfüllt werden kann. Und Volkskirche ist ja nicht soziologisch-organisatorisch zu bestimmen von dem Hineingeborenwerden in die kirchliche Gemeinschaft, also von der Taufstatistik her, sondern allein theologisch von der eben aufgezeigten Aufgabe des Wortes Gottes an das Volk her.“402
Hier zeigt sich ein weiterer Aspekt des Volkskirchenverständnisses des zu dieser Zeit noch in Tübingen lehrenden Neutestamentlers, da nämlich die Taufe nicht mehr ein ausreichender Marker der Zugehörigkeit zur Volkskirche ist, sondern die Verkündigung sich primär an einen wie oben beschriebenen eingeschränkten Teil des Volkes richten soll.403 Erich Stange, der die Volkskirche in diversen Schriften der 1920er Jahre als einen Organismus beschrieben hatte, trat 1933 ebenfalls in die NSDAP ein und erhoffte sich von den vermeintlich durch die nationalsozialistische Machtergreifung angestoßenen Dynamiken endlich einen „Durchbruch der Kirche zum Volk“.404 Die evangelischen Volkskirchen Deutschlands würden nämlich schon ihrem Namen nach „nur noch eine Fiktion“405 darstellen, da sie eben 399 Vgl. Probst, Jews. Vgl. zu diesem Kontext auch Buss, Luthertag. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. die Beiträge in Oelke, Judenschriften. 400 Grundmann, Bewegung, 321. 401 Ebd., 322. 402 Ebd. 403 Vgl. auch ebd., 327: „Der Kirche ist durch die gegenwärtige Stunde, in der die nationale und soziale, d. h. die politische Aufgabe eine unerhörte Dringlichkeit hat, auch in besonderer Weise das Wort Gottes an das Volk anvertraut.“ Vgl. in diesem Sinne auch Hossenfelder, Reichskirche, 175: „Die evangelische Reichskirche ist die Kirche der deutschen Christen, d. h. der Christen arischer Rasse.“ Friedrich Wilhelms Grafs treffender Ausdruck vom „heiligen Zeitgeist“, welches er zur Beschreibung der protestantischen Universitätstheologie in der Weimarer Republik verwendete, findet in der Aufnahme der nationalsozialistischen Ideologeme eine neue Wendung, die freilich wie oben gezeigt worden ist, ihre Wurzeln und ihren Ermöglichungsgrund schon in der Zwischenkriegszeit hatte. 404 Vgl. Stange, Durchbruch; Stange, Kirche, 1937/38. Vgl. ähnlich auch Peter, Kirche, 1932/33. 405 Stange, Durchbruch, 449. Dort weiter: „Es fehlt ihnen in so unheimlicher Weise weithin an der
184 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus nicht organisch mit dem Volk verbunden wären. Der Aufbruch von 1933 könne das zweifache Verhängnis der Volkskirche überwinden: den Marxismus auf der einen und den Rationalismus auf der anderen Seite. Die Kirche stehe allerdings den Vorgängen in der Tiefe des Volkes noch immer hilflos und ungeschickt gegenüber. Ursächlich sei hierfür eine jahrzehntelange Entfremdung zwischen Kirche und Volk: „Daher die Verkrampfung im volkskirchlichen Handeln, die noch immer bei Konfirmation, Trauung, Begräbnis usw. tut ,als ob‘. Darum der fürchterliche Mangel an volkstümlicher Predigt und das viel zu akademische Gebaren innerhalb der Kirche, die sich Volkskirche nennt. Darum so erschütternd viel Organisation, Bürokratie und Parlamentarismus innerhalb der Kirche, und so wenig organisches, wachstümliches Gestalten […].“406
Diese Vorwürfe habe er allerdings schon oft vorgebracht. Nun sei der „Einsatz von Männern“407 gefragt, die sich der Kirche in dieser Stunde persönlich verantwortlich wüssten. Das „völkische Erwachen“ der Deutschen verbindet sich bei vielen deutschchristlichen bzw. mit deutschchristlichen Positionen sympathisierenden Theologen mit der Hoffnung, dass nun auch die Volkskirche wieder ihr „Volk“ in großer Zahl zurück in die Kirche bringen könne. Der Preis, den man dafür bereit ist zu zahlen, besteht in einer gewissen Exklusivität der sich an das ganze Volk richtenden Kirche. Eine besonders radikale Position in dieser Hinsicht nahm dabei der württembergische Pfarrer Immanuel B. Schairer408 ein, der in der Kirche eine „Volksstruktur“ sah.409 Ein Element, das sich im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft auf Seiten der DC entwickelte, war eine starke Betonung der Kampf- und Männ-
406 407
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wirklichen Berührung mit dem Volke, daß manche Freikirche des Auslandes in viel lebendiger Weise zu ihrem Volke spricht, obwohl sie nicht unseren Vorzug genießt, als Zuwachskirche ohne weiteres fast die ganze Bevölkerung in sich hinein organisieren zu können.“ Vgl. auch Stange, Heimkehr, 7 f: „Als in ihrer Mitte [die der evangelischen Kirchen, BB] einmal, zweimal, immer wieder seit den Tagen Wicherns und Stöckers bis in unsere Generation die Erkenntnis aufbrach, daß unser Volk weithin der Kirche entfremdet sei und Volkskirche darum viel mehr nur noch eine Fiktion als eine Wirklichkeit bedeutet, da hat man seitens der Kirche den Ruf der Volksmission zwar ,wohlwollend‘, aber ohne jede Leidenschaft aufgenommen, die allein der Sache gerecht geworden wäre.“ Stange, Durchbruch, 452. Ebd., 453. Vgl. auch A / Doerne, Ruhe, 277: „es könnte keinen untauglicheren Weg zu dem Ziele einer echten Neugestaltung der Kirche geben als erzwungene kirchliche Neuwahlen, womöglich auf der Basis des sogenannten Urwahlrechts. Gesetzt, es ginge um die Verwirklichung der wahren ,Volkskirche‘, – eben die deutsche Freiheitsbewegung hat uns gelehrt, daß durch Parlamente und Majoritäten niemals Volksgemeinschaft geschaffen wird.“ Ferner K mmel, Volk. Vgl. L chele, Schairer. Vgl. Schairer, Volk, 196–213. Ähnlich radikal äußerte sich der ostpreußische DC-Pfarrer Julius Kuptsch, beispielswiese in Kuptsch, Reich; Kuptsch, Hitler; Kuptsch, Wiedergeburt.
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lichkeitsrhetorik.410 Der Kampf „gegen alle Feinde der Kirche und des Volkes muß mit aller Macht und Entschiedenheit weitergeführt werden. Das Kampfziel heißt: Die innere Erneuerung des deutschen Volkes.“411 Bei Wagner steht die „sittliche und religiöse Wiedergeburt des deutschen Volkes“ als „Kampfziel“ sogar ganz im Mittelpunkt der deutschchristlichen Bemühungen.412 Sie sehen sich selbst als „die SA Jesu Christi im Kampf zur Vernichtung der leiblichen, sozialen und geistlichen Not […]“413, wie es an anderer Stelle heißt. Das Volk brauche „das soziale Schaffen einer Kirche von Deutschen Christen, um das Dritte Reich bauen zu können.“414 Die Deutsche Evangelische Kirche sei erst dann gebaut, „wenn das deutsche Volk durch Christus ein Volk Gottes geworden ist.“415 So wie das Volk eine der Schöpfungsordnungen sei, so sei auch die Kirche durch Gottes Wort ins Leben gerufen – diese Parallelisierung findet sich häufig.416 Zu den Aufgaben, denen sich die Theologie stellen müsse, gehöre darum auch die Schaffung von „Grundlinien einer volkstümlichen evangelischen Soziallehre“.417 Konkret müsse der soziale 410 Hierauf hat vor allem Bergen, Cross hingewiesen. Zu den Langzeitwirkungen dieser Rhetorik vgl. Brunner, Geschlechterordnung. 411 Wagner, Christen, 3. Wagner war Pfarrer in Homberg und Leiter der Glaubensbewegung DC im Gau Düsseldorf. 412 Zitate ebd., 5. 413 Hossenfelder / Themel, Botschaft, 3. Themel war der Reichsreferent für Sozialfragen in der Glaubensbewegung DC und tat sich später durch sein besonderes Engagement hinsichtlich der „Kirchlichen Amtshilfe“ hervor, also den Bemühungen anhand von Kirchenbüchern jüdische Herkunft nachweisen zu können. Vgl. zu Themel Gailus, Fälle; Gailus, Sozialpfarrer. 414 Hossenfelder / Themel, Botschaft, 3. Dort weiter: „Ehe, Familie, Rasse, Volk, Staat und Obrigkeit sind uns Gottes Schöpfungsordnungen, die wir heilig halten; wo menschliche und völkische Sünde sie zerstört haben, suchen wir sie nach Gottes Gebot in ihrer Reinheit wiederherzustellen:“ Vgl. auch Peter, Kirche, 1933. Und vor allem Grundmann, Thesen, 28 f: „Der Nationalsozialismus unseres Führers bedeutet uns ein Gnadenwunder Gottes: Er riß unser Volk aus diesem Zusammenbruch noch einmal zurück und stellt uns wieder hinein in die Lebensordnungen Ehe und Familie, Volk und Staat, und führt uns in das Erleben der völkischen Zusammengehörigkeit und der Volksgemeinschaft hinein. Das kann und darf für eine Kirche nicht gleichgültig sein. Eine Kirche müßte schon gottlos geworden sein, wenn sie nicht erkennen wollte, wie hier Gott sichtbar mit unserem Volke gehandelt hat, indem er uns den Führer gab, indem er uns errettete aus dem Zusammenbruch, indem er uns wieder dazu führte, seinen Willen zu erfüllen in Ehe und Familie, in Kirche und Staat. […] Indem die deutsche evangelische Kirche im nationalsozialistischen Totalitätsanspruch den Ruf Gottes zu Volk, Staat und Familie erkennt und diesen Ruf verkündigt, verkündigt sie den Willen Gottes, der zu allen Zeiten im Gesetz Gottes offenbar wird. Wo aber der Mensch von Gottes Gesetz etwas weiß, da fängt er auch wieder an, nach dem Evangelium zu fragen.“ 415 Hossenfelder / Themel, Botschaft, 5. 416 Zum Beispiel bei Pfennigsdorf, Botschaft, 201 f: „Denn beide, das politische und das kirchliche Neuwerden, gehören innerlich zusammen. Das deutsche Volk sucht in dieser Schicksalsstunde ohnegleichen den Einklang mit dem, der es schuf. Dadurch sucht es die Kirche, die den lebendigen Gott verkündigt. Und die Kirche, die Gottes Botschaft kennt, hat den Willen zum eigenen Volk, hat den heißen Drang, ihm mit ihrer Botschaft zu dienen und ihm in Not und Drangsal, aber auch im Gelingen und Siegen Gottes Willen kundzutun.“ Ferner M ller, Kirche; Langner, Entscheidung. 417 Hossenfelder / Themel, Botschaft, 6.
186 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Körper der Kirchengemeinde bereinigt und vereinfacht werden. Der Frauenstand habe in „pflegerischen Arbeiten“ seinen besonderen Dienst, im Ganzen aber, müsse die Kirche „wieder mehr Männerkirche werden.“418 Außerdem bejahe die soziale Arbeit der DEK „das soziale Wunder des Volkswerdens in der nationalsozialistischen Revolution; sie will das neu erwachte und neu werdende Deutsche Volk mit dem Geist des Wortes Gottes erfüllen, damit ein neues völkisches und soziales Christuswollen in der gesamten Volksgemeinschaft zum Durchbruch kommt.“419
Die gesamte Diktion dieses pathetischen Abschnittes verdeutlicht die in den ersten Jahren in der Glaubensbewegung der DC verbreitete Hoffnung, dass sich innerhalb der nun „irgendwie“ entstehenden Volksgemeinschaft, auch eine Hinwendung zur Kirche, zu Christus erhoffen lasse. Alfred Wagner, ein DC-Pfarrer aus Braunschweig, führt diese Stoßrichtung noch weiter aus, indem er behauptet, die Kirche gehöre dem Volk. Die bisherige Not habe nämlich darin bestanden, dass es zwar eine Kirche gegeben habe, diese aber ohne Volk geblieben sei. Durch das mit der nationalsozialistischen Revolution eingeläutete Ende des Liberalismus, „in dem der einzelne alles war und die Volksgemeinschaft nichts“420, in dem es also keine Volkskirchen gegeben habe, die Kirchen des Volkes gewesen seien, könne es nun wieder so werden, „daß die Kirche dem Volke, dem ganzen Volke in allen seinen Stämmen und Schichten, dem Reichen sowohl wie dem Armen, dem Minister wie dem Diener gehört.“421 Die nationalsozialistische Idee, die Wagner hier dafür zu Rate zieht, besteht darin, dass nun ein Zeitalter anbreche, in dem der Einzelne nichts, aber die Volksgemeinschaft dafür alles sein solle. Die Glaubensbewegung DC wollte also Volkskirche bauen. Dabei gehe es diesmal um mehr als nur um das Wort Volkskirche, sondern vielmehr „um Sein oder Nichtsein allen Ernstes.“422 Hier wird also eine völkisch exklusive, deutschtümelnde und tendenziell nationalsozialistische Volkskirche als Selbstbeschreibung gewählt, deren Ziel darin besteht, das, was Kirche und Nationalsozialismus an gemeinsamen Werten und sittlichen Zielvorstellungen besitzen zum Inhalt der Verkündigung zu machen. Diesem Zweck dient grosso modo auch der volksmissionarische Impuls des Jahres 1933. Wie oben gezeigt worden ist, hatte Karl Barth Vertretern der Jungreformatorischen Bewegung vorgeworfen, in vielem mit den DC übereinzustimmen. In die von ihm kritisierte Richtung ließe sich beispielsweise ein Beitrag Fritz Söhlmanns, deuten, den dieser veröffentlichte, kurz nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler am 29. Juni 1933 zu sich bestellt hatte, 418 419 420 421 422
Ebd. Ebd., 7. Wagner, Kirche, 287; Wagner, Kämpfende Kirche; Grundmann, Kirche, 1934a. Wagner, Kirche, 287. Krause, Volkskirche, 19 f. Vgl. auch Seck, Ringen.
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um seine Sorge hinsichtlich des harten Vorgehens August Jägers deutlich zu machen: „Wir tragen es in tiefer Freude vor Gott, daß nun durch die Ereignisse der letzten Tage im Dritten Reich der Weg zur Volkskirche unter dem Evangelium frei geworden ist. Das Reden vom Schisma, alle Not und Verzweiflung, welche die Jungreformatorische Bewegung trotz allem immer wieder als verantwortungslos abgelehnt hat, haben nun im evangelischen Kirchenvolk ein Ende. Alle Kraft gilt jetzt dem Aufbau! Der Weg zu einer jungen Reformation ist frei. Das Ziel ist eine lebendige junge Kirche des deutschen Volkes, die wirklich Volkskirche, d. h. nicht ,Freikirche‘, nicht ,Standeskirche‘, nicht ,Pastorenkirche‘, nicht volksfremde Kirche ist, die ,über die internationalen Probleme die nationalen Aufgaben vergißt‘, sondern die eine Kirche ist, die in ihrer inneren Macht dem Aufbruch des deutschen Volkes in der nationalen Revolution entspricht.“423
Gleich mehrere Dinge werden in diesem kurzen, aber programmatischen Text deutlich. Der Begriff der Volkskirche wird, mit der näheren Bestimmung „unter dem Evangelium“, sehr prominent in Anschlag gebracht. Aber auch die weitere Kontextualisierung von Söhlmann ist aufschlussreich. Zunächst macht er deutlich, dass auch die Jungreformatorische Bewegung der neuen Obrigkeit treu sein will.424 Söhlmann artikuliert auch eine gewisse Erleichterung, dass nun alle Kräfte für den Aufbau dieser Volkskirche mobilisiert werden könnten. Barth warf solchen Aussagen – wohl nicht ganz zu Unrecht – vor, dass sie sich weder genügend vom Staat, noch genügend von einem überhöhten „völkischen“ Selbstbewusstsein distanzieren würden. Semantisch war man, was die Verwendung des Volksbegriffs betrifft, jedenfalls sehr nah an der deutschchristlichen Diktion, allerdings ohne einen „rassischen“ Einschlag, auch wenn die neue Volkskirche keine „volksfremde“ Kirche sein und sich primär auf ihren nationalen Auftrag beschränken solle.425 Offen ist auch, was genau mit der Entsprechung des kirchlichen Aufbruchs zu jenem „des deutschen Volkes in der nationalen Revolution“ gemeint war. Die „junge Reformation“, die Söhlmann anspricht, wurde auch innerhalb des Pfarrernotbundes zu einem wichtigen Motiv, mit dem man sich vor dem Vorwurf der Reaktion zu schützen versuchte. Stattdessen beabsichtige man eine „echte Reformation“ der Kirche.426 Der Berliner Pfarrer Eitel-Friedrich von Rabenau verband dies mit der Versicherung, dass man „weder politische noch kirchliche Reaktion“427 vertrete. Das war zumindest deutungsoffen, lässt aber vor allem vermuten, dass Demokratie und Parlamentarismus in der Kirche künftig nicht zu den Forderungen des Pfarrernotbundes gehören 423 Sç[hlmann], Volkskirche, 50 [Hervorhebungen im Original fett gedruckt, BB]. 424 Das wird auch in den hier nicht zitierten einleitenden und abschließenden Zeilen deutlich. 425 Vgl. auch schon G rtler, Kampf, 18: „Reinigung des Volkes von aller Fäulnis […].“ [Im Original fett gedruckt hervorgehoben, BB]. 426 Vgl. von Rabenau, Reaktion, 367. Zu von Rabenau vgl. Noss, Rabenau. 427 von Rabenau, Reaktion, 365.
188 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus dürften.428 Barths Invektiven waren also nicht ohne Anhaltspunkte. Dies verdeutlichen weitere Ausführungen von Rabenaus: „Die Deutschen Christen brachen in diese tiefe alte Kirche mit einem rücksichtlosen Reformwillen ein. Ihr positives Ziel war, die Kirche wieder stärker mit dem Volke zu verbinden und ihr eine weitaus breitere Wirkungsmöglichkeit im deutschen Volke zu verschaffen. Sie betonten dabei die Verbindung mit der Volksart und mit dem gegenwärtigen Volkserleben. Weder in dem Reformationswillen überhaupt noch in der Absicht der Verbindung mit dem Volke unterschieden wir uns von ihnen.“429
Die Übereinstimmung zwischen DC und dem Pfarrernotbund lag, soviel kann man sagen, in dem Bestreben, den unvollkommenen Kirchenkörper der Zwischenkriegszeit nach volkskirchlichen Prinzipien umzugestalten, um eine engere Verbindung zwischen Kirche und Volk zu erlangen, sowie – und das ist wohl ganz entscheidend – „breitere Wirkungsmöglichkeit“ für die Kirchen zu ermöglichen. Allerdings weist von Rabenau im Anschluss darauf hin, dass der Reformwille der DC in dreifacher Hinsicht völlig fehlgeschlagen sei. Erstens sei von ihnen neben die Heilige Schrift noch eine weitere Offenbarungsquelle gestellt worden, nämlich „das Erleben Gottes in der Art und in dem gegenwärtigen politischen Schicksal unseres Volkes“.430 Dadurch sei die Verkündigung verfälscht worden. Der zweite Fehler habe in der rücksichtslosen Anwendung politischer Machtmethoden bestanden. Drittens wirft er ihnen dann ein falsches Verständnis von Volksmission vor. Denn nicht die propagandistischen, demonstrativen Methoden, die von ihnen bevorzugt werden, würden den Glauben wecken können, sondern allein das „Wort in schlichter Lauterkeit und Freiheit […].“431 Die Gründung des Pfarrernotbundes sei seiner Ansicht nach zum einen durch den äußeren Druck entstanden, der auf die Freiheit der Kirche und der Verkündigung ausgeübt worden sei. Allerdings dürfe sich der Notbund zum anderen nicht nur in der Defensive befinden. „Was wir wollen, ist die echte Reformation unserer Kirche. Wir ringen um eine neue Begegnung zwischen Volk und Kirche, aber wir glauben, daß diese Begegnung so, wie die Deutschen Christen sie denken, ein Kurzschluß ist. Diese Begegnung kann nur in einer viel größeren Tiefe und Gründlichkeit erfolgen.“432
Eine solche habe in genauem Gegensatz zu den Ansätzen der DC zu erfolgen. Bei der anzustrebenden Reformation der Kirche müsse es demnach also um eine reine Verkündigung gehen, „d. h. um die Verkündigung, die das Wort von 428 Ebd.: „Wir wollen nicht blindlings alles, was in der alten Kirche getan und erstrebt worden ist, schlecht machen. Aber ihre Hemmungen sind deutlich und haben sich in dem Sturm, den sie im Sommer zu bestehen hatte, klar herausgestellt.“ 429 Ebd., 366. 430 Ebd. 431 Ebd. Vgl. auch Niemçller, Beurteilung. 432 von Rabenau, Reaktion, 367.
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Christus in seiner ganzen aufrüttelnden und umwälzenden Tiefe und Kraft sagt und es nicht den Wünschen des Tages oder unserer germanischen Art bequem anpasst.“433 Ferner müsse es die werbende Liebe der Gemeinde sein, die in der Volksmission wirksam werde. Als die grundlegende Aufgabe der Reformation sei außerdem an die Erneuerung des Pfarrerstandes zu denken, der vor allem volksnäher werden müsse; die Kirchenleitung solle überdies nicht nach dem Führerprinzip gestaltet werden, sondern durch ein „dem Wesen der Kirche entsprechend dienendes Hirtenamt“434 ausgeführt werden; schließlich müsse ein fruchtbarer Laiendienst in der Kirche hergestellt werden.435 Trotz dieser Einschränkungen verfällt von Rabenau zum Ende seiner Ausführungen hin wieder in eine Diktion, die Barth der Rhetorik der Jungreformatorischen Bewegung zum Vorwurf gemacht hatte: „Nur eine evangelische Kirche, die auf diesem Wege um ihre Erneuerung ringt, dient in Wahrheit der Volkserneuerung und dadurch dem neuen Staat. Ihre Frucht ist Volksgemeinschaft in innerer Freiheit. […] Sie ist unersetzliche Charakterschule der deutschen Jugend. Sie allein kann den uns auferlegten Kampf darum führen, ob Christus die segenspendende Mitte des deutschen Volkes bleibt und immer tiefer wird, oder ob eine germanisch-heidnische Religion den Heiland aus dem Raum unseres Volkes verdrängt […]. Somit ist uns mit dem Kampf um die echte Reformation unserer Kirche der Kampf um die Zukunft unseres Volkes verordnet.“436
Hier zeigt sich wiederum das Motiv, das schon in der Zwischenkriegszeit populär war, um dem Staat deutlich zu machen, wofür er die Kirche benötigt, nämlich als sittlichen Faustpfand und als Erzieher der Jugend. Erneut begegnet der enge Konnex von kirchlicher Erneuerung und der des Volkes, ohne dass völlig deutlich gemacht wird, wie diese beiden einander bedingen.437 Nicht zuletzt wird das zu dieser Zeit populäre Stichwort der „Volksgemeinschaft“ aufgerufen, die als mögliches und erstrebenswertes Ziel dieser Bemühungen verstanden werden soll.438 Über den „fruchtbaren Laiendienst“, den der Berliner Pfarrer von Rabenau ja auf die Agenda gesetzt hatte, wurde noch weiter diskutiert. Welche Rolle die 433 434 435 436 437
Ebd. Ebd., 368. Vgl. ebd. Ebd. Ähnlich auch [von Bodelschwingh], Wort, 15: „Der Kampf um diese innerlich freie Kirche des Evangeliums geht weiter. Er ist zugleich der Kampf um die Seele und um die Zukunft unseres Volkes.“ [Im Original fett hervorgehoben, BB]. 438 Vgl. auch Fendt, Gemeinde, 132: „Die Kirchengemeinde fügt sich ganz dem Volke ein, der Volksgemeinschaft; aber indem die Kirchengemeinde sich dem Volke einfügt, bringt sie ihm – Christus; das heißt: die Möglichkeit, Christus in Wort, Sakrament und Gehorsam anzutreffen und in Christus die Wirklichkeit Gottes. Das ist gewiß mehr als die Volksgemeinschaft an und für sich, aber die Kirchengemeinde selbst ist nicht mehr als die Volksgemeinschaft, sondern sie ist ein Teil der Volksgemeinschaft.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB].
190 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Laien in der Kirche einnehmen sollten war ja schon zuvor ebenso intensiv debattiert worden wie die Frage nach lebendigen Kerngemeinden, von denen aus die Volkskirche gebaut werden sollte. Durch die DC sei es, so schien es einigen zumindest, zu einer Stärkung des Laienelements in der Kirche gekommen, es bestehe also Hoffnung zur Überwindung der „,parlamentarisierten Pastoren-Kirche‘“.439 Allerdings sei schnell klar geworden, dass es „mit dem bloßen Auftun der Kirchenpforten für die Scharen im braunen Hemd“440 nicht getan sei. Das Problem des Laientums in der Volkskirche werde auf diesem Wege nämlich nicht gelöst, sondern vielmehr noch verschärft, unabhängig davon, wie sehr man die gegenwärtige Konfrontation von Kirche und Volk würdigen wolle. Nur wenn es der Kirche gelinge, den äußeren Veränderungen auch einen reformatorischen Inhalt zu geben, könne man darauf hoffen, die neu gewonnen Mitglieder auch in der Kirche zu halten.441 Hier komme dann die lebendige Gemeinde ins Spiel. Es genüge nämlich ebenfalls nicht, einfach nur eine größere Zahl an Laien zu mobilisieren, um sie dann unter kirchenpolitischen Gesichtspunkten besser verwenden zu können, wenn man seinem Volk im gegenwärtigen Schicksals- und Erneuerungskampf wirklich dienen wolle. Gesteigerte Laienarbeit habe hingegen nur dann Sinn, „wenn sie von der lebendigen Gemeinde aus geschieht, die im Glauben an die Zusage der Erlösung im Werden begriffen ist.“442 Hier wie auch an anderer Stelle wird dabei immer wieder die Relevanz der „richtigen“ Verkündigung des Wortes Gottes unterstrichen.443 Dabei sei nur angemerkt, dass es keineswegs immer eindeutig nachvollziehbar ist, was darunter verstanden werden soll und welche Art der Verkündigung als nicht vom Worte Gottes ausgehend zu subsumieren wäre. Hinsichtlich der innerkirchlichen Frontbildungen wurde die Bedeutung lebendiger Gemeinden für die Volkskirche oftmals herausgestellt, seien diese doch
439 von Thadden, Laienkirche, 294. Zu diesem vgl. Schroeter-Wittke, Thadden-Trieglaff. Thadden war nach 1945 der erste Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Eine Besinnung über die reformierten Ansichten der kirchlichen Lage zu dieser Zeit liefert Pabst, Volkskirche. 440 von Thadden, Laienkirche, 295. 441 Die Lösung des Problems sei schon darum nicht zu erwarten „weil gerade die wertvollen einsatzbereiten Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung, die den Zugang zur Kirche gefunden haben, von ihrer politischen Betätigung in der Partei oder in der SA her ganz genau wissen, was man von wirklichem Kämpfertum für eine große Sache zu verlangen hat, und es zweifellos nur umso peinlicher empfinden werden, wenn sich ihr Dienst in der Kirche als sinnlose Mühewaltung am mangelnden Objekt herausstellen sollte.“ (ebd.). 442 Ebd., 298 f [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 443 Vgl. Lilje, Kirche, 1933, 226: „Die Entscheidung über Leben oder Tod der Kirche in Deutschland liegt nicht in ihrer äußeren Gestalt, sondern allein in ihrer Verkündigung. Solange das Wort Gottes da ist, so lange ist Kirche da. Solange wir unter diesem Worte leben, so lange haben und sind wir Kirche. Laßt uns in diesem einzig gültigen Sinne Kirche sein.“ Vgl. außerdem Vater, Revolution.
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„die eigentlichen lebenskräftigten Zellen des Kirchenvolkes. Lebendige Gemeinde aber wird nicht organisiert, sondern erwächst aus dem biblischen Zeugnis, aus dem Bekenntniswort der Reformation. Es kommt heute mehr denn je in der evangelischen Kirche auf den theologischen, reformatorischen Tiefgang an. Zu diesem innersten Weg sind wir in der deutschen Volkskirche gewissensmäßig verpflichtet.“444
Man sei dafür mitverantwortlich, ob die Reformation Luthers „zu einer für das ganze Volk letztlich bedeutungslosen Sektenbildung herabsinkt, oder noch einmal das Gesicht der Gesamtkirche zu prägen imstande ist.“445An dieser Stelle wird deutlich, dass auch in den nicht-deutschchristlichen Kreisen eine „Sekte“ oder Freikirche nicht in Frage kommt. Woran man interessiert ist – und Künneth spricht hier für viele – ist, „den Geist dieses von der ganzen Welt bekämpften Volkes wirkungsvoll [zu] bestimmen, wenn sie selbst nicht durch Kirchenkonflikte zerspalten ist […].“446 Dies war freilich kein geringer Anspruch und er konkurrierte überdies mit dem der nationalsozialistischen Regierung, einen „neuen Menschen“ zu etablieren.447 Der Zusammenhalt zwischen Kirche und Volk wurde auch in Predigten beschworen, etwa in der Dresdner St. Petrikirche, in der Pfarrer Jacobs über Johannes 10,12–16 sprach.448 „Kirche und Volk gehören zusammen. Und wenn die Kirche Volkskirche sein will – und sie muß es sein und viel mehr werden, wenn sie leben will, – dann kann sie nie und nimmer an der Volksbewegung vorübergehen, die unser Adolf Hitler geschaffen, eine Volksbewegung, wie sie seit Jahrhunderten noch nicht unser Volk ergriffen hat, die vielleicht für Jahrhunderte den Dingen in Deutschland ihr Gepräge geben wird, die aus der Seele des deutschen Volkes aufgebrochen ist. Wer seine Kirche lieb hat, kann der im Ernste wollen, daß bei solchem Geschehen die Kirche beiseite steht und damit zur bedeutungslosen Winkelkirche wird, das ist: Kirche ohne Volk? Nein, niemals!“449
Was hier deutlich wird, ist die Angst, dass wenn man den nationalsozialistischen „Aufbruch“ außer Acht lasse, der volkskirchliche Charakter der evangelischen Kirchen gefährdet sei und sie zur „Winkelkirche“ werden könne.
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K nneth, Fronten, 241. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu Wendt, Machbarkeitswahn; Mayer, Menschenbild; Kroll, Endzeit; K enzlen, Mensch; Kautz, Menschenbild. 448 Joh 10,12–16: „Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.“ 449 Vgl. Jacobs, Predigt, 454; vgl. auch Jacobs, Christus.
192 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus
Über die Predigt fanden diese Ideen also auch in den Gemeinden Verbreitung.450 Die Denkfigur der Genese, oftmals mit palingenetischen Anklängen, ist im Hinblick auf die Volkskirche von großer Bedeutung.451 Nicht wenige sahen 1933 in der Volkskirche schon nicht mehr die Grundlage der eigenen Arbeit, sondern vielmehr die Zielvorgabe.452 Im Kontrast zur Zerrissenheit des Volkes sei „eine neue Betonung gliedhaften Zusammenhangs und ständischen Aufbaus von Seiten der Volkskirche“453 erforderlich, damit sie zum Gewissen des Volkes werden könnte. Es ist bemerkenswert, dass trotz Dibelius‘ kurz zuvor artikulierter Behauptung, dass man nun endlich eine wirkliche Kirche habe, für die er insgesamt viel Zuspruch erhielt, die Metapher von der Kirchwerdung, in der man nun stehe, so große Überzeugungskraft entfaltete über die Grenzen der kirchenpolitischen Fraktionen hinweg. Die so imaginierte Volkskirchenidee hat in gewisser Weise utopischen Charakter, sie schwamm auf der Welle palingenetischer Euphorie, die auch vor dem Raum der Kirche nicht haltgemacht hat. In konkrete Konzepte wurde dies allerdings kaum umgesetzt. Es ist insofern nicht weiter überraschend, dass der missionarische Charakter der Volkskirche, als einer lebendigen und in Analogie zum Volk im Werden begriffenen Kirche, häufig unterstrichen wurde, zum Teil sogar, Anregungen Wicherns aufnehmend, durch die Parallelisierung von Missionsund Volkskirche.454 3.4.3 Kontinuität nach Barmen? Für die zweite Frageachse ist Barmen keine eindeutige Zäsur, auch wenn Klärungen über das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft angestrebt worden sind. Hinzu kommt aber, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Kirchen ab 1935 erneut massiv zu verändern begannen. So kann allenfalls die sechste der Barmer Thesen als ein explizites Statement zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft gelesen werden. Der von Karl Immer herausgegebenen Sammlung der Vorträge der Barmer Bekenntnissynode war auch der Vortrag des ebendort tätigen Pfarrers Georg Schulz beigegeben. Die wohl auch von Vertretern der DC geteilte Überzeugung, dass der Aufbau der 450 Über das, was im „Dritten Reich“ in evangelischen Gemeinden gepredigt worden ist, sind noch weitere Forschungen vonnöten. 451 Auf die Bedeutung dieser ideengeschichtlichen Beobachtung hat Roger Griffin in seiner Definition des palingenetical fascism hingewiesen, vgl. beispielsweise Griffin, Community; Griffin, Ultranationalismus; instruktiv im Übrigen auch Gentile, Mensch; Umland, Concept. 452 Vgl. Steil, Volkskirche. 453 Ebd., 91. Vgl. auch noch aus der besonders radikalen thüringischen DC-Richtung: Leutheuser, Wiedergeburt. 454 Vgl. Weigt, Volkskirche. Dieser Gedanke findet sich auch bei Jacobs, Predigt, 457.
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Kirche die Erneuerung derselben zum Ziel haben müsse, führt hier aber zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Schulz legt dar, dass der Einzelne durch das Wort Gottes den natürlichen Ordnungen gegenübergestellt werde. Die Forderungen an die praktische Arbeit der Gemeinde bestehen zunächst in einer Konzentration der Anstrengungen auf die Verkündigung und die Sakramentsverwaltung. Statt „einem liberalistischen, verweltlichten Gemeindebegriff, […] der von der Summe oder gar der Majorität der augenblicklich lebenden Kirchensteuerzahler oder Wähler und ihren Ansichten und Wünschen ausgeht, ist der Gemeindebegriff des Neuen Testaments und der Reformation den Gemeindegliedern zu erklären und einzuprägen. Es gibt nur die gemeinsame Verantwortung der Gemeinde vor ihrem Herrn. […].“455
Die Verantwortung der Gemeinde besteht also nicht vor der Welt oder vor dem Staat, wie man wohl ergänzen könnte. Sie ist vielmehr ein „Organismus, dessen Glieder einander in lebendiger Einheit dienen sollen“456, womit wiederum ein Motiv der Volkskirche aus der Weimarer Zeit aufgenommen wird. Die Gemeinden sollen hiernach in Synoden zusammengefasst werden und diesen Synoden schließlich obliege „die Verantwortung dafür […], daß die Bekennende Gemeinde ihre Sendung am eigenen Volke und unter den Völkern“457 erfülle. An dieser Stelle wird sehr viel deutlicher als dies in den Barmer Thesen der Fall ist, dass auch die Vertreter der Bekennenden Kirche ein Wächteramt für sich in Anspruch nehmen. Der liberale Theologe Theodor Siegfried unterstrich in einem Zeitungsartikel vom Dezember 1934 die Bedeutung der lebendigen Gemeinde für die Lösung der „Kirchenfrage“. Die Erziehungsaufgaben und die Führung in der „Weltauseinandersetzung“ schulde die Kirche ihren Gliedern.458 Diese Aufgaben verlangten einen „lebendigen Gemeindekern“, wobei „der sektiererische Gedanke einer abgesonderten Kerngemeinde rundweg abgewiesen“459 wird. Die Tendenz zur Volkskirche liege im Wesen evangelischen Christentums begründet: „Weil ihr Gottesdienst zuletzt Dienst in der Welt ist, darum ist sie als Gemeinde der Welt solidarisch, in der sie gestiftet ist. So gilt auch hier ganz ernsthaft als Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Volk und Kirche die Gleichung: evangelische Gemeinde = Volksgemeinde. In der Volksgemeinschaft soll sich die christliche Solidarität realisieren und bewähren. Dann geschieht ,Kirche‘ mitten im Leben des Volkes.“460 455 456 457 458 459 460
Schulz, Aufgaben, 68 f. Vgl. auch Schulz, Gemeinde. Schulz, Aufgaben, 69. Ebd. Siegfried, Kirchenfrage, 8. Vgl. auch Kayser, Kirche. Siegfried, Kirchenfrage, 8. Ebd.
194 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Auch für nicht mit den Nationalsozialisten sympathisierende Theologen hatte der Begriff der Volksgemeinschaft eine hohe Attraktivität.461 Bei vielen kirchlich Liberalen, die sich oft keiner der beiden dominierenden kirchenpolitischen Fraktionen zugehörig fühlten, diente der Volkskirchenbegriff dazu, eine positive Aufgabe in der Volksgemeinschaft im Sinne des Dienstes am Nächsten zu beschreiben.462 In der „Jungen Kirche“ wurde indes die Bedeutung der Gemeinde in einem volkskirchlichen Kontext stärker problematisiert. Dass die Gemeinde sich reinigen müsse, so Hans Asmussen, stehe angesichts der Worte des Neuen Testaments außer Zweifel. Ein Teil der „Unreinheit“ der Kirche sei durch den Humanismus und der mit ihm zusammenhängenden Entstehung von Volkskirchen, bzw. Massenkirchen hervorgerufen worden. Das Problem sieht er darin, dass diese Art von Kirche keine aus ihrem Wesen entspringende Gliederung habe, „sondern vielmehr jede von anderswoher kommende Gliederung als ihre eigene annimmt.“463 Der Unterschied zwischen der „Bekenntnisfront“ und den „Deutschen Christen“ sei von Außenstehenden als Gegensatz von Volkskirche und Freikirche verstanden worden. Eine solche Betrachtungsweise erschwere aber die Einschätzung der wirklichen Lage. Im Kirchenkampf gehe es nämlich nicht um diesen Gegensatz, sondern um das rechte Verständnis dessen, „was Volks- und Bekenntniskirche eigentlich sind.“464 Beim eigenen Widerspruch gegen die Reichskirchenregierung handele es sich nicht um einen „sektiererischen“, sondern um einen echt kirchlichen, er „richtet an die offizielle Führung der Kirche die Frage, ob sie noch im richtigen Verständnis dessen [!] stünde, was Volks- und Bekenntniskirche sei.“465 „Beide Richtungen, so sagt man, wollten Bibel und Bekenntnis geltend machen, aber die Einen beanspruchten daneben eine Selbstständigkeit der Kirche, wie sie eben nur in einer Freikirche möglich sei, während die Anderen die Volkskirche erhalten wollten. Zur Beteuerung dieser Aussage werden dann das ,volkskirchliche‘ Luthertum und das zur Freikirche neigende Reformiertentum, vornehmlich das der pietistischen Färbung einander gegenübergestellt.“466
Da beide Richtungen sich auf die Verfassung der DEK beriefen und auch die Barmer Bekenntnissynode Wert darauflegte, dass die Verfassungsurkunde 461 Vgl. auch Schoell, Volksgemeinschaft. 462 Diese Deutung wurde insbesondere nach 1945 unter Auslassung des diskreditierten Begriffs der Volksgemeinschaft wichtig. 463 Asmussen, Reinigung, 735. Als Beispiel führt Asmussen die Ereignisse des Jahres 1933 an: „Die parola aus der Zeit der Demokratie wird nur politisch umgedeutet: Nationalsozialismus und Christentum werden fast sich deckende Begriffe. Zu einer aus dem Wesen der Kirche folgenden Gliederung kommt es nicht.“ (ebd.). 464 Ebd., 785. 465 Ebd. 466 Merz, Volkskirche, 784 f.
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Reichsgesetz sei, stehe die Möglichkeit der Freikirche nicht zur Debatte. Man stelle an die Reichskirchenregierung vielmehr die Anfrage, ob ihr Verständnis von Volkskirche sich nicht schon grundlegend verändert habe, etwa durch die angestrebte „Germanisierung des Christentums“.467 Von welchem Verständnis distanzierte man sich dabei? „Unter Volkskirche verstand man bisher innerhalb der evangelischen Kirche eine kirchliche Gemeinschaft, die sich dem ganzen Volke verbunden weiß. Sie bringt dies dadurch zum Ausdruck, daß sie die neugeborenen Kinder tauft, in der christlichen Lehre unterweist und ohne weitere Erklärung als zur christlichen Kirche gehörig anerkennt. Es darf in der Volkskirche weder einen Versuch geben, die Gemeinschaft zu dieser Kirche auf namentlich zu bezeichnende Kreise zu beschränken, noch die Bereitschaft mangeln, sich für das ganze Volksleben vor Gott dem Herrn verantwortlich zu wissen. Man will in keiner Weise ,eine kleine Herde‘ aus dem Volksganzen aussondern. Die evangelische Kirche weiß, daß Gott allein weiß, wer wirklich zur Kirche gehört. Sie hat nichts zu tun als das Wort zu verkündigen und die Sakramente als Zeichen, die für die wirkliche Gegenwart Jesu Christi bei den Seinen sprechen, aufzurichten.“468
Aus dem Zusammenhang wird deutlich, dass dies durchaus das Verständnis von Volkskirche ist, wie es Merz für die BK als allgemein anerkannt ansieht. Da die Volkskirche sich an das ganze Volk wendet, ist so etwas wie der „Arierparagraph“, der einzelne Gruppen aus dieser Gruppe exkludiert, unzulässig; wofür zudem die Befürwortung der Kindertaufpraxis steht. Eine Aussonderung aus der Volkskirche wird allerdings ebenfalls abgelehnt. Auch die BK wolle Volkskirche sein und ihre Verkündigung an das ganze Volk richten. Zumal es eine solche Kirche schon seit den Tagen der Mission unter den deutschen Stämmen gegeben habe. Später habe dann Luther sich „mit aller Leidenschaft dagegen gewandt, daß in die Ausübung des Predigtamtes die politischen Mächte eingreifen dürfen.“469 Die DEK stehe dennoch in der Gefahr, „nach zwei Seiten hin den für die Reformatoren grundlegenden Begriff der bekenntnisgebundenen Volkskirche preiszugeben. Das Bekenntnis geht im Bekenntnisstand auf, die an das Bekenntnis von Jesus Christus gebundene Volkskirche weicht der sich vom ,Volkstum‘ her verstehenden Nationalkirche. Die Kirche Jesu Christi kann aber nicht als solche erkannt werden, wo die Lehre einer Kirche und ihr öffentliches Handeln das Verständnis, daß sie nur einen Herrn, nämlich Jesus Christus kennt, erschwert und wo sie das Verständnis unmöglich macht, daß der Glaube nicht ein Werk des Menschen, sondern ein Geschenk Gottes ist […].“470 467 468 469 470
Vgl. ebd., 786. Ebd. Ebd., 787. Ebd., 789 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB].
196 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus In der Volkstumskirche und der Nationalkirche sah Merz Pervertierungen der Volkskirche, die im richtigen Sinne Bekenntniskirche sein müsse.471 In aller Schärfe bedeute dies, dass die Reichskirchenregierung und damit auch die DC keine Kirchen Jesu Christi seien, da sie sich zum einen vom Bekenntnis entfernt hätten und zum anderen den Glauben zu einem Menschenwerk machten und damit der reformatorischen Rechtfertigungslehre widersprächen.472 Es wird also der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die Kirche, wie sie von der BK vertreten wird, die wahre Volkskirche sei und die Vertreter der Bekenntnisbewegung im gewissen Sinne die Hüter dieser Kirche seien. Hans Asmussen lieferte eine Variation dieser Überzeugung in seiner Schrift „Kirche Augsburgischer Konfession!“. Hierin unternahm er es, ein aus seiner Sicht falsches und verfälschtes Verständnis des Begriffs aufzudecken und dabei darauf hinzuweisen, wie man ihn denn richtig zu verstehen habe. So sei der Glaubenssatz aus der Confessio Augustana, dass die Kirche die Sammlung der Gläubigen sei, u. a. einer volkskirchlichen Fälschung ausgesetzt gewesen: „Die volkskirchliche Fälschung handelt so, als ob der siebente Artikel nicht lautete: Est autem ecclesia congregatio sanctorum, sondern als ob da stände: Est autem ecclesia populatio germanica, in qua evangelium recte docetur… Sie ersetzt die Sammlung der Gläubigen durch das Volk. […] Die vulgäre volkskirchliche Ideologie ist nichts anderes als die im Volke lebende, durch die Reformation weithin nur zurückgedrängte, aber nie ganz überwundene Irrlehre der römischen Kirche.“473
471 Vgl. auch ebd., 790: „Die Bekenntnisbewegung, vor allen Dingen, soweit sie theologische Verantwortung trägt, hat sich sicher schon lange sagen lassen, daß sie der Kirche einen schlechten Dienst tun würde, wenn sie im Gegensatz zu der drohenden Germanisierung ,judaisiere, hellenisiere, romanisiere‘. Insofern ist sie von allen sektiererischen Bewegungen innerhalb der christlichen Kirche, die auch in Form großer Hierarchien auftreten können, geschieden. Indem sie aber der Germanisierung der Heilsbotschaft widerstrebt, gehorcht sie nicht nur der Verpflichtung, die sie dem Worte Gottes als des Herrn der Kirche schuldig ist, sondern, wie es nicht anders sein kann, auch mittelbar dem Worte, das Gott der Schöpfer an seine Deutschen richtet. Wie könnte man denn auch Gott den Schöpfer ehren, wenn man seine Heilsbotschaft verfälschte?“ Vgl. außerdem Gollwitzer, Bedeutung. 472 Zum Begriff vgl. auch Barth, Kirche Jesu Christi. 473 Asmussen, Kirche, 1934, 16. Vgl. auch Frçr, Landeskirche, 37 f: „Die lutherische Kirche ist seit ihrem Bestehen Volkskirche gewesen und will es auch weiterhin bleiben. […] Wir Franken wollen Volkskirche bleiben – nur um einen Preis nicht: um den Preis des Bekenntnisses! So teuer uns die Volkskirche ist – eines ist uns noch teurer, noch heiliger: daß wir Bekenntniskirche bleiben! Denn wenn das Bekenntnis zerstört ist, geht die ganze Kirche zugrunde, auch die Volkskirche. […] Bekenntniskirche! Das hat wahrhaftig nichts zu tun mit dürrer Begriffsspalterei und volksfremdem Pfaffengezänk! Es wird heute nicht selten so hingestellt, als sei der Sammelruf zum Bekenntnis nichts als eine volksfremde konfessionelle Pfarrersmache. Das ist Irreführung! Wenn heute um eine saubere und klare Bekenntnishaltung in der Kirche gekämpft wird, so ist das kein Kampf gegen die Volkskirche, sondern ein Kampf für die wahre Volkskirche. Denn ohne klares Bekenntnis hat auch die schönste Volkskirche weder Kraft noch Bestand.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB].
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Die Auseinandersetzung mit dieser volkskirchlichen Ideologie sei deshalb so schwer, weil es sich um einen schillernden Begriff handele, weswegen der Kampf um die Volkskirche oft auch mit Schlagworten geführt werde. Er weist dabei auf einen argumentativen Mechanismus hin, der im Übrigen schon vor der Existenz der DC funktioniert habe: „So kann man es erleben, daß jeder Angriff auf die vulgäre volkskirchliche Ideologie zurückgeschlagen wird durch die Feststellung, man wolle doch ,keine Sekte‘. […] Man verschweigt dabei, daß man wahrlich noch nicht die Sekte wollen muß, wenn man diese Volkskirche nicht will. Im Übrigen kann man bei dieser Verteidigung der Volkskirche den Verdacht nicht loswerden: Würde es einer ,Sekte‘ gelingen, alle evangelischen Volksgenossen, oder jedenfalls ihre weitaus größere Mehrheit zusammenzufassen, so wären die Verteidiger der Volkskirche nur zu bereit, diese große Sekte als ,Volkskirche‘ anzusehen.“474
All dies werde auch nicht dadurch erträglicher, dass man es mit dem Missionsgedanken zu rechtfertigen versuche. Im Kirchenkampf habe sich beobachten lassen, „welche faszinierende Gewalt das Wort ,Volkskirche‘ hat.“475 Dass der Reichsbischof und sein Freundeskreis bereit seien, für dieses Wort alles andere zu opfern, sei nicht weiter überraschend, aber es sei erschütternd zu sehen, „wie lutherische Theologen und Kirchenmänner das lutherische Bekenntnis zu vergessen und außer Kraft zu setzen geneigt sind, sobald der Begriff ,Volkskirche‘ ausgesprochen wird.“476 Es liege nun sehr viel daran, ob man bereit sei, das Problem der Volkskirche wirklich in Angriff zu nehmen. Entscheidend ist für Asmussen dabei, ob sich die Volkskirche bekenntnismäßig denken lässt.477 Ein bekenntnismäßiges Verständnis derselben mache es aber erforderlich, das Verhältnis zur „wahren Kirche“, also zur unsichtbaren Kirche besser zu durchdenken.478 Es könne jedenfalls im strengen Sinne keine Kirchenverfassungen geben, sondern eher Kirchenordnungen, da letztere nicht „ein Kirchenbild auf dem Papier vorge474 475 476 477
Asmussen, Kirche, 1934, 17. Ebd., 18. Ebd. Vgl. ebd., 24 f: „Man fasse die Volkskirche als Heilsanstalt, wie die besten der Deutschen Christen es tun, man fasse sie als Missionsgelegenheit, wie viele sonst treue Menschen es tun, man fasse sie als den Ort der rechten Lehre und der Sakramentsverwaltung, – auf jeden Fall kann man das alles nur tun, indem man falsch und bekenntniswidrig lehrt von dem Verhältnis des Sichtbaren und des Unsichtbaren in der Kirche.“ 478 Vgl. ebd., 25 f: „Wir werden also wieder lernen müssen, daß die Kirche in keiner Weise eine Summierung ,sichtbarer‘ und ,unsichtbarer‘ Posten ist. Denn was bedeutet es, wenn wir bekennen: Ich glaube eine christliche Kirche? Es bedeutet nichts anderes, als daß ich für solche Größen, welche irdisch betrachtet alles andere als Leib Christi sind, eben dieses in Anspruch nehme. Von dem Sichtbaren behauptet ich, daß es zugleich Unsichtbares sei. Sichtbares und Unsichtbares treffen sich in ein und demselben Objekt. Wer darum immer die Scheidung in sichtbarer und unsichtbarer Kirche mehr als eine Hilfskonstruktion sein lässt, verdirbt die Lehre von der Kirche.“
198 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus ben, um es nachher zu verwirklichen, sondern […] von dem tatsächlich vorhandenen Leben [ausgehen] und sich die Aufgabe stellen, dies Leben zu ordnen“479. Asmussen geht abschließend sogar so weit, in der Volkskirche eine der Wurzeln zu benennen, aus denen die DC entstanden seien: „Jeder ernsthafte Kampf gegen die Deutschen Christen muß ein Kampf gegen die Wurzeln sein, aus denen sie wuchsen. Eine dieser Wurzeln ist aber die volkskirchliche Ideologie, welche nicht mehr weiß, daß die Kirche wesentlich Sammlung der Heiligen und Gläubigen ist. Es geht nun einfach nicht mehr, daß man diesen Satz des Bekenntnisses dogmatisch bejaht, aber in der Praxis so tut, als gäbe es ihn nicht. Es geht nicht länger, daß man seinen Inhalt zum Zielpunkt macht, wo er doch Ausgangspunkt ist. Es geht nicht, daß man die Sammlung der Gläubigen in die unsichtbare Kirche verlegt, als sichtbare Kirche aber die Sammlung irgendwelcher anderer Personenkreise betrachtet.“480
Den Vorwürfen des Donatismus481 und Nikolaitismus482 stellt sich Asmussen prophylaktisch am Ende seiner Schrift entgegen. Er hält diese Warnungen für verfrüht, da man selbst gar nicht auf diesem Wege fortgeschritten sei im Gegensatz zu einigen deutschchristlichen Gruppierungen. „Dagegen aber sehe ich eine ungeheuer ernsthafte Gefahr darin, daß ein wahrhaft Gläubiger in dieser Kirche keinen Platz mehr hat, daß er bald gezwungen ist, irgendwohin auszuwandern, irgendwohin, wo er noch seines Glaubens leben kann. […] Ich sehe, wie die andere Gefahr bereits Wirklichkeit geworden ist, daß man sagt: ,Der Staat ist die Kirche! Denn was die Kirche wollte und sollte, das hat der Staat getan!‘ – ,Das Volk ist die Kirche! Denn der Geist des deutschen Volkes ist auch der Geist, aus dem die Kirche wächst.‘ Inwiefern da bereits vor Donatismus gewarnt werden müßte, vermag ich nicht zu erkennen.“483
Hier wird nochmals pointiert zusammengefasst gegen welches „falsche“ Verständnis von Volkskirche sich Asmussen wehrt. Es zeigt sich im Übrigen auch, dass es kein richtiges oder falsches Verständnis des Begriffs gibt, beziehungsweise, dass er immer kontrovers interpretiert wird und ohne den Begriff und die mit ihm implizit wie explizit verbundenen Bedeutungsgehalte kaum über das sichtbare Wesen der Kirche diskutiert werden kann. Dies zeigt sich besonders deutlich in einer Schrift Hermann Sasses, die sich 479 Ebd., 26. 480 Ebd., 40. 481 Als Donatismus versteht man insbesondere in Nordafrika verbreitete christliche Gemeinschaften, die aufgrund „dogmatischer“ Differenzen mit der Mehrheitskirche parallele kirchliche Strukturen, vor allem im Hinblick auf die Ämter, ausbildeten. Vgl. Hogrefe, Vergangenheit, 17–60; Grasm ck, Coercitio. 482 Asmussen versteht unter Nikolaiten Mitglieder „eine[r] Sekte, welche die Heiligung nicht für nötig hielten, bekannt durch laxe Lebensauffassung.“ (Asmussen, Kirche, 1934, 41, Anmerkung 1). Vgl. Roose, Nikolaos. 483 Asmussen, Kirche, 1934, 41.
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mit der evangelischen Lehre vom Volk beschäftigt.484 Zum Wesen der Kirche gehöre es nicht, in irgendeiner bestimmten soziologischen Bindung zu existieren. Vielmehr könne sie auch dort bestehen „wo von der Existenz von Volk und Nation nicht die Rede sein kann“485. Die Reformatoren hätten die Kirche als eine Realität in der Welt gekannt, zwar auf der einen Seite als Leib Christi und Volk Gottes vor den Menschen verborgen, auf der anderen Seite aber an der Predigt des Evangeliums und an den Sakramenten erkennbar. Das habe ihnen ermöglicht, in wunderbarer Freiheit über die äußere Gestalt der Kirche zu urteilen. „Die Kirche darf und soll in die Welt eingehen, sie soll den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, den Römern ein Römer, den Deutschen ein Deutscher, den Amerikanern ein Amerikaner werden, ,um ja etliche selig zu machen‘. Diese wahrhaft katholische Kirche bedarf der ,katholischen‘ Formen nicht; denn ihre Katholizität besteht in Jesus Christus, der ein Herr über alle ist und der seine Kirche zu allen Völkern gesandt hat und auch zu denen, die noch nicht oder nicht mehr ein Volk oder eine Nation sind. Diese Kirche braucht sich vor keinem Volk und seinen Ansprüchen als National- oder Volkskirche zu legitimieren. Denn sie ist Gottes Volk.“486
Die Kirche hat es also gar nicht nötig, wenn man Sasse folgen möchte, sich durch etwas anderes zu legitimieren als durch Gottes Wort und durch etwas anderes sichtbar zu werden als durch die Predigt und die Sakramente. Man könne dem Volk letztlich keinen größeren Dienst erweisen, als in der Mitte desselben auf die Kirche Jesu Christi zu verweisen, als den Ort, in dem über das „Sein und Nichtsein, Leben und Sterben des Volkes“487 entschieden wird. Praktisch zeitgleich äußerte sich Martin Niemöller in der „Jungen Kirche“ mit der Überzeugung, dass „die Zeit des Gebildes, das wir ,Volkskirche‘ nannten, dem Ende zu“488 gehe, da die des Kampfes um das Kirchenregiment zu Ende sei und damit auch der „Versuch, vom Kirchenregiment her eine reformatorische christliche Volkskirche zu bauen“.489 Als neue Kirche werde die Kirche aber nur leben können, „wenn sie Gemeinde ist!“490 In dieser sieht Niemöller die neue Aufgabe, der man sich nun widmen müsse. „Die selbstverständliche Gleichsetzung von Volk und Kirche, von ,Christ‘ und ,Christ‘ ist zerbrochen, und die Folgerung kann nur lauten: Sammlung der Christen unter den Christen, der Gemeinde in der Gemeinde, der Kirche in der Kirche. Nicht Organisation, nicht Sekte! Sondern um das Wort Gottes gesammelte 484 485 486 487 488 489 490
Vgl. Noss, Sasse. Sasse, Volk, 11. Ebd., 15. Ebd., 30. Niemçller, Kirche, 1934, 142. Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Ebd.
200 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus und im Gebet geeinte, lebendig zusammengehörende Gruppen, die einmal berufen sein könnten, eine neue Kirche zu tragen, falls sie nach Gottes Willen erwachen und erstehen sollte.“491
Auch wenn hier der Sektenbegriff wie selbstverständlich abgelehnt wird, zeigt sich in Niemöllers Argumentation doch eine große Offenheit für so etwas wie eine Freikirche. 1934 hat man in der BK also bereits Beides: eine große Gruppe, die sich selbst als wahre Trägerin der Volkskirchlichkeit in Deutschland versteht und eine kleinere Gruppe, die man später „Dahlemiten“ nennen würde, die für eine freikirchliche Neustrukturierung aufgeschlossen sind.492 Unter deutschchristlichen und völkisch orientierten Theologen behielt der Bezug auf das Volk unverändert hohe Attraktivität. Die Bezugnahme zum Organismus findet sich weiterhin, oftmals verbunden mit rassischen Aspekten, wenn ein Autor zum Beispiel vom Volk als „blutvolle[m] Organismus“, sowie vom deutschen Volk als einem „deutschen Organismus, der seine Lebensaufgabe darin sieht, sein Leben nach dem ihm innewohnenden Volksgesetz zu führen“493 spricht. Wie schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung und den sich hieran anschließenden innerkirchlichen Auseinandersetzungen wird ein enges Aufeinanderangewiesensein der beiden Sphären prolongiert.494 Bei Grundmann findet sich zu dieser Zeit die Form von Parallelisierung von Reichskirche und Volkskirche, die man auf Seiten der BK so entschieden ablehnte: „Die Gestalt der Kirche, die eine Reichskirche ist und als Reichskirche Volkskirche, ist die Wirkung aus der Veränderung der Existenzgrundlage der Kirche. Unseres Erachtens muß die Neubesinnung der Theologie stecken bleiben und in der gegenwärtigen Situation unseres Volkes ihre Aufgabe verfehlen, wenn diese Linien nicht ausgezogen werden.“495
Gegen die Argumentation, wie sie bei Barth und Asmussen vorherrschte, unterstreicht Grundmann seine Überzeugung, dass aus gesellschaftlichen Veränderungen auch Auswirkungen auf die Gestalt der Kirche entstehen müssten, wenn sie denn ihre Aufgabe am Volk erfüllen wolle.496 Dabei ist er 491 Ebd. 492 Vgl. auch ebd., 143: „Wir kommen damit wieder einmal in eine Lage, in der unsere Pläne und Wünsche, wenn auch gegen unser Hoffen und Wollen, in den Hintergrund gedrängt werden, wo wir nur noch etwas zu tun haben, wenn wir bereit sind, gehorsam zu sein und uns genügen zu lassen an den Möglichkeiten, die Gott uns lässt. Und das ist genug!“ 493 H[Hirsch?], Kirche und Volk, 342. Vgl. dort auch: „Kirche und Volk bilden die Volkskirche. Nicht nach dem mathematischen Lehrsatz Kirche + Volk = Volkskirche. Lebendige Organismen, lebendige Willensträger lassen sich nicht in Formeln und Schemen pressen. Volk und Kirche stehen in Wechselwirkung zueinander, sie durchdringen einander, sie sind – eins ohne das andere – unmöglich und dem Tode verfallen.“ (ebd.). 494 Zu dieser Verbindung vgl. auch Gogarten, Volkstum. 495 Grundmann, Neubesinnung, 44. 496 Vgl. auch Erdmann, Volk sowie ausführlich und in einem ähnlichen Kontext verfasst Bergmann, Christenlehre.
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aber durchaus bemüht, die eigene Position als orthodox darzustellen, indem er sich von Veröffentlichungen Alfred Rosenbergs und Ernst Bergmanns absetzt und diese als Vertreter eines Liberalismus in „völkisch-rassischer Tarnung“ bezeichnet. Er bemüht sich sehr, das völkische Erleben des Volkes als eine Sache zu beschreiben, die ihr Ziel und ihre Heimat im Schoß der Kirche finden könne, ja müsse.497 Zu der volkskirchlichen Verantwortung, die die Voraussetzung dafür sei, dass man als DC bestehen könne, gehöre es zum einen zum lutherischen Erbe Ja zu sagen, zum anderen aber auch „ein Jasagen zu der Bewegung, die heute Volk und Staat erobert hat und sich anschickt das Antlitz Deutschlands umzuprägen in der Gnade einer großen geschichtlichen Stunde.“498 Als Ergebnis erhofft sich der Verfasser, dass diese Volkskirche mit großer Selbstverständlichkeit vom Volk anerkannt wird.499 Wie stark man die Auseinandersetzung zwischen den beiden kirchenpolitischen Gruppierungen auch als einen Streit um die Volkskirche ansah, zeigen die Reaktionen auf Andreas Duhms500 Schrift „Der Kampf um die deutsche Kirche“.501 In dieser wissenschaftlich ungenügenden Arbeit konstruiert Duhm einen klaren Gegensatz zwischen Volkskirche und Bekenntniskirche, wobei die gegenwärtigen Forderungen nach „Gemeinschaft“ gleichbedeutend seien mit der Forderung nach der Volkskirche.502 Der von Fritz Söhlmann, dem Schriftleiter der „Jungen Kirche“ in einer Rezension artikulierte Vorwurf einer „Geschichtsklitterung“503 hat durchaus Berechtigung. Für den hier im Zentrum stehenden Zusammenhang ist es aber entscheidender, dass Söhlmann besonders auf den von Duhm konstruierten Gegensatz Volkskirche – Bekenntniskirche eingeht. „Volkskirche ist das A und O der Gedanken von Duhm. Volkskirche ist ihm der vollendete Gegensatz zur Bekenntniskirche. Mit starkem moralischen Pathos entscheidet er sich für die Volkskirche, und er ist davon überzeugt, daß sich jeder so entscheiden müsse […]. Bekenntniskirche, das ist für ihn gleichbedeutend mit dem Altersstadium der Kirche, wo man in der ,Forderung einer gewissen Handfestigkeit (!) der frommen Überzeugung‘ (S. 5) seinen Sicherungsdrang auslebt
497 Grundmann, Neubesinnung, 46: „Wenn unser durch sein geschichtliches Leben erschüttertes Volk das völkisch-prophetische Wort seiner Kirche hört und glaubt und damit durch das Wort des lebendigen Gottes von ihm gepackt wird, dann wird aus diesem Glauben heraus eine neue Frömmigkeit wachsen. Das Erlebnis des Volkstums findet seinen letzten Sinn in dieser neuen Frömmigkeit.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 498 Thom, Verantwortung, 465. Thom war der DC-Bischof der Pommerschen Landeskirche. 499 Vgl. ebd. 500 Duhm war seit 1927 Privatdozent für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg. Er war im Mai 1933 der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ beigetreten. Vgl. die Informationen bei Besier, Fakultät, 182 f. 501 Duhm, Kampf. Vgl. hierzu vor allem Spehr, Fixigkeit. Von Duhm vgl. auch: Duhm, Weg. 502 Vgl. Duhm, Kampf, 5. 503 So im Untertitel S[çhlmann], Volkskirche, 1934.
202 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus und dadurch selbstsüchtig die Glaubensgemeinschaft des ganzen Volkes ausschließt.“504
Wenig später konstatiert Söhlmann dann, dass man nicht nur mit gedämpften Erwartungen sondern auch mit Erschrecken die zahlreichen Fehler, Missverständnisse, Ungenauigkeiten und Saloppheiten zur Kenntnis nehmen könne und von Duhms „Machwerk“ deswegen entschieden abzuraten sei.505 An diesen Auseinandersetzungen sollte deutlich geworden sein, wie stark die Debatten von der Volkskirche und ihren jeweiligen Komplementär- bzw. Alternativbegriffen bestimmt worden sind.506 3.4.4 Der anhaltende volksmissionarische Impetus Seit 1935 lässt sich beobachten, dass die Protestanten, die sich noch öffentlich äußern konnten, sich stärker auf das Verhältnis der Kirche zum Volk konzentrierten, als auf jenes zum nationalsozialistischen Staat. Für die frühen Jahre wichtig waren Stimmen aus den Kreisen der „Volksdeutschen“; hier ist beispielsweise Gerhard May507 zu nennen.508 Dabei kommt es oftmals zu der interessanten Paarung von volkskirchlichen Vorstellungen mit denen der Diaspora.509 Bei May findet sich ein weiterer Typus, nämlich der der Volkstumskirche, oder auch Volksgruppenkirchen zum Tragen.510 Diese Diskussionen stehen im Kontext der ökumenischen Konferenz in Oxford, die 1937 stattfand und unter dem Thema „Kirche, Volk und Staat“ stand.511 Die Volkstumskirche stehe laut May unter einer Doppeldiaspora, zum einen konfessionell, zum anderen völkisch. Die „völkische Not“ werde zur „Existenzgefährdung der Kirche und zur Glaubensanfechtung des Christen.“512 Zu den Erfahrungen der „Volksdeutschen“ gehöre die Eigenständigkeit des Volkes513, ferner aber auch das Bekenntnis zu dessen Primat.514 Die Kirche sei 504 Ebd., 269 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Die Seitenzahl im Zitat bezieht sich auf die Arbeit von Duhm. 505 Vgl. ebd., 271. 506 Vgl. auch Bielfeldt, Kirche. 507 Schwarz, Cilli. 508 Vgl. Bergen, Concept. 509 Vgl. Schwarz, Gesetz. 510 Vgl. May, Kirche, 84. 511 Vgl. Schjørring, Gewissensethik. 512 May, Beitrag, 213. May spricht auch von „volksdeutschen Diasporakirchen“ (ebd., 212). Vgl. auch May, Kirche und Volk; May, Säkularismus. Vgl. ferner o. A., Aufgaben; Weinel, Kirche. 513 May, Beitrag, 213: „Es ist eigenständig nicht nur gegenüber dem Staat, sondern ist auch etwas anderes als Nation. Es ist eine urtümliche Gestalt des personhaften Gemeinschaftslebens auf natürlicher und geschichtlicher Grundlage von selbstständiger Sinnhaftigkeit. Im ,Volk‘ erschließt sich uns das Selbstverständnis des deutschen Menschen unserer Zeit, Volk ist (theologisch gesprochen) Schöpferordnung.“ May bezieht sich hier auf einige Elemente der Volkstheorie Max Hildebert Boehms, beispielsweise aus Boehm, Volk von welchem das
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seiner Ansicht nach primär dem Volk, nicht aber dem Staat zugeordnet und damit einer personenhaften Wirklichkeit und nicht der institutionellen Form.515 Dem Volk komme also für die Konstitution der Kirche eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu: „Wo das Familienleben, wo das ,Bauerntum von guter Art‘ (Riehl), wo die Formen volkhaften Gemeinschaftslebens der Auflösung anheimfallen, dort beginnt zwangsläufig eine Krise der Kirche. Da die Kirche leibhafte Wirklichkeit sein will, muß sie volkhafte Züge tragen. Für Volkskirche, völkisch bestimmte (oder entstellte) Kirche, volksverbundene, völkerverbindende Kirche bietet die Diaspora eine Fülle von Beispielen.“516
Hier zeigen sich deutlich die „Früchte“ einer Rezeption volks- und volkstumstheoretischer Schriften. Dabei sollte man keinesfalls unterschätzen, dass diese Äußerungen auch einen politischen Charakter haben, wenn man sie im Lichte der außenpolitischen Instrumentalisierung der sog. „Volksdeutschen“ sieht, die zu dieser Zeit im Kontext der „Sudentenkrise“ einem Höhepunkt entgegensah.517 In jedem Fall verbanden sich große Hoffnungen, dass mit der so viel beschworenen, durch die Nationalsozialisten betriebenen „Volkwerdung“ auch die Gefahren, denen sich das „Volkskirchentum“ ausgesetzt sah, beseitigt werden könnten. May nennt hier explizit die Freimaurerei518, zudem den Bolschewismus sowie als Drittes den „nationalen Säkularismus“.519 Alle
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Stichwort wohl auch übernommen ist. Zu Boehm vgl. Prehn, Boehm; Klingmann, Volkstheorie. May, Beitrag, 213: „Der Staat ist die in herrschaftlicher Ordnung lebende Gemeinschaft. Der Staat ermöglicht die Selbstverwirklichung der Gemeinschaft, indem er sie geschichtsmächtig macht. Erst von der konkreten Gemeinschaft (dem Volk) her gewinnen die Fragen nach Recht, Macht, Zwang, Funktionsbereich des Staates ihren Sinn.“ Ebd.: „Die Kirche hat auch am nationalen Schicksal teil. Wichtiger aber ist, daß die Kirche wesensmäßig einer noch tieferen Schicht des volkhaften Lebens zugeordnet ist. Die Verwüstung und der Zerfall der schöpfungsmäßigen, geschichtlichen Lebensgestalten setzen der christlichen Verkündigung und der Bildung christlichen Gemeinschaftslebens feindseligen Widerstand entgegen.“ Ebd. Zur Bedeutung der Familie vgl. auch Stapel, Kirche, 110 wo das Stichwort der „Familienkirche“ fällt. Vgl. überdies auch Seeberg, Krisis. Vgl. Herbst, Deutschland, 218–225; sowie einige Beiträge in dem Sammelband Zarusky / Z ckert, Abkommen. May, Kirche, 88: „Das Stichwort Freimauerer meint überhaupt die liberale Selbstbefreiung des Menschen von allen natürlichen, sittlichen, völkischen, religiösen Bindungen, die Lösung von Autorität, Sitte, Tradition, die individualistische Zerstörung der organischen Volksordnung, des instinktiven Gemeinschaftsgefühls und Gemeinschaftsethos, den ehrfurchtslosen Intellekt.“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Ähnlich auch mit einer antisemitischen Spitze: Rehm, Stunde. May, Kirche, 89: „Jedes Volk hat ihn nach seiner Art. […] Wir meinen damit […] jene Diesseitsgläubigkeit, die an die Stelle des überweltlichen Gottes das Volk setzt. Sie hält Religion und Kirche für eine Funktion des Volkstums und weiß nicht, daß die Kirche aus einer anderen Dimension stammt und in eine andere Dimension reicht als das Volk. Darum mißversteht sie die Kirche dauernd als politisches Konkurrenzgebilde und will sie nur noch in einer Win-
204 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus drei würden das spezifische Gemeinschaftsgefüge gefährden, für welches die Volkskirche steht. Die Verschmelzung der beiden Sphären Volk und Kirche lehnt May zwar dezidiert ab. Die Kirche müsse aber dennoch dem Volk „in Liebe, Dienst und letzter Verantwortlichkeit […] verbunden bleiben.“520 Zwei Aspekte sind hier hervorzuheben: zum einen bedient May sich des durchaus häufigen Topos der Säkularisierung als Gefahr für die Volkskirche. Diese Diskussionen sollten sich ab Ende der 1950er Jahre noch erheblich intensivieren. Zum anderen wird aber der diakonische Charakter der Kirche als Volkskirche angedeutet, der dann ebenfalls nach 1945 noch weiter ausbuchstabiert werden sollte und zu dieser Zeit nicht nur bei May zu finden ist.521 Zu konstatieren ist außerdem, dass Diasporaexistenz und Volkskirchlichkeit durchaus keine Widersprüche darstellen müssen.522 May sieht in ihnen vielmehr eine besondere Art von Volkskirche. „Sie [die Volkskirche, BB] ist wirklich ,Volks‘-Kirche, nicht im Sinne der Landeskirche oder Staatskirche, sondern im Sinne der unmittelbaren Bezogenheit der Kirche auf die Volkswirklichkeit. Diese Bezogenheit der Kirche auf das Volk gestattet es, auch dort noch mit Fug und Recht von ,Volkskirche‘ zu sprechen, wo die evangelische Kirche nur einen Teil der Volksgruppe umfaßt und somit auch in dem Sinne Diaspora ist, daß eine vielleicht nur kleine Zahl evangelischer Deutscher unter einer Mehrheit von katholischen Deutschen lebt. Diese konkrete Zuordnung zu einer bestimmten Volksgruppe legt dafür die Bezeichnung ,Volksgruppenkirche‘ nahe.“523
Durch den erstarkenden Staat sei die Kirche im 19. Jahrhundert zur letzten Zuflucht bedrängter Volkstümer geworden und somit schließlich selbst zu einer „Volksordnung“.524 In ihr werden Sitte und Sittlichkeit gebunden, die Kirche „prägt und erzieht das Volk, sie wahrt seine nationalen Werte, Güter,
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kelstellung dulden. […] Die Gefahr liegt darin, daß sich das große gesamtvölkische Erleben unserer Tage teilweise mit diesem Säkularismus verbindet und die im Luthertum seit der Reformation gültige Lebenseinheit von Volk und Kirche zerstört. Jedenfalls ist die Zeit des naiven Volkskirchentums auch im Auslandsdeutschtum bald vorbei.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. auch May, Säkularismus. May, Kirche, 89. Den letzten Punkt behandelt May dann noch weiter. Die Kirche habe eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und zwar nicht nur im Hinblick auf die Einzelseelen, sondern auch hinsichtlich des gesamten Volkes als geschichtlicher Wirklichkeit. Und weiter: „In der Freiheit ihres Dienstes ist sie aufgerufen, dem Volke erst recht das zu geben, was ihm kein Säkularismus geben kann und was das Volk doch braucht: die unverkürzte christliche Glaubenswahrheit und die Liebestat der Seelsorge, freilich bezogen auf die wirkliche völkische Not und Lage. So wird ,Volkstumspredigt‘ und Volkstumsseelsorge‘ zur Aufgabe jener Kirchen, die mit einer Volkstumsgemeinschaft verbunden sind.“ (ebd., 91). Vgl. auch Krimm, Klärung, 47 mit dem Hinweis auf die Volkskirche der Siebenbürger Sachsen. Zu einem führenden kirchlichen Vertreter dieser Gruppe vgl. Mçckel, Volkskirche. Vgl. Mçckel, Volkstum. May, Diaspora, 473. Vgl. zum Thema außerdem Sch ler, Volkskirche; o. A., Aufgabe. May, Diaspora, 474.
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Rechte. Sie wird zur ,Volkstumskirche‘.“525 Seiner Ansicht nach stehe die Volkskirche in ständiger Spannung zur Glaubenskirche, also in der Gefahr „entweder ihr Wesen als Kirche oder ihre Sendung an das Volk zu verlieren“.526 Wolle man das Wort von der „volksdeutschen Sendung der Kirche“, der May 1934 eine ganze Monografie gewidmet hatte527, nicht zu einer romantischen Illusion werden lassen, dann müsse man versuchen, den eigentlichen Sinn von Volkskirche wiederzugewinnen: „Und das heißt doch wohl, daß die Kirche sich vor und über allem andern als Glaubenskirche erfasse und so die missionarische Verpflichtung und seelsorgerliche Verantwortung gegenüber dem Volksganzen in seinen Gliedern, gegenüber dem Volksschicksal und seinen dringlichsten Nöten unbeirrbar übe.“528
Man solle sie also nicht mit einer volkspolitischen Ersatzorganisation verwechseln, sondern sie als den Ort sehen, in dem das Volk Christus begegnen könne. Im diakonischen und missionarischen Handeln am Volk wird also der volkskirchliche Charakter der Kirche deutlich und gerade in diesem Sinne könnten auch Diasporakirchen Volkskirchen sein.529 Bei den sich weiter zersplitternden DC, die zwar immer noch einflussreich waren, aber den Zenit ihrer Macht überschritten hatten, versuchte man ebenfalls den Volkskirchenbegriff für das Ziel im und am Volk wirksam handeln zu können, zu verwenden. Für Christian Kinder530 der nach der Absetzung Joachim Hossenfelders an der Konsolidierung der Reichsbewegung DC gearbeitete hatte, war die Volkskirche ein wichtiges Integrationskonzept, in das die auseinanderstrebenden deutschchristlichen Gruppen wieder zusammenfinden sollten. Die Verwendungsweise als solches muss allerdings noch nicht implizieren, dass es auch erfolgreich gewesen ist. Luther habe den deutschen Protestanten eine „volksgebundene Heimatkirche“ geschenkt, eine „Heimatkirche für das Volk, für uns als Volk!“.531 So wie Hitler sich zum Ziel gesetzt habe, den deutschen Arbeiter für den Staat und für die Volksgemeinschaft zu gewinnen, wolle die Kirche die Arbeiter wieder als treue 525 Ebd. May bezieht sich hierbei u. a. auf Schullerus, Volkskirche. Von dieser Schrift war 1928 noch eine zweite Auflage erschienen. 526 May, Diaspora, 476. 527 May, Sendung. Vgl. hierzu auch Ebert, Sendung sowie Krimm, Volk. 528 May, Diaspora, 477. 529 Vgl. ebd.: „[…] ist dies der Sinn der Volkskirche, dann muß die Diaspora des Grenz- und Auslandsdeutschtums in ganz besonderem Maße volkskirchlich fühlen und handeln; und dann wird auch eine Diaspora, die zahlenmäßig nur einen Bruchteil der örtlichen Volksgruppe umfaßt, in dieser Verantwortung des Glaubens und der Liebe gegenüber dem Ganzen gar nicht anders als volkskirchlich eingestellt sein dürfen. Auch hier gilt es: wir wollen Kirche und nicht Sekte sein.“ Ähnlich argumentierten auch Vertreter der Missionswissenschaften vgl. Gutmann, Wesen. Zu Gutmann vgl. B rkle, Missionstheologie, 66–88. Vgl. ferner Vogel, Vielheit sowie die Dissertation von Knçpp, Volkskirche. 530 Meier, Christen, 1967, 60–64. 531 Kinder, Werdende Volkskirche, 23. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB].
206 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Gemeindeglieder für die Heimatkirche gewinnen.532 Hitler habe es ermöglicht, dass die Isolierung der Kirche vom Volk aufgebrochen werden könne.533 Die lebendige Gemeindekirche ist auch für Kinder der Schlüssel zur Bildung einer echten Volkskirche.534 Der Wurzelboden sei das Volkstum, da die Volkskirche die Bindung an die Lebenswirklichkeit des Volkes benötige, denn „Volkskirche wird immer nur ein Name bleiben, dem keine Wirklichkeit entspricht, wenn nicht die praktische Voraussetzung dafür erfüllt ist, daß das Volk selber Träger dieser Kirche ist.“535 Hierin unterschied sich Kinder im Übrigen nicht von Joachim Hossenfelder, der nach seiner Absetzung eine eigene kirchenpolitische Splittergruppe anführte, die eine Zeitung unter dem Titel „Des Deutschen Volkes Kirche“ herausgab. Das deutsche Volk solle sagen können: „meine Kirche.“536 Geschehen könne dies, „wenn die Kirche vorbehaltlos zur braunen Gefolgschaft Adolf Hitlers sagen wird: mein Volk.“537 Hossenfelder betont sehr viel stärker noch als Kinder die Volkwerdung nationalsozialistischer Art in ihrer Notwendigkeit für die Entstehung einer Volkskirche.538 Im Großen und Ganzen bleibt der volksmissionarische Impetus der Anfangsjahre hinsichtlich des Volkskirchenverständnisses auch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre dominant, wofür sich weitere Beispiele anführen ließen.539 Zu Variationen kam es allenfalls, um sich von als zu radikal empfundenen Positionen abzugrenzen. So nutzte Paul Althaus den Volkskirchenbegriff 1937, um sich von einem zu völkischen Kirchenverständnis abzugrenzen – ähnlich wie Gerhard May dies schon einige Jahre zuvor getan hatte.540 532 Vgl. ebd., 24: „Eine große volksmissionarische Aufgabe aller protestantischen Kirchen ist es darum heute – beim Kampf um die Volkskirche –, im Arbeiter nicht mehr ein Betreuungsobjekt zu sehen, sondern die Gewissenspflicht zu erfüllen, ihm eine Existenz in geordneten seelischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu geben und seiner Frau die Freiheit des mütterlichen Standes wieder zu erobern“. Vgl. auch o. A., Pfarrer. 533 Auf Adolf Hitler als Gewährsmann für die Entstehung der Volkskirche beruft sich auch Fascher, Volksgemeinschaft, 46: „Indem Adolf Hitler dieses Reich germanischer Prägung baut, das dem Volk dient, indem er dieses Volk auf einheitliche Weltanschauung ausrichtet und so seine politische und geistige Zerrissenheit beseitigt, macht er den Weg frei für die kommende deutsch-christliche Volkskirche. Half Luther von der Kirche her zum Volksstaat, so wird Adolf Hitler vom Staat her zur Volkskirche helfen. Und so wird die Sehnsucht von Millionen sich erfüllen, die schon im Politischen zur Einheit erzogen werden: Ein Volk, ein Führer – ein Gott, eine Kirche (welche als Kirche nur eine christliche sein kann).“ [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 534 Vgl. Kinder, Gemeinde; Riecker, Wiedererweckung. 535 Kinder, Volkskirche, [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]; Vgl. auch o. A., Ideal; Hansch, Volkskirche; o. A., Volkskirche, 1937. 536 Hossenfelder, Volk, 1 [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 537 Ebd. 538 Vgl. Hossenfelder, Kirche, 1. 539 Vgl. Hauk, Volkskirche; Odenwald, Kirche; Hickmann, Kirche; Schomerus, Volkskirche. 540 Vgl. Althaus, Kirche, 1937, 26 f; ähnlich auch in Althaus, Verantwortung, passim. Vgl. dann aber auch Althaus, Völker, mit Bezugnahmen auf Boehm und andere „Volkstheoretiker“. Zur Bedeutung der Schöpfungsordnungen bei den DC vgl. auch Petersmann, Volk.
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Während man im Dunstkreis der DC den Begriff also inhaltlich nicht wesentlich weiterentwickelte, ist es doch überraschend, wie intensiv im Umfeld der BK und gerade auch unter Theologen, die sich weder den DC noch der BK zugehörig fühlten, über die Volkskirche in diesem Zeitraum diskutiert worden ist. Die Relevanz des Themas in diesen Kreisen zeigt sich etwa darin, dass man es zum Thema akademischer Antrittsvorlesungen machte, die ja oftmals durchaus einen programmatischen Charakter haben können. So stellte sich Martin Doerne541 in seiner Leipziger Antrittsvorlesung die Frage: „Was heisst Volkskirche?“.542 Gleich zu Beginn seiner Studie macht Doerne die aufschlussreiche Differenzierung zwischen einem Seinsbegriff und einem Sollbegriff der Volkskirche. „Von ,Volkskirche‘ spricht man bis heute in zweierlei Bedeutung. Einmal bezeichnet ihr Begriff eine gegebene Tatsache. Zum anderen kann er auch eine Forderung, ein ,Ideal‘ ausdrücken. Es ist beinahe verwunderlich, daß diese Doppelheit der Bedeutungen bisher so wenig beachtet worden ist. Umso besser werden wir tun, von vornherein bestimmt zu unterscheiden zwischen einem Seinsbegriff und einem Sollbegriff der Volkskirche. Daß diese beiden Bedeutungen nebeneinanderstehen, gibt dem Namen Volkskirche seine eigentümliche Sinnfülle; daß sie weiterhin ineinander verfließen, belastet ihn mit großen Schwierigkeiten.“543
Doerne entwickelt hier so etwas wie eine Ontologie der Kirche. Er sieht außerdem eine nicht zu leugnende Nähe zur Staats- und Landeskirche. Mit der Volkskirche werde keine kirchenrechtlich bestimmbare Form umschrieben, sondern eine Lebensform der christlichen Kirche.544 Zu dieser gehöre es, dass man ihr ohne eigenes Wollen und Zutun beitrete, durch die Kindertaufe. Hierin bestehe der grundlegende Unterschied zur Freiwilligkeits- bzw. Freikirche. Mit der allgemeinen Kindertaufe wiederum verbinde sich „die Tendenz zur Umfassung und Durchdringung des (jeweiligen) Volksganzen.“545 Die diskursive Komplexität und auch wohl eine Vielzahl der Konflikte entstanden also, wie Doerne hier schon klar erkannt hat, oftmals dadurch, dass Seins- und Sollensaspekt der Volkskirche nicht sauber auseinandergehalten wurden. Für lutherisches Denken sei die Volkskirche aber darüber hinaus noch dadurch gekennzeichnet, dass die Kirche mit dem Volk organisch verbunden sei: „Nicht diesem oder jenem Volk in Ausschließlichkeit, wohl aber jedem Volk, dem heute ihr Dienst, ihre Mission, ihr Erziehungswerk gilt. Kirche mit wandelbaren 541 Zu Doerne vgl. die Dissertationsschrift von Claudia Kühner-Graßmann, Martin Doernes Theologie der Praxis, die 2019 in München verteidigt wurde. 542 Vgl. Doerne, Volkskirche. Gehalten wurde die Antrittsvorlesung bereits am 17. November 1934. Herausgeber der Reihe „Theologia militans“ waren Paul Althaus, Werner Elert, Adolf Koeberle und Martin Doerne selbst. 543 Ebd., 3 f [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 544 Vgl. ebd., 4. 545 Ebd., 5 [Hervorhebung im Original gesperrt, BB].
208 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Werkzeugen und Werkzeuggestalten je nach Art und Bedürfen der völkischen Gemeinschaft, an die sie je heute und hier gewiesen ist, – Kirche, die es nicht verschmäht, ihre irdische Erscheinungsgestalt immer neu und immer anders mitformen zu lassen aus den Kräften und Bestimmtheiten des natürlich-geschichtlichen Bodens, der ihr auf ihrem ökumenischen Wander- und Missionszuge von ihrem Auftraggeber jeweils zugeteilt wird […].“546
Dies sei der vollständige Seinsbegriff der Volkskirche, mit dem es die theologische Prüfung zu tun habe. Danach referiert Doerne zunächst einige Aspekte des Sollbegriffs. Dabei weist er zunächst auf Wicherns Vorstellung von Volkskirche hin, ehe er zum liberalen Verständnis kommt, welches sich vor allem gegen die „Dogmenkirche“, sowie die „Pastorenkirche“ wende, also im Sinne des Verständnisses der Gemeindebewegung fungiere. Als letzte und gegenwärtig dominante Vorstellung nennt er abschließend die Idee einer völkischen Volkskirche, auch wenn er darauf hinweist, dass es die hier vertretenen Vorstellungen nicht erst seit der Existenz der DC gebe. Innerhalb dieser Vorstellung gebe es zwei Strömungen: „Zuerst die, die wir heute unter der vielumkämpften Formel des ,artgemäßen Christentums‘ kennen: planmäßige, bewußte Eindeutschung der Verkündigung, der Liturgie und des Erziehungsgutes der Kirche. Zum anderen aber die Linie, die sich darstellt in der Forderung nach der Nationalkirche: ein Volk, ein Staat, ein Glaube! In dieser zweiten Linie ist immer auch die Tendenz mitbefaßt, das Volk zum echten und ursprünglichen Subjekt der Kirche zu erheben. Volkes Wesensart und Seelentum wird dann, allenfalls unter pietätvoller Anknüpfung an christliche Geschichtsüberlieferung, normgebender Inhalt der Kirche.“547
Doerne sieht die Aufgabe der Theologie darin, solche Begriffe auf ihre theologische Wahrheit hin zu überprüfen.548 Theologisch sieht er es als konsensfähig an, dass man die Volkskirche nicht mit der Kirche des 3. Artikels des Glaubensbekenntnisses verwechseln dürfe. Auch wenn es „gut lutherisch“ sei, die „pädagogische Art und Aufgabe“549 besonders hervorzuheben, sei dennoch vor dem Grundirrtum zu warnen, dass man die eine Kirche in zwei aufspalten könnte. Es geht mit anderen Worten um die Relation von sichtbarer und unsichtbarer Kirche sowie ihre Verhältnisbestimmung zueinander.550 Einen dualistischen Kirchenbegriff lehnt er dezidiert ab.551 Denn man solle sich nicht täuschen, wenn die Volkskirche „nichts anderes als eine unter be546 547 548 549 550
Ebd., 5 f. Ebd., 8. Vgl. zu diesem Punkt auch: Peuckert, Volkskirche. Doerne, Volkskirche, 9. Vgl. ebd., 10: „Hier die Kirche des Glaubens, die in steriler Erhabenheit über dieser Erde und Geschichte schwebt, dort die sog. sichtbare Kirche, die mit der Glaubenskirche nichts zu tun hat und die eben deshalb auch ihren besonderen irdischen (staatlichen, völkischen oder auch ,autonomen‘) Gesetzen folgt“. 551 Vgl. auch seine Kritik an Schoell, Volkskirche.
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stimmten Umständen zweckmäßige technische Bereitungsanstalt für das Reich Gottes“552 sei, dann dürfe man sie überhaupt nicht Kirche nennen. Die Art und Weise, in der man die Vor- und Nachteile gegeneinander abwäge, erinnere „in fataler Weise an gewisse kaufmännische Rentabilitätsvergleiche.“553 Ausgehend von Franz Rendtorffs Aussage, dass Volkskirche zunächst nichts anderes sei als die Kirche der Kindertaufe, sei in dieser Praxis, so Doerne, die ja universal angewendet werde, der theologische Kern dieser Kirchenform zu finden.554 In der „volksmäßig[en]“555 Prägung der Kirche könne man eine Konsequenz aus dem Sendungsbefehl Jesu Christi sehen. Das dritte Kriterium, welches für eine theologische Grundlage der Volkskirche spreche, sei schließlich der Missionsauftrag an die Kirche. Die Menschwerdung Christi bedeute „in der Konsequenz auch Volkwerdung, Volkskirchenwerdung seiner Gemeinde.“556 Die neue „Volkwerdung“, die 1933 angestoßen worden sei, gehe auch die Kirche unmittelbar an. Damit keine Irrtümer oder Illusionen entstünden, müsse man sich mit den heute umlaufenden Vorstellungen sehr wachsam auseinandersetzen: „Es geht grundlegend um folgendes Entweder-Oder: Heißt Volkskirche Kirche, die im Volk und für das Volk dient, – oder bedeutet der Name dies, daß das Volk selbst nach seiner blutsmäßigen und seelischen Substanz das tragende Subjekt der Kirche ist? Die erste Deutung ergibt den christlich-missionarischen, die zweite den paganistischen, den natur- und volksreligiösen, kurz: den heidnischen Begriff der Volkskirche.“557
Hier zeigt sich deutlich der Debattenkontext, in den Doerne sich einzumischen versucht. Ein Sowohl-als-auch, wie Wilhelm Stapel es in seiner Schrift „Volkskirche oder Sekte“ verfolge, der einem heidnischen Erdgeschoss ein christliches Obergeschoss zuordnet und somit zwei Stockwerke im Bau der Kirche ausmacht, sei ebenfalls abzulehnen.558 Selbst wenn die Volkskirche als Seinsbegriff zum Ende kommen solle, sei sie als Sollbegriff, d. h. „als Aufgabe, als volksmissionarischer Befehl“ unvergänglich.559 Die durch göttliche Fügung dem deutschen Volke geschenkte Volkskirche dürfe man nicht leichtfertig aufgeben – hierin folgt Doerne einem breiten zeitlich übergreifenden Konsens. Zum Erhalt sei man verpflichtet, bis Gott den Befehl zur Aufgabe gebe. 552 553 554 555 556 557 558
Doerne, Volkskirche, 10. Ebd. Vgl. ebd., 11 mit Verweis auf Rendtorff, Kirche, 1911. Doerne, Volkskirche, 13. Ebd., 14. Ebd., 17. Stapel, Volkskirche. Vgl. auch Stapel, Kirche. Zu Stapel vgl. Schmalz, Kirchenpolitik, zu dessen Volkskirchenkonzeption ebd., 122–134 sowie jetzt Vordermayer, Bildungsbürgertum, 150–170 (Wilhelm Stapel als Referenz eines „sachlichen“ Antisemitismus). 559 Vgl. Doerne, Voraussetzungen in der er im Wesentlichen, zumindest was die Volkskirche betrifft, die Ergebnisse seiner Antrittsvorlesung referiert.
210 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Deswegen könne man nicht leichtfertig in ein „amerikanisches Freikirchentum“ herüberwechseln „und darum heißt Kirche für uns heute dann doch Volkskirche, Volkskirche um jeden Preis“.560 Der hohe Abstraktionsgrad und die Reflektiertheit seiner Ausführungen wurden zeitgenössisch allerdings nur selten auf einem ähnlichen Niveau rezipiert. Auch innerhalb der BK bewegte die Volkskirche weiterhin die Gemüter. „Jede Generation“, so Hans Asmussen in seinen „Grundsätzlichen Erwägungen zur Volkskirche“, stehe unter dem Bann magischer Worte, deren Sinn nicht feststehe und zu „diesen Worten gehörte gestern und gehört heute das Wort ,Volkskirche‘.“561 Die Problemkonstellation stellt er wie folgt dar: „Einige völkisch-gläubige Gruppen wollen im Gegensatz zu den Deutschen Christen ,Volkskirche‘ bauen. – Die Deutschen Christen machen den Anspruch gegenüber der Bekenntnisfront, die Volkskirche zu bewahren und zu bauen. – Innerhalb der Bekenntnisfront selbst befürchtet eine Gruppe, daß die Volkskirche über den Kämpfen zerbrochen werden könnte. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, die Volkskirche zu bewahren. Alle drei Gruppen aber wollen ,Volkskirche‘ in verschiedener Weise.“562
Einigkeit bestehe lediglich darin, dass die Volkskirche der Vergangenheit nicht wiedererstehen dürfe. Alle Gruppen verteidigten nicht die Volkskirche per se, sondern „immer die nach [ihren] Wünschen umgestaltete“563. Es gäbe ja auch vieles zu kritisieren. Bislang sei sie von einem solchen Mangel an Selbstbewusstsein und innerer Kraft befallen gewesen, dass sie sich keine Achtung habe erwerben können. Ihr Grundsatz sei das Ausweichen gewesen, womit sie zu einer „Kirche der Entscheidungslosigkeit geworden“564 sei. Neben den möglichen Begriffen von Volkskirche, die allesamt um Anerkennung kämpften – die Möglichkeit einer Freikirche schließt der kategorisch aus565 – sieht Asmussen das eigene Bestreben von der Überzeugung geleitet, „weder die Kirche vom Volk her, noch das Volk von der Kirche her zu bestimmen.“566 Man habe im Dritten Reich als Kirche darauf zu verzichten, „das Volk gestalten zu wollen.“567 Denn es 560 Doerne, Volkskirche, 20. Vgl. Scheel, Volkskirche. Hierbei handelt es sich um einen Abdruck aus: Scheel, Evangelium. 561 Asmussen, Erwägungen, 288. 562 Ebd. 563 Ebd [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 564 Ebd., 289. 565 Ebd., 291: „Sollen wir die Freikirche wollen? Darauf kann es nur ein kräftiges Nein geben. Die Freikirche kann nur der wollen, der die Voraussetzung will, auf der sie entstanden ist, nämlich die Voraussetzung des liberalen Staates. Die Freikirche kann nur der wollen, wer in der Fiktion lebt, sie stände uns als eine mögliche Form zur Verfügung. Das tut sie aber ebensowenig, wie uns die Kirchenstruktur des Mittelalters als Möglichkeit zur Verfügung steht.“ [Hervorhebung im Original, BB]. 566 Ebd. 567 Ebd.
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„geht uns als Kirche gar nichts an, was dabei herauskommt, wenn wir das Volk dem Staat und der ihn tragenden Bewegung überlassen. Der uns gebotene Gehorsam verbietet uns, das Volk anders zu wollen, als Staat und Partei es wollen.“568
Die Frage der Volkskirche sei heute eine Sache des schrittweisen Gehorsams, wie er im 13. Kapitel des Römerbriefs angemahnt werde. Welche konkrete Gestalt die Kirche dabei annehmen werde, könne sie getrost Gott überlassen. Für die Kirche komme es nur darauf an, ob sie den Mut habe, Kirche zu sein: „Hat sie den Mut, es hinzunehmen, wenn im Laufe der nächsten Jahre offenbar werden sollte, daß weite Gegenden unseres deutschen Vaterlandes gar nicht mehr Kirche in sich bergen, sondern nur noch einen Apparat, der sich nur darum aufrechterhalten kann, weil er bisher von der Fiktion ausging, das zu diesem Apparat gehörige Volk sei christlich? Hat sie also nach ihren Bekenntnissen wirklich den Mut, Sammlung unter dem Wort zu sein und damit Ernst zu machen, daß man in der evangelischen Kirche weder den Fischen noch den Steinen predigen kann?“569
Besonders ins Auge fällt die mit diesen Aussagen verbundene Kritik am „Apparat“ der Volkskirche, der nicht mit Christlichkeit oder christlichem Leben verwechselt werden sollte. Damit verbinden sich für Asmussen weitere Fragen nach dem Bekenntnisstand sowie dem ethischen Verhalten der Christen. Der Dienst der Kirche am Volk habe aus Liebe und in Liebe zu geschehen. Hier findet sich nicht zuletzt eine klare Ablehnung des Wunsches, dass Volk zu prägen, oder aber sich vom Volk her als Kirche bestimmen zu lassen. Eine wirkliche Alternative vermag man allerdings in dieser Zeit zumindest noch nicht bestimmen.
3.5 Spannungsfeld III: Binnenkirchliche Debatten Dass das Label „Kirchenkampf“ schon seit einiger Zeit aus der Mode gekommen ist, hängt sicherlich damit zusammen, dass der Begriff falsche, beziehungsweise zumindest irreführende Assoziation erzeugt.570 Denn die Zeit des Nationalsozialismus war keine, in der widerständiges Verhalten die Regel gewesen ist. Stattdessen sind diese Jahre, wie auch die beiden vorangegangen Kapitel gezeigt haben, geprägt von heftigen binnenkirchlichen Auseinandersetzungen darüber, was „wahre Kirche“ sein soll und wer sie vertritt.571 Der Frage, welche Bedeutung die Volkskirche hierin hatte, wird im Folgenden nachzugehen sein. 568 569 570 571
Ebd., 292. Ebd., 292 f. Vgl. hierzu grundlegend Mehlhausen, Nationalsozialismus. Vgl. Pertiet, Ringen.
212 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus 3.5.1 Der Streit über die „Theologische Existenz heute“ und seine Implikationen Im Zusammenhang mit den innerkirchlichen Streitigkeiten darüber, was die Kirche „im Dritten Reich“ darstellen solle, welche Aufgaben sie übernehmen und welche Stellung zum Staat, aber auch zum „Volk“ sie einnehmen soll, kam es gerade in der Frühzeit zu massiven publizistischen Auseinandersetzungen. Barth hatte, wie wir schon einige Male gesehen haben, die Jungreformatorische Bewegung für ihre in dieser Zeit eingenommen Positionen aufs Schärfste kritisierte. Die Schrift „Theologische Existenz heute!“, die Barth am 25. Juni 1933572 abgeschlossen hatte und die kurz darauf erschien, schlug jedenfalls hohe Wellen.573 Barth leitet damit ein, dass seiner Ansicht nach das von ihm vertretene Bemühen, in der jetzigen Situation „Theologie und nur Theologie“ treiben zu wollen, durchaus auch eine Stellungnahme sei und zwar nicht nur in kirchenpolitischer, sondern auch in politischer Hinsicht.574 Das von vielen von Barth geforderte Wort zur Lage könne seiner Ansicht nach nur in der Frage bestehen „ob es nicht der Kirche und uns allen besser wäre, wenn wir jetzt gerade nicht ,zur Lage‘ sondern nun erst recht, ein Jeder in den Schranken seiner Berufung ,zur Sache‘ reden“ würden, bzw. die Voraussetzungen dieser Tätigkeit bedenken würden.575 Was man in der gegenwärtigen Situation keinesfalls verlieren dürfe, sei die theologische Existenz, damit ist gemeint die „Existenz in der Kirche, und zwar als berufene Prediger und Lehrer der Kirche.“576 Diese sei in Gefahr, da durch die Macht anderer Ansprüche das Wort Gottes nicht mehr recht verstanden werden könne. Dazu gehöre auch, dass man „unter dem stürmischen Eindruck gewisser ,Mächte, Fürstentümer und Gewalten‘ Gott noch anderswo […] als in seinem Wort und sein Wort noch anderswo als in Jesus Christus und Jesus Christus noch anderswo als in der heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments“577 suche und damit zu solchen werde, „die Gott gar nicht suchen.“578 Ausgehend von dieser Situation, die er durch die „Bindung an das Wort Gottes und die Geltung unserer besonderen Berufung zum Dienst am Wort Gottes“579 bestimmt sieht, sei eine Verschiebung der Maßstäbe, durch die 572 Am Tag zuvor war August Jäger zum Staatskommissar für die preußischen Landeskirchen ernannt worden, eine Funktion, in der er die „Gleichschaltung“ der Landeskirchen in die DEK zu forcieren versuchte. Vgl. J ger, Kirche. 573 Zur Entstehungsgeschichte der Schrift vgl. Stoevesandt, Kirchenpolitik; vgl. auch Karl Barth an Eduard Thurneysen, 27. Juni 1933. In: Barth, Briefe, 263–266. 574 Vgl. Barth, Existenz, 3. Vgl. den interessanten Bericht aus der Außenperspektive von B guin, Barth. 575 Zitat Barth, Existenz, 3 f. 576 Ebd., 4 577 Ebd., 6. 578 Ebd. 579 Ebd., 5.
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christliche Existenz und christlicher Dienst neu ausgerichtet würden, abzulehnen.580 „Es kann immer den Verlust der theologischen Existenz bedeuten, wenn ein Theologe Politiker oder Kirchenpolitiker wird. Es scheint heute in ganz besonderer Weise das bedeuten zu wollen. Und dann ist es an der Zeit dies zu sagen: […]581 daß wir jetzt Mann für Mann in der Kirche, wie sie uns geboren hat durch das Wort Gottes und in dem unvergleichlichen Raum unserer Berufung bleiben oder in die Kirche und in diesen Raum unserer Berufung zurückkehren müssen: unter allen Umständen, unter Hintanstellung aller anderen Rücksichten und Anliegen, um jeden Preis.“582
Was damit gemeint ist, wird von Barth dann anhand einiger Beispiele deutlich gemacht. Als erstes fragt er nach der Legitimität der Aufrufe zur Kirchenreform, die in den Monaten vor Veröffentlichung seiner Schrift getätigt worden waren. Eine Kirchenreform müsse seiner Ansicht nach aus dem Gehorsam gegen das Wort Gottes hervorgehen, auch wenn es um die äußere Verfasstheit der Kirche ginge.583 Er weist dann darauf hin, dass von Seiten der Kirche sehr oft zu vernehmen sei, dass der neue Staat die Kirche brauche und diese wiederum bereit sei, im neuen Staat mitzuarbeiten.584 In dem allzu weitgehenden Entgegenkommen sei die Kirche sich selbst wieder einmal untreu geworden. In den Verlautbarungen zeige sich vor allem Abneigung gegenüber der Weimarer Republik und dem mit ihr verbundenen politischen System. Die geforderte Reform jedenfalls sei nicht aus der Kirche selbst gekommen. Und: „Wo keine theologische Existenz ist, da kann und wird es in unserer wie zu jeder Zeit der Kirche, in der sie sich selber helfen wollte, nur zu Totgeburten kommen.“585 Als zweites Beispiel nennt Barth die Bischofsfrage. Der Bischofsgedanke sei „auf der ganzen Linie von Zoellner bis zu Hossenfelder“ in großer Einmütigkeit gefordert worden, die Zeit mache einen „geistlichen autoritären Führer“ nötig.586 Hierin sei eindeutig eine Nachahmung einer bestimmten staatlichen Form zu sehen, auch wenn dies von Zoellner und anderen geleugnet werde. Das Führungsprinzip sei aber „barer Unsinn“.587 Als drittes Beispiel führt er die Glaubensbewegung DC an. Gegen diese habe er bislang noch nicht das Wort ergriffen, weil er glaubte, dass das, was er dazu zu sagen habe, selbstverständlich sei und keiner weiteren Erörterung bedürfe. Da aber mittlerweile auch einige, die man zu seinen Schülern zähle – gemeint ist 580 Vgl. ebd., 6. 581 Hier folgt nochmals der Aufruf, dass man unter keinen Umständen seine theologische Existenz verlieren solle. 582 Barth, Existenz, 7 [Hervorhebungen im Original kursiv, BB]. 583 Vgl. ebd., 8. 584 Vgl. ebd., 10. 585 Ebd., 13. 586 Beide Zitate ebd., 14. 587 Ebd., 18.
214 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus vermutlich vor allem Friedrich Gogarten – in ihren Reihen aufgetaucht seien, sei es nun unausweichlich geworden, doch etwas dazu zu sagen. Die DC zeichneten sich dadurch aus, dass die „Anerkennung der ,Hoheit des nationalsozialistischen Staates‘“ für sie nicht nur eine Sache der Bürgerpflicht sei oder der politischen Überzeugung, „sondern Sache des Glaubens […].“588 Außerdem forderten sie eine Kirche, die darin mit ihnen einig sei.589 Er selbst sagt „unbedingt und vorbehaltlos Nein zum Geist und zum Buchstaben dieser Lehre. Ich halte dafür, daß diese Lehre in der evangelischen Kirche kein Heimatrecht hat. Ich halte dafür, daß das Ende der evangelischen Kirche gekommen wäre, wenn diese Lehre, wie es der Wille der ,Deutschen Christen‘ ist, in ihr zur Alleinherrschaft kommen würde. Ich halte dafür, daß die evangelische Kirche lieber zu einem kleinsten Häuflein werden und in die Katakomben gehen sollte, als daß sie mit dieser Lehre auch nur von Ferne Frieden schlöße.“590
Ohne dass es hier explizit ausgesprochen wird, scheint das kleine Häuflein, vielleicht als Freikirche, als eine bessere Option denn eine deutschchristlich angeführte Volkskirche. Die Kirche könne er bei den DC nur so wiedererkennen wie auch beim römischen Papsttum. Von seinen theologischen Freunden, die dieser Lehre anhingen, unabhängig davon, ob ihnen neben dieser Irrlehre noch Substanz erhalten geblieben sei, will er sich „schlechterdings und endgültig geschieden“ wissen.591 Im Folgenden nennt Barth acht Punkte, mit denen er seine Ablehnung begründet und von denen im Folgenden nur die für den hier interessierenden Zusammenhang relevanten Aspekte genannt werden sollen. Unter anderem macht er deutlich, dass die Kirche „überhaupt nicht den Menschen und also auch nicht dem deutschen Volk zu dienen“ habe. Vielmehr habe sie allein dem Worte Gottes zu dienen und nur mittelbar durch dieses Wort könne auch den Menschen gedient werden.592 Zwar glaube die Kirche an die „göttliche Einsetzung des Staates als des Vertreters und Trägers der öffentlichen Rechtsordnung im Volke […]“593, damit sei aber nicht gemeint, dass die Kirche an einen bestimmten, etwa an den nationalsozialistischen Staat und an diesen 588 Beide Zitate ebd., 22. 589 Vgl. ebd., 23: „Das Evangelium muss nach ihnen in Zukunft als ,das Evangelium im Dritten Reich‘ verkündigt werden. Das Bekenntnis soll gewahrt, es muß aber im Sinne ,scharfer Abwehr‘ des Mammonismus, des Bolschewismus und ,des unchristlichen Pazifismus‘ weitergebildet werden. Die Kirche muß in Zukunft die Kirche der deutschen Christen sein, das heißt, der Christen arischer Rasse“. Der Reichsbischof als ,geistlicher Führer, der die maßgebenden Entscheidungen persönlich zu treffen und zu verantworten hat‘ soll ,nach Vorschlag und aus den Reihen der deutschen Christen‘ durch Urwahl unter Ausschluß des Wahlrechts für Christen nicht-arischer Abstammung bestimmt werden.“ 590 Ebd. 591 Ebd., 24. 592 Vgl. ebd. 593 Ebd.
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allein zu glauben habe. Die Kirche verkündige das Evangelium in allen Reichen der Welt, auch im Dritten, „aber nicht unter ihm und nicht in seinem Geiste.“594 Das Bekenntnis der Kirche sei allenfalls nach Maßgabe der Heiligen Schrift fortzubilden, aber „auf keinen Fall nach Maßgabe der Positionen und Negationen einer zu einer bestimmten Zeit in Geltung stehenden, politischen oder sonstigen, auch nicht der nationalsozialistischen Weltanschauung […].“595 Argumentativ in eine ähnliche Richtung geht ein weiterer Punkt, der deutlich macht, dass die Zugehörigkeit zur Kirche nicht durch Blut oder Rasse, sondern durch den Heiligen Geist und die Taufe bestimmt werde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen habe man es bei der Theologie der Deutschen Christen „mit einer kleinen Sammlung von Prachtstücken aus dem großen theologischen Mülleimer des jetzt so viel gescholtenen 18. und 19. Jahrhunderts“596 zu tun. Man habe dringendere Sorgen, als sie nun theologisch widerlegen und belehren zu wollen, denn viel schlimmer noch als sie „scheint mir die Art zu sein, wie sich die evangelische Kirche bis jetzt mit ihnen auseinandergesetzt hat.“597 Danach folgt die schon erwähnte, scharfe Kritik Barths an denen, die versucht hätten, Widerstand gegen die DC zu leisten. Er könne die Jungreformatorische Bewegung „nicht als eine legitime und verheißungsvolle“ ansehen, da sie zu den DC „nicht in einem klaren und radikalen, nicht in einem ernst zu nehmenden kirchlich-theologischen Gegensatz“ stünden.598 Barth führt dann die Konvergenzen an, die seiner Ansicht nach zwischen der Jungreformatorischen Bewegung und den DC bestehen. So hätten diese zugegeben, dass von den DC die stärksten Impulse zur Neugestaltung der deutschen evangelischen Kirchen ausgegangen wären. Mit deren „radikalen Reformwillen“ hätten sie sich anfangs eins gewusst.599 Über das Wesen der Kirche wisse sich die Jungreformatorische Bewegung mit den DC einig, weshalb man in ihnen nicht die richtige Alternative sehen könne.600 Beide Gruppen seien für eine „ernsthafte Erneuerung der Kirche“ gleich wenig berufen.601 Im Großen und Ganzen unterstreicht Barth also die Nähe der 594 595 596 597 598
Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Ebd. Ebd., 25. Ebd., 26. Beide Zitate ebd., 30. Vgl. zu den Hintergründen H ttenhoff, Opposition für eine konzise Darstellung dieses Verhältnisses. 599 Vgl. Barth, Existenz, 30. 600 Vgl. ebd., 32: „Die Jung-Reformatorischen sind ja mit den ,Deutschen Christen‘ doch nur über die formale Selbstständigkeit oder Unselbstständigkeit, aber gerade nicht über das Wesen der Kirche uneinig.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 601 Zitat ebd., 33. Und weiter: „Während uns für den nun vielleicht schon eingetretenen Fall eines Sieges der ,Deutschen Christen‘ eine Art kirchlich-theologische Schreckenszeit (in der im Gottesdienst getrommelt werden und in der E. Hirsch bestimmen wird, was Theologie ist) bevorzustehen scheint, wäre es bei einem Sieg der Jung-Reformatorischen gewiß nur zu einer neuen dauerhaften Form jener Vermittlung (Schöpfung und Erlösung, Natur und Gnade, Volkstum und Evangelium) gekommen […]. Ich glaube: mit den offenen wilden Ketzern wird
216 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Positionen zwischen der Jungreformatorischen Bewegung und den DC, auch wenn er die Ablehnung der Einführung des „Arierparagraphen“ durch erstere positiv notiert. Weder die Kirche noch die Theologie könnten im totalen Staat einen Winterschlaf antreten, so Barth zum Abschluss seines Traktats, und sich auch kein Moratorium und keine Gleichschaltung gefallen lassen. Aus den Reaktionen auf Barths Intervention sollen im Folgenden nur zwei genannt werden. Stellvertretend für die Jungreformatorische Bewegung verfasste Hanns Lilje602 eine Replik, die allerdings erst im September erschien. Lilje referiert zunächst die von Barth artikulierte Kritik und stellt dabei fest, dass sie „theologisch sogar noch schärfer und radikaler“ gewesen sei, als die Ablehnung, die die DC erfahren hätten. Eine Position wie Emanuel Hirsch sie formuliert hatte, dass es nämlich keine Gesprächsgrundlage mit Barth mehr geben könne, lehnt er ab. Entweder Barth habe mit seinem Vorwurf, dass das wahre Wesen der Kirche bei ihnen verraten werde Unrecht, dann müsse er in aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Habe er aber ganz oder auch nur teilweise damit Recht, dann gebe es nur einen Weg, nämlich den der Umkehr.603 Er weist dann aber zunächst auf einige „Verzeichnungen“ bzw. „Ungerechtigkeiten“ hin, die er in Barths Schrift zu erkennen glaubt. Hinsichtlich der Bischofsfrage behauptet er, dass es überhaupt nicht um irgendwelche Persönlichkeiten gegangen sei, sondern dass hierbei „die längst fällig gewordene praktische Krisis des deutschen Kirchentums zum Ausbruch“604 gekommen sei, deren Vorgeschichte weit vor allen deutschchristlichen Programmen liege. Viel konkreter wird er allerdings nicht. Auch von deutschchristlichen Autoren wurden Erwiderungen auf Barth verfasst. Hier kann ein Hinweis auf eine Schrift von Franz Tügel605 genügen, der zu dieser Zeit Leiter der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ im Gau Hamburg war und sich 1934 zum Bischof der Hamburgischen Landeskirche intrigierte. Barths Einwände gegen das Bischofsamt lehnt Tügel als „reformiertes Dogma ab, daß Gottes Wort auch in den Gestaltungsfragen der Kirche als Gesetz gewertet wird.“606 Man selbst könne die Kirchengeschichte aber nicht nur als eine Krankheitsgeschichte ansehen. „Die Geschichte schafft Formen über das biblische Geschehen hinaus, und die ungesunde Form der Kirche ist die Freiwilligkeitskirche, und die urgesundeste
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die Kirche in nicht zu später Zeit fertig werden. Wer aber hätte sie bewahrt vor der Liebenswürdigkeit der kirchlich und sogar ,biblisch-reformatorisch‘ Korrekten, die es im Grunde doch nicht anders meinten als jene?“ (ebd., 34). Vgl. Oelke, Lilje. Vgl. Lilje, Existenz, 138. Vgl. außerdem Lilje, Lehre. Lilje, Existenz, 140 [Im Original fett hervorgehoben, BB]. Vgl. Hering, Bischöfe. Zu Tügel vgl. auch schon oben 151 f. T gel, Existenz, 37.
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Form ist die Volkskirche, freilich nur unter seelsorgerlich verantwortlicher Führung.“607
Die heutige Lage bedeute einen in sich selbst begründeten Genesungsprozess für Volk und Kirche, wie Tügel dann weiter behauptet. Dem totalen Staat schulde die Kirche das totale Wort Gottes, wie dann gegen Ende der Schrift nochmals unterstrichen wird.608 Eine im eigentlichen Sinne inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen Barths erfolgte aber von Seiten der DC nicht. 3.5.2 Volkskirche als umstrittenes Identitätskonzept Auch in Folge der Auseinandersetzungen um die Barmer Theologische Erklärung kam kirchlichen Kommentatoren die Volkskirche in den Sinn. Hermann Mulert609, der Schritt für Schritt die Nachfolge Martin Rades bei der „Christlichen Welt“ angetreten hatte, sprach im Kontext des Reformationstages davon, dass durch die Reformation der Kirche die Bibel wieder zum Volksbuch geworden sei, „wiederum ist durch die Bibel die Kirche der Reformation zur rechten Volkskirche geworden.“610 Heute aber sei die Erhaltung der Kirche als Volkskirche bedroht. In Ermangelung einer internationalen Leitung habe die evangelische Kirche sehr viel leichter Nationalkirche und Staatskirche werden können: „Darin liegt teils ein Vorzug: edle Hingabe an die Volksgemeinschaft und Liebe zu Heimat und Vaterland einerseits, evangelisches Christentum andererseits, konnten sich aufs Innigste durchdringen; teils ein Nachteil: die evangelische Christenheit konnte zerrissener, die evangelische Kirche mehr vom Staat abhängig, für die Schäden in schlimmeren Maße mitverantwortlich sein oder werden oder doch scheinen, als die katholische.“611
In der Betonung der hier angeführten Stärken sieht Mulert eine bleibende Aufgabe der evangelischen Kirchen. Die gegenwärtigen innerkirchlichen Auseinandersetzungen versucht er auf die rechte Bahn zu lenken. Auch wenn eine „starke Mannigfaltigkeit“ von Denkweisen bestehe, könne es eine Volkskirche geben. Trotz allen Streits könne man Volkskirche bleiben, „wenn genug lebendige Nachfolger Jesu, genug praktisches Christentum da ist.“612 Ein „Bekenntnis der Tat“ helfe über viele dogmatische Gegensätze hinweg,
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Ebd., 37 f [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. ebd., 53. Vgl. Wolfes, Mulert. Mulert, Reformation, 925; ferner Mulert, Volkskirchen. Mulert, Reformation, 927. Ebd.
218 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus „eine Kirche dagegen, die vielmehr die Dogmen ihrer Bekenntnisschriften betont, Bekenntniskirche in diesem Sinne sein will, kann heute nicht mehr Volkskirche bleiben, Volkskirche, wie sie die Reformatoren geschaffen oder erhalten haben.“613
Mulert positioniert sich also deutlich gegen die „Bekenntniskirche“, zugleich verwahrt er sich aber auch, wie der Schluss seines Artikels zeigt, gegen jede Politisierung der Kirche.614 Hier zeigt sich zumindest ansatzweise ein „dritter Weg“ zwischen den beiden Fronten BK und DC, der in der Betonung tätigen, aktiven Christentums liegt. Die evangelische Christenheit müsse sich wieder auf ihr Wesen besinnen, außerdem solle „sie […] sich wieder zusammenfinden in dem Willen, solchem Christentum Macht zu verschaffen im Leben unseres Volkes, und mit der Botschaft vom Christentum unserem ganzen Volke zu dienen, damit unsere Kirche wieder Volkskirche werde.“615
Viel hängt also davon ab, was unter dem Wesen des Christentums zu verstehen ist, wie ja der Blick auf die Diskussionen zwischen DC und BK ebenfalls zeigt. Für das Verhältnis von Kirche und Staat ergaben sich bis 1934 grosso modo drei Positionen, die miteinander in einer innerkirchlichen Auseinandersetzung standen. Zunächst die offen politisch auftretende völkische Volkskirche der „Deutschen Christen“, die offensiv die gesellschaftspolitischen Entscheidungen der NSDAP auch auf den Raum der Kirche applizieren wollte. Die Volkskirche richtet sich immer noch an alle, hat aber klare exklusive Tendenzen, die sich in der Befürwortung des „Arierparagraphen“ besonders deutlich zeigten. Ferner die Position der „Bekenntniskirche“ oder „Bekennende Kirche“, die ihrer Selbstbeschreibung gemäß durchaus in Konkurrenz zur so verstandenen Reichs- und Volkskirche steht. Während die Volkskirche der DC hierarchisch und zumindest idealiter nach dem Führerprinzip aufgebaut werden soll, steht bei der BK der Aufbau „von unten“, also von der Gemeinde ausgehend, im Mittelpunkt. Dabei blieben die volkskirchlichen Strukturen aber, wie es scheint, durchaus unhinterfragt vorhanden. Es geht zu diesem Zeitpunkt noch nicht darum, eine strukturell andere Kirche zu bauen, sondern vielmehr um die Bekämpfung des „falschen“ Kirchenregiments, wie man es bei den DC zu beobachten meinte. Schließlich gab es noch eine dritte Gruppe, die zahlenmäßig die größte gewesen sein wird, aufgrund ihrer NichtOrganisation aber quasi ohne Stimme blieb, die „Neutralen“.616 Soweit sie zu 613 Ebd., 927 f. 614 Ebd., 927: „[…] unsere Kirche [kann] nur dann Volkskirche bleiben, wenn sie vor Politisierung bewahrt oder von solcher wieder frei wird.“ Vgl. ähnlich argumentierend Bçtticher, Volkskirche; Bçtticher, Frage. 615 Mulert, Umschwung, 1046. 616 Diese Bezeichnung ist einigermaßen unscharf, aber dennoch unerlässlich. Denn es ist wohl so, dass die Mehrzahl der Pfarrer, von den „Laien“ ganz zu schweigen, sich weder bei den DC noch im Rahmen der BK organisierte. Für eine überzeugende territorialkirchengeschichtliche
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fassen ist, scheinen hier oft die Kirchlich-liberalen versucht zu haben, Vermittlungspositionen zu formulieren. Sie stehen vielleicht paradigmatisch für eine Position, die Wert darauf legt, dass die Kirche unpolitisch sein soll und gleichzeitig als Kirche für das Volk wirksam bleibt.617 Walter Bülck lehnt die Konzeptualisierungen der „Deutschen Glaubensbewegung“ und der DC ab; der „Hochschwang der Hoffnung auf eine deutsche Nationalkirche“ müsse „einem bescheideneren Begriff der Vo[l]kskirche Platz machen.“618 Unabhängig davon, ob man es künftig mit einer Mehrheits- oder einer Minderheitskirche zu tun habe, könne die evangelische Kirche solange Volkskirche bleiben, wie „die Verpflichtung, dem ganzen Volk mit dem Evangelium zu dienen, in ihr lebendig bleibt.“619 Hier findet sich also die bis heute wirkmächtige Vorstellung, dass eine Volkskirche sich an alle in einer bestimmten, mithin näher zu definierenden Entität richtet. Bülck führt danach weiter aus: „Nur als Volkskirche kann unsere Kirche diesen Dienst tun. Vom Nationalsozialismus können wir für unsere Kirche lernen, daß eine Bewegung nur dann Stoßkraft hat, wenn sie unbeirrt durch Gunst oder Ungunst der Zeit ein Programm festhält, das in den Grundlinien ganz fest umrissen ist.“620
Die Kirche habe sich nur darum zu sorgen, dass wirklich Christus verkündigt werde; für die Entscheidungen innerhalb der Kirche über die in den letzten Monaten so viel gestritten werde, gebe es nur eine Grundlage: „Jesus Christus und sein Evangelium.“621 Dazu gehöre außerdem, „daß die Kirche einerseits fest auf dem Grunde des Glaubens und andererseits mitten im Strom des lebendigen Geschehens des Volkslebens steht.“622 Nur so könne sie „Volkskirche und Volkskirche“623 sein. Unter „liberalen“624 Theologen finden sich also nach wie vor Vermittlungspositionen, die am Begriff der Volkskirche
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Studie, die eine Fülle wertvoller Hinweise gibt vgl. Rabe, Fronten, mit Ausführungen u. a. zu Martin Doerne (ebd., 314–322) und Hermann Mulert (ebd., 322–329). Vgl. jetzt sehr kritisch Spencer, Kulturprotestantismus. Spencer stellt die Frage, ob die Kulturprotestanten „progressives“ gewesen seien, oder aber Proto-Nazis und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Volkskirche zu sprechen. Er kommt zu der sicher richtigen Schlussfolgerung, dass man, anstatt mit einem entweder-oder diese Frage zu beantworten versuchen, man die „multiple currents and possibilities within liberal Protestantism as well as the extraordinary complexity of church-political alignments“ (ebd., 549) innerhalb dieser Gruppen berücksichtigen müsse. B lck, Volkskirche, 29. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 30. Ebd. Nach 1933 scheint es immer undeutlicher zu werden, welche Aspekte ihrer angestammten Positionen die Liberalen auch im „Dritten Reich“ noch vertraten. Hier wären weiter Studien sicher wünschenswert und förderlich.
220 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus festhalten, zugleich aber die Zuspitzungen von BK und DC zu umgehen versuchen, ohne dabei in Distanz zum neuen Staat zu gehen.625 Bei Mulert wurde die Selbstbezeichnung als „Volkskirchlicher“ sogar verwendet, um diese Zwischenlage konzeptionell auf den Begriff zu bringen. Das Christentum steht seiner Ansicht nach nämlich vor einer doppelten Gefahr, nämlich auf der einen Seite Verweltlichung und auf der anderen Seite Verflüchtigung. Es sei „in der Tat eine hohe Aufgabe, unsere Kirche als Volkskirche zu erhalten über die heutigen Kämpfe hinaus. Und sowohl die Art der Deutschen Christen als auch die der Bekenntnisfront gefährden die Volkskirche schwer. […] Was uns Volkskirchliche jedoch am stärksten beseelt, ist der Wunsch, das evangelische Christentum zu schützen vor Veräußerlichung, sowohl vor der Verweltlichung, die in Politisierung der Kirche liegt, als auch vor der Erschlaffung oder Erstarrung, die, wie sich schon in der altprotestantischen Orthodoxie als auch bei den kirchlichen Reaktionen des 19. Jahrhunderts zeigte, in Ueberschätzung der kirchlichen Lehre liegt. Die Freiheit, die wir suchen, ist die innere Freiheit, die in der Bindung an das selbstständige Gewissen besteht. Je kräftiger und freier so unser Christentum wird, umso leichter wird unsere Kirche Volkskirche bleiben oder wieder werden können.“626
Bei den „Neutralen“ kann von einem Abschied von der Volkskirche zu diesem Zeitpunkt keine Rede sein – im Gegenteil. Originell ist Mulert in seinem Appell an die Gewissensfreiheit, die er als Vorbedingung für gelingende Volkskirchlichkeit ansieht. Da aber die „Volkskirchlichen“ – wer genau damit gemeint sein soll, ist nicht ganz klar – nicht in vergleichbarer Weise organisiert waren wie die DC oder die BK waren sie in den öffentlichen Debatten nicht besonders einflussreich. Die Vermutung liegt nahe, dass die sog. „Neutralen“ ein positives Verhältnis zum Begriff der Volkskirche und vieler der mit ihm verbundenen Implikationen – Kindertaufe, Konfirmation, gesellschaftliche und individuelle Relevanz der Kirche – hatten. Cordier sah jedenfalls in der Volkskirche den „eigentliche[n] Gegenstand der gegenwärtigen Auseinandersetzungen“.627 „Es geht heute um das Schicksal der Volkskirche! Vom Aufbruch des deutschen Volkes im Jahre 1933 ist die Volkskirche aufs stärkste berührt. […] Ist die Stunde der nationalen Erhebung auch bereits die Stunde der Erneuerung der Volkskirche? Oder setzt eine Erneuerung der Volkskirche eine innere Haltung voraus, die mit der nationalen Erhebung noch nicht ohne weiteres gegeben ist, auch wenn die religiösen Momente der nationalen Erhebung voll anerkannt sind?“628 625 Vgl. auch Mulert, Volkskirche, der hier vor einer Spaltung der Kirche warnt und die Einheit als Ziel vorgibt. 626 Mulert, Verweltlichung, 734. 627 Cordier, Anliegen, 2. Vgl. auch Barth, Kirche, 1934/35. 628 Cordier, Anliegen, 4.
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Die Frage der Volkskirche könne nicht durch eine programmatische Füllung des Begriffs beantwortet werden, „sondern nur durch das Ernstnehmen der Tatsache ,Kirche‘ und der Tatsache ,Volk‘.“629 Da man sich in Zeiten des Umbruchs befinde, habe man kein Recht dazu, sich an alte Formen zu klammern, noch dürfe man sie von sich heraus zerstören. Auf einer Richtwoche der Bekennenden Kirche im Januar 1935 widmeten sich zwei Vorträge der Verhältnisbestimmung von „Volkskirche, Freikirche oder Bekenntniskirche“. Gerhard Gloege630 versteht unter einer Bekenntniskirche den „Zusammenschluß derer, die, innerhalb der Volkskirche stehend, die rote, grüne oder graue Karte mit der Verpflichtung unterzeichnet haben, ,die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes nach der Auslegung der reformatorischen Bekenntnisse als die alleinige Grundlage der Kirche und ihrer Verkündigung‘ anzuerkennen und demgemäß ,christlich‘ zu handeln.“631 Ein anderes Verständnis würde zur Auflösung des Begriffs führen. Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche632, bzw. von „Kirche“ und „Kirchentum“ wie Gloege es auch nennt, berge die Gefahr in sich, dass Erstere von Letzterem verraten werden könne. Während diese Gefahr alle Kirchentümer betreffe, sei sie für die Volkskirche am „handgreiflichsten.“633 Die Freikirche stehe hingegen in der Gefahr, die volkskirchliche Ideologie in ihr genaues Gegenteil zu verkehren, was ebenfalls dazu führen könne, dass man der Versuchung erliege, neben das Werk Gottes auch noch Menschenwerk in Geltung zu setzen. Die Bekenntniskirche stehe schließlich als ein konkretes Kirchentum vor der Gefahr, eine Ideologie auszubilden und sich ihres Weges zu sicher zu sein. Für welche praktische Lösung solle man sich also entscheiden? Den Weg zur Freikirche zu beschreiten, ohne dass die zwingende Not hierfür bestehe, lehnt Gloege ab, auch wenn er eine gewisse Nüchternheit in dieser Frage anrät.634 Die Bekenntniskirche könne und müsse seiner Ansicht nach der Ort werden, „wo die echten Anliegen des volkskirchlichen und des freikirchlichen Wollens ständig zugleich aufgenommen und aufgehoben wer629 Barth, Kirche, 1934/35, 294. Vgl. auch grundsätzlich ähnlich argumentierend Niemçller, Dienst. 630 Vgl. Sauter, Gloege. 631 Gloege, Volkskirche, 50. Unter Volkskirche versteht er ganz konventionell die Form, der man durch die Kindertaufe beitritt, während die Freikirche durch einen persönlichen Entschluss ihre Mitglieder erhält (vgl. ebd.). Oftmals wurde es im Übrigen nicht genauer definiert, was mit einer Bekenntniskirche gemeint sein soll. 632 Vgl. ebd., 58: „Von dieser immer wieder ins Leben gerufenen Kirche Jesu Christi behaupten nun die lutherischen Bekenntnisse, daß sie sichtbar und unsichtbar zugleich sei.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. hierzu auch Diem, Sichtbarkeit. 633 Gloege, Volkskirche, 61. 634 Vgl. ebd., 63: „Aber es ist ja nicht nur vor Gott, sondern auch vor Menschen keineswegs so, daß beispielsweise die Frage, ob wir Freikirche werden sollten oder nicht, von uns allein zu beantworten wäre. Die Entscheidung darüber fällt von anderer Seite. Man soll die Freikirche nicht fordern. Man sollte die Freikirche aber auch nicht fürchten. Fürchten soll man allein den Gott, der Volkskirche, Freikirche und Bekenntniskirche verderben kann in die Hölle, falls sie Sein Wort und Seine Sakramente schänden sollten.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB].
222 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus den in dem Lebensvorgang ,Kirche Jesu Christi‘.“635 Dies ist nicht zuletzt auch insofern ein kluger Schachzug, als so auch versucht wird, die unterschiedlichen Flügel der BK zu integrieren. Die Bekenntniskirche steht seiner Ansicht nach nicht im Gegensatz zur Volkskirche, sondern sie hat ihren Platz innerhalb von ihr.636 Eberhard Baumann, der den zweiten Vortrag unter demselben Titel hielt, fordert ebenfalls dazu auf, sich nicht „im Banne der Alternativen Volks- oder Freikirche zu bewegen“637, sondern die Anstrengungen auf die Bekenntniskirche zu konzentrieren. Freilich gebe es auch andere Stimmen: „Hüben und drüben ist der Ruf erschollen: Es bleibt nur die Freikirche. Die Deutschen Christen behaupten, um uns mattzusetzen, oder um die Gemeinden zu erschrecken: Euch bleibt nur diese Lösung. Die Kampfesfreudigsten in unseren Reihen treiben zur Errichtung einer Freikirche, als zu dem einzig folgerichtigen, unvermeidlichen Schritt.“638
Hier zeigt sich recht klar das Dilemma, in dem sich die überwiegende Mehrheit der Theologen befanden, die der Volkskirche nicht den Abschied geben wollten. Es gab nicht nur konkurrierende Volkskirchenbegriffe, die ihren theologischen Überzeugungen zum Teil diametral gegenüberstanden, vielmehr wurde auch die Freikirche von außen wie auch von innen als Alternative ins Gespräch gebracht. Dies machte also, wie bereits deutlich geworden ist, zum einen eine begriffliche (Er)Läuterung nötig, zum anderen musste die eigene Position argumentativ untermauert werden. 1937 veröffentlichte Wolfgang Trillhaas639, der zu dieser Zeit Stadtpfarrer in Erlangen sowie Dozent an der dortigen Universität war, einen Aufsatz, der sich mit den unterschiedlichen Positionen zur Volkskirche beschäftigte und nach Vermittlungsmöglichkeiten der unterschiedlichen semantischen Aspekte suchte. Wenn Volkskirche ein sinnvoller Begriff bleiben solle, „so ist und bleibt er der Inbegriff der Dienstpflicht der Kirche an der Welt.“640 Das Volk sei das „erste und gewiesene Missionsfeld der Kirche, und zwar das ganze Volk ohne Ausnahme, also über die Grenze der Konfessionen hinaus.“641 Den Schlüssel zur Lehre von der Kirche findet Trillhaas in der lutherischen Lehre von den beiden Reichen. Damit solle die Kirche aber nicht „in die inneren Bezirke menschlichen Seins gebannt“642 werden. Denn auch die Kirche habe eine öffentliche, irdische Seite. Der populus dei sei zwar ganz und gar geistlich gegründet, aber 635 Ebd., 66. 636 So auch Cordes, Sinne, vor allem 144. Gegen diese These argumentiert: Schneider, Einheit. Die Dissertation entstand bei Karl Fezer und Gerhard Kittel. 637 Baumann, Volkskirche, 68. 638 Ebd., 71. 639 Vgl. Dahlgr n, Trillhaas. 640 Trillhaas, Populus, 35. Vgl. außerdem Schulze, Kirchenvolk. 641 Trillhaas, Populus, 35. 642 Ebd., 39.
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er existiere irdisch. Ohne die Leibhaftigkeit und Volkhaftigkeit der Kirche seien auch die notae „nur Trug und Schein“.643 In diesem Sinne sei von Volkskirche zu reden, sei keine Quantitätsfrage: „Das wäre ein zu bekämpfendes Mißverständnis. Aber ,Volkskirche‘ bedeutet, daß die von Gottes Wort gerufenen Leute auch als ein Volk zusammenleben, sich lieben und nicht streiten, sich gegenseitig helfen, miteinander freuen und trauern.“644
Trillhaas‘ Volkskirchenverständnis setzt also ein harmonisches Miteinander der Kirchenglieder voraus. In fünf Punkten bestimmt er das Verhältnis zwischen Gottesvolk und irdischem Volk. „1. Zwischen beiden besteht zunächst das Verhältnis der Analogie: Die Kirche lebt ,nach Art‘ eines irdischen Volkes. Diese Analogie ist für die Kirche stets lehrreich und verpflichtend. 2. Im Volk Gottes steht den Völkern […] ihr Ziel vor Augen. […] 3. Die Kirche ist zum irdischen Volk in dem Sinne hinbezogen, daß sie im irdischen Volk Kräfte wecken kann und darf und soll, die der Bestimmung des Volkes entsprechen. Hier handelt es sich aber um ein opus alienum der Kirche. Man kann also sagen: Die Kirche führt zur Volksgemeinschaft. 4. Kirche ist zum Erdenvolk aber auch in dem Sinne hinbezogen, daß sie im Volk ihr gewiesenes Missionsfeld hat, wo sie Gottes Wort säen und Gottes Ernte einbringen soll. Dabei handelt es sich um ein opus proprium ecclesiae. Hierbei kann die Kirche die Elemente natürlicher Volksgemeinschaft zum Dienst am Evangelium heiligen. 5. Die Kirche muß auch als ,Freikirche‘ und ,Bekenntniskirche‘ – sofern mit diesen Begriffen ihre Öffentlichkeitsstellung bezeichnet ist (so. K. Barth) – Volkskirche, populus Dei bleiben.“645
Bei Trillhaas findet sich eine durchaus konzise theologisch grundierte Zusammenfassung dessen, was Volkskirche sein und welche Funktionen sie übernehmen solle. Dabei fallen mehrere Dinge ins Auge. Zunächst sind die positiven Bezugnahmen auf die Volksgemeinschaft zu nennen. Damit unterstreicht er, dass die Volkskirche positive Wirkungen innerhalb des Volkes hervorbringen könne – dem Staat nütze der Fortbestand einer solchen Kirche also etwas. Diese Argumente sind freilich schon in der Zeit der Weimarer Republik populär gewesen. Zugleich schränkt er aber auch ein, dass diese Aufgabe ein „fremdes Werk“, ein opus alienum sei, also nicht zur dogmatischen Grundlegung der Kirche gehört. Der semantische Gehalt der missionierenden Volkskirche bleibe ebenfalls erhalten, ja er gehöre zur ureigensten Aufgabe der Kirche. Zuletzt weist Trillhaas noch darauf hin, dass auch die Freiund Bekenntniskirche, wolle sie ihre Verantwortung in der Öffentlichkeit erhalten, in diesem Sinne Volkskirche bleiben müsse. Kirche sei, so fasst er 643 Ebd., 40. 644 Ebd. 645 Ebd., 40 f.
224 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus abschließend zusammen, „notwendig immer ,Volkskirche‘, weil sie das Volk Gottes sein soll und ist, das durch Christi Sakrament gegründet und durch Gottes Wort erbaut, umhegt, gerufen, geweidet ist.“646 Für die Kirche bedeute dies, dass sie stets durch Wort und Sakrament erbaut werden müsse. Ferner müsse sie um der Volkskirche willen ihr Hirtenamt bewahren, da zur Verantwortung für die reine Lehre auch die Verantwortung für das Volk gehöre. 3.5.3 Systematisierungsversuche Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erschienen einige umfangreiche Darstellungen, die sich gänzlich oder doch zum großen Teil dem Thema Volkskirche widmeten. Alfred Adam konzentriert sich dabei auf die historische Genese der National- sowie der Volkskirche. Er versucht herauszuarbeiten, welche nationalkirchlichen Bestrebungen es im deutschen Protestantismus seit Luther gegeben habe und welche Auswirkungen diese Initiativen gehabt haben. Der zweite Teil seines Buches schildert dann die Entwicklung des Volkskirchenbegriffs von Schleiermacher über Wichern und Stoecker bis zum Kulturprotestantismus. Abschließend urteilt er: „In mannigfachen Verschlingungen und Überschneidungen hat sich das volkskirchliche Gedankengut während des 19. Jahrhunderts entfaltet. Die Idee der Volkskirche entstand, als die Wirklichkeit der Volkskirche unterzugehen begann. Volkskirche: das war ein aus dem Mittelstande aufgekommenes Kirchenideal und eine verweltlichte Form reformierten Kirchentums.“647
Die Volkskirche sei zum leuchtenden Ziel geworden, um das Volk für die Kirche zurückzugewinnen. Durch die Vermischung mit dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts sei sie darüber aber zu einer Massenkirche geworden. Theologisch überzeugend sei aber nur der Weg des Luthertums gewesen, der Volkskirche so verstanden habe, dass hier „das Volk […] in der Kirche festgehalten und für die Kirche gewonnen werden [soll].“648 Den Möglichkeiten einer Synthese zwischen Nationalkirche und Volkskirche steht Adam kritisch gegenüber, auch wenn er sich insgesamt, zumindest in dieser Monografie, nur sehr zurückhaltend zu kirchenpolitisch aktuellen Themen äußert. Ähnlich verfährt Erwin Meißner in seiner 1938 erschienen Schrift zum Kirchenbegriff Wicherns. Zwar konstatiert er, dass Wichern der Überzeugung gewesen sei, dass Volk und Kirche niemals eins werden könnten, versteht Volkskirche ansonsten aber so, dass diese um die Verantwortung wisse, „dem ganzen Volk
646 Ebd., 43. 647 Adam, Nationalkirche, 178. 648 Ebd., 179.
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zu predigen, wie Jesus auch tat.“649 Wichern sei für eine Volkskirche eingetreten, die zwar nicht vom Staat getrennt, aber frei sein solle. Im Weiteren betont auch Meißner dann den missionarischen Charakter dieser Kirchenform. Der bereits erwähnte Mulert fragt 1936 in seiner Schrift: „Läßt sich die Volkskirche erhalten?“. In dieser Schrift zeichnet sich recht überzeugend seine Position zwischen DC und BK ab, da seiner Ansicht nach beide Gruppen in bestimmter Weise Gefährdungen für die Volkskirche darstellten.650 Damit geht einher, dass Mulert grundsätzlich ein Befürworter der Volkskirche ist und bleibt. „Schon vom Standpunkt des Christentums aus gesehen, ist das Freikirchentum dem Volkskirchentum nicht vorzuziehen, mindestens nicht überall und immer. Vollends um der Volksgemeinschaft, um der gesunden Entwicklung unseres geistigen Lebens willen, im nationalen Interesse ist Erhaltung unserer Volkskirchen dringend erwünscht. Ob der Staat die Beziehungen, die zwischen ihm und den Kirchen bestehen, fortdauern lassen will oder sie lockern und mindern, muß und wird er entscheiden. Aber auch eine wesentlich entstaatlichte Deutsche Evangelische Kirche sollte, solange irgend möglich, Volkskirche bleiben.“651
Sein Volkskirchenverständnis steht ganz auf der Linie der liberalen Tradition. Die Forderungen der DC nach einer geeinten deutschen Nationalkirche fügten der Volkskirche schwere Schäden zu, wie der Herausgeber der „Christlichen Welt“ dann weiter ausführt. Dies sei durch die Art und Weise, wie von diesen die Reform der Kirche durchgeführt worden sei sowie durch das von ihnen geprägte Kirchenregiment noch verstärkt worden. Auch wenn die „Bekenntnisfreunde“ die Volkskirche grundsätzlich befürworten würden652, kritisiert Mulert verschiedene „Einschränkungen des Willens zur Volkskirche.“653 So sei hier vergessen worden, dass für Volkskirchlichkeit politische Neutralität unbedingt erforderlich sei. Durch die enge Verbindung von politischer Überzeugung und christlicher Botschaft sei es hier zu Einschränkungen gekommen.654
649 Meissner, Kirchenbegriff, 168. Zu den Büchern von Adam und Meißner vgl. auch die Rezension von Stange, Kirchenbegriff. 650 Man könne insofern noch von Volkskirche sprechen, als dass immer noch der überwiegende Teil der Protestantischen Mitglied einer Landeskirche sei, vgl. Mulert, Volkskirche, 1936, 6. Das Wort Volkskirche werde in doppeltem Sinne gebraucht, zum einen als Gegensatz zur Völkerkirche, zum anderen als nationale Kirche im Gegensatz zu einer internationalen. Ferner benutze man es um den Gegensatz zur Sekte oder zur Freikirche zu unterstreichen (ebd., 7 f). Vgl. hierzu auch schon Bouch , Aufgaben. 651 Mulert, Volkskirche, 1936, 20 f. 652 Vgl. ebd., 28: „Daß die christliche Botschaft sich an das ganze Volk wie an alle Völker wende, das will auch die Bekenntniskirche; in diesem Sinne will auch sie Volkskirche.“ 653 Ebd. 654 Es ist erstaunlich, dass Mulert dies vor allem der BK vorwirft, denn zumindest der Sache nach
226 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Vor allem aber sei die wichtigste Einschränkung darin zu sehen, dass bei der BK „die Dogmen, die Bekenntnisschriften, die Lehre der Kirche zu dem Denken weiter Volkskreise in einen solchen Gegensatz treten, daß die Kirche dann nicht Volkskirche wird oder es nicht bleibt und die Schuld daran überwiegend bei der Kirche liegt.“655 Die Überbetonung der Reinheit der Lehre und des bekenntnishaften Charakters der Kirche verhindere seiner Ansicht nach, dass die Bekenntniskirche wirklich Volkskirche sein könne.656 Für die gegenwärtige Situation rät Mulert: „Wie aber eine evangelische Volkskirche der freien Treu und Mitarbeit von Männern und Frauen aus allen Ständen bedarf, so hat ihre Verkündigung sich an das ganze Volk zu wenden und die oben erwähnten Fehler zu meiden, daß sie nämlich entweder das Evangelium mit Politik vermengt oder es dogmatisch auf eine vielen im Volke unannehmbare Weise verengt.“657
Abschließend konstatiert er, dass es nicht in den eigenen Händen liege, die Volkskirche zu erhalten, man aber dafür kämpfen wolle, dass sie fortbestehe.658 Es bleibt also festzuhalten, dass, auch wenn diese Position sicher nicht für die sog. „Neutralen“ insgesamt stehen kann, wir es hier doch mit einem „dritten Weg“ der Volkskirchlichkeit im nationalsozialistischen Staat zu tun haben, dessen Rezept darin besteht, unpolitisch zu sein und einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zur Kirche und ihren Glaubenssätzen beizubehalten.659 1937 war jedenfalls ein Jahr, in dem man nochmals intensiv über die Frage sprach, ob sich die Volkskirche noch erhalten ließe660; zu diesem Thema fand sogar im Februar noch eine Tagung statt.661 Es gelang jedoch nicht, hier zu einem Konsens zu kommen und die verhärteten Fronten aufzulösen, zumal ja in den Gruppen selbst eine fortschreitende Zersplitterung zu beobachten war. Sucht man also nach dem Volkskirchenverständnis der „Neutralen“, so kommt man diesem bei den Ausführungen Mulerts vermutlich am nächsten. Spätestens 1939 war eine nicht unerhebliche Ernüchterung eingetreten, was die Volkskirche und ihre verwandten Begriffe betrifft. Hans Asmussen war zu der Überzeugung gelangt, dass die Begriffe Freikirche, Volkskirche und Landeskirche nichts zur Lösung der kirchlichen Frage in Deutschland bei-
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wurde die Koalition zwischen Nationalsozialismus und Kirche von Mitgliedern der verschiedenen deutschchristlichen Gruppierungen sehr viel vehementer vertreten. Mulert, Volkskirche, 1936, 29. Vgl. auch Mulert, Landeskirche. Mulert, Volkskirche, 1936, 47 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. ebd., 55. Vgl. auch Mulert, Abendmahl; Mulert, Tagung; Mulert, Voraussetzungen; Mulert, Volkskirche, 1937; Mulert, Christen; Mulert, Staatskirche. Ähnlich wie Mulert äußerte sich Richter, Volkskirche oder Kirche der Auserwählten; Richter, Volkskirche oder Freikirche. Dies gilt freilich nicht nur für liberale Theologen, vgl. Laible, Volkskirche. Vgl. den Bericht von Gastrow, Tagung; o. A., Tagung.
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trügen. Wer heute für die Volkskirche eintrete, sei dem Staat verpflichtet „jeden Anschein zu vermeiden, als meine er gar nicht das Volk in dem Sinne, wie es dem nationalsozialistischen Ideengut entspricht, sondern das Volk, wie es den Dichtern und Denkern der ersten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts vorschwebte.“662 Aber in diesem Sinne könne man Volkskirche nicht wollen, ohne in einen fundamentalen Gegensatz zum Nationalsozialismus zu geraten. Die Art und Weise, wie Schleiermacher, Wichern und auch Grundtvig die Volkskirche verstanden hätten, gehöre ein für alle Mal der Vergangenheit an. Sein Fazit ist dementsprechend deutlich „Es geht in der Kirchenfrage um die heilige christliche und apostolische Kirche, und nicht um Volkskirche, Landeskirche und Freikirche; um diese darf es nicht gehen. Es ist nicht unsere Aufgabe, jene politischen Voraussetzungen wieder zu schaffen, ohne die weder die Landeskirche noch die Volkskirche noch die Freikirche leben und existieren kann. […] Die Vergangenheit ist eben verschlossen. Sie ist Vergangenheit. Die Zukunft entscheidet sich für die Kirche daran, wie stark die eine heilige christliche und apostolische Kirche lebt. Dem lebenden Organismus wächst die Gestalt zu. Von der toten Organisation, die nach den Maßen der Vergangenheit gebaut werden will, darf man nichts erwarten.“663
Deutlicher kann man die Volkskirche wohl kaum aburteilen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die neuen Perspektiven kirchlichen Handelns seit dieser Zeit sollten dieses Urteil dann wieder erheblich in Frage stellen. 3.5.4 Begriffliche Alternativen und Konkurrenzen innerhalb und außerhalb der Landeskirchen Der Philosoph Ernst Bergmann664 hatte 1932 eine Schrift veröffentlicht, die den Titel „Die deutsche Nationalkirche“ trug und die auch in protestantischen Kreisen intensiv diskutiert worden ist. Bergmanns Kirche ist dezidiert völkisch konstituiert. 1933 äußert er sich dahingehend, dass die in aller Munde befindliche „Gleichschaltung“ bislang weder vor Religion noch Kirche Halt gemacht habe. Hier fehle es an einem „Führer, der hier sammelt und der Nation einen einheitlichen und arteigenen religiösen Glauben und eine einheitliche deutsche Reichs- und Volkskirche“665 schenke. Man brauche für die Zukunft aber eine „einheitliche deutsche Nationalreligion und Nationalkir662 Asmussen, Kirche, 1939, 135. 663 Ebd., 137. 664 Zu Bergmann vgl. Bahn, Bergmann; zur „Deutschen Glaubensbewegung“ vgl. Junginger, Glaubensbewegung. Junginger bezeichnet Bergmann als den führenden Theoretiker und Ideologen der deutschgläubigen Bewegung (vor allem ebd., 73–80). Vgl. auch Nowak, Bewegungen. 665 Bergmann, Nationalkirche, 72. Vgl. auch den Beitrag aus seiner Festschrift: Wurm, Religionslehre, der zumindest einen Einblick in die zeitgenössische Rezeption dieser Lehre eröffnet.
228 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus che“666 dringender als je zuvor. Das Ziel, welches er in seiner Schrift „Die Deutsche Nationalkirche“ formuliert hatte, nämlich „alle Deutschen zu einer arteigenen und für alle gültigen Einheitsreligion und Einheitskirche zu führen“667, sei nun zeitgemäßer denn je. Heute gebe es nur eine Instanz, „die eine religiös-kirchliche Einswerdung der Deutschen vorbereiten könnte, die politische Leitung auf Grund des Ermächtigungsgesetzes durch Schaffung zunächst des äußeren politischen Rahmens für eine selbstständige und rom-unabhängige, aber einheitliche und deutschchristliche völkische Kirchenverfassung […].“668
Diese Kirche, so Bergmann, müsste eine deutsche Reichs- und Staatskirche sein. Ein Volksstaat sei schließlich nur dann souverän, wenn er „auch von jenem tieferen und mystischen, dem religiösen Volksgewissen gestaltet und getragen“669 werde. Eine entscheidende Rolle werde hierbei die „Deutschreligion“ übernehmen, die bislang vornehmlich in politischem Gewande aufgetreten sei.670 Somit sei auch ein politischer Akt nötig zur Schaffung einer Gleichschaltung aller Deutschen in einer Kirche.671 Bergmanns Aufforderung zur Bildung einer deutschreligiösen Nationalkirche wurde verhältnismäßig breit diskutiert. Walter Grundmann sieht im Willen „zu einer Kirche deutscher Nation […] eine alte deutsche Sehnsucht.“672 Der nationale Neuaufbau könne nur bestehen, wenn sich das deutsche Volk neu zu Gott hinwende und sich mit ihm verbunden fühle: „Wir sind im Begriff ein Volk zu werden und brauchen die Volkskirche als den Ort, da Gott zum Volke redet.“673 Auch wenn er Verständnis für die völkischen Motive Bergmanns hat, kritisiert er die Deutschreligion als „positivistische Gottlosigkeits- und Diesseitigkeitsreligion.“674 Sein Buch sei der „erschütternde Beweis dafür, wie auf dem Gebiet der Religion und der Kirche der Liberalismus unter der Schutzfarbe einer völkischen Religion seine Auferstehung feiert.“675 Lügen, wie sie Bergmanns Buch liefere, seien entschieden als solche zu bezeichnen. Auch andere deutschchristliche Autoren stimmten hierin mit Grundmann überein.676 In BK-Kreisen hat man sich grundsätzlich 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676
Bergmann, Nationalkirche, 72. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Ebd. Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Ebd. Zu diesen vgl. Nanko, Glauben. Vgl. Bergmann, Nationalkirche, 72. Grundmann, Nationalkirche, 225. Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Ebd., 228. Ebd., 231 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. Kçhler, Nationalkirche, 14: „Deutsche Nationalkirche – ja, wenn man darunter die Gemeinschaft versteht, die einst das ganze deutsche Volk vereinigen soll; deutsche Nationalkirche – nein, niemals, wenn sie der Tempel für den Kult eines sich selbst vergötternden, seine Grenzen nicht mehr kennenden Menschengeschlechts sein soll.“ Vgl. auch noch Rehm, Kirche,
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und ohne Kompromissbereitschaft von nationalkirchlichen Strömungen abgegrenzt.677 Neben Bergmann finden sich bei Artur Dinter678, der schon in den 1920er Jahren Mitglied der NSDAP geworden war, explizite Bezugnahmen auf die Volkskirche.679 Für Dinter ist die „reine arisch-heldische Lehre Jesu“ die „alleinige Grundlage einer einigen Deutschen Volkskirche.“680 Gegenwärtig sieht er das deutsche Volk in einer „religiösen Gärung begriffen […] die aus den Tiefen der Deutschen Volksseele“681 hervorgerufen worden sei. Die Art und Weise wie Dinter argumentiert, verdeutlicht das folgende Zitat: „Erst wenn wir Blut und Rasse, Volk und Vaterland herleiten aus unserem rein geistigen überirdischen Ursprunge, erst wenn wir erkennen, daß Blut und Rasse, Volk und Vaterland gar nichts anderes sind als die irdische Erscheinung einer rein geistigen übersinnlichen Welt, die vor aller irdischen Erfahrung da ist und über alle irdische Erfahrung hinaus besteht, und erst wenn wir erkennen, daß der selbstlose Dienst am Volke und Vaterlande, die bedingungslose Treue zum selbstgewählten Führer bis zur Selbstaufopferung und Hingabe unseres Lebens [von uns gefordert sind], […] erst dann schlagen die Wurzeln unseres völkischen Werdens und Wachsens in die Tiefe […].“682
Hier verbindet sich also eine merkwürdige Geistreligion mit einem entschiedenen Nationalsozialismus. Die „sittlich-religiöse Grundlage des nationalsozialistischen Staates“683 sei einzig und allein im positiven Christentum zu sehen. Die Lehre Jesu habe ihren Inhalt ausschließlich in der Lehre vom „Gottesreich inwendig in uns.“684 Zur Bestimmung der „Deutschen Volkskirche“ hält Dinter zunächst fest, dass diese keine Priester-, sondern eine Laienkirche sein solle. Dies könne nur durch eine radikale Trennung von Kirche und Staat erreicht werden. Im nationalsozialistischen Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ und der nationalsozialistische Volksstaat überhaupt „ist nichts anderes als die praktisch-politische Gestaltung der ursprünglichen Liebeslehre Jesu! In diesem Sinne ist Jesus der erste und größte
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1938; o. A., Nationalkirche; Eisenhuth, Christuskirche. Für einen zeitgenössischen Überblick vgl. Waitz, Nationalkirche. Vgl. Gross, Turmbau; Gross, Christus-Gemeinde; ähnlich auch: Rehm, Schein; Fischer, National-Kirche; Fischer, Volkskirche, 1935; Fricke, Illusionen. Dinter war promovierter Chemiker, tat sich danach aber vor allem als antisemitischer Schriftsteller und völkischer Politiker hervor. Von den Kirchen und später dann auch den Nationalsozialisten gleichermaßen abgelehnt, stellt Dinter zwar nur eine Randfigur dar. Die Wirkmächtigkeit seiner Ideen darf allerdings wohl nicht unterschätzt werden. Vgl. Tracy, Development, zu Dinter vor allem 38 f. Dinter, Lehre. Der Vortrag wurde von Dinter im Dezember 1934 gehalten. Hier wie im Folgenden wurden alle Fettsetzungen aus der Schrift aufgehoben. Ebd., 1. Ebd., 2 f. Ebd., 4. Ebd., 5. Dies verbindet Dinter mit zahlreichen hemmungslosen antisemitischen Invektiven.
230 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Nationalsozialist aller Zeiten, während Paulus der erste und größte Marxist aller Zeiten ist!“685 Das Ziel der auf dieser Grundlage stehenden Volkskirche bestehe in der Überwindung der religiösen Zerrissenheit des deutschen Volkes, um „alle Deutschen Volksgenossen in einer einheitlichen Deutschen Volkskirche zu einer unerschütterlichen Deutschen Volksgemeinschaft zusammenzuschließen.“686 Dinters Versuche, durch die Betonung eines Dienstverhältnisses gegenüber dem nationalsozialistischen Staate und der Behauptung, dass diese Deutsche Volkskirche das Werk Luthers vollende, möglichst viele hinter sich zu versammeln, scheiterte auf ganzer Linie.687 Reinhold Krause schließlich, um einen letzten „Exoten“ zu nennen, gründete, nachdem er seiner Ämter bei der Glaubensbewegung DC verlustig geworden war, seine eigene Gruppierung, die den Namen Glaubensbewegung „Deutsche Volkskirche“ trug.688 Diese Bewegung, ebenso wie das dazugehörige Publikationsorgan „Unsere Volkskirche“ konnten aber keine wesentlichen Akzente setzen und blieben nahezu bedeutungslos.689 Trotzdem zeigen diese Texte, dass der Begriff der Volkskirche auch außerhalb der Fraktionsbildungen des sog. Kirchenkampfes in unterschiedlichen Variationen attraktiv gewesen ist. Diese kleinen Gruppierungen, die man in ihrem direkten Einfluss nicht überschätzen sollte, wirkten trotzdem indirekt auf die einflussreicheren Bewegungen zurück, insofern als weitere Klärungen des Begriffs und des damit verbundenen Selbstverständnisses nötig wurden.
3.6 Ergebnisse Zur Bewertung der unterschiedlichen Zugänge, mit denen die Protestanten im „Dritten Reich“ Selbstbeschreibungsversuche unternahmen, gilt es die dominanten Ordnungsvorstellungen dieser Zeit im Hinterkopf zu behalten. Dabei ist zuallererst natürlich an die „Volksgemeinschaft“ zu denken, die wie oben gezeigt worden ist, auch von einigen Theologen in den Zusammenhang zur Volkskirche gestellt wurde, ohne dass man sich hierfür zu einer umfangreicheren Diskussion genötigt sah. Der Rekurs auf das Gemeinschaftsgefühl, welches Joachim Hossenfelder und mit ihm viele andere beschworen, 685 Ebd., 9. 686 Ebd., 20. Der Weg zu dieser erfolgt über den Kampf; die gesamte Rhetorik von Dinters Schriften und auch aus seinem Umfeld betont diesen Aspekt sehr stark, vgl. z. B. Katschak, Kampf; Katschak, Volk; Katschak, Volkskirche. 687 Vgl. Dinter, Volkskirche, 1934; Dinter, Volkskirche, 1933; Steinke, Volkskirche; K hlitz, Reformation. 688 Die Bewegung Dinters trug zeitweise den gleichen Namen. Vgl. o. A., Glaubensbewegung. 689 Vgl. aber [Krause?], Kampf; Krause, Irrlehre; Krause, Seelenverjudung; Lemcke, Volkskirche.
Ergebnisse
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entstand nicht erst 1933, sondern bereits viel früher. Die Euphorie dieses Jahres hat aber sicherlich dazu beigetragen, dass man so offensiv die Volkskirche in den Dienst des neuen Staates stellen wollte. Hossenfelder hatte ja behauptet, dass das Gemeinschaftsleben ohne die Kirche gar nicht möglich sei und die Gesundheit des „Volkskörpers“ von der engen Beziehung und dem gedeihlichen Miteinander von Kirche und Staat abhänge. Die Affinität, dem Willen des neuen Staates zu entsprechen, zeigt sich auf Seiten der DC auch in den Initiativen zur Gründung einer Reichskirche, der alle 28 Landeskirchen angehören sollten. Insbesondere der mit der „Gesellschaft“ verbundene, bzw. moderne, plurale, demokratische Gesellschaftsformen vermeintlich oder tatsächlich befürwortende Liberalismus müsse, so meinten viele aus dem Umfeld der „Deutschen Christen“, aus dem Raum der neuen, gleichgeschalteten Kirche ausgestoßen werden. Die neue Kirche müsse zwar auch Bekenntniskirche sein, also ihre Verkündigung in den staatlichen Kontext einbringen, als Volkskirche müsse sie aber zugleich auch auf „ihr“ Volk bezogen bleiben. Nur als solche könne der nationalsozialistische Totalitätsanspruch erkannt und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen werden. So wie der Staat das ganze Volk umspannt, habe die Volkskirche es ihm gleichzutun, wie beispielswiese Paul Althaus 1934 forderte. Viele glaubten, dass erst der Nationalsozialismus die Kirche zur Volkskirche machen würde. Auf die doch auch in konzeptioneller Hinsicht nationalsozialistische Gestaltungsabsichten übernehmenden Ansätze der DC-Bischöfe Franz Tügel und Friedrich Coch kann hier exemplarisch verwiesen werden. Letzterer hatte das größte Verdienst Hitlers darin gesehen, die Relevanz der „Rassenfrage“ ausreichend deutlich gemacht zu haben. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in der BK und den mit ihr verbundenen Gruppen Antisemitismus und antijüdische Überzeugungen gegeben hat.690 Am Beispiel Walter Grundmanns, Emanuel Hirschs und anderer wurde schließlich deutlich, dass die Volkskirche der „Deutschen Christen“ eine völkisch und rassisch exklusive Volkskirche war. Daraus wurde bei ihnen u. a. die Forderung abgeleitet, dass man die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik unterstützen müsse. Die Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen den Diskursen über Volksgemeinschaft und Volkskirche sind frappierend. Auf der Seite der Jungreformatorischen Bewegung kritisierte man an dieser Haltung vor allem das bedingungslose Indienststellen der Kirche. Zwar wurde auch von ihnen der neue Staat grundsätzlich positiv bewertet; vor allem erhoffte man sich Besserungen für die Lage der Kirche. Allerdings dürfe man den Staat nicht vergöttlichen, wie schon die Altonaer Pastoren um Hans Asmussen und dann auch die Barmer Thesen deutlich zu machen versuchten. In der Befürwortung eines starken Staates aber, standen die meisten Vertreter der Jungreformatorischen Bewegung den DClern in nichts nach. Der Streit um die 690 Vgl. neben Gerlach, Zeugen, für ein territorialkirchengeschichtliches Beispiel Lindemann, Kirche.
232 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus Einführung des „Arierparagraphen“ im Raum der Kirche wurde zu dem Aspekt, in dem sich die Frage klärte, wie weit der Einfluss des totalen Staates im Hinblick auf die inneren Belange der Kirche gehen dürfte. BK und Pfarrernotbund waren keine Organisationen, die den nationalsozialistischen Staat per se ablehnten, sondern vielmehr dessen Anspruch, auch innerhalb der Kirche „total“ regieren zu dürfen. Allenfalls könnte die Bekämpfung der „Deutschen Christen“ als nationalsozialistischer Arm des Staates somit als ein Stellvertreterkampf angesehen werden. Die Bedeutung der Barmer Theologischen Erklärung darf für den Untersuchungszeitraum dieses Kapitels allerdings nicht überschätzt werden, auch wenn sich hier die klarste Distanzierung, respektive Zuordnung der Sphären von Kirche und Staat finden lässt. Und auch auf der Barmer Bekenntnissynode wird der Staat als solcher positiv bewertet, die eigentlichen Gegner sind die, die Protestantismus und Nationalsozialismus miteinander vermischen und daraus Implikationen für die kirchliche Ordnung ableiten wollen. Die „Entkonfessionalisierung der Volksgemeinschaft“691 seit 1935 machte sich auf der diskursiven Ebene durchaus bemerkbar, auch wenn durch die fortschreitende Einschränkung der kirchlichen Pressefreiheit nur vorsichtige Aussagen gemacht werden können. Die diversen deutschchristlichen Splittergruppen versuchten sich weiterhin gegenseitig in ihrer Loyalität und Nähe zum Staat zu übertreffen. Immer radikaler sollte die Kirche streng nach nationalsozialistischen Prinzipien umgestaltet sowie der totale Staat bejaht und freudig begrüßt werden. Wilhelm Rehm und auch Emanuel Hirsch versuchten die Volkskirche als Integrationskonzept in Anschlag zu bringen, das die einzelnen kirchlichen Gruppierungen zusammenbringen soll. Zum Wesen der Volkskirche gehöre es nämlich, wie Hirsch zeigen wollte, dass sie in einem engen Verhältnis zur politischen Ordnung stehe. Die im deutschen Volk stattfindende „volkliche“ Neuordnung, müsse auch im Inneren der Kirche nachvollzogen werden. Aber auch die meisten Vertreter der BK blieben dabei, dass im Grunde sie die wahre Volkskirche darstellten, weil sie die adäquate Stellung zum Staat einnehmen würden, die beide nämlich nicht in eins setzt, sondern mit spezifischen Aufgabenbereichen bestückt – dies war natürlich keineswegs die Devise der nationalsozialistischen Kirchenpolitik. Karl Barth machte allerdings 1936 ebenfalls deutlich, dass Kirche nicht zwingend Volks-, Landes-, oder Staatskirche sein müsse, sondern es auch andere Modi gebe, in denen sie in rechter Weise Kirche sein könne. In der BK fand sich also kurz gesagt beides, auf der einen Seite die Überzeugung, die tatsächliche, wahre und bessere Volkskirche zu sein, sowie die zunehmende Öffnung bei Bonhoeffer und anderen auf dem dahlemitischen Flügel hin zu der Überzeugung, dass auch die Entfernung von volkskirchlichen Vorstellungen im Sinne einer klareren Distanzierung vom Staat das Gebot der Stunde sein könne. Über die „Einheit von Evangelium und Volkstum“ (Friedrich Gogarten) 691 Vgl. Blaschke, Kirchen, 145–151.
Ergebnisse
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kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen kirchenpolitischen und theologischen Gruppierungen. Gogarten auf der einen, Karl Barth auf der anderen Seite sind nur die beiden prominentesten Vertreter dieser Auseinandersetzung. Während Gogarten Rasse, Blut und Volkstum als theologisch relevante und wichtige Aspekte in den Diskurs einbrachte, forderte Barth zur Besinnung auf die (biblische) Offenbarung auf, unter Ablehnung der sog. Schöpfungsordnungen. Eine Art ordnungstheologischer Kompromissvorschlag findet sich bei Heinz-Dietrich Wendland, für den Volk und Kirche zwei füreinander bestimmte und jeweils aufeinander bezogene Entitäten sind, deren Substanz dies ermöglicht. Dennoch blieb für die meisten DCler und jene, die sich nicht zur BK orientierten, die Volkskirche ein Ideal, eine Utopie geradezu, die mit der deutschen „Volkwerdung“ einhergehen konnte. Es mangelte aber an konkreten Konzepten, wie diese Volkskirche dann tatsächlich auszusehen habe. Dies machten auch die intensiven volksmissionarischen Bemühungen nicht wett. Der Bezug auf den Gemeinschaftsgedanken wurde auch in Aussagen deutlich, dass die Kirche nun endlich zum Volk durchbrechen müsse und die jahrzehntelange Entfremdung zu beseitigen habe, wie Ernst Stange dies forderte. Auf Seiten der DC wählte man die Volkskirche, um sich als eine völkisch und rassisch exklusive, deutschtümelnde und in der Regel nationalsozialistisch eingefärbte, volksmissionarisch aktive und auf diesem Wege an der „Volkwerdung“ beteiligende Gruppe zu beschreiben. Die Vertreter dieses Ansatzes möchten sich an den nationalsozialistischen Gesellschaftsumformungsprozessen beteiligen und dabei für sich als Kirche eine wichtige und sittlich-moralisch prägende Rolle einnehmen. Wie gezeigt werden konnte, lag eine Übereinstimmung zwischen DC, Pfarrernotbund und BK in dem Bestreben, den unvollkommenen Kirchenkörper der Zwischenkriegszeit nach volkskirchlichen Prinzipien umzugestalten, um eine engere Verbindung zwischen Kirche und Volk herzustellen und breitere und effektiver Wirkungsmöglichkeiten anzustreben. In der BK wurde die Bekenntniskirche für einige Vertreter darüber zum Synonym für die Volkskirche – in Abgrenzung zur Volkstumskirche der „Deutschen Christen“. Für eine Mehrzahl der Mitglieder der BK stand eine freikirchliche Lösung nicht zur Debatte. Weiterführend für die Folgezeit wurde vor allem auch Martin Doernes Antrittsvorlesung, der zwischen einem Seins- und einem Sollbegriff der Volkskirche zu differenzieren vorschlug. Für den zeitgenössischen Diskurs spielte dies allerdings kaum eine Rolle, da viele Diskursteilnehmer nicht an analytischem Ertrag interessiert waren, sondern vielmehr an einer zielorientierten Instrumentalisierung des Volkskirchenbegriffs. In den innerkirchlichen Auseinandersetzungen, die sich nicht direkt über das Verhältnis zum Staat oder zur Gesellschaft äußerten, wurde auf den Begriff der Volkskirche ebenfalls umfassend Bezug genommen. Wichtig ist hier noch der Hinweis auf die liberalen Wortmeldungen, die man am ehesten den „Neutralen“ zuordnen könnte. Hermann Mulert beispielsweise brachte das Konzept als moderierendes Element ins Gespräch. Volkskirche würde eine
234 Volkskirche in den Auseinandersetzungen während des Nationalsozialismus große Vielheit von Meinungen aushalten. Dafür sei es aber wichtig, eine Politisierung der Kirche zu vermeiden. Mulert, und auch Bülck, der sich 1934 nochmals zur Volkskirche äußert, stehen also noch in der Tradition des liberalen Volkskirchenverständnisses aus Weimarer Tagen. Es hat sich also gezeigt, wie eng die Semantik des Volkskirchenbegriffs mit der des nationalsozialistischen Staates und der „Volksgemeinschaft“ verflochten war. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Volkskirche als kirchlichreligiöser Grundbegriff sehr viel effektiver im Modus der Exklusion und Abgrenzung funktioniert hat, denn als Inklusions- und Integrationskonzept. Die jeweiligen Verwendungsweisen können durchaus als Gradmesser dafür verstanden werden, wie sehr sich die einzelnen Autoren semantisch nationalsozialistischen Grundüberzeugungen annäherten. Zu konstatieren ist jedoch auch, dass hier sehr wenig auf einer konzeptionellen Ebene argumentiert wurde, sondern meist auf ideelle und begriffliche Elemente rekurriert wurde.
4. Restitution der Volkskirche auf tönernen Füßen? Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Ende der 1950er Jahre Das Jahr 1945 war zwar, wie inzwischen allenthalben konzediert wird, sicherlich keine „Stunde Null“, auch für die beiden Großkirchen nicht. Doch sollte man die grundlegenden Einschnitte, die das Ende des Zweiten Weltkrieges für sie mit sich brachte, nicht unterschätzen.1 Im Folgenden werden zunächst erneut diese Rahmenbedingungen für das kirchliche Leben und das theologische Denken konturiert werden (4.1–4.2). Anschließend wird für die Nachkriegsjahre, sowie für die Zeit der frühen Bundesrepublik und der frühen DDR auf den drei Frageachsen nach der Entwicklung und Bedeutung, sowie nach der Funktionalität des Volkskirchenbegriffs gefragt (4.3–4.5).
4.1 Die evangelischen Landeskirchen zwischen „Restauration“ und Neuanfang Die evangelischen Landeskirchen waren nach Kriegsende sicher keine „Siegerinnen in Trümmern“.2 Hierfür war zum einen ihre „Performance“ in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nicht überzeugend genug.3 Zum anderen gab der deutsche Protestantismus nach wie vor ein äußerst disparates Bild ab, das durch die Zerwürfnisse, die die „Deutschen Christen“ in fast allen Landeskirchen verursachten, noch pointierter zu Tage trat. Gleichwohl bot die neue Situation vielfältige Chancen und Entfaltungspotenziale, die man entschieden zu nutzen gedachte. An der Frage der Schuld für die Verbrechen, die in den zurückliegenden zwölf Jahren begangen worden waren, hielt man sich nicht lange auf, auch wenn zu konzedieren ist, dass das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom 19. Oktober 1945 sich durchaus klarer zur Mitschuld bekennt, als dies zur gleichen Zeit in der katholischen Kirche geschah. Allerdings blieb auch evangelischerseits eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust zunächst aus. Angeregt wurde die „Schulderklärung der evangelischen Christenheit Deutschlands“ von Vertretern der Ökumene; es ging also auch darum, dass 1 Vgl. für einen Überblick Bessel, Germany. 2 Vgl. Kçhler / van Melis, Siegerin. 3 Vgl. Gailus, Performance.
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Restitution der Volkskirche auf tönernen Füßen?
man durch ein Bekenntnis zur Mitschuld die Stellung der evangelischen Kirchen in Deutschland in der Ökumene verbessern wollte.4 Dem öffentlichen Ansehen des Protestantismus geschadet hat es nicht. Hans Meiser, der bayerische Landesbischof, konstatierte schon im Januar 1945: „Die Stunde der Kirche ist nicht vergangen, sondern neu im Kommen.“5 Und Wilhelm Halfmann, der später Bischof von Holstein wurde, betonte im Mai 1945 ebenfalls die große Verantwortung, die den Kirchen nun zufallen werde: „Wir müssen uns bewußt sein, daß die Kirche heute eine ganz besondere Verantwortung für unser Volk trägt. Was wir einem heidnischen Nationalismus nicht zugestehen durften, werden wir freiwillig dem unsäglich gedemütigtem Volk geben: nämlich: Anwalt und Fürsprecher und Stimmen für unser Volk sein. […] Die Kirche wird zum Hort alles edlen, geistigen, moralischen, kulturellen Lebens. Die Kirche in Deutschland wird vielleicht in naher Zukunft der letzte noch unverfälschte Ausdruck gewachsener deutscher Kultur sein.“6
Man war sich also der Bedeutung, die nach Kriegsende den Kirchen zugeschrieben werden könnte, durchaus bewusst. Für den Kontext der historischen Semantik der Volkskirche ist bedeutsam, dass hier bei Halfmann schon so etwas anklingt wie ein Wächteramt, also ein öffentlicher, gesamtgesellschaftlicher Auftrag, der den Kirchen zukommen sollte. In der Zeit der Besatzungszonen wurden die evangelischen Landeskirchen – in unterschiedlicher Intensität – zu wichtigen und geschätzten Gesprächspartnern der Alliierten.7 Dies hat für einen alles in Allem „privilegierten Neubeginn“ gesorgt.8 Thomas Großbölting hat auf die „umfassende[n] Kommunikations- und Mobilisierungsmöglichkeiten“9 hingewiesen, über die die evangelischen Kirchen zu Kriegsende verfügten mit 16 000 Pfarrern, die 1949 in ihnen tätig waren, sowie die 90 000 Laien, die als Mitarbeiter im evangelischen Hilfswerk arbeiteten.10 Wie standen die Chancen für eine umfassende Rechristianisierung in der „Zusammenbruchsgesellschaft“? Großbölting stellt zu Recht fest, dass „das Angebot der Kirchen [in der Zusammenbruchsgesellschaft der Nachkriegsjahre, BB] in zuvor nie gekannter Weise den Bedürfnissen der Bevölkerung 4 Vgl. Boyens, Schuldbekenntnis; Conway, Nations; Besier / Sauter, Christen; Siemens, Gestaltung; Kaiser / Greschat, Holocaust; Schneider-Ludorff, Verdrängen; DoeringManteuffel, Verstrickung sowie an einem regionalen Beispiel Schildt, Schuld und zum Kontext Wolbring, Stigma. 5 Rundschreiben vom 22. 1. 1945. In: Meiser, Kirche, 171; vgl. Vollnhals, Kirche; wird auch zitiert von Grossbçlting, Himmel, 24; Nowak, Kirche, 1996. 6 Das Rundschreiben vom Mai 1945 zitiert nach Jürgensen, Stunde, 261–263; die Hinweise auf Meiser und Halfmann bei Vollnhals, Kirche, 113. Vgl. auch die spätere Debatte bei Halfmann / K ppers, Missbrauch. 7 Vgl. Boyens, Kirchen sowie vor allem Greschat, Christenheit. 30–52. 8 Vgl. Oelke, Wiederaufbau, 270–272. 9 Grossbçlting, Himmel, 25. 10 Zum Hilfswerk vgl. Wischnath, Kirche.
Die evangelischen Landeskirchen zwischen „Restauration“ und Neuanfang 237 zu entsprechen [schien]: Man garantierte Kontinuität in einer Phase extremen Wandels. Man bot gleichermaßen einen geistigen Neuanfang, eine umfassende Erklärung des Vergangenen sowie eine Lösung gesellschaftlicher Probleme, die auf Orientierung an überzeitlichen Werten und christlichen Gottesvorstellungen zielte. Auf diese Weise konnte sich das Gros der in den Nationalsozialismus verflochtenen deutschen Gesellschaft sicher sein, dass nach individueller Verstrickung in die Diktatur, nach Schuld und Verantwortung kaum gefragt wurde.“11
Trotz dieser vielversprechenden Ausgangsbedingungen sei der vielfach apostrophierte „religiöse Frühling“ nur eine Episode, die Metapher von Anfang an eher ein „Wunsch- und Trugbild“ gewesen, das nicht mit den tatsächlichen Entwicklungen korrelierte.12 Beispielsweise hatte die Kirchenmitgliedschaft ihren Zenit 1936 erreicht, ohne dass in den Nachkriegsjahren dieser Stand jemals wieder erreicht werden konnte. Rechristianisierung war ein Ideal, aber auch eine Chimäre, wie sich auf nahezu allen Ebenen zeigen lässt.13 Es wäre freilich noch ausführlicher zu problematisieren, ob die Protestanten in gleicher Weise auf die Rechristianisierung der Gesellschaft hofften und diese zum Thema machten oder ob nicht möglicherweise die Rede von der Volkskirche als ein nüchterner erscheinendes Substitut fungieren konnte. Diente die Restitution der Volkskirche womöglich als ein Ersatz zur Wunschvorstellung der rechristianisierten Gesellschaft? Die evangelischen Landeskirchen hielt dies freilich nicht davon ab, energisch ihren Wiederaufbau voranzutreiben. Wie Harry Oelke kürzlich überzeugend dargestellt hat, war der äußere Wiederaufbau vor allem von einem neuen Bewusstsein für die „Verantwortung für das öffentliche Leben“14 gekennzeichnet – so auch der Titel der ersten Kundgebung der Kirchenkonferenz in Treysa. Für den vorläufigen, zwölfköpfigen Rat der EKD15 stand fest, dass nur dort „wo sich ,Grundsätze christlicher Lebensordnung […] im öffentlichen Leben auswirken‘“ eine Gesellschaft „vor der ,Gefahr dämonischer Entartung‘ bewahrt bleibe […].“16 Diese Deutung, dass die im Nationalsozialismus forcierte Säkularisierung für die Schrecken dieser Zeit verantwortlich sei und deswegen das Christentum nunmehr im öffentlichen Leben, also in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Orientierung für das Gemeinwesen
11 12 13 14
Grossbçlting, Himmel, 25. Vgl. ebd. Vgl. hierzu das erste Kapitel ebd., 21–94. Vgl. Kundgebung „Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben“. In: Merzyn, Kundgebungen, 3 f; Oelke, Wiederaufbau, 274. 15 Mitglieder waren Theophil Wurm (Vorsitzender), Martin Niemöller (Stellvertreter), Hans Asmussen, Otto Dibelius, Eberhard Hagemann, Hugo Hahn, Gustav Heinemann, Heinrich Held, Hanns Lilje, Hanns Meiser, Johann Peter Meyer, Wilhelm Niesel und Rudolf Smend (vgl. Boberach / Nicolaisen / Pabst, Handbuch, 180 f.). 16 Oelke, Wiederaufbau, 274 f.
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anbieten müsse, fand breite Zustimmung.17 Zum äußeren Aufbau gehörte überdies die karitative Arbeit, die durch die Kirche, etwa über das bereits erwähnte, von Eugen Gerstenmaier geführte Hilfswerk, geleistet wurde.18 Es gab aus den Kreisen führender Protestanten grosso modo drei Vorschläge, wie die Kirche nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft geordnet werden könne.19 Leitend war dabei die Erkenntnis, dass der Zersplitterung des Protestantismus Abhilfe geschaffen und ihm ein einheitlicheres Erscheinungsbild gegeben werden müsse. Das durch Theophil Wurm geprägte „Kirchliche Einigungswerk“, welches bereits aus der Endphase der NS-Zeit stammte, zielte genau auf dies: „eine Harmonisierung der zerstrittenen evangelischen Landeskirchen“.20 Konservative Lutheraner unter der Führung des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser strebten die Bildung einer „Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Landeskirche“ an; ihr Kirchenverständnis zeichnete sich vor allem durch „ihre bekenntnisschriftliche Bindung“21 aus.22 Martin Niemöller und andere Vertreter der Bruderräte intendierten hingegen, „die Kirche von den Grundfesten der Gemeinden her zu entwickeln“23 und können in gewisser Weise als Gegenstück zur lutherischen Position angesehen werden. Fragen der Konfessionalität erhielten zunächst einen erheblichen Bedeutungszuwachs, wie sich schon auf der Kirchenkonferenz von Treysa, die im August 1945 stattfand, zeigte.24 Bis zur endgültigen Gründung der EKD in Eisenach 1948 war es also ein mühsamer Weg, an dessen Ende aber ein tragfähiges und vor allem praxistaugliches Modell stand; auch wenn die Charakterisierung als „Konfliktgemeinschaft“ wohl nicht nur für die Anfangsjahre der EKD zutreffend ist.25 Neben dem konfessionellen Pluralismus, der weiterhin für den deutschen Protestantismus „Strukturprinzip“26 war, ist für die Fragestellung dieser Arbeit folgende Beobachtung Oelkes, die dieser mit Blick auf die 1948 verabschiedete „Grundordnung“ machte, von großer Bedeutung: „Die öffentliche Verantwortung der Kirche auch im Hinblick auf den Bereich der Gesellschaftsgestaltung, wie wir diese seit den unmittelbaren Anfängen nach dem 17 Vgl. hierfür exemplarisch: M ller-Armack, Jahrhundert; K nneth, Abfall; Thielicke, Fragen. Zu den Weimarer Wurzeln dieses kulturkritschen Denkens vgl. Brunner, Stotterer. 18 Vgl. Oelke, Wiederaufbau, 279–283; vgl. hierzu auch Klessmann, Kontinuitäten, 412–414. 19 Das Folgende nach Oelke, Wiederaufbau, 284 ff. 20 Ebd., 284. Vgl. Thierfelder, Einigungswerk. Der Autor dieser Studie meint, dass nach dem Krieg das Modell des Einigungswerkes von großer Bedeutung für die kirchliche Neuordnung gewesen sei. So habe man im Rat der EKD beispielsweise das „Koalitionsmodell“ des Einigungswerks übernommen, um die unterschiedlichen Richtungen in der Kirche zusammenzuführen (vgl. ebd., 246). 21 Oelke, Wiederaufbau, 284. 22 Vgl. Schneider, Zeitgeist. 23 Oelke, Wiederaufbau, 284. 24 Vgl. u. a. Boyens, Treysa und Hauschild, Kirchenversammlung sowie Jochmann, Kirche. 25 Vgl. Smith-von Osten, Treysa sowie Hauschild, Konfliktgemeinschaft. 26 Oelke, Wiederaufbau, 286.
Die evangelischen Landeskirchen zwischen „Restauration“ und Neuanfang 239 Krieg beobachten konnten, wird jetzt verfassungsmäßig in Ämter und Einrichtungen überführt. […] Aktuelle Fragen und Probleme mit Gesellschaftsbezug werden im Rahmen der EKD von diversen Kammern, Kommissionen und Ausschüssen wahrgenommen.“27
Dies zeige sich vor allem in der Funktion des Bevollmächtigten des Rates der EKD.28 Es wird noch im Einzelnen zu eruieren sein, inwiefern sich diese Entwicklungen auch im Diskurs über die Volkskirchlichkeit des Protestantismus niederschlugen und zu welchen Wechselwirkungen es hierbei kam. Oelke hat die Frage, ob wir es in der Nachkriegszeit mit einem Neuanfang, oder aber mit einer „Restauration“ zu tun haben, mit einem entschiedenen „Sowohl – als auch“ beantwortet. Auf der einen Seite wogen die Erfahrungen der NS-Zeit schwer und da 1948 die 1922 festgelegte verfassungsmäßige Autonomie der Landeskirchen bestätigt worden sei, könne man durchaus restaurative Tendenzen konstatieren.29 Andererseits sieht er in der „Hinwendung zur Übernahme öffentlicher Verantwortung im gesellschaftlich-politischen Raum“ einen „der bedeutendsten Transformationsprozesse der Kirche im Übergang von der Diktatur zur Demokratie.“30 Bislang wurde allerdings kaum danach gefragt, mit welchen Identitäts- und Selbstbeschreibungsprozessen diese Grundsatzentscheidung unterstützt und ausgestaltet worden ist. Der privilegierte Neuanfang und die relativ komfortable Lage der evangelischen Kirchen war auch durch die sog. „hinkende Trennung von Kirche und Staat“31 befördert worden. Die beiden Großkirchen hatten im Rahmen ihrer Möglichkeit auf diesen Prozess Einfluss genommen.32 Die Bundesrepublik griff bekanntlich bei der Gestaltung der religionspolitischen Paragraphen des Grundgesetzes auf die Weimarer Reichsverfassung zurück, die den Kirchen bereits den vorteilhaften öffentlich-rechtlichen Status zugestanden hatte.33 Im Schulwesen und auch im karitativen Bereich führte dies zu zahlreichen Sonderregelungen zwischen dem Staat und den Kirchen. Der Staat unterhielt weiterhin theologische Fakultäten und schloss mit den Kirchen Verträge zur Ausübung der Militärseelsorge.34 Nicht zuletzt und für den Bestand der Volkskirche ganz entscheidend zog der Staat die Kirchensteuer ein und zwar auf eine Weise, „die in Zeiten boomender Wirtschaft einen beachtlichen und kontinuierlichen Geldstrom“35 garantierte. In den 1950er Jahren wurde die evangelische Kirche zu einer wichtigen Institution im politischen Feld der Bundesrepublik, was durch die vielfältigen 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Ebd., 287 [Hervorhebung im Original, BB]. Vgl. hierzu Buchna, Jahrzehnt, 232–314. Vgl. Wendebourg, Schatten; Ringshausen, Erneuerung; Mehlhausen, Restauration. Beide Zitate Oelke, Wiederaufbau, 288. Vgl. Greschat, Neuanfang; Greschat, Kirche, 1994. Vgl. Grossbçlting, Himmel, 50–55; Lohmann, Verständnis. Vgl. Buchna, Jahrzehnt, 195–211. Vgl. Link, Neuordnung. Vgl. Grossbçlting, Himmel, 51. Ebd., 52.
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engen Verflechtungen zwischen Kirche und Politik, gerade auf der personellen Ebene36 noch unterstrichen wurde. Die Kompetenzen von Kirche und Theologie sind in diesem Zeitraum nur selten ausdrücklich hinterfragt, respektive kritisiert worden; die beiden Großkirchen waren vielmehr „voll akzeptierte politische Diskussionspartner, deren Stimme nicht nur respektiert, sondern oftmals auch zur Legitimation eigener Deutungen herangezogen wurde.“37 Auf der anderen Seite beginnen grundlegende Veränderungen im Protestantismus nicht erst in den 1960er Jahren, sondern haben ihre Wurzeln bereits in der Dekade zuvor. Sowohl in der internen Kritik der Kirchen als auch in der Gesellschaft machte sich langsam aber sicher ein gewisses Unbehagen gegenüber der allzu engen Symbiose zwischen den beiden Sphären breit.38 Überdies beginnt die Politisierung im Protestantismus ebenfalls zu dieser Zeit: etwa in der „Ohne-mich-Bewegung“ gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands oder der „Kampf dem Atomtod“-Kampagne.39 Diese Beobachtung wird von Frank-Michael Kuhlemann unterstützt, der den Protestantismus im Untersuchungszeitraum dieses Kapitels, also von 1945 bis zum Beginn der 1960er Jahre „in einem weitreichenden Umbruch verorten würde, einer Zeit der Gärung gewissermaßen.“40 Es hätten sich „weitreichende Kristallisationsprozesse“ abgezeichnet: „Einerseits blieben die mentalen Orientierungen breiter protestantischer Bevölkerungsgruppen tief in der Vergangenheit verwurzelt. Andererseits waren die 50er Jahre alles andere als eine nur ,bleierne Zeit‘“.41 Kuhlemann schlägt deswegen vor, von einer „,Übergangsmentalität‘ zu sprechen“.42 Dies mag, auch wenn man über die methodische Handhabbarkeit des Mentalitätsbegriffs streiten kann, eine durchaus zutreffende Beschreibung sein. Wie entwickelte sich die Gesellschaftsvorstellung zwischen 1945 und circa 1960? Zunächst ist auf die Beobachtung hinzuweisen, dass der Gesellschaftsbegriff als ein „willkommener und ideologisch unbelasteter Ersatz“43 angesehen wurde, im Unterschied zum „Volk“, zur „Nation“, aber auch für „Gemeinschaft“. Die Gesellschaft sei „unbestritten zum Leitkonzept der sozialen Einheit“ geworden, „weil man auch von der westdeutschen Gesellschaft sprechen konnte, ohne den Anspruch auf die andere, die ,nationale‘ Einheit aufzugeben.“44 Für die 1950er Jahren macht Nolte Technik und Masse als die 36 Man denke hier etwa nur an Gustav Heinemann, Eugen Gerstenmaier, Hermann Ehlers und einige andere mehr. 37 Grossbçlting, Himmel, 71. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. ebd.; vgl. auch Mçller, Prozeß. Zum Beispiel von Martin Niemöller vgl. Hockenos, Niemöller. 40 Kuhlemann, Nachkriegsprotestantismus, 26. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Nolte, Ordnung, 219. 44 Beide Zitate ebd. Vgl. auch ebd.: „Etwas überspitzt könnte man sagen: Die Bundesrepublik brauchte die ,Gesellschaft‘ und schuf sie sich, und umgekehrt trug der Begriff, das Konzept der
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bestimmenden Themen der Diskussion aus. Stände- und Klassenstrukturen seien in diesem Prozess verloren gegangen und erlitten einen Bedeutungsverlust, „stattdessen erschienen die Menschen als eine undifferenzierte ,Masse‘, als ein ungegliedertes Kollektiv ,atomisierter‘ Individuen.“45 Mit solchen Positionen verbanden sich oftmals negative Zukunftsperspektiven. Gegen das Bild einer objektiven und angeblich ideologiefreien Industriegesellschaft habe dann Ralf Dahrendorf polemisiert und sie als ein Produkt soziologischer Phantasie bezeichnet.46 Nolte zeigt auf, dass hier zum Teil auch an konservative Muster aus der Vorkriegszeit angeknüpft wurde. Eine neue Gesellschaftsdeutung entwickelten Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard, deren Vorstellung von sozialer Ordnung „sich nicht im Stile der älteren, utopisch-ideologischen Gesamtentwürfe auf einen einfachen Begriff bringen“47 ließ. In den Nachkriegsjahren hatte Erhard noch ganz zeittypisch „vor der Auflösung sozialer Ordnung in ,Anarchie‘, vor der ,Entpersönlichung‘ des Menschen und vor dem freiheitsbedrohenden ,Termitenstaat‘“48 gewarnt. Hinsichtlich der Spannung zwischen „Individuum“ und „Gemeinschaft“ gelte es Extreme zu vermeiden und einen Mittelweg zu finden.49 Erhard lehnte aber eine hierarchische Ordnung, die sich die Gesellschaft als eine Pyramide der Ungleichheit vorstellte, ab. Durch die Ausweitung und Vereinheitlichung des Konsums habe er geglaubt, eine „klassenlose Gesellschaft“50 erreichen zu können. Die unterschiedlichen Ansätze und Auseinandersetzungen über die soziale Ordnung in der Industriegesellschaft können hier nicht weiterverfolgt werden. Wichtig ist der Hinweis Noltes, dass es einen Konsens in der Ablehnung der Herrschaft der Massen und der „Vermassung“ des Einzelnen gab.51 Allerdings hätten die hiermit verbundenen Prozesse im Verlauf der 1950er Jahre ihren Schrecken verloren.52 Durch die Verbindung zur Konsumgesellschaft hätten sich auch positive Deutungsmöglichkeiten aufgetan.53 Die soziologischen Diskussionen verwendeten einen nicht geringen Aufwand auf die Beschreibung der „Mitte“. In diesem Zusammenhang ist auch die Analyse Helmut Schelskys von einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ zu sehen.54 Zu den Bedingungen, die in den 1950er Jahren zum Wandel der Gesellschaftsentwürfe
45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
,Gesellschaft‘ maßgeblich zur Gewinnung und Sicherung der Identität dieser Bundesrepublik bei.“ Ebd., 274. Nolte referiert hier die Position der Unternehmerdenkschrift „Gedanken zur sozialen Ordnung“ aus dem Jahr 1953. Ebd., 277. Ebd., 296. Vgl. auch Grossbçlting, Marktwirtschaft; Brunner, Beitrag. Nolte, Ordnung, 296. Ebd., 296 f. Ebd., 297. Vgl. ebd., 303. Vgl. ebd., 308. Vgl. ebd., 310, 314. Vgl. Braun, Konzept.
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in der Bundesrepublik beigetragen hätten, zählt Nolte „die erfolgreiche Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen ebenso wie die entlastende Wirkung der ökonomischen Prosperität im ,Wirtschaftswunder“ der fünfziger und sechziger Jahre“.55 Ferner hätten die „amerikanischen Eingriffe und Einflüsse auf vielen verschiedenen Ebenen, von der Politik über die Massenkultur bis zu den Wissenschaften“ das Gefühl vermittelt, „daß die Flucht in ein utopisches Jenseits der Gegenwartsgesellschaft nicht mehr nötig sei.“56 Es trat bis in die Mitte der 1960er Jahre nun mehr „eine gewisse Selbstzufriedenheit mit der eigenen gesellschaftlichen Verfassung ein“57, die man zwar kritisch beurteilen könne, „deren enorm wichtige mentale Stabilisierungsfunktion man jedoch nicht übersehen sollte.“58 Wie veränderte sich in dieser westdeutschen Gesellschaft die Deutung des neuen Staates? Zunächst blieben die Ansätze der Smend- und Schmitt-Schule dominierend, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Die damit verbundenen Ansätze „zwischen Dezision und Integration“ können an dieser Stelle nicht in extenso nachgezeichnet werden.59 Unter dem Grundgesetz sei, wie Michael Stolleis gezeigt hat, „,Integration‘ zur allgegenwärtigen Formel“60 geworden, was ihr von Carl Schmitt die Kritik einbrachte, nur „ein großes Placebo“61 zu sein. Integration war auch über den engeren Rahmen der staatsrechtlichen Debatten hinaus ein wichtiges Schlagwort der politischen Landschaft.62 Der Philosoph Helmut Kuhn sprach später von einem Zeitalter der Integration, in dem er lebe.63 Der Münsteraner Systematische Theologe Arnulf von Scheliha unterstreicht die Bedeutung, die die Überwindung der konfessionellen Spaltung in den politischen Willensbildungsprozessen gehabt habe.64 Durch die engen Verbindungen zwischen politischem Protestantismus und der demokratischen Kultur der Nachkriegszeit, so von Scheliha weiter, sei ersterer sukzessive pluralismusfähig geworden.65 Es wird also auch danach zu fragen sein, wie sich 55 56 57 58 59 60 61 62
Nolte, Ordnung, 400. Vgl. hierzu jetzt auch Teuchert, Gemeinschaft. Beide Zitate Nolte, Ordnung, 400. Ebd., 402. Ebd. Hierfür vgl. G nther, Denken, 112–191. Vgl. ferner von B low, Staatsrechtslehre. Stolleis, Geschichte, Bd. 4, 358. Ebd. Ebd.: „Integriert werden sollten die Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer, vor allem aber die ehemaligen Nationalsozialisten als bedeutende und umworbene Wählergruppe ebenso wie als Reservoir für Fachleute in den Ministerien und Verbänden. Auch die Anfänge der betrieblichen Mitbestimmung in der Montanindustrie dienten der Integration in dem Sinne, dass die Arbeiterschaft durch Partizipation in Entscheidungsprozesse eingebunden werden sollte. Den großen Volksparteien CDU/CSU und SPD gelang die ,Integration‘ von älteren konfessionellen Gegensätzen einerseits und Splittergruppen andererseits durch breite Programmatik.“ 63 Kuhn, Staat, zitiert nach Stolleis, Geschichte, Bd. 4, 359. 64 von Scheliha, Ethik, 197. Vgl. Mitchell, Origins sowie Klein, Protestantismus. 65 Vgl. von Scheliha, Ethik, 198.
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die Aspekte der Integration und der Pluralismusfähigkeit auf die Volkskirchensemantik auswirkten, bzw. welche Modifikationen hier zu machen sind.66 Die evangelische Presse war in diesem Zeitraum ebenfalls im Wiederaufbau begriffen, was insofern schon eine erhebliche Herausforderung darstellte, als dass nach 1941 es bis auf wenige Ausnahmen keine kirchliche Presse mehr gegeben hatte. Nach dem Krieg nahmen einerseits eine ganze Reihe von Zeitschriften ihre Tätigkeit wieder auf, andererseits erfolgten einige Neugründungen, die sich aber nicht mehr in vergleichbarer Weise an einer kirchenpolitischen Richtung orientierten.67 In der DDR entwickelten sich die hier geschilderten Aspekte freilich doch recht unterschiedlich. Die Kirchenpolitik der SED war starken Schwankungen unterworfen, die von offener Feindschaft und Bekämpfung der Kirchen bis zur gezielten Unterwanderung und Überwachung reichte. Dementsprechend negativ war in den 1950er Jahren das Bild der kirchlichen Verantwortungsträger und evangelischen Theologen in der DDR, was auch damit zusammenhängt, dass hier ebenfalls viele Akteure durch ihre Tätigkeit in der Bekennenden Kirche geprägt worden waren.68 In der unmittelbaren Nachkriegszeit galten die Kirchen auch in der Sowjetischen Besatzungszone zunächst noch als ein wichtiger Partner.69 Die zwischen 1948 und 1951 bereits wachsenden Spannungen kamen 1952 zu einem vorläufigen Höhepunkt, der auch als erneuter „Kirchenkampf“ beschrieben wurde.70 Im Zuge seiner als „Aufbau des Sozialismus“ deklarierten Stalinisierung ging der ostdeutsche Teilstaat nunmehr offensiv gegen die evangelischen Landeskirchen sowie vor allem ihre „Jungen Gemeinden“ vor.71 Auch wenn die Einzelheiten dieses Geschehens hier nicht ausführlich dargestellt werden können, so waren diese kirchenfeindlichen Aktionen doch prägend für die Zeit bis zum Mauerbau 1961. Der politische und ideologische Druck auf die Kirchen stieg in dieser Zeit auch nach den Auseinandersetzungen über die „Junge Gemeinde“ weiterhin an. Der Kirchenhistoriker Rudolf Mau hat den Zeitraum zwischen 1952 und 1961 in seinem Überblickswerk zum Protestantismus in Ostdeutschland mit dem bezeichnenden Titel „Angriff auf die volkskirchlichen Traditionen“ überschrieben.72 Innerhalb dieser Zeit wurde also eher die im „Kirchenkampf“ erprobte Distanz zur ostdeutschen Diktatur weitergeführt, im Unterschied zu den westdeutschen Protestanten, mit denen man ja noch eng institutionell 66 Harry Oelke beschreibt dies als den Prozess der frühen politischen Bewusstseinsbildung, vgl. Oelke, Kirchengeschichte, 182–184. 67 Vgl. Rosenstock, Presse, 137–282. 68 Für einen Überblick vgl. Mau, Realsozialismus; Ordnung, Kirchenpolitik; Schroeder, SEDStaat, 104 f und Fulbrook, Commitment sowie aus politikwissenschaftlicher Sicht Gerlach, Staat. 69 Vgl. Mau, Protestantismus, 21. 70 Vgl. ebd., 45. 71 Vgl. ebd., 45–50; Uebersch r, Gemeinde. 72 Vgl. Mau, Protestantismus, 45.
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verbunden war, konnte hier kaum ein in gleicher Weise positiv wahrgenommenes Verhältnis zum neuen Staat entstehen.73 Das Selbstverständnis für das „Ganze“ zuständig zu sein, blieb dennoch erhalten. Wie in der Einleitung bereits gezeigt, verfolgt diese Arbeit den Ansatz einer asymmetrisch verflochtenen Beziehungsgeschichte. Die angesprochene Asymmetrie findet ihren Ausdruck auch in der geringeren Quellenmenge, die für dieses Kapitel – gemäß der methodischen Vorgehensweise dieser Arbeit – zur Verfügung standen.74
4.2 Theologisches Denken auf alten und neuen Pfaden Die theologische Gemengelage des im Mittelpunkt dieses Kapitels stehenden Zeitraums ist relativ schwer systematisch zu beschreiben. Abgesehen von den Biografien der völkischen Theologen, stellt das Jahr 1945 auch theologiegeschichtlich sicherlich nur in eingeschränkter Form eine Zäsur dar. Auch wenn die völkischen Ansätze deutlich diskreditiert waren und im Grunde keine Rolle mehr spielten, konnte sich eine veritable, meist lutherisch geprägte Ordnungstheologie, etwa bei Paul Althaus oder Walter Künneth, noch länger behaupten. Ihr gegenüber standen die Vertreter einer vornehmlich durch Karl Barth geprägten Theologie, die erst jetzt eine doch zunehmende Dominanz durchsetzen konnte, was aber in kirchenpolitischer Hinsicht nur in eingeschränktem Umfang gelang. Hermann Fischer hat wohl zu recht darauf hingewiesen, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht wie der Erste Weltkrieg zu theologischen Neuaufbrüchen geführt habe.75 In der Zeit des Nationalsozialismus, der kirchenpolitische Themen in den Vorder- und theologische Auseinandersetzungen in den Hintergrund gedrängt habe, wurden die „theologischen Themen und Probleme […] nach dem politischen Umbruch von 1945 weiter, sie werden aber nicht grundsätzlich neu verhandelt.“76 Man könnte in gewisser Weise – am Beispiel Otto Dibelius‘ aber auch anderer führender Köpfe aus den Kirchenleitungen – von einer Art „Weimar-Komplex“ sprechen.77 Eckhard Lessing unterscheidet in seiner dreibändigen „Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart“ für die zwei Dekaden nach Kriegsende zwischen den bestim73 Zu den Konfliktfeldern vgl. ebd., 58–64. 74 Vgl. Bulisch, Presse. Ergänzt wird das Sample durch Publikationen ostdeutscher Theologen und kirchenleitender Persönlichkeiten, die in westdeutschen Zeitschriften veröffentlichten, was durchaus umfänglich geschehen ist. Unbenommen hiervon sind natürlich Sammelbände und Monografien, die ebenfalls Berücksichtigung gefunden haben. 75 Vgl. Fischer, Theologie, 110. 76 Ebd., 110 f. 77 Vgl. Ullrich, Weimar-Komplex.
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menden Ansätzen und den jeweiligen theologischen Gruppierungen. Zu den ersteren zählt er neben der bereits genannten Dialektischen und lutherischen Theologie auch die Theologie Paul Tillichs, sowie die freie Theologie.78 Hinsichtlich der Barthschüler unterscheidet Lessing die Gruppe der lutherischen – er nennt Heinrich Vogel, Hans Joachim Iwand, Hermann Diem – von den reformierten wie Otto Weber und Walter Kreck. Innerhalb der Dialektischen Theologie führt er außerdem noch die Gruppe der Bultmannschüler an.79 Die Gruppierungen der lutherischen Theologie stehen Lessing zufolge unter verschiedenen Horizonten, dem der Erlanger Theologie80, der positiven Theologie81 und der Ritschlschen Theologie82. Helmut Thielicke steht für eine lutherische Theologie unter einem modern-positiven Horizont, während Carl Heinz Ratschow vornehmlich durch die religionsgeschichtliche Schule geprägt worden sei. Insgesamt scheinen die 1950er Jahre ein Zeitraum der Vollendung theologischer Systeme gewesen zu sein, in der sich die in der Zwischenkriegszeit charakteristisch ausgeprägten Ansätze konsolidierten.83
4.3 Spannungsfeld I: Kirche und Staat Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges machte der westdeutsche Protestantismus einen erneuten Anlauf, sich mit einem demokratischen, modernen Staatswesen auseinanderzusetzen. In Ostdeutschland hingegen hatte man es neuerlich mit einer Diktatur zu tun. Dieses Kapitel fragt danach, was die Historische Semantik der Volkskirche über die kirchlichen Selbstverortungen in den beiden deutschen Staaten verrät. Dabei wird nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten ebenso zu fragen sein, wie nach Differenzen und Ähnlichkeiten der kirchlichen Selbstbeschreibungen in Ost und West. 4.3.1 Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen des „Kirchenkampfes“ Trotz der Pervertierungen des Begriffs während der Zeit des Nationalsozialismus, bediente man sich der Volkskirche schon sehr bald wieder in nicht unerheblichem Maße, in der Regel, um ein positives Verhältnis zum Staat auszudrücken. Helmut Thielicke84 sah allerdings im Juli 1945 die Aufgabe der 78 79 80 81 82 83 84
Vgl. Lessing, Geschichte, Bd. 3, 120. Ebd., 147–178. Er nennt Ernst Käsemann, Herbert Braun, Ernst Fuchs und Heinrich Schlier. Beispielsweise werden hier Ernst Kinder und Peter Brunner genannt. Walter Künneth und Gerhard Gloege. Hans Graß, Wolfgang Trillhaas. Vgl. auch Fischer, Theologie, 111–121. Vgl. Friedrich, Thielicke. Zu Thielickes Bedeutung als konservativer Denker vgl. Greiffenhagen, Dilemma, 92, 283, 311.
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Kirche beim Wiederaufbau „nicht darin, daß sie Politik betreibt, daß sie politische Aemter besetzen will, daß die Bischöfe zu Chefs der Landesverwaltungen und die Pfarrer zu Bürgermeistern werden.“85 Vielmehr sei diese Aufgabe wie folgt zu formulieren: „Je mehr die Kirche sich auf ihr eigenstes Gebiet beschränkt, je klarer sie in Gericht und Gnade ihre Botschaft ausrichtet, je zuchtvoller sie sich an die Substanz ihrer Botschaft hält, um so weiter wird ihr Einfluß in die Oeffentlichkeit ausstrahlen. Sie hat zuerst ,nach dem Reiche Gottes zu trachten‘; dann wird ihr alles andere, auch das rechte Wort für die einzelnen Nöte ihres verwirrten und unglücklichen Volkes zufallen.“86
Wenn sie jetzt aber machtpolitisch die „Welt“ gewinnen wolle, würde sie obendrein auch noch das Reich Gottes verlieren. Thielicke ist sehr zurückhaltend in der Art und Weise, wie er das Verhältnis von Kirche und Staat zu bestimmen versucht.87 Sein Insistieren auf der Bedeutung der adäquaten Verkündigung ist dabei ein schon in den Auseinandersetzungen während des „Dritten Reiches“ erprobtes Argumentationsmuster. Otto Dibelius agierte zögerlicher, stand das Streben nach öffentlicher Bedeutung und kirchlichen Wirkungsmöglichkeiten doch häufig im Zentrum seiner öffentlichen Aussagen. Sobald die Gewissen wach genug geworden seien, sollten „namentlich die Männer den Mut haben, diese großen christlichen Wahrheiten im öffentlichen Leben zu vertreten.“88 Man dürfe sich ob der schlimmen Erfahrungen der jüngsten Zeit nicht aus der öffentlichen Verantwortung flüchten.89 Der Christ solle sich demnach nicht scheuen, „ein Amt oder einen Dienst im öffentlichen Leben zu übernehmen“, beispielsweise in den politischen Parteien. Dazu müsse aber eine neue Gesinnung hinzutreten. Die Christen müssten dafür sorgen, dass die Menschen zu Gott zurückkehrten 85 Thielicke, Kirche, 1945. Der Württembergische Landesbischof Theophil Wurm war ein früher Förderer von Thielicke, vgl. Wurm, Erinnerungen, 169: „Eine spürbare Stärkung für die Gemeinde in Stuttgart bedeutete die Wirksamkeit von Dr. Helmut Thielicke. Diese Zuneigung beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, wenn Thielicke wenig später im zitierten Aufsatz von „unserem greisen Bischof[] Wurm“ spricht, „der wie ein schützender Eckhart jetzt vor seinem Volke steht und trotz der alle Lebensgebiete umfassenden Weise seines Blickfeldes die Arbeit der Kirche auf diesen einen entscheidenden Punkt ansetzt.“ [ebd., Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Für eine Lagebeschreibung „von außen“ vgl. Brunner, Lage sowie einige Jahre später erneut Thielicke, Religion; Thielicke, Lage sowie ausführlich dann in Thielicke, Fragen. 86 Thielicke, Kirche, 1945. 87 Vgl. hierzu jetzt auch Kalinna, Gnaden; Kalinna, Entmythologisierung. 88 Dibelius, Verantwortung, 5. Vgl. mit anderer Akzentsetzung Heinemann, Verantwortung, vor allem 314 mit der Frage: „Ist es wirklich ganz in unser Bewußtsein getreten, daß sich eine Umformung von der Volkskirche zur lebendigen Gemeinde, zur Kerngemeinde vollzogen hat?“ 89 Dibelius, Verantwortung, 5: „Wenn ein Volk, das seinem Gott den Rücken gekehrt hat, in allen großen Fragen des Gemeinschaftslebens der völligen Ratlosigkeit und Haltlosigkeit verfallen ist, dann ist es die Pflicht des Christen zu helfen, zu raten und zu bessern! Niemand darf sich dieser Pflicht entziehen!“
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und auf eine Entgiftung der Menschen von der Gehässigkeit und der Angst einwirken. Sie müssten zeigen, dass sie einen anderen Geist haben. Dabei hat dieser Punkt durchaus eine politische Dimension, wenn Dibelius vom „Denunziantentum, das aus dem Hinterhalt seine vergifteten Pfeile schießt“ spricht und auf die Gehässigkeit und die üble Nachrede in der Presse und in den politischen Versammlungen hinweist.90 1947 erschien eine weitere Schrift von ihm, die eine Gestaltung von Volk, Staat und Wirtschaft „aus christlichem Verantwortungsbewusstsein“ forderte.91 Um der Entsäkularisierung des Volkslebens entgegenzuwirken, sei ein völliges Umdenken über den Staat nötig. Gott müsse auf allen Ebenen zur tragenden Mitte werden, darum sei eine „Entsäkularisierung unseres Gemeinschaftslebens“ ebenso nötig wie die „Entmythologisierung des Staates“ und die „Entdämonisierung der Wirtschaft“.92 In einem Beitrag in der Göttinger Universitäts-Zeitung hatte Ernst Wolf 1945 die Frage des „Nationalen Gewissens“ diskutiert. In seinem Aufsatz unterstreicht er die Bedeutung der Stuttgarter Schulderklärung, dass man dort damit begonnen habe „jenes Wort zu sprechen – durch die Kirche für das Volk –, das uns allen nicht erspart bleiben kann, soll ein ehrlicher und dann vielleicht doch aufbauender Neubeginn auch mit unserer politischen Existenz überhaupt geschehen, jenseits von einem unfruchtbaren gegenseitigen Aufrechnen.“93
Martin Niemöller diskutiert 1946 in einer kleinen Schrift die Bedeutung der Gewissens- und Schuldfrage für die angestrebte Erneuerung der Kirche. Den Vorwurf der Kollektivschuld, der weniger von den Alliierten, als von den Deutschen selbst als ein solcher verstanden worden sei, lehnt er entschieden ab. Sinnvoll könne im christlichen Sinne nur der Umgang mit der individuellen Schuld sein und hier sieht Niemöller auch den Ort des Schuldbekenntnisses sowie der Vergebung.94 Wie sei in diesem Zusammenhang das Stuttgarter Schuldbekenntnis zu bewerten, wie sei mit den Vorwürfen umzugehen, dass man durch selbiges das Volk politisch belastet habe? Niemöller sieht die historische Bedeutung des Schuldbekenntnisses darin, dass Gott es benutzt habe, „um die Kirche zu erneuern, und zwar nicht nur die Kirche in Deutschland, wo dieses Schuldbekenntnis in den Gemeinden aufgenommen worden ist, sondern die Christenheit in der ganzen Welt.“95 Er unterstreicht im Weiteren die ökumenische Bedeutung, die das Stuttgarter Bekenntnis gehabt habe. Der Versuch, die Tür aufzutun und der Welt „zu bezeugen: Laßt ihn 90 Vgl. ebd. 91 Dibelius, Volk. Dibelius wird auf der Vorderseite als „Evangelischer Bischof von Berlin“ angeführt. Vgl. auch Dibelius, Kirche. 92 Vgl. Dibelius, Volk, 43. Vgl. hierzu neben Brunner, Beitrag auch Brunner, Christen. 93 Wolf, Gewissen, 11. 94 Zum Motiv der Vergebung vgl. auch Althaus, Amnestie. 95 Niemçller, Erneuerung, 12.
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[gemeint ist Jesus Christus, BB] nicht draußen stehen, tut ihm die Tür auf, damit aus der Feindschaft die Gemeinschaft werde derer, die bei ihm sind und in seinem heiligen Mahl die Versöhnung mit Gott und untereinander finden.“96 Der ökumenische Dialog wird als eine wichtige Vorbedingung für die Erneuerung der Kirche dargestellt. Freilich sind diese Aussagen, wie auch schon die von Thielicke und Wolf, in den Schulddiskussionen dieser Zeit zu verorten.97 Aus der „Kirchenkampfzeit“, wie die zurückliegenden Auseinandersetzungen weiterhin genannt wurden, übernahm man die Überzeugung, dass vieles, vielleicht sogar alles daran hänge, dass man die Kirche als „Versammlung der Glaubenden um Wort und Sakrament“98 erkenne. Denn: „Mitten in dem offensichtlichen Zusammenbruch der Idee der Volkskirche, mitten in der offensichtlichen Widerlegung der Meinung, daß die Masse der Kirchensteuerzahler oder der aus der Kirche noch nicht Ausgetretenen oder auch die Kreise der kirchlich Interessierten die Kirche seien, wurde neu deutlich die entscheidende Bedeutung der konkreten örtlichen Begegnung der Christen unter dem Wort.“99
Wie wir gesehen haben, war der „Zusammenbruch der Idee der Volkskirche“ nicht so offensichtlich, wie Edmund Schlink meint. Bei den unterschiedlichen Reflexionen über den theologischen Ertrag des Kirchenkampfes bestand zu dieser Zeit durchaus noch ein Bewusstsein dafür, dass die BK „keine Organisation von ,Widerstandskämpfern‘ gegen den Staat“ gewesen sei, sondern eine „von der Wahrheit des Wortes Gottes aufgerufene und gesammelte Schar, die von wesentlichen theologischen Erkenntnissen bewegt und durchdrungen war.“100 Gleichwohl meint Joachim Beckmann, dass der theologische Ertrag, den man aus dem Kirchenkampf gewinnen könne, „groß und reich“101 sei. Insbesondere die Klärung über das rechte Verständnis von Obrigkeit sei in klarer Abgrenzung zu der „deutschchristlichen Behauptung der Schöpfungsordnungen“ erfolgt, die ein „Ausfluß ihrer natürlichen Theologie“ gewesen sei und es ihnen ermöglicht habe „Volk, Volkstum, Rasse, Staat als Schöpfungsordnungen zu verstehen, in denen sich Gottes Wille rein und deutlich erkennbar ausspricht.“102 Im Gegensatz zu den Deutschen Christen habe die Bekennende Kirche seiner Ansicht nach „schon ziemlich früh den
96 Ebd., 13. 97 Vgl. hierzu auch neben Wolbring, Stigma; Frei, Erfindungskraft; Friedmann / Sp ter, Kollektivschuld-Debatte sowie den konzisen Überblick bei Gçrtemaker, Geschichte, 199–216. 98 Schlink, Ertrag, 19. 99 Ebd. 100 Beckmann, Ertrag, 75. 101 Ebd., 76. 102 Alle Zitate ebd., 80.
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antichristlichen Charakter des Staatstotalitarismus“103 erkannt. Im Endeffekt habe die theologische Arbeit der BK „die evangelischen Christen von der überlieferten Staatsgebundenheit freigemacht. Sie hat die evangelische Kirche an ihre in ihrem Auftrag beruhende Freiheit erinnert und die Obrigkeit an ihre Gebundenheit unter Gottes Gebot. Damit hat sie für die evangelische Kirche in Deutschland einen entscheidenden Dienst geleistet. “104
Das hat nun mit den tatsächlichen Positionen der BK, zumindest während der Anfangsjahre der Zeit des Nationalsozialismus, nur wenig zu tun. Damit müsse nun, so Beckmann, auch eine neue Lehre von der Kirche verbunden werden, die ihrerseits aus den Erfahrungen des Kirchenkampfes zu entwickeln sei. Er ist der Überzeugung, dass das theologische Vermächtnis der Bekennenden Kirche „lebendig zu bewahren und weiterzugeben sei“105, damit die evangelische Kirche den kommenden Stürmen nicht ungerüstet entgegen gehe. Das hier formulierte Verständnis harrte freilich noch einer Bestätigung in der Praxis, die Diskussion um Dibelius‘ Obrigkeitsschrift Ende der 1950er Jahre sollte dies nochmals in aller Schärfe deutlich machen. Zu konstatieren ist jedenfalls, dass die freie Kirche sich in einem kirchenfreundlichen, an die Gesetze Gottes gebundenen Staat erneut als eine Idealvorstellung etablierte.106 Hermann Ehlers107 wies allerdings schon einige Jahre zuvor darauf hin, dass es auch eine falsche Freiheit und eine falsche Bindung der Kirche gebe: „Wir stehen an einer entscheidenden Wende der Kirche. Das Mißverständnis der Freiheit in der Kirche ist gewachsen aus dem unveräußerlichen Verständnis einer evangelischen Freiheit, die ihre Erfüllung in dem Auszug aus alten Bindungen sah, und in dem Einbruch politisch-freiheitlicher Ideen in den Raum der Kirche. Das Mißverständnis der Bindung in der Kirche ist gewachsen aus dem Druck eines Staatskirchentums und aus dem Buchstabenglauben einer verhärteten Orthodoxie, die jede echte von der Sache der Kirche herkommende Bindung als unglaubwürdig erscheinen ließ. Wir stehen am Ende einer Volkskirche, die ihre
103 Ebd., 81. 104 Ebd., 82. 105 Ebd., 87. Vgl. auch Beckmann, Verantwortung, 231: „Die evangelische Kirche steht heute vor der schwerwiegenden Entscheidung, ob sie die Verantwortung für das deutsche Volk und seine Zukunft auch weiterhin übernehmen oder ob sie sich wieder in das Getto einer unpolitischen Existenz zurückziehen soll. Wir sind der Überzeugung, daß wir in der gegenwärtigen Lage in ganz besonderer Weise zur Wahrnehmung unserer Verantwortung im Gehorsam des Glaubens berufen sind.“ 106 Vgl. auch Koch, Neuordnung. Kritisch zur Vorstellung eines christlichen Staates: Sauer, Kirche. 107 Vgl. Meier, Ehlers.
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zerstörerische Gestalt erhalten hat durch die falsche Freiheit und durch die falsche Bindung.“108
Der Oldenburger Oberkirchenrat Ehlers sieht die Volkskirche nicht nur am Ende, sondern stellt ihre zerstörerische Wirkung in den Vordergrund.109 4.3.2 Volkskirche als Öffentlichkeitskirche Ein wesentlicher Aspekt für die Verwendungsweisen des Volkskirchenbegriffs wurde die Diskussion um den „Öffentlichkeitsanspruch der Kirche“, nicht selten verbunden mit einem sogenannten Wächteramt der Kirche.110 Diese Tendenz zeigt sich bereits in Karl Barths berühmten Aufsatz „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ aus dem Jahr 1946. Barth lehnt die Idee einer christlichen Partei ab und findet die „Allianz der Evangelischen mit den Römischen im französischen MRP und in der deutschen CDU“111 verdächtig. Vielmehr richte sich die „Verkündigung des ganzen Evangeliums von Gottes Gnade“112 als Rechtfertigung des ganzen Menschen auch an den politischen. Das Evangelium ist seiner Ansicht nach von Haus aus politisch und in den verschiedenen Verkündigungsmodi überdies „prophetisch-politisch.“113 Er geht dann aber noch einen Schritt weiter und behauptet, dass der rechte Staat in der rechten Kirche sein Urbild und Vorbild haben müsse.114 „Die Kirche existiere also exemplarisch, d. h. so, daß sie durch ihr einfaches Dasein und Sosein auch die Quelle der Erneuerung und die Kraft der Erhaltung des Staates ist. Ihr Predigen und Proklamieren des Evangeliums wäre umsonst, wenn ihr Dasein und Sosein, ihre Verfassung und Ordnung, ihre Regierung und Verwaltung nicht praktisch dafür sprächen, daß jedenfalls hier, in diesem engeren Kreis vom Evangelium her gedacht, gehandelt, disponiert wird, daß man hier tatsächlich direkt und bewußt um das gemeinsame Zentrum versammelt und nach ihm ausgerichtet ist.“115
Damit es zu einer Reformation des deutschen Volkes komme, sei es unbedingt erforderlich, dass die Kirche nicht zu einem Hort der Restauration werde. Die Deutschen hätten Recht, Freiheit, Verantwortlichkeit und auch die Elemente 108 Ehlers, Freiheit, 14. 109 Zur Bedeutung des „Kirchenkampfes“ in dieser Hinsicht vgl. Schweitzer, Verantwortung. Man bezog sich hierbei vor allem auf den dritten Artikel der Barmer Theologischen Erklärung. 110 Vgl. als Überblick Lepp, Kirche. 111 Barth, Christengemeinde, 78. Ähnlich im Übrigen auch de Quervain, Oeffentlichkeitsanspruch. Zur lutherischen Sicht vgl. Lilje, Aufbruch, 6; Lilje, Aufgabe sowie H bner, Gemeinde, 1952; H bner, Gemeinde, 1963. 112 Barth, Christengemeinde, 78. 113 Ebd., 79. 114 Vgl. ebd., 80. 115 Ebd.
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der Demokratie noch von Grund auf zu lernen, weswegen es fatal sei, wenn „ausgerechnet die Kirche immer noch hierarchischer, immer noch bureaukratischer sich zu gebärden für nötig hält und in dieser Situation zum Hort des Nationalismus wird, wo gerade sie sich als heilige, allgemeine Kirche darstellen und damit auch die deutsche Politik aus einem alten Engpaß herauszuführen helfen dürfte.“116 Die Aufgabe der Christengemeinde sei es, politisch mitverantwortlich zu handeln und in der Bürgergemeinde als Christen tätig zu werden.117 Mit Barth, dessen Bedeutung in der Folgezeit im Vergleich zu den vorherigen Dekaden noch erheblich steigen sollte, waren auch viele andere Protestanten überzeugt, dass auf der Basis eines recht verstandenen Christentums öffentliche Verantwortung wahrgenommen werden müsse.118 Götz Harbsmeier119 sieht die Aufgabe der Kirche in diesem Kontext auch darin, der Hybris des Menschen zu wehren. Dies sei ein Teil ihrer Verantwortlichkeit. Dazu gehöre auch das seelsorgerliche Engagement „für das Glied des Volkes, in dem sie lebt, ganz gleich, ob sie nun Volkskirche ist oder nicht.“120 Bei Harbsmeier finden sich wohl die deutlichsten Worte zur kirchlichen Mitschuld an den Schrecken der vorangegangenen Jahre. Die hier begangenen Taten habe „jenen allgemeinen Ablösungsprozeß der Kirche aus der Wirklichkeit des Lebens der Volkes“121 bewirkt und das allenthalben zu spürende Mißtrauen gegen sie angefacht. Nicht lange vor der Einberufung des Parlamentarischen Rates und der bald darauf erfolgten Gründung der beiden deutschen Staaten konnte die Meinung zum Ausdruck gebracht werden, dass „das Bewußtsein einer neu gegebenen Mitverantwortung der Kirche für die öffentlichen Dinge von Staat und Kirche unter den evangelischen Christen Deutschlands heute zweifellos ganz allgemein verbreitet“122 sei. In diesem Zusammenhang ist auch die ausführliche Auseinandersetzung mit der Volkskirche durch den reformierten Theologen Otto Weber123 zu sehen. Weber unterstreicht zunächst die Bedeutung des Endes des landesherrlichen Kirchenregiments als einer Zäsur, welche das 116 Ebd. Später formuliert Barth die Überzeugung, dass die christliche Gemeinde dann ihren Dienst in der rechten Weise vollbringe, wenn sie auch im Wechsel von Staatsordnungen sich darauf beschränke, „unter allen Umständen und also auch mit ihrem prophetischen Wort allein die frohe Botschaft von Jesus Christus, ihre Verheißung und ihre Mahnung zu proklamieren.“ (vgl. Barth, Gemeinde, 1948/49, 12). 117 Ähnlich auch: Diem, Abfall. 118 Vgl. z. B. Wolf, Kirche, 1946, 85: „Sie [die Kirche, BB] will mithelfen zur Erziehung der Öffentlichkeit im Geist der christlichen Sittenlehre. Die Kirche sieht und erfüllt wieder ihre Pflicht, Gottes Gesetz allem Volk zu verkündigen.“ 119 Vgl. zu den biografischen Hintergründen Bultmann, Briefwechsel. 120 Harbsmeier, Verantwortlichkeit, 31. 121 Ebd., 32. 122 Becker, Vorbemerkungen, 303. Weitere Beispiele, die diese Behauptung belegen, ließen sich leicht anfügen: Althaus, Christenheit; Gogarten, Öffentlichkeitscharakter; Gerstenmaier, Limes; von Thadden, Kirche. 123 Vgl. von B low, Weber.
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Ende der sog. Staatskirche bedeutet habe. Der volkskirchliche Charakter der Kirche sei aber weiterhin betont worden. Die Ereignisse seit 1933 hätten gezeigt, zu welch verhängnisvollen Folgen dies führen konnte. Es sei allerdings nicht erwiesen, dass die Kirche im Umkehrschluss hieraus die Folgerung ziehen dürfe, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen: „Denn eben aus der Öffentlichkeit wollte sie ja der totale Staat verbannen!“124 Die historisch gewachsene „Ineinssetzung von öffentlich-bürgerlichem Gemeinwesen und christlicher Gemeinde“125 sei nicht mehr vorhanden und vieles spreche dafür, dass sich auch die „dünnen Restbestände“126 schnell abbauen würden. Es könne aber in dem Begriff der Volkskirche auch noch etwas anderes zum Ausdruck kommen als diese Ineinssetzung: „Dieses Andere kommt vielleicht deutlicher zutage, wenn wir statt ,Volkskirche‘ den Begriff Öffentlichkeitskirche verwenden.“127 Diese Begriffsverschiebung ist doch recht aufschlussreich. Die Aufgaben der Volkskirche sind auf die Öffentlichkeit ausgerichtet, über die man sich wiederum an das gesamte Volk wenden kann.128 Wenig später legt Weber dar, dass in der Volkskirche der durch die Begriffsveränderung schon angedeutete Sinn bereits enthalten sei, dass die Kirche also eine öffentliche Verantwortung trage und man deswegen, auch wenn von der Kirche eines gesamten Volkes schon lange keine Rede mehr sein könne, am Begriff festhalten dürfe. Dabei sei es seiner Ansicht nach aber ganz entscheidend, dass man erkenne, dass die Kirche Gemeinde sei. „Die Kirche baut sich nicht aus der Welt, aus dem Menschen, aus dem Volke auf. Aber sie ist der Leib dessen, der sich mit dem Menschen solidarisch gemacht, der unser Fleisch – endgültig – angenommen hat, und darum (und insofern) ist sie gewiesen, sich ihrerseits mit dem Menschen solidarisch zu machen. […] Indem die Kirche dies tut – in ihrem Wort wie in ihrer umfassenden diakonia –, ist sie in einem neuen, echten Sinn ,Volkskirche‘: Kirche für das Volk, für die Völker, für die Welt.“129
An dieser Stelle artikuliert sich wohl zum ersten Mal nach 1945 die Vorstellung einer Kirche für andere, einer in einem umfassenden Sinne diakonisch handelnden Volkskirche, die man auch als Öffentlichkeitskirche bezeichnen könne. Diese Vorstellung wird, wie noch zu zeigen ist, in den 1950er und 1960er Jahren ungeheuer folgenreich, etwa bei Heinz-Dietrich Wendland und anderen.130 Über die Notwendigkeit, den Öffentlichkeitscharakter der Kirche 124 125 126 127 128
Weber, Gemeinde, 163. Ebd. Ebd. Ebd. [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Kirche entsteht für Weber dann, wenn die Gemeinde sich versammelt. Auch wenn die Versammlung im Verborgenen stattfindet, habe „diese Versammlung […] stets ihre Richtung auf die Öffentlichkeit.“ (ebd., 164, Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. 129 Ebd., 176 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 130 Vgl. Gr ber, Auftrag, 201: „Schon zur Zeit des NS-Staates war sich die Bekennende Kirche
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eindeutiger zu bestimmen, war man sich einig. Gerade da man befürchtete, dass „der Anschauungsunterricht, den der Herr seiner Kirche in schwerer, gnädiger Heimsuchung zur Frage nach dem Lebensraum erteilt hat, schon wieder vergessen“131 sei. Der Öffentlichkeitscharakter sei nämlich gerade nicht dadurch zu erreichen, dass man sich „der Presse, des Rundfunks oder auch der Schule“132 bemächtige. Dies habe die Erfahrung des Dritten Reiches gezeigt, in dem man „[t]rotz eines Millionenbestandes an Gliedern […] als Staatskirche und Volkskirche zur Sekte geworden“ sei, zu einer „musealen Größe, die in der Öffentlichkeit zu beachten bald nicht mehr lohnte und von der in der Tat kaum eine Wirkung auf das öffentliche Leben ausging.“133 Im Gegensatz dazu seien es gerade die kleinen, staatlich nicht anerkannten Gemeinden der BK gewesen, die eine „unübersehbare Öffentlichkeitswirkung gehabt“134 hätten. Die beschworene Restauration der Kirche wird nicht zuletzt auch deshalb von vielen Protestanten aus dem Umfeld der BK abgelehnt, weil sie als ein Rückfall in frühere Wirkungslosigkeit gesehen wird.135 Hinzu kommt die Vorstellung, dass die Kirche ihren Dienst am Volk aber nur leisten könne, wenn sie „in diesem Volke und Staate sich ihres Wächter- und Hirtenamtes nun wieder aufs Neue bewußt wird.“136 Im Übrigen wurde auch im Kirchenrecht konstatiert, dass die „nunmehrige [durch das Grundgesetz, BB] volle innere Unabhängigkeit der Kirche vom Staat die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer umso volleren Zuwendung hin zu Welt und Staat“137 ermöglichen helfe. „Öffentlich ist das, was in die den modernen Staat rechtfertigende Fülle seines Sinns, in das ,im verantwortlichen Zusammenhang mit der Welt stehende Leben‘, und damit zugleich in den Bereich irgendwelchen bestimmenden oder doch billigenden Anteil des Volks an diesem Sinngehalt gehört, damit auch von Rechts wegen einen bestimmten Geltungsanspruch hat. In dieser tieferen Bedeutungsschicht erweisen sich staatliche Anerkennung des Öffentlichkeitsanspruchs der
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darüber klar, daß nach dem Zusammenbruch dieser diakonische Auftrag, dieses helfende Zeugnis der Wahrheit für das gesamte Volk noch kräftiger ausgerichtet werden müsse.“ Vgl. außerdem Vogel, Verantwortung. Schmauch, Reaktion, 29. Vgl. auch Lempp, Kirche, 3: „Die Kirche ist aus der Ruhe eines spießbürgerlichen Dahinlebens aufgeschreckt worden.“ Wenig später spricht Lempp dann, er war 1945 Prälat des Sprengels Heilbronn geworden, vom „Ende des Konstantinischen Zeitalters“, als der Zeit, „in dem die Kirche im engsten Bund mit der Welt des Staates und der Kultur stand.“ (ebd., 9). Schmauch, Reaktion, 29. Beide Zitate ebd. Ebd. Vgl. z. B. auch Steck, Grund, 9: „Seine Kirche ist Kirche für die Welt.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Gr ber, Auftrag, 202. Smend, Staat, 9 mit Verweis auf Schlink, Ertrag.
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Kirche und ihre öffentliche Korporationsqualität als durch das gleiche Kriterium zusammengehalten.“138
Als Körperschaft des öffentlichen Rechts sei die Kirche auch juristisch so definiert, dass sie bestimmte öffentliche Aufgaben für den Staat übernimmt.139 Ein anderer Kirchenrechtler war der Ansicht, dass die lutherische Kirche, wenn sie Volkskirche sein und bleiben wolle „gerade in der Gegenwart mit ihrer Stimme in den weltlichen Raum hineinwirken“140 müsse. Und ein dritter Jurist in kirchlichen Diensten sieht den Dienst in der Kirche per se als einen öffentlichen Dienst an. Die Kirche ist Volkskirche „und nimmt damit jeden, der von evangelischen Eltern geboren wird, als ihr Glied in Anspruch. Mit der Volkskirche ist ein Anspruch und ein Auftrag an die Öffentlichkeit verbunden, den die Öffentlichkeit, insbesondere auch der Staat und die politischen Gemeinden nicht übersehen und nicht übergehen können. Sie hat dadurch die Legitimation, zu allgemeinen Fragen öffentlich Stellung zu nehmen.“141
Der in Tübingen lehrende Systematische Theologe Hermann Diem142 nahm eine Vortragsreise in Ungarn zum Anlass, um über die Entwicklung der Volkskirche in Ost und West nachzudenken. Nicht nur in Ungarn sondern auch im Westen habe die theologische Ungeklärtheit einiger zentraler Begriffe wie gerade der Öffentlichkeitsanspruch, aber auch das prophetische Amt, die Diem selbstverständlich im Kontext seiner Überlegungen zur Volkskirche anbringt, zu einiger Verwirrung geführt. Diem sieht nämlich die Gefahr, dass man – er spezifiziert nicht weiter, wen er hier vor allem anspricht – auf „die Wahrnehmung der politischen Verantwortung der Kirche“143 schon bald verzichten könne, mit möglicherweise fatalen Folgen.144 Er unterstreicht in aller Deutlichkeit die Relevanz, die das Verständnis der Volkskirche für die Fragen danach habe, wie der Öffentlichkeitscharakter der Kirche in der rechten Weise gelebt und wie das prophetische Amt ausgeübt werden könne.145 Denn vor allem durch das Verhältnis zum Staat könne man sich der Problematik der Volkskirche heutzutage nähern: „Die Volkskirche ist das bis heute nachwirkende Erbe der unter Konstantin erfolgten Wendung in der Kirchengeschichte, und wir sind dringlicher als je vor die Frage gestellt, ob das konstantinische Zeitalter sich nicht seinem Ende nähert.“146 138 139 140 141 142 143 144 145 146
Smend, Staat, 13. Smend zitiert hier Gogarten, Schuld, 26. Vgl. Lindner, Entstehung; Endrçs, Entwicklung; Weichlein, Staatskirche. Liermann, Grundlagen, 11. Wagenmann, Verwaltung, 57. Zu Diem vgl. Brandt, Diem. Diem, Volkskirche, 18. Die konkrete Beschreibung der ungarischen Verhältnisse kann hier ausgespart bleiben. Instruktiv, insbesondere für die Bewertung der Zeit vor 1945 ist: Diem, Restauration. Diem, Volkskirche, 29.
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Diese Frage müsse nun in Bezug auf West- und Ostdeutschland je unterschiedlich beantwortet werden. Im Westen komme diese Frage nicht von außen auf die Kirche zu, denn der „Staat behandelt die Kirche wohlwollender, als es seit Langem geschehen ist. Er gibt der Kirche nicht nur Geld und Privilegien, weit über das hinaus, was sie seit 1933 verloren hat, sondern er läßt sie auch als einen starken politischen Faktor im öffentlichen Leben gelten.“147
So gebe es gegenwärtig keine Partei, nicht einmal die KPD, die sich offen gegen die Kirche positionieren könne. Allerdings gehe es der Kirche mit dieser Situation selbst nicht ganz wohl, denn: „Einmal entspricht dieses Wohlwollen nicht dem Stand der Christlichkeit unseres Volkes, wie er während des Dritten Reiches offenbar geworden ist. Daß es ein öffentlich tätiges Antichristentum in nennenswertem Maße nicht mehr gibt, kann die Kirche nicht darüber hinweg täuschen, daß tatsächlich der größte Teil des Volkes der Kirche fremd gegenübersteht, und die Frage ist, ob es erlaubt ist, die Fiktion der Christlichkeit des Volkes noch länger mit Hilfe der volkskirchlichen Ordnung zu erhalten.“148
In Ostdeutschland kämen solche Fragen von außen auf die Kirche zu durch einen Staat, „für den von seinen Voraussetzungen aus die konstantinische Konzeption überwunden ist.“149 Die Lage dort komme für die Kirchen dem nahe, was man aus der Zeit des Kirchenkampfes kenne. Der Verlust der Volkskirchlichkeit werde von den Christen allerdings nicht ausschließlich als ein Verlust wahrgenommen.150 Die öffentliche Verkündigung der Kirche im Staat werde von beiden unterschiedlich bewertet. Die Kirche betrachte ihre Predigt nicht allein deshalb als öffentlich, weil sich die darin enthaltene Heilsbotschaft an alle Menschen richte, sondern auch deswegen, „weil sich durch sie die Kirche rechtlich als ein öffentlicher Körper konstituiert.“151 Als ein solcher sei „die Kirche ihrem Wesen nach immer Volkskirche, d. h. Kirche für das gesamte Volk. Die Frage könne also nicht sein, ob sie sich selbst als Volkskirche versteht, sondern nur, wieweit sie als solche anerkannt wird.“152 Dieser Lösungsversuch ist etwas anders als bei Otto Weber gestaltet, kommt aber zu einem ähnlichen Ergebnis: Kirche ist immer Volkskirche, da sie immer auf das Gemeinwesen als Ganzes ausgerichtet ist; Unterschiede und Differenzen ergeben sich nur dahingehend, ob und in welchem Umfang die An-
147 148 149 150
Ebd. Ebd. Ebd. In Ostdeutschland begann man beispielsweise schon verhältnismäßig früh, die Chancen dieser neuen Situation zu betonen, vgl. Brunner, Avantgarde. 151 Diem, Volkskirche, 42. 152 Ebd.
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erkennung dieses Status durch den Staat erfolgt.153 Im Hintergrund dieser Diskussionen steht oftmals die Auseinandersetzung mit der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre.154 Andere sahen die Diskussionen um den Öffentlichkeitscharakter der Kirche als eines der verschiedenen Krisenzeichen an, die sich im westdeutschen Protestantismus gegenwärtig auftäten. Die Frage stehe noch immer zur Diskussion, wie sich die evangelische Kirche verstehen wolle: „ob sie die Ideologie der Volkskirche aufrechterhalten will oder ob sie den Schritt zur Gemeindekirche gehen soll.“155 Hier zeigt sich bereits ein anderer Umgang mit der Volkskirche, sie wird zu einer Ideologie, in der man genau das in Erfüllung gehen sehen könne, wovor die bekenntniskirchlichen Autoren in der unmittelbaren Nachkriegszeit gewarnt hätten. Ähnlich sieht dies auch ein anderer evangelischer Publizist, Hans Jürgen Baden, der im selben Jahr den Finger in die Wunde zu legen scheint und ein christliches Volk ebenso wie die Volkskirche als Fiktion deklariert.156 Die Öffentlichkeit habe sich nämlich schon längst dem „christlichen Einfluß, der Gestaltung aus dem Geist und durch den Geist des Christentums weitgehend entzogen.“157 Baden sieht den einzigen akzeptablen Weg, wie die Kirche der Öffentlichkeit dienen könne, darin „daß sie sich um den einzelnen Menschen kümmert, ihm das Heil in Christus bezeugt und ihn in die Gemeinde zu führen versucht. Aus solchen kleinen Kreisen erbaut sich die Kirche; ihr Geist muß gleich dem Salz den gesamten Organismus der Kirche durchdringen.“158
Ohne den Hintergrund einer lebendigen Gemeinde sei jede Öffentlichkeitsarbeit, jedes öffentliche Arbeiten der Kirche folgenlos. Es deutet sich also schon in den frühen 1950er Jahren an, dass die Gemeinde in der Volkskirche und das missionarische Wirken derselben in der Öffentlichkeit zu wichtigen Konstitutiva des Begriffs nach 1945 werden. Es stehen sich folglich Befürworter und Kritiker einer öffentlichkeitswirksamen Volkskirche gegenüber, wobei nicht alle soweit gehen wie der Tübinger Theologieprofessor Adolf Köberle, der einen evangelischen Öffentlichkeitswillen propagiert und eine umfassende Tätigkeit der Kirche auch in staatlichen Dingen fordert.159 Die Bedeutung des Themas spiegelt sich 153 Vgl. auch Kaiser, Repräsentation, 122–127. 154 Vgl. Brunner, Kirche; von Scheliha, Zwei-Reiche-Lehre; von Scheliha, Religion sowie Anselm, Legitimation. 155 Stammler, Unruhe, 65 f. 156 Vgl. Baden, Kirche. Kritisch ebenfalls: Schrey, Öffentlichkeitsanspruch, besonders 378: „Wenn die Kirche lebendig ist, dann hat sie ihr Leben im Wort und im Geist, nicht in der Sicherung ihrer institutionellen Positionen auf dem Wege des Machtkampfes.“ Vgl. außerdem Schrey, Einheit. 157 Baden, Kirche, 1. 158 Ebd., 5. 159 Vgl. Kçberle, Oeffentlichkeitswille. Heinz-Dietrich Wendland forderte allerdings eine
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mithin auch in der lexikografischen Verfestigung wider. Unter dem Lemma „Kirche“ verhandelt das maßgeblich von Friedrich Karrenberg160 konzipierte Evangelische Soziallexikon als ersten Unterpunkt den „Öffentlichkeitsanspruch der Kirche“.161 Allerdings wird noch ein weiteres, schon bekanntes Motiv der Volkskirchlichkeit im Blick auf die öffentliche Stellung von Christen Mitte der 1950er Jahre wieder aufgegriffen. Erneut war es der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann162, der sich positiv auf die Volkskirche bezog und ihre „Spannweite“ als eine Chance ansah. „Was wir, die wir uns nicht in eine konservative Volkskirche und in reformfreudige Freikirchen auseinandersetzen wollen, zu lernen haben, ist die Vereinbarung einer großen Spannweite von politischen Meinungen mit unverbrüchlicher kirchlicher Gemeinschaft.“163
Damit wird ein für den Protestantismus wohl kaum zu überschätzendes Phänomen problematisiert. Es gibt eben nicht die eine protestantische Stimme, die evangelische Lehre, die öffentlich gewissermaßen ex cathedra verkündet und verkündigt werden könnte, sondern eine Vielzahl von Meinungen, Zielen und Absichten. Bei Heinemann wird die Volkskirche also wieder zum Integrationskonzept, das allen Beteiligten guten Willen und Kompromissbereitschaft abverlangt um realisiert zu werden und zugleich eher Ziel als Gegenwartsbeschreibung ist. Ende der 1950er Jahre wurden Stimmen laut, die kritisch danach fragten, ob die Volkskirche ihren Aufgaben genüge.164 Darüber hinaus wurde auch erneut darüber diskutiert, wie die Kirche adäquat öffentlich wirken könne. Kurt Scharf empfahl der Kirche „so wenig wie möglich Kraft auf eine direkte Bemühung um die Öffentlichkeit“165 aufzuwenden, sondern stattdessen schlicht „das Ihre“ zu tun.166 Hermann Diems Fazit fiel Ende der 1950er Jahre zwiegespalten aus. Die Rede vom Öffentlichkeitsanspruch habe nach 1945, auch wenn sie zunächst als ein Bußruf gemeint gewesen sei, dazu gedient „alle verlorengegangenen öffentlichen Rechte, Positionen und Privilegien der Kirche zurückzugewinnen und möglichst viel neue dazu zu gewinnen“.167 Seiner
160 161 162 163 164 165 166 167
„Bändigung der Macht“ durch die Kirchen, vgl. Wendland, Bändigung. Vgl. ferner Wendland, Kirche, 1954. Vgl. von Soosten, Karrenberg, 830, von dort auch das Zitat. Vgl. außerdem Hoppe, Leute; Hoppe, Protestantismus. Wolf, Kirche, 1954. Ursächlich für die Entstehung des Öffentlichkeitsanspruches war Wolf zufolge das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918/19. In der Wendung drücke sich daher ein relativ neues Selbstbewußtsein der Kirche aus. Vgl. außerdem Wolf, Kirche, 1956. Vgl. Thierfelder / Riemenschneider, Heinemann; Flemming, Heinemann; Brunner, Heinemann. Heinemann, Christ, 165. Vgl. bereits Heinemann, Kirche. Vgl. Schmidt-Clausen, Kirche, vor allem, 366 f. Scharf, Kirche, 62. Dies war freilich auch in die besondere Situation in der DDR hineingesprochen. Diem, Chancen, 1.
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Ansicht nach habe man den Öffentlichkeitsanspruch der Kirche mit dem des Wortes Gottes verwechselt. Man habe zwar das Zweite gemeint, aber ersteres praktiziert. Seine Kritik an der zurückliegenden Entwicklung könnte kaum schärfer sein: „Und was ist aus dem Öffentlichkeitsanspruch des Wortes Gottes geworden, den wir doch eigentlich gemeint hatten? Im Dritten Reich wehrten wir uns dagegen, als Kirche in ein Ghetto abgedrängt zu werden. Jetzt sitzen wir in einem goldenen Käfig, im hellsten Rampenlicht der Öffentlichkeit, nicht nur toleriert, sondern angeblich aufs höchste respektiert und von der Gesellschaft so großzügig ausgehalten, daß wir uns fast jede Ausweitung unseres kirchlichen Apparates leisten können. Nur heraus dürfen wir aus diesem goldenen Käfig freilich nicht. Das wäre gegen die Spielregeln dieser super-konstantinischen Harmonie von Kirche und Welt. […] Aber wirklich stören dürfen wir diese Harmonie nicht, sondern letzten Endes haben wir eben hinterher christlich zu sanktionieren, was Staat und Gesellschaft auch ohne uns ohnehin tun.“168
Die Volkskirche in ihrer Institutionalität wird hier zu einem goldenen Käfig, der die Kirchen lähmt. Diems Aussagen durchzieht eine gewisse Resignation. Die Öffentlichkeit allein genügt nicht, wenn sie dafür sorgt, dass die Kirche nicht mehr frei das Wort Gottes auch in politischen Dingen verkündigen könne. 4.3.3 Volkskirche und demokratischer Staat Für die Lutheraner begann die Reflexion über die eigene Mitverantwortung an den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft mit der 1945 verabschiedeten Stuttgarter Schulderklärung, wie weiter oben gezeigt worden ist. Man war punktuell durchaus bereit, sich nun einer kritischen Selbstprüfung zu unterziehen.169 Es soll hier danach gefragt werden, welche Auswirkungen die Kontinuitäten und Wandlungen im Obrigkeitsverständnis des deutschen Protestantismus auf den Volkskirchenbegriff hatten. Wie wirkten sich die Vorstellungen über den Staat sowie über die Demokratie auf die Begriffsgeschichte aus? Ernst Wolf weist 1947 in einem Beitrag zur Selbstkritik des Luthertums auf einige falsche Weichenstellungen hin, etwa in Hinblick auf die Drei-StändeLehre oder in der These von der „,Eigengesetzlichkeit der Kulturgebiete‘“.170 Nun gehöre es zur Aufgabe der Kirche, „um der Öffentlichkeit des Evangeli168 Ebd., 2. 169 Vgl. Schempp, Selbstprüfung. 170 Wolf, Selbstkritik, 133. Vgl. außerdem Wolf, Politia; Wolf, Stellung. Zu Wolfs „Abrechnung“ mit den ordnungstheologischen Positionen der Zwischenkriegszeit und des „Dritten Reiches“ vgl. auch Kaufmann, Reformationsgeschichtsforschung, vor allem 421 f sowie Anmerkung 85 auf 428.
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ums willen […] ihr ,Wächteramt‘ jeweils vor der Zeitlage wahrzunehmen, entsprechend dem im Ansatz bei Luther betonten unauflöslichen Zueinander von Kirche, Staat und Wirtschaft“.171 Für eine politische Wirksamkeit der Kirche, so Hermann Diem, dürfe die Liebe Christi nicht als ein Maßstab für ein politisches oder soziales Programm mißbraucht werden, sie sei „,christlicher‘ Grundsatz für das politische Leben.“172 Stattdessen könne sie nur „in der jeweiligen politischen Situation konkret verkündigt und geglaubt und von der Gemeinde durch ihre eigene Ordnung verwirklicht werden.“173 Auf diesem Wege könne die Kirche, ohne selbst direkt politische Aktionen zu unternehmen, das politische Leben umgestalten.174 Der Schweizer Theologe Alfred de Quervain behauptet 1950, es liege dem volkskirchlichen Denken nahe, „den Auseinandersetzungen die Spitze abzubrechen, den Frieden zwischen den Richtungen dadurch herzustellen, daß man die Maßstäbe zur Beurteilung kirchlichen Handelns der politischen Gemeinde entnimmt, daß man die Kirchgemeinde als die idealisierte Gemeinde versteht.“175 Eine andere Frage wäre aber die, ob das wirklich ertragreich sein könnte. Die sich intensivierende Feindseligkeit, mit der sich der „Westen“ und der „Osten“ gegenüberstanden, ließ unter protestantischen Theologen das Bewusstsein dafür wachsen, dass die unterschiedlichen staatlichen Rahmenbedingungen sich auf die Entfaltungsmöglichkeiten der Kirche auswirken würden. Die Hoffnungen, dass der Staat sich bei seiner Gestaltung am Vorbild der Kirchen orientieren würde, kühlten bald schon merklich ab, wie dieses Panorama unterschiedlicher Stimmen zeigt.176 Vielmehr artikulierten sich Positionen, die vor einer Politisierung der Kirche warnten und ein falsch verstandenes Wächteramt der Kirche als gefährlich ansahen: „Die verweltlichte Kirche, gerade auch die durch die politische Parole der ,Freiheit der Kirche‘ verweltlichte Kirche, ist der eigentliche Adressat der prophetischen Mahnung. So wie das Drohwort, das der Prophet des Alten Bundes als Wort des Herrn aussprechen muß, sich gegen das abtrünnige Volk Gottes richtet. Das Kriterium des munis propheticum ecclesiae ist der Vollzug der Selbstkritik der Kirche, ist das Bußwort an die Kirche, ist die ständige Reformation der Kirche von
171 Ebd., 134. Paul Althaus sah sich 1948 ebenfalls zu einigen Klarstellungen hinsichtlich seines Obrigkeitsverständnisses herausgefordert, wobei er grundsätzlich versuchte, seine ordnungstheologischen Überzeugungen genauer darzulegen und zu verteidigen, vgl. Althaus, Christenheit; vgl. auch Schilberg, Römer 13. Dagegen: Asmussen, Kirche, 1949/50. 172 Diem, Abfall, 57. 173 Ebd., 57 f. 174 Vgl. Herntrich, Diakonie, 17: „Die unmittelbare politische Aktion kann auf keinen Fall die Aufgabe der Kirche sein.“ 175 de Quervain, Gemeinde, 125 f. Zu seinem Verständnis der Volkskirche vgl. de Quervain, Kirche, 78–80. 176 Vgl. Diem, Kirche, 1948; Barth, Kirche, 1949; Gollwitzer, Kirche, 1951; Niemçller, Kirche, 1954.
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der freien Gnade her, indem die Kirche als Magd und Botin Christi ihren Auftrag ausrichtet an alles Volk.“177
Die Freiheit der Kirche, so meint Wolf, dürfe nicht in Form von Privilegien pervertiert werden.178 Trotz aller Warnungen und Modifikationen179 überwog Anfang der 1950er Jahre die Überzeugung, dass sich die evangelische Kirche nicht „in das Getto einer unpolitischen Existenz zurückziehen“180 könne, sondern Verantwortung für das deutsche Volk und seine Zukunft übernehmen müsse, ohne dabei die Fähigkeit zur Selbstkritik zu verlieren. In der bereits zitierten Schrift Diems über die „Lutherische Volkskirche in West und Ost“ finden sich noch weitere Ausführungen, die sein Volkskirchenverständnis im Blick auf das damit einhergehende Politik- und Obrigkeitsverständnis offenbaren. Schon die Definitionen des Begriffs und seines zentralen Gegenbegriffs zeigen die Bedeutung, die das Verhältnis zur jeweiligen Staatsform hierbei hat: „Das wesentliche Merkmal der Volkskirche ist, daß man durch Geburt bzw. durch die zur allgemeinen Sitte gewordene Kindertaufe zu ihr gehört, solange man nicht durch ausdrückliche Willenserklärung austritt. Das setzt praktisch voraus, daß im Volkstum die Zugehörigkeit zur Kirche überwiegend herrschende Sitte ist und daß ferner der Staat der Kirche Rechtshilfe und gewöhnlich auch Finanzhilfe für diese Art der Erhaltung und Ergänzung ihres Bestandes leistet.“181
Der Staat sei ein wesentlicher, wenn auch nicht der einzige Faktor, der für den Fortbestand der Volkskirche von Bedeutung ist. Die Freikirche hingegen „deren wesentliches Merkmal ist, daß man in sie nicht hineingeboren, sondern nach einer freien Willenserklärung aufgenommen wird“182, sei ein anderer Kirchentyp. Auch wenn sie in einem religiös neutralen Staat „dieselbe staatliche Rechtshilfe“ bekommen könne wie die Volkskirche und sie ebenfalls versuche, „möglichst viele Glieder des Volkes zu umfassen“183, zeichne sie sich doch durch einen anderen Umgang mit dem Staat aus: „Sie wird meist keine finanzielle Unterstützung von Seiten des Staates verlangen oder erhalten, eine solche aber gegebenenfalls, vor allem in indirekter Form durch Inanspruchnahme der staatlichen Privilegien für die öffentlich anerkannten Religionsgesellschaften, auch nicht ablehnen. All das wird praktisch davon abhän177 Wolf, Libertas, 140 f. 178 Vgl. auch Iwand, Kirche, 1950; Iwand, Ende. Dieses Thema beschäftigte die bruderrätlichen Theologen noch eine Weile, vgl. K ppers, Verantwortung; K ppers, Abbau; K[ ppers], Bruderratstagung; K ppers, Tagung. 179 Vgl. vor allem auch noch Vogel, Verantwortung, 1950, 111, wo er von einer „priesterlichen Wahrnehmung des prophetischen Wächteramtes der Kirche“ [Hervorhebungen im Original, BB] spricht. 180 Beckmann, Verantwortung, 231. 181 Diem, Volkskirche, 27. 182 Ebd. 183 Beide Zitate ebd.
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gen, ob eine solche Freikirche mehr im Gegensatz zum volkskirchlichen Massenchristentum entstanden ist und darum ihren Charakter als ,Freiwilligkeitskirche‘ betont, oder ob sie ihren Ursprung in staatlichen Eingriffen in die Kirche hat und darum vor allem Wert auf ihre ,Freiheit vom Staat‘ legt.“184
Das Verhältnis zum Staat und die Beziehungen, die man mit ihm einzugehen bereit ist oder auf die man absichtsvoll hinwirkt, haben also eine Bedeutung dahingehend, ob man stärker volkskirchliche, oder stärker freikirchliche Bestandteile eines Kirchentyps betonen möchte, was, wie Diem dann zeigt, noch dadurch weiter verkompliziert wird, dass diese beiden Typen sich nie rein gegenüberstehen.185 Gegenwärtig, in dem Auflösungsprozess der Volkskirche, gelte es, dass die Kirche sich nicht „an das klammern darf, was ihr als Frucht ihrer Verkündigung einmal zugefallen ist, sondern sich neu auf ihre Aufgabe der Verkündigung besinnen muß, der all das zufallen kann.“186 Ein Festhalten an der Volkskirche könne nur mit dem Hinweis auf die Verkündigung legitim begründet werden.187 Allein diese mache die Volkskirche überhaupt zur Kirche. Es komme demzufolge darauf an, ob diese „in Ordnung ist“, das heißt, „ob als Frucht der Verkündigung in der einzelnen Gemeinde Leute sich finden“, welche hierfür Verantwortung übernehmen. Die Kirche dürfe sich also nicht auf falsche Weise sichtbar machen. Stattdessen könne sie sichtbar werden aus „dem Wort der Verkündigung in seiner verbindlich wirkenden Kraft.“188 Mit dem Schlagwort der „Politischen Diakonie“ wurde zugleich die politische Verantwortung der Kirche selbstbewusst zu vertreten versucht.189 Der Hamburgische Landesbischof Volkmar Herntrich190 – ein erklärter Befürworter der Volkskirche – sah vier Richtungen, in die ein solcher Dienst gehen könne. Erstens die Verwirklichung der Gemeinschaft mit den „Brüdern im Osten“191. Die gegenwärtige Politik des Westens stellt seiner Ansicht nach eine Gefahr für die Einheit des deutschen Volkes dar, was diese Thematik auch in 184 Ebd., 27 f. 185 Vgl. ebd., 28. 186 Ebd., 46. Dort auch: „Sie darf also keine Privilegien oder öffentlichen Rechte, die ihr nicht aus Anerkennung für die Bedeutung ihrer Verkündigung freiwillig gegeben werden, als ein ihr zustehendes Recht fordern oder mit politischen Machtmitteln durchzusetzen versuchen.“ Vgl. auch Diem, Rückzug. 187 Diem, Volkskirche, 62: „Wenn man der volkskirchlichen Problematik nur von der Verkündigung her begegnen will und damit alle jene Wege als illegitim ausscheiden, welche die Volkskirche nur als Rahmen für eine Klerikalisierung der Gesellschaft benützen, dann stoßen wir auf ein theologisch legitimes Interesse, jene durch das Wort der Verkündigung vollzogene Sammlung und Scheidung nachzuzeichnen.“ 188 Die Zitate ebd., 67. „Auf diese Weise allein kann die Volkskirche Kirche Jesu Christi sein, und so muß sie als Kirche Jesu Christi Volkskirche sein wollen.“ (ebd.). Vgl. auch M ller, Auftrag; Hammelsbeck, Verlegenheit. 189 Vgl. Meyer, Diakonie. 190 Vgl. Hering, Herntrich. 191 Herntrich, Diakonie, 17.
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politischer Hinsicht so wichtig mache.192 Als zweiten Punkt nennt Herntrich den „Dienst für den Frieden“.193 Die Kirche habe keine Verheißung, durch eine politische Konzeption den Frieden zu erhalten. Vielmehr werde ihr Wort umso mehr Vollmacht haben „als in der Kirche Raum ist für verschiedene politische Überzeugungen; denn nur so wird es offenbar werden, daß es einen überlegenen Standort gibt – nicht außerhalb der politischen Entscheidungen, sondern in ihnen. Nur so wird die Diakonie der Kirche alle Parteien umfassen.“194
Drittens müsse die Kirche „unbedingt und uneingeschränkt“195 für soziale Gerechtigkeit eintreten, Herntrich nennt dies den „Aufbruch zum Bruder“.196 Viertens sei die Fürbitte ein Bestandteil der politischen Diakonie, sei doch schließlich das „Amt der Fürbitte das vornehmlichste politische Amt der Kirche.“197 Das diakonische Handeln der Kirche lebe von seinem Ermöglichungsraum in der Volkskirche. Dies lässt sich insbesondere auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirkungsabsicht der evangelischen Kirchen gut nachvollziehen. Mitte der 1950er Jahre, angestoßen durch die Diskussionen über die Wiederbewaffnung, die Militärseelsorge, aber schließlich auch durch die Frage nach der Bewaffnung der Streitkräfte mit Atomwaffen, wurde das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum Staat erneut einer Inspektion unterzogen.198 Hans Hermann Walz stellte 1957 fest, dass die nach 1945 neuentdeckte Öffentlichkeitsverantwortung der Kirche zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt habe: „Auf dieser […] Stufe entdeckt die Kirche, daß sie nicht nur selbst Leib ist, reale Wirklichkeit – nicht bloß das Innen zu einem anderen Außen –, sondern daß sie es auch mit dem Leib der Welt, der realen Wirklichkeit des Staates, der Politik, des Sozialkörpers und der Kulturwelt zu tun hat. Sie wird nicht wieder zum Innen dieses Außen werden, sie wird sich mit keinem politischen System und mit keiner Gesellschaftsordnung identifizieren oder gar für deren Zwecke einfach in Dienst stellen lassen. Sie wird sich aber ebensowenig am politischen, sozialen und kulturellen Leben desinteressiert erklären und dafür nur ihr eigenes, religiöses Leben intra muros pflegen. ,Laßt Kirche Kirche sein‘, so hieß die von Karl Barth aus-
192 193 194 195 196
Zum gesamten Komplex vgl. Lepp, Tabu. Herntrich, Diakonie, 18. Ebd. Ebd. Ebd.: „Wo soll es denn eine Überwindung der immer tieferen Vereinsamung des Menschen, der immer unüberbrückbarer werdenden Abgründe zwischen den Sozialpartnern geben, wenn nicht in der Wirklichkeit der Gemeinde?“ 197 Ebd. 198 Vgl. u. a. Kupisch, Lage; Niemçller, Lage, 1957; Niemçller, Christ
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gegebene Parole im Kirchenkampf. ,Kirche für die Welt‘, so heißt die neue Devise.“199
Walz fasst hier die Entwicklung der ersten zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einleuchtend zusammen. Kirche für die Welt zu sein, wurde zu einer wichtigen Signatur des im westdeutschen Zusammenhang vorherrschenden Volkskirchenverständnisses. Die hiermit einhergehenden Gefahren, Klerikalisierung der Politik auf der einen, Politisierung der Kirche auf der anderen Seite, werden von Walz allerdings ebenfalls klar benannt.200 Es gab freilich neben den eher an der Theologie Karl Barths orientierten Theologen natürlich auch nach wie vor Vertreter einer mal mehr mal weniger erneuerten Ordnungstheologie. Für Künneth bleibt die Schöpfungsordnung ein für das theologische Denken „grundlegende[r] Terminus“.201 Da er jedoch auf vielfache Bedenken stoße, schlägt Künneth den Begriff der „,Erhaltungsordnung‘ Gottes“ als Alternative vor, gar „als die entscheidende Wirklichkeit […], welche das Denken und Handeln in der Welt des Politischen bestimmen muß“.202 Künneth bezeichnet das Volk als eine solche Erhaltungsordnung und gebraucht noch relativ selbstverständlich Begriffe wie „Volkskörper“ und „Volksseele“. Erstaunlich ist allerdings, dass der Begriff der Volkskirche bei ihm keine Rolle spielt, zumindest nicht in seiner politischen Ethik. Ähnliches lässt sich auch für Elerts Ethik konstatieren.203 Gott setzte sich „in der Institution der Obrigkeit ein Organ seiner Macht zur Durchführung seines Willens in der Geschichte.“204 Elert hält sie für ein wesenhaftes Machtorgan Gottes, welche „im Leben der Staaten und Völker das ,Monopol der physischen Gewalt‘“205 besitze. Beide sind folglich Befürworter eines prophetischen Wächteramtes der Kirche.206 Diese Positionen blieben jedenfalls, oftmals parallel zu einer stärker von ordnungstheologischen Vorstellungen abgegrenzten Theologie, erhalten und durchaus auch wirkmächtig.207 199 Walz, Christenheit, 90 f. 200 Martin Niemöller beispielsweise sieht die Politisierung der Kirche bereits 1958 in vollem Gange, vgl. Niemçller, Kirche, 1958, 72 und Niemçller, Evangelische Kirche. Vgl. auch Gollwitzer, Christen; Herbert, Stimmen sowie die erneute Auseinandersetzung mit ordnungstheologischen Staatskonzeptionen von Wolf, Königsherrschaft. Vgl. hierzu Scherf, Akzentuierung. Auch die immer schärfer werdende Kritik an der Kirche beginnt bereits zu diesem Zeitpunkt, vgl. Walz, Kirche; Walz, Staat. 201 K nneth, Politik, 116. 202 Ebd., 136. Den Begriff der Erhaltungsordnung hatte 1932 schon Dietrich Bonhoeffer geprägt. Vgl. Moltmann, Herrschaft. 50. Hierauf bezieht sich Künneth auch explizit vgl. K nneth, Politik, 121, 136. 203 Vgl. Elert, Ethos, z. B. 134–147, 503–519. Vgl. Frey, Ethik, 204–211. 204 Elert, Ethos, 156. 205 Ebd., 157, zitiert wird hier Brunner, Gerechtigkeit, 252. 206 Vgl. K nneth, Politik, 574–594. 207 Am Beispiel Heinz-Dietrich Wendlands ließe sich zeigen, dass es durchaus auch die Möglichkeit gab, auf der Grundlage einer von Ordnungsvorstellungen ausgehenden Theologie innovativ weiterzudenken.
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Um das Jahr 1960 kam es auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze zu ausgiebigen Debatten über die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Obrigkeit. Auch wenn diese Debatte durch kontroverse Aussagen von Otto Dibelius angestoßen worden ist, ist sie doch in dem hier angedeuteten Entstehungszusammenhang zu sehen. Was war geschehen? Dibelius hatte in einem als „Privatbrief“ an Landesbischof Hans Lilje adressierten Schriftstück die Frage nach der rechten Auslegung von Römer 13 aufgeworfen und dabei auf polemische Weise der DDR-Regierung abgesprochen, rechtmäßige Obrigkeit zu sein. Dies brachte eine Debatte in Gang, an der sich nicht nur viele Theologen von Rang und Namen beteiligten, sondern auch die vierte Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, die ja von diesen Fragen in besonderer Weise betroffen war, zu einer Auseinandersetzung nötigte. Die Debatte muss hier nicht nochmals rekonstruiert werden, vielmehr sollen einige Aspekte deutlich werden, die Auswirkungen auf das Selbstverständnis als Volkskirche gehabt haben könnten.208 Vor allem ist zu beachten, dass die enge „Partnerschaft“ zwischen Kirche und Staat in Westdeutschland ihre Selbstverständlichkeit verlor und stattdessen eine Zeit der „Spannungen und Wandlungen“ begann.209 Der privilegierte Status der Kirchen in der Bundesrepublik wurde mehr und mehr hinterfragbar, was auch als Katalysator einer grundlegenden Kritik an volkskirchlichen Strukturen gedient hat. Karl Gerhard Steck stellte jedenfalls fest, dass es keineswegs angebracht sei, „den heutigen Zuständen in Kirche und Öffentlichkeit, also etwa dem volkskirchlichen System, in dem wir noch leben, optimistische Prognosen zu stellen, indem wir einfach die biblischen Verheißungen auf unsere Gegenwart anwenden. Das ist fast geschmacklos, wirkt allemal unglaubwürdig und bringt uns am allerwenigsten weiter.“210
Damit hatte Steck ein Gefühl auf den Punkt gebracht, das in der Folgezeit geradezu bestimmend werden sollte. 4.3.4 Ein neuer „Kirchenkampf“? In der DDR hatte man sich mit der Niederlage im Kampf gegen die Jugendweihe und um die Konfirmation bereits von solchen Ambitionen verab208 Um nur einige Titel aus der Diskussion zu nennen: Niemçller, Christ; Beckmann, Christ; o. A., Information; K semann, Römer; Meinhold, Römer; Vogel, Staat; Kost, Ausnahmezustand; Niemçller, Mandat; Gollwitzer, Obrigkeit; Mann, Obrigkeit; Treblin, Christendienst; Gollwitzer, Antrag; Dibelius, Bericht; Wolf, Gottesdienst; Rich, Verantwortung; Delekat, Inhalte sowie die Materialsammlung Mochalski / Werner, Dokumente. Aus der Literatur vgl. Berke, Obrigkeitsschrift; Stupperich, Otto Dibelius, 539–567 und Greschat, Römer. 209 Vgl. Hesse, Partnerschaft; Scheuner, Kirche, zu Hesse vgl. H berle, Konrad Hesse. 210 Steck, Kirche, 19 f. Steck wendet sich hier explizit gegen Eckstein, Gerechtigkeit.
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schiedet, zumal eine positive Bezugnahme auf diesen Staat in den Anfangsjahren auch sonst kaum üblich war.211 Die Verfassung der DDR schien zunächst die Gemüter auf der kirchlichen Seite zu beruhigen, da zumindest auf dem Papier doch eine ganze Reihe von Privilegien, wie sie schon die Weimarer Reichsverfassung beinhaltet hatte, übernommen worden waren.212 Auch im ostdeutschen Zusammenhang wurde die öffentliche Verantwortung der Christen betont.213 Die Erlebnisse um die Einführung der Jugendweihe sowie anderer gegen die Kirchen gerichteten Maßnahmen, ließen die „Machthaber“ in der DDR schon bald in einem immer ungünstigerem Licht stehen, denn, so war die Überzeugung unter den meisten Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten: „Furcht und Egoismus vieler einzelner können große Massen zusammenhalten; Fanatismus und Haßgefühl machen junge Menschen zu manchem fähig; aber innere Sicherheit verleiht nur das Wissen um ewige Grundlagen. Ein Kirchenkampf könnte das mit überraschender Deutlichkeit hervortreten lassen.“214
Unter dieser Signatur, „Kirchenkampf“, die semantisch in höchstem Maße aufgeladen war, erfolgten die Auseinandersetzungen der folgenden Jahre. Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang sind die zahlreichen Veröffentlichungen von Günter Jacob, dem Generalsuperintendenten der Neumark und der Niederlausitz. In einem Aufsatz mit dem sprechenden Titel „Deutsche Volkskirche im Ernstfall“ rekurriert er zunächst auf die historische Entwicklung der Volkskirche, beginnend mit dem Ende des landesherrlichen Summepiskopats 1918. Diese Zäsur habe seiner Ansicht nach keinen bleibenden Eindruck im evangelischen Bewusstsein hinterlassen, „weil die Kirche, gestützt auf die auch weiterhin den Staat politisch, kulturell und wirtschaftlich tragenden Schichten des Bürgertums, des Bauerntums und des Adels, über die Revolution hinaus auf Grund der Mächtigkeit der Tradition und im Blick auf den statistischen Befund der Konfessionszugehörigkeit die Rolle einer staatlich privilegierten Volkskirche spielen konnte.“215
Es sei etwas entstanden, was Karl Barth als Bindestrichchristentum bezeichnete und zu dem auch die Praxis der Kindertaufe ihren Beitrag geleistet habe. Sie sei „im Wesentlichen eine vom Staat – trotz seiner grundsätzlichen Neutralität – unterstützte Anstaltskirche, ein kultureller, pädagogischer und karitativer Faktor ersten Ranges“216 geblieben. Im „Dritten Reich“ sei dann „das
211 Vgl. für einen vorsichtigen Stimmungsbericht Maechler, Kirche. Aus der Sekundärliteratur vgl. Sch tz, Alternative; Raabe, Jugendweihe. 212 Vgl. zeitgenössisch Jacobi, Staat; zu Jacobi vgl. Otto, Eigenkirche. 213 Vgl. besonders Fischer, Verantwortung; Fischer, Kirche; Krummacher, Predigtamt. 214 Leithm ller, Kirche, 636. Vgl. noch Wentker, Einführung. 215 Jacob, Volkskirche, 244. Ebenfalls abgedruckt in: Jacob / Berg, Kirche. 216 Jacob, Volkskirche, 244.
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Spezifische der christlichen Existenz“217 in einer dem Christentum feindlich gesinnten Umgebung wieder sichtbar geworden, „das auf dem Boden der Staatskirche und der Volkskirche und im öffentlichen Klima einer kollektiven Christlichkeit so niemals sichtbar geworden war.“218 Erst hier sei es zu einer echten Laienbewegung gekommen; in der „neutralistischen volkskirchlichen Apparatur“ hätten sich „Gemeindekerne“ gebildet, die dem „pseudo-christlichen Vokabular der politischen Machthaber und ihrer kirchlichen Trabanten“ widerstanden hätten.219 Nach 1945 habe man versucht, diese Erfahrungen in den Prozess des kirchlichen Neubaus einzubringen. Diese Bemühungen bewertet Jacob grundsätzlich positiv. Dass es nicht wie im Westen „zu einer Stagnation und zu restaurativen Tendenzen gekommen“ sei, hänge nicht zuletzt auch „mit dem Gefälle einer politischen Entwicklung zusammen, die es der Kirche verwehrte, sich von dem Wege zu entfernen, der im Zeichen von Barmen begangen war.“220 Im Grunde findet sich hier das Motiv, dass die Kirche im Osten treuer, enger an der Barmer Theologischen Erklärung bzw. am „Geist von Barmen“ orientiert sei; zwar nicht primär aus eigenem Antrieb, sondern vielmehr durch von außen geschaffene Zwänge. Man habe „von Anfang an der Versuchung widerstanden, in einer introvertierten Haltung sich auf innerkirchliche Anliegen zurückzuziehen und nur kirchliche Belange nach außen zu vertreten. Sie [die Kirche, BB] ist von Anfang an für das Recht und die Freiheit des Menschen eingetreten und hat sich jeder Propaganda der Lüge und des Hasses und jedem Gewissensdruck auch im politischen Bereich widersetzt.“221
Auf diesem Wege sei die Kirche zu einem auch nicht durch staatlichen Druck korrumpierten „Ort der Wahrheit“222 geworden. In einiger Ausführlichkeit stellt er anschließend die Kirchenpolitik der DDR-Regierung dar, sowie die gegen die Kirchen gerichteten Maßnahmen, etwa im Hinblick auf die „Junge Gemeinde“, oder auch die Auseinandersetzungen über Jugendweihe und Konfirmation. So führen die auf den ersten Blick besorgniserregenden Entwicklungen doch entgegen ihrer ursprünglichen vom Staat forcierten Intention auch zu etwas Positivem: „Die im Kern geistlich indifferenten Eltern werden aber auf die Dauer der Propaganda der Jugendweihe gegenüber kapitulieren und notfalls durch Abwanderung aus der Kirche den nachteiligen Folgen aus dem Weg gehen. Die negativen Erscheinungen eines stärker werdenden Abfalls können jedoch, wenn man die Dinge geistlich betrachtet, den Prozeß einer inneren Regeneration der Kirche
217 218 219 220 221 222
Ebd., 245. Ebd., 246. Alle Zitate ebd. Vgl. übrigens auch Jacob, Zurüstung. Alle Zitate Jacob, Volkskirche, 247. Ebd., 248. Ebd.
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nicht verdecken. Inmitten des Verfalls der Volkskirche wächst die bekennende Gemeinde.“223
Grosso modo entwickle sich also so etwas wie eine Freiwilligkeitskirche; dies wird grundsätzlich von Jacob begrüßt.224 Gleichzeitig sei man sensibel für die Gefahren, die eine solche Entwicklung ebenfalls mit sich bringe, wenn sich etwa „auf die Dauer ein unechtes Ghetto der Kirchentreuen und des frommen Konventikeltums in einer inneren Separation von der wirklichen und gegenwärtigen Welt konsolidieren könnte[n] und […] man in der kirchlichen Enklave schließlich doch wie in einer Igelstellung verkrampft unter sich sein möchte.“225
In vollem Bewusstsein der Risiken müsse die These gewagt werden, „daß die evangelische Kirche des Ostens sich heute auf dem Wege von der Volkskirche zur Freiwilligkeitskirche befindet.“226 Dieser Prozess, und dies ist für den hiesigen Zusammenhang wichtig, ist theologisch für ehemalige Mitglieder der BK wie Günter Jacob, begrüßenswert, aber eben kein selbstgewähltes Schicksal, sondern durch die Kirchenpolitik der SED und ihre Folgen bedingt. Der sog. „Thüringer Weg“, der den ganz engen Schulterschluss mit dem sozialistischen Staat suchte, war eher die Ausnahme.227 Insgesamt blieb das Verhältnis von Kirche und Staat in Ostdeutschland fragil, wodurch zumindest zum Teil auch die hohen Wellen, die die von Dibelius angestoßene Obrigkeitsdebatte schlug, erklärt werden können.228 Kritik am Staat wurde besonders harsch von Gerhard Bassarak abgekanzelt, der seit 1958 als IM für das Ministerium für Staatsicherheit arbeitete.229 Er attestiert Dibelius einen „antisozialistischen Affekt“, der ihn behaupten lasse, in einem sozialistischen Land könne kein Christ seine innere Heimat finden. „Er übersieht geflissentlich, daß in den Zeiten von Thron und Altar, die ihm innere Heimat boten, Millionen Arbeiter aus der Kirche auswanderten, weil sie hier offensichtlich keine innere Heimat fanden.“230
Im selben Jahr äußert sich Bassarak zur Gehorsamspflicht und deren Grenze in einem sozialistischen Staat. Seine Argumentation setzt dabei „rein“ exe223 224 225 226 227 228 229
Ebd., 253. Vgl. auch ebd., 254–256 die von ihm vorgeschlagenen Mittel zur Kirchenzucht. Ebd., 257. Ebd. Vgl. als ein Beispiel Mitzenheim, Gespräch. Zum „Thüringer Weg“ vgl. Besier, Resistenz. Vgl. exemplarisch [Fischer], Obrigkeitsdebatte. Vgl. Thumser, Kirche, 242, Anm. 300. Bassarak war dem ostdeutschen Staat loyal ergeben, er wirkte unter anderem als Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und schrieb zwischen 1968 und 1990 über 500 Zensurgutachten für die „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel des Kulturministeriums“, der Zensurbehörde der DDR. Vgl. hierzu Br uer / Vollnhals, DDR. 230 Bassarak, Verhältnis.
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getisch an, da die binnenprotestantischen Gräben und Ressentiments ein klares Urteil erschweren würden. Er kommt dabei zu folgendem Ergebnis: „Das Verhältnis des Christen zur Obrigkeit ist dynamisch. Das heißt, die Obrigkeit ist nicht abstrakt, nicht zeitlos, nicht ewig, sondern sie ist geschichtlich. Wer fragt, ob wir sie heute wählen sollen, übersieht, daß er gewählt hat, als er Hitler und dem Krieg nicht widerstand. An dem Verhältnis zu unserer konkreten Obrigkeit entscheidet sich die Frage nach der Bewältigung unserer Vergangenheit.“231
Am Beispiel der Produktionsgenossenschaften und der Schulfrage exemplifiziert Bassarak diesen Standpunkt. Seine Argumentation ist dabei radikal. Der enteignete Bauer, so seine Empfehlung, solle sein Herz nicht an den Götzen „Eigentum“ hängen, zumal es ihn „untüchtig zur Verkündigung des Evangeliums gemacht habe“.232 Die Zweifler, die Bedenken bezüglich einer atheistischen Erziehung haben, lässt Bassarak wissen, dass Gott sie fragen könne: „Warum seid ihr so kleingläubig und rationalistisch, mir nicht zuzutrauen, daß ich auch durch atheistische Erziehung hindurch eure Kinder bei Christus halten oder für ihn gewinnen kann?“233 Geizig und kleingläubig seien jene, die sich gegen die Maßnahmen der Obrigkeit stellen oder auch nur ihre Bedenken äußern; bei Bassarak findet sich also eine besonders perfide Art, die Christen auf die neue Obrigkeit einzuschwören. Hier liegen auch Wurzeln für das sich seit Ende der 1960er Jahre verstärkt entwickelnde avantgardistische Selbstbewusstsein innerhalb des DDR-Protestantismus.234 Insgesamt wird der neue Staat bis Ende der 1950er Jahre kritisch betrachtet. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Semantik des Volkskirchenbegriffs, da mit diesem in der Regel ein überaus positives Verhältnis zwischen Kirche und Staat beschrieben wird. Dies ließ sich für die Situation in der DDR in der üblichen Form nicht mehr aufrechterhalten, worin ein deutlicher Unterschied zur Verwendungsweise des Begriffs in Westdeutschland zu konstatieren ist. Im Übrigen deutet sich hier schon an, dass man aus der Not bald eine Tugend machen wollte und die nicht selbstgewählten Rahmenbedingungen theologisch zu überhöhen begann, bzw. sich als Avantgarde, als „bessere“, weil näher an der für ursprünglich befundenen Gestalt der Gemeinde orientierende Kirche verstanden wissen wollte.
231 232 233 234
Bassarak, Pflicht, 445. Ebd., 446. Ebd. Vgl. Brunner, Avantgarde.
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4.4 Spannungsfeld II: Kirche und Gesellschaft Insbesondere die Nachkriegsjahre waren, wie ja gezeigt worden ist, von einem recht starken Rechristianisierungspathos geprägt. In zeittypischer Weise begann man in der evangelischen Theologie mit dem Versuch, gesellschaftsanalytische Schlüsse zu ziehen für die Entfaltungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten der Kirche. Mit Blick auf die Volkskirche lassen sich dabei zwei Schwerpunkte konstatieren: zum einen die diakonischen Intentionen und Aufgaben der Volkskirche sowie zum anderen ihr missionarischer Charakter. Zunächst soll aber der Wandel des Bezugsbegriffs im Modus der Begriffsgeschichte der Volkskirche dargestellt werden: das Verständnis der Gesellschaft. 4.4.1 Vom Volk zur Gesellschaft In einem Aufsatz über das Verfassungswerk von Eisenach, welches zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland führte, argumentiert Otto Dibelius mit Volksnöten und allgemeinen sittlichen Problemen, die von den Landeskirchen allein nicht bewältigt werden könnten. Deswegen sei die EKD eine erforderliche Institution, da auch die Aufgaben „die ihr Gesicht nach außen haben“235, etwa im Hinblick auf die Ökumene dies erforderlich machten. Das seiner Ansicht nach Wichtigste sei „aber […] dies, daß es Fragen des öffentlichen Lebens gibt, in denen die evangelische Christenheit ein Wort vom christlichen Glauben her zu sagen genötigt ist.“236 Es geht also, etwas verklausuliert, um die Möglichkeit, gesamtgesellschaftliche Einflussmöglichkeiten zu erlangen. Der Berliner Systematiker Heinrich Vogel bedient sich hierbei des aus dem Buch Hesekiel bekannten Motivs des in den Riss bzw. in die Bresche Tretens.237 Im Angesicht der allgegenwärtigen „Gottlosigkeit, Verstecktheit, Selbstsucht, Machtsucht, Habsucht und Unmenschlichkeit“ dürfe die Kirche nun nicht mit religiös-moralischer Empörung reagieren, sondern müsse es wagen, in radikaler „Solidarität mit der Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit der Welt […] Kirche für die Welt zu sein.“238 Dabei bestand auch schon relativ früh ein Bewusstsein für die Probleme, die die moderne gesellschaftliche Ordnung für die Kirche bereiten könnte.239 Man entwickelte in der evangelischen Theologie nun zunehmend eigene
235 236 237 238
Dibelius, Lebensform, 10. Ebd. Ez 22, 30. Vogel, Kirche, 1949, 618. Ferner Hammelsbeck, Kirche, 3: „Es geht um eine anspruchslose Solidarität der auf Macht verzichtenden Kirche mit der Welt.“ [Hervorhebungen im Original, BB]. 239 Vgl. z. B. von der Gablentz, Kirche.
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Vorstellungen von der „Gesellschaft“. Eine frühe Definition stammt aus der Feder des Praktischen Theologen Günther Dehn: „Die Gesellschaft ist etwas anderes als Gesellschaft überhaupt. Es ist dabei gedacht an die zur Zeit in einem Volk oder einem Kulturkreise gerade bestimmende Gesellschaft. Es gibt ja das, was man die ,herrschende Gesellschaftsordnung‘ nennt. Gedanken und Pläne darüber, wie die Gesellschaft gestaltet werden müsse, gibt es in einem Volk genug. Sie stehen dann auch in gegensätzlichem Gedankenaustausch miteinander. Sind die Zeiten aber nicht revolutionär, so gilt eine bestimmte Gesellschaftsordnung, die getragen wird von der führenden Schicht des Volkes. Sie ist dann das, was man die Gesellschaft nennt. Ihre Normen sind maßgebend für das Leben. Sie geben den Ton an; in sie sich einzugliedern ist die Aufgabe, die von den Einzelnen erwartet wird. Davon soll nun hier die Rede sein: wie die Kirche sich zur herrschenden Gesellschaft zu verhalten hat. Aber was ist das heute für eine Gesellschaft?“240
Dehn argumentiert zur Beantwortung der Frage zunächst historisch, ehe er anschließend die Möglichkeit diskutiert, ob die Kirche selbst Gesellschaftsordnungen aufzustellen vermag. Im Unterschied zur katholischen Kirche hätten die evangelischen Kirchen aber schon immer „die bedingte Freiheit der Kulturwelt mit ihren Ordnungen und somit auch den Ordnungen der Gesellschaft“241 anerkannt. Eine christliche Gesellschaftsordnung sei abzulehnen, denn „theokratische Lebens- und Gesellschaftsordnungen“242 hätten noch nie zu etwas Gutem geführt. Auf der anderen Seite bestehe auch die Gefahr, dass die Gesellschaft sich der Kirche bemächtige und sie sich gewissermaßen einverleibe. Bei diesen Diskussionen geht es immer wieder auch um das Verhältnis von Kirche und Welt, zumal die Sicht auf die Gesellschaft ja eine bestimmte, soziologische Perspektive auf das, was man theologisch als Welt bezeichnet, darstellt.243 Es ging also um die Frage nach der rechten Weltlichkeit der Kirche.244 Diese Erkenntnis ist bei Martin Niemöller und bei vielen anderen natürlich auch durch die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus entsprungen. Die Kirche, so Niemöller, dürfe keine Wälle gegen die Welt aufrichten und sich in kirchlicher Eigenart und Eigengesetzlichkeit verschanzen. „Sie steht mitten in der Welt und im Angriff auf die Welt mit keiner anderen Waffe als der Botschaft Gottes und mit keiner anderen Sicherung als der Verheißung
240 241 242 243 244
Dehn, Kirche, 1950, 4 [Hervorhebungen im Original, BB]. Ebd., 5. Ebd. Vgl. Herms, Welt. Vgl. Niemçller, Wirklichkeit.
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ihres lebendigen Herrn. Dieser Auftrag will also im Glauben getan werden und nicht im Bewußtsein irgendeiner eigenen Überlegenheit.“245
Diese Christuszentriertheit der Theologen, die aus der BK oder ihrem Umfeld stammen, ist ein besonders auffälliges Merkmal der frühen Gesellschaftsanalysen.246 Martin Niemöller, der seit 1947 Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau war, empfand es darum wohl als umso problematischer, dass die Kirche immer dann in besonders hoher Gunst zu stehen scheine, wenn sie sich für die Interessen anderer vereinnahmen lasse. Im „Dritten Reich“ habe sich die Gesellschaft in ihre Bestandteile aufgelöst, so dass es nur natürlich gewesen sei, „daß man auf die Kirche als einen letzten Hort menschlicher Gemeinschaft blickte und von ihr Hilfe und Wegweisung erwartete.“247 Auch sei nicht zu leugnen, dass sich die Kirche redlich bemüht habe, die an sie herangetragenen Erwartungen zu erfüllen, den Menschen Wegweisung zu geben und tatkräftig zu helfen. Allein, die Kirchenentfremdung sei dadurch nicht wirklich aufgehalten worden. Was also von der Kirche vor allem erwartet werden müsse sei die Bereitschaft, „uns die biblische Botschaft neu sagen zu lassen im Hören auf das Zeugnis des Heiligen Geistes“248 und dann keine Programme oder eigenen Positionen zu propagieren, sondern vielmehr die frohe Botschaft des Evangeliums zu verkündigen.249 Etwa zeitgleich stellt ausgerechnet Karl Barth klar, dass die Kirche nur dann Volkskirche sein könne, wenn sie sich nicht als Kirche des Volkes, sondern als Kirche für das Volk verstehe.250 Zu den Voraussetzungen des Dienstes an der Gemeinde gehöre es nämlich, „daß die christliche Gemeinde oder Kirche ein besonderes Volk und also nicht identisch ist und niemals identisch sein kann mit der Menschheit oder mit einem natürlich-geschichtlichen Teil der Menschheit, also weder mit einem Volk noch mit der Bevölkerung eines bestimmten Landes oder Länderbereiches.“251 Dies ist eine deutliche Absage gegen Vorstellungen einer irgendwie gearteten völkisch exklusiven Volkskirche, wie man sie im „Dritten Reich“ vor allem unter „Deutschen Christen“ imaginiert hatte. Zugleich verwendet Barth selbst den Begriff, was nach den Ereignissen während der Zeit des Nationalsozialismus nicht unbedingt zu erwarten war. Der Wandel von der Bezugsgröße Volk zur Gesellschaft wurde auch zeit245 Ebd., 3. 246 Vgl. Diem, Zukunft, 467: „Über die Zukunft des Christentums entscheidet nichts anderes als die Gegenwart Christi durch sein verkündigtes Wort in jeder einzelnen Gemeinde.“ [Hervorhebungen im Original, BB]. 247 Niemçller, Kirche, 1951, 1. Vgl. auch schon Niemçller, Zeugnis. 248 Niemçller, Kirche, 1951, 2. 249 Vgl. auch ebd., 11. „Es geht letztlich in allem Tun und Dienst der Kirche darum, daß Gott mit der Botschaft von Jesus Christus seine Menschenkinder sucht.“ Ähnlich auch: Vogel, Thesen. 250 Vgl. Barth, Dienst, Nr 6, 3: „Sie kann nicht Kirche des Volkes, sondern nur Kirche für das Volk, sie kann nur in diesem Sinne ,Volkskirche‘ sein wollen.“ 251 Ebd. Vgl. auch Kolfhaus, Aufgabe.
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Restitution der Volkskirche auf tönernen Füßen?
genössisch schon wahrgenommen und reflektiert. Der Kirchenhistoriker Alfred Adam meint, dass wer heute Volk sage, damit nicht mehr die Nation meine, sondern die Allgemeinheit oder auch die Masse.252 Das Wort Volkskirche „bedeutet daher heute eine Kirche, die sich der Allgemeinheit zuwendet, sich mit ihren Anliegen beschäftigt und für die Allgemeinheit verständlich ist; als Folge und Auswirkung übernimmt dann diese Allgemeinheit von der Kirche viele Anschauungen, Urteile und Gesichtspunkte.“253
Die Frage sei nur, ob es das heute noch gebe. Der Kirchenhistoriker führt zur Beantwortung dieser Frage zurück zum vermeintlichen Ursprung dieses Begriffs in seiner Ausprägung bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.254 Dieser habe mit dem Wort die „Verschmelzung von christlicher Gemeinde und natürlicher Gesellschaftsordnung“ bezeichnen wollen und zugleich die Vokabel „Volksgemeinschaft“ miterfunden.255 Das romantische Programm der Volkskirche sei bei Schleiermacher als Gegenmaßnahme zur fortschreitenden „Unkirchlichkeit“ konzipiert worden, wie Adam dann weiter ausführt. Heute hingegen verstehe man die Volkskirche fast nur noch in einem unromantischen Sinne als „Kirche für das Volk.“256 Dadurch könne man sich aber nicht der eigentlichen Frage entledigen, ob die Kirche nämlich mit ihrer Lehre und ihrem Gottesdienst in der Lage ist, „einen Boden in der Allgemeinheit zu finden“.257 Dies führe zu einer veränderten Fragestellung: „Soll die Kirche ihren alten Anspruch auf die Allgemeinheit aufgeben und sich dem Ziel einer christlichen Gesellschaft zuwenden? Das kann dann in zwei Formen geschehen: entweder wird an eine eigene kirchliche Gestaltung gedacht, oder es wird die Durchdringung der vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse als kirchliche Aufgabe angesehen. Nur im letztgenannten Falle kann man von ,Volkskirche‘ reden, und sofort tritt die Aufgabe der Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben ins Blickfeld: der sogen. Öffentlichkeitswille der Kirche.“258
Von diesem Punkt aus werde die Bedeutung der Volkskirche heute vor allem gesehen.259 Seiner Ansicht nach werde nun auch völlig anders begründet, da nicht mehr die Kindertaufe, sondern vielmehr die exemplarische Existenz der 252 Vgl. hierzu auch Thielicke, Kirche, 1952; Heuss, Technik; Hammelsbeck, Geschöpflichkeit; Hammelsbeck, Säkularisation. 253 Adam, Volkskirche, 626. 254 Vgl. auch den entsprechenden Exkurs am Anfang dieser Arbeit. 255 Beide Zitate Adam, Volkskirche, 626. 256 Ebd. [Im Original durch Sperrung hervorgehoben, BB]. 257 Ebd. 258 Ebd. 259 Vgl. ebd., Hermann Diem zitierend: „Wir halten fest, daß die Kirche als öffentlicher Körper ihrem Wesen nach immer Volkskirche, d. h. keine Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit für das ganze Volk ist.“
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Gemeinde als Konstitutivum der Volkskirche bestimmt werde; dabei sei „freilich bisher noch nicht erkennbar, wie von hier aus eine Volkskirche erhalten bleiben kann.“260 Die bisherigen Vorschläge verblieben alle noch „innerhalb der Grenzen der Romantik.“261 Auch wenn Adams Analyse in vielem wohl nicht zutreffen mag, so hat er den Wandel der Bezugsgrößen doch als einer der Ersten im Kontext des Volkskirchendiskurses beobachtet.262 Gerade bei Vertretern, die in der BK mitgewirkt haben, führt das Nachdenken über Kirche und Gesellschaft vor allem zu zwei Schlussfolgerungen. Erstens, die Kirche muss auf die gesamte Gesellschaft bezogen bleiben und darf kein Nischendasein führen. Zweitens, sie muss als ein kritisches Korrektiv der Gesellschaft dienen.263 Wenig später, Mitte der 1950er Jahre, setzte sich in weiten Teilen des gesamtdeutschen Protestantismus‘ ein Bewußtsein dafür durch, dass die Welt anders geworden war, wie etwa der Gründungsdirektor der Evangelischen Akademie in Bad Boll, Eberhard Müller, in einer kurzen Monografie programmatisch auf den Punkt gebracht hatte.264 Auslöser solcher Studien war der, zunächst vor allem als solcher empfundene, anhaltende Mitgliederverlust der Kirchen. Ferner schien eine Auseinandersetzung mit der modernen Arbeitswelt und den Herausforderungen der „Industriegesellschaft“ nötig zu sein.265 Hieraus schlussfolgerte man, dass eine Belebung und Stärkung der Ortsgemeinde, mithin auch „die Überwindung parochialer Schranken“266 für die Zukunft der Kirche von existenzieller Bedeutung sein werde.267 Zu diesem Zeitpunkt machte sich jedenfalls wieder ein Krisenbewußtsein breit, das unter anderen Vorzeichen stand als die Krisendeutungen der vorherigen zehn Jahre.268 Es war Heinz-Dietrich Wendland, 1955 an die Westfälische WilhelmsUniversität in Münster berufen und Gründungsdirektor des Instituts für Christliche Gesellschaftswissenschaften, der in seiner im Juni 1956 gehaltenen Antrittsvorlesung über das „System der funktionalen Gesellschaft und die
260 Ebd. 261 Ebd. Wie dieses Kapitel zeigen wird, gibt es doch im Einzelnen zahlreiche Korrekturen zu Adams Analyse vorzunehmen. 262 Vgl. auch Iwand, Kirche, 1952. Dies war freilich eine Entwicklung, keine plötzlich vonstattengehende Veränderung. Noch ganz in den alten Argumentationsmustern agiert etwa Spiegel-Schmidt, Christ, vor allem 114 zur Volkskirche. 263 So verstehe ich z. B. Niemçller, Gesellschaft; Gollwitzer, Kirche, 1955, vor allem 14. 264 Vgl. M ller, Welt. Vgl. hierzu übrigens auch Thimme, Salz. 265 Vgl. Storck, Zeit. 266 M ller, Welt, 29 f. 267 Vgl. besonders von Bismarck, Gemeinde; von Bismarck, Kirche. 268 Vgl. Wilkens, Braunschweig, 11: „So wird auch die Evangelische Kirche als ganze es nicht an einer Selbstbesinnung fehlen lassen dürfen. Daß sie sich in einer tiefen Krisis befindet, ist nicht zu leugnen. Man sollte davon der kirchlichen Öffentlichkeit ruhig mehr als bisher sagen. Jedenfalls ist sie in ihrer Arbeitsweise nicht immer der tatsächlichen Bedeutung der kirchlichen Arbeit in unserem Volk gerecht geworden.“
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Restitution der Volkskirche auf tönernen Füßen?
Theologie“ sprach.269 Die funktionale Gesellschaft sei ein künstlich gemachtes System der Gesellschaft, welches „von ,Gemeinschaft‘ und ,organischen‘ Zusammenhängen oder Gliederungen (Familie, Volk, Beruf und Berufsstände) nicht mehr viel übrigzulassen“270 scheine. Dieses System führe zunächst dazu, dass es den Menschen selbst funktionalisiere, etwa im Hinblick auf seine Rolle in der Arbeitswelt. Darüber hinaus „ergreift, verändert und deformiert, so scheint es, [es] alle, auch die ältesten und fundamentalen Institutionen des menschlichen Gemeinlebens, so Ehe und Familie auf der einen, den Staat auf der anderen Seite.“271 Die traditionellen Kategorien der evangelischen Soziallehre und Sozialethik seien bislang nicht in der Lage gewesen, das System der funktionalen Gesellschaft zu begreifen. An Schwierigkeiten und Hemmungen, die einem Verstehen im Wege stünden, nennt er zunächst den „traditionellen protestantisch-humanistischen Individualismus“272 sowie zweitens dann den weit verbreiteten kirchlichen Konservativismus.273 Hemmend wirke drittens eine noch aus dem 19. Jahrhundert nachwirkende Neutralisierung der Kirche. Viertens aber und „[m]indestens ebenso wichtig […] ist […] das allmähliche Wegbrechen der alten sozialen Fundamente der Ortskirchengemeinde und der Volkskirche, die ehedem ja nicht nur in der Gestalt der im Namen Jesu gottesdienstlich versammelten Gemeinde (und ihrer Ordnungen), sondern zugleich auch als ,weltliche Christenheit‘ in Gestalt des christlichen Hauses und Hausvateramtes, der christlichen Schule und Erziehung, der christlichen ,Obrigkeit‘ in mancherlei Stufen existiert hat.“274
Die enge Verbindung zwischen kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde, die hierfür erforderlich gewesen sei, gebe es nun nicht mehr. Kirche und Theologie müsse nun daran gelegen sein, in ein Ringen „um die zukünftige, geistige, sozialethische Formierung und Fundierung der Gesellschaft“275 einzutreten. Wendland sollte dieses Vorhaben schon bald als „Theologie der Gesellschaft“ bezeichnen.276 Welche Rolle spielt die Volkskirche in diesem neuen sozialethischen Entwurf ? In einem Beitrag über Verkündigung und soziale Ordnung im Neuen Testament geht Wendland auf die Rolle der Gemeinde als einer sozialen
269 Wendland, System. Er greift dabei Anregungen des Münsteraner Soziologen Hans Freyer auf. 1955 erschien von diesem eine „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“, auf die Wendland am Anfang seines Aufsatzes expressis verbis Bezug nimmt. Zu Freyer vgl. Kruse, Zeitdiagnosen, 141–186. 270 Wendland, System, 289. 271 Ebd., 290 [Hervorhebungen im Original, BB]. 272 Vgl. ebd., 290 f. 273 Vgl. ebd., 291. 274 Ebd., 292. 275 Ebd., 297. Vgl. auch Wendland, Einführung. Vgl. Weber, Herrschaft, 15. 276 Vgl. hierzu ausführlich Runze, Dialektik.
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Wirklichkeit ein. Als die Kirche „,volkskirchlichen‘ Charakter annahm“277 sei die neutestamentliche Gemeindeethik gesprengt worden.278 Durch die Taufe und damit Inklusion fast aller Glieder in die Kirche seien völlig neue ethische Herausforderungen entstanden. „Inzwischen hat uns die tiefe Krisis der ,Volkskirchen‘, die ganze Gesellschaftskörper in sich aufnahmen und sich zugleich mit dem natürlichen Zuwachs der Gesellschaft ausdehnen, weil die neugeborenen Kinder in der überwiegenden Mehrzahl getauft werden, mit dem Massenabfall der Getauften erwiesen, daß für alles sozialethische, christliche Handeln an der Welt, für alle ,Verchristlichung‘ von Ordnungen die Gemeindeethik und für diese wiederum die Gemeinde als soziale Realität und soziale Macht der Integration, die ganz ,aus sich selber‘ – das heißt aus Christus – und nicht ,aus der Welt‘ lebt, die unabdingbare Voraussetzung ist.“279
Von der neutestamentlichen Gemeinde könne man lernen, dass das Verhältnis zwischen Kirche und Welt auf eine Weise gestaltet werden müsse, die beide als klar voneinander unterscheidbare Sphären sichtbar werden lasse.280 An anderer Stelle wirft er ein, dass die „sogenannte Volkskirche“ dem Problem der Massengesellschaft, sowie generell dem theologischen Problem der „Masse“ nicht gewachsen gewesen sei.281 Mit einer rein abwehrenden Haltung gegenüber diesen Phänomenen komme man nicht weiter.282 Der rheinische Präses Joachim Beckmann meint in der Volkskirche eine „fragwürdige Mischung von Gläubigen und Ungläubigen“283 ausmachen zu können. Seiner Ansicht nach sei darum eine radikale Erneuerung der Gemeinde sowie der kirchlichen Institutionen nötig. Die Kirche müsste sich von solch einer „gewiß großartig organisierten Institution in eine Gliederung von verantwortlichen und handlungsfähigen Gemeinden“284 verwandeln. Man müsse außerdem einsehen, dass die Voraussetzungen, die die bisherige Organisationsform hatte, namentlich eine christliche Gesellschaft, heute so nicht mehr existiere. Dies könne man in den schon sehr lange andauernden Diskussionen über die Konfirmation und das Recht der Kindertaufe erkennen.
277 Wendland, Verkündigung, 56. Vgl. auch die ähnlichen Ausführungen von Wendland, Kirche, 1955. 278 Zu den Konturen dieser Ethik vgl. ebd., 54–56; vgl. auch Wendland, Ethik, 33–48. 279 Wendland, Verkündigung, 56 f. Vgl. von der Gablentz, Krisis. 280 Wendland verbindet dies mit einer Spitze gegen das fast undefinierbare, in die Welt zerfließende „Predigtpublikum“ der volkskirchlichen Zeiten. (Vgl. Wendland, Verkündigung, 57; vgl. ferner Wendland, Predigt). 281 Vgl. Wendland, Masse, 196. Vgl. dort auch: „Nachwachsende Menschenmassen werden ununterbrochen durch Taufe und Konfirmation in die Kirche aufgenommen, ohne daß die Kirche in der Lage wäre, auf die Dauer eine lebendige Verbindung mit ihnen aufrechtzuerhalten.“ 282 Vgl. ebd., 198. 283 Beckmann, Kirche, 1957, 12. 284 Ebd., 14.
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„,Gemeinde‘, Volkskirche und Gesellschaft decken sich nicht mehr. Aber die ,Gemeinde‘, an der alles hängt, ist keine ,communio‘, keine ,congregatio‘, sie hat weder wirkliche Organe, d. h. die charismatisch begründeten Dienste, noch ist sie ,Versammlung‘, d. h. Zusammensein von Menschen unter dem Wort (statt unter dem Pastor).“285
Eine grundlegende Reformation der Gemeinde sei erforderlich, damit die Kirche einen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft leisten könne. Gegen Ende der 1950er Jahre waren die Gesellschaft, auch angeregt durch eine zunehmende Rezeption religionssoziologischer Methoden und Ansätze, das Verhältnis der Kirche zu ihr sowie das Nachdenken über die Rolle der Volkskirche in diesem Zusammenhang, vollständig auf die Agenda der protestantischen Reflexionsinstanzen geraten.286 Es wurde vielen klar, dass die Kirche vor neuen Verhältnissen stehe und nach Wegen suchen müsse, wie damit umzugehen sei.287 Als ein Zeichen dieses neuen Bewusstseins kann Trutz Rendtorffs288 1958 erschienene, von Heinz-Dietrich Wendland betreute Dissertationsschrift angesehen werden.289 In der Einführung spricht Rendtorff von einer „permanenten Krise in dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, die durch die Entwicklung der autonomen modernen Gesellschaft in ganz neuer Weise verschärft worden ist [und] an einem Punkt angekommen zu sein [scheint], wo der Protest der Kirche gegen den Abfall der Gesellschaft von den traditionellen Bindungen an das Leben der Kirche und den darin konkretisierten Sinndeutungen des Daseins sich zu wandeln beginnt in die Erkenntnis, daß nur eine entschiedene Zuwendung der Kirche zu der radikal umgeformten Wirklichkeit dieser vielschichtigen Massengesellschaft sie davor bewahren kann, in einer unfruchtbaren Isolierung ihrer Verkündigung und ihrer Lebensform festzufrieren.“290
Man könne nicht übersehen, dass es in dieser Krise nicht allein um eine „allgemeine Gegenüberstellung“291 der beiden Sphären gehe, da die Kirche sich in einer „latenten Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Tradition, mit ihrem volkskirchlichen Erbe“292 befinde, 285 Ebd., 15. 286 Stimulierend wirkte hierbei auch die Diskussion um: Schelsky, Dauerreflexion; vgl. Delekat, Reflektion; Hammelsbeck, Frage. Schelsky wirkte wie Wendland in Münster, wo auch Trutz Rendtorff seine theologisch-universitäre Sozialisation erhielt. Vgl. ferner Goldschmidt, Ansätze. Als Überblick außerdem Wolf, Kirche, 1956, zum soziologischen und theologischen Kirchenbegriff ebd., 623–625. 287 Vgl. in diesem Sinne von Oppen, Säkularisierung, vor allem 50–52. 288 Zu seinem ethischen Ansatz vgl. aus der Feder eines Schülers: Anselm, Theologie. Weitere biografische und theologische Informationen liefert das von Martin Laube in der nachfolgenden Anmerkung genannte Werk. 289 Vgl. hierzu Laube, Theologie, 81–110, für die Bedeutung Schelskys vgl. ebd., 185–214. 290 Rendtorff, Struktur, 1958, 9. 291 Ebd. 292 Ebd.
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„das sich nicht nur entgegen allen Erwartungen bis in die moderne Gesellschaft weiterhin stetig durchhält, sondern auch eine relativ selbstständige und vom Fluß der theologischen und kirchlichen Wandlungen und Neuanfänge weitgehend unberührte Eigenentwicklung genommen hat.“293
Das, was sich heute als Volkskirche präsentiere, sei allerdings kaum als Kirche wiederzuerkennen. Dieses verzerrte Bild komme gerade in banalen Fakten besonders wirksam zum Ausdruck. Auf der einen Seite stehe die „statistisch gesehen unerhört hohe Zahl der Mitglieder“294, die zu einer der beiden großen Konfessionen gehörten und nahezu die gesamte Bevölkerung als Mitglied einer der beiden Kirchen ausweisen. Zudem sei die Inanspruchnahme der Amtshandlungen nach wie vor recht hoch. Auf der anderen Seite stehe aber „die bekanntlich minimale Teilnahme am Gottesdienst oder gar am Leben der Gemeinde; überfüllte Kirchen zu Weihnachten und schwach besuchte Gottesdienste an Ostern und Pfingsten.“295 Weitere verdrießliche Beispiele ließen sich noch leicht ergänzen. Die äußeren Rahmenbedingungen der Kirche sieht Rendtorff in einem krassen Kontrast zum gemeindlichen Leben in ihr stehen. Bedeutsam erscheint ihm nicht zuletzt die Tatsache, dass auch die Kirche selbst von einem Missbehagen gegenüber diesen Zuständen erfasst worden sei. Denn „sie vermag den eigenwilligen Wegen, die das ,kirchliche‘ Leben in der breiten Volkskirche geht, auf der einen Seite kaum entgegenzutreten, um sie in andere Bahnen zu steuern. Auf der anderen Seite hat sich ein spezifisch kirchliches Innenleben ausgebildet, das als Raum rechten kirchlichen Handelns und Lebens anerkannt ist und die ,Gemeinde‘ von den unliebsamen Weisen volkskirchlicher Frömmigkeit absetzen kann.“296
Er kritisiert die Entwicklungen der letzten Jahre, in denen theologisches Reden über das äußere Erscheinungsbild der Kirche geradezu diskreditiert worden sei. Die geforderte Beschränkung auf die theologisch sachgemäße Rede von der Kirche habe seiner Meinung nach „die Tendenz unterstützt […], das volkskirchliche Erbe und seine teils befremdliche Eigenentwicklung sowie die darin gegebene Beziehung von Kirche und Gesellschaft als eine Sache der ,nur äußerlichen weltlichen‘ Existenz der Kirche abzutun, das Innenleben eines eigentlichen ,kirchlichen Kreises’ aber vorwiegend vom theologisch gesättigten Verständnis der Kirche aus zu interpretieren.“297 Rendtorff hält diese Entwicklung für falsch und nicht zielführend. Vielmehr müsse man sich einer „Totalansicht der Krise“ stellen, ohne sich dabei allzu 293 294 295 296 297
Ebd. Ebd., 10. Ebd. Ebd. Ebd., 11. Vgl. von Bismarck, Verflochtenheit; vgl. auch Brunner, Volkskirche für das Beispiel Rudolf Bohrens, der Rendtorffs Dissertation intensiv rezipierte.
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Restitution der Volkskirche auf tönernen Füßen?
starr schon von vornherein auf eine bestimmte Sozialform der Kirche festzulegen.298 In den Diskussionen über die Volkskirche sei immer ein ganzer Komplex von „vielfältigen Verflechtungen zwischen dem Lebensraum eines Volkes und einer Kirche“299 verarbeitet, weswegen diese meist zu einer Zeit aufträten, in der das mit dem Begriff bezeichnete selbst fraglich geworden sei. Sie ist darum „bis in die Gegenwart hinein immer ein Kontroversbegriff gewesen, an dem sich die gegensätzlichen theologischen und kirchlichen Lager und Parteien entzündet haben und entzünden und der vor allem dadurch, daß das soziale Geschehen, um das es dabei geht, das Verhältnis von Kirche und Welt in der Form der Volkskirche selbst von Anfang an fraglich gewesen ist, besonders vielschichtig ist und das Material für sich widersprechende und sich bekämpfende kirchliche Programme und Reformvorschläge bereitstellt.“300
Die Volkskirche ist also weiterhin alles andere als ein Integrationskonzept, sondern wird aufgrund ihrer normativen Aufladung, sowie ihrer Geschichte eher als ein Kampfbegriff wahrgenommen, mit dem unterschiedliche Konzeptionen von Kirchlichkeit ausgedrückt werden können. Die Unterscheidung Martin Doernes zwischen einem Seins- und einem Sollensbegriff der Volkskirche aufgreifend, behauptet Rendtorff, dass in den Auseinandersetzungen das ganze Gewicht auf dem Sollensbegriff läge.301 Wie ist vor diesem Hintergrund eine Definition der Volkskirche möglich? Mit der juristischen Definition, durch die die Volkskirche „zu einem Teil eine bestimmte Form des rechtlichen Verhältnisses zwischen Kirche und Staat“302 sei, komme man nicht besonders weit. Die Praxis der Kindertaufe erfasse zunächst nur den Modus der Zugehörigkeit zur Kirche. Als Norm führt die Kindertaufe dazu, dass die Volkskirche in einen Gegensatz zur Freiwilligkeitskirche gerate. Es sei jedenfalls fraglich, „ob von dem Gesichtspunkt des Eintritts oder der Zugehörigkeit zur Kirche her die Struktur der Volkskirche klargelegt werden kann.“303 Darum kennzeichne „der Begriff der Volkskirche […] meist den Auftrag der Kirche“304, im Sinne missionarischer Aktivitäten. Ein weiterer Sollensbegriff liege vor, „wo an Stelle des theologisch legitimierten Auftrags das Subjekt der Volkskirche nicht die Kirche ist, sondern die mit ,Volk‘ gemeinte gesellschaftliche Wirklichkeit.“305 Dieses Verständnis ziele darauf ab, dass die Kirche im Volk, in der Nation oder im Staat aufgehe, wodurch sie erst wirklich zur Volkskirche werde. In seiner Dissertation will 298 299 300 301 302 303 304 305
Rendtorff, Struktur, 1958, 11, dort auch das Zitat. Ebd., 30. Ebd. Vgl. ebd.; zu dieser Problematik vgl. außerdem auch Lehmann, Volkskirche. Rendtorff, Struktur, 1958, 30. Ebd., 31. Ebd. Ebd.
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Rendtorff allerdings nicht solchen „imperativistischen“306 Auslegungen des Daseins der Kirche, in welcher Nuance auch immer, folgen. Gerade im Hinblick auf die Analyse der Kirchengemeinde, um die es ja vornehmlich in seiner Studie gehen soll, komme diese „mit dem Phänomen der Volkskirche dort in Berührung, wo eine bestimmte Weise der Institutionalisierung des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft für die Kennzeichnung beider ausschlaggebend ist. […] Auch setzt das Verständnis der Volkskirche als Anspruch und Auftrag an und für die Kirche ein Gegenüber von Kirche und Welt voraus, was für die soziale Struktur der Kirchengemeinde so nicht zutrifft.“307
Rendtorffs Dissertation war zwar keine Studie über die Volkskirche, aber er hat überzeugend deutlich gemacht, wie wichtig ein umfassendes Verständnis der volkskirchlichen Rahmenbedingungen für die theologische Arbeit ist. Darüber hinaus ist seine Studie aber noch in anderer Hinsicht weiterführend und stilprägend gewesen. Erstens hinsichtlich seiner Rezeption soziologischer Erkenntnisse und, zumindest ansatzweise, auch ihrer Methoden.308 Zweitens darin, dass die Kirche nicht in einer Gegnerschaft zur Gesellschaft verharren dürfe, sondern vielmehr durch eine nüchterne Analyse derselben auch die kirchlichen Lebens-, bzw. Sozialformen weiterzuentwickeln habe.309 Drittens nimmt er unterschiedliche Intensitäten von Kirchlichkeit in den Blick, auch in ihrer „distanzierten“ Form.310 Viertens konstatiert er eine Schlüsselstellung der Ortsgemeinden, bzw. genauer, der Kerngemeinden im Erneuerungsprozess der Kirche.311 Die krisenhaften Momente der Volkskirche, die Ende der 1950er Jahre – man ist geneigt zu sagen: wieder einmal – besonders deutlich zutage traten, wurden allerdings keinesfalls nur als ein bedauernswertes Momentum wahrgenommen. Der ebenfalls von Wendland beeinflusste Sozialethiker Arthur Rich312, sah nämlich auch eine Verheißung in dieser Krise enthalten.313 Zwar geht er weiterhin von der Bindung der Kirche an ein bestimmtes Volk als grundlegenden Bestimmungsfaktor der Volkskirche aus.314 Für eine heutige
306 307 308 309 310 311 312 313 314
Ebd., 32. Ebd. Vgl. außerdem Rendtorff, Kirchengemeinde; Rendtorff, Kerngemeinde. Vgl. Rendtorff, Struktur, 1960. Vgl. auch Greiffenhagen, Verstehensproblematik. Vgl. Karrenberg, Gestalt; hierzu: Gollwitzer, Mitarbeit; von Bismarck, Kirche, 1957; vgl. ferner Wendland, Verständnis. Vgl. auch die grundsätzlichen Ausführungen in Wendland, Ort. Dies sollte insbesondere dann in den 1960er Jahren intensiv diskutiert werden. Vgl. aber auch schon von Bismarck, Kirche, 1958. Er bezieht sich hierbei u. a. auf Gerhard Hilberts „Ecclesiola in ecclesia“. Vgl. außerdem M ller, Erneuerung; Doehring, Leben. Vgl. Edel, Rich. Vgl. Rich, Krisis. Vgl. ebd., 263 f: „In der Volkskirche ist die Kirche nicht denkbar ohne die Bindung an ihr
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Analyse sei es aber notwendig nachzuvollziehen, welche Veränderungen in jüngster Zeit sich vollzogen hätten und auf welche Weise die Welt eine andere geworden sei.315 „Der Industrialisierungsprozeß, der gerade heute wieder besonders stürmisch vorwärtsdrängt, hat die bäuerlich-bürgerliche Gesellschaft im herkömmlichen Sinne des Wortes mehr und mehr aufgelöst. […] So kam und kommt es zu einer Entfremdung der soziologisch in den bäuerlich-bürgerlichen Traditionen wurzelnden Volkskirche von den elementaren Arbeits- und Lebenszentren der industriellen Massen und ihren ganz neuen Fragen, Nöten, Kämpfen und Anfechtungen. Und dieser Entfremdung entspricht die Entfremdung der traditionellen industriellen Massen von der herkömmlichen Volkskirche.“316
Erich Thier spreche deswegen mit vollem Recht von einer „,Emigration der Massen aus der Kirche‘“.317 Die Volkskirche stehe in der Gegenwart vor einer erneuten, sozial bedingten Zersplitterung. Die historischen Voraussetzungen, auf denen die Volkskirche beruht habe, seien dahingefallen.318 Ihre spezifische Not bestehe darin, dass sie in ihrem jetzigen Verhältnis zur Welt nicht bestehen könne, egal wie sehr die traditionellen Kräfte in ihr noch nachwirkten. Seiner Ansicht nach kommt es also gar nicht so sehr auf die institutionelle Gestalt der Volkskirche an, sondern vielmehr darauf, dass es der Kirche gelinge, ein dialektisches Verhältnis zur Welt zu etablieren, aus dem heraus sie sich kritisch zur Welt und zum Staat positionieren könne. Daraus folgert er, „daß wir das entscheidende Gebot der Stunde nicht in einer institutionellen Reform der Kirche erblicken dürfen.“319 Damit wolle er nicht sagen, dass die Kirche institutionell in Ordnung sei, bleibe doch die „Not und Gefahr, daß sie ihrem rechtlichen Charakter nach ,Jedermannskirche‘“320 sei. Aber dem könne man mit einer institutionellen Reform eben auch nicht besonders effektiv
315 316 317 318
319 320
geschichtlich gegebenes Volk; und in der Volkskirche ist das Volk nicht denkbar ohne die Bindung an seine geschichtlich gegebene Kirche.“ Vgl. ebd., 266 mit Bezug auf M ller, Welt. Vgl. Niemçller, Kirche, 1960a; Niemçller, Kirche, 1960b. Rich, Krisis, 266 f. Ebd. Dort wird dieser Ausspruch dem Marxismusexperten Erich Thier zugesprochen. Vgl. ebd., 267 f: „Die Idee des ,Corpus Christianum‘ mit ihrem machtvollen Antrieb zu einer gegenseitigen Durchdringung von Sakralem und Profanem, von Kirche und Staat, von geistlichem und weltlichem Volk hat sich verflüchtigt. Vernunftwissenschaft und Glaubensdenken, staatliche Welt und kirchlicher Raum, Kirchenvolk und industrielle Massenwelt sind auseinandergetreten und stehen sich – natürlich grosso modo gesehen – entweder in einem Verhältnis feindseliger Spannung oder gleichgültiger Indifferenz gegenüber.“ Ebd., 276. Ebd., 277; Lilje, Kirche, 1960, 369: „Die andere Gefahr ist die falsche Institutionalisierung. Mit dem Problem der Volkskirche kann man nur mit großer Sorgfalt umgehen, da es zu umfassend und kompakt ist. […] Aber Volkskirche und traditionell verfaßte Kirche muß nicht unbedingt dasselbe zu sein.“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Weiter hinten fordert Lilje dann auch Aufgeschlossenheit für die kritischen Fragen an die Volkskirche.
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beikommen. Rich mahnt, dass die Volkskirche keine Gegebenheit sei, sondern eine „Aufgegebenheit“.321 Die Kirche müsse ganz neu „in die Welt hineingetrieben werden“322 werden, sie sei „nur real in der Welt, wenn sie in ihren Gliedern in der Welt ist. Das heißt, Volkskirche müßte eben eine Kirche der Laien und so gerade des Volkes werden.“323 Ob aber die Kirche, „die ernst macht mit ihrer Reichgottesbürgerschaft und insofern mit ihrer Berufung zur militia christi in der Welt, noch Volkskirche sein kann, Volkskirche im institutionell-herkömmlichen Sinne, bleibt offen. Ich selber glaube es kaum. Aber sie wird in der Welt und im Volk und so vielleicht von ihrer Welt und ihrem Volk schwer angefochten, für diese da zu sein. Und sie wird darin gerade auf der Linie weiterschreiten, wo die Verheißung der Volkskirche noch heute liegt.“324
Hier klingt ein Konzept an, das von Dietrich Bonhoeffer in den Arbeiten aus seiner Gefangenschaft entwickelt worden war, nämlich, dass Kirche für andere da sein und auf diese bezogen sein müsse. Dies und die neue Fragwürdigkeit der Volkskirche, sollten auch für die 1960er Jahre bestimmend werden.325 Die Institutionalität der Kirche wurde zu einer wichtigen theologisch-kirchlichen Fragestellung, die sich schon bald auch auf den Volkskirchendiskurs auswirken sollte.326 Parallel hierzu war ein Verständnis für die Pluralisierung und Vielgestaltigkeit der Gesellschaft im Entstehen begriffen, mit der sich die Kirche auseinanderzusetzen hatte.327 4.4.2 Volkskirche als diakonische Aufgabe Wie sich bereits an einigen Stellen andeutete, entwickelte sich der diakonische Auftrag der Kirche zu einem grundlegenden Motiv, mit dem gesamtgesellschaftlicher Einfluss und die Bedeutung der Kirche überhaupt unterstrichen werden sollte. In gewisser Weise diente die Vergewisserung des weit gefassten diakonischen Auftrags der Kirche der Rechtfertigung der großen zugestandenen Einfluss- und Entfaltungsmöglichkeiten der Kirche.328 Heinrich Vogel hatte schon 1948 auf diesen Aspekt hingewiesen. Die verkündende und betende Kirche solle und werde „ihr Zeugnis gegenüber der Welt und für die Welt unterstreichen […] mit der Tat der dienenden Liebe.“329 Kirche für die Welt zu sein müsse sich auch im diakonischen Handeln der Kirche äußern. Sie solle 321 322 323 324 325 326 327 328 329
Rich, Krisis, 279. Ebd. Vgl. aber auch schon Harbsmeier, Verkündigung; Dehn, Predigt. Rich, Krisis, 280. Vgl. Wolf, Bilanz, vor allem 673 f. Rich, Krisis, 280. Vgl. auch Treblin, Koexistenz. Vgl. Rich, Ordnung; Marsch, Kirche. Vgl. z. B. Werner, Einheit; von der Gablentz, Staat. Vgl. Dibelius, Eintritt; vgl. auch Berg, Auftrag. Vogel, Verantwortung, 23 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB].
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eine „anspruchslose Solidarität […] mit der Welt“330 zeigen. Ein wichtiger Impulsgeber für den Aufbau der diakonischen Arbeit in der Bundesrepublik war sicherlich Eugen Gerstenmaier. Hinsichtlich der sozialen Gestalt der Kirche und der „grundstürzenden materiellen, strukturellen und bewußtseinsmäßigen Verwandlung“331 konstatiert Gerstenmaier dreierlei. Erstens habe sich die Verwandlung von der Staatskirche zu einer freien Volkskirche vollzogen. Die deutsche Arbeiterschaft sei, zweitens, wieder zu einem eigenen Stand geworden, allerdings weder christlich noch unchristlich positioniert, sondern neutral. Ähnliches gelte, drittens, für die Verbände der Heimatvertriebenen. Es dürfe der Kirche nicht um eine Kumulation von möglichst vielen Organisationen gehen, weil sie dann ihr diakonisches Leitbild „Bruderschaft in Aktion“ zu sein, verlieren würde.332 Diakonisches Handeln, das seinen Ausgangspunkt in der Gemeinde habe, stehe in einem engen Zusammenhang mit der staatlichen Sozialpolitik. Dieses Verhältnis müsse von der Kirche aber durchaus kritisch wahrgenommen werden, wobei sie sich korrektives Verhalten vorbehalten müsse. „Von öffentlicher Bedeutung wird dieses Korrektiv, wenn es sich nicht um eine Auseinandersetzung über diese oder jene sozialpolitische Maßnahme handelt, sondern um eine von den Geboten Gottes her unverzichtbar geforderte Korrektur des Leitbilds der staatlichen Sozialpolitik überhaupt.“333
Dies nennt Gerstenmaier „Politische Diakonie“, welche „die diakonisch gebotene Korrektur des Leitbilds der staatlichen Sozialpolitik und damit des Leitbildes des Staates überhaupt“334 zur Aufgabe habe. Es wird hier also eine Linie gezogen vom diakonischen, helfenden und dienenden Handeln der Kirche hin zu einer Einflussnahme, die dieses Handeln weiterhin ermöglichen und auf die „recht“ verstandene Weise befördern soll. Wichern II – darunter versteht Gerstenmaier im Unterschied zu Wichern I, welches sich auf das karitative Handeln der Kirche bezieht, den gesellschaftspolitischen Teil der Vorschläge Wicherns, „ist und bleibt ein verpflichtender Ruf an die Diakonie der Kirche, über ihren herkömmlichen Grenzstein immer von Neuem hinauszuziehen auf den gefahrenreichen Acker der Welt. Wichern II ist ein unerfülltes, ja überhaupt erst wieder neu und planvoll in Angriff zu nehmendes Vermächtnis an die deutsche evangelische Kirche.“335 330 Hammelsbeck, Kirche, 3 [Im Original durch Sperrung hervorgehoben, BB]. Vgl. auch Niemçller, Wege; Kolfhaus, Aufgabe. Auch Barth forderte 1951 von der Gemeinde einen engagierteren Dienst in der Welt, vg. Barth, Dienst. 331 Gerstenmaier, Wichern, 518; Gerstenmaier, Diakonie; Vgl. auch von Bismarck, Amt. 332 Vgl. Gerstenmaier, Wichern, 519. 333 Ebd., 529. 334 Ebd.; vgl. Karrenberg, Verständigung. 335 Gerstenmaier, Wichern, 545.
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Wendland pflichtet Gerstenmaier bei, dass die Gefahr „der institutionellen Erstarrung und des bürokratischen Mechanismus“ im diakonischen Handeln der Kirche nur dann abgewendet werden könne, „wenn die Gemeinden selber lebendige Zellen und Träger des diakonischen Handelns werden“ würden.336 Dabei sei man sich völlig klar darüber „welche unendliche Mühe und langes Ringen an diese Aufgabe einer diakonischen Erweckung der Gemeinde gesetzt werden muß, um sie aus dem ererbten Zustand der Volks- und Traditionskirche herauszuführen, in dem sie sich wesentlich als Gemeinde von Predigthörern verstanden hat.“337
Der Zustand einer Volks- und Traditionskirche scheint hier dem diakonischen Handeln der Kirche hinderlich zu sein, was zumindest insofern erstaunlich ist, als ja gerade die Ressourcen dieser Kirche diakonisches Handeln in den Größenordnungen, wie sie in der Bundesrepublik dann üblich wurden, erst ermöglichten. Aber hierauf scheint es Wendland an diesem Punkt nicht anzukommen. Er hofft vielmehr, dass die christliche Laienbewegung den Dienstwillen in den Gemeinden erwecke und dass sich diakonische Bruderschaften bilden würden, „ohne deren Vorbild und Pionierarbeit die Kirchengemeinden nicht zu lebendig handelnden ,Organismen‘ umgebildet werden können.“338 Hier erscheinen lebendige Kirchengemeinden als ein Heilmittel gegen volkskirchliche Erstarrung und Erlahmung.339 Das Ziel dieser Entwicklung sieht Wendland in einem allgemeinen Diakonat der Gläubigen, ohne den das allgemeine Priestertum der Gläubigen nicht echt sein könne: „Priester sind wir immer für andere, nicht für uns selbst.“340 Dieses Bewußtsein müsse sich auf allen Ebenen der Kirche durchsetzen. Bei dem Versuch, die „Probleme des Wohlfahrtsstaates“341 zu bewältigen, spielte der Begriff der Volkskirche jedenfalls eine nicht ganz unerhebliche Rolle in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre.342 Die heutige Ortskirchengemeinde habe sich, Wendland zufolge, gemeinsam mit der Tauf- und Volkskirche entwickelt und sei „weder in ihrer altreformatorischen Form noch in ihrer heutigen Gestalt einfach mit dem gleichzusetzen, was das Neue Testament Gemeinde Gottes oder Christi nennt“.343 Vielmehr stellten sie nur be336 337 338 339 340
Wendland, Kirche, 1953, beide Zitate 468 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Ebd., 469. Ebd. So auch M ller, Welt, 35–47; Schober, Diakonie. Wendland, Kirche, 1953, 469 [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Vgl. hierzu Althaus, Ort. Althaus konstatiert ebd., 290: „Will die Christenheit dem Einzelnen dienen, so muß sie sich eben um dieses Einzelnen willen auch für das öffentliche Leben und die Gestaltung der Ordnungen verantwortlich wissen.“ Kurz danach weist er dann aber, nach Bezugnahme auf die Texte von Gerstenmaier und Wendland auf die Gefahr hin, dass „solche ,Diakonie‘ sich an die Gesetze der Welt verliert.“ (ebd., 291). 341 Thielicke, Probleme; Philippi, Improvisation. 342 Vgl. z. B. Herntrich, Kirche, 1957. 343 Wendland, Gemeindeform, 91.
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stimmte historische Ausprägungen dar, „die keineswegs für ewig und absolut gehalten werden dürften.“344 Diese Erkenntnis sei in „den Kirchen der russisch besetzten Zone […] offenbar weiter fortgeschritten als in Westdeutschland“.345 Mit Recht werde dort, er bezieht sich hier vor allem auf Günter Jacob, von einem Zeitalter des Übergangs gesprochen, „in dem die Kirche sich befinde, von dem Zerbrechen der alten volkskirchlichen und ortsgemeindlichen Formen und von der Notwendigkeit, sich auf den Weg in eine Zukunft zu wagen, die nur in Umrissen erahnt werden kann, jedenfalls aber unter den Verheißungen steht, die Gott für alle Zeiten und unter allen Gesellschaftsformen seiner Kirche auf ihren irdischen Weg mitgegeben hat.“346
Die im Osten zu beobachtenden Wandlungsprozesse der Gemeinde vollzögen sich aber auch im Westen. Die Gemeinde müsse in die kirchlich-institutionellen Wandlungsprozesse stärker einbezogen werden; ihre Entwicklungsfähigkeit sowie ihr faktischer Wandel seien Voraussetzungen für die Ausbildung kirchlicher Dienstgemeinden. Die auszubildenden neuen Arbeits- und Gemeindeformen müssten dabei sowohl missionarisch, wie auch diakonisch ausgerichtet sein, zumal sich beide Aspekte nicht voneinander trennen ließen.347 Die Zeit der volkskirchlichen Gemeinde der vergangenen Jahrhunderte sei endgültig vorbei, stattdessen müsse es „Bruderschaften und Dienstgemeinschaften [geben], die beweglich und straff geordnet das ganze Leben ihrer Glieder an bestimmte kirchliche Aufgaben setzen, seien sie diakonischen Charakters im Sinne der Inneren Mission, oder diakonisch im umfassenden Sinne der von uns so genannten und umrissenen gesellschaftlichen Diakonie, seien sie missionarisch im Sinne der Mitwirkung bei der Wortverkündigung an die Fernen und Fremden, die doch unsere eigene Kirche einmal getauft hat.“348
Die gesellschaftliche Diakonie, von der Wendland in diesem Zitat spricht, ist in gewisser Weise ein Pendant zur Bezeichnung „Wichern II“.349 Insgesamt lässt sich diese Strömung wohl unter „das Losungswort ,Kirche für die Welt‘“ zusammenfassen, welches heute „durch die Reihen der Christen“ gehe.350 Diese Losung sei darin begründet, „dass sich uns die Urgestalt der Kirche in der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde Christi, des erwählten, berufenen und durch den Heiligen Geist er344 345 346 347 348 349
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., 93 sowie Wendland, Verkündigung. Wendland, Gemeindeform, 98. Vgl. Wendland, Diakonie, 1958, 27 f. Vgl. außerdem Wendland, Wichern; Wendland, Diakonie, 1960; Hartman, Diakonie. 350 Wendland, Gemeinde, beide Zitate 3.
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leuchteten Gottesvolkes zeigt, so dass alles, was über den Dienst der Kirche an und in der Welt gesagt werden könnte, über das, was ich nachher unter dem Titel der ,weltlichen Christenheit‘ zusammenfassen will, allein hier begründet ist und von hier aus interpretiert werden muss.“351
Seine Überlegungen über das Wirken der Kirche in und an der Welt nehmen ihren Ausgangspunkt abermals bei der Gemeinde. Der Gottesdienst der Gemeinde, so Wendland dann weiter, in dem diese Gott anbetet und verherrlicht, sei nämlich nicht nur auf diese selbst bezogen, sondern zugleich auch auf die Welt.352 Es gebe sogar eine Einheit von Gottesdienst und Weltdienst.353 Diesen Weltdienst der Kirche bezeichnet er als gesellschaftliche Diakonie, einen Ausdruck, den er jetzt ausführlicher darstellt eingedenk der Folgerungen, die aus ihm seiner Ansicht nach zu ziehen seien: „Die Universalität der diakonischen Taten der Kirchen an der Welt“ bezeugten nämlich „auf ihre Weise die Totalität der Christusherrschaft, dies bedeute also zugleich auch die vollständige […] Offenheit der Kirche zur Welt hin.“354 Zum Wesen des göttlichen Wortes, das in die Welt hineinwolle, gehöre es auch, dass es sich nicht ewig auf eine bestimmte Kirchenform oder Kirchenverfassung fixieren lasse. In dieser semantischen Öffnung von Wendland kann man die beginnende Dynamisierung der Kirchenreformdiskussionen praktisch schon mit den Händen greifen. Mit dem Ausdruck will Wendland die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es sich hierbei nicht nur um „einen Dienst im Sinne der Inneren Mission und des Hilfswerks, der Diakonie im engeren Sinne“355 handle, es gehe vielmehr um „die Zuwendung der Kirche zu dem Menschen als gesellschaftlichem Wesen, also in der ganzen Konkretheit, in der ganzen Breite, im ganzen Umfang seiner sozialen Verflochtenheit und Einordnung.“356 Zum einen wird der 351 Ebd. 352 Vgl. ebd., 5 sowie ebd., 5 f: „Der Gottesdienst der Kirche Jesu Christi kann nur deswegen Lobpreis, Verherrlichung, Proklamation, Verkündigung und Anbetung sein, weil es sich hier um den Dienst an den Menschen, um die in der Welt und durch menschliches Tun real werdende Gottesliebe handelt.“ 353 Vgl. zur Erläuterung ebd., 7 f: „So nimmt also, weil die Kirche aus irdischen Menschen besteht und ihren Weg durch diese Welt machen muss, die Gnade Gottes auch immer wieder die Gestalt des Gebotes für die Gemeinden Christi an. Wir sehen, besonders in den Briefen der Apostel, dass notwendigerweise das Evangelium selbst für die Gemeinde die Gestalt der geistlichen Wegweisung, der Ausrichtung durch das Gebot, die Gestalt der Mahnung, die zugleich Tröstung ist, und der Tröstung, die zugleich Mahnung ist, annehmen muss. So sind also zwei Dinge unauslöslich im Gottesdienst der Kirche Jesu Christi miteinander verknüpft: nämlich die Proklamation der Herrschaft Gottes in Jesus Christus über die ganze Welt (und damit die Proklamation der Rechtfertigung des Sünders, des Gesetzlosen durch die Herrlichkeit der göttlichen Gnade) und zum anderen die Sendung in die Welt hinein mit dem Wort dieser Proklamation und mit dem Dienst der Liebe, der auf seine Weise die Herrschaft Christi ausruft. Beide sind unauslöslich in ein- und derselben göttlichen Agape verbunden und verschmolzen.“ 354 Ebd., 8 [Hervorhebungen im Original, BB]. 355 Ebd., 9. 356 Ebd.
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Auftrag des diakonischen Handelns der Kirche also erheblich ausgeweitet und kann letztlich in allen Diensten der Kirche am Einzelnen sowie an der Gesellschaft und ihren spezifischen Institutionen, gefunden werden. Zum anderen plädiert er entschieden dafür, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in dem sich dieser Dienst vollzieht, zu kennen und zu berücksichtigen. Hierfür werden freilich dann auch empirische Daten nötig, womit er gewissen Entwicklungen, die normalerweise auf das Ende der 1960er Jahre datiert werden, schon vorgreift.357 Was aber bedeutet es, „die Kirche als Trägerin des Weltdienstes“ zu verstehen und damit die „Kirche Jesu Christi als Trägerin und Subjekt von Akten gesellschaftlicher Diakonie?“358 Eben diese Kirche nennt Wendland „,die weltliche Christenheit‘.“359 „Weltlich heisst sie in dem doppelten Sinn, dass sie erstens aus allen Christen besteht, insofern sie Glieder der Welt sind, der menschlichen Gesellschaft, Glieder von Staaten, Familien, Berufsverbänden, Arbeitsbetrieben und dergleichen mehr. Und zweitens in dem Sinn, dass sie nicht nur faktisch durch geschichtliche Einordnung Glieder der Welt sind, sondern in ihrem In-der-Welt-sein bestimmte Dienste wiederum als Menschen der Kirche, als Glieder des Leibes Christi an Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu vollziehen haben. Eine Kirche, die sich selbst der Welt hinopfert, weil sie unter dem Gebot und in der Kraft der dienenden Liebe lebt […] nimmt notwendigerweise immer die Gestalt der weltlichen Christenheit an.“360
Dieses Konzept steht natürlich in einer engen Verwandtschaft zur Volkskirche. Zum einen gehören alle Christen dazu, wobei es eher ungewöhnlich ist, hier keinerlei konfessionelle Differenzierung zu machen, zum anderen richtet sich der umfangreiche Dienst, den die weltliche Christenheit sich zur Aufgabe gemacht hat, an alle Menschen in allen möglichen gesellschaftlichen Konstellationen. Wir haben es hier also durchaus mit einem Alternativ-, bzw. genauer, wohl mit einem Komplementärbegriff zur Volkskirche zu tun. Der Weg, durch den sie ihre Aufgabe erfüllen könne, hat durchaus befreiungstheologische Anklänge, ohne dass sich diese zu dieser Zeit im Einzelnen nachweisen ließen. Die Ablehnung der Utopie einer „christlichen Gesellschaft“ hebe nicht die „Weltverantwortung der Kirche im Dienste menschensuchender Gottesliebe auf. Unser Ziel kann daher nur sein: Mit der Bildung neuer, sowohl erstens missionarischer wie zweitens diakonischer Dienst- und Kampfgruppen in die Gesellschaft
357 Zur empirischen Wende vgl. u. a. Grethlein, Theologie, 57–59, 70 f; Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 197 f am Beispiel der Homiletik. 358 Wendland, Gemeinde, 12. 359 Ebd. 360 Ebd., 12 f. Vgl. auch Wendland, Kirche, 1954, 186 f.
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der radikalen Weltlichkeit vorzustossen, die das göttliche Wort nicht mehr hört und nicht mehr kennt.“361
Diese Gruppen müssten nach einem streng bruderschaftlichen Prinzip errichtet werden. Darüberhinaus müssten sie als „die konkreten Träger missionarischer und diakonischer Akte“ zu „Vorformen christlicher Gemeinden in der Welt“362 werden. Darum müssten sich offene Gruppen bilden, damit es „zur Begegnung, zum Gespräch, zur dialogischen Verkündigung“363 kommen könne. Konkret gebe es zwei Vorformen der Gemeinde, einerseits die missionarische364, andererseits jene, wie man sie in der „nachchristlichen Gesellschaft in Europa“365 antreffe: „Sie ist dadurch von der missionarischen Vorform unterschieden, dass wir uns hier in der Verantwortlichkeit für die einst Getauften befinden, die in Massen den Lebenszusammenhang mit der Kirche verloren haben. Bis auf den heutigen Tag hat die unter dem Missionsbefehl stehende Kirche keineswegs alles getan, um dieser ihrer Verantwortung für die von ihr selbst Getauften nachzukommen. Also steht die Frage: Entweder Bruch mit der ganzen bisherigen Taufpraxis der Volksund Zuwachskirche oder – wenn weiter Kinder oder sogar Kinder aus Familien ohne christliche Bindung getauft werden sollen wie bisher – der Versuch, die Kirche in die Gestalt einer missionarischen Bewegung zu überführen, um die von der Kirche gelösten Getauften auf neuen Wegen zu erreichen.“366
Charakteristisch für Wendland ist es, dass er seine theologischen Reflexionen oftmals mit der Frage nach dem Kerygma, also danach, wie die Verkündigung der Evangeliumsbotschaft in den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgen könne, verbindet. An anderer Stelle betont er in einem solchen Zusammenhang, dass neben der „Missionssituation“, die „zweite große geschichtliche Situation, die für uns wichtig ist, weil wir aus ihr herkommen, […] die staats- und volkskirchliche Situation [ist], in welcher die Kirche, im ,konstantinischen Bunde‘ zwischen Staat und Kirche lebend, die öffentliche, anerkannte und rechtlich geschützte Religion des Staates und der Ge-
361 362 363 364
Wendland, Gemeinde, 15 [Hervorhebungen im Original, BB]. Beide Zitate ebd., 18 [Hervorhebungen im Original, BB]. Ebd. Vgl. ebd., 20: „Diese entsteht, wenn ein Missionar in Afrika an Land geht und durch seine Predigt einige Taufbewerber gewinnt. Ist das christliche Gemeinde? Nein! Die Taufbewerber sind weder getauft, noch haben sie das heilige Sakrament des Abendmahls empfangen. Sie sind noch nicht ,christliche Gemeinde‘ im Vollsinn. Und doch ist die Schar der Taufbewerber und Katechumenen eine geistlich notwendige Vorbedingung der christlichen Gemeinde; denn nur dadurch, dass die Heiden den Stand des Taufbewerbers durchlaufen, kann christliche Gemeinde im Vollsinn werden.“ Ähnlich aber auch schon M ller, Erneuerung, 11–24. 365 Wendland, Gemeinde, 20. 366 Ebd. [Hervorhebung im Original, BB].
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sellschaft darstellt und alle Schichten der menschlichen Gesellschaft in sich umfaßt.“367
Wichtig sei sie nicht aus sich selbst heraus, sondern weil sie die Situation darstelle in der man sich befinde und von der ausgehend man die weiteren Schritte zu bedenken habe. Der Zustand, dass die Kirche sich als Fundament der Gesellschaft wisse und alle Schichten derselben umfasse, habe lange angehalten, sei aber im Grunde seit der Französischen Revolution in der Auflösung begriffen; ein Prozess, den auch Wendland mit dem Begriff der Verweltlichung bzw. Säkularisierung zu fassen versucht. Er zieht daraus den Schluss, dass man heute in der „nachchristlichen Gesellschaft“ lebe.368 Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass die Kirche einen erheblichen Mitgliederverlust zu verzeichnen habe, sodass ihr zum Teil ganze gesellschaftliche Schichten weggebrochen seien. Kerygma und soziale Ordnung rückten immer weiter voneinander weg, bis schließlich die Kirche selbst immer mehr verweltlicht werde.369 Zu seiner Theologie der Gesellschaft, die er von dieser Grundlage ausgehend hiernach entfaltet, gehört konstitutiv die Feststellung, dass „das Gesamtverhältnis der Kirche zur Gesellschaft nur ein diakonisches sein [kann], und wir […] daher von der universalen, gesellschaftlichen Diakonie der Kirche zu sprechen [haben] als der Form der heutigen Begegnung zwischen Kirche und Gesellschaft unter der Leitung des Kerygma.“370 Diese gesellschaftliche Diakonie müsse vier Aspekte einschließen: erstens eine „theologische Analyse und Kritik der Gesellschaft“371, wodurch sie zu einer „kritischen Lehre vom Rechte, den Gründen, aber auch den Grenzen der gesellschaftlichen Institutionen werden“372 müsse. Dazu gehöre zweitens, dass die Kirche gefragt werde und sich fragen lasse. Damit zielt Wendland darauf ab, dass die Kirche sich den Anfragen aus der Gesellschaft – gerade und besonders auch den kritischen – stellt und etwas darauf zu antworten weiß. Drittens müsse ein sozialer Strukturwandel der Kirche angestoßen werden. Die Gemeinde Jesu Christi dürfe nicht mit einer bestimmten, historisch gewachsenen Sozialform 367 Wendland, Kerygma, 41. 368 Ebd., 42 [Im Original hervorgehoben, BB]. 369 Vgl. ebd., 43: „Die Kirche als Sozialgebilde, als Gemeinde in der Gesellschaft, wurde selbst verweltlicht, an die Gesellschaft und den Staat preisgegeben, statt als geschichtlich-leibhafte Realität des irdischen Gottesvolkes, des Leibes Christi auf Erden zu gelten; sie verflüchtigte sich so selber zu einer ,unsichtbaren Kirche‘ („von der das Neue Testament gar nichts weiß“) und bestätigte damit die weltlichen, politischen Anstrengungen zur fortgehenden Neutralisierung der Kirche, also ihrer Ausschaltung aus dem öffentlichen Leben der Gesellschaft, ihrer Loslösung von den sozialen Ordnungen.“ 370 Ebd., 46. Vgl. außerdem Wendland, Diakonie, 1960, 41–47. Es soll freilich nicht verschwiegen werden, dass Wendlands Ansatz nicht unumstritten war und beispielsweise von Herbert Krimm (Krimm, Diakonie) infrage gestellt worden ist. Zu dieser Debatte vgl. Herrmann, Gemeinde. 371 Wendland, Kerygma, 46 [Hervorhebung im Original, BB]. 372 Ebd., 46 f.
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gleichgesetzt werden; vielmehr bedürfe es hier einer Offenheit für strukturelle Veränderungen. Viertens schließlich weist Wendland darauf hin, dass das diakonische Handeln der Kirche nicht allein auf die üblichen Wege der sozialen Diakonie – Innere Mission und Hilfswerk – beschränkt bleiben dürfe, sondern umfassender seinen Beitrag zu einer „verantwortlichen Gesellschaft“ zu leisten habe.373 Am Beispiel Wendlands wurden hier einige für den Volkskirchendiskurs bedeutsame Entwicklungen exemplarisch nachvollzogen. Wichtig ist, dass der Anspruch, gesamtgesellschaftlich wirksam zu sein, erhalten bleib, ohne dass hierfür das volkskirchliche Begründungsmodell nötig wurde; stattdessen geriet die bisherige Form der Volkskirche in erhebliche Erklärungsnöte, die zur Weiterentwicklung des Begriffs führten. 4.4.3 Volkskirche als missionarische Aufgabe Im vorherigen Abschnitt wurde an einigen Stellen bereits deutlich, dass der missionarische Charakter der Volkskirche in den 1950er Jahren Auftrieb erhielt und neuerlich zu einem wichtigen Charakteristikum der Semantik wurde. Es lassen sich aus der ersten Hälfte der 1950er Jahre zahlreiche Beispiele anbringen in denen Kirchenvertreter und Theologen fordern, dass die Kirche ihren missionarischen Auftrag ernst- und wahrnehme.374 Noch Mitte der 1950er Jahre konstatierte Eberhard Müller: „Der grundlegende Wandel in der gesamten Struktur der menschlichen Gesellschaft zwingt auch die Kirche, ein neues Blatt in ihrer Geschichte der Mission anzulegen. […] Viele eschatologische Spekulationen der Gegenwart ziehen ihre Kraft keineswegs aus dem Trost der göttlichen Verheißung, sondern aus der Verzweiflung an der bisherigen Unfähigkeit der Kirche, die ihr im Zeitalter der Technik gestellten Probleme zu lösen. Die Christen, die mit ihren Aufgaben nicht mehr zurechtkamen, erlagen der Gefahr, durch die christliche Hoffnung auf eine Erneuerung der Welt am Ende der Tage nicht in ihrer Wirksamkeit belebt, sondern in ihrer Passivität bestärkt zu werden.“375
Es komme alles darauf an, ob die Kirche den Ruf der technisierten Welt nach ihrem Dienst hören würde. In diesem Zusammenhang geriet erneut das institutionelle Gefüge der Kirche, nicht zuletzt in ihrer Gestalt als Volkskirche, in die Kritik.376 Aus volksmissionarischer Sicht entspringe „aus dem wachsenden 373 Vgl. ebd., 48, Wendland greift hier das Schlagwort der Weltkirchenkonferenz von Evanston aus dem Jahre 1954 auf. 374 Vgl. beispielsweise Obendiek, Kirche; Wurm, Abendland; Herntrich, Auftrag; Brauer, Verkündigung; Rendtorff, Volksmission. 375 M ller, Welt, 46 f. 376 Vgl. Wilken, Kirche; Vicedom, Existenz; Rendtorff, Sendung. Dagegen betont Schnell, Thesen, 421: „Die Konsequenz der heutigen Situation der Volkskirche kann nicht die Preisgabe der Volkskirche, sondern sie muß die Neubesinnung auf die volksmissionarische Aufgabe
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Bewußtsein der Mängel der volkskirchlichen Struktur“377 die Suche nach praktischen und organisatorischen Alternativen. Bei Wendland und anderen verband sich dieser Impuls mit der Verbindung von diakonischem und missionarischem Handeln der Kirche.378 „Angenommen, die Volkskirche zerbröckelt“.379 So überschrieb der Missionswissenschaftler Hans Jochen Margull380 einen 1959 veröffentlichten Aufsatz. Margull meint, dass die Herausforderung der verfallenden Volkskirche schon seit genau vierzig Jahren an der Tagesordnung sei. Seltsamerweise gelte es aber auch noch heute, sich zu diesem Thema zu äußern. „Ich sage: ,seltsamerweise‘ und meine das zunächst positiv: ganz abgesehen von der großen Überraschung, die die Volkskirche minderen fortschrittlichen Propheten aller Art seit dem Ende des ersten Weltkrieges immer wieder einmal bereitet hat, erfahren wir selbst mit einem unsicheren Erstaunen, daß die Volkskirche keineswegs tot ist, ja, daß sie stellenweise kräftig lebt, daß sie an Stellen aufbricht, an denen man es nie vermutete, daß sie uns entgegenkommt in einem schlichten und klaren Wort und in einer unauffälligen Tat dort und bei solchen, wo wir es nie erwartet hätten.“381
Allerdings könne das „seltsamerweise“ auch insofern negativ verstanden werden, als dass man das deutlich zu Tage tretende Symptom des Endes der Volkskirche außer Acht lasse und keine Handlungskonsequenzen daraus zu ziehen bereit sei. Auch wenn Margull nicht behaupten möchte, dass die Volkskirche schon zerbröckelt ist, hält er es für überaus wichtig, dass man sich dieser Frage stellt und den damit zusammenhängenden Problemstellungen. Zunächst sei zu konstatieren, dass es sich bei der Formel „Volkskirche oder Ende der Kirche“382 um eine falsche Alternative handele, denn selbstverständlich werde es auch ohne die Volkskirche Kirche geben. Selbiges gelte für die Alternative Volkskirche oder Freiwilligkeitskirche: „Wie bei der ersten Alternative hat man auch hier die Volkskirche vor der Hand zur Konstante gemacht, ohne zu merken, daß die Volkskirche immer nur erst in der Subordinierung der Gestalten zu finden ist, in denen die Kirche des Herrn Jesus Christus in dieser Welt mit ihren verschiedenen Räumen und Zeiten lebt.
377 378 379 380 381 382
sein.“ Es gab also auch Stimmen, die neben den missionarischen Initiativen auch den Erhalt der Volkskirche sich zum Ziel gesetzt hatten. Ebenfalls sich in fast schon anachronistischer Weise zur missionierenden Volkskirche äußernd: Busse, Gemeinde. Lçwe, Volk, 115. Vgl. so auch Wester, Kirche. Wester sagt, der Wandel von der institutionellen zur missionierenden Kirche habe nicht um der Volkskirche willen zu erfolgen, „sondern um der Botschaft willen, die uns anvertraut ist als Auftrag und Verheißung“ (ebd., 242). Margull, Volkskirche. Es ist wohl kein Zufall, dass dieser Artikel in einer in Ostdeutschland verlegten Zeitschrift erschien. Vgl. Hering, Margull. Margull, Volkskirche, 243. Ebd., 244.
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Welcher Bürgerschreck entsteht, welche theologischen Sicherungen knallen, wenn man in jenen bedauerlichen Fehler verfällt, die Volkskirche als sakrosankt zu betrachten und lückenlos mit der Kirche Jesus Christi – wie sie sich eben auf der Welt auch ganz anders findet – zu identifizieren!“383
Aus seiner Perspektive als Missionswissenschaftler weist Margull auf die vielen alternativen Möglichkeiten, wie sich die Kirche Jesu Christi in der Welt organisiert, hin. Welche Zukunft sieht er für die westdeutschen Kirchen, sollte die Volkskirche nun tatsächlich zerbröckeln? Er hält es für nicht unwahrscheinlich, dass in Zukunft die Ortsgemeinde „als Diasporagemeinde kleiner nachbarschaftlicher Gottesdienstgemeinschaften“384 sich bilden werde. „Vielleicht“, so Margull dann, „sehe ich zu düster.“385 Aber „[e]rwäge ich jedoch die Momente im Zerbröckeln der Volkskirchen, schätze ich den Prozeß der Antwortlosigkeit in seiner Progressivität richtig ein, nehme ich die Kräfte des systematischen Säkularismus in theologisch sachgemäßer Weise, so stellt sich mir mit dem Blick auf die Situation unserer Volkskirche das Bild der Bodenerosion.“386
Die Erosion der Volkskirche schien also in vollem Gange zu sein. Er stimmte zwar denjenigen zu, die dafür plädierten, dass man die Volkskirche nicht mutwillig aufgeben dürfe, schloss aber die Frage an, ob man denn bereit sein werde, wenn sie so zerbröckelt sei, dass man ihr Ende nicht mehr abwenden könne. „Natürlich ist uns bange“, so schließt er dann: „Aber ist das nicht gut?!“387 Von Margull erfolgt kein flammendes Plädoyer für missionarische Initiativen zum Erhalt der Volkskirche, sondern stattdessen der Aufruf zu einer theologischen Besinnung wie man adäquat und besonnen auf ein mögliches Ende der Volkskirche reagieren könne. An anderer Stelle kritisiert Margull die volksmissionarische Verkündigung darin, dass sie von einem Grundverständnis präokkupiert sei, „daß unsere Volkskirche – immerhin doch nur eine historische Gestalt von Kirche – diejenigen ruft, die zu einem Volk gehören, das sie ihr eigen nennen möchten?“388 Er hält es für wahrscheinlich, dass dieses Missverständnis in dem Gefühl begründet sei, „daß die Volkskirche in der Tat zerbröckelt und daß diesem bedauerlichen Vorgang entsprechend entgegengearbeitet werden“389 müsse.390 Es geht ihm grund383 384 385 386 387 388 389 390
Ebd., 244 f. Ebd., 247. Vgl. Niesel, Gemeinde; Funke, Gestalt; Funke, Gemeinde; Weber, Gemeinde. Margull, Volkskirche, 247. Ebd. Beide Zitate ebd., 248. Kritisch auch: Heilfurth, Volksmission. Margull, Jesus, 120. Ebd. Vgl. auch Wendland, Verkündigung. Vgl. auch Margull, Jesus, 120: „Ist hier aus dem ersten christologischen Satz nicht ein Satz über unsere Kirche geworden, die es – zumal noch in ihrer gegenwärtigen Gestalt – zu retten gilt? Also ein Satz in der Richtung kirchlicher Selbstbehauptung? Ist dann die Volksmission – die Richtigkeit der Fragen vorausgesetzt – nicht eigentlich eine Selbstdemonstration der Kir-
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sätzlich darum, dass das missionarische Wirken der Kirche sich nicht selbst zur Voraussetzung habe und auch nicht auf sich selbst bezogen bleiben dürfe, sondern unabhängig vom Erhalt der eigenen, gerade gegebenen Gestalt geschehen solle. Eine Kirche könne auch dann vorhanden sein, wenn sie nicht als Volkskirche organisiert sei.391 Es zeigt sich also auch hier, dass die Volkskirche theologisch fragwürdig wird und man ihr einen maroden Zustand bescheinigt, der sich nicht ohne Weiteres beheben zu lassen scheint. Auch die volksmissionarische Arbeit gerät dergestalt in die Kritik, als dass sie kein Selbstzweck für den Erhalt der Volkskirche mehr sein dürfe, sondern vielmehr grundsätzlich und ohne Vorbedingungen auf den Nächsten, in diesem Fall, den unerretteten oder verloren gegangen Nächsten bezogen sein soll. 4.4.4 Volkskirchlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft Vor der Gründung der beiden deutschen Staaten artikulierte sich der Wille zu gesellschaftlichem Engagement und zur Verantwortung naheliegenderweise nicht gemäß geografischer Aspekte, sondern vielmehr hinsichtlich der kirchenpolitischen Zugehörigkeit der Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten. Friedrich-Wilhelm Krummacher392, nach dem Krieg zunächst Generalsuperintendent in Berlin und später Landesbischof in Pommern, konstatiert 1947, dass die Kirche „nicht mit Ansprüchen und Forderungen an die Welt herantreten“393 könne. Selbstruhm müsse ihr fern stehen, stattdessen müsse ihre Aufgabe darin bestehen, im öffentlichen Leben dienen zu wollen, „aus einer tiefen Solidarität mit der Welt, mit ihrer Schuld und Not“394 heraus. Trotz zahlreicher Anklänge an die Diskussionen in Westdeutschland ist Krummacher bezüglich des Fortbestands der Volkskirchen doch weitaus weniger optimistisch: „Uns scheint vielmehr nicht nur für Deutschland, sondern für Europa das Ende einer Epoche zu nahen, die mindestens bei Theodosius dem Großen und seinem staatskirchlichen Edikt (380) ihren Anfang nahm; darüber werden nicht nur die Staatskirchentümer, sondern auch die säkularisierten Volkskirchen alten Stils in den Staub sinken.“395
391 392 393 394 395
che, der Volkskirche? Handelt es sich dann noch um die Sendung Jesu Christi? Vielleicht wundern wir uns sehr unbegründet über die Autorität der volksmissionarischen Verkündigung, wenn sie eigentlich doch zur Volkskirche zurückruft, statt in einem großen Wagnis zu Christus hin zu rufen.“ Vgl. ebd., 122. Ein, wenn auch zeitlich späteres Beispiel für das, wogegen Margull argumentiert, ist beispielsweise: M ller, Grundfragen; M ller, Belebung. Vgl. M kinen, Mann. Zum Kontext vgl. Meier, Neuaufbau. Krummacher, Auftrag, 11. Ebd. Ebd., 15.
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Darüber, wie die Kirche in der Öffentlichkeit fortan wahrgenommen werde, würde nicht durch bestimmte Organisationsformen oder Aktivitäten entschieden, sondern vielmehr durch das Wirken der Gemeinde.396 In gewisser Weise besteht hier also schon ein Bewusstsein dafür, dass die Kirchen im Osten unter den spezifischen Bedingungen einer kirchenunfreundlichen Obrigkeit zu einem Modell und Vorbild für die Kirche insgesamt werden könne oder solle.397 Schon Anfang der 1950er Jahre lassen sich Reflexionen darüber finden, wie die sog. „Randsiedler“ der Kirche zu erreichen und besser in das kirchliche Leben einzubinden seien sowie Überlegungen über ein „latentes“ Christentum.398 Albrecht Schönherr und andere plädierten in Nachfolge Dietrich Bonhoeffers dafür, die „Mündigkeit der Welt“ anzuerkennen und das kirchliche Wirken, vor allem die Predigt, darauf auszurichten.399 Einen Einschnitt von begriffsgeschichtlicher Relevanz bedeutet der Vortrag Günter Jacobs auf der außerordentlichen Tagung der Synode der EKD im Juni 1956 in Berlin über „Raum für das Evangelium in Ost und West“. In diesem Vortrag bekräftigt Jacob das „Ende des Konstantinischen Zeitalters“, unter dessen Vorzeichen die Geschichte des Abendlandes bis in die Gegenwart hinein gestanden habe.400 „Dieses Vorzeichen bedeutet, in rohen Umrissen skizziert, das enge Bündnis von Staatsmacht und Kirche (Thron und Altar), die Identifizierung von Gesamtbevölkerung und christlicher Gemeinde, die Formung und Gestaltung aller Lebensbereiche im Kraftfeld einer mit allen Privilegien ausgestatteten Religion, die praktisch die Monopolstellung einer den Staat untermauernden und die herrschende Gesellschaftsschicht unterstützenden Weltanschauung von allgemeinverbindlichem Charakter innehatte.“401
Während im westlichen Bereich „man die auch dort wahrhaftig alarmierenden Symptome dieses Endes durch die Restaurierung traditioneller Fassaden für das öffentliche Bewußtsein noch verdecken“402 könne, solle „man sich nicht mit restaurativen Belebungsversuchen“403 darüber hinwegtäuschen, dass in Ost wie West das Ende dieses Zeitalters gekommen sei. Für die Zukunft stelle sich im ostdeutschen Zusammenhang die Frage, ob der Raum, den der mar396 Vgl. ebd.: „Es möchte sein, so dünkt uns, daß gerade dies der Auftrag der evangelischen Kirche im Osten Deutschlands an der Gesamtheit der evangelischen Christenheit in unserem Volke wäre, daß wir ohne weltliche Stützen und ohne falsche Krücken ,Kirche im Ernstfall‘ sein dürfen.“ Vgl. ferner Hermann, Rechtsfragen. 397 Vgl. auch für eine ähnliche Position Gollwitzer, Christ, 1950/51, vor allem ebd., 160–162 sowie nochmals Jacob, Weg, 1954. 398 Vgl. Jacob, Volksmission; Scharfe, Christentum; Jacob, Verpflichtung 3. 399 Vgl. Schçnherr, Predigt sowie Schmidt, Welt; zum Topos vgl. M ller, Bonhoeffer sowie zuvor schon Feil, Weltverständnis. 400 Vgl. hierzu vor allem H ttenhoff, Zeitalter; sowie zeitgenössisch Kahle, Begriff. 401 Jacob, Raum, 16. 402 Ebd. 403 Ebd., 17.
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xistische Staat der Kirche zugedenke, „wirklich der Raum sein kann, den das Evangelium in der Welt erfüllen will.“404 Während sich nämlich eine religiöse Ideologie vielleicht noch auf einen abgesteckten Bereich reduzieren könnte, gelte dies für das Evangelium gerade nicht, es „läßt sich nicht eingrenzen und lokalisieren, weder im kultischen Raum, noch in der privaten Innerlichkeit, weder im Konventikel noch im Kämmerlein.“405 Die Kirche müsse ihren Auftrag in der gesamten Öffentlichkeit erfüllen und das kirchliche Leben so gestalten, dass es sichtbar ist und bleibt.406 Das Stichwort der Volkskirche fällt hier nicht. Allerdings kann man indirekt aus Jacobs Ausführungen schlussfolgern, dass wenn auch keine Volkskirche im herkömmlichen Sinne besteht, sich die Aufgaben der Kirche nicht geändert haben, sondern im neuen Zusammenhang vielleicht die Besinnung auf diese an das ganze Volk gerichtete Berufung der Kirche noch besser möglich ist, als in dem restaurativ benebelten Westen.407 Andererseits konnte der Chefredakteur der „Zeichen der Zeit“ auch ein Jahr später noch beklagen, dass man „eben noch die Formen der Volkskirche und nicht die Freiwilligkeitsgemeinde“408 habe. Es entspann sich in der Folgezeit ein Diskurs über das Ende der Volkskirche. In Westdeutschland hat Heinz-Dietrich Wendland mit Blick auf die DDR gesagt, dass dort deutlich werde, dass „die Kirche in einem solchen System nicht als ,Volkskirche‘ alten Stils fortbestehen kann.“409 Wolle sie andererseits nicht verkümmern oder der Restauration verfallen, geschweige denn sich durch politische Ressentiments vergiften lassen, „so muß sie den Anspruch auf die öffentliche Verkündigung des Evangeliums aufrechterhalten, zugleich aber den Weg zu einer neuen Form der Gemeinde, der praktizierten Kirchlichkeit auf dem Grunde immer neuer Entscheidungen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung gehen, und das ist ein Weg der Armut und des Leidens, den viele nicht werden mitgehen können.“410
Seine Aussage sei allerdings insofern einzuschränken, als das nur diejenigen, die innerhalb der östlichen Gesellschaft lebten, „die Bedingungen für die dort
404 Ebd., 22. 405 Ebd., 23. 406 Vgl. ebd., 24. Sowie ebd., 25: „Nach dem Ende der Illusionen über das konstantinische Zeitalter und im Rückgang auf das urchristliche Zeugnis haben wir nicht das Recht, vom Staat Privilegien und Monopole zur Unterstützung des Evangeliums zu fordern. Wir können dem Staat nur sagen, welche Bewegungsfreiheiten die Kirche im Dienst des Evangeliums wahrnehmen wird, weil sie durch den Gehorsam gegen ihren Herrn dazu verpflichtet ist.“ Vgl. außerdem Jacob, Christ, 1956, vor allem 20 und Krummacher, Zeichen, 7 mit dem Hinweis, dass die Kirche für die Welt da sein müsse. 407 Vgl. übrigens auch den, auf derselben Synode gehaltenen, anders akzentuierenden Vortrag von Dietzfelbinger, Raum; Dietzfelbinger, Veränderung, 215–218. 408 Brennecke, Diakonie, 169; vgl. Knospe, Kirche. 409 Wendland, Kerygma, 50. 410 Ebd.
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zu treffenden, kirchlichen Entscheidungen ganz übersehen können.“411 Wie wurde diese Angelegenheit also unter ostdeutschen Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten Ende der 1950er Jahre diskutiert? Ehe Günter Jacob erneut konstatierte, dass es die Volkskirche alten Stils nicht mehr gebe, gab er Aufschluss darüber, was „man“ denn bislang unter diesem Begriff verstanden habe: „Wir wollten damit sagen, daß das gesamte Leben in unserm Volk in der Öffentlichkeit und in der Familie auf Grund einer tausendjährigen Geschichte doch irgendwie geprägt und gestaltet war vom Geist des Christentums, von den Grundsätzen der christlichen Ethik, aber auch von der Macht frommer Sitten und kirchlicher Gebräuche. Wir wollten damit sagen, daß das aus der Geschichte uns überkommene christliche Erbe, verwaltet von einer staatlich unterstützten und in der Öffentlichkeit des Volkes wirkenden Kirche, sich noch immer auswirkte, z. B. in der gesamten schulischen Erziehung, in den allgemein anerkannten Anschauungen über Sitte und Moral, in der Gesetzgebung zum Feiertagsschutz, aber auch innerhalb des Familienlebens, in den kirchlich geprägten Festen und Feiern bei Geburt, Schulentlassung, Eheschließung und Begräbnis. Wir wollten damit sagen, daß es in unserem Volk so etwas wie ein allgemeines christliches Klima gäbe, das die antichristlichen Strömungen und die organisierte Kirchenfeindlichkeit in offener Form ausschloß. Wir wollten also damit sagen, daß die Kirche als Volkskirche nicht zuletzt als Hüterin eines großen Kulturerbes und als moralische Erziehungsanstalt für das ganze Volk weit über den engeren kirchlichen Bereich hinaus öffentliche, vom Staat garantierte Positionen innehatte und um dieser weitgespannten Dienste willen auch die finanzielle und materielle Unterstützung durch den Staat fand.“412
Es handelt sich hierbei um eine sehr facettenreiche, pointierte Charakterisierung der Volkskirche. Die Ironie bestehe nun allerdings gerade darin, dass es sie in dieser Form nicht mehr gebe.413 Erstaunlicherweise existiere aber noch ein volkskirchlicher „Apparat“, der sich durch die Zäsuren 1933 und 1945 erhalten habe. Seiner Ansicht nach sei diese Apparatur aber ohne die notwendige Lebendigkeit, weswegen das Fazit nur lauten könne: „die Rede von der Volkskirche ist heute nichts als ein frommer Selbstbetrug!“414 Er belegt dies anhand der steigenden Zahl der Kirchenaustritte, der Verweigerung der Kirchensteuer, den Schwund im Besuch der Christenlehre, sowie die Notwendigkeit, jetzt einen „Weg zur finanziellen Mündigkeit“415 beschreiten zu müssen. Das alles sei aber kein Anlass zur Panik, das Ende des Zeitalters der 411 Ebd. 412 Jacob, Weg, 1957, 20. 413 Vgl. ebd.: „Von alledem kann heutzutage bei uns natürlich gar nicht mehr die Rede sein! Man müßte schon die letzten Jahrzehnte völlig verschlafen haben, wenn man sich nicht eingestehen wollte, daß sich die Volkskirche in diesem Sinne spätestens seit 1933 als Illusion erwiesen hat.“ Vgl. für einen anders nuancierten Überblick Scharfe, Volkskirche. 414 Jacob, Weg, 1957, 22. 415 Vgl. ebd., 25. Vgl. J nicke, Volk; Schçnherr, Zeugnis.
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Volkskirche sei keineswegs mit dem Ende der Kirche überhaupt gleichzusetzen. Der Weg des Übergangs von der Volks- zur Freiwilligkeitskirche sei vielmehr entschieden zu beschreiten. Denn man sei „im Übergang von einer kirchlichen Institution zur mündig werdenden Gemeinde der Christenmenschen. […] Es geht natürlich nicht darum, ein volkskirchliches Erbe mutwillig zu zerschlagen, krampfhaft den kleinen Konventikel der Überfrommen aufzubauen und sich in einen Schmollwinkel zurückzuziehen.“416
Es gehe im Gegenteil darum, im Zusammenbruch einen neuen Anfang zu machen. Ein anderer Berliner Generalsuperintendent, Fritz Führ417, formuliert dies ganz ähnlich: „So steht die Kirche am Anfang der neuen Zeit außerhalb der menschlichen Geborgenheit, in der sie seit dem Jahre 313 sich gewöhnt hatte zu leben, außerhalb der Geborgenheit, die ihr ja auch im zentral-europäischen Raum seit dem Reiche Karls des Großen gewährt worden war. Bei einer noch mannigfaltig – negativ und positiv – spürbaren Nachwirkung jener Geborgenheit steht die Kirche in einem Ringen, wie sie es seit dem Anfang ihrer Geschichte nicht mehr gekannt hat.“418
In einer Fußnote lehnt er die Auseinandersetzungen um die von ihm als „soziologisch“ bezeichneten Begriffe Volkskirche und Freiwilligkeitskirche ab und mahnt, dass man stattdessen sich vielmehr auf die theologische Konkretisierung des Kirchenbegriffs konzentrieren solle. Dies erfolgt bei Führ über eine positive Bezugnahme auf die Diaspora-Situation der Kirche. Diese wird bei ihm in sieben Schritten näher bestimmt. Sie sei erstens eine Kirche, die auf das Wort hört und aus ihm lebt. Dies habe beispielsweise die Bekennende Kirche auch schon befolgt. Zweitens sei sie Gemeindekirche, denn „[w]o immer aus den Gebieten evangelischer Volkskirchlichkeit jemand in die Gebiete der Diaspora alter Art kommt, kann er dem Zug zur Gemeinde hin, wenn er überhaupt die Verbindung mit seiner Kirche irgendwie halten will, nicht widerstehen.“419 Drittens sei sie auch missionierende Kirche in einer Weise, die man aus der Volkskirche nicht kenne. Viertens konstatiert er, dass eine Diaspora-Kirche keinesfalls zu einer Kirche des „Konventikeltums“ werden müsse, sondern durchaus einen Öffentlichkeitsauftrag verfolgen könne.420 Dadurch, dass die Kirche nicht mehr identisch mit der sie umgebenden Bevölkerung sei, könne fünftens wieder ein Bewusstsein dafür entstehen, dass sich ihre Botschaft an alle Menschen richte. Durch die DiasporaExistenz werde der Kirche außerdem die Bedeutung der Taufe wieder neu aufgehen. Siebtens schließlich 416 417 418 419 420
Jacob, Weg, 1957, 26 f. Vgl. das Biogramm in: Palm, Brüder, 342. F hr, Kirche, 1958, 12. Ebd., 18. Vgl. ebd., 19 f.
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„kann gesagt werden: Eine Gemeinde in der Diaspora lernt wieder, daß die Christen ,unterwegs‘ sind. Vielleicht muß das eine für uns alle sehr harte Lektion werden. Wie anders jedoch sollten sich der Kirche Kraft und Verheißung des Kreuzes nach den Worten ihres Herrn erschließen können?!“421
Der neue Anfang, den Führ eigentlich meint, entspricht also dem einer Kirche in der Diaspora. Eine Art Mittelweg, bzw. der Vorschlag für eine vorsichtige Anpassung an die neuen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen findet sich in einigen Veröffentlichungen Gottfried Noths422, des langjährigen Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens zum Thema Volkskirche. Noth behauptet nämlich, dass man auch in der DDR „noch von diesem Zeitalter [dem der Volkskirche, BB] [lebe]“ und man deswegen kaum ahne, „wie stark das Erbe dieser Zeit bestimmend ist“423; es bleibe als ein bleibender Auftrag bestehen. „Volkskirche ist auf alle Fälle zuerst eine Aufgabe und nicht ein Tatbestand: nicht die Feststellung, daß ein Volk oder eine Welt verchristlicht sind, sondern daß eine Christenheit dieses ganze Volk als ihre Aufgabe ansieht.“424
Allerdings will er nicht so missverstanden werden, als gebe es nur dieses Erbe, das es zu bewahren gelte. Denn Volkskirche heiße ferner „Diese Kirche hat eine Aufgabe in die Weite. Wenn wir nach der Volkskirche fragen, so springt die Frage jetzt auf uns selbst zurück: Hat die Kirche die geistliche Kraft, daß sie den Raum, der ihr gegeben ist, wirklich erfüllt? Sieht unsere Kirche die Aufgabe, kann und will sie sie erfüllen? Von der Antwort auf diese Frage hängt es in beiden Teilen Deutschlands letztlich ab, ob die Christenheit in unserer Welt weiter als Volkskirche bestehen kann und darf.“425
Gerade weil sie auf die Breite und in die Weite ausgerichtet sein müsse, darf sie darüber nicht vergessen, was es heißt, Kirche zu sein.426 Noth plädiert also dafür, der Volkskirche nicht aus eigenem Entschluss ein Ende zu bereiten, allerdings müsse man Acht geben, dass ihr nicht innerlich ein Ende gesetzt werde, „indem wir über der Breite vergessen, was Kirche ihrem Wesen nach ist.“427
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Ebd., 22. Vgl. auch F hr, Kirche, 1959. Vgl. Gr nzinger, Noth. Noth, Ende, 176; Noth, Volkskirche. Noth, Ende, 176. Ebd., 178. Vgl. ebd., 179: „[…] und Kirche heißt, daß sie das Wort Gottes ernst nimmt; daß sie sich nicht in einem Raum menschlicher Willkür und Zügellosigkeit bewegt, sondern daß sie sich vom Worte Gottes binden läßt auch in der äußeren Form ihres Lebens.“ 427 Ebd.
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4.5 Spannungsfeld III: Binnenkirchliche Debatten Im Zeitabschnitt dieses Kapitels wurde intensiv über das Wesen der Kirche und die Bedeutung der Volkskirche in ihr diskutiert und gestritten. Die Anforderungen einer Neu- und Umorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg waren nämlich auch ekklesiologisch zu „bewältigen“, was – im Protestantismus nicht unüblich – zu einigen Auseinandersetzungen führte, die im Folgenden mit Blick auf die Begriffsgeschichte der Volkskirche rekonstruiert und analysiert werden sollen. 4.5.1 Konfessionelle Differenzierungen im Verständnis der Volkskirche Es entwickelte sich in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs peu peu eine gewisse Dominanz des auf die eine oder andere Art von Karl Barth beeinflussten theologischen Denkens. Barth selbst hatte im April 1947 einige Überlegungen über die Kirche als „die lebendige Gemeinde des lebendigen Herrn Jesus Christus“ der Studienabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen vorgelegt.428 Den Begriff der Kirche bestimmt Barth als einen einer „dynamischen Wirklichkeit.“429 Er rede ferner von dem auferstandenen Jesus Christus und seiner ihm entgegeneilenden Gemeinde.430 Nach dieser grundsätzlichen dogmatischen Bestimmung, die ausführlicher ist, als sie hier dargestellt werden muss, kommt Barth in einem dritten Abschnitt auf die Erneuerung der Kirche zu sprechen, nachdem er vorher die Bedrohungssituation derselben konturiert hatte. Die Kirche bedürfe der Erhaltung, dies „muss aber offenbar heissen: Erneuerung ihres Seins als Ereignis, Erneuerung ihrer Begründung, Erneuerung ihrer Versammlung als Gemeinde.“431 Es sei wichtig, dass die Kirche in einem kontinuierlichen Prozess der Reformation verhaftet bleibe. Barth ist der Überzeugung, dass die Kirche ihre Erhaltung und damit auch ihre Erneuerung nicht selbst bewirken könne, sondern diese „nur von ihrem lebendigen Herrn herkommen“432 könne. Im Herrn ist die Hoffnung der Kirche: 428 Vgl. Barth, Kirche, 1947. 429 Ebd., 3. 430 Ebd.: „Das Sein der Kirche ist das Ereignis, in welchem Menschen miteinander vor die Tatsache der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung der Welt und also miteinander unter die richtende Gnade und unter das gnädige Gericht Gottes gestellt sind, um dadurch miteinander zur Dankbarkeit und also miteinander zu seinem Lob in der Liebe des Nächsten aufgerufen werden. Indem inmitten der allgemeinen Weltgeschichte, ihrer Verbindungen und ihrer Gegensätze, dieses besondere Miteinander stattfindet, entsteht und besteht die Gemeinde Jesu Christi, existiert die Kirche.“ Den Ereignischarakter der Kirche betont auch Gogarten, Kirche, 1947/48. 431 Barth, Kirche, 1947, 14. 432 Ebd., 15.
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„Dass er – er allein – ihre Hoffnung ist, das ist’s, was die Kirche in ihrer Ordnung, von der wir hier, in diesem Zusammenhang noch zu reden haben, zum Ausdruck zu bringen hat. Die Ordnung der Kirche muss auf alle Fälle so beschaffen sein, dass sie der Erneuerung der Gemeinde durch ihren lebendigen Herrn die denkbar geringsten Widerstände bietet, der durch ihn zu vollziehenden Reformation gegenüber auf der menschlichen Seite ein Maximum von Offenheit, Bereitschaft und Freiheit sicherstellt.“433
Was die Ordnung der Kirche letztlich sichtbar zu machen hat, ist die Gemeinde.434 Barth bietet hier also einen dezidiert christologisch, ja fast schon christozentrisch angelegten Erneuerungsvorschlag für die Kirche.435 Die Frage nach der neuen Ordnung der Kirche und den damit verbundenen Aufgaben kam freilich nicht zufällig auf die Agenda der Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten, befand sich der deutsche Protestantismus doch zwischen Treysa 1945 und Eisenach 1948 auf der Suche nach einem Ordnungsmodell.436 Die konfessionellen Auseinandersetzungen, die die „Konfliktgemeinschaft Kirche“ schon zu dieser Zeit prägten, können hier nicht in extenso dargestellt werden. Es sollen vielmehr einige Stellen herauspräpariert werden, in denen die Volkskirche argumentativ zur Geltung gekommen ist. So begründet Hans Joachim Iwand437 die Ablehnung der lutherischen Forderung nach einem starken Bischofsamt wie folgt: „Hingegen scheint mir nirgends ein Ansatz vorhanden zu sein, um die Überordnung des Episkopats über dem Pfarramt zu rechtfertigen, vielmehr gibt es kein dem Predigtamt übergeordnetes Leitungsamt im Sinne der lutherischen Kirche. […] Die Amtskirche ist eine Konstruktion, die darauf verzichtet, den Leib Christi in der Welt darzustellen, von der aus immer wieder die Gemeinde sich verflüchtigt, zum Objekt wird, zum ,Volk‘, mit all den Gefahren, die von da aufbrechen können und die sich im Begriff der ,Volkskirche‘ abmalen.“438
Dieses Zitat gibt einen aufschlussreichen Einblick in die Assoziationen, die für viele Mitglieder der BK sich mit der Volkskirche verbanden. Offensichtlich wird er eng verbunden mit der Vorstellung einer Amtskirche, die es versäumt, den Leib Christi auf Erden darzustellen; wie es wohl die Bekennenden Ge433 Ebd. 434 Vgl. ebd., 17: „Gemeinde heisst Gemeinschaft im Gebet und im Bekenntnis, in der Aktion der Taufe und des Abendmahls, gemeinschaftlicher Empfang und gemeinschaftliche Ausrichtung der evangelischen Botschaft. Die Kirche lebt je in diesem konkreten Ereignis und in dessen Voraussetzungen und Konsequenzen.“ 435 Ähnlich: Schlink, Versuchungsstunde; Kreck, Ordnung. Barth äußerte sich noch mehrfach in diesem Sinne, vgl. z. B. Barth, Kirche, 1948/49. 436 Vgl. Smith-von Osten, Treysa. Vgl. zeitgenössisch Schumann, Aufgaben. 437 Vgl. Lessing, Geschichte, Bd. 3, 128–133, der Iwand zu den lutherischen Barth-Schülern zählt. Vgl. außerdem Graf, Glaubenspathos. 438 Iwand, Neuordnung, 66 sowie später nochmals Iwand, Form. Vgl. außerdem Diem, Problematik; Brennecke, Eisenach; Brunner, Eisenach.
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meinden des Kirchenkampfes gemacht hätten. Außerdem führt sie zu Verflüchtigungen und zur Objektivierung der ihr anvertrauten Glieder. Diese Gefahren werden mit der Volkskirche assoziiert, ja in ihr sogar auf den Begriff gebracht.439 Diese Haltung wird auch in einer Schrift Eitel-Friedrich von Rabenaus deutlich. Von Rabenau war ein Berliner Pfarrer und während der Zeit des Kirchenkampfes ein führendes Mitglied der BK. Seine biblische und kirchengeschichtliche Untersuchung der Gemeinde ist „als Grundlage für die Reformation unserer verweltlichten Volkskirche“ gedacht, wie es der Untertitel der Schrift verrät.440 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage, warum die Kirche im Angesicht des totalen Staates so weitgehend versagt habe: „Ich bin der Überzeugung, daß es daran lag, daß unsere Kirche eine unzureichende Verkündigung und deshalb eine falsche Struktur hatte, daß es ihr an der genuinen Struktur einer christlichen Kirche, nämlich an der Gemeindestruktur fehlte. Es wird die Aufgabe der kirchlichen Erneuerung sein, daß wir verstehen lernen, was eigentlich ,Gemeinde‘ heißt und was es bedeutet, daß die Kirche aus der Gemeinde aufgebaut wird.“441
Mit anderen Worten: weil die Kirche Volkskirche war, scheiterte sie. Es schließt sich in seiner Schrift dann ein langer Abschnitt über die Geschichte und das theologische „richtige“ Wesen der Gemeinde an, ehe von Rabenau abschließend nochmals auf die Volkskirche zu sprechen kommt. Im 19. Jahrhundert sei nur sehr wenig Gemeinde im Sinne des Urchristentums anzutreffen. Ursächlich hierfür sei der mit der Kindertaufe verbundene Verzicht auf die persönliche Glaubensentscheidung, durch die es zur Bildung von Volkskirchen überhaupt erst gekommen sei: „In den sogenannten Gemeinden der Volkskirche leben Gläubige und Ungläubige, Nahe und Ferne, von Gottes Wort Erfaßte und Gleichgültige durcheinander. Und weithin ist es so, daß die Gläubigen, die vom Wort Erfaßten, zerstreut sind und nicht in der Brudergemeinschaft stehen, deren einigende Mitte das Geschenk des Wortes ist.“442
Anders baut der liberale Theologe Georg Wehrung443 sein umfängliches Werk über das evangelische Kirchenverständnis auf, das noch zur Zeit des „Dritten 439 Vgl. Niemçller, Kirche, 3: „Und diese Entscheidung [über die Gestaltung des Kirchenregiments, BB] wird unter Umständen sehr verschieden ausfallen müssen, ob es sich um eine ,lebendige‘ oder um eine ,tote‘ Kirche, um eine Volkskirche oder um eine Freikirche, um eine Kirche in einer ,christlichen‘ oder ,heidnischen‘ Umwelt […] [handelt].“ 440 von Rabenau, Gemeinde. Diese Arbeit basierte auf Vorlesungen von Rabenaus an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf im Wintersemester 1946/47. 441 Ebd., 5 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. 442 Ebd., 41. 443 Vgl. den Nachruf von Diem, Wehrung.
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Reiches“ verfasst worden war. In einem programmatischen ersten Kapitel fragt Wehrung nach dem Ort der Kirche im Volksleben, wobei er zunächst die Grenzen der staatlichen Einflussnahmen zu konturieren versucht und dann konstatiert, dass „das Amt der Kirche [ist], daß sie ein Volk vor den lebendigen, ewigen, heilig-gnädigen Gott, den Herrn über Leben und Tod, stellt, der allein verderben kann in die Hölle, aber nicht will, daß ein Sünder verlorengehe.“444 Die Kirche sei also die Trägerin der Liebe Gottes zu den Menschen. In scharfem Kontrast zur Position von Rabenaus stellt Wehrung außerdem fest, dass es grundsätzlich das Wesen der Kirche kennzeichne, dass sie zu Volk und Welt hin geöffnet sei und für deren Lasten „ein Herz und Verständnis“445 habe. Mehr noch: „Die Kirche, das sind wir Christen, die wir unser Volk lieben, ihm eine ehrenhafte Stellung unter den Völkern sichern möchten, die unter seinen Fehlern und Flecken leiden, für seine Erneuerung und Wiedergeburt beten. Die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen in einem Volk, kann sich diesem ihrem Volk nicht entziehen, sie nimmt Anteil an seinem Ergehen und an seinem Geschick, widmet sich seinem Wohl, gewiß nicht, um darüber sich selbst untreu zu werden, oder ihre innere Freiheit zu verlieren. Sie dient jeweils ihrem Volk, aber vergötzt es nicht; ihr Gesichtskreis dehnt sich von vornherein weiter aus, und ihr Maßstab ist der Gott des Evangeliums, sein heiliger Wille.“446
Die Kirche müsse ihrem Volk öffentlich, in klarer Solidarität mit der Welt, dienen. Es sei gegenwärtig keineswegs mehr selbstverständlich, von der Kirche als Volkskirche zu sprechen. „Volkskirche meint nicht eine aus dem Naturgrund des Volkes herausgewachsene Kirche, die lediglich Spiegelung ihres natürlichen Wesens wäre, sondern meint Kirche als Vermittlung neuer Kräfte, deren jedes Volkstum dringend bedarf. Die Kirche ist Volkskirche, weil sie Völkerkirche ist, und Völkerkirche so, daß sie hier wie dort Volkskirche wird, je einem bestimmten Volk zugeordnet, ihm mit ihrer Liebe und Arbeit verbunden. Im Volk und aus ihm will sie sich erbauen; so ist sie in nie stillstehender Bewegung zum Volk hin begriffen, – ein stetiger Kreislauf von Kirche zu Volk und von Volk zu Kirche ist das Rechte.“447
Das Werden der Volkskirche ist für Wehrung ein organischer, nie abgeschlossener Prozess im Wechselspiel zwischen Kirche und Volk. In bester 444 Wehrung, Kirche, 21. 445 Ebd., 22. „Die Kirche weiß, daß wie schon Ehe und Familie, so Volk und Staat zur Schöpfung Gottes gehören, die Gott bis zu der ihr bestimmten Stunde hält und trägt – nicht bloß erträgt – und mit seiner Güte überschüttet; sie sieht sich als mitverantwortlich für das Gedeihen von Familie und Volk an und sondert sich nicht in einem heiligen Bezirk gegenüber einer von Gott verlassenen Welt ab. Die Welt mit ihrer Sünde und Schuld ist für sie immer die Welt, in die Gottes Liebe hineingegangen ist, für die sie sich verzehrt hat […].“ (ebd.). 446 Ebd., 22 f. 447 Ebd., 23 f. Vgl. die Präzisierung von Wendland, Nation.
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kulturprotestantischer Manier ist die Welt, mithin das Volk ein positiver Bezugspunkt für die Kirche und vice versa. Überhaupt scheint der Volksbegriff für Wehrung kein Problem darzustellen, was vermutlich damit zusammenhängt, dass das Buch in den frühen 1940er Jahren, in jedem Fall vor Kriegsende, geschrieben worden ist. Aber auch eine Revision dieser Passagen schien nicht nötig, wobei sich womöglich einfach zu dieser Zeit auch noch keine alternativen Bezugsgrößen etabliert hatten. In jedem Fall grenzt sich Wehrung deutlich von Vorstellungen einer völkischen Volkskirche ab, man diene jeweils dem eigenen Volk, aber dürfe es nicht vergötzen. Typisch für die Zeit der Weimarer Republik ist auch Wehrungs Insistieren auf den Wert der Volkskirche für die „Volkssitte“, weswegen es eben den zweiten Teil des Begriffs, also die Kirche, stärker zu betonen gelte.448 Die kirchliche Volkssitte müsse die Familien umhegen und der Jugend „das Eintreten in das Leben der Kirche leichter machen“.449 Eine Volkskirche baue sich heute in unterschiedlichen Kreisen auf, „von denen der äußerste Kreis die Verbindung mit der kirchlichen Sitte nicht zerrissen hat, sondern sie wenigstens mit dunklen Gefühlen wertschätzt, der nächste innere Kreis am gottesdienstlichen Leben teilnimmt und etwa im Sinne der alten uns noch immer belastenden Pastorenkirche redlich mitgeht, ohne die Mühe kirchlicher Betätigung zu übernehmen, endlich der innerste Kreis, gewissermaßen der eigentliche Gemeindekern (nicht eine sich dafür haltende Kerngemeinde, die zur Abschließung neigt), sich der kirchlichen Arbeit freudig zur Verfügung hält, Zeit und Kraft dafür opfert, die Last des Ganzen aufrichtig mitträgt, ein Laienapostolat, das im Verborgenen wirkt, auf dem die Hoffnung der Kirche liegt […].“450
Die räumliche Vorstellung der Volkskirche, ebenso wie die Dreiteilung, sind typische Beschreibungsmodelle, die sich mit gewissen Modifikationen bis in die Gegenwart erhalten haben. Das nächste Ziel müsse sein, auch die äußeren Kreise stärker in das kirchliche Leben einzubeziehen und allenthalben das Bewusstsein für kirchliche Gemeinschaft zu befördern, so dass beide „zu einem lebendigen, in allen Gliedern durchbluteten Organismus zusammengeschlossen“451 werden, der sich deutlich von seiner Umwelt abhebe und überall für die Wahrheit Gottes Zeugnis ablege.452 Am Ende seiner Ausführungen über die Volkskirche weist er darauf hin, dass sich niemand die 448 Vgl. Wehrung, Kirche, 24. 449 Ebd. 450 Ebd., 25. Zum in der Regel im katholischen Kontext verwendeten Begriff des Laienapostolats vgl. Grosse Kracht, Stunde. Wechselbezüge zum in dieser Zeit aufkommenden Verständnis der Volksparteien taten sich in den Quellen dieser Arbeit nicht auf. Vgl. aber Schmeer, Hoffnungen und Stock, Volkskirche. 451 Wehrung, Kirche, 25. 452 Bezüge zur Organismusvorstellung finden sich übrigens auch bei Dibelius, Sätze, vor allem 157. Kritisch hingegen Schumann, Aufgaben, 247–249.
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Staatskirche alten Gepräges zurückwünsche. Die Begriffe seien eben nicht gleichzusetzen, auch wenn sie „eines würdigen Verhältnisses zum Staat, dessen höchste Aufgabe gerade das Volk ist“453 bedürfe. Dies sei allerdings nicht um den Preis zu erlangen, dass man sich zum Werkzeug des Staates mache, vielmehr müsse es sich um eine „freie Volkskirche“ handeln.454 Ein weiterer liberaler Theologe, nämlich Walter Bülck, legte 1949 seine Einführung in die Praktische Theologie erneut auf. Am Anfang des entsprechenden Textabschnittes äußert er sich über das Verhältnis von Bekenntnisund Volkskirche, beginnend mit der Feststellung, dass die Evangelische Kirche in Deutschland Volkskirche und damit weder Frei- noch Staatskirche sei.455 Seine Definition ist zunächst recht konventionell.456 Wie steht es mit dem Verhältnis zu einer Bekenntniskirche? In der Tat nämlich, so Bülck „kann eine Volkskirche nicht Bekenntniskirche in dem Sinn sein, daß alle ihre Glieder Bekenner wären. Sie muß auch solchen offen stehen, die noch kein positives inneres Verhältnis zu dem Bekenntnis der Kirche gefunden haben, selbst wenn dieses weitherzig verstanden wird. Eine Volkskirche muß ihre Tore weit aufmachen, um möglichst das Ganze des Volkes sich zu erhalten. Dabei darf aber nicht der rechtverstandene Bekenntnischarakter der Kirche verloren gehen. Das Handeln der Kirche muß an dem Maßstab des Bekenntnisses orientiert bleiben.“457
Hier ist sie also wieder, fast in Reinform, die Verwendungsweise der Volkskirche, die sich einen möglichst großen Teil des Volkes, eigentlich das ganze Volk erhalten will.458 Wie die Orientierung am Bekenntnis dabei konkret erfolgen soll, bleibt dabei offen. 453 454 455 456
Wehrung, Kirche, 26. Ebd. Vgl. über Wehrung auch Weber, Verständnis. Vgl. B lck, Theologie, 23. Vgl. ebd., 24: „Die Volkskirche ist dagegen Nachwuchskirche: die Kinder der Mitglieder werden durch die Kindertaufe in die Kirche aufgenommen. Ferner ist ihr wesentlich Verbundenheit mit dem Volkstum und Verantwortung gegenüber dem Volksganzen. Als Volkskirchen erheben die Deutschen Evangelischen Kirchen den Anspruch und haben sie den Willen, dem ganzen evangelisch getauften deutschen Volk zu dienen und es für das Evangelium zu gewinnen. Der volkskirchliche Charakter unserer Deutschen Evangelischen Kirchen ist weniger beeinträchtigt worden durch die Austrittsbewegung, die nach dem ersten Weltkrieg und unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zeitweise erheblich war, als vielmehr durch die Entfremdung weiter Volkskreise von der Kirche. Darum schließt der Begriff der Volkskirche in sich das Wissen der Kirche um ihre volksmissionarische Verpflichtung ein. Die Kirche soll nicht Privatsache einzelner, sondern Sache des ganzen Volkes sein, von Nutzen und Bedeutung für das gesamte Volk, mit dem Wunsch und der Hoffnung, das Volksleben mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen.“ 457 Ebd., 25. 458 Vgl. auch ebd., 29: „Wir können überhaupt gar nicht Christen an sich sein ohne Beziehung auf unser Volk, wir können nur Christen sein, die mit ihrem deutschen Volk unter Gottes Gericht sich bezeugen und das Wort der Vergebung, das sie selbst gehört, allem Volke kundzutun sich bestreben.“ Als Gegenposition vgl. beispielsweise Bartsch, Bekenntniskirche.
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Gerade solche, auf frappierende Weise an den kolportierten „Triumphalismus“ der Zwischenkriegszeit anknüpfende Aussagen waren es wohl, die einigen Theologen Unbehagen bereiteten. Von reformierter Seite ertönte immer wieder scharfe Kritik an der Volkskirche. So fragte der rheinische Pfarrer Benjamin G. Locher, ob „unser volkskirchlicher Ueberrest früherer Landes- und Staatskirchen zu selbstgerecht [ist], um sich von denen beraten zu lassen, die auf dem Wege zu einer freien Kirche uns jedenfalls in diesen Dingen ein gutes Stück Weges voraus zu sein scheinen?“459 Locher bezweifelt, dass der Wille vorhanden sei, die „volkskirchliche Scheinexistenz“ endlich aufzugeben.460 An anderer Stelle sahen die „Stimmen der Zeit“ die organisierte Kirche vor der Alternative „Pastorenkirche oder Bruderkirche?“461 stehen. Karl Gerhard Steck462 verstand die Popularität der Volkskirche als Teil der Reaktion, beziehungsweise der Restauration der überkommenen Strukturen.463 Die Gelegenheit, ein „Neues zu pflügen“464, dürfe aber nicht versäumt werden. Gleichwohl gebe es innerhalb „unserer Kirche […] aber zugleich eine zähe Tradition und ein überstarkes Erbe […], die um jeden Preis zur Restauration und Reaktion, zur Wiederherstellung der früheren Zustände drängen.“465 Man dürfe nun aber nicht wie schon 1918 und nach 1934 alles beim Alten lassen. Steck lässt dann eine grundlegende Besinnung darüber, was Kirche eigentlich sei, folgen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sie zum einen der Leib Christi sei und zum anderen und als solcher „Gemeinschaft und Gemeinde, Organismus und Organisation der Glieder an diesem Leibe.“466 So verstanden könne die Kirche ihren Ursprung nämlich nicht in irgendwelchen irdischen Gegebenheiten, wie etwa dem Volk, haben.467 Im Gegensatz zu den oben zitierten liberalen Theologen plädiert Steck dann für eine klare Abgrenzung der Zugehörigkeit. Die Initiativen derer aus dem Umkreis der BK, die auf die Volkskirche verzichten wollten, wurden allerdings zum Teil auch scharf kritisiert, wie ein besonders scharfzüngiges Beispiel, das passenderweise in einer Festschrift für Otto Dibelius erschien, zeigt: „Diese Tendenz [gegen das Weiterbestehen der Kirche als sog. Volkskirche, BB] ist allenthalben im Gange und sieht sehr fromm aus. Man will – vielleicht unbewußt – die Ecclesia proprie dicta selber schaffen, manchmal sogar mit äußeren Mitteln. Diese Tendenz geht aber sowohl an der Verborgenheit des Reiches Christi in der Kirche als an dem Teufelsreich in der Kirche vorüber. Mit der Aufgabe der Volkskirche ist faktisch gar nichts erreicht; denn auch in einer noch so einge459 460 461 462 463 464 465 466 467
Locher, Ecclesia, 56. Vgl. ebd. Knorr, Pastorenkirche. Vgl. Stoodt, Steck. Zu diesem kolportierten Charakterzug dieser Zeit vgl. Dirks, Charakter. Hos 10, 12. Steck, Grund, H. 1, 5. Ebd., 7 [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Vgl. ebd., 8. Vgl. ferner K ppers, Aufgabe; Niemçller, Kirche; Vogel, Wesen, 41–51.
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engten Kirche breitet sich dennoch der Teufel aus. […] Letztlich würde mit einer Preisgabe der Volkskirche nichts, aber auch gar nichts erreicht werden. Man sollte auch nicht übersehen, daß Luther nur ein einziges Mal von der Sammlung derer, die mit ,Ernst Christen sein wollen‘ gesprochen hat und daß er sich gerade dieses eine Mal nicht imstande gesehen hat, eine derartige Sammlung einzuleiten. Die Tendenz zur Aufgabe der Volkskirche dürfte auf einem schwärmerischen Kirchenbegriff basieren, der weder mit der Verborgenheit des Reiches Christi ernst macht, noch mit dem Regnum diaboli in der Kirche.“468
Vernichtender kann ein Urteil wohl kaum ausfallen, zumal mit dem Schwärmertum ein auf Luther zurückgehendes negatives Label verwendet wird.469 Die Volkskirche, so kann man Gerhard Jacobi470, den Verfasser dieser Zeilen wohl verstehen, komme dem Kirchenbegriff Luthers und der lutherischen Bekenntnisschriften wohl immer noch am nächsten.471 Alfred Adam, der ja ebenfalls in der BK tätig gewesen war, lehnte eine vollständige Dispensierung der Volkskirche ebenfalls ab. Auch gewissen Verbesserungsvorschlägen steht er kritisch gegenüber. Die Umwandlung der Volks- in eine Freikirche und damit die Ersetzung der Kinder- durch die Erwachsenentaufe sei kein überzeugender Vorschlag, denn auch die Freikirchen würden ein Altwerden kennen und dann erneut einer Volkskirche ähnlich werden. Ein zweiter Vorschlag setzt beim kirchlichen Wahlrecht an: „nur wenn volle Demokratie herrsche, sei das Prinzip der Volkskirche ganz durchgeführt.“472 Allerdings sei die Kirche noch nie durch die Veränderung des Wahlrechts verbessert worden. Der dritte Vorschlag, der in etwa die Abschaffung der Kirchensteuer vorsieht, packe das Problem nicht an der Wurzel, sondern behandle vielmehr nur eine Auswirkung desselben.473 Er kommt folglich zu dem Fazit: „Bedenken wir alles recht, so scheint uns die vorhandene Form der Volkskirche immer noch die beste Möglichkeit zu sein, daß Gottes Wort unserem Volke angeboten wird. Der Herr der Geschichte sorgt selbst dafür, daß wir uns dabei nicht beruhigen, sondern ständig auf die Erneuerung der überlieferten Formen bedacht sein müssen.“474
468 Jacobi, Lehre, 73. Im Ganzen nüchterner ist der Ton bei Hermann, Begriff, zur Volkskirche ebd., 16 f. 469 Vgl. nur Peters, Luther; Leppin, Schwärmer. 470 Vgl. Nicolaisen, Jacobi. 471 Vgl. auch Althaus, Grundriß, 169–173, der allerdings auch auf die Gefahren der Volkskirche hinweist. Diese könne jedenfalls „nur dann christlich bleiben, wenn auf dem Boden der Volkskirche durch rechte Verkündigung und um sie ,Kerngemeinden‘ sich bilden, die ihre Aufgabe darin erkennen, um die Erweckung und Verlebendigung der großen, allen offen bleibenden Volkskirche zu ringen.“ (ebd., 170). 472 Adam, Volkskirche, 627. 473 Vgl. zur Kirchensteuer zu dieser Zeit Ehlers, Theorie; Pabst, Kritik; Schade, Kirche. 474 Adam, Volkskirche, 627.
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Erneuerung ja, aber eben im Rahmen der gegebenen Ordnung der Volkskirche: Adams Ausführungen unterstreichen, wie problematisch im Hinblick auf die Verwendungsweisen der Volkskirche kirchenpolitische Labels sind. Hier muss stets genau differenziert werden, es gibt keine eindeutigen Semantiken, mit identischen Verwendungsweisen von Begriffen, sondern vielmehr semantische Felder, in denen durchaus kontroverse und konfligierende Auseinandersetzungen stattfanden.475 Die Kirche war wohl in der Tat eine ungelöste Frage des Protestantismus, der ja nicht auf lehramtliche Entscheidungen wie die römisch-katholische Kirche zurückgreifen konnte.476 Wirklich retardierend wirkten sich jedenfalls die entschieden ablehnenden Positionen nicht aus, was nicht zuletzt an der zunächst erfreulichen und von vielen ja auch durchaus begrüßten Entwicklung hinsichtlich des institutionellen Wiederaufbaus der Kirche und den vielfältigen Entfaltungsspielräumen, die sie hierdurch erlangte, gelegen haben mag.477 Dies belegt etwa auch die interessante Tatsache, dass das Lemma zur Volkskirche im Evangelischen Soziallexikon aus dem Jahr 1954 noch von Helmut Gollwitzer verfasst werden konnte und dieser sich im Eintrag durchaus wohlwollend zur selbigen äußerte.478 4.5.2 Der Blick von außen: Volkskirche als spezifisch deutsche Organisationsform von Kirchlichkeit Um die Mitte der 1950er Jahre, also in der Blütezeit dessen, was man mit Anselm Doering-Manteuffel und anderen die „Westernisierung“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft nennen kann, verglichen einige Theologen die volkskirchliche Situation in der Bundesrepublik mit der religiösen Lage in 475 Vgl. beispielswiese auch Wolf, Rechtsgestalt; vgl. auch Wolf, Kirchenbegriff; Kinder, Kirchenbegriff; Kinder, Glaube. 476 Vgl. Brunner, Christusgemeinde; Brunner, Missverständnis. Vgl. zu diesen Fragen außerdem Wehrung, Theologie. 477 Vgl. Herntrich, Kirche, 1953, 294: „Der Kirchentag hat vielmehr auf eine einzigartige Weise gezeigt, welches Reservoir von Kräften heute in der Volkskirche vorhanden ist. Das ist das eigentlich Erstaunliche: Die Volkskirche ist nicht tot […].“ [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Zur reformierten Sicht vgl. Kolfhaus, Volkskirche mit einer ähnlichen Schlussfolgerung wie Alfred Adam: „Es liegt mir fern, unserer Volkskirche einen Ehrenkranz flechten zu wollen. Aber sie hat Gottes Verheißung […].“ (ebd., 166) sowie Lçwe, Gaben. 478 Vgl. Gollwitzer, Volkskirche, 1091: „Die Kirche soll und darf die volkskirchl. Situation weder eigenmächtig zugunsten einer ,freikirchl.‘ beenden noch sich an sie klammern und ihre Weiterdauer durch Konzessionen an Staat und Volksmeinung erkaufen; in jeder Lage aber soll sie Kirche für alle sein.“ Das ist zwar keineswegs gänzlich unkritisch, aber doch weitestgehend den Mainstream wiedergebend, worin natürlich auch die Aufgabe eines solchen Lexikonartikels besteht. Gleichwohl besteht Grund zur Annahme, dass Gollwitzer in den 1960er Jahren eine solche Aufgabe nicht angenommen, oder aber sie gänzlich anders ausgefüllt hätte. Zum Wandel der Begrifflichkeit vgl. Brunner, Avantgarde.
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den USA.479 Die USA hatten als Vorbild und Kontrastfolie für die bundesdeutsche Gesellschaft eine besondere Bedeutung. Ein prägnantes Beispiel stellt der 1949 von Hermann Diem verfasste Bericht über dessen AmerikaReise dar, der in der Reihe „Theologische Existenz heute, Neue Folge“ erschien; es ging bei der Veröffentlichung also um die theologischen Implikationen dieser Reise.480 Ein Missverständnis, welches Diem den Amerikanern austreiben möchte, besteht in der Annahme, dass es in Deutschland eine Staatskirche gebe, die sich von den amerikanischen Freikirchen unterscheide. Zutreffender sei es, so Diem, die Volkskirche von der Freikirche zu unterscheiden und damit die unterschiedlichen Religionslandschaften per se auf den Begriff zu bringen.481 An anderer Stelle schildert Diem dann die Probleme, die es in amerikanischen Gemeinden für die Pfarrer gebe, ihre Gemeinden zu aktivieren und zur Mitarbeit anzuregen. Als deutscher Beobachter könne man sich die Sache sehr leicht machen und sagen: „Man sieht eben doch die Vorteile unserer volkskirchlichen Verhältnisse, wo Parochialzwang, Kirchensteuer, zentrales Kirchenregiment und Landeskirchentum die einzelnen Pfarrer und Gemeinden tragen und ihre ephemere Existenz überdauern. Natürlich habe auch ich mich angesichts der Problematik der amerikanischen Freikirchen auf die Vorzüge der Volkskirche besonnen; und wenn ich je in Gefahr gewesen wäre, die ganze Misere unseres deutschen Kirchenwesens nur in seiner volkskirchlichen Struktur zu sehen und die Rettung in der Freikirche zu suchen, wie es heute so manche unter uns tun, dann wäre ich in Amerika eines Besseren belehrt worden.“482
Dort zeige es sich nämlich, dass alle belastenden Nachteile der Volkskirche sich auch in den Freikirchen niederschlügen.483 Ferner konstatiert er, dass man „hüben wie drüben“ gar keine Wahl hätte, sondern vielmehr in den gegebenen Rahmenbedingungen wirksam werden müsse. Der Hamburger Landesbischof Volkmar Herntrich nahm die Weltkirchenkonferenz in Evanston, Illinois zum 479 Zur Westernisierungsthese vgl. nur Doering-Manteuffel, Deutschen; Doering-Manteuffel, Westernisierung sowie instruktiv wenn auch nicht erschöpfend Sauer, Westorientierung. 480 Es wäre durchaus reizvoll, den Amerikabildern des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert einmal grundlegend nachzugehen; in den wesentlichen Darstellungen zur Amerikanisierung sowie zum Anti-Amerikanismus ist die religiöse Komponente meist ausgespart. Es lässt sich jedoch konstatieren, dass „Amerika“ ein wichtiger intellektueller Bezugspunkt für protestantische Intellektuelle gewesen ist. 481 Vgl. Diem, Amerika, 17. 482 Ebd., 21. 483 Vgl. ebd.: „[…] das Fehlen der Kirchenzucht und damit die Unverbindlichkeit der Verkündigung, was sich z. B. in denselben Mißständen der Kindertaufpraxis auswirkt wie bei uns und zu dem ,Problem der zweiten Generation‘ führt. Auf der anderen Seite fehlen aber die Vorteile, welche uns die Volkskirche gibt: daß wir es leichter haben, den Anspruch Christi auf die Welt zu bezeugen und daß wir weniger leicht in den schwärmerischen Fehler verfallen, die Kirche in einem Kreis gläubiger Personen sichtbar machen zu wollen usw.“
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Anlass für einige Überlegungen zur Volkskirche. Ähnlich wie Diem stellt Herntrich fest, dass das amerikanische Christentum weder das Staatkirchennoch das Volkskirchentum kenne. Der amerikanische Christ unterscheide sich aber doch recht deutlich vom Durchschnittschristen in Deutschland oder auch in einem der skandinavischen Länder mit einer Volkskirche. Er wisse besser Bescheid über den Glauben und sei auch bereit, tatkräftiger mit anzupacken. Den Amerikanern werde dadurch besonders bewusst, dass diese Kirchenform „doch noch irgendwie im Windschutz des Staates“484 lebe. Im Weiteren spricht Herntrich dann von einer Volkskirchlichkeit außerhalb der institutionellen Grenzen der Volkskirche, die auch durch die Zeit des Nationalsozialismus nicht wesentlich gemindert worden sei. Schon die geistesgeschichtliche Wendung der Französischen Revolution habe „jenen merkwürdig stoßweise weitergehenden Gang der volkskirchlichen Bewegung nicht aufzuhalten vermocht.“485 Ein Blick auf die Situation mancher Gemeinde verbiete es zwar, die volkskirchliche Problematik kleinzureden. Dabei dürfe aber Folgendes nicht vergessen werden: „Innerhalb jener breiten volkskirchlichen Vorwärtsbewegung, die wir eben anzudeuten versuchten, hat sich in Freiwilligkeit eine Sammlung der Gemeinde um den Gottesdienst und die Verkündigung des Wortes vollzogen, die mit dem üblichen volkskirchlichen Maß gar nicht mehr zu messen ist.“486
Dies sei in den Jahren des „Dritten Reiches“ noch intensiviert worden, womit Herntrich im Grunde denjenigen aus der BK den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht, die eine freikirchliche Lösung favorisierten. Damit trifft er freilich einen wunden Punkt, den es im Folgenden deutlich herauszustellen gilt. Bis auf den „dahlemitischen Flügel“ war nämlich auch kaum jemand in der BK bereit gewesen, auf die volkskirchlichen Vorzüge zu verzichten.487 Die Kritik eines Amerikaners, dass die Deutschen tendenziell nur Theologen des Evangeliums seien, müsste ebenfalls sehr ernst genommen werden, bestehe doch heute die Gefahr zu „Virtuosen des Außergewöhnlichen zu werden.“488 Zwar wisse man, wie eine Kur durchzuführen sei, „aber wir verstehen nicht mehr, in der Ortsgemeinde gesund zu leben.“489 In einem Bericht vor seiner Landessynode soll Bischof Herntrich dann im Juni 1958 gesagt haben:
484 Herntrich, Gemeinde, 232. 485 Ebd., 233. Dort weiter: „Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die Merkmale zusammenzustellen, die dieser Fortgang selbst im Bereich totalitärer Bewegungen noch aufzuweisen hat.“ Das war wohl auf die Entwicklung in der DDR bezogen. 486 Ebd. 487 Vgl. ebd.: „Wichtig ist, daß bestimmte Gestaltungsformen jener ,Freiwilligkeitsgemeinden‘ in den volkskirchlichen Gemeinden nicht unwesentlich von der Situation des Kirchenkampfes bestimmt sind.“ Vgl. hierzu Harder, Bedeutung. 488 Herntrich, Gemeinde, 234. 489 Ebd.
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„Meine amerikanischen Einblicke haben mich gelehrt, welche weiten Möglichkeiten die Volkskirche bietet, jene Gestalt europäischen und insbesondere deutschen Kirchentums zwischen den Extremen der Staatskirche einerseits und der Freiwilligkeitskirche andererseits. Volkskirche hat die unübersehbare Chance, Kirche des weiten Angebots und der geöffneten Türen, Weg zu den Menschen und Brücke des Vertrauens zu sein.“490
Der Blick auf das amerikanische Christentum und die dort gemachten Erfahrungen und Einblicke dienten also dazu, die Volkskirche als das ausgewogenste und nützlichste Programm hervorzuheben, auch wenn die Frage danach, was theologisch gesehen das Richtige sei, hierbei in den Hintergrund geriet. Während es sich bislang um deutsche Theologen und kirchenleitende Persönlichkeiten handelte, die ihren Blick auf das Christentum in Nordamerika artikulierten, handelt es sich beim dritten Beispiel um einen amerikanischen Pfarrer. Carl Mau, dessen Vater, ein schleswig-holsteinischer Pfarrer, 1907 in die USA ausgewandert war, studierte an verschiedenen Universitäten in den USA unter anderem Theologie und wurde 1946 in der EvangelischLutherischen Kirche in Amerika ordiniert.491 Am Ende seiner Zeit als Pfarrer in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers veröffentlichte Mau so etwas wie einen Erfahrungsbericht, der insofern instruktiv ist, als dass er eine Sicht auf die Volkskirche „von außen“ bietet, also von jemandem, der nicht in einem volkskirchlichen Kontext sozialisiert worden ist. Es sei für ihn so gewesen, dass er oft die deutsche Situation mit der in den USA, die er als die einer Freiwilligkeitskirche bezeichnet, verglichen habe. Hinsichtlich der übergemeindlichen Arbeit der unterschiedlichen kirchlichen Einrichtungen könnte man in den USA noch viel lernen. Aus einer Freiwilligkeitskirche kommend „findet man in Deutschland ungefähr das Gegenteil von dem vor, was einem zumindest als Ideal vorschwebt.“492 Hierbei sei etwa an die sehr großen Gemeinden zu denken, sowie an die niederschlagenden Erfahrungen, die der einzelne Pfarrer bei der Betreuung dieser „Mammutgemeinden“493 mache. Zu viele Aufgaben und eine allzu große Last lägen auf den Schultern des Pfarrers; das weithin noch praktizierte „1-Mann-System“494 hinterlasse hier seine Spuren. Erschwerend komme hinzu, dass es den Laien oftmals nicht gestattet werde, wirkliche Verantwortung für die Gemeinden zu übernehmen. Zuletzt und damit zusammenhängend, meint Mau einen Mangel an christlichem Gemeinschafts490 O. A., Bischof. 491 Mau war zunächst im Gemeindeaufbau in Oregon tätig, ehe er als Berater für den Lutherischen Weltbund in Deutschland zu arbeiten begann. Von 1950 bis 1957 war er als Pastor in der hannoverschen Landeskirche tätig und ging 1957 wieder zurück in die USA. Von 1974 bis 1985 war er Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes. 492 Mau, Volkskirche, 1957, 191. 493 Ebd. 494 Ebd.
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gefühl in den Gemeinden ausmachen zu können.495 Diesen negativen Dingen stellt er freilich auch einige positive Aspekte der westdeutschen Volkskirchlichkeit gegenüber. So sei es etwa bewundernswert, wie intensiv deutsche Pfarrer theologisch arbeiten würden. Dies werde in Deutschland zwar viel kritisiert, umso wichtiger scheint ihm aber die Tatsache, dass man auch das Positive daran hervorhebe. Ähnliches könne auch über die vielfältigen Bemühungen hinsichtlich der Predigt gesagt werden.496 Erst wenn man sich einige Zeit in Deutschland aufgehalten hat, „erkennt man in ihrem ganzen Ausmaß die faszinierende Möglichkeit, die eine Volkskirche zur Erreichung der Menschen bietet. Sehr schnell lassen sich die besseren Bedingungen aufzeichnen, unter denen die deutsche497 Kirche ihre Arbeit im Vergleich zu Amerika tun kann. In Deutschland hat die Kirche die Möglichkeit, praktisch alle Kinder des Volkes zu taufen und ihnen Religionsunterricht zu geben. Auf diese Weise kann sie praktisch in engem Kontakt mit allen Schichten des Volkes bleiben. Ein weiterer Kontaktpunkt ist die Fülle der verschiedenen Amtshandlungen, die sicherlich oft als eine große Last empfunden werden, andererseits aber ungeahnte Möglichkeiten bieten.“498
Wenig überraschend kommt also auch Mau zu der Schlussfolgerung, dass eine Selbstpreisgabe der Volkskirche ein Fehler wäre. Freilich hätten beide Formen Vor- und Nachteile, weshalb man in der hannoverschen Landeskirche Versuche unternommen habe, Volks- und Freiwilligkeitskirche miteinander ins Gespräch zu bringen, um einen wechselseitigen Lernprozess in Gang zu setzen.499 In einem ähnlichen Aufsatz, der zwei Jahre später erscheint, insistiert Mau dann noch stärker auf die Notwendigkeit eines solchen Lernprozesses für die deutschen Volkskirchen. Im Vergleich mit Amerika scheint Mau „das Geheimnis des erforderlichen Wandels da zu liegen, daß die Volkskirche ihren Gemeindegliedern nicht nur in Synoden oder in der Verwaltung von Kirche und Einzelgemeinde und vor allem nicht nur in den Kirchenordnungen, sondern in der Praxis des Gemeindealltags wirkliche Verantwortung gibt.“500
Die Belebung der Ortsgemeinde und die Aktivierung der Laien sind seiner Ansicht nach entscheidende Aufgaben der Volkskirche – eine Meinung, mit
495 Vgl. ebd., 192. 496 Vgl. ebd.: „Bei dieser Gelegenheit ist vor allem für den Beobachter von draußen bemerkenswert das vielfältige Ringen um neue Wege der Verkündigung und Gemeindearbeit überhaupt. Es ist nicht von ungefähr, und man darf nicht ohne weiteres darüber hinweggehen, daß diese so traditionsbeladene Kirche in erstaunlicher Weise in den letzten Jahren versucht hat, neue Wege zu finden, und auch den Mut aufbrachte, diese neuen Wege zu beschreiten.“ 497 Mau meint ausschließlich die Kirchen in Westdeutschland. 498 Mau, Volkskirche, 1957, 192 [Hervorhebung im Original, BB]. 499 Vgl. ebd., 193. 500 Mau, Volkskirche, 1959, 221.
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der Mau keineswegs allein dastand.501 Um hierbei Fortschritte zu machen, so plädiert er erneut, sei der Austausch zwischen volkskirchlichen und freiwilligkeitskirchlichen Organisationsformen sehr wichtig. Dieser Außenperspektive der Volkskirche wäre noch weiter nachzugehen. Hier kann nur festgehalten werden, dass der Blick von außen zu diesem Zeitpunkt die Legitimität der Volkskirche kaum in Frage gestellt wurde. Das sollte sich in der folgenden Dekade rasch ändern. 4.5.3 Inkubationszeit des Wandels Seit Mitte der 1950er Jahre wurde verstärkt dem Bewusstsein Ausdruck verliehen, dass nunmehr eine Zeit des Wandels für die Kirche, die unfertige Kirche, wie sie manchmal genannt wurde, angebrochen sei; eine Zeit der permanenten Krise hob an.502 Auch in kirchlichen Kreise wurde nun verstärkt über die Kritik an der Kirche und der Möglichkeit ihrer Wandlung gesprochen, wodurch insbesondere der so bezeichnete Parochialzwang gemeint war.503 Joachim Beckmann, seit 1958 Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, veröffentlichte 1959 eine gründliche Analyse der Wandlungen, die bis in die Gegenwart für eine „glanzvolle Fassade“ des kirchlichen Lebens in der Bundesrepublik gesorgt hätten. In der jüngeren Vergangenheit aber gehe „durch viele Herzen eine tiefe Beunruhigung über die Entwicklung, die sich hinter dieser Fassade abspielt.“504 Da Beckmann hier Überzeugungen zusammenfasst, die für die Entwicklung der historischen Semantik relevant werden sollten, ist sein Aufsatz von zentraler Bedeutung für das zeitgenössische Verständnis des Begriffs. Es bestehe eine große Verlegenheit, wenn man nach den Gründen für die fortschreitende Entkirchlichung der Christenheit in Europa frage, die einen erheblichen Substanzverlust mit sich bringe. Auch wenn der Kirche noch keine offene Feindschaft entgegengebracht werde, sei doch ihr gegenüber allenthalben eine nicht unerhebliche Gleichgültigkeit zu 501 Vgl. Diem, Ortsgemeinde; M ller, Belebung; Herrenbr ck, Kirche; Niemçller, Gemeinde sowie Schmitz, Grenze. Es sei, so merkt Schmitz an, auch während des Kampfes der Kirche gegen die „Unkirche“ in der Hitlerzeit ausgeblieben, dass nach den Grenzen der Gemeinde gefragt worden sei. „Vielleicht hängt das damit zusammen, daß der Kirchenkampf auf dem Boden einer ,Volkskirche‘ geführt werden mußte, die sich erst durch diese Krisis auf dem Weg zur ,Gemeindekirche‘ geführt sah.“ (ebd., 6, Anm. 1). 502 Vgl. Bartning, Kirche; Maurer, Kirche; Elliger, Grundfragen; ferner Hauschild, Kirche, vor allem 63–72 (Kontinuität und Wandel der Volkskirche). Hauschild meint mit dem Begriff der Inkubationszeit den Zeitraum von 1961 bis 1979, ich plädiere dafür, ihn schon auf die späten 1950er Jahre auszuweiten. 503 Vgl. z. B. Niemçller, Kritik; Kinder, Verständnis; Vogel, Reformation; Gollwitzer, Mitleiden; Stammler, Kirche; Westermann, Wandelbarkeit; zur Kritik am Parochialzwang vgl. Tebbe, Bindung sowie in aller Deutlichkeit St hlin, Territorial-Häresie; Mumm, Parochie. 504 Beckmann, Wandlungen, beide Zitate ebd., 16.
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spüren. Die Christen empfänden in steigendem Maße die Notwendigkeit, sich mit den Hintergründen dieser Entwicklung zu befassen und „nach Erkenntnis der Wirklichkeit der Lage der Kirche und der Gründe für die Krise der Volkskirche in unseren Tagen zu suchen und zu erörtern, was etwa von uns getan werden kann, um der gefährlichen Lethargie der Christenheit zu begegnen.“505 In einigen grundsätzlichen Ausführungen schließt sich Beckmann der bereits geschilderten Meinung an, die in der Umwandlung von einer Volks- zu einer Freiwilligkeitskirche nicht die Lösung des der Kirche gestellten Problems erblickt.506 Es gebe ausreichende Gründe, das volkskirchliche Erbe zu bejahen: „Wir tun das nicht aus ,Tradition‘, obwohl uns die Tradition auch Gabe und Vermächtnis ist. Wir tun es nicht aus Faulheit oder Angst vor neuen Verhältnissen mit einem schlechten Gewissen, sondern aus theologischen Gründen. Mit guten theologischen Gründen bejahen wir nach wie vor die Volkskirche, weil uns der neutestamentliche Kirchenbegriff das Recht dazu gibt. Im Missions- und Taufbefehl Matth. 28 ist Volkskirche offenkundig ins Auge gefasst. […] Wir sind vom Herrn berufen, die Völker zu seinen Jüngern zu machen. Und dieser Auftrag bleibt ständig gegenwärtige Aufgabe der Kirche in den Völkern der Welt.“507
Beckmann greift also zwei der Aspekte auf, die bereits als wesentliche Komponenten des auf die Gesellschaft bezogenen Volkskirchenbegriffs herausgearbeitet worden sind. Dass die Praxis der Kindertaufe keineswegs theologisch unumstritten gewesen ist, verschweigt er allerdings. Und es ist zunächst einmal auch nicht mehr als eine Behauptung, dass der Missionsbefehl durch eine Volkskirche am besten befolgt werden könne. Gleichwohl ist hervorzuheben, dass Beckmann großen Wert darauflegt, dass es sich eben um eine theologische und nicht eine sonst wie geartete Begründung für den Fortbestand der Volkskirche handelt. Gleichzeitig scheint es ihm erforderlich zu sein, zwei semantische Abgrenzungen vorzunehmen. Zum einen von nationalkirchlichen Vorstellungen, denn man wisse, dass die Volkskirche „nicht Kirche des Volkes, sondern für das Volk und inmitten des Volkes“508 sei und die Begrenzung auf eine Nation damit obsolet geworden sei. Niemals könne es zu einer Identität zwischen Kirche und Volk kommen. Eine Nationalisierung der Kirche habe noch immer am Evangelium wie auch an den Nationen selbst scheitern müssen und die Verderblichkeit dieser Tendenzen für Kirche und Volk sei evident. Zum anderen müsse es eine rechte Trennung zwischen Kirche und Volk geben, weshalb auch nicht mehr von der Deutschen Evangelischen Kirche, sondern eben von der Evangelischen Kirche in Deutschland zu spre505 Ebd. 506 Vgl. ebd.: „Wir können unserer Geschichte nicht […] entgehen […], durch Ausweichen in freikirchliche Gemeinschaften.“ 507 Ebd., 17. 508 Ebd.
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chen sei. Beide Sphären seien nämlich in ihrem Wesen, Auftrag und Dienst grundverschieden.509 Es folgt dann relativ ausführlich eine sog. „Genealogie der Volkskirche“. Seinen Ausgangspunkt nehmen seine Überlegungen bei der sog. „Konstantinischen Wende“, die zu einer engen Verbindung zwischen Kirche und Staat geführt habe. In Folge der Christianisierung der germanischen Völker hätten sich auch dort Volkskirchen gebildet. Auch die Reformation habe daran nichts grundlegend verändern wollen.510 Im 19. Jahrhundert erst hätten sich die entscheidenden Entwicklungen hin zu einer Auflösung der bisherigen Volkkirche vollzogen: „Infolge der Aufklärung, der französischen Revolution, der philosophischen und literarischen Ereignisse um die Jahrhundertwende mit ihrer Abkehr vom Christentum, vor allem im Bereich der führenden Schichten Europas, wurde die neue Gesellschaftsordnung bürgerlich-humanistisch, die Bildungsschicht wurde entchristianisiert, während sie noch daran festhielt, zur Kirche zu gehören, und es für richtig hielt, daß dem Volke die Religion erhalten blieb.“511
Hinzukommend habe die Entwicklung eines „Industriearbeiterstandes“ dazu geführt, dass die Volkskirche erneut weitreichende Bevölkerungsteile verlor. Die Kirche habe es nämlich nicht vermocht, diesen neuen Stand zu integrieren.512 Ferner habe der ungeheure technologische Fortschritt für einen „tiefgreifenden Wandel der überlieferten Weise […] zu leben“513 gesorgt. Da die Volkskirche ganz in diese Ordnungen eingepflanzt gewesen sei, „mußte eine Zerstörung dieser menschlichen Ordnung für die Volkskirche von schwerwiegenden Folgen sein. Es ist nicht verwunderlich, daß seit dieser Zeit das Problem der Volkskirche diskutiert wird, daß es jetzt die ,Konfirmationsnot’ gibt.“514 Zu wirklichen Veränderungen sei es erst mit dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments im Zuge der Revolution von 1918/19 gekommen. Trotz der avisierten und auch in der Weimarer Reichsverfassung festgeschriebenen Trennung von Kirche und Staat sei es gelungen, „die Kontinuität der Volkskirchen zu retten.“515 Hierin sieht Beckmann die Ursache dafür, dass die evangelischen Volkskirchen 1933 zunächst mit wehenden Fahnen das NSReich begrüßt hätten. Man meinte, „die große Stunde der Volkskirche des 509 Vgl. ebd. 510 Ebd., 18: „Man dachte gar nicht daran, das einheitliche volkskirchliche christliche Abendland durch eine Änderung der kirchlichen Struktur in der Richtung einer Unterscheidung von Volk und Kirche, durch Trennung kirchlicher und weltlicher Ordnung und Obrigkeit zu verwandeln.“ 511 Ebd. 512 Vgl. ebd., 20: „Der große Gedanke der Inneren Mission im Sinne Wicherns scheiterte an der konservativen Einstellung der Kirche, ihrer Pastoren und Kirchenleitungen unter dem landesherrlichen Kirchenregiment.“ 513 Ebd. 514 Ebd. 515 Ebd.
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neuen Reiches“516 habe nun geschlagen. Die Führung des neuen Reiches habe sich allerdings immer mehr als eine Gegnerin der Kirche herausgestellt und habe „eine deutsche ,entjudete‘ ,Volkskirche‘ schaffen“ wollen, die von der NSWeltanschauung geprägt sein sollte. Beckmann erwähnt an dieser Stelle nicht, dass diese Bestrebungen durchaus auch aus den Reihen der Kirchen selbst gekommen sind und die Nationalsozialisten zunächst keine Mühe hatten, auf kirchliche Sympathisanten zurückzugreifen. Den Kampf zwischen totalem Staat und Volkskirche habe die letztere überlebt, während das „Dritte Reich“ vernichtet worden sei. Für die Wandlungen nach 1945 müsse man den Westen von dem Osten klar unterscheiden. Im Westen sei es zu einer „landeskirchlichen Restauration“517 gekommen, in der die Bekennende Kirche untergegangen sei, da man „keine ,bekennenden‘ ,Freikirchen‘, sondern zurück zur überlieferten, inzwischen staatsfrei gewordenen und nun zu neuer Freiheit gelangten Volkskirche“518 gewollt habe. Beckmann benennt diejenigen, die diese „Restauration“ gewollt und forciert haben, allerdings nicht im Einzelnen. Ferner unterscheidet er doch ganz erheblich zwischen der Freiheit der Kirche in der Bundesrepublik und jener in der Weimarer Republik; letztere wird von ihm deutlich negativer bewertet.519 Im anderen Teil Deutschlands sei es „zu einer völlig entgegengesetzten kirchlichen Entwicklung“520 gekommen: „Im Osten wird von den Russen ein totalitärer Weltanschauungsstaat im Geiste des Marxismus-Leninismus errichtet. Und dieser totalitäre Weltanschauungsstaat führt zwangsläufig einen Kampf gegen die Volkskirche. Wie schon das Dritte Reich. Nur noch viel schärfer und auf weitere Sicht. Die christliche Volkskirche sollte zuerst ,gleichgeschaltet‘ werden, d. h. zum Anwalt der neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung gemacht werden. Da das nicht gelang und nicht gelingen konnte, mußte sie als Hemmnis auf dem Weg zur kommenden sozialistischen Gesellschaft nach Möglichkeit beseitigt werden. In diesen Zusammhang gehören die Propaganda der Jugendweihe und der Kampf um die Konfirmation. Die Kirche ist ins Ghetto zu verdrängen. Sie ist keine Sache des Volkes mehr.“521
Auch wenn man diese Ausführungen nicht Eins zu Eins mit den tatsächlichen Geschehnissen verwechseln darf – vielmehr wird hier eine Dichotomie konstruiert –, artikuliert Beckmann hier doch eine Sichtweise, die von einem
516 517 518 519
Ebd. Ebd., 21. Ebd. Auf Grundlage solcher negativen Bewertungen Weimars wäre es in der Tat spannend danach zu fragen, ob auch unter protestantischen Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten es so etwas wie einen „Weimar-Komplex gegeben hat, vgl. hierzu grundlegend Ullrich, WeimarKomplex. 520 Beckmann, Wandlungen, 21. 521 Ebd., 21 f.
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Großteil des westdeutschen Protestantismus geteilt worden sein mag.522 Der „akute Existenzkampf“523, in dem sich die ostdeutschen Volkskirchen befänden, offenbare zugleich die Stärke und die Schwäche derselben. Das morsche Christentum zerfalle, was zu einer „radikalen Verwandlung“524 der traditionellen Volkskirche führe, auch wenn niemand deren Fortbestand garantieren könne. Vor diesem Hintergrund sei es umso augenfälliger, wie gänzlich anders die Situation in Westdeutschland sei: „Hier kann die Volkskirche in Freiheit ihr Leben führen. Ja, sie wird von den Staaten nach Kräften gefördert. Der Dienst der Kirche wird eindrucksvoll bejaht und begrüßt. Alle in öffentlicher Verantwortung stehenden Menschen bemühen sich um die Kirche, so daß man fast sagen möchte, es ginge hier der Kirche zu gut. Der Staat behandelt sie wie sein liebstes Kind. Und trotzdem kann dadurch gerade nicht die auch im Westen sichtbar werdende tiefe Wandlung der Volkskirche aufgehalten werden.“525
Trotz der also sehr günstigen, wenn auch von Beckmann vielleicht etwas überbewerteten Lage, dürfe die Kirche für die anstehenden Wandlungsprozesse keine Hilfe vom Staat erwarten. Auch gegenwärtig führten einige gesellschaftliche Veränderungen zu einer fortschreitenden Gefährdung der Volkskirche. Einerseits sei hier auf die technisch-industrielle Lebensordnung hinzuweisen, andererseits führten aber auch innere Veränderungen im geistigen Leben der Gemeindeglieder dazu, die seiner Ansicht nach auch von noch größerem Gewicht sei. Das Interesse an der Teilnahme am Gemeindeleben sei immer weiter zurückgegangen. Insgesamt komme es zu einer „Verdünnung der christlichen Substanz der Volkskirche“526, die es fragwürdig erscheinen ließe, ob man im Westen in der Not dieselbe Widerstandskraft aufbringen könne wie im Osten. Beckmann konzediert, dass die Kirche als gesellschaftliche Institution an diesen Entwicklungen allerdings auch eine Mitschuld habe. So habe sie sich in vorherigen Jahrhunderten zumindest immer gegen alle Neuerungen zur Wehr gesetzt. Etwa im Umgang mit der „sozialen Frage“ habe sich dies besonders fatal ausgewirkt. Er bekennt dann ganz offen: „Unsere volkskirchlichen Ordnungen, die wir durch alle Krisen und Wandlungen der letzten 50 Jahre ziemlich unverändert festgehalten haben, setzen eine Volkskirche, eine christliche Gesellschaftsordnung, die alten Dorf- und Stadtgemeinden voraus – lauter Dinge, die es so längst nicht mehr gibt.“527 522 523 524 525
Vgl. zur Sicht des Marxismus und Sozialismus nach 1945 auch Brunner, Christen. Beckmann, Wandlungen, 22. Ebd. Ebd., 23. Beckmann hat als Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland durchaus auch (kirchen)politische Intentionen, die sich aus solchen Ausführungen ablesen lassen. Da er sich auch auf der Ebene der EKD engagierte, sollte der Einfluss seiner Positionen nicht unterschätzt werden. 526 Ebd., 27. 527 Ebd., 28 f.
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Darum sei es an der Zeit, zur Überwindung der Krise der Volkskirche einige Neuerungen und Veränderungen durchzuführen. Dieser Appell richtet sich in erster Linie wohl an die Pfarrer, vor denen er diesen Vortrag ursprünglich gehalten hat. Im Einzelnen nennt er fünf Punkte. Zunächst müsse es zur Neubildung echter Gemeinden kommen, wofür eine Begrenzung der Gemeindegröße auf maximal 3000 nötig sei. Dafür seien aber sehr viel mehr Pastoren erforderlich, als es sie derzeit gebe. Es sei entscheidend, ob es gelinge, „die Großgemeinde von heute aufzugliedern und wieder die Voraussetzung zur Gemeindebildung zu schaffen, ohne die die Volkskirche nicht überleben wird.“528 Zusätzlich sei das gottesdienstliche Leben der Gemeinde zu verändern, womit im Kern eine klarere Wahrnehmung der Gottesdienste als Gemeindeveranstaltungen gemeint ist.529 Drittens, und hier orientiert sich Beckmann expressis verbis an Vorbildern aus dem Bereich der nordamerikanischen Freikirchen, müssten auch Gemeindeversammlungen stärker wahrgenommen und überhaupt erst in den Gemeinden etabliert werden. Für die Bildung der neuen, echten Gemeinden sei diese Veranstaltungsform unentbehrlich. Viertens müsse die von den Laien verantwortlich getragene Gemeindearbeit ausgeweitet werden. „Es wird für die Existenz und das Leben der Gemeinde von entscheidender Bedeutung werden, wenn sie getragen und geleitet werden von einer Schar frei in Verantwortung für die Kirche handelnder Menschen. Dies würde im Zusammenhang der Verkleinerung der Gemeinden eine Wandlung der Volkskirche bewirken, die sie aus der heutigen Krise führen könnte.“530
Fünftens schließlich müsse sich die Ausbildung der Pastoren verändern. Eine Fokussierung allein auf die genuin theologischen Themen sei nicht mehr ausreichend.531 Diese Ausführungen stehen exemplarisch für die Entwicklung, die sich gegen Ende der 1950er Jahre in Westdeutschland immer konkreter abzeichnete und die auch schon bei Wendland und Rendtorff nachgewiesen werden konnte. Eine Situationsbeschreibung, meist verbunden mit einer Diagnose krisenhafter Symptome verbindet sich mit konkreten Verbesserungs- und Reformvorschlägen, die aber nie die Abschaffung der Volkskirche als solcher zum Inhalt haben.532 Es sollte 528 529 530 531
Ebd., 33. Vgl. ebd., 33 f. Ebd., 35. Es wäre sicher spannend, der Frage nachzugehen, wie diese Thesen von Beckmann diskutiert worden sind und ob sie sich im kirchenleitenden Handeln niedergeschlagen haben. Da dies aber nicht die Analyseebene der vorliegenden Dissertation ist, beabsichtigt der Verfasser dieser Frage in einem separaten Aufsatz nachzugehen. 532 Vgl. auch Brunotte, Landeskirche; Meinhold, Selbstverständnis; Eckstein, Gerechtigkeit; Wendland, Kirche, 1959/60; thematisch etwas anders gelagert sind Metzger, Kirche; Mayer, Kirche.
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„jedenfalls […] von keinem von uns der Ernst der Lage unserer Kirche verkannt werden. Wir dürfen nicht so unbeeindruckt weiter machen, als ob uns das ganze ungeheure Geschehen unserer Tage in unseren Gemeinden in Europa nichts weiter anginge. Vor allem dürfen wir nicht resignieren, als ob doch nichts zu machen wäre. Es ist etwas zu tun! Wir können die Aufgabe wirklich anfassen. Wir sollten etwas Mutiges zu tun wagen.“533
Dieser Weckruf blieb nicht ungehört, die Kirchenreform wurde zu einem der bestimmenden Themen der 1960er und 1970er Jahre, auch und gerade im Sinne einer Reform der Volkskirche. Die Relevanz des Themas ist also auf der kirchenleitenden Ebene, zu der Beckmann gehörte, deutlich gegeben, wie auch der Tätigkeitsbericht des Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen Ernst Wilm vom Oktober 1960 zeigt. Die Volkskirche, sie sei „Last und Verheißung“.534 Aufschlussreich sind die Gründe, die Wilm zu Beginn seines Berichtes nennt. Unter 6. heißt es dort: „Wir leben in einer Kirchengemeinschaft mit den evangelischen Gemeinden in der Ostzone. Dort vollzieht sich in einer atheistischen Umwelt und im Angriff politischer Gewalt gegen die Volkskirche, bzw. gegen die Kirche überhaupt, ein starker Wandlungsprozeß kirchlicher Gestalt und Form. Man spricht vom Abbau der Volkskirche und von einer Entwicklung zur Freiwilligkeits- oder Bekenntniskirche. Wie wir mit den Gemeinden in der DDR ,Glieder an einem Leibe‘ sind, nötigt uns die dortige Entwicklung zu ernster Überprüfung unserer eigenen volkskirchlichen Situation. Denn wir sind den Brüdern darüber Rechenschaft schuldig, warum wir an der Volkskirche festhalten, wie sie ihnen zerschlagen wird.“535
Bei Ernst Wilm zeigt sich der enge gedankliche Zusammenhang zwischen den kirchlichen Rahmenbedingungen in Ost und West und den daraus möglicherweise abzuleitenden Implikationen.536 So etwas wie eine deutsch-deutsche Volkskirche ist für ihn durchaus noch denkbar. Diese fungiert hier also als Klammer der durch die innerdeutsche Grenze getrennten Kirchen. 4.5.4 „Kirche – wohin?“ Die Diskussionen in der DDR Aufgrund der für diese Arbeit berücksichtigen Quellenbasis kann konstatiert werden, dass die Volkskirche in den binnenkirchlich Auseinandersetzungen im Osten Deutschlands in den ersten Jahren keine übermäßig große Rolle spielte. Stattdessen äußerten sich Theologen und kirchenleitende Persön533 534 535 536
Beckmann, Wandlungen, 36. Vgl. Wilm, Volkskirche. Zu Wilm vgl. Niemçller, Ernst Wilm. Wilm, Volkskirche, 5. Den Hinweis auf die Kontakte von Wilm zu Jacob verdanke ich Prof. Dr. Michael Hüttenhoff, Saarbrücken.
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lichkeiten wie beispielsweise Günter Jacob in dieser Hinsicht lieber zur Gemeinde oder zum mystischen Leib Christi.537 Insgesamt rückte vor allem die Gemeinde in den Vordergrund.538 In diesem Zusammenhang wurde dann aber doch verstärkt die zum volkskirchlichen Modell gehörende Parochialordnung der Gemeinde kritisiert, beispielsweise vom Stendaler Superintendenten Walther Mücksch. Ob die bisherige Ordnung der Ortsgemeinde beibehalten werden könne, sei zunehmend fragwürdig geworden, so Mücksch 1955.539 Der sächsische Landesbischof Johannes Jänicke verstand seine Kirche als eine, die auf dem Wege sei. Allerdings befinde man sich in einem problematischen Schwebezustand. Einerseits sei man nicht mehr oder nicht mehr ganz Volkskirche, andererseits aber noch nicht oder noch nicht recht bekennende Gemeinde. Man sei vielmehr auf dem Wege von der Volkskirche zur bekennenden Gemeinde – eine Variation des Jacob’schen Übergangs von der Volkszur Freiwilligkeitskirche.540 Die Suche nach einer tiefergehenden theologischen Bestimmung der Kirche in der DDR war zu einem nicht geringen Teil Rezeptionsgeschichte der Theologie Dietrich Bonhoeffers. Besonders dessen These von der mündig gewordenen Welt gewann vor dem Hintergrund einer dezidiert atheistisch auftretenden „Obrigkeit“ unmittelbare Relevanz.541 Bonhoeffer hatte sich ja bekanntlich in seiner Dissertation noch recht positiv zur Volkskirche geäußert und war von dieser Position spätestens während seiner Gefangenschaft immer deutlicher abgerückt. Diesen Prozess konnte man sich nun zum Vorbild nehmen.542 In seinem „Grundriss zur Praktischen Theologie“ erläutert Otto Haendlerin einiger Ausführlichkeit sein Verständnis von der Beschaffenheit und dem Wesen der Kirche.543 Diese existiere „zugleich in pneumatischer und in organisatorischer Gestalt.“544 In dieser Vielheit „der dadurch sich ergebenden Möglichkeiten sind eingeordnet die verschiedenen Verfassungsformen als äußere Gestalt der vom Geist bestimmten Kirchenbildungen, die Konfessionen als je wesensgemäße Gestalt des Offenbarungsverständnisses, die Ökumene als Einheit der Kirche in den Kirchen und die Bekenntnisse als Ausdruck der Einheit und Besonderheit zugleich.“545 537 Vgl. Jacob, Leib; Jacob, Kirche, 1953. 538 Vgl. Thiel, Pastorenkirche; M ller-Gangloff, Volk; Jacob, Kirchenzucht; Voigt, Leiblichkeit. Aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und sehr instruktiv ist der Beitrag von Ebeling, Kirchenzucht. 539 Vgl. M cksch, Gestaltwandel; M cksch, Gestaltwandel, 1956. Vgl. außerdem Heidler, Voraussetzungen; Jacob, Dienst. 540 Vgl. J nicke, Kirche. Zur Weg-Metaphorik vgl. auch Hamel, Weg. 541 Vgl. Schçnherr, Gedanken; vgl. auch von Hase, Begriff; von Hase, Bonhoeffer. 542 Vgl. Schçnherr, Communio. 543 Zu Haendler vgl. Meyer-Blanck, Tiefenpsychologie. 544 Haendler, Grundriss, 43. Vgl. ferner Haendler, Theologie. 545 Haendler, Grundriss, 43.
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Die Volkskirche sei etwas, das sich aus der ursprünglich bekennenden Kirche entwickelt habe, „wenn das Christentum als Daseinsgrundlage und als Boden des Selbst- und Weltverständnisses so eindeutig und umfassend Ausgangspunkt geworden ist, daß sowohl die Christlichkeit wie auch die Zugehörigkeit zur Kirche als das Normale gilt […].“546 Im normalen Sprachgebrauch bezeichne sie außerdem eine Kirche, die in einem positiven Verhältnis zum Staat stehe. In ihr würden zwar alle Kreise des Volkes erreicht, dabei würde aber „in breiten Schichten“ der persönliche Charakter verloren gehen, „so daß Strebungen der Selbstkorrektur und ebenso Auflösung der Substanz erfolgen können.“547 Freikirchen hingegen entstünden dort, wo der Staat in kein rechtliches Verhältnis zu den Kirchen eintritt. Sie „vereinigen in lockerer und vielfältig wandelbarer Weise Eigenschaften der Bekenntniskirche und der Volkskirche.“548 In kleinerem Kreise könnten sich auf dem Weg der Tradition ebenfalls volkskirchliche Eigenschaften innerhalb der Freikirche ausbilden. Auch in der Freikirche gebe es allerdings durch die Konkurrenzsituation zu anderen Freikirchen und hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Eingeschränktheit Aspekte, die ein eventuelles Lob im Vergleich zur Volkskirche für Haendler doch spürbar einschränken.549 Ähnlich wie im westdeutschen Diskussionszusammenhang waren es vor allem verstärkte Hoffnungen in die Ortsgemeinde, die bis zum Ende der 1950er Jahre sich immer deutlicher artikulierten. Dies fasst der Jenaer Theologe Erich Hertzsch wie folgt zusammen: „,Randsiedler‘, Gleichgültige, Fernstehende, Entkirchlichte werden heute nicht durch die Predigt, nicht durch Evangelisationspredigten, auch nicht durch die ,Kasualien‘ wirklich erreicht, sondern einzig und allein durch persönlichen Kontakt mit lebendigen Gemeindegliedern, die sie in die Kleinkreise der Gemeinde einführen und in die Gottesdienste mitnehmen.“550
Seine sich hieran anschließenden Reflexionen über das Verhältnis von Volksund Bekenntniskirche machen deutlich, dass die Frage „Kirche – wohin?“551 1960 noch keinesfalls eindeutig entschieden war: „Es gilt vielen als ausgemacht, daß die Tage der Volkskirche gezählt sind, seit die Staatskirche verschwunden ist, und daß die ,Volkskirche‘ durch die ,Bekenntniskirche‘ zu ersetzen ist. Diese These wäre richtig, wenn mit ,Volkskirche‘ das staatskirchlich fundierte Parochialsystem mit all seinen Begleit- und Folgeerscheinungen gemeint sein könnte. Aber diese kirchliche Institution war und ist tatsächlich alles andere als eine ,Volkskirche‘. ,Volkskirche‘ muß die Kirche Jesu 546 547 548 549 550 551
Ebd., 80. Alle Zitate ebd., 81. Ebd. Vgl. ebd. Hertzsch, Organisationsformen, 890. Hamel, Kirche.
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Christi bleiben bis ans Ende der Tage, weil ihr Herr ihr geboten hat: ,Lehret alle Völker‘ und weil durch ihn ,allem Volke Heil widerfahren ist‘. Die Kirche weiß sich als ,Volks- und Völkerkirche‘ jedermann verpflichtet nach dem Beispiel des Apostel Paulus, der ,allen alles geworden ist, damit er auf alle Weise etliche rettete‘ (1. Kor. 9,19–23).“552
In diesem Abschnitt zeigte sich, dass die Volkskirchensemantik in der DDR noch an den Diskussionen in der Bundesrepublik orientiert ist und sich von dieser noch nicht grundsätzlich distanziert hat.553 Deutlich ist aber auch, dass die Entwicklung von begrifflichen Alternativen, die im ostdeutschen Kontext besonders dringlich erschienen, bei der Volkskirche ihren Ausgang nahm.
4.6 Ergebnisse Der von Arnulf von Scheliha beschriebene lange Weg zur Demokratie, den der deutsche Protestantismus im 20. Jahrhundert beschritten habe, wird durch die historische Semantik der Volkskirche nicht nur um viele Facetten reicher, sondern über die sich hier vollziehenden Selbstbeschreibungen und -verortungen lässt sich dieser Weg auch besser nachvollziehen. Eine Orientierung allein an den sich expressis verbis mit diesen Themen auseinandersetzenden Veröffentlichungen genügt hierfür nicht. Nach dem Kriegsende war man sich in fast allen theologischen und kirchenpolitischen Lagern einig, dass die Kirchen zukünftig öffentliche Verantwortung zu übernehmen hätten. Strittig war allerdings, in welcher Form diese Verantwortung zu übernehmen sei. Edmund Schlink beispielsweise sah es als einen Ertrag des Kirchenkampfes an, dass die Idee der Volkskirche zusammengebrochen sei. Diese Vorstellung setzte sich allerdings nicht durch. Für das Verhältnis von Kirche und Staat erhielt die Volkskirche schon bald wieder eine hohe Plausibilität, die mit der doppelten Staatsgründung noch weiter anstieg. Sie wurde hierbei als eine öffentliche, bzw. Öffentlichkeitskirche verstanden. Die Vorstellung, dass die Kirche sich nicht erneut zurückziehen dürfe und stattdessen zu ihrer politischen und gesellschaftlichen Verantwortung stehen müsse, war jedenfalls zunächst opinio communis. Diese Selbstbeschreibung der Kirche setzte diese nun in ein kritisches, aber konstruktives Verhältnis zum Staat, durch den sich auch die Kontroversen über die Wiederbewaffung und die Militärseelsorge in den 1950er erklären lassen. Volkskirche war in den Worten Hermann Diems der Ermöglichungsraum für das prophetische Amt der Kirche. Zwar konnte man in den 1950er Jahren noch von der Volkskirche als einem Integrationskonzept sprechen im Sinne einer Kirche, die sich an das gesamte Volk richtet und eine große Spannbreite von Positionen in sich vereinbaren 552 Hertzsch, Organisationsformen, 890. 553 Vgl. Brunner, Avantgarde.
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könnte. Gleichwohl mehrten sich seit Mitte der Dekade kritische Stimmen an dieser Vorstellung. So denunzierte man sie beispielsweise als eine Ideologie, der man die Gemeindekirche entgegenstellte oder wies auf den falsch verstandenen, allzu umfassenden Öffentlichkeitsanspruch der Kirche hin. Außerdem findet sich in diesem Zeitraum bereits die Vorstellung, dass die Volkskirche lähmend wirke, als ein „goldener Käfig“, der die Kirche davon abhalte, ihren Dienst zu tun. Volkskirche könne man nur bleiben, wenn man frei das Wort Gottes verkündigen dürfe, dem Staat gegenüber also sowohl affirmativ als auch interzessiv gegenübertrete. Auch wenn man durchaus die Gefahren sah, die mit einer Privilegierung durch den Staat für die Freiheit der Kirche verbunden sein könnten, scheint zu Beginn der 1950er Jahre die Mehrheit der Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass man sich nicht in ein Ghetto unpolitischer Existenz (Ernst Wolf) zurückziehen dürfe, sondern für den neuen Staat Verantwortung übernehmen müsse. Der privilegierte Neuanfang, wie Harry Oelke es bezeichnet hat, half aber sicherlich, dass die Protestanten ihren Frieden mit dem neuen demokratischen Staat machen konnten. Aus der engen Verbindung zum Staat, die häufig ja als Konstitutivum der Volkskirche angesehen wurde, entwickelte sich die Vorstellung einer politischen Diakonie als jenem Dienst, den die Kirche gegenüber und in dem Staat ausüben soll. Die Einheit mit den Christen in Ostdeutschland, das Eintreten für den Frieden und für soziale Gerechtigkeit sowie die Fürbitte wurden in diesem Zusammenhang genannt. In all dem drückte sich ein neues Selbstbewusstsein der Kirche aus, die Kirche für die Welt sein wollte. Dies wurde zu einer wichtigen Signatur des Volkskirchenbegriffs für die folgenden Jahre. Gleichzeitig lässt sich aber auch beobachten wie, mit steigender Tendenz zum Ende der 1950er Jahre, die Kritik an dieser so beschriebenen Konstellation zwischen Kirche und Staat wieder zunimmt. Im Osten Deutschland überwog in dieser Zeit die Überzeugung, einem feindlichen Staat gegenüberzustehen und die Kirchen waren, wie im Konflikt um die Konfirmation deutlich wurde, durchaus gewillt, diesen Kampf aufzunehmen. In der DDR eignete sich der Volkskirchenbegriff im Grunde nie, um das Verhältnis von Kirche und Staat zu beschreiben. Gleichwohl lässt sich auch hier nachvollziehen, dass man die Aufgabe sah, öffentliche Verantwortung wahrzunehmen. Volkskirche im Ernstfall, so beschrieb Günter Jacob die Lage Ende der 1950er Jahre wohl durchaus treffend. Er sah die Kirche im Übergang zur Freiwilligkeitskirche begriffen, die neutralistische volkskirchliche Apparatur lasse das spezifisch Christliche nicht mehr erkennen. In der Folgezeit käme es darauf an, dass sich lebendige Gemeindekerne ausbilden würden, die das Leben der Kirche erhalten würden. Der Druck von außen führe dazu, dass sich die Spreu vom Weizen trenne und dies werde von einem wachsenden Teil der Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten als eine positive Entwicklung betrachtet. Alles in allem war man im ostdeutschen Kontext bemüht,
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klarzustellen, dass hier der kirchliche Neuaufbau eng an den Implikationen der Barmer Thesen orientiert war. Hinsichtlich der zweiten Analyseebene muss zunächst konstatiert werden, dass eine langsame Abkehr von einem schöpfungs- bzw. ordnungstheologisch verstandenen Volk zu beobachten war, die mit einer Bemühung, die moderne Gesellschaft theologisch zu fassen, einherging, eine Bewegung vom Volk zur Gesellschaft also. Dieser Übergang war jedoch ein fließender, lange wurden beide Begriffe synonym verwendet. Ausgestoßen wurde allerdings doch recht umfassend ein völkischer, rassisch exklusiver Volksbegriff. Verabschiedet hatte man sich überdies auch von der Vorstellung einer christlichen oder theokratischen Gesellschaft. Stattdessen trat die semantische Konstruktion, Kirche in und für die Gesellschaft sein zu wollen, ihren Siegeszug an. Angeregt durch die zahlreichen Studien Heinz-Dietrich Wendlands wuchs das Bewußtsein dafür, dass man die gesellschaftlichen Veränderungen bei der Analyse über den Status Quo und den zu gehenden Weg der Kirche berücksichtigen musste. Das „System der funktionellen Gesellschaft“ und die Beziehung, die die Kirche zu diesem System hatte sowie die Rolle, die sie hierin einnahm, rückten in den Fokus der Theologen. Der Eindruck, dass sich die eine ganze Gesellschaft umfassende Volkskirche in einer tiefen Krise befand, war hierbei ein wichtiger Auslöser, erwartete man doch die Ursachen für diese Krise in gesellschaftlichen Transformationsprozessen finden zu können. Tatsächlich war die Vorstellung einer Volkskirche also ein wichtiges Movens hin zur Entwicklung einer protestantischen Gesellschaftslehre und der gründlichen, auch mit sozialwissenschaftlichen Methoden durchgeführten Gesellschaftsanalysen. Hierfür ist die bei Wendland entstandene Dissertation Trutz Rendtorffs beispielhaft. Dabei sollte nicht ein vorher auf dogmatischer Ebene entwickeltes Kirchenbild leitend sein, sondern sich dieses vielmehr aus den Analysen ergeben. Die Feststellung, dass die Voraussetzung für eine Volkskirche, nämlich das Vorhandensein einer christlichen Gesellschaft, nicht mehr gegeben sei, führte zu einem anhaltenden und sich seit Ende der 1950er Jahren noch verstärkendem Bewusstsein, in einer permanenten Krise zu stecken. Dabei wurde grundsätzlich die klare Trennung von Kirche und Gesellschaft auch als Chance wahrgenommen. Nötig erschien es manchen, ein dialektisches Verhältnis der Kirche zur Welt zu entwickeln. Volkskirche wurde in diesem Zusammenhang zu einem „Sollensbegriff“ (Martin Doerne), der durch die Vorstellung geprägt war, dass die Kirche von den Laien und damit vom Volk als einer militia christi kraftvoll in der Welt wirksam werden müsse. Für das Selbstverständnis der Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten im Hinblick auf die sie umgebende Gesellschaft wurde die, ursprünglich von Dietrich Bonhoeffer formulierte Vorstellung, dass Kirche nur dann ihrem Wesen gemäß existiere, wenn sie Kirche für andere sei, äußerst wichtig. Dies schlug sich in der Betonung des diakonischen und missionarischen Charakters der Kirche nieder, die ihrerseits auch Auswirkungen auf die
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Verwendung des Volkskirchenbegriffs hatte. Die Sicht auf die volkskirchlichen Rahmenbedingungen gestaltete sich dabei durchaus ambivalent. Auf der einen Seite waren es vor allem die durch diese Strukturen gegebenen Ressourcen, die das umfängliche diakonische Handeln der Kirche überhaupt ermöglichten. Auf der anderen Seite sah man die Volkskirche in einem Spannungsverhältnis zu effektivem diakonischem Handeln stehen. Ziel war die Entstehung eines allgemeinen Diakonats der Gläubigen, die ihre Existenz auf den Dienst an der Gesellschaft ausrichteten und für die die volkskirchlichen Gemeinden keine geeignete Organisationsform darstellten. Stattdessen sollten sie sich in strafgeordneten Bruderschaften und Dienstgemeinschaften organisieren. Wendland und andere betonten den Weltdienst der Kirche und brachten dies auf den Begriff der „gesellschaftlichen Diakonie“, der die umfassenden Dienste der Kirche in und an der Gesellschaft zusammenfassen sollte. Hieraus wurde der Komplementärbegriff der „weltlichen Christenheit“ entwickelt, der diesen engen Zusammenhang zwischen Kirche und Gesellschaft beschreiben sollte. Dabei bleibt die gegebene volkskirchliche Situation, also der entsprechende „Seinsbegriff“ (Martin Doerne) für die theologischen Reflexionen ausdrücklich wichtig. Neben dem diakonischen Dienst wurde der missionarische Charakter der Kirche wichtig. Man war sich einig dass, um Menschen für die Kirche zu gewinnen, die Neuartigkeit der gegenwärtigen, im Wandel begriffenen Gesellschaft ernstgenommen werden müsse. Auch hier geriet die Volkskirche im Sinne eines institutionellen Gefüges deutlich in die Defensive, wie Margull es mit dem Bild vom Zerbröckeln der Volkskirche ausgedrückt hat. Es wurde hier die Erosion der Volkskirche diagnostiziert, die zu einer sorgfältigen Prüfung der Zukunftsoptionen führen sollte. Auch in der SBZ und der frühen DDR betonten die Autoren ihre Solidarität und Dienstbereitschaft gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft. Auch hier setzte sich mit Blick auf die mehr und mehr sozialistisch geprägte Gesellschaft die Überzeugung durch, dass die Volkskirche zumindest in ihrer althergebrachten Form keine Zukunft mehr habe. Gleichwohl war man sich ebenfalls einig, dass der Auftrag der Kirche öffentlich ausgeführt werden müsse und das kirchliche Leben sichtbar gestaltet werden müsse. Die Niederlage im Kampf um die Unvereinbarkeit von Jugendweihe und Konfirmation war ein schwerer Schlag im Selbstbewusstsein der ostdeutschen Protestanten. Günter Jacob sah die Rede von der Volkskirche Ende der 1950er Jahre als einen frommen Selbstbetrug an, der mit den tatsächlichen Verhältnissen in den ostdeutschen Landeskirchen nichts mehr zu tun habe. Er forderte deshalb wie andere auch, dass man nun bewusst den Weg zur Freiwilligkeitskirche zu beschreiten habe. Die Kirche im Osten Deutschlands schien ihnen am Anfang einer neuen Zeit zu stehen. Sie war im Begriff, Kirche in der Diaspora zu werden. Ein Konventikeltum lehnte man aber ebenso entschieden ab, wie man die Volkskirche kritisierte. Nicht zu unterschätzen ist allerdings, dass es zu dieser Zeit auch
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noch eine gewichtige Mittelposition gab, für die stellvertretend der Landesbischof Gottfried Noth genannt worden ist. Dieser machte seine Überzeugung deutlich, dass man noch immer vom Zeitalter der Volkskirche und seinem Erbe zehre. Diese sei eine Aufgabe und kein Tatbestand; eine Kirche, die sich an die Gesamtheit des Volkes zu wenden habe und in der Weite tätig sein solle. Man dürfe ihr deshalb nicht selbst ein Ende bereiten. Wie wurde der Begriff der Volkskirche in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen verwendet und instrumetalisiert? Durch die zunächst relativ dominante Theologie Karl Barths und seiner Schüler, sowie bedingt durch die Erfahrungen vieler Mitglieder der Bekennenden Kirche aus der Zeit des Nationalsozialismus bekam der Gemeindegedanke starken Auftrieb, der kritisch zur Volkskirche in Beziehung gesetzt wurde. Einige Theologen, wie Hans Joachim Iwand, fanden den Begriff sogar gefährlich; ließ er sich ihrer Ansicht nach allzu leicht mit den volkskirchlichen Plänen der „Deutschen Christen“, eine hierarchisch geführte Bischofskirche zu etablieren, in Verbindung bringen. Daneben knüpften einige liberale Theologen dezidiert an ihre Volkskirchenprogramme der Zwischenkriegszeit an. Auch wenn hier nicht völkisch exklusiv argumentiert wurde, stellte Georg Wehrung beispielsweise den engen, organischen Zusammenhang zwischen Kirche und Volk als konstitutiv für eine Volkskirche heraus. Diese habe die Aufgabe, dem Volkstum neue Kräfte zu vermitteln, wird aber bewusst nicht als Staatskirche gedacht. Auffällig ist, dass diese Werke allerdings kaum rezipiert worden sind; die liberale Theologie spielte in den 1950er Jahren kaum noch eine Rolle. Die angesprochene, zum Teil heftige Kritik an der Volkskirche konnte sich allerdings ihrerseits auch nicht durchsetzen. In der sich als komfortabel für die Kirchen erweisenden Bundesrepublik war die Alternative, Freikirche zu sein, nicht attraktiv. Die Erneuerung, die die Kirche benötige, könne und solle im gegebenen Rahmen der Volkskirche erfolgen, so der Tenor bis zur Mitte der 1950er Jahre in Westdeutschland. Seit diesem Zeitpunkt verstärkten sich dann aber die Krisenrhetorik und die Kritik an der Institution Kirche. Hier kann sich die gängige Chronologie auch durch die Begriffsgeschichte der Volkskirche bestätigt fühlen. Insgesamt wuchs die Überzeugung, wie am Beispiel von Joachim Beckmann gezeigt werden konnte, dass aus den nicht zu leugnenden Transformationsprozessen in der Gesellschaft auch Schlussfolgerungen für die Kirche gezogen werden mussten. Man dürfe sich von der glänzenden Fassade nicht blenden lassen. Zwar habe die „landeskirchliche Restauration“ nach 1945 zu staatsfreien Volkskirchen geführt – hier greift Beckmann expressis verbis ein zentrales Element der Volkskirchendiskussion aus der Zwischenkriegszeit auf – und die rechte Trennung von Kirche und Volk sei wichtig, aber als besorgniserregend empfinde er die massiven Entkirchlichungsprozesse und die Lethargie unter den Christen. Die christliche Substanz der Volkskirche verflüchtige sich, weswegen Neuerungen und Veränderungen nötig seien, da die
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Freiwilligkeitskirche – auch theologisch – keine überzeugende Alternative darstelle. Die Volkskirche war manchen Protestanten zur Last geworden, mit ihr war aber immer noch eine Verheißung verbunden (so Ernst Wilm in seinem Synodalbericht). Darum begann man schon jetzt mit der Entwicklung von Reformprogrammen, die in die intensiven Reformdebatten der „langen 1960er Jahre“ einmündeten. In der DDR fokussierte man sich noch viel deutlicher auf die Gemeinde; für die innerkirchlichen Auseinandersetzungen spielte die Volkskirche hier kaum eine Rolle.554 Grundsätzlich sah man sich hier auf dem Weg von der Volkskirche zur bekennenden Gemeinde, respektive zur Bekenntniskirche. Insgesamt sah man sich in der zunehmenden Fragwürdigkeit der Zukunft der Volkskirche bestätigt. Die Volkskirche restituierte sich, aber sie stand auf tönernen Füßen durch gesellschaftliche Prozesse, auf die sie nicht mehr einwirken konnte. Im Osten Deutschland beschleunigte sich dies durch die kirchenfeindliche Politik der SED-Diktatur, sodass wir hier von einer zeitlich verzögerten Krise der Volkskirche sprechen können.
554 Zumindest auf Grundlage der in dieser Arbeit gewählten Quellenbasis. Eine Ausnehme stellt hier wohl die Thüringer Kirche unter ihrem Bischof Moritz Mitzenheim dar, für die der Begriff durchaus programmatische Bedeutung hatte.
5. Schluss Wie sah sich die Kirche in ihrem Verhältnis zum Staat und ihrem gesellschaftlichen Umfeld? Welche Identität bildete sie dabei aus und welche Konflikte trug sie darüber in ihrem diskursiven Binnenraum aus? Um diese grundsätzlichen Fragen ging es in der hier vorliegenden Arbeit. Exemplarisch wurde hierbei auf die evangelischen Kirchen in Deutschland geschaut. Methodisch wurde dabei versucht, durch die historische Semantik eines zentralen kirchlich-religiösen Begriffs diskursive Konstellationen sichtbar zu machen und in einem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts überspannenden Querschnitt den Bedeutungswandel darzustellen und ihn historisch zu kontextualisieren. Ein diachroner Ansatz für die Jahre 1918 bis 1960 wurde dabei mit mit einem synchronen Zugriff anhand der drei Spannungsfelder „Kirche und Staat“, „Kirche und Gesellschaft“, sowie „binnenkirchliche Auseinandersetzungen“ kombiniert.1 Die Übergänge zwischen der Idee und dem Begriff der Volkskirche sowie der hieraus sich ergebenden Konzepte, waren fließend. Die Quellen legten meist einen Fokus auf die Ebene des Begriffs und erst in zweiter Linie auf die sich hieraus entwickelnden Konzepten von Volkskirchlichkeit. Mit der Idee der Volkskirche waren die eher ephemeren Bezugnahmen gemeint, die gerade in einschneidenden Momenten der Geschichte in den Blick gerieten. Weiterführend wäre für eine Differenzierung dieser einzelnen Analyseebenen, andere kirchliche Öffentlichkeitsformen in den Blick zu nehmen, also exemplarisch synodale Debatten in den Landeskirchen und auf der Ebene der EKD, der VELKD, der EKU oder auch des Reformierten Bundes zu analysieren. Dabei hat sich die in dieser Arbeit gewählte Methodik als überaus fruchtbar erwiesen, um neue Erkenntnisse über die protestantischen Identitätsbildungsund Selbstverortungsprozesse zu erlangen. Mittels einer historischen Semantik seiner zentralen identitätsstiftenden Begriffe, in deren Reihe der „Volkskirche“ ein vorderer Platz zugerechnet werden muss, kann man nachvollziehen, warum man sich als evangelische Kirche in bestimmter Weise zum Staat, zur Gesellschaft oder zu konkurrierenden Identitätskonzepten im Inneren positioniert hat und wie dies konkret geschah. Die heutige Sozial- und Politikgeschichte hat erkannt, dass die historische Semantik ein wichtiges Werkzeug darstellt, um historische Entwicklungsprozesse besser analysieren und verstehen zu können und in ihrer historischen Genese erklärbar zu ma1 Die Dissertationsschrift, auf der dieses Buch fusst, hat den gesamten Zeitraum von 1918 bis 1991 in den Blick genommen. Die Untersuchung für die Jahre zwischen 1960 und 1991 werde ich in einer weiteren Monografie veröffentlichen.
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chen. Die Erweiterung des religionsgeschichtlichen und damit auch des kirchen- und theologiegeschichtlichen „Werkzeugkasten“ um die Fragen und Methoden der Historischen Semantik und Begriffsgeschichte kann zu überzeugenden und wichtigen Forschungsergebnissen führen.2 Insgesamt scheint hier ein pragmatischer, an der jeweiligen Fragestellung orientierter Umgang mit den theoretischen Prämissen der neueren Begriffsgeschichte ratsam.3 Auch wenn Christian Geulens Beobachtung, dass die Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts nicht mehr ohne Weiteres zu verstehen seien und einer „Übersetzung“ bedürften, zuzustimmen ist, überwiegt hinsichtlich der von ihm vorgeschlagenen vier Entwicklungstendenzen in Bezug auf den semantischen Wandel im 20. Jahrhundert doch die Skepsis.4 Auch wenn man die Rezeption sozialwissenschaftlicher Methoden noch unter „Verwissenschaftlichung“ subsumieren kann, finden sich für die „Verräumlichung“ kaum Indizien. Und die „Popularisierung“ des Begriffs unterlag ganz eigenen Konjunkturen, sodass also zumindest erhebliche Modifikationen nötig wären. Von einer „Verflüssigung“ zu sprechen, ist hingegen durchaus plausibel. Wobei hier, wie an einigen Stellen gezeigt worden ist, Entwicklungen der Verflüssigung mit solchen der Verfestigung in ein dialektisches Verhältnis eingetreten sind. „Grundbegriffe nach Koselleck“, so Carsten Dutt, sind „diejenigen Begriffe, ohne deren kontrovers interpretierbares (und typischerweise kontrovers interpretiertes) Orientierungs-, Verständigungs- und Selbstverständigungspotenzial keine der in einem bestimmten Zeitraum interagierenden Handlungseinheiten der politisch-sozialen Welt auskommt.“5 Man wird nun auf Grundlage der umfassenden Quellenbasis dieser Arbeit sagen können, dass dies auf die Volkskirche im Hinblick auf die kirchlich-religiöse Welt des Protestantismus zutrifft. Sollte man sich vor dieser Bezeichnung scheuen, weil sie nicht für das gesamte religiöse Feld Gültigkeit besitzt, kann in jedem Fall von einem „Leitbegriff“ gesprochen werden. Dabei wurde bewusst ein Fokus auf die „Eliten“ des Protestantismus gelegt, also in erster Linie die Veröffentlichungen von Theologen, kirchenleitenden Persönlichkeiten und Religionsintellektuellen in den Blick genommen. Dies ergab sich aus der Prämisse, vornehmlich auf die öffentlichen Diskurse eingehen zu wollen und aus der Überzeugung, dass sie im religiösen Feld be2 Auf diese Weise kann es zu einer gelingenden und innovativen Verbindung zwischen Ideen- und Religionsgeschichte kommen. Lucian Hölscher und durch ihn beeinflusste Historiker standen hier lange allein auf weiter Flur. Die DFG-Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland, 1949–1989“ weist teilweise in eine ähnliche Richtung wie diese Arbeit. Vgl. Damberg, Strukturen. 3 So kann auch der Ansatz von Jörn Retterath verstanden werden, vgl. Retterath, Volk. 4 Diese Tendenzen nennt Geulen Verwissenschaftlichung, Popularisierung, Verräumlichung und Verflüssigung. Zur Kritik an Geulen vgl. Nolte, Fortschreiben; Sabrow, Pathosformeln; Sarasin, History; Roundtable. 5 Dutt, Begriffsgeschichte, 76 [Hervorhebung durch mich, BB].
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sonders effektiv auf die Begriffskonstitution einwirkten. Somit konnte sicher ein besonders wichtiger Teil des protestantischen Diskurses über die Volkskirche analysiert werden, wobei keine Vollständigkeit erzielt werden kann und dies auch nicht beabsichtigt gewesen ist. Was fehlt, ist allerdings der Blick „von unten“, Pfarrer sind nur zum Teil, engagierte „Laien“ so gut wie gar nicht berücksichtigt worden. Studien, die den Leitfragen dieser Arbeit auf der synodalen Ebene der Landeskirchen und Kirchenkreise nachgehen, würden sicherlich noch wertvolle Ergänzungen zu den Ergebnissen dieser Arbeit liefern. Mit dem Begriff der Volkskirche verband sich in der Regel eine enge Bezogenheit auf den Staat. Die Auswirkungen, die das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments auf den Protestantismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte, sind kaum zu überschätzen. Nur langsam begann man die Freiheit, die man hierdurch gewonnen hatte, auszuschöpfen. Zu einem positiven Verhältnis zur Demokratie insgesamt fand man jedoch grosso modo nicht. Mit der Volkskirche verband sich kein konkretes politisches Engagement, sondern hier wurde das „über den Parteien stehen“6 konzeptionell zum Ausdruck gebracht. Die vornehmliche Aufgabe, die man sich im Hinblick auf den Staat selbst auferlegte, war die Sicherung der „Volkssitte“. Es überrascht darum nicht, dass 1933 ein großer Teil des deutschen Protestantismus die nationalsozialistische Machtübernahme positiv begrüßte. Was sich dann als später so bezeichneter „Kirchenkampf“ entspann, war primär eine innerkirchliche Auseinandersetzung, denn auch in der Bekennenden Kirche gehörten jene, die dem nationalsozialistischen Staat ablehnend gegenüberstanden, nicht zur Mehrheit. Der Volkskirchenbegriff wurde von beiden Lagern auf unterschiedliche Weise in Anspruch genommen. Auf der einen Seite im Sinne einer völkischen Volkskirche, die sich als Kirche der durch den nationalsozialistischen Staat definierten Volksgemeinschaft verstand. Als solche strebte sie innere Ordnungsstrukturen an, die analog zu diesem Staat aufgebaut werden sollten. Auf der anderen Seite wollte die Mehrheit der Bekennenden Kirche sich nicht wie ihr dahlemitischer Flügel einem freikirchlichen Kirchenkonzept zuwenden. Hier insistierte man darauf, dass ohne Unterschiede Volkskirche „Kirche des gesamten Volkes“ sein müsse. Leider ist wenig bekannt über die Vorstellung derjenigen, die sich keiner dieser beiden Gruppierungen anschließen wollten. Das, was sich fassen lässt, deutet aber darauf hin, dass sich hier, beispielsweise unter liberalen Theologen ein Volkskirchenkonzept fortsetzte, welches sich zum einen unpolitisch gerierte und zum anderen niedrigschwellige Zugangskriterien etablieren wollte. Zu wirklichen Lernfortschritten im Verhältnis zum demokratischen Staat kam es erst ab 1945. Man war sich einig, dass man sich nicht mehr ins Unpolitische zurückziehen dürfe. Das Verhältnis zum Staat entwickelte sich al6 Vgl. die Arbeit von Wright, Parteien.
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lerdings doch grundlegend anders, gerade im Vergleich zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, zumindest wurde es so wahrgenommen. In dieser Zeit veränderte sich die Akzentsetzung des Volkskirchendiskurses doch recht grundlegend. Man sah sich nicht mehr primär als organisch mit dem Staat verbundene Entität, sondern als öffentliche Kirche, die den Menschen in einem bestimmten Gemeinwesen dienen wollte. Volkskirche als „Öffentlichkeitskirche“ sowie als „Kirche für das Volk“, bzw. „Kirche für andere“ wurden zu den Leitvorstellungen, vor allem in Westdeutschland. Dieser Öffentlichkeitsanspruch blieb auch in der Folgezeit virulent, auch wenn die enge Verbindung zwischen Kirche und Staat seit den späten 1950er Jahren zunehmend in die Kritik geriet und damit auch diejenigen, die sich für den Begriff Volkskirche stark machten, nach neuen Rechtfertigungen oder semantischen Modifikationen suchen ließ.7 Im Osten Deutschlands erschwerte es die Kirchenpolitik der SED praktisch seit der Gründung der DDR ganz erheblich, positive Bezugnahmen von Seiten der Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten auf diesen Staat artikulieren zu können oder überhaupt ausdrücken zu wollen. Die zweifellos in beiden Teilen Deutschlands vorhandenen Säkularisierungspotenziale wurden im Osten durch die unterschiedlichen staatlichen Maßnahmen zum Teil erheblich beschleunigt. Entscheidend war wohl, dass es trotz andauernd schrumpfender Mitgliederbasis gelang, ein gewisses Mindestmaß an Autonomie gegenüber dem Staat zu erhalten, freilich um den Preis der grundsätzlichen Anerkennung der DDR durch die Kirchen, die später ihren Ausdruck in der Verortung als „Kirche im Sozialismus“ fand. Die spätere Rolle der Kirchen in der Friedlichen Revolution von 1989/90 war dennoch genauso wenig voraussagbar, wie diese selbst. Die Selbstbeschreibung als Volkskirche drückte also immer auch ein bestimmtes Verhältnis zur Umwelt der Kirche aus. Die Wahrnehmung der Gesellschaft und die Rolle der Kirche in ihr bedingen sich dabei wechselseitig. Bis in die 1960er Jahre hinein war die Gesellschaft etwas, auf das die Kirche einwirken wollte, auf das sie in unterschiedlicher Weise Einfluss nehmen möchte. Zugleich war die Gesellschaft, bzw. genauer gesagt waren die Menschen in einer Gesellschaft auch die Objekte des volkskirchlichen Dienstes. Dabei rekurrierte man lange Zeit vor allem auf das „Volk“, da dies im vorherrschenden Konzept eine von Gott gesetzte Schöpfungsordnung darstellte. Durch die Pervertierung der Kategorie und durch theologiegeschichtliche Veränderungen – etwa durch den sich auch in dieser Hinsicht auswirkenden Prozess der Globalisierung – begann man nach begrifflichen Alternativen zu suchen. „Gesellschaft“ hatte aber lange für Protestanten, die ja eine „Gemeinschaft“ konstituieren wollten, wenig Attraktivität. Die Differenzierung zwischen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ stellte 7 Auf diese Entwicklungsprozesse gehe ich ausführlich im zweiten Teil meiner Studie ein, der wie erwähnt in einer weiteren Monografie veröffentlicht werden soll.
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folglich ein grundlegendes Problem der Quellenproduzenten für die inhaltliche Klärung des Volkskirchenbegriffs dar.8 Zu den Strategien, die man entwickelte, um effektiv Vergemeinschaftung in einer spezifisch gegebenen Gesellschaft gewährleisten zu können, gehörte die jeweilige semantische Adaption an sich verändernde Kontexte. Hierin zeigt sich die große Elastizität und Anpassungsfähigkeit des Begriffs, durch die er immer wieder plausibel gemacht werden konnte. Mit anderen Worten: Volkskirche war insofern ein erfolgreicher Integrationsbegriff, als dass es mit ihm gelang, sich immer neu auf wandelnde gesellschaftliche Zusammenhänge einzustellen. Dazu bedurfte es einer zunehmend genaueren Gesellschaftsanalyse, durch die sich auch die sich intensivierende Rezeption sozialwissenschaftlicher Methoden durch die Theologen und Kirchenleitungen erklärt. Einschneidend war sicherlich die Erkenntnis zu Beginn des Untersuchungszeitraums, dass es keine per se christliche Gesellschaft mehr gebe, auf die man aufbauen könnte. Um die Relevanz der volkskirchlichen Strukturen dennoch deutlich zu machen, wurde ein Impuls – der erstmals nach der Revolution von 1918/19 sehr präsent war – nämlich den gesellschaftlichen Nutzen der Kirche aufzuzeigen, weiter gesteigert. Die Volkskirche wurde also zu einer facettenreichen diakonischen Kirche, die dadurch auch Legitimität für ihre gesellschaftliche Stellung erzeugte. Besonders bemerkenswert ist die große Bedeutung der Gemeinde im Kontext des Volkskirchendiskurses, vor allem auf der Ebene der sich aus der Idee und dem Begriff ergebenden Konzepte. Die hier entwickelten Konzepte, sei es die Ausbildung von lebendigen Gemeindekernen oder die kybernetische Entwicklung eines missionarischen Gemeindeaufbaus im Rahmen der Volkskirche, zielten immer auf die Lösung des Grundproblems ab, Gemeinschaft in einer zunehmend komplexen Gesellschaft zu konstituieren. Der Blick auf die Gemeindekonzeptionen kann die Wahrnehmung dafür schärfen, welche „Sozialontologien“9 hier von den Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten avisiert worden sind. Auch hinsichtlich der zunehmenden Komplexität und Pluralität der modernen, respektive postmodernen Gesellschaften10 bewies der Volkskirchenbegriff seine Anpassungsfähigkeit.11 Dafür war freilich ebenfalls ein, beinahe das gesamte „kurze 20. Jahrhundert“ andauernder Adaptionsprozess nötig, denn das Volkskirchenideal der Weimarer Zeit unterschied sich in dieser Hinsicht fundamental von jenem, welches sich seit den späten 1950er Jahren zu konkretisieren begann. Am Anfang des Jahrhunderts war die Volkskirche, trotz aller prinzipiellen Offenheit und Niedrigschwelligkeit in ihren Zugangsbedingungen doch von dem Bestreben geprägt, einheitliche und „or8 Vgl. Dierken, Nicht-Institutionalität sowie durchaus polemisch Graf, Untugend. 9 Vgl. Pfleiderer, Gemeinschaft. 10 Vgl. zum Komplex von Moderne, Postmoderne und Nachmoderne nur Welsch, Moderne; Eisenstadt, Modernities; Jedlowski, Moderne; Raphael, Konzept sowie die dort abgedruckte, von Massimiliano Livi erstellte Bibliografie zum Thema. 11 Vgl. auch Drehsen, Gespenst.
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ganische“ Ordnungsprinzipien zu entwickeln. Trutz Rendtorff und andere würden dann erst in den 1960er Jahren aus der Not eine Tugend machen, indem sie die Volkskirche in ihrer ganzen definitorischen Unbestimmtheit und Unklarheit zu dem Raum machten, in dem sich Pluralität und Vielfalt in Freiheit entfalten könnten. Ist West- ebenso wie in Ostdeutschland zeigten die protestantischen Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten eine große Offenheit für die jeweils gegenwärtig dominierenden Denkströmungen. Allerdings liefen diese Rezeptions- und Begriffskonstitutionsprozesse keinesfalls konfliktfrei ab. Zur Integration taugte der Begriff vornehmlich dann, wenn es galt, ihn mit Ideen und Aspekten, die bislang noch kein Teil von ihm waren, zu verbinden, bzw. zu amalgamieren. Zugleich war er aber auch ein Kampfbegriff, mit dem sich von alternativen Organisationskonzepten von Kirchlichkeit abzugrenzen versucht wurde. Hierin, wie auch in der bereits angesprochenen nicht unerheblichen Anpassungsfähigkeit, liegen die Hauptgründe für den „Erfolg“ und die bleibende Relevanz der Volkskirche. Dies zeigt sich auch in dem dritten Spannungsfeld. Durch das „Bekenntnis“ zur Volkskirche erfolgte immer auch eine, mal mehr, mal weniger explizite Abgrenzung von dem, was man nicht sein wollte. Abgelehnt wurde die Staatskirche, was durch das problematische Verhältnis zur Weimarer Republik bedingt war. Mit Ausnahmen in der Zeit des Nationalsozialismus blieb die Forderung nach ausreichend Distanz zum Staat in der Semantik der Volkskirche erhalten. Nach 1945 wuchs das Bewusstsein, dass auch die Volkskirche in ein kritisch-konstruktives Verhältnis zum Staat treten müsse und nicht erneut über- oder unpolitisch agieren dürfe. Innerkirchlich wurde über die Nähe genauso wie über die Intensität der „Politisierung“ heftig gestritten. Die Verwendungsweisen des Volkskirchenbegriffs können hierfür als Gradmesser dienen und die hinter diesen Diskussionen stehenden impliziten „Ekklesiologien“ bzw. Kirchentheorien aufdecken helfen. Ähnliches gilt auch für die Abgrenzung von der Freikirche, die von der Freiwilligkeitskirche zu unterscheiden ist. Die Freikirche basiert ganz allgemein auf der Erwachsenentaufe und unterhält in der Regel keine Bindung an den Staat.12 Der Aspekt der Freiwilligkeit spielt darauf an, dass es innerhalb kirchlicher Strukturen zum unterschiedlich ausgeprägten Engagement von „Laien“ kommt. Die Freikirche wurde – von wenigen, wenn auch nicht unwichtigen Ausnahmen abgesehen – in der Regel abgelehnt. Die Motive sind hierfür nicht ganz durchsichtig, aber es drängt sich doch der Eindruck auf, dass man die Möglichkeiten, die einem der volkskirchliche Rahmen bot, nicht ohne Weiteres aufzugeben bereit war. Den Aspekt der Freiwilligkeit konnte man hingegen relativ problemlos integrieren. Die komplementären Begriffe zur Volkskirche – neben der Freiwilligkeitskirche ist hier vor allem an die 12 Allerdings haben auch viele Freikirchen inzwischen den Staus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erworben; freilich ohne den Einzug von Kirchensteuern staatlicherseits.
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Bekenntniskirche, oder die Bekennende Kirche zu denken – sowie vor allem die Wort- und Bedeutungsfelder, in denen von der Volkskirche gesprochen wird, lassen außerdem theologische und kirchliche Konjunkturen erkennen. Wie sich gezeigt hat, konnten immer wieder Aspekte der komplementären und der Gegenbegriffe in den der Volkskirche aufgenommen werden. Die Frage nach dem Bekenntnis beispielswiese, die in der Zwischenkriegszeit noch zur Entzweiung des Volkskirchenkonsenses führen konnte, hat im Untersuchungszeitraum stark an Bedeutung verloren.13 Bis in die Gegenwart reicht die Vorstellung, die sich im Rahmen der Untersuchungszeitraums verfestigte, dass Volkskirche „Kirche für andere“, also diakonische Kirche sein müsse.14 Der Befund hinsichtlich des missionarischen Charakters ist ambivalent, es lassen sich hier keine ganz klaren Entwicklungslinien erkennen. Das mag daran liegen, dass auf der einen Seite der Schrumpfungsprozess eine missionarische Grundausrichtung der Volkskirche plausibel macht, diese sich zugleich aber durch sehr niedrigschwellige Zugangskriterien auszeichnet und per definitionem Zuwachskirche ist, die ihre Mitglieder durch die Kindertaufe rekrutiert. Alle diese Aspekte zusammengenommen führten also zu einer ziemlich umfassenden Entschlüsselung der „gedachten Ordnung“ Volkskirche. Als „Spurensicherung“ hat Albrecht Beutel das Betreiben der „protestantischen Identitätsgeschichte“ beschrieben. Zu den zentralen „Spuren“ gehören sicherlich die kirchlich-religiösen Grundbegriffe, wie die Volkskirche, mit denen man seinen Ort in der Moderne und darüber hinaus, zu beschreiben gedachte. Hilfreich wäre es sicherlich, diese Innensicht noch um die Außenperspektive zu ergänzen. Wie sahen der Staat und andere gesellschaftliche Akteure – etwa Verbände, Gewerkschaften, aber auch die katholische Kirche und später andere Religionsgemeinschaften, die Kirche in ihrem Agieren als Volkskirche? Eine Geschichte der Volkskirche kann und sollte freilich auch als eine „Problemgeschichte der Gegenwart“ verstanden werden.15 Die heutigen Diskussionen in Kirche und Gesellschaft machen dies unmittelbar evident. Um auch in Zukunft Kirche zu gestalten, kommt man nicht umhin, die Geschichte der protestantischen Identität kritisch zu reflektieren, wobei die Volkskirche einen wichtigen Bestandteil derselben ausmacht, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Gleiches gilt für Kritik und Korrektur am kirchlichen Handeln ebenso wie an religionspolitischen Entwicklungen. Begriffsgeschichtliche Forschungsunternehmungen sollten jedoch nie aus dem Blick verlieren, dass hermeneutische Objektivität genauso wenig wie definitive Antworten erreicht werden können. Aber auch Hans-Georg Gada13 Dies deckt sich mit der These Hugh McLeods von der abnehmenden Bekenntnisbindung seit der „religiösen Krise der 1960er Jahre“. 14 Vgl. programmatisch Daiber, Diakonie. 15 Vgl. am Beispiel des Katholizismus Grossbçlting, Religionsgeschichte.
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mer erkannte den Mehrwert einer historischen Betrachtungsperspektive und betonte den prozessualen Charakter des Verstehens, das hier mithin auch als historisches Erforschen verstanden werden kann: „Die Ausschöpfung des wahren Sinns aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß. Es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so daß der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren. Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung begriffen.“16
Neue Fragestellungen, Perspektiven und methodische Instrumentarien ermöglichen ein vertieftes Verständnis der Verwendungsweisen und Bedeutungszusammenhänge von protestantischen Identitätskonzepten wie der Volkskirche. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit als ein Beitrag zur Hermeneutik und Analyse kirchlicher Grundbegriffe. Wie in dieser Arbeit gezeigt worden ist, können so ungeahnte, bislang weniger stark beachtete „Sinnbezüge“ rekonstruiert und wieder in den historischen, theologischen und kirchlichen Diskurs eingebracht werden.17
16 Gadamer, Hermeneutik, 303. 17 Vgl. in diesem Sinne auch Grossbçlting, Geschichtswissenschaft.
6. Abkürzungsverzeichnis BK BSLK BTE CA CDU DC DDR DEK DNVP EKU KPD MRP MSPD NSDAP ÖRK USPD VELK VKL
Bekennende Kirche Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche Barmer Theologische Erklärung Confessio Augustana Christlich Demokratische Union Deutschlands Deutsche Christen Deutsche Demokratische Republik Deutsche Evangelische Kirche Deutschnationale Volkspartei Evangelische Kirche der Union Kommunistische Partei Deutschlands Mouvement r publicain populaire Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Ökumenischer Rat der Kirchen Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Vorläufige Kirchenleitung
7. Quellen- und Literaturverzeichnis1 7.1 Zeitschriftensample2 Aktuelle Gespräche. Nachrichten aus der Evangelischen Akademie Bad Boll (1953–1960) Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung (1918–1941) Anstöße. Berichte aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Hofgeismar (1954–1960) Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichgottesarbeit in allen Ländern (1918–1941) Bekennende Kirche (1933–1939) Bekennende Kirche auf dem Weg (1950–1953) Christentum und Gegenwart. Evangelisches Monatsblatt (1918–1923) Christentum und Wirklichkeit (1923–1925, 1926–1931, 1932–1934) Christliche Freiheit. Blätter für eine evangelische Volkskirche (1918–1929) Das Evangelium im Dritten Reich. Sonntagsblatt der Deutschen Christen (1932–1937) Das Evangelische Deutschland. Kirchliche Rundschau für das Gesamtgebiet des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes (1924–1945) Das Evangelische Westfalen (1929–1941) Das missionarische Wort (1952–1960) Das neue Werk, der Christ im Volksstaat (1919/20–1922/23) Der evangelische Erzieher (1949–1960) Deutsche Frömmigkeit (1937–1941) Deutsches Pfarrerblatt (1918–1960) Deutsche Theologie. Monatsschrift für die deutsche evangelische Kirche (1934–1943) Die Christliche Welt. Protestantische Halbmonatsschrift (1918–1941) Die Deutsche Volkskirche (1933–1936) Die Dorfkirche. Monatsschrift für Kirche und Volkstum (1918–1941) Die Furche. Evangelische Monatsschrift für das geistige Leben der Gegenwart (1918–1923, 1928–1933, 1934–1941) Die Innere Mission im evangelischen Deutschland (1918–1931) Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung (1945–1960) Die Mitarbeit. Zeitschrift zur Gesellschafts- und Kulturpolitik (1952–1960) Die neue Furche. Monatsschrift für geistige Auseinandersetzung (1950–1953) Die Reformation. Deutsche evangelische Kirchenzeitung für die Gemeinde (1918–1941) Die Volkskirche. Evangelisches Monatsblatt für Württemberg (1928–1939) Die Volkskirche. Blätter der Braunschweigischen Kirchlichen Mitte (1930–1933) 1 Die Abkürzungen erfolgen nach Schwertner, Abkürzungsverzeichnis. 2 Alle in diesem Sample enthaltenen Zeitschriften wurden für die vorliegende Arbeit durchgesehen. Insgesamt handelt es sich um 68 Zeitschriften. Nicht alle Publikationsorgane waren in gleicher Weise aussagekräftig, für die Analyse in der Arbeit wurden dann vor allem die diskurstragenden Beiträge ausgewählt.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Die Volksmission. Monatsschrift für Evangelisation, Apologetik und Vertiefung des christlichen Volkslebens (1920–1932) Evangelische Frauenzeitung (1918–1941) Evangelische Jahresbriefe (1936–1951/52) Evangelische Theologie (1934/35–1938, 1946/47–1960) Evangelische Welt. Informationsblatt für die Evangelische Kirche in Deutschland (1947–1960) Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung (1947–1960) Glaube und Volk (1931–1933) Glaube und Volk in der Entscheidung (1934–1941) Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen (1951–1960) Jahresbriefe des Berneuchener Kreises (1931–1936) Junge Kirche (1933–1941, 1949–1960) Kerygma und Dogma. Zeitschrift für theologische Forschung und kirchliche Lehre (1955–1960) Kirche in der Zeit. Evangelische Kirchenzeitung (1950–1960) Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen Deutschlands (1918–1932) Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland (1933–1945, 1946–1960) Kommunität. Vierteljahreshefte der Evangelischen Akademie in Berlin (1957–1960) Licht und Leben (1918–1960) Monatsschrift für Pastoraltheologie zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens (1918–1960) Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (1954–1960) Neue kirchliche Zeitschrift (1918–1933) Neuwerk (1922–1934) Positive Union (1918–1935) Preußische Kirchenzeitung (1918–1933) Quatember. Vierteljahreshefte für Erneuerung und Einheit der Kirche (1952–1960) Protestantenblatt. Wochenschrift für den deutschen Protestantismus (1918–1941) Reformierte Kirchenzeitung (1918–1960) Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben (1949–1959) Stimme (1960) Theologische Blätter (1922–1942) Unsere Volkskirche. Kampfblatt der Deutschen Glaubensfront (1933–1935) Volkskirche. Deutsch-evangelische Monatsschrift (1919–1923) Wartburg. Deutsch-evangelische Monatsschrift (1918–1941) Wort und Tat (1924–1937) Zeichen der Zeit (1948–1960) Zeitschrift für Evangelische Ethik (1957–1960) Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (1951–1960) Zeitschrift für Theologie und Kirche (1918–1960) Zeitwende (1925–1960) Zwischen den Zeiten (1923–1933)
Quellen
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8. Personenregister Das Personenregister enthält alle im Haupttext und in den Anmerkungen dieser Arbeit genannten Persönlichkeiten, außer den Autorennamen. Wenn ein Eintrag im Personenlexikon vorhanden ist, wird abgesehen von den Lebensdaten nur auf den entsprechenden Eintrag ebendort verwiesen. Einschlägige biografische Literatur wird in der Arbeit selbst angeführt. Alle weiteren biografischen Informationen wurden aus einschlägigen Lexika und seriösen Internetquellen recherchiert. Dabei werden vornehmlich die biografischen Informationen angegeben, die den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit betreffen. Adam, Alfred 105, 180, 224 f., 272 f., 305 f. geb. 3. 6. 1899 Hirschberg (Dillkreis), gest. 24. 10. 1975 Bethel (Westfalen) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 17]. Albertz, Martin 129, 144 geb. 7. 5. 1883 Halle, gest. 29. 12. 1956 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 19] Althaus, Paul 41 f., 46, 63, 92, 134, 149 f., 161 f., 166 f., 182, 206 f., 231, 244, 247, 251, 259, 283, 305 geb. 4. 2. 1888 Obershagen bei Celle, gest. 18. 5. 1966 Erlangen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 20] Asmussen, Hans 143–145, 156, 158 f., 167, 170, 194, 196–198, 200, 210 f., 226 f., 231, 237, 25 geb. 21. 8. 1898 Flensburg, 30. 12. 1968 Speyer [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 22] Bachmann, Philipp 106 f. geb. 13. 10. 1864 Geißlingen Kr. Uffenheim (Bayern), gest. 18. 3. 1931 Erlangen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 23] Baden, Hans Jürgen 256 geb. 10. 12. 1911 Rotenburg (Wümme), gest. 18. 11. 1986 Celle Studium der Evangelischen Theologie und Philosophie in Greifswald, Tübingen und Göttingen. Anschließend Pfarrer in Wienhausen, ab 1951 in Hannover. Zählte zu den bedeutendsten evangelischen Essayisten des 20. Jahrhunderts. Barth, Karl 28, 39, 44 f., 54, 87 f., 93, 96–104, 119, 124, 128 f., 144, 155 f., 168–171, 176, 181, 186–189, 196, 200, 212–217, 220 f., 223, 232 f., 244, 250 f., 259, 262 f., 265, 271, 282, 298 f., 324 geb. 10. 5. 1886 Basel, gest. 10. 12. 1968 Basel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 27] Bartning, Gerhard 311 Pfarrer, Psychotherapeut und Mitglied der Gemeinschaftsbewegung. Bassarak, Gerhard 267 f. geb. 3. 2. 1918 Willenberg (Ostpreußen), gest. 22. September 2008 Schildow
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Personenregister
Seit 1934 Mitglied der Bekennenden Kirche. 1937–1945 Dienst in der Wehrmacht. 1945–1950 Studium der Evangelischen Theologie in Halle. 1957 bis 1967 Studienleiter der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Ab 1967 gegen den Willen der dortigen Fakultät Professor für ökumenische Theologie in Halle. 1968 Professor für Ökumenik in Berlin. Seit 1957 Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Baumann, Eberhard 50, 222 geb. 27. 5. 1871 Lübbenow (Brandenburg), gest. 29. 2. 1956 Plön [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 29] Baumgarten, Otto 41, 60, 112 geb. 29. 1. 1858 München, gest. 21. 3. 1934 Kiel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 30] Beckmann, Joachim 158, 248 f., 260, 264, 275, 311–317, 324 geb. 18. 7. 1901 Wanne Eickel, gest. 18. 1. 1987 Düsseldorf [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 31]. Behm, Heinrich 78, 89–91 geb. 30. 3. 1853 Thelkow (Mecklenburg-Schwerin), gest. 11. 3. 1930 Schwerin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 32]. Bergmann, Ernst 200 f., 227–229 geb. 7. 8. 1881 Colditz (Sachsen), gest. 16. 4. 1945 Hamburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 35]. Bismarck, Klaus von 273, 277, 279, 282 geb. 6. 3. 1912 auf Gut Jarchlin, Landkreis Neugard, Hinterpommern, gest. 22. 5. 1997 Hamburg Nach dem Abitur machte er eine landwirtschaftliche Ausbildung ehe er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Nach Kriegsende war er Jugenddezernet des Kreises Herford. 1960 bis 1977 Intendant des WDR. Vielfältiges Engagement in der Evangelischen Kirche, u. a. als Mitglied des Präsidiums und zeitweiliger Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Bjçrkquist, Manfred 92 geb. 22. 4. 1884 Norrgisjö, gest. 23. 11. 1985 Sigtuna 1942–1954 Bischof von Stockholm. Bodelschwingh, Friedrich von 148, 189 geb. 14. 8. 1877 Bethel, gest. 4. 1. 1946 Bethel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 39]. Bornkamm, Heinrich 168 geb. 26. 6. 1901 Wuitz Kr. Zeitz (Provinz Sachsen), gest. 21. 1. 1977 Heidelberg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 42] B lck, Walter 112–114, 120, 219, 234, 303 geb. 7. 3. 1891 Altona, gest. 20. 4. 1952 Hamburg-Altona [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 48] Coch, Friedrich 142, 153, 231 geb. 11. 12. 1887 Eisenach, gest. 9. 9. 1945 Hersbruck (Bayern) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 52] Cordier, Leopold 144 f., 220 geb. 14. 7. 1887 Landau (Pfalz), gest. 1. 3. 1939 Gießen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 54]
Personenregister
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Dehn, Günther 270, 281 geb. 18. 4. 1882 Schwerin, gest. 17. 3. 1970 Bonn [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 56] Delekat, Friedrich 153 f., 264, 276 geb. 4. 4. 1892 Stühren bei Sülte, Grafschaft Hoya (Provinz Hannover), gest. 30. 1. 1970 Mainz [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 57] Dibelius, Otto 28, 48–50, 58 f., 62 f., 76, 87 f., 93–95, 97, 99–104, 119, 122, 192, 237, 244, 246 f., 249, 264, 267, 269, 281, 302, 304 geb. 15. 5. 1880 Berlin, gest. 31. 1. 1967 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 58] Diem, Hermann 221, 245, 251, 254 f., 257–261, 271 f., 299 f., 307 f., 311, 320 geb. 2. 2. 1900 Stuttgart, gest. 27. 2. 1975 Tübingen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 59 f.] Dinter, Artur 153, 229 f. geb. 27. 6. 1876 Mülhausen, gest. 21. 5. 1948 Offenburg Studierte Naturwissenschaften und Philosophie in München und Straßburg. Promotion in Chemie. Durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges wurde er zum Anhänger der Völkischen Bewegung und wurde zu einem völkischen Bestsellerautor. 1934 gründete er die „Deutsche Volkskirche“ mit der er seine religiösen Ziele zu verwirklichen suchte. Eger, Karl 34 f., 92, 165 geb. 18. 8. 1864 Friedberg (Oberhessen), gest. 3. 7. 1945 Halle [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 67] Ehlers, Hermann 137 f., 240, 249 f., 305 geb. 1. 10. 1904 Schöneberg, gest. 29. 10. 1954 Oldenburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 67 f.] Elert, Werner 134, 150, 161 f., 182, 207, 263 geb. 19. 8. 1885 Heldrungen (Provinz Sachsen), gest. 21. 11. 1954 Erlangen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 69 f.] Fiedler, Eberhard 159 f. 19. 1. 1898 Kösritz, gest. 29. 5. 1947 Ronneburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 76] Frçhlich, Andreas 176, 179 f. Superintendent von Leipzig-Land und Anhänger der DC Fuchs, Emil 45, 52, 72, 245 geb. 13. 5. 1874 Beerfelden (Odenwald), gest. 13. 2. 1971 Berlin (Ost) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 82] F hr, Fritz 296 f. geb. 28. 4. 1904 Halberstadt, gest. 21. 7. 1963 Berlin Studium der Theologie in Marburg und Halle (Saale). Im Zweiten Weltkrieg Militärdienst. Mitglied der Bekennenden Kirche. 1956 Generalsuperintendent in Berlin, Sprengel II. Gablentz, Otto Heinrich von der 269, 275, 281 geb. 11. 9. 1989 Berlin, 27. 4. 1972 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 83]
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Personenregister
Gerber, Hans 151, 163 f. geb. 29. 9. 1889 Altenburg (Thüringen), gest. 16. 10. 1981 Bad Krozingen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 86] Gerstenmaier, Eugen 238, 240, 251, 282 f. geb. 25. 8. 1906 Kirchheim/Teck, gest. 13. 3. 1986 Oberwinter [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 87] Gloege, Gerhard 221, 245 24. 12. 1901 Crossen/Oder, gest. 15. 4. 1970 Bonn [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 88] Gogarten, Friedrich 44 f., 134, 138, 176 f., 200, 214, 232 f., 251, 254, 298 geb. 13. 1. 1887 Dortmund, gest. 16. 10. 1967 Göttingen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 90] Gollwitzer, Helmut 20 f., 196, 259, 263 f., 273, 279, 293, 306, 311 geb. 29. 12. 1908 Pappenheim (Bayern), gest. 17. 10. 1993 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 90] Goltz, Eduard Freiherr von der 83 geb. 31. 7. 1870 Langenbruck bei Basel, gest. 7. 2. 1939 Greifswald [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 91] Gr ber, Heinrich 252 f. geb. 24. 6. 1891 Stolberg (Rheinland), gest. 29. 11. 1975 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 92 f.] Grundmann, Walter 13, 124, 152, 158, 172 f., 180–183, 185 f., 200 f., 228, 231 geb. 21. 10. 1906 Chemnitz, gest. 30. 8. 1976 Eisenach [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 93 f.] G rtler, Ernst 148, 187 Superintendent des Kirchenkreises Storkow Gutmann, Bruno 205 geb. 4. 7. 1876 Dresden, gest. 17. 12. 1966 Ehingen am Hesselberg Ausbildung am Evangelisch-Lutherischen Missionsseminar in Leipzig, anschließend Studium der Evangelischen Theologie. Entsendung in den Missionsdienst nach Ostafrika. In den 1920er Jahre wirkte er als Missionswissenschaftler. Haarbeck, Theodor 68–71 geb. 11. 11. 1846 Neukirchen, gest. 3. 12. 1923 Barmen Studium in Basel, Tübingen und Bonn. Anschließende Tätigkeit als Lehrer. Ab 1890 Inspektor und späterer Direktor der Evangelistenschule Johanneum in Barmen. 1911 bis 1919 Vorsitzender des Gnadauer Verbandes. Haendler, Otto 21, 318 f. geb. 18. 4. 1890 Löwenhagen (Ostpreußen), gest. 12. 1. 1981 Berlin (Ost) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 96] H hnelt, Wilhelm 62 geb. 22. 3. 1846, gest. ca. 1930 seit 1894 Propst und Kreisschuldirektor in Angermünde Hamel, Johannes 318 f. geb. 19. 11. 1911 Schöningen, gest. 1. 8. 2002 Wernigerode Theologiestudium in Tübingen, Königsberg und Halle (Saale). Nach einer kurzen Mitgliedschaft in der SA Anschluss an die BK. Seit 1942 Kriegsdienst und -gefangen-
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schaft. 1955 bis 1976 Dozent für Praktische Theologie am Katechetischen Oberseminar in Naumburg. 1985 Ausreise in die Bundesrepublik. Hammelsbeck, Oskar 261, 269, 272, 276, 282 geb. 22. 5. 1899 Elberfeld, gest. 14. 5. 1975 Detmold [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 97 f.] Harbsmeier, Götz 251, 281 geb. 13. 8. 1910 Weißenburg, gest. 28. 6. 1979 Studium der Evangelischen Theologie in Göttingen und Marburg, dort zeitweise Assistent von Rudolf Bultmann. Mitglied der BK. Nach dem Kriegsdienst zunächst Pfarrer in Reiffenhausen. Nach einer Dozentur an der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg, ab 1962 Professor für Praktische Theologie in Göttingen. Harnack, Theodosius 32 f. geb. 3. 1. 1817 Sankt Petersburg, gest. 23. 9. 1889 Dorpat, Estland Studium der Theologie in Dorpat, Berlin, Bonn und Erlangen. Ab 1848 zunächst Professor für Praktische, später für Systematische Theologie in Dorpat. Nach einer Zwischenstation in Erlangen kehrte er nach Dorpat zurück. Heim, Karl 61, 66–68, 70 f., 76, 119, 140, 171, 175 f. geb. 20. 1. 1874 Frauenzimmern (Württemberg), gest. 30. 8. 1958 Tübingen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 104] Heinemann, Gustav 45, 237, 240, 246, 257 geb. 23. 7. 1899 Schwelm (Westfalen), gest. 7. 7. 1976 Essen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 105] Hennig, Martin 65 geb. 28. 11. 1864 Loslau, gest. 27. 8. 1920 Bad Tölz Studium der Theologie in Breslau und Greifswald. Publizistische Tätigkeit im Rahmen der Inneren Mission. Ab 1901 Nachfolger Wicherns als Direktor des Rauhen Hauses in Hamburg. Hermann, Rudolf 150 f., 293, 305 geb. 3. 10. 1887 Barmen, gest. 2.(10.) 6. 1962 [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 108] Herntrich, Volkmar 259, 261 f., 283, 289, 306–308 geb. 8. 12. 1908 Flensburg, gest. 14. 9. 1958 Lietzow bei Nauen (verunglückt) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 109] Hertzsch, Erich 319 f. geb. 31. 3. 1902 Unterbodnitz (Thüringen), gest. 28. 10. 1995 Hamburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 110] Hilbert, Gerhard 74–78, 91, 108, 111, 119, 279 geb. 9. 11. 1868 Leipzig, gest. 16. 5. 1936 Leipzig [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 112] Hinderer, August Hermann 49, 121, 130 geb. 8. 8. 1877 Weilheim/Teck, gest. 27. 10. 1945 Kirchheim Teck [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 113] Hirsch, Emanuel 46, 134 f., 149, 165, 167 f., 174 f., 181 f., 200, 215 f., 231 f. geb. 14. 6. 1888 Bentwisch/Westprignitz (Brandenburg), gest. 17. 7. 1972 Göttingen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 113 f.]
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Holl, Karl 45, 59, 85 geb. 15. 5. 1866 Tübingen, gest. 23. 5. 1926 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 114] Holstein, Günther 46, 236 geb. 22. 5. 1892 Berlin, 11. 1. 1931 Kiel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 115] Hossenfelder, Joachim 123 f., 136–138, 141–143, 176, 183, 185, 205 f., 213, 230 f. geb. 29. 4. 1899 Cottbus (Brandenburg), gest. 28. 6. 1976 Lübeck [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 117] Hunzinger, August Wilhelm 105 f., 120 geb. 27. 3. 1876 Dreilützow, gest. 13. 11. 1920 Hamburg Studium der Evangelischen Theologie in Greifswald und Rostock. Nach verschiedenen Stationen im Pfarramt folgten Professuren in Leipzig und Erlangen. Ab 1911 Hauptpastor an der St. Michaeliskirche in Hamburg. Ihmels, Ludwig 73–75, 81 geb. 29. 6. 1858 Middels (Ostfriesland), gest. 7. 6. 1933 Leipzig [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 120] Iwand, Hans Joachim 245, 260, 273, 299, 324 geb. 11. 7. 1899 Schreibendorf (Schlesien), gest. 2. 5. 1960 Bonn [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 121] Jacob, Günter 155, 168, 265–267, 284, 293–296, 317 f., 321, 323 geb. 8. 2. 1906 Berlin, gest. 29. 9. 1993 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 122] Jacobi, Gerhard 265, 305 geb. 25. 11. 1891, gest. 12. 7. 1971 [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 122] Jacobs, Rudolf 45, 135, 191 f., 294 Pfarrer an der St. Petrikirche Dresden J nicke, Johannes 295, 318 geb. 23. 10. 1900 Berlin, gest. 30. 3. 1979 Halle [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 123] Jeremias, Alfred 61 f. geb. 21. 2. 1864 Markersdorf bei Chemnitz, gest. 11. 1. 1935 Leipzig [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 124] Kaftan, Theodor 47, 53 f., 56 f., 63 f., 81, 95 geb. 18. 3. 1847 Loit bei Apenrade, Nordschleswig, gest. 26. 11. 1932 Baden-Baden Regierungs- und Schulrat in Schleswig. Hauptpastor und Propst in Nordtondern ab 1884. Seit 1886 Generalsuperintendent in Schleswig. 1917 Versetzung in den Ruhestand. Kahl, Wilhelm 41, 57, 61, 293 geb. 17. 6. 1849 Kleinheubach/Main, gest. 14. 5. 1932 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 127] Kapler, Hermann 57, 124 geb. 2. 12. 1867 Oels (Schlesien), 2. 5. 1941 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 129]
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Karrenberg, Friedrich 257, 279, 282 geb. 16. 4 1904 Velbert, gest. 28. 11. 1966 Berlin Engagement in der Jugendbewegung. Ausbildung im väterlichen Unternehmen. Studium der Soziologie in Frankfurt am Main 1925 bis 1931. Anschließend Übernahme des väterlichen Betriebes. 1954 Herausgabe des Evangelischen Soziallexikons. Seit 1946 Vorsitzender des Sozialethischen Ausschusses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Mitherausgeber der Zeitschrift für Evangelische Ethik. Kinder, Christian 205 f., 353 geb. 29. 5. 1897 Plön (Holstein), gest. 30. 4. 1972 Hamburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 132] Kinder, Ernst 245, 306, 311, 353 geb. 11. 5. 1910 Barmen, gest. 2. 12. 1970 Münster Pfarrer in Bayern. Ab 1937 Sekretär des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Nach Kriegsdienst und -gefangenschaft wurde er 1947 Professor für Systematische Theologie in Neuendettelsau. Von 1953 bis zu seinem Tod Professor in Münster. Mitglied der altlutherischen Kirche. Koch, Friedrich 82, 85 f. 1855–1928 Kirchenjurist Kolfhaus, Wilhelm 171, 271, 282, 306 1870–1954 Mitglied des Moderamen des Reformierten Bundes. 1936 Mitglied des Reformierten Arbeitsausschusses. Schriftleiter der Reformierten Kirchenzeitung. Krause, Reinhold 126, 186, 230 geb. 22. 10. 1893 Berlin, gest. 24. 4. 1980 Konstanz [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 144] Krummacher, Friedrich Wilhelm 265, 292, 294 geb. 3. 8. 1901 Berlin, gest. 19. 6. 1974 Altefähr (Rügen) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 146] Krummacher, Gottfried 148 geb. 26. 2. 1892 Weingarten (Württemberg), gest. 20. 7. 1954 Kassel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 146 f.] K nneth, Walter 114, 147, 163, 191, 238, 244 f., 263 geb. 1. 1. 1901 Etzelwang (Oberpfalz), gest. 26. 10. 1997 Erlangen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 148] Kuptsch, Julius 184 geb. 1882. Pfarrer in Riesenburg (DC) Laible, Wilhelm 54–56, 226 geb. 13. 9. 1856 Nördlingen, gest. 18. 10. 1943 Leipzig [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 151] Leffler, Siegfried 122 geb. 21. 11. 1900 Azendorf (Oberfranken), gest. 10. 11. 1983 Hengersberg (Niederbayern) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 154]
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Leutheuser, Julius 122, 192 geb. 9. 12. 1900 Bayreuth, gest. 24. 11. 1942 (gefallen) bei Stalingrad [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 156] Lilje, Hanns 190, 216, 237, 250, 264, 280 geb. 20. 8. 1899 Hannover, gest. 6. 1. 1977 Hannover [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 157 f.] Locher, Benjamin G. 304 1909–1987 Vikariat und Hilfsdienst in London und Amsterdam. 1937 bis 1940 Studieninspektor am Reformierten Predigerseminar in Wuppertal. Nach dem Kriegsdienst übernahm er ein Pfarramt in Elberfeld. Ab 1958 Direktor des Evangelischen Seminars für kirchliche Dienste. Mahling, Friedrich 32 f., 36 f., 57, 82 geb. 14. 2. 1865 Frankfurt/Main, gest. 18. 5. 1933 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 165] Margull, Hans Jochen 290–292, 323 geb. 25. 9. 1925 Tiegenhof, gest. 26. 1. 1982 Hamburg Nach dem Kriegsdienst Studium der Theologie und der Philosophie in Greifswald, Mainz und Halle. Stipendiat des Ökumenischen Rats der Kirchen. 1967 Professor für Missionswissenschaften in Hamburg. Umfangreiches Engagement in der Ökumene. Marsch, Wolf-Dieter 136, 281 geb. 2. 10. 1928 Beeskow, gest. 23. 11. 1972 Studium der Theologie in Greifswald, Tübingen, Göttingen und in den USA. 1958 Studienleiter an der Evangelischen Akademie Berlin-Wannsee. 1962 Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. 1969 Wechsel nach Münster. May, Gerhard 202–206 geb. 13. 2. 1898 Graz, gest. 25. 2. 1980 Wien [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 168] Meiser, Hans 127, 236–238 geb. 16. 2. 1881 Nürnberg, gest. 8. 6. 1956 München [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 169 f.] Meissner, Erwin 224 f. Evangelischer Theologe Merz, Georg 144, 194–196 geb. 3. 3. 1892 Walkersbrunn (Oberfranken), gest. 16. 11. 1959 [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 171] Michaelis, Walter 68, 71 geb. 4. 3. 1866 Frankfurt/Oder, gest. 9. 10. 1953 [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 174]. Mçbius, Karl 69 f. geb. 27. 7. 1878 Leipzig, gest. 5. 5. 1962 Neumünster Lehre als Antiquar und Buchhändler. Seit 1906 Schriftleiter der Zeitschrift „Auf der Warte“. Zahlreiche Ämter in gemeinschaftsnahen Verbänden. M cksch, Walther 318 geb. 13. 8. 1906 Magdeburg, gest. 17. 6. 1993 Euskirchen
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Studium der Theologie in Halle und Königsberg. Mitglied der BK, deswegen Verhaftungen und Redeverbote. 1940 bis 1945 Kriegsdienst. Ab 1946 Domprediger und Superintendent in Stendal. 1960 Rektor des Pastoralkollegs der Kirchenprovinz Sachsen. Seit 1966 Oberkonsistorialrat in Magdeburg. Mulert, Hermann 41, 47, 217–220, 225 f., 233 f. geb. 11. 1. 1879 Niederbobritzsch (Sachsen), gest. 22. 7. 1950 Mügeln bei Leipzig [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 182] M ller, Ludwig 125, 127 geb. 23. 6. 1883 Gütersloh, gest. 31. 7. 1945 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 180] Niemçller, Martin 125 f, 128 f., 147, 199 f., 221, 237 f., 240, 247, 263, 270 f., 273, 280, 282, 300, 304, 311 geb. 14. 1. 1892 Lippstadt (Westfalen), gest. 6. 3. 1984 Wiesbaden [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 185] Noth, Gottfried 297, 324 geb. 26. 1. 1905 Dresden, gest. 9. 5. 1971 Dresden 1953–1971 sächsischer Landesbischof. 1955–1968 Mitglied des Rates der EKD. Pfennigsdorf, Emil 85, 138 f., 167, 185 geb. 10. 6. 1868 Plötzkau bei Bernburg (Anhalt), gest. 7. 4. 1952 Bonn [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 194 f.] Piper, Otto 44, 101 geb. 29. 11. 1891 Lichte (Thüringen), gest. 12. 2. 1982 Princeton (USA) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 195 f.] Quervain, Alfred de, 250, 259 geb. 28. 9. 1896 La Neuveville Kanton Bern (Schweiz), gest. 30. 10. 1968 Bern [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 199] Rabenau, Eitel Friedrich von 34, 187–189, 300 f. geb. 13. 1. 1884 Schweidnitz (Schlesien), gest. 5. 10. 1959 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 199 f.] Rade, Martin 37, 41, 46, 49 f., 52, 60, 66, 68, 71 f., 80 f., 118, 217 geb. 4. 4. 1857 Rennersdorf bei Herrnhut, gest. 8. 4. 1940 Frankfurt/Main [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 200 f.] Rehm, Wilhelm 164 f., 203, 228 f., 232 geb. 8. 12. 1900 Saulgau (Württemberg), gest. 13. 2. 1948 Ansbach [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 204] Rendtorff, Heinrich 89, 289 geb. 9. 4. 1888 Westerland auf Sylt, gest. 18. 4. 1960 Kiel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 205] Rendtorff, Trutz 36, 276–279, 316, 331 geb. 24. 1. 1931 Schwerin, gest. 24. 12. 2016 München Studium der Theologie und Soziologie in Kiel, Bloomington, Indiana, Göttingen, Basel und Münster. 1968 bis 1999 Professor für Systematische Theologie in München. Zahlreiche kirchliche Verantwortlichkeiten, u. a. als Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD. Rich, Arthur 264, 279–281 geb. 21. 1. 1910 Neuhausen am Rheinfall, gest. 25. 7. 1992 Zürich
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Studium der Theologie in Zürich und Paris. 1964 Gründungsdirektor des Instituts für Sozialethik in Zürich. 1952–1974 Professor für Systematische und Praktische Theologie ebendort. Sasse, Hermann 198 f. geb. 17. 7. 1895 Sonnewalde Kr. Lennep (Brandenburg), gest. 8. 8. 1976 North Adelaide (Südaustralien) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 212 f.] Schairer, Immanuel 139, 184 geb. 1885, gest. 1963 Stadtpfarrer in Hedelfingen. Landesleiter der DC in Württemberg Scharf, Kurt 257, 293, 295 geb. 21. 10. 1902 Landsberg/Warthe, gest. 28. 3. 1990 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 215] Scheel, Otto 210 geb. 7. 3. 1876 Tondern/Nordschleswig, gest. 13. 11. 1954 Kiel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 215] Schian, Martin 47, 61, 64, 97, 101, 104, 112 geb. 10. 8. 1869 Liegnitz (Schlesien), gest. 11. 6. 1944 Breslau [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 216] Schlink, Edmund 248, 253, 299, 320 geb. 6. 3. 1903 Darmstadt, gest. 20. 5. 1984 Heidelberg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 218 f.] Schmauch, Werner 253 geb. 12. 3. 1905 Herischdorf (Riesengebirge), gest. 24. 5. 1964 Greifswald [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 219 f.] Schmied-Kowarzik, Walther 146 geb. 22. 5. 1885 Mödling bei Wien, gest. 24. 7. 1958 Mödling bei Wien Studium der Philosophie, Psychologie und der Geschichte in Wien. Als Professor für Philosophie und Psychologie war er an den Universitäten in Wien, Dorpat, Frankfurt am Main und Gießen tätig. Schmitz, Otto 61, 66–68, 70–72, 76, 86, 119, 140, 171, 175, 311 geb. 16. 6. 1883 Hummeltenberg (jetzt Neu-Hückeswagen) bei Lennep (Rheinland), gest. 20. 10. 1957 Elberfeld [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 223] Schneider, Johannes 64 f., 95–97, 99 geb. 7. 7. 1857 Höxter/Weser, gest. 12. 8. 1930 Höxter/Weser [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 223 f.] Schçnherr, Albrecht 293, 295, 318 geb. 11. 9. 1911 Katscher, Landkreis Leobschütz (Schlesien), gest. 9. 3. 2009 Potsdam Studium der Theologie in Tübingen und Berlin. 1934 Anschluss an die BK. 1935 Eintritt in das BK-Predigerseminar in Finkenwalde. 1947 bis 1962 Pfarrer am Dom zu Brandenburg/Havel und Superintendent. 1972 bis 1981 Bischof der Ostregion der Berlin-Brandenburgischen Kirche. 1969 Mitbegründer des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR.
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Schubring, Wilhelm 47, 84, 104, 139, 142, 146 Pfarrer an St. Marien in Berlin. Seit 1920 Herausgeber des Protestantenblatts. Seit 1921 Generalsekretär des Protestantenvereins. Schulz, Georg 192 f. geb. 13. 2. 1889 Nauen (Brandenburg), gest. 5. 11. 1954 Hamm (Westfalen) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 231] Seur, Paul le 108, 111 geb. 18. 7. 1877 Berlin, 13. 3. 1963 Potsdam Nach dem Studium der Theologie Tätigkeit als Pastor und Evangelist. 1909 bis 1925 Inspektor der Berliner Stadtmission als Nachfolger Adolf Stoeckers. Nach 1945 wirkte er als Schriftsteller. Siegfried, Theodor 9, 193 geb. 28. 1. 1894 Berlin, gest. 28. 4. 1971 Marburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 237] Soden, Hans Freiherr von 47, 84 f., 93 geb. 4. 11. 1881 Striesen bei Dresden, gest. 2. 10. 1945 Marburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 240] Sçhlmann, Fritz 148, 186 f., 201 f. geb. 14. 4. 1905 Hannover, 30. 9. 1977 Hannover [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 240] St hlin, Wilhelm 311 geb. 24. 9. 1883 Gunzenhausen (Bayern), gest. 16. 12. 1975 Prien am Chiemsee [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 243] Stammler, Eberhard 256, 311 geb. 14. 8. 1915 Ulm/Donau, gest. 9. 1. 2004 Stuttgart Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen. 1947 Gründungsmitglied des Sonntagsblatts. Es folgten weitere journalistische Führungspositionen, u. a. bei Christ und Welt. Darüber hinaus als freier Schriftsteller tätig. Stange, Erich 107–112, 120, 183 f., 225, 233 geb. 23. 3. 1888 Schwepnitz (Sachsen), 12. 3. 1972 Kassel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 244] Stapel, Wilhelm 134, 203, 209 geb. 27. 10. 1882 Calbe an der Milde (Altmark), gest. 1. 6. 1954 Hamburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 245] Steck, Karl Gerhard 253, 264, 304 geb. 28. 4. 1908 Markt Nordheim, gest. 6. 9. 1983 Bad Homburg vor der Höhe Studium der Evangelischen Theologie, vor allem bei Karl Barth. Mitglied der BK. 1952 Professor für Systematische Theologie in Frankfurt am Main, 1960 bis 1980 in Münster. Zählte zu den Herausgebern der „Stimme der Gemeinde“. Stephan, Horst 10, 51, 61 geb. 27. 9. 1873 Sayda (Sachsen), gest. 9. 1. 1954 Leipzig [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 249] Stoecker, Adolf 34, 50, 59, 108, 165, 224 geb. 11. 12. 1835 Halberstadt, gest. 7. 2. Bozen-Gries Studium der Theologie in Halle und Berlin.1874 Hofprediger in Berlin.1877 Gründer
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der Berliner Stadtmission. 1890 Gründer des Evangelisch-sozialen Kongresses.1896 Gründer der Christlich-sozialen Arbeiterpartei. Ab 1879 MdL und ab 1881 MdR. Stokmann, Gisebert 79 geb. 24. 11. 1855 Nüttermoor, Ostfriedland, gest. 8. 3. 1926 Barmen Pastor in Barmen Thadden-Trieglaff, Reinold von 190 geb. 13. 8. 1891 Mohrungen (Ostpreußen), gest. 10. 10. 1976 Fulda [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 254 f] Thielicke, Helmut 238, 245 f., 248, 272, 283 geb. 4. 12. 1908 (Wuppertal)-Barmen, gest. 5. 3. 1986 Hamburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 256] Thier, Erich 280 geb. 1902 Nach einer Lehre zum Mechaniker später zunächst als Bibliothekar tätig. Nach russischer Kriegsgefangenschaft Studium der Evangelischen Theologie in Heidelberg. Seit 1954 Studienleiter der Evangelischen Sozialakademie Friedewald. Thom, Karl 201 geb. 20. 3. 1900 Dt.-Eylau (Westpreußen), gest. 2. 2. 1935 Greifswald [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 257]. Titius, Arthur 49, 52, 68 geb. 23. 4. 1864 Sensburg (Ostpreußen), gest. 7. 9. 1936 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 260] Tribukait, Hans 72 geb. 1. 2. 1870 Lyck (Ostpreußen), gest. 28. 5. 1941 Lyck (Ostpreußen) Studium der Theologie in Königsberg und Berlin. Seit 1918 Pfarrer in Dortmund. Engagierte sich im sog. Dortmunder Schulkampf sowie gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus. Trillhaas, Wolfgang 222 f., 245 geb. 31. 10. 1903 Nürnberg, gest. 24. 4. 1995 Göttingen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 261] Troeltsch, Ernst 26, 35, 41, 56, 77, 110, 112 geb. 17. 2. 1865 Haunstetten bei Augsburg, gest. 1. 2. 1923 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 261] T gel, Franz 151 f., 216 f., 231 geb., 16. 7. 1888 Hamburg, gest. 15. 12. 1946 Hamburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 262] Vicedom, Georg Friedrich 289 geb. 8. 8. 1903 Unterrimbach bei Burghaslach (Mittelfranken), gest. 13. 10. 1974 Neuendettelsau Ausbildung zum Missionar am Missionsseminar in Neuendettelsau. Entsendung als Missionar nach Neuguinea. Vogel, Heinrich 158, 205, 245, 253, 260, 264, 269, 271, 281, 304, 311 geb. 9. 4. 1902 Pröttlin (Westpregnitz), gest. 25. 12. 1989 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 265] Wagner, Alfred 185 f. DC Pfarrer in Braunschweig
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Walz, Hans Hermann 262 f. geb. 3. 8. 1914 Esslingen, gest. 4. 7. 1998 Fulda Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen und der Rechtswissenschaften in Berlin. 1954 bis 1981 Generalsekretär des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Außerdem Tätigkeit in der Evangelischen Akademie in Bad Boll sowie beim Ökumenischen Rat der Kirchen. Weber, Otto 245, 251 f., 255, 274, 291, 303 geb. 4. 6. 1902 Köln, gest. 19. 10. 1966 St. Moritz (Schweiz) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 269] Wehrung, Georg 300–303, 306, 324 geb. 6. 10. 1880 Dorlisheim (Elsass), gest. 20. 1. 1959 Tübingen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 270]. Weinel, Heinrich 52, 57, 202 geb. 29. 4. 1874 Vonhausen (Hessen), gest. 29. 9. 1936 [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 271] Wendland, Heinz-Dietrich 88 f., 105, 145, 162, 168, 178 f., 233, 252, 256 f., 263, 273–276, 279, 283–291, 294, 301, 316, 322 f. geb. 22. 6. 1900 Berlin, gest. 7. 8. 1992 Hamburg [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 272] Wester, Reinhard 290 geb. 2. 6. 1902 Wuppertal-Elberfeld, gest. 16. 6. 1975 Fissau bei Eutin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 274] Wichern, Johann Hinrich 32 f., 108, 180, 184, 192, 208, 224 f., 227, 282, 284, 313 geb. 21. 4. 1808 Hamburg, gest. 7. 4. 1881 Hamburg Studium der Theologie in Göttingen und Berlin, Kontakte zu erweckten Kreisen. Gründer der Inneren Mission in Deutschland. Umfangreiches volksmissionarisches und soziales Engagement. Wieneke, Friedrich 180 geb. 7. 10. 1892 Zehlendorf, gest. 5. 8. 1957 Alt Töplitz über Potsdam [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 275] Wilken, Waldemar 289 geb. 29. 8. 1910 Belgrad (Pommern), gest. 2. 12. 1957 Wien [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 275] Wilkens, Erwin 273 geb. 11. 7. 1914 Lingen (Ems), gest. 28. 1. 2000 Seit 1933 Studium der Evangelischen Theologie in Münster, Tübingen in Göttingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte er einige Jahre als Pfarrer. Es folgten ab 1951 Tätigkeiten in der VELKD, sowie seit 1964 in der Kirchenkanzlei der EKD, deren Vizepräsident 1974 wurde. Wilm, Ernst 317, 325 geb. 27. 8. 1901 Reinswalde (Niederlausitz), gest. 1. 3. 1989 Lübbecke [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 276] Winkler, Robert 101 geb. 22. 7. 1894 Kulmbach, gest. 22. 6. 1983 Ismaning (Oberbayern) [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 277]
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Personenregister
Wobbermin, Georg 164 geb. 27. 10. 1869 Stettin, gest. 15. 10. 1943 Berlin [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 278] Wolf, Erik 306 geb. 13. 5. 1902 Biberach/Rhein, gest. 13. 10. 1977 Oberrotweil (Kaiserstuhl] [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 278] Wolf, Ernst 128, 168, 171, 247 f., 251, 257 f., 260, 263 f., 281, 306, 321 geb. 2. 8. 1902 Prag, gest. 11. 9. 1971 Garmisch-Partenkirchen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 278 f.] Wolff, Walther 86 f., 95, 100 geb. 9. 12. 1870 Neuwerk bei München-Gladbach, gest. 26. 8. 1931 Aachen [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 279] Wurm, Theophil 127, 138, 227, 237 f., 246, 289 geb. 7. 12. 1868 Basel, gest. 28. 1. 1953 Stuttgart [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 280] Zoellner, Wilhelm 68, 97, 167, 213 geb. 30. 1. 1860 Minden, gest. 16. 7. 1937 Düsseldorf-Oberkassel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 284] Zscharnack, Leopold 49, 52, 58 geb. 22. 8. 1877 Berlin, 19. 8. 1955 Kassel [Personenlexikon Braun / Grünzinger, 284]