Visionäre und Alltagshelden: Ingenieure - Bauen - Zukunft 9783955533762, 9783955533755

Persönlichkeiten und Projekte Der spannende und vielseitige Leistungsumfang der Ingenieure im Bauwesen wird in der Öff

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German Pages 208 [217] Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Ingenieure im Bauwesen
Leben gestalten
Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern
Tief- und Hochbauingenieure – die Entstehung der Berufe
Netzwerke des Ingenieurwissens
Pionierinnen der modernen Großbaustellen – wie sie wurden, wer sie sind
Zur Ausbildung von Ingenieuren
Ästhetik der Ingenieurkonstruktionen
Hülle + Raum
Bogen- und Schalentragwerke
Räume schaffen: Verbindung von Ästhetik und Struktur
Zur Entwicklung der Zeiss-Dywidag- Schalenbauweise
Formfindung – grafische Mittel, Experiment und Modell, numerische Methoden
Computerbasierte Prozesse für bionische Tragkonstruktionen
Tragwerksgestaltung und Formfindungsprozesse
Zugbeanspruchte Konstruktionen
Weit und leicht
Textiler Leichtbau – Entwicklung der Simulationsmethoden seit den 1970er-Jahren bis heute
Das Speichenrad für Ringseildächer im Leichtbau
Leichtbaukonstruktion in Bewegung
Hochbau – Fokus Holz
Mit Holz in neue Dimensionen
Material und Entwurf – hybrid ist die Zukunft?
Türme und Hochhäuser
Hoch hinaus
An der Grenze des Machbaren
Buttressed Core: der gestützte Kern
WASSER + ENERGIE
Ver- und Entsorgung
Wasser in der Stadt
Wasserwandel in Städten der Zukunft
Abwasser wird zu Wärmeenergie
Emscher Umbau: Ökologische Umgestaltung eines Entwässerungssystems
Nutz- und Schutzbauten
Schutz und Sicherheit, Wasser- und Energieversorgung
Schutz vor Naturgewalten
Ertüchtigung von Staudämmen: Pilotprojekt Sylvenstein-Damm
Herausforderungen im Diskurs von Technik und Gesellschaft
Ingenieure als Unternehmer – Einfluss auf die Weiterentwicklung von Bauwesen und Gesellschaft
Innovation Schachtkraftwerk
Offshore-Anlagen
Wind wird Energie
Strom aus dem Meer
Energiewende als Aufgabe für Bauingenieure
Schwimmender Windpark – Hywind Scotland
Schwimmend und ausfahrbar: TELWIND
Flexible Membranflügel für Windturbinen
Umweltingenieure und die Begrenzung der Nebenwirkungen moderner Technik
MOBILITÄT + TRANSPORT
Verkehrswegebau
Erschließung von Raum
Höhenrekorde: Seilbahn Zugspitze
Feste Fahrbahnen im Schienenverkehr
Balkenbrücken
Brücken mit Zukunft
Integrale und semi-integrale Brücken
Ulrich Finsterwalder und die Entwicklung des Freivorbaus
Mehr Qualität und Effizienz durch Vergabeverfahren mit Nebenangeboten und Sondervorschlägen
Tunnelbau
Unter Wasser und durch den Berg
Entwicklung des Tunnelbaus und der Tunnelvortriebsmaschinen
Gebirgsdurchquerung
Geodäsie – ein durchschlagender Erfolg
Nutzung von Tunnelbauwerken für die geothermische Energiegewinnung
Seil- und Hängebrücken
Distanzen überwinden
Kontinente verbinden
Weiter spannen
Wege verkürzen
Verkehrstechnik
Neue Mobilität
Mobilität und Verkehr als dynamisches Tätigkeitsfeld für Ingenieure
Diagonal gekreuzt: Oxford Circus
Kooperative Systeme
Ausblick
Zukünftige Herausforderungen an die Ingenieure im Bauwesen
Anhang
Ingenieurverzeichnis
Personenregister
Projektregister
Sachwortregister
Abbildungsnachweis
Literaturnachweis
Autoren, Expertengremium und Fachbeiräte
Impressum
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Visionäre und Alltagshelden: Ingenieure - Bauen - Zukunft
 9783955533762, 9783955533755

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Visionäre und Ingenieure Alltagshelden Bauen Zukunft

Visionäre und Alltagshelden Ingenieure   –   Bauen   –   Zukunft

Visionäre und Ingenieure Alltagshelden Bauen Zukunft Herausgegeben von Werner Lang und Cornelia Hellstern

6 Ingenieure im Bauwesen Werner Lang, Cornelia Hellstern 9 Leben gestalten Wilhelm Vossenkuhl

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern 14 Tief- und Hochbauingenieure – die Entstehung der Berufe Bill Addis 20 Netzwerke des Ingenieurwissens Dirk Bühler 26 Pionierinnen der modernen Großbaustellen – wie sie wurden, wer sie sind Margot Fuchs 30 Zur Ausbildung von Ingenieuren Gerhard Müller 36 Ästhetik der Ingenieurkonstruktionen Nina Rappaport

Zugbeanspruchte Konstruktionen 65 Weit und leicht 66 Textiler Leichtbau – Entwicklung der Simulationsmethoden seit den 1970er-Jahren bis heute Kai-Uwe Bletzinger 71 Das Speichenrad für Ringseildächer im Leichtbau Knut Göppert 75 Leichtbaukonstruktion in Bewegung

Hochbau – Fokus Holz 77 Mit Holz in neue Dimensionen 82 Material und Entwurf – hybrid ist die Zukunft? Stefan Winter

Türme und Hochhäuser 87 Hoch hinaus 89 An der Grenze des Machbaren Annette Bögle, Christian Hartz, Bill Baker 94 Buttressed Core: der gestützte Kern

WASSER + ENERGIE

HÜLLE + RAUM Bogen- und Schalentragwerke 43 Räume schaffen: Verbindung von Ästhetik und Struktur 44 Zur Entwicklung der Zeiss-Dywidag-Schalenbauweise Cengiz Dicleli 47 Formfindung – grafische Mittel, Experiment und Modell, numerische Methoden 51  Computerbasierte Prozesse für bionische Tragkonstruktionen Jan Knippers, Achim Menges 58  Tragwerksgestaltung und Formfindungsprozesse Christoph Gengnagel

Ver- und Entsorgung 99 Wasser in der Stadt 100 Wasserwandel in Städten der Zukunft Jörg E. Drewes 105  Abwasser wird zu Wärmeenergie 106 Emscher Umbau: Ökologische Umgestaltung eines Entwässerungssystems

Nutz- und Schutzbauten 109 Schutz und Sicherheit, Wasser- und Energieversorgung 110 Schutz vor Naturgewalten 114 Ertüchtigung von Staudämmen: Pilotprojekt Sylvenstein-Damm Peter Rutschmann 116 Herausforderungen im Diskurs von Technik und Gesellschaft Peter Rutschmann

Inhaltsverzeichnis

119 Ingenieure als Unternehmer – Einfluss auf die Weiterent­wicklung von Bauwesen und Gesellschaft Roland Pawlitschko 124 Innovation Schachtkraftwerk Peter Rutschmann

166 Gebirgsdurchquerung 168 Geodäsie – ein durchschlagender Erfolg Thomas Wunderlich 171 Nutzung von Tunnelbauwerken für die geothermische Energiegewinnung Roberto Cudmani

Offshore-Anlagen 127 Wind wird Energie 128 Strom aus dem Meer 130 Energiewende als Aufgabe für Bauingenieure Christian Dehlinger 133 Schwimmender Windpark – Hywind Scotland 134 Schwimmend und ausfahrbar: TELWIND 135 Flexible Membranflügel für Windturbinen 136 Umweltingenieure und die Begrenzung der Nebenwirkungen moderner Technik Joachim Scheuren, Carl-Christian Hantschk

MOBILITÄT + TRANSPORT

Seil- und Hängebrücken 175 Distanzen überwinden 176 Kontinente verbinden 178 Weiter spannen 180 Wege verkürzen

Verkehrstechnik 183 Neue Mobilität 184 Mobilität und Verkehr als dynamisches Tätigkeitsfeld für Ingenieure Fritz Busch 188 Diagonal gekreuzt: Oxford Circus 189 Kooperative Systeme

Verkehrswegebau 141 Erschließung von Raum 145 Höhenrekorde: Seilbahn Zugspitze 147 Feste Fahrbahnen im Schienenverkehr Stephan Freudenstein

Ausblick

Balkenbrücken

Anhang

151 Brücken mit Zukunft 152 Integrale und semi-integrale Brücken 154  Ulrich Finsterwalder und die Entwicklung des Freivorbaus Cengiz Dicleli 157 Mehr Qualität und Effizienz durch Vergabeverfahren mit Nebenangeboten und Sondervorschlägen Roland Pawlitschko

198 Ingenieurverzeichnis 209 Personenregister 209 Projektregister 210 Sachwortregister 211 Abbildungsnachweis 212 Literaturnachweis 213 Autoren, Expertengremium und Fachbeiräte 216 Impressum

192 Zukünftige Herausforderungen an die Ingenieure im Bauwesen Werner Lang

Tunnelbau 161 Unter Wasser und durch den Berg 162 Entwicklung des Tunnelbaus und der Tunnelvortriebs­maschinen Roberto Cudmani

Einführende Texte und Projekbeschreibungen stammen von den Kuratoren der Ausstellung.

Ingenieure im Bauwesen

»Die Innovationskraft der Ingenieure sichert die Überlebensfähigkeit unserer hoch entwickelten Volkswirtschaft und einen angemessenen Lebensstandard. Die Wertschätzung der Ingenieure und ihrer Leistungen ist daher ein Gebot der Selbsterhaltung und erfolgreichen Weiterentwicklung der Gesellschaft. Ingenieurinnen und Ingenieure im Bauwesen müssen sich entsprechend ihrer Bedeutung und Verantwortung in der Öffentlichkeit positionieren.«1. So formuliert die Bayerische ­Ingenieurkammer Bau in ihrem Leitbild die Relevanz und Verantwortung dieses Berufszweigs. Innovationskraft, Unternehmertum sowie Gestaltungs- und Leistungsvermögen sind wesentliche Eigenschaften der Ingenieure im Bauwesen.2 Die durch sie erbrachten Leistungen wie z. B. Erfüllung von Schutz- und Sicherheitsbedürfnissen, Wasserver- und -entsorgung, Energieumwandlung und -verteilung sowie Mobilität zeigen auf, dass ohne sie ein erfülltes Leben – so wie wir es heute kennen – kaum möglich ist. Trotz dieser Schlüsselposition bezüglich der Erfüllung der Grundbedürfnisse unserer Zivilgesellschaft im Sinne eines guten Zusammenlebens ist das Wissen um die Aufgaben und Leistung der Ingenieure im Bauwesen vergleichsweise gering. Daran ändern auch die hohe wirtschaftliche Bedeutung der Baubranche mit einem Gesamtumsatz von rund 340 Milliarden Euro und über 2,7 Millionen Beschäftigte im Baugewerbe Deutschlands (2015)3 wenig. Zu den schwerwiegenden Folgen dieser Fehleinschätzung hinsichtlich der Bedeutung der Ingenieure im Bauwesen zählen gemäß den Autoren des 2006 veröffentlichten »Zwischenrufs«4 nicht nur Fachkräftemangel und mangelnde Berücksichtigung bei der Vergabe von Forschungsmitteln, sondern auch der sich

Vorwort

hieraus ergebende Qualitätsverlust der uns versorgenden Infrastruktur und damit unserer materiellen und kulturellen Lebensgrundlage. Denn die Aufgaben der Ingenieure im Bauwesen umfassen eine Bandbreite an für uns im Alltag relevanten Tätigkeitsfeldern. Neben der Planung und Umsetzung von konstruktiven Ingenieurbauwerken und sonstigen Einzelbauwerken gehören hierzu auch Anlagen für die Gas- und Wasserversorgung, für den Wasserbau sowie für die Entsorgung von Gasen, Feststoffen einschließlich wassergefährdender Flüssigkeiten und Abfall. Ohne Spezialisten aus den Bereichen Tragwerksplanung, Vermessungstechnik und Geotechnik wäre die Planung und Umsetzung derartiger Bauwerke und Anlagen nicht denkbar.5 Dass diese Aufgabenfelder sich zum Teil an Schnittstellen zu anderen Disziplinen bewegen und ein anderes Denken erfordern, verdeutlicht z. B. das Tätigkeitsfeld der Verkehrsplanung, das auf eine integrierte Siedlungs- und Verkehrsentwicklung unter Beachtung der Wechselwirkungen zwischen Raum und Verkehr auf stadtregionaler Ebene abzielt. Neben der Interdisziplinarität ist zugleich ein visionärer Denkansatz gefragt, denn verändertes Mobilitätsverhalten gilt es gleichermaßen zu berücksichtigen wie eine Vorstellung davon, welchen Einfluss Digitalisierung und technischer Fortschritt auf unsere Gesellschaft zukünftig nehmen werden, um Konzepte für die unmittelbare Zukunft zu entwickeln. Über die genannten Tätigkeitsbereiche hinaus decken die Ingenieure im Bauwesen auch eine große Bandbreite von für unsere Gesellschaft wichtigen Beratungsleistungen ab. Hierzu zählen unter anderem Themenfelder aus dem Bereich der Bauphysik, wie Wärmeschutz und Energiebilanzierung, Bauakustik und Schallschutz sowie Raumakustik.

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1 Leitbild

der Bayerischen Ingenieurekammer Bau, http://www.bayika.de/de/ kammer/index.php?navanchor=2110000, (abgerufen am 7.8.2017) 2 In ähnlicher Weise zu dem eingangs zitierten Leitbild weist der 2006 veröffentlichte »Zwischenruf: Verantwortung und Ansehen der Bauingenieure – ein Aufruf« auf die zentrale Bedeutung ihres Berufs im Hinblick auf die Planung, den Bau und den Erhalt der unser Leben bestimmenden Infrastruktur hin. In: Bautechnik 10 / 2006, S. 737ff. 3 https://www.bundesstiftung-baukultur. de/sites/default/files/medien/78/downloads/bbk_bkb-2016_17_low_1.pdf, abgerufen am 7.8.2017 4 s. Anm. 2 5 s. HOAI § 41, http://www.hoai.de 6 s. Anm. 2 Rechts  Darstellung des Hauptdreiecksnetzes zur »Bestimmung der St. Gotthard Tunnel-Axe« aus einem gleichnamigen Bericht des Ingenieurs Otto Gelpkes in »Der Civilingenieur«, 1870

Im Sinne eines nachhaltigen Handelns zur Erfüllung eines gesellschaftlichen Auftrags gilt es heute mehr denn je – vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen wie Klimaveränderung und Umweltzerstörung, Rivalität um Ressourcen und demographischer Wandel – die sich hieraus ergebenden Aufgaben für das Bauwesen neu zu definieren. So müssen beispielsweise die Wechselwirkungen von Gebäuden bzw. Infrastruktursystemen mit der Umwelt von Anfang an in der Planung hinsichtlich Ressourcenverbrauch, Emissionen

oder den hiermit verbundenen ökonomischen oder sozio-kulturellen Aspekten betrachtet werden. Analoge und in zunehmendem Maße digitale Methoden und Werkzeuge zur Analyse, Modellierung und Synthese unterstützen den Planungs- und Umsetzungsprozess und befähigen die Ingenieure im Bauwesen, sich den sich ständig wandelnden und komplexer werdenden Herausforderungen im Dienst der Gesellschaft erfolgreich zu stellen. Damit dies auch in Zukunft sichergestellt ist, müssen die Ingenieure im Bauwesen »um die Verbesserung ihres beruflichen Ansehens kämpfen, um ihrer zivilisatorischen und kulturellen Verantwortung weiterhin gerecht werden zu können. Dazu müssen sie in Forschung, Lehre und Praxis die Qualität ihrer Arbeit stetig den Bedürfnissen der Menschen anpassen und in der Gesellschaft um Anerkennung dafür werben, dass auch im Ingenieurbau Qualität ihren Preis hat.«6 Dies zu unterstützen, ist das Anliegen sowohl der Ausstellung »Visionäre und Alltagshelden. Ingenieure – Bauen – Zukunft« als auch der vorliegenden Publikation, die hierfür begleitend erstellt wurde. Die Ausstellung, die vom Oskar von Miller Forum gemeinsam mit dem Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW e.V. (M:AI) konzipiert wurde, hat zum Ziel, das Wirken der Ingenieure im Bauwesen stellvertretend für die gesamte Branche so darzustellen, wie es ist: von zentraler, zivilisatorischer Bedeutung und in kultureller sowie technologischer Hinsicht vielfältig, spannend, faszinierend und innovativ. Diese Anerkennung ist wichtig im Hinblick auf unsere Gesellschaft und für das Verständnis und Ansehen des Berufsfelds, aber besonders auch für die Ausbildung von Ingenieuren im

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Ingenieure im Bauwesen

Bauwesen. Die Ausstellung soll daher auch gezielt die Studierenden und den Nachwuchs ansprechen. Dargestellt werden anhand ausgewählter, herausragender Ingenieure die Bedeutung, Bandbreite und Tiefe ihres Schaffens und ihrer Werke. Von der Historie kommend bis zu aktuellen Projekten wird gezeigt, unter welchen Randbedingungen sie tätig waren bzw. sind und wie ihr Wirken im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext zu werten ist. Im Fokus stehen dabei nicht Projekte, die aufgrund ihrer »Superlative« beeindrucken, sondern solche, die wesentliche Impulse gegeben haben oder derzeit geben und richtungsweisend für das zukünftige Bauen sind. Die vorliegende Publikation ist nach den einführenden Worten des Philosophen Wilhelm Vossenkuhl in ihrem Hauptteil in vier wesentliche Abschnitte gegliedert. Das erste Kapitel befasst sich mit der Entwicklung des Berufsstands seit Mitte des 17. Jahrhunderts, als die ersten Lehrbücher zu den Themenfeldern Wasser- und Brückenbau erschienen. Sehr bald bildeten sich die ersten Netzwerke und Allianzen, die für den Wissensund Erfahrungsaustausch und damit die Ausbreitung der Ingenieurbaukunst von großer Bedeutung waren. Zudem werden Pionierinnen in der Baubranche – stellvertretend für die Entwicklung der Rolle der Frauen in diesem Berufsfeld – porträtiert. Ein Überblick über die Ausbildung von Ingenieuren im Bauwesen, der den Wandel über die Jahrhunderte nachzeichnet, bis zur Bedeutung von Ästhetik in der Ingenieurskultur runden dieses Kapitel ab. Die drei folgenden Kapitel gehen – analog zur Ausstellung – auf die wesentlichen Grundbedürfnisse der Gesellschaft und die sich hieraus ergebenden Herausforderungen für die Ingenieure im Bauwesen ein. Das Grundbedürfnis des Menschen nach Schutz und Sicherheit wird im Kapitel »Hülle und Raum« thematisiert. Hierzu gehören Beiträge zu aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Material, Rechen-, Simulations- und Konstruktionsmethoden sowie Bautechnologien. »Wasser und Energie« beschäftigt sich mit dem Bedürfnis nach einer nachhaltigen Versorgung und den sich ableitenden Aufgabenfeldern. Die urbane Wasserversorgung, der Schutz vor den Naturgewalten und die Versorgung mit Energie wird in diesem Kapitel gleichermaßen thematisiert wie das Wechselspiel von Technik, Gesellschaft und Unternehmertum – auch vor dem Hintergrund der Energiewende als Chance für das Bauwesen. Die Notwendigkeit des Transports von Gütern

Vorwort

und das Bedürfnis nach Verbindung und Vernetzung der Menschen behandelt das Kapitel »Mobilität und Transport«: Es werden die verschiedenen Optionen für die Erschließung von Raum aufgezeigt, sei es auf dem Land, unter der Erde, auf dem Wasser oder in der Luft. Hierbei werden auch Aspekte zur Qualitätsund Effizienzsteigerung und zu wegbereitenden Entwicklungen im Bereich Geodäsie und Konstruktionsmethoden thematisiert. Die Diskussion neuer, nachhaltiger Mobilitätskonzepte rundet dieses Kapitel ab. Der an den Hauptteil anschließende Ausblick beschreibt bereits heute sichtbare Trends und die sich hieraus ergebenden Herausforderungen für die Ingenieure im Bauwesen. Deren Relevanz für künftige Entwicklungen in den Bereichen Technik bzw. Technologie und Forschung vor dem Hintergrund der sich stark ändernden gesellschaftlichen Anforderungen zeigt, dass auch in Zukunft Ingenieure im Bauwesen als zentrale Dienstleister für die Gesellschaft dringend benötigt werden, um eine nachhaltige Entwicklung sicher zu stellen. Diese Publikation wäre ohne die Mitwirkung der Fachautoren, die mit Begeisterung die Idee zu diesem Buch aufgegriffen und dies mit großem Einsatz unterstützt haben, nicht möglich gewesen. Dies gilt auch für das Fachberatergremium der Ausstellung und die weiteren Experten, die beratend tätig waren. Ihnen allen möchten wir besonders danken. Auch den unmittelbar an den Inhalten und dem Entstehen der Ausstellung beteiligten Institutionen wie dem Oskar von Miller Forum – einer Bildungsinitiative der Bayerischen Bauwirtschaft – und dem Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW e.V. (M:AI) sowie den zugehörigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei vielmals gedankt. Wir hoffen, dass diese Publikation zum Verständnis beiträgt, wie es Ingenieure im Bauwesen auch unter schwierigsten Rahmenbedingungen seit jeher schaffen, lösungsorientiert, wirtschaftlich, verantwortungsvoll und mit innovativen Konzepten auf die Bedürfnisse und Herausforderungen der Gesellschaft zu reagieren. Sie besitzen die wesentliche Fähigkeit, zukünftige Fragen und Aufgaben von selbst zu erkennen und aktiv zu werden. Dieses »erfinderische Handeln«7 ist eine der wesentlichen Eigenschaften der Ingenieure im Bauwesen, die sie auch in Zukunft als Erfinder, Gestalter, Unternehmer und Dienstleister unserer Gesellschaft ausweisen wird. Werner Lang, Cornelia Hellstern Herausgeber

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7 Peter Rice formuliert dies als relevante Handlungsmaxime für den Ingenieur: »I would distinguish the difference between the engineer and the architect by saying the architect’s response is primarly creative, whereas the engineer’s is essentially inventive«. Siehe dazu Martin Trautz: Baugeschichte oder Bautechnikgeschichte? Positionen zur Frage »Was ist Bautechnikgeschichte?« im Rahmen des 1. International Congress on Construction History, Madrid 2003. https://gesellschaft.bautechnikgeschichte.org/was-ist-bautechnikgeschichte/ (abgerufen am 7.8.2017)

Wilhelm Vossenkuhl

Leben gestalten

Ein höheres Lob, als dass jemand Maßstäbe setze, gibt es wohl kaum. Leistungen, die dies tun, sind gewöhnlich auffällig, gut erkennbar, oft spektakulär. Es gibt aber Maßstäbe, an die wir uns so gewöhnt haben, dass sie uns nicht mehr auffallen. Sie gehören zu unserem Alltag, sie gestalten unser Leben, ohne dass wir sie wahrnehmen. Sie sind unspektakulär, aber maßgeblich in unser Leben integriert, sind Teil dessen, was der französischen Soziologe Pierre Bourdieu eine »symbolische Ordnung« nannte. Ingenieure im Bauwesen haben viele Maßstäbe gesetzt, die den Menschen nach einiger Zeit alltäglich vorkamen. Sie haben aber auch Maßstäbe gesetzt, die bleibend spektakulär erscheinen. Manches davon mutet an, als wollten sie der Gravitation trotzen und ganze Gebäude oder auch nur Dächer zum Schweben bringen. Das Spektakuläre prägt sich ein, und wir staunen darüber. Es wird aber wie alles Großartige nach einiger Zeit museal, wird zu einem Objekt der Erinnerung und droht dann, in Vergessenheit zu geraten. Dagegen gehört das Alltägliche schon allein deswegen bleibend zum Leben, weil wir nicht daran denken müssen, es sei denn es fehlt, dann fällt es wieder auf. Die Maßstäbe, die zum Leben gehören, prägen unsere Wahrnehmung, ohne dass wir sie selbst noch wahrnehmen. Sie sind wie unsere Muttersprache oder unser Dialekt Teil unserer selbst. Wir nehmen, um ein Beispiel zu nennen, die Brücken, über die wir fahren, oft nur wahr, wenn Windböen von der Seite kommen. Ihre Konstruktion, die Sicherheit und Eleganz ihrer Gestaltung, das Raffinement der Verbindung von Materialien, von Baustoffen mit Mathematik und Physik sehen wir nicht. Es ist etwas Selbstverständliches, Unauffälliges, dass herausragende Leistungen von Ingenieuren unseren Alltag bestimmen. An deren Qualität und

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Zuverlässigkeit zweifeln wir nicht. Schließlich ist es genau das, was wir erwarten dürfen und für normal halten. Dabei ist das, was Normalität garantiert, aufwendig, sehr aufwendig und reich an Voraussetzungen, die alle ungewöhnlich sind. Und das nicht nur, wenn Tunnel für Bahnlinien gegraben werden, wie derzeit mitten in Stuttgart. Der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt meinte, die Kunst schaffe ein »Totalbild der Menschheit«, stehe sogar unter dem Postulat, dies zu leisten. Bei dieser Leistung folge die Kunst einem umfassenden, alles einschließenden Maßstab. Das ist gut beobachtet, weil es um das Ganze des Lebens geht. Wenn wir nach einer Klammer für all die vielen Maßstäbe suchen, denen Ingenieure im Bauwesen folgen müssen, sollten wir auch von einem umfassenden, alles einschließenden Maßstab sprechen. Darin einbezogen sind die Material­ wissenschaft, die Statik und Bauphysik, die Ökologie, das Design und – inzwischen auch – die Ethik. Was könnte es darüber hinaus noch an relevanten Maßstäben für die Gestaltung des Lebens geben? Der Ausdruck »Totalbild der Menschheit« ist etwas pompös und mag für die Kunst reserviert bleiben. Für die Kunst der Ingenieure im Bauwesen reicht es, vom »Gesamtbild des Lebens« zu sprechen, das sie gestalten, zumindest wesentlich mitgestalten. Wir wollen sauberes Wasser trinken, auf sicheren Brücken fahren, in guten, erdbebensicheren und schönen Häusern wohnen und uns über das Erscheinungsbild der Städte freuen, in denen wir leben. Ingenieure im Bauwesen tragen keinen geringen Anteil an unserer Gesundheit und unserem Wohlbefinden, an unserer Lebensfreude, vielleicht sogar an unserem Glück, in jedem Fall am Umweltschutz und der Energiegewinnung, der sauberen wie auch der

Leben gestalten

nicht ganz so sauberen. Ähnliches gilt ganz allgemein auch für viele andere Wissenschaftler. Es gibt aber einen Unterschied. Ingenieure im Bauwesen denken in jedem einzelnen Segment ihrer Arbeit, bei jedem einzelnen Projekt an das Ganze des Lebens und nicht nur an die Lösung eines Problems, und sie müssen an das Ganze denken. Die Baustoffe und die Statik lassen sich von der Gesundheit so wenig trennen wie von der Frage der Wirtschaftlichkeit oder von der Stadtplanung oder dem Umweltschutz. Diese Gesamtverantwortung ist schwer zu toppen. Ob und wie gut sie jeweils wahrgenommen wird, ist natürlich eine andere Frage. Die Kompetenzen der Ingenieure im Bauwesen haben sich seit der Antike parallel zur Wissenschaftsentwicklung gesteigert. Ob es um Pyramiden, Tempel, Kirchen oder Paläste, um Wasserleitungen oder Abwasserkanäle ging, das bautechnische Niveau war ein Maßstab der Kulturentwicklung. Die Behauptung, dass der Mensch Gestalter seiner eigenen Identität ist, gilt in einem weiten Sinn für jeden einzelnen Menschen. Sie lässt sich wohl auch auf ganze Gesellschaften anwenden, allerdings nur, wenn die Gesellschaften genügend kompetente Gestalter haben, diese fördern und ihnen die Freiheiten gewähren, die sie benötigen. Das hängt sicher vom Wohlstand einer Gesellschaft ab, aber nicht nur. Es kommt vor

Vorwort

allem auf die Schulen und Hochschulen an, in denen Gestalter ausgebildet werden, auf deren Begabung und nicht zuletzt auf die kulturelle Tradition. Manchmal hängen die Gegenwart und die Zukunft von Gestaltungsaufgaben auch davon ab, dass eine Tradition erfunden wird.1 Nach dem Ersten Weltkrieg gab es die gestalterischen Traditionen des Bauhauses und nach dem Zweiten die Tradition der Ulmer Hochschule. Wir können uns nicht über einen Mangel an Tradition in den letzten 100 Jahren beklagen. Die eigene Identität sollte aber nicht gedankenlos mit bloßen Kopien aus den Traditionen zusammengebastelt werden. Auch Traditionen stehen, wenn Friedrich Nietzsche Recht hat, im Dienst des Lebens, aber nur dann, wenn wir ein kritisches Verhältnis zu ihnen haben. Aus der Kritik des Vergangenen können wir Kraft für die Zukunft gewinnen. Kritik bedeutet »unterscheiden können«, zwischen dem, was bewahrt und dem, was vergessen werden sollte. Wenn wir ein kritisches Verhältnis zu den Traditionen haben, erfinden wir unsere eigene Tradition auch aus der Vergangenheit. Wie soll es auch anders sein. Das Neue kann ohne das Frühere sowenig leben, wie es eine Zukunft ohne Vergangenheit gibt. Otl Aicher hat den Ingenieuren im Bauwesen einen besonderen Platz bei der Gestaltung des Lebens zugewiesen. Er meinte, Ingenieure wie

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1 Winfried Nerdinger hat dies in »Die ›Erfindung der Tradition‹ in der deutschen Architektur 1870 und 1914« beschrieben. In: Werner Oechslin (Hrsg.): Geschichte Macht Architektur. München 2012, S.  69 – 79 2 otl aicher, »die dritte moderne«, in: die welt als entwurf. Berlin 2015, S. 39 – 61.

Links  Ansicht der Südseite des Kristallpalasts in London (GB) 1851. Sir Joseph Paxton ließ sich für dieses Projekt von Isambard Kingdom Brunel beraten. Unten  Fassade des Centre Pompidous an der Rue du Renard, Paris (F) 1977, Peter Rice und Ted Happold (Arup), Architekten: Renzo Piano und Richard Rogers. Von dem Material Gusseisen und der damit verbundenen handwerklichen Bearbeitung fasziniert, entwickelte Rice für das Centre Pompidou die sogenannten Gerberetten (in Anlehnung an Heinrich Gerber) aus Gusseisen. Hergestellt wurden diese von der Firma, die wenige Jahre zuvor für die Gusstahlelemente des Münchner Olympiadachs verantwortlich war.

Joseph Paxton, Isambard Kingdom Brunel und August von Voit hätten mit ihren Glaspalästen die Erste Moderne gestaltet. Die Technik habe im Vordergrund gestanden. Dann hätten Architekten wie Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe und Jacob Berend, angeregt durch Maler wie Piet Mondrian und Wassily Kandinsky, der Zweiten Moderne ein Gesicht gegeben. Das Formale habe eine große Rolle dabei gespielt, auch das Konstruktive. Schließlich habe die Dritte Moderne als Fusion von Elementen der Ersten und Zweiten begonnen, sichtbar etwa in Bauten von Norman Forster. Die Dritte Moderne sei nicht nur formal, sondern konstruktiv. Für Aicher stellt das Centre Pompidou von Renzo Piano und Richard Rogers ein gutes Beispiel dafür dar.2 Heute ist die Dritte Moderne eine Gegenwart am Rande der Vergangenheit. Gibt es eine Vierte Moderne? Es müsste eine sein, die das Leben als Ganzes nicht nur äußerlich formt, sondern so gestaltet, dass wir sicher und gut leben können. Jeder Übergang war mutig und hatte mit Widerständen zu kämpfen. Den ersten Höhepunkt der Ingenieurskunst begleitete große Skepsis. Die Zweite, architektonische Moderne ließ sich nur durch den totalitären Nazistaat stoppen, wurde aber schon davor

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von vielen beschimpft. Noch die Dritte Moderne begegnete großen Vorurteilen und viel Ablehnung. Es wäre naiv zu glauben, dass die Gestaltung des Lebens auf unserem bedrohten Planeten ohne Mut gelingen könnte. Wenn eine Vierte Moderne glückt, dann nur gegen den Widerstand derer, denen materielle Interessen wichtiger sind als der Schutz des Lebens. Es gibt seit sich die Menschheit erinnern kann eine große Sehnsucht, die Zukunft vorhersagen zu können, je nach Epoche mit Magie und Zauberei oder mit wissenschaftlicher Prognostik und Planung. Diese Sehnsucht wurde immer enttäuscht, wie heftig sie auch war. Wir können aber lernen, jenes träumerische, aber auch dumpfe und letztlich verkrampfte Gefühl der Sehnsucht in aktives Tun umzumünzen und uns dabei von falschen Hoffnungen zu befreien. Aus dieser Befreiung können wir die Kraft schöpfen, eine neue Lebensform zu entwickeln. Wenn es dafür heute oder überhaupt eine Möglichkeit gibt, wissen es die Ingenieure im Bauwesen als erste. Sie werden dann die Neugier besitzen, um auszuprobieren, wie es geht. Wir sollten sie in ihrer Neugier bestärken und ihre Kreativität herausfordern. Sie sollen wieder Maßstäbe setzen, nicht mehr und nicht weniger.

Leben gestalten

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

Tief- und Hochbauingenieure – die Entstehung der Berufe

Die Fachgebiete des Ingenieurwesens, die heute mit den Begriffen Tief- und Hochbau umschrieben werden, reichen in ihren Ursprüngen zurück bis zu den Anfängen der Zivilisation und waren bereits zur Römerzeit sehr anspruchsvoll. Wasserbauingenieure konzentrierten sich auf die Wasserbewirtschaftung zum Nutzen der Menschen: Sie leiteten natürliche Wasservorkommen für Bewässerungszwecke um, schufen die Trinkwasserversorgung, planten die Entsorgung bzw. Aufbereitung von Abwässern, arbeiteten an Trockenlegungen und Hochwasserschutz und legten Wasserwege an, um die Schifffahrt zu erleichtern. Derlei Vorhaben verlangten nach großen Erdbewegungen und Mauerwerksbauten für Kanäle und Dämme. Brückeningenieure ermöglichten die Überquerung von Gewässern und den Bau von Aquädukten, die den Frischwassertransport sicherten. All diese Konstruktionen erforderten präzise Erkundungen und Landvermessungen. Baumaßnahmen für militärische Zwecke bedurften der gleichen Ingenieurskenntnisse wie solche für zivile Zwecke – und tatsächlich arbeiteten in beiden Bereichen dieselben Leute. Erst als diese grundlegenden Ansprüche der Zivilisation erfüllt waren und eher friedliche Zeiten herrschten, konnten sich die Ingenieure des antiken Griechenlands und Roms, der Renaissance Italiens und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht militärischen Projekten widmen, z. B. dem Bau von Tempeln, Kathedralen, Handels- und Bürgerhäusern. Die Karrieren von bekannten Baubeteiligten dieser Zeit wirken heute dennoch romantisch verklärt, wenn man sie etwas gewollt als Architekten bezeichnet, um sie von der blutigen Welt des Kriegs abzusetzen. Vitruvius erhielt eine Ausbildung als Militäringenieur, um Wallanlagen und Festungen sowie Brücken und große Kriegswaffen zu bauen. Nach dem Wehrdienst bekam er den Auftrag,

sich um die Wasserversorgung zu kümmern (vermutlich in Rom) und war als Projektleiter für verschiedene Bauprojekte tätig. Filippo Brunelleschi arbeitete einige Jahre an den Festungsanlagen von Florenz. ­Michele Sanmicheli, die große Sangallo-Familie, Francesco di Giorgio, der unter anderem für Sienas Wasserversorgung verantwortlich war, und auch Leonardo da Vinci – sie alle waren Militäringenieure. Auch in der Renaissance war es noch eine Notwendigkeit, dieselben Ingenieure und Gebäudeplaner an militärischen und nicht militärischen Projekten zu beteiligen.1

Das »civil engineering« in der Zeit der Aufklärung und der industriellen Revolution Auch im 17. und 18. Jahrhundert konzentrierte sich der Tiefbau auf die Wasserbewirtschaftung – Trockenlegungen, Wasserversorgung und Schifffahrt – sowie den Bau von Straßen und Brücken. Vor allem in Frankreich waren Tiefbauprojekte von nationaler Bedeutung, besonders für Wirtschaft und Handel, aber auch für militärische Zwecke. Zwischen 1662 und 1671 erhöhte der damalige Finanzminister Jean-Baptiste Colbert die Staatsausgaben für Straßen und Brücken von 22 000 auf 623 000 Pfund ­(Livres). Im Jahr 1666 beauftragte er den Tiefbauingenieur PIERRE-PAUL RIQUET mit dem Bau des 240 Kilometer langen Canal du Midi, der das Mittelmeer mit dem Atlantik verbindet. 1669 schuf Colbert ein Corps des commissaires des ponts et chaussées, das 1716 zum Corps des ingénieurs des ponts et chaussées wurde. Die erste technische Hochschule in Frankreich, die sich dem militärischen und nicht militärischen Ingenieurbau sowie dem Hochbau widmete, war die Académie royale d‘architecture française, gegründet 1671 unter der Leitung von FRANÇOIS BLONDEL, seinerseits Militäringenieur

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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Bill Addis

1 Weitere Erläuterungen zur zunehmenden Verbreitung des Tiefbaus in der Renaissance siehe: William Barclay Parsons: Engineers and Engineering in the Renaissance. Baltimore 1939, Nachdruck Cambridge, MA 1968 2 Die Rolle der École nationale des ponts et chaussées bei der Entwicklung des modernen Tiefbaus wird beschrieben in: Antoine Picon: L’invention de l’ingénieur modern. L’École des ponts et chaussées 1747–1851. Paris 1992 Unten  Schleusen in Fonceranne als Teil des Canal du Midi (F) 1670er-Jahre, Ingenieur: Pierre-Paul Riquet

und Architekt unter Ludwig XIV. sowie Stadtarchitekt von Paris. Um mehr Nachwuchskräfte zu gewinnen und die Qualität der Neueinsteiger in das Corps des ingénieurs des ponts et chaussées anzuheben, wurde 1747 die École des ponts et chaussées gegründet. Am Ende des Jahrhunderts war das Corps in Frankreich für praktisch alle öffentlichen Projekte in sämtlichen Bereichen des Tiefbaus verantwortlich. Die Bedeutung dieser beiden Institutionen ist kaum zu überschätzen. Sie definierten den modernen Tiefbauingenieur und entwickelten ein Ausbildungsmodell, das heute weltweit eingesetzt wird. Die ersten wichtigen Lehrbücher über den Tiefbau (einschließlich militärischer Anwendungen) wurden in dieser Zeit veröffentlicht – etwa »La Science des ingénieurs dans la conduite des travaux de fortification et d‘architecture civile« (1729) und »Architecture hydraulique« (1737–1753) von BERNARD ­FOREST DE BÉLIDOR.2 Wie die berühmten Bücher »Bellifortis« (ca. 1405) von Konrad Keyser und »De Re Metallica« (1556) von Georgius Agricola zeigen, waren deutsche Ingenieure im späten Mittelalter weltweit führend im Militäringenieurwesen, in der Metallurgie und im den Bergbau betreffenden Tiefbau. Danach hatte der Tiefbau des deutschsprachigen Raums jedoch einen weitaus geringeren internationalen Einfluss als britische und französische Ingenieure bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Trotzdem gab es im 18. Jahrhundert viele große deutsche Tiefbauingenieure, die besonders im Bereich des Wasser- und Brückenbaus arbeiteten und vor allem für gewerbliche Zwecke eine nationale Infrastruktur entwickelten. CASPAR WALTER war ein Wasserbauingenieur und Brückenbauer, der

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heute durch seine Bücher »Architectura hydraulica« (1754), »Brückenbau« (1766) und »Zimmerkunst« (1769) bekannt ist. In dieser Zeit der beginnenden Globalisierung ermöglichte das Tiefbauingenieurwesen die Entwicklung und Realisierung der für den Seehandel nötigen Infrastruktur: Docks und Häfen, Kanäle, Werften und Lagerhäuser für die Einfuhr und Unterbringung hochwertiger Güter und Rohmaterialien, die es in Europa nicht gab, wie z. B. Gewürze, Baumwolle und Seide. Als einziges europäisches Land entwickelte Großbritannien damals Industrien, die importierte Rohmaterialien (vor allem Baumwolle und Seide) in Produkte (Textilien) umwandelten, die sich wieder exportieren ließen, um damit große Profite zu erlangen. Seit den 1750erJahren führte dieser enorme Handel zu einer noch größeren Nachfrage nach Tiefbauarbeiten in den Häfen sowie zu einem Boom beim Bau mehrgeschossiger Textilfabriken und bei der Herstellung von Textilmaschinen. Wurden die frühen Fabriken noch von Wasserrädern angetrieben, ersetzten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert Dampfmaschinen die Wasserkraft. Da sich die Textilfabriken alle im Landesinneren befanden, war ein riesiges Netz von Kanälen zu errichten, um sie mit den großen Häfen zu verbinden. Auch ein erweitertes Netz von Straßen und Brücken war erforderlich, und ab Mitte der 1830er-Jahre revolutionierte die Ausbreitung des Eisenbahnnetzes für Güter und Passagiere die Welt. Die Eisenbahnunternehmer bauten bis in die 1870er-Jahre nicht nur das britische, sondern auch viele Tausend Kilometer des europäischen und amerikanischen Schienennetzes.

Tief- und Hochbauingenieure – die Entstehung der Berufe

Der bemerkenswerteste Unterschied zwischen den Entwicklungen in Kontinentaleuropa und Großbritannien war, dass sämtliche Wirtschaftsund Bautätigkeiten in Großbritannien – also der Aufbau einer Infrastruktur für die industrielle Revolution – mit privatem Kapital und ohne nennenswerte staatliche Beteiligung finanziert wurden. Die britische Regierung betrachtete es als ihre Hauptaufgabe, mithilfe ihrer Seemacht die internationalen Handelswege ein­zurichten und zu schützen und dadurch die Basis für den Erfolg privater Unternehmen zu schaffen. Ingenieure brauchte sie – im eigenen Land wie auch in den entfernten Handelszentren – hauptsächlich für den Bau von Befestigungsanlagen. Staatlich eingesetzte Ingenieure begannen erst Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Durchführung nicht militärischer Projekte in den britischen Kolonien, um etwa in Indien, in der Karibik und in Teilen Afrikas die Wasserversorgung oder Eisenbahnnetze aufzubauen. JOHN SMEATON war der erste Ingenieur, der sich in den 1750er-Jahren »civil engineer« nannte. Diese Bezeichnung kennzeichnete ihn einerseits als unabhängigen, nicht staatlichen (Tiefbau-)Ingenieur, der in der Lage war, einen beträchtlichen Reichtum anzuhäufen, unterschied ihn andererseits aber auch von den Militäringenieuren. Die privaten britischen Tiefbau-Unternehmer, die zwischen etwa 1750 und 1900 im In- und Ausland die Infrastruktur für die industrielle Revolution errichteten, wurden zu den wohlhabendsten Menschen der Welt.3

Die neuen Wissenschaften des Tiefund Hochbauingenieurwesens Die Entwurfsansätze von Tief- und Hochbauprojekten änderten sich im 18. Jahrhundert auf dreierlei Arten dramatisch und läuteten damit den Beginn einer modernen Ära des Tiefbaus ein. Bereits im 17. Jahrhundert hatten Ingenieure geometrische Methoden entwickelt, um in zweidimensionalen Zeichnungen die komplexen dreidimensionalen Formen von Steinen für Bögen und Gewölbe darzustellen. Jedoch blieb es schwierig, die darin enthaltenen Informationen zum präzisen Schneiden der Steine zu verwenden. Auch für andere gängige Entwurfsfragen waren diese Methoden schwer zu gebrauchen – etwa bei der Wahl der besten Lage für Festungen außerhalb der Reichweite feindlicher Kanonen oder wenn der optimale Weg von Straßen und Kanälen durch hügeliges Gelände zu bestimmen war und dabei die Menge des ausgehobenen Erdreichs dem für Dammaufschüttungen und zur Verfüllung von Senken benötigten Material entsprechen sollte. Gaspard Monge, ein damals 20-jähri-

ger Student der französischen Militärschule in Mézières, entwickelte eine neue Methode namens »géométrie descriptive« (darstellende Geometrie), die es erlaubte, solche Berechnungen in wenigen Tagen anstatt in vielen Wochen durchzuführen. Diese Weiterentwicklung war so bahnbrechend, dass sie von der Regierung als Militärgeheimnis eingestuft wurde und außerhalb Frankreichs bis Mitte des 19. Jahrhunderts nicht zum Einsatz kommen durfte. Hieraus ent­stand schließlich die »géométrie projective« (projektive Geometrie), die noch heute die Grundlage aller Ingenieurszeichnungen bildet. Französische Ingenieure ermittelten damit Abmessungen in komplexen dreidimensionalen Räumen, entwickelten aber auch Zeichnungen, die Bauverfahren und Bauabläufe prägnant und einfach zum Ausdruck brachten. Insgesamt verschafften diese neuen Methoden den französischen Ingenieuren große Vorteile gegenüber den Kollegen in anderen Ländern. Die zweite große, ebenfalls in Frankreich Mitte des 18. Jahrhunderts stattfindende Entwicklung betraf die Verwendung komplexer mathematischer Berechnungsmethoden (einschließlich der Infinitesimalrechnung) zur Lösung bautechnischer Probleme, wie z. B. den Wasserfluss und die Stabilität von Widerlagern und Böschungen. Diese Methoden erlaubten nicht nur belastbarere Entwürfe, sondern auch neue Ansätze für bautechnische Gestaltungen, die nicht nur auf Erfahrungen und dem Heranziehen von Referenzobjekten basierten. Diese neue Herangehensweise an die konstruktive Gestaltung war wesentlich für die dritte große Entwicklung: die Einführung von Eisen als völlig neuem Konstruktionsmaterial im Brücken- und Hochbau – egal, ob als sprödes Gusseisen mit hoher Druck- und geringer

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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3 Zum Aufkommen von Tiefbau-Unternehmen im Zeitalter der Kanäle und ihr noch größerer Erfolg im Eisenbahnzeitalter siehe: Hugh Ferguson, Mike Chrimes: The Contractors. London 2013 4 Die Einführung von Eisen in den Hochbau wird ausführlich besprochen in: Bill Addis: Building. 3000 Years of Design Engineering and Construction. New York / London 2007

Oben  St Katharine Docks, London (GB) 1826 –1828, Ingenieur: Thomas Telford Rechts  Pont de la Concorde, Paris 1787 –1791. Die Zeichnung zeigt den ­Entwurf, den Bauablauf und das Bau­ verfahren.

Zugfestigkeit oder als Schmiedeeisen, das leicht formbar und für Zug- und Druckbelastungen gleichermaßen gut geeignet war. Gusseisen wurde in Großbritannien zunächst (1780 –1830) als Ersatz für Stein in der Konstruktion von Bogenbrücken verwendet, weil es sehr druckfest ist und ein im Vergleich zu ähnlichen Steinbrücken geringes Gesamtgewicht ermöglichte. In mehrgeschossigen Fabrikgebäuden wurde es wegen seiner höheren Feuerbeständigkeit zur selben Zeit anstelle von Holz für Stützen und Balken eingesetzt. Schmiedeeisen kam erstmals in den 1780er-Jahren in Frankreich als feuerbeständiger Ersatz für Holzdachkonstruktionen zum Einsatz. Viel beeindruckender und absolut beispiellos war allerdings die Verwendung von Schmiedeeisen für Hängebrücken in den 1820er-Jahren und für Eisenbahnbrücken ab den späten 1830er-Jahren. Hierfür hätte sich kein anderes traditionelles Baumaterial geeignet.4 Die Einführung von Eisen ist ein entscheidender Grund für die gravierende Veränderung des Ingenieurberufs zwischen etwa 1780 und 1850. Anders als bei den traditionellen Materialien Holz, Stein und Ziegel gab es zu diesem Baustoff allerdings keinerlei konstruktiven Erfahrungsschatz und kaum verlässliche Daten zu seinen Tragwerkseigenschaften. Viele frühe Eisenbauten waren Experimente, die die sorgfältige Betrachtung dreier Dinge erforderten: die von der Konstruktion abzutragenden Lasten, die Materialeigenschaften und das Verhalten der Konstruktion selbst. Das war für traditionelle Konstruktionen in der Regel nicht notwendig, weil die Erfahrungen der Vergan-

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genheit bereits in den Konstruktionsregeln enthalten waren. Die Entwicklung dieser Methodik bei Eisen im 19. Jahrhundert bereitete den Boden für eine ähnliche Phase des Experimentierens und des Fortschritts mit einem weiteren neuen Baumaterial im 20. Jahrhundert – dem Stahlbeton – und bildet zugleich die bis heute gültige Grundlage der Ingenieurtechnik.

Die Ausbildung der Tiefbauingenieure Während der ersten Blütezeit des Tiefbaus von etwa 1750 bis 1830 lernten die britischen Ingenieure ihr Handwerk zunächst in einer Lehre und dann bei der Arbeit am Projekt. Es gab keine formale Ausbildung und nur wenige, auf jeden Fall sehr teure Bücher. In den 1820er-Jahren wurden einige Mechanics‘ Institutes gegründet, zuerst in Schottland, dann auch in den großen Industriestädten Englands. Sie boten öffentlich zugängliche technische Bibliotheken sowie Kurse zum Maschinenbau (nicht zum Tiefbau). Von dem dort vermittelten Wissen, vor allem technisches Zeichnen und die Grundlagen der Mechanik, konnten auch Tiefbauingenieure profitieren. Viele dieser Einrichtungen fanden Unterstützung bei namhaften Maschinenbauern wie John Nasmyth, Joseph Whitworth und ROBERT STEPHENSON. Sie sahen den Vorteil technisch gut ausgebildeter Mitarbeiter sahen, die ihr Studium nach einem zehn- bis zwölfstündigen Arbeitstag in der Freizeit absolvierten. Solche Institute verbreiteten sich schnell auch in anderen englischsprachigen Ländern, während in Großbritannien viele zu den ersten Fachhochschulen und später zu

Tief- und Hochbauingenieure – die Entstehung der Berufe

Universitäten wurden. Die Institution of Civil Engineers als Berufsverband verlangte von ihren Mitgliedern zunächst keine Ingenieurausbildung. Diese Idee wurde 1866 erstmals von JOHN FOWLER vorgeschlagen und schließlich 1896 umgesetzt. Damals gab es in Deutschland etwa 30 000 akademisch an polytechnischen Institutionen und mehr als 120 000 an Berufsschulen ausgebildete Ingenieure.5 Die formale Ingenieursausbildung und die Veröffentlichung von Lehrbüchern zur Unterstützung des Berufsstands der Tiefbauingenieure begannen in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (siehe »Zur Ausbildung von Ingenieuren«, S. 30). Die ersten polytechnischen Hochschulen wurden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gegründet (Berlin 1799 und 1821, Prag 1806, Wien 1815, Nürnberg 1823, Karlsruhe 1825, München 1827, Dresden 1828, Stuttgart 1829, Hannover 1831, Zürich 1854). Sie alle basierten auf dem in Frankreich geschaffenen Grundmodell. Den frühen, zwischen 1750 und 1770 entstandenen deutschen Büchern von Caspar Walter folgten Werke von David Gilly über Wasserbaukunst (1795) und Landbaukunst (1798), von Johann Albert Eytelwein über Wasserbaukunst (mit Gilly, 1802–1808) und Hydrostatik (1826), Statik fester Körper (1808) und Perspektive (1810) sowie von Gotthilf Hagen über Wasserbauwerke (1826). All diese Gründungsväter des deutschen Tiefbaus engagierten sich an der noch jungen Bauakademie in Berlin, und ihre zahlreichen Publikationen wurden an der neuen Technischen Hochschule in Berlin und im deutschsprachigen Raum zu Standardwerken. Wie in anderen Ländern Europas wurde der Tiefbau auch in Deutschland ab den 1830erJahren dominiert von der an alle Disziplinen gerichteten Forderung nach neuen Eisenbahnstrecken – dies galt z. B. für die Geotechnik, den Brücken- und Tunnelbau, aber auch für den Bau der entlang der Strecken benötigten

Gebäude. Zu den wichtigsten Akteuren dieser Zeit zählten Johann Borsig, FRIEDRICH PAULI, KARL CULMANN, JOHANN SCHWEDLER und HEINRICH GOTTFRIED GERBER. Abgesehen von Borsig, der Lokomotiven und Eisenkonstruktionen für Eisenbahnen herstellte, waren die anderen vor allem für die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Brückentragwerke bekannt.6

Die Berufe von Tiefbau- und Hochbauingenieuren Die moderne Vorstellung eines bestimmten »Berufs« kam in Europa im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf, als – basierend auf dem während der Aufklärung entwickelten neuen Verständnis von Wissen und Lernen – viele Gelehrtengesellschaften und Berufsverbände entstanden. Diese Organisationen waren darauf ausgerichtet, den Zuständigkeitsbereich ihrer Disziplin, z. B. Rechtswissenschaften, Medizin und Architektur, zu formalisieren und den für diesen Beruf Qualifizierten eine exklusive Mitgliedschaft zu geben. Beide Ziele gründeten auf dem jeweils anerkannten akademischen Wissen und den damit verbundenen Ausbildungsmethoden, die die Mitglieder von praktischen Handwerkern unterschieden. In Großbritannien wurden diese Ziele einer professionellen Organisation für den Tiefbau bis Anfang des 20. Jahrhunderts allerdings nicht vollständig erreicht. JOHN SMEATON hatte 1771 die Society of Civil Engineers gegründet – mit dem Ziel, Erfahrungen zu sammeln und Ingenieurwissen zu entwickeln. Doch bis zum Ende des Jahrhunderts war daraus mehr ein Dining Club als ein Berufsverband geworden. Im Jahr 1818 bildete eine Splittergruppe junger Ingenieure die Institution of Civil Engineers (ICE), um den Beruf effektiver zu fördern. Doch auch diese Einrichtung hatte wenig Einfluss – bis 1820 der

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5 Über das Aufkommen der Ingenieurs­ ausbildung in mehreren europäischen Ländern und den USA schreibt Ulrich Pfammatter in: The Making of the Modern Architect and Engineer. Basel 2000 6 Die wissenschaftlichen Entwicklungen in der Statik und Materialfestigkeit untersucht Karl-Eugen Kurrer gründlich in: ­Geschichte der Baustatik. 2. Aufl., Berlin 2015 7 Details zur Gründung und Weiterentwicklung des ICE finden sich in: Hugh Ferguson, Mike Chrimes: The Civil Engineers. The Story of the Institution of Civil Engineers and the People who Made it. London 2011 8 Die Geschichte des VDI beschreibt Stefan Poser im Kapitel »Der Berliner VDI – Das erste Jahrhundert (1856 –1945)«. In: Siegfried Brandt, Stefan Poser: Zukunft des Ingenieurs – Ingenieure der Zukunft. 150 Jahre VDI Berlin-Brandenburg. Berlin 2006, S. 89 – 229

Oben  Eisenbahnbrücke Mainz-Süd-­ Gustavsburg bei Mainz (D) mit Pauli­ träger, erbaut 1861/ 62, Ingenieur: ­Heinrich Gottfried Gerber Links  Mit einer Spannweite von 64,3 m das weltweit größte Bahnhofsdach zu dieser Zeit, New Street Station, Birmingham (GB) 1854, Ingenieur: ­Edward Alfred Cowper

herausragende Tiefbauingenieur Thomas Telford zum ersten Präsidenten gewählt wurde. Indem die neue Institution ihr Hauptquartier nur 200 Meter entfernt vom britischen Parlamentsgebäude und von Regierungsministerien einrichtete, gelang es ihr, das Berufsbild auch bei einflussreichen Politikern und Beamten aufzuwerten (siehe »Netzwerke des Ingenieurwissens«, S. 20). Die Institution diente und dient noch immer dazu, die fachlichen Erfahrungen ihrer Mitglieder durch regelmäßige Treffen und Veröffentlichungen zu teilen. Darüber hinaus entstehen zahlreiche Berichte über wichtige Tiefbauthemen, die die Industrie, die Politik und die Öffentlichkeit informieren. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts übt die ICE aber auch einen starken Einfluss auf die Inhalte von Studiengängen im Bauingenieurwesen aus, einerseits um das Mindestmaß an Wissen zu definieren, über das Berufsanfänger verfügen sollten, andererseits um die sich wandelnden wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse und Praktiken zu verbreiten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die ICE von Ingenieursverbänden anderer europäischer Länder.7 Der klar abgegrenzte Beruf des Tragwerksplaners entstand in Großbritannien in den 1840erJahren, als Schmiedeeisen für weitspannende

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Dächer in Werkstattgebäuden und Bahnhöfen sowie für Eisenbahnbrücken zum Einsatz kam – Wirtschaftlichkeit und Sicherheit der eisernen Rahmenkonstruktionen hingen nicht zuletzt von den präzisen Berechnungen der auftretenden Kräfte und Durchbiegungen ab. Dennoch wurde erst 1908 ein Berufsverband für Tragwerksplaner gegründet, als Stahlbeton eine immer weitere Verbreitung fand – und tatsächlich war dieser bis 1922 als »The Concrete Institute« bekannt. Heute gibt es in Großbritannien über ein Dutzend Berufsverbände, die die Bereiche Tief- und Hochbau abdecken. Abschließend ist anzumerken, dass es vor allem die Unabhängigkeit der Tiefbauingenieure von der Regierung ist, durch die sich die britischen Berufsverbände von anderen europäischen Ländern unterscheidet. In Deutschland beispielsweise gibt es keine direkt vergleichbaren Organisationen. Der 1856 in Berlin gegründete Verein Deutscher Ingenieure (VDI) hat immer schon alle Ingenieurbereiche miteinbezogen, und es ist auch nicht erforderlich, dass in Deutschland praktizierende Ingenieure Mitglieder des VDI werden.8 Im Gegensatz hierzu sind alle britischen Bauingenieure verpflichtet, Mitglieder der Institution of Civil Engineers zu sein.

Tief- und Hochbauingenieure – die Entstehung der Berufe

Netzwerke des Ingenieurwissens

Über Jahrhunderte lagen das Wissen und die Ausbildung von Baumeistern und Handwerkern in der Hand von Zünften, Bauhütten und Klos­ ter­b ibliotheken. Zwar wurde dieses Wissen während des Mittelalters meist eifersüchtig gehütet, doch von Ort zu Ort wandernde Mönche, Baumeister und Handwerksgesellen vermittelten ihre Kenntnisse innerhalb einschlägiger Kreise weiter. Diese – noch auf wenige Fachleute begrenzte – Art des Wissenstransfers änderte sich in der Renaissance mit dem gesellschaftlichen und technischen Wandel. Da war einerseits die Stellung des Baumeisters selbst, des Architekten, der nun als eigenständiger und aktiver Baubeteiligter wahrgenommen wurde und seine Werke selbstbewusst Auftraggebern und Kollegen zur Schau stellen wollte. Darüber hinaus erleichterten der Buchdruck und die schrittweise Öffnung der Gesellschaft die Verbreitung von fachlichem Wissen. Hand in Hand mit dem allmählichen Bedeutungsverlust des Zunftwesens seit Beginn der Industrialisierung verlagerte sich die Ausbildung von Baumeistern und Technikern in königliche oder später staatliche Fachschulen und Akademien. Sie wurde zu einer wissenschaftlichen Disziplin, die damit einem weiteren Kreis von Bewerbern zugänglich war. Neue und immer effektivere Kommunikationswege zu Land und zur See ermöglichten die Entstehung globaler Netzwerke, die von Baumeistern, Ingenieuren, Technikern und Handwerkern geschaffen und extensiv genutzt wurden.

Verbände als Netzwerke Großbritannien als Vorreiter der Industrialisierung war um die Wende zum 19. Jahrhundert Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung. JOHN SMEATON gründete schon 1771 eine ers-

te Society of Civil Engineers; doch erst als in London 1818 die Institution of Civil Engineers (ICE) gegründet wurde, entstand der weltweit erste Berufsverband für Bauingenieure. Dieser Verband sollte zunächst möglichst viele Ingenieure mit unterschiedlichsten Vorbildungen zusammenschließen, denn der Bauingenieur – in anderen Sprachen besser Zivilingenieur (»civil engineer«) genannt – war auch in Großbritannien noch nicht als eigenständiger Beruf anerkannt, da die meisten Ingenieure bisher beim Militär mit dem Bau von Festungen, Waffen und Infrastruktur beschäftigt waren. Nachdem die Gründungsingenieure zwei Jahre lang mit geringem Erfolg versucht hatten, Mitglieder für ihre Vereinigung zu werben, schlugen sie 1820 dem bereits berühmten Ingenieur und späteren Erbauer der Menai-Brücke THOMAS TELFORD vor, erster Vorsitzender der Gesellschaft zu werden. Dessen Berufung führte wie erhofft zu einem erheblichen Anstieg der Mitgliederzahlen, denn er nutzte seine guten gesellschaftlichen und politischen Kontakte, um neue Mitglieder aus Großbritannien und den USA zu gewinnen. Auf dem Höhepunkt seiner Präsidentschaft erreichte der Verband 1828 die offizielle Anerkennung der Institution of Civil Engineers durch die britische Krone. Diese wurde 1975 von Königin Elizabeth II. erneuert und verlieh ihm höchste Anerkennung und den Status der führenden Einrichtung für Bauingenieure, was auch durch die Lage ihres Sitzes in direkter Umgebung des Houses of Parlament in Westminster deutlich wird. Die von ihm vergebene Telford-Medaille ist noch immer eine der begehrtesten Auszeichnungen für Bauingenieure. Mit diesem Verband war nun ein erstes, noch eher nationales Netzwerk entstanden, das jedoch als Ansporn und Vorbild für ähnliche Verbände in allen Ländern Europas dienen

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Dirk Bühler

Unten  John Smeatons Eddystone Leuchtturm wurde 1756 bis 1759 aus mit­einander verzapften Granitwerksteinen erbaut, die mit wasserfestem Zementmörtel verbunden sind. Smeaton ver­besserte dafür erstmals durch systema­tische Versuche den Baustoff Zement und gilt daher selbst als Leuchtturm der Zement- und Betonforschung.

sollte. So wurden, um nur wenige Beispiele zu nennen, 1837 der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) in Aarau, 1848 die Société centrale des ingénieurs civils in Paris, ebenfalls 1848 der Österreichische Ingenieur-Verein in Wien und schließlich 1856 der Verband Deutscher Ingenieure (VDI) in Berlin gegründet. Weil das Berufsbild des Ingenieurs, vor allem aber auch das des Bauingenieurs einem steten Wandel unterliegt, wurden aus diesen Verbänden immer komplexere Organisationen, aus denen heraus sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten spezialisierte Berufsverbände – häufig als nachgeordnete, aber auch als parallele Einrichtungen wie für den Bau mit Eisen, Beton oder mit neuen Bautechniken – entwickeln konnten. Während zunächst noch viele der in den Verbänden organisierten Ingenieure ihre Ausbildung beim Militär gemacht oder Fächer wie Bergbau, Geodäsie, Chemie oder Mathematik studiert hatten, gab es auch Mechaniker, Schlosser oder Zimmerleute, die sich aufgrund ihrer beruflichen Leistungen Ingenieure nannten und Mitglieder wurden. Doch das sollte sich mit einer Festigung des Berufsbilds des Bauingenieurs und der Formalisierung der Ausbildung ändern. Schon Anfang des 18. Jahrhunderts hatten sich aus den Ingenieurcorps heraus vor allem in Frankreich und Deutschland zivile Ausbildungsstätten für Bauingenieure entwickelt. Eine der ersten war die 1747 ­unter König Ludwig XV. gegründete École royale des ponts et chaussées, sie wurde zur wichtigsten und berühmtesten Ausbildungsstätte. JEAN-RODOLPHE PERRONET übernahm

die Leitung der 1775 in École nationale des ponts et chaussées umbenannten Schule. Da jedoch stetig wachsende technische und gesellschaftliche Anforderungen an den Beruf und damit an die Ausbildung der Bauingenieure gestellt wurden, entwickelten sich – besonders ab den 1830er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg – immer mehr öffentliche Schulen für Bauhandwerker und Bautechniker. An den Technischen Hochschulen entstand das Fachgebiet des Bauingenieurwesens, das sich ab der Jahrhundertmitte zunehmend von der Architektenausbildung abkoppelte (siehe »Tiefund Hochbauingenieure – die Entstehung der Berufe«, S. 14 und »Zur Ausbildung von Ingenieuren«, S. 30).

Reisen bildet, auch Netzwerke Doch Netzwerke und Vermittlung von Wissen entstanden nicht nur in Verbänden und Schulen, sondern auch durch Reisen zu den angesagten Stätten des technischen Fortschritts. Reisten in der Zeit der Renaissance Künstler, Architekten und Naturwissenschaftler allein oder im Geleit ihrer Fürsten nach Italien, so wurde im 18. Jahrhundert vor allem das vorrevolutionäre Frankreich ein beliebtes zusätzliches Reiseziel für Wissbegierige, während dann mit Beginn der industriellen Revolution auch eine Reise nach Großbritannien zum Pflichtprogramm gehörte. Dort standen zunächst die modernen, in den Bergwerken installierten Dampfmaschinen auf dem Besuchsprogramm, aber auch die innovativen Techniken bei der Verhüttung von Eisenerz und die Bauten in den neuen Industriegebieten waren Ziele der Gäste. Natürlich erregten auch die Techniken beim Bauen mit dem neuen Material Eisen großes fachliches Interesse. So entwickelte sich 1781 die erste gusseiserne Brücke über den Severn in Coalbrookdale, der Wiege der Industrialisierung, zu einem Tourismusmagneten. Ab 1819 stand die Baustelle für die Menai-Kettenbrücke von THOMAS TELFORD, die 1826 dem Verkehr übergeben wurde, im Mittelpunkt des Interesses. Hauptsächlich aber zog der in England so erfolgreich begonnene Bau von Eisenbahnen Ingenieure, Unternehmer und Geschäftsleute an. Einer der ungewöhnlichsten deutschen Reisenden war der Schlossersohn Georg Friedrich von Reichenbach. Er durfte nach Beendigung seiner Lehrzeit mit kurfürstlicher Förderung 1791–1793 England bereisen, wo er zum »Industriespion« und nach seiner Rückkehr zum »Erfindergenie« wurde, wie es ein Biograf liebevoll umschreibt. Von Reichenbachs »Spionagetagebuch«, das auch eine genaue Zeichnung

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Netzwerke des Ingenieurwissens

einer Dampfmaschine nach James Watt enthält, wird im Archiv des Deutschen Museums aufbewahrt. Nach seiner Rückkehr erlangte von Reichenbach in München schnell Ruhm für seine wissenschaftlichen und geodätischen Instrumente, die er zusammen mit dem Unternehmer Josef von Utzschneider und dem Professor für Feinmechanik Joseph Liebherr entwickelte. 1808 wurde er außerordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Aber es waren seine wasserbaulichen Leistungen wie z. B. die Soleleitung von Bad Reichenhall nach Traunstein und die von ihm entwickelten innovativen Pumpen, die von Reichenbach als Bauingenieur auszeichneten. Berühmte preußische Englandreisende waren einige Jahre später der Architekt Karl Friedrich Schinkel und der Unternehmer Christian Peter Wilhelm Friedrich Beuth, die von April bis August 1826 gemeinsam die britische Insel bereisten, um für ihren König Friedrich Wilhelm III. neue Museumsbauten kennenzulernen. Doch beide interessierten sich noch mehr für alle technischen Neuerungen und besichtigten Bauwerke, Fabriken und technische Anlagen. Ihre so gewonnenen Erfahrungen nutzten und verbreiteten beide in ihren Publikationen, ihrem Unterricht und natürlich auch in ihren Werken. Die Tradition der reisenden Bauingenieure, die für uns heute eine Selbstverständlichkeit ist, setzte sich im 19. Jahrhundert etwa mit KARL CULLMANN fort (siehe S. 24) oder mit dem Ingenieur MAX EYTH, der in seinen literarischen Werken dem Ingenieur und seinem Beruf huldigt und so viele Jugendliche für den Beruf begeistern konnte. Als junger Bauingenieur bereiste in den Jahren 1932 / 33 FRITZ LEONHARDT als erster (und für lange Zeit auch letzter) DAAD-Student die USA. Auf dieser Reise konnte er (auch von

seinem mitgebrachten Klepper-Faltboot aus) die modernsten Brücken in New York und San Francisco studieren und lernte berühmte Ingenieure wie OTHMAR AMMANN, Leon Solomon Moisseiff und David Bernard Steinmann kennen. Vor allem den Kontakt zu AMMANN hielt er intensiv aufrecht. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Leonhardt dank seiner hervorragenden Kenntnisse und Erfahrungen schnell zu einem der wichtigsten Brückenbauer des Landes. Er arbeitete mit Karl Wilhelm Schächterle und Paul Bonatz beim Bau der 1941 fertiggestellten Rodenkirchener Rheinbrücke zusammen. Nach dem Krieg wurde er zum international tätigen »Pontifex maximus« und gründete das Büro LEONHARDT, ANDRÄ UND PARTNER, das auch heute noch zu den weltweit führenden Ingenieurbüros zählt.

Netzwerke durch Zusammenarbeit Zu Beginn der Industrialisierung waren es vor allem Familienbande, aus denen ein professionelles Netzwerk geschmiedet war, wie beispielsweise bei den Zimmerleuten um die Familie des Schweizers HANS ULRICH GRUBENMANN, deren Ingenieurholzbauten europaweite Bekanntheit genossen. In späteren Netzwerken traten die Familienbande zusehends in den Hintergrund und wurden immer häufiger von erst im Berufsleben geknüpften Verbindungen abgelöst. Lehrlinge, Praktikanten und Studenten, die in einer Firma, einem Atelier oder Unternehmen ausgebildet wurden und später als Ingenieure tätig waren, schufen schnell Netzwerke des Wissens. Damit könnte die Geschichte der Bauingenieure auch anhand von Beziehungsgeflechten beschrieben werden, wie die folgenden Beispiele zeigen. THOMAS BRASSEY hatte – als willkürlich gewählter Einstieg in die Geschichte – Vermessungswesen gelernt, bevor er seine erste

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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Oben  Karl Friedrich Schinkel notierte am 21. Juli 1826 bei einem Besuch der nur wenige Monate zuvor fertiggestellten Menai Kettenbrücke in seinem Tagebuch: ein „bewunderungswürdiges, ­kühnes Werk“, bei dem „kein Erschüttern bei Wagenüberfahrt“ zu spüren ist. Er kaufte „die Beschreibung des Baues“ und fertigte diese Zeichnung an, in der er die Besonderheiten der Brücke eindrucksvoll hervorhebt. Rechts oben  Bei der Planung des Kristallpalastes für die erste Weltausstellung, die 1851 in London stattfand, hatte ­Isambard Kingdom Brunel dessen erfindungsreichen und innovativen Erbauer, den Botaniker und Architekten Sir Joseph Paxton beraten. Rechts unten  Die Paddington Station war der Endpunkt der Great Western Railway in London für den Isambard Kingdom Brunel ein gläsernes Bahnhofsgebäude erbaute, bei dem er die Erfahrungen aus dem Bau des Kristallpalastes nutzte: Die Halle wurde drei Jahre nach dem Kristallpalast 1854 eröffnet.

Anstellung im Büro von THOMAS TELFORD annahm. In dieser Zeit lernte er GEORGE STEPHENSON und JOSEPH LOCKE kennen. Durch einen von STEPHENSON 1835 vermittelten und erfolgreich durchgeführten Bauauftrag für einen Viadukt wurde BRASSEY zum Unternehmer und beteiligte sich mit großem Erfolg am Bau von Eisenbahnen, zunächst in Großbritannien, dann auch in Frankreich, Spanien und anderen Ländern Europas. Von seinem Firmensitz in Birkenhead aus verschickte er auch Lokomotiven und Stahlkonstruktionen direkt nach Übersee. Sein Plan, einen Tunnel unter dem Ärmelkanal zu bauen, war dagegen mit dem politischen Geist der Zeit nicht vereinbar. Gleichzeitig unterstützte BRASSEY jedoch andere Ingenieure und ihre innovativen Ideen; einer davon war ISAMBARD KINGDOM BRUNEL. Bereits sein Vater war ein berühmter Ingenieur, Architekt und Erfinder: MARC ISAMBARD BRUNEL, ein königlicher Marineoffizier aus Frankreich, der vor der Revolution in die USA floh, wo er zum Chefarchitekten der Stadt New York aufstieg. 1799 zog er nach Großbritannien und erhielt dort Patente für technische Instrumente und Maschinen,

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baute aber vor allem in London den ersten Tunnel unter der Themse. Das Besondere dabei war der neu­artige Tunnelbohrschild, der den gesamten Bohrquerschnitt abdeckte und je nach Grabungsfortschritt durch eine Schraube weiterbewegt wurde – der Grundstein für den modernen Schildvortrieb war gelegt. Sogar Alexander von Humboldt besuchte 1827 die Tunnelbaustelle, die damals schon von I­SAMBARD KINGDOM BRUNEL geleitet wurde; mit ihm zusammen ließ er sich im Senkkasten in 12 Metern Tiefe die Baustelle zeigen. Von seinem berühmten Vater von Kindesbeinen an in allen mathematischen und technischen Künsten unterrichtet, erhielt ISAMBARD KINGDOM BRUNEL in Paris beim Uhrmacher Abraham Louis Breguet eine feinmechanische Ausbildung. Mit diesen Kenntnissen gerüstet, konnte er schließlich zu einem Pionier der Technik während der industriellen Revolution werden, einer Zeit, als der Glaube an den gesellschaftlichen Fortschritt durch Technik unendlich war und alles möglich schien. Seine Originalnotizen und -zeichnungen werden in der Brunel Collection der University of Bristol aufbewahrt. ISAMBARD KINGDOM BRUNEL machte sich insbesondere mit seinen Bauten für die englische Eisenbahngesellschaft Great Western Railway (GWR) sowie dem Bau von Dampfschiffen und Brücken einen großen Namen. Ab 1833 arbeitete er ausschließlich für die GWR, für die er ein Netz von ca. 1500 Streckenkilometern einschließlich der erforderlichen Viadukte, Bahnhöfe und Tunnel schuf. Paddington war damals Endpunkt der GWR in London, und dort wurde 1854 BRUNEL neues gläsernes Bahnhofsgebäude eröffnet. Davor hatte BRUNEL Sir Joseph Paxton beraten, den Botaniker und Architekten, der den Kristallpalast für die erste Weltausstellung 1851 in London geplant hat. Inspiriert von den Erfahrungen Paxtons entwarf BRUNEL wiederum die Paddington Station – eine erfolgreiche Beziehung! BRUNEL konnte die Anteilseigner der Bahngesellschaft überzeugen, das bis 1837 damals größte Transatlantikdampfschiff der Welt, die »Great Western« zu bauen. Mit der Hilfe von THOMAS BRASSEY gelang ihm schließlich der Bau der Bau des Schiffs »The Leviathan«, später in »Great Eastern« umbenannt, 1858 mit 211 Meter wiederum das längste Schiff der Welt. ISAMBARD KINGDOM BRUNEL war außerdem am Bau großer Brücken beteiligt, wie etwa der Clifton Suspension Bridge in der Nähe von Bristol, bei deren Bau er, wie zuvor THOMAS TELFORD, die Pfähle ähnlich einem Patent von SARAH MARIA GUPPY plante (siehe »Pionierinnen der modernen Großbaustellen«, S. 26) und mit der er in intensivem Austausch war.

Netzwerke des Ingenieurwissens

Die ebenfalls von ihm geplante Royal Albert Bridge in Saltash, 1859 fertiggestellt, stellte mit 139 Metern Spannweite den damals größten je gebauten Pauliträger (auch: Linsenträger) dar. Der Entwurf war mit einem Druckrohr als Obergurt und einer Kette als Zugelement des Untergurts äußerst konsequent konzipiert.

Netzwerke kennen keine Grenzen Der von BRUNEL verwendete Pauliträger wurde in einem anderen, diesmal bayerischen Netzwerk zur technischen Reife entwickelt: Zusammen mit dem 1853/54 erbauten Glaspalast in München war die 1857 fertiggestellte (1985 durch einen Neubau ersetzte) Großhesseloher Brücke das prominenteste Ingenieurbauwerk des 19. Jahrhunderts im Königreich, das bis weit über die Grenzen hinweg wirkte. Die Brücke war Teil der Bayerischen Maximiliansbahn zwischen München und Triest und überquerte in 31 Metern Höhe das Isartal mit einer Gesamtlänge von 259 Metern. Die Spannweiten der vier Pauliträger betrugen 56 Meter in den beiden Mittelfeldern und 30 Meter in den beiden Seitenfeldern. FRIEDRICH AUGUST VON PAULI, der Namensgeber des Trägers, kam als Oberingenieur zur Obersten Baubehörde Bayerns, wurde Professor an der Universität München und Leiter der Polytechnischen Schule. 1843 und 1844 reiste er nach Großbritannien. Ab 1841 arbeitete er bereits an der Ludwigs-Nord-Südbahn und gilt damit als

Schöpfer der Bayerischen Staatseisenbahnen. Seine ersten Bauten waren Holzbrücken mit Fachwerken nach dem System Howe, seltener nach dem Town’schen System. Eine erste Innovation in seinem Berufsleben war eine Eisenbrücke über die Günz bei Günzburg mit einem Fachwerkträger, dessen Berechnungsverfahren er verbesserte und der als Vorläufer des Pauliträgers gilt. PAULI arbeitete eng mit der Eisenbaufirma Klett & Co. aus Nürnberg zusammen, die durch den Bau des Glaspalasts in München bekannt geworden war und in der Folge viele Brücken mit Pauliträgern baute. So entstanden bis 1870 fünf Großbrücken, darunter die Großhesseloher, und eine Unzahl kleinerer. Doch als PAULI mit 68 Jahren pensioniert wurde, fand das System kaum noch Verwendung im bayerischen Brückenbau. Auf besondere Veranlassung PAULIS besuchte sein Mitarbeiter KARL CULMANN 1849/50 Großbritannien und die Vereinigten Staaten, um die vielfältigen dort verwendeten Trägersysteme zu studieren. Seine Publikation dieser freier und innovativer gestalteten Holz- und Eisenträger in Übersee war in der Heimat eine Sensation. Er wurde 1855 Professor an der Technischen Hochschule Zürich und bereitet mit seinem Werk »Die graphische Statik« den Weg für eine neue Fachwerktheorie; berühmte Ingenieure wie MAURICE KÖCHLIN gehörten zu seinen Studenten. Das Fachwerksystem des Linsenträgers wurde dann von Paulis Schüler HEINRICH GERBER und Carl von Bauernfeind verbessert. Über

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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Oben  Die Royal Albert Brücke über den Saltash ist 1854 bis 1859 unter der Leitung von Isambard Kingdom Brunel mit zwei je 139 m weit gespannten Pauliträgern erbaut worden. Der Kraftfluss in diesen beiden größten je gebauten Pauliträgern ist deutlich ablesbar: der Obergurt ist als druckbeanspruchtes Rohr, der Untergurt als zugbeanspruchte Kette ausgebildet. Rechts oben  Das Walchenseekraftwerk ist ein 1924 in Kochel am See in Betrieb genommenes Hochdruck-Speicherkraftwerk, das vom Unternehmer und Bau­ ingenieur Oskar von Miller ab 1918 geplant und gebaut wurde. Es ist mit einer Leistung von 124 MW bis heute eines der größten seiner Art in Deutschland. Die Pelton-Turbinen sind mit Einphasengeneratoren verbunden (Einbau am 30.10.1924), die für die Stromerzeugung für die Eisenbahn ausgelegt sind. Rechts unten  Die Gründung und der Bau des Deutschen Museums wurden zum Meilenstein in der Geschichte der Inge­ nieurbaukunst, eine Einrichtung, die wir ebenfalls Oskar von Miller verdanken. Die Abbildung zeigt den Bauzustand im Jahr 1914: die bereits fertige Kupfer­ überdachung musste zum Beginn des Ersten Weltkriegs wieder abgenommen und dem Staat gestiftet werden. Der Museumsbau auf der Isarinsel wurde erst 1925 eingeweiht.

den Linsenträger hatte PAULI, dessen Leistungen mehr auf organisatorischem Gebiet lagen, selbst nichts geschrieben, erst HEINRICH GERBER veröffentlicht 1865 einen Aufsatz über den dort »Pauli« genannten Träger. Da die bisher verwendeten Durchlaufträger schwer zu berechnen waren, stellte ein mit Gelenken versehener Auslegerträger eine praktikable Lösung dar. GERBER, der schließlich als Unternehmer und Ingenieur bei Klett in Nürnberg und später im Werk Gustavsburg der MAN tätig war (siehe »Ingenieure als Unternehmer«, S. 119), erwarb 1866 ein Patent auf einen Gelenkträger, der seinen Namen trägt. Mit diesem System entstand 1882–1890 die Brücke Firth of Forth bei Queensferry in Schottland nach dem Entwurf von SIR BENJAMIN BAKER und JOHN FOWLER mit 521 Metern Spannweite.

78,3 MW damals leistungsfähigste NiagaraKraftwerk mit Wechselstromgeneratoren auszustatten. Von 1918 bis 1924 war VON MILLER Projektleiter des Walchenseekraftwerks, des zur damaligen Zeit mit einer Leistung von 124 MW größten Wasserkraftwerks der Welt (siehe »Ingenieure als Unternehmer«, S. 119). VON MILLERS Technikbegeisterung veranlasste ihn, sein Netzwerk zu nutzen und mit dem Deutschen Museum in München einen Leuchtturm des Technikwissens zu erschaffen. Ebenso war er beim Bau einer Betonkuppel für das Zeiss-Planetarium in Jena der Ausgangspunkt eines späteren Netzwerks aus Bauingenieuren wie WALTHER BAUERSFELD, ULRICH FINSTERWALDER und FRANZ DISCHINGER (siehe »Zur Entwicklung der Zeiss-Dywidag-Schalenbauweise«, S. 44).

Der Bauingenieur OSKAR VON MILLER und sein bis in die USA und Japan reichendes Netzwerk stehen beispielhaft für das frühe 20. Jahrhundert. VON MILLER hatte sich vorgenommen, die bayerischen Eisenbahnen zu elektrifizieren und baute Speicher- und Flusskraftwerke, die den erforderlichen Strom bereitstellen sollten. Mit einem ersten aufsehenerregenden Versuch verwandelte er die Wasserkraft des Neckars in elektrischen Strom und zeigte, dass sich Wechselstrom über große Strecken transportieren ließ. 1891 organisierte er als Leiter der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt am Main eine 20 000 Volt-Kraftübertragung zwischen Lauffen und Frankfurt, die einen wichtigen Durchbruch für die Überleitung von Wechselstrom bedeutete. Der amerikanische Elektroingenieur Nikola Tesla und der Ingenieur und Unternehmer George Westinghouse machten sich die Erfahrungen des deutschen Ingenieurs und Forschers zunutze, um das 1895 fertiggestellte und mit

Ohne Zweifel: Die Netzwerke des Wissens unter Bauingenieuren sind Voraussetzung für optimale Lösungen beim Planen und Bauen. Sie tragen durch Erfahrungsaustausch zu einer ständigen Verbesserung der technischen Möglichkeiten bei und erhöhen deren Potenzial. Mit ihren individuellen Fähigkeiten und ihren besonderen Lebenszielen tragen die Protagonisten des Bauens dazu bei, Meisterwerke zu schaffen, die über ihre Zeit hinaus wirken. Vor allem seit den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden stetig dichtere und ­effektivere Netzwerke – nicht nur des Ingenieurwissens. Die Entwicklung neuer und immer schneller werdender Kommunikationsmöglichkeiten, die Digitalisierung und spezialisierte, auch über neue Medien verbreitete Publikationen sowie die Zusammenführung des Wissens in projektbezogenen Arbeitsgemeinschaften haben den Weg zu dem heute weitgehend globalisierten Netzwerk geebnet, das wir täglich wie selbstverständlich nutzen.

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Netzwerke des Ingenieurwissens

Pionierinnen der modernen Großbaustellen – wie sie wurden, wer sie sind

Bauingenieurinnen sind selten – und mutig. Obwohl sie heute von der Industrie und den Universitäten umworben werden, arbeiten ­immer noch viel weniger Frauen als Männer am Bau. Weibliche Vorbilder sind nur nach mühsamer Suche zu finden. Doch es gibt sie, die Pionierinnen der Großbaustellen der Moderne. Wer sich mit der Geschichte des Ingenieurberufs beschäftigt und nach den Frauen darin sucht, stellt schnell fest, dass es diesen nicht ohne Weiteres gelang, als Bauingenieurin im Beruf Fuß zu fassen. Die USA gewährten Frauen seit den 1840er-Jahren allgemein den Zugang zum Studium an eigenen Frauen- und einigen staatlichen Colleges. Britische Universitäten ließen sie in Oxford 1919, in Cambridge erst 1948 zu. Princeton und Harvard sowie die französischen Grands Écoles weigerten sich dagegen bis in die 1970er-Jahre, Frauen eine technische akademische Bildung zu ermög-

lichen. In Westeuropa wurden sie seit 1871 vereinzelt aufgenommen, während an der ETH Zürich bereits 1877 eine erste Frau ihr Studium abschloss. Hier waren Frauen seit 1855 zum Studium zugelassen – aber erst 1918 diplomierte eine erste Bauingenieurin, Elsa Diamant aus Ungarn. Im deutschen Kaiserreich öffneten die Technischen Hochschulen ihre Pforten für Frauen zwischen 1905 (Bayern)1 und 1908 (Preußen), in Österreich erst 1919 – und nur unter der Maßgabe, dass die Kommilitonen nicht gestört würden. Lediglich wenige Beherzte immatrikulierten sich. Es gab offene und versteckte Diskriminierung, die die Studentinnen je nach Konstitution erduldeten oder selbstbewusst ignorierten. Mutig waren sie allemal, die Bauingenieurinnen der Industrialisierung, die einen Zugang zur Technik fanden und diese nutzten, sowie diejenigen der frühen Moderne, die sie darüber hinaus zu ihrem Beruf machten.

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Margot Fuchs

1  Als »Hörerinnen« wurden Frauen an der heutigen Technischen Hochschule München ab 1899 angenommen, bevor sie sich ab 1905 immatrikulieren durften. 2  Madge Dresser: Sarah Guppy. In: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2016. Online: www.oxforddnb. com/index/109/101109112/ 3  Unbekannter Verfasser im Bristol Mercury, 14. Dezember 1939. Siehe dazu auch: www.cliftonbridge.org.uk/did-­ sarah-guppy-design-clifton-suspensionbridge (abgerufen am 30.06.2017) 4  Richard G.Weingardt: Emily Warren Roebling. In: Engineering Legends. Great Amercian Civil Engineers. 32 Profiles of Inspiration and Achievement. Reston, VA 2005, S. 55ff. 5  ebd., S. 58 Links  Patente von Sarah und Samuel Guppy in Bennet Woodcrofts »Alphabetical index of patentees of inventions« Oben  Emily Warren Roebling, Fotografie zwischen 1860 und 1880 Rechts  Brooklyn Bridge, Dokumentation des Eröffnungstags am 24. Mai 1883

handlung mit der Admiralität ein Patent auf ein Antifouling-Mittel ins Gespräch zu bringen und damit dem Familienunternehmen einen großen Auftrag zu sichern. Die GUPPYs verkehrten mit ISAMBARD K. BRUNEL und THOMAS A. TELFORD, den angesehensten Ingenieuren der Zeit, ihr Sohn THOMAS GUPPY war BRUNELS Assistent. Die Presse dagegen raunte, TELFORD und BRUNEL benutzten Sarahs Ideen, und sie sei als Urheberin übergangen worden.3 Aber nicht nur als Erfinderin machte SARAH GUPPY sich einen Namen. Als Geschäftsfrau investierte sie in Hängebrückenprojekte, war Miteigentümerin einer Eisenbahngesellschaft und beteiligte sich an der Finanzierung des Bristol Institute for the Advancement of Science. Als Autorin und Reformerin griff sie nicht nur in bautechnische Diskurse ein, sondern machte auch auf gesellschaftliche Probleme aus ihrer nächsten Umgebung öffentlich aufmerksam und setzte sich für Veränderungen ein.

Hands-on und on site – die Macherinnen und ihr Selbststudium Im England und den USA des frühen 19. Jahrhunderts gab es wohlhabende Unternehmerfamilien, in denen Frauen eine starke Stellung hatten, ohne auf eine Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert zu sein, wie es später das bürgerliche Modell vorsah. In einem solchen Umfeld bewegte sich SARAH GUPPY, deren Eltern Metallhandwerker und Zuckerhändler waren. 1795 heiratete sie Samuel Guppy aus Bristol, einen Metallgießer, Hersteller von Landmaschinen und Kaufmann.2 Ihr technisches Wissen eignete sie sich in der Praxis im informellen Erziehungssystem des Familienunternehmens an. Sie entwickelte zeichnerische Fähigkeiten, baute ein Hängebrückenmodell und hielt ihr technisches Wissen schriftlich fest. So werden ihr zehn Patente zugeschrieben – vom Schutz von Eisenbahndämmen gegen Erosion und Böschungsrutsche durch das Pflanzen von Pappeln und Weiden (1811) bis zu einer Methode zur Abdichtung von Schiffsrümpfen (1844). Versiert wie sie war, schaffte sie es bei einer Ver-

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In einem ähnlichen Umfeld bewegte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA EMILY WARREN ROEBLING.4 1865 heiratete sie WASHINGTON A. ROEBLING , den ältesten Sohn des aus Deutschland emigrierten Kabelherstellers, Architekten und Brückenbauers JOHN A. ROEBLING. Als Konstrukteur plante WASHINGTON gemeinsam mit seinem Vater den Bau einer Hängebrücke über den East River in New York. Nach dem Tod des Vaters übernahm der Sohn 1869 den Bau der späteren Brooklyn Bridge. Als auch er durch Erkrankung dauerhaft ausfiel, hielt EMILY den Baubetrieb am Laufen – denn für das Familienunternehmen stand mit diesem Projekt viel auf dem Spiel. Sie eignete sich im Selbststudium Spezialkenntnisse in Mathematik, Festigkeitslehre, Durchhängen von Ketten und für Kabel- und Brückenkonstruktion an. Bei täglichen Inspektionen auf der Baustelle lernte sie die Sprache der Ingenieure, erledigte technische Korrespondenz, verhandelte mit Subunternehmern, Materiallieferanten, Behörden und öffentlichen Auftraggebern – im Austausch mit und im Sinne ihres Mannes. Von 1872 bis zur Eröffnung der Brücke 1883 war EMILY ROEBLING »das Gesicht« des Bauunternehmers ROEBLING in der Öffentlichkeit.5 Nach Beendigung des Brückenbaus studierte ROEBLING in New York Mathematik und Jura, letzteres mit einem Abschluss im Jahr 1899.

Die Bauingenieurinnen der Moderne: Elitestudium und Praxis Die Ingenieurselite, die sich in industrialisierten Gesellschaften bis zum frühen 20. Jahrhundert herausbildete, hielt für die Ausübung ihres Be-

Pionierinnen der modernen Großbaustellen – wie sie wurden, wer sie sind

rufs die formale wissenschaftliche Ausbildung an einer Universität und praktische Erfahrung in öffentlichen oder privaten Unternehmen für unerlässlich. Die junge amerikanische Feministin und Diplom-Bauingenieurin NORA STANTON BLATCH BARNEY stammte aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie. Der Vater war Brauer, die Mutter, Harriet Eaton Stanton, Lehrerin, Autorin, Frauenrechtsaktivistin und Reformerin. Den Beruf des Bauingenieurs empfand die Tochter als »einen der männlichsten« überhaupt, studierte das Fach aber unerschrocken an der Cornell University und schloss 1905 mit Auszeichnung ab. 6 Einige Jahre später heiratete sie den Erfinder und Elektrotechniker Lee de Forest. Fasziniert von der Radiotechnik und der frühen Elektronik machten die beiden in Lees Labor Versuche, reisten nach Europa zu Werbe- und Verkaufsveranstaltungen und begeisterten die Öffentlichkeit mit drahtlosen Musik- und Sprachübertragungen. NORA musste früh den Wunsch gehabt haben, Berufstätigkeit und Familie zu vereinbaren. Aber de Forest missfiel, dass seine studierte, kluge Frau nicht nur Hausfrau und Mutter sein, sondern weiter arbeiten wollte – schon bald nach der Geburt der Tochter trennt sich das Paar. 1919 heiratete NORA den Schiffbauer Morgan Barney und hatte mit ihm zwei Kinder. Bei einer Studie über die New Yorker Wasserversorgung, als Chef-Zeichnerin in Unternehmen des Stahl- und Brückenbaus und beim New Yorker Wasserwirtschaftsamt sammelte sie praktische Berufserfahrung als Bauingenieurin und trug Verantwortung für Mitarbeiter. Ab 1935 arbeitete sie als selbstständige Architektin und Bauingenieurin, als Unternehmerin finanzierte und entwickelte sie Bauprojekte. 1916 verweigerte ihr die Amercian ­Society of Civil Engineers (ASCE) die Vollmitgliedschaft. BARNEY klagte wegen Diskriminierung von Frauen – und wurde abgewiesen.7 2015 – spät, aber doch – beförderte die ASCE BARNEY posthum zum Vollmitglied und feierte sie als Wegbereiterin der heutigen und künftigen »diversity leadership«8 im Bauingenieurberuf.

Wissensvermittlung und akademische Laufbahnen Die Bauingenieurinnen der Moderne waren oft »Vatertöchter«, das legen die Lebensläufe von MARTHA SCHNEIDER-BÜRGER und ELFRIEDE TUNGL nahe. Vater und Tochter hatten ein inniges Verhältnis, über ihn bekamen sie einen Bezug zu Technik und Wissenschaft. Die Ingenieurinnen heirateten oft einen Kollegen – man hatte gemeinsame Themen, und vielleicht ließ sich »Fremdheit« im Beruf so besser aushalten. Qualitative Interviews und biografische Studien

erlauben solche kollektiven Einschätzungen, ohne dass sie immer auf alle Bauingenieurinnen aus dieser Zeit zutreffen müssen. MARTHA SCHNEIDER-BÜRGER, die älteste von vier Töchtern des Diplomingenieurs HUGO ­BÜRGER, durfte 1923 bereits an einem Mädchengymnasium ihr Abitur machen. Als Kind bewunderte sie ihren Vater, der Bauleiter unter anderem einer stählernen Rheinbrücke bei Düsseldorf war. Durch ihn entwickelte sie eine Faszination für die Thematik und hatte durch seine Projekte erste »Aha-Erlebnisse« mit Statik und Festigkeit. 1923 schrieb sie sich an der Technischen Hochschule Karlsruhe im Fach Bauwesen ein, wechselte nach dem Vordiplom an die Technische Hochschule München und wurde 1927 die erste deutsche Diplom-­ Bauingenieurin9. Es folgte eine kurze Anstellung in einem Ingenieurbüro bis zu dessen Auflösung. 1929 begann sie bei der Beratungsstelle für Stahlverwendung der Wirtschaftsvereinigung Stahl, wo sie bis zu ihrer Heirat mit dem Bauingenieur MAX SCHNEIDER arbeitete. Ihre Anstellung gab sie anschließend – laut SCHNEIDER-BÜRGER zu dieser Zeit als Frau üblich10 – zwar auf, blieb aber mit zwei Unterbrechungen durch die Geburt ihrer Kinder über Jahre hinweg freiberuflich für die Beratungsstelle tätig. Für Wirtschafts-, Industrie- und Berufsverbände sprach sie auf Tagungen, sie stand an Messeständen und sorgte für gute Kommunikation und Vernetzung. Ebenso engagierte sie sich für das Deutsche Institut für Normung und im Verein Deutscher Ingenieure, dem sie selbstbewusst 1930 beitrat und in dem sie in Gremien tätig war, auch mit Blick auf Frauen im Ingenieurberuf. Vor allem aber arbeitete sie seit Anfang der 1930er-Jahre bis zu ihrem Lebensende kontinuierlich an ihrem Tabellenwerk »Stahlbau-Profile« – Insider nen-

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6 Cynthia Farr Brown: Nora Stanton Blatch Barney. In: American National Biography Online 7 Ruth Oldenziel: Multiple-Entry Visas. Gender and Engineering in the US, 1870 –1945. In: Annie Canel; Ruth ­Oldenziel; Karin Zachmann: Crossing Boundaries, Building Bridges. Comparing the History of Women Engineers 1870 –1990s. Amsterdam 2000, S. 12f. und Fußnote 31, S. 46 8 Ben Walpole: ASCE Recognizes Stanton Blatch Barney; Pioneering Civil ­Engineer, Suffragist. http://news.asce. org/asce-recognizes-stanton-blatch-barney-pioneering-civil-engineer-suffragist/ vom 28. August 2015 (abgerufen am 20.7.2017) 9 Siehe dazu auch Maritta Petersen: ­Martha Schneider-Bürger. In: Klaus ­Stiglat (Hrsg.): Bauingenieure und ihr Werk. Berlin 2004, S. 379f. 10 ebd. 11 Walter Mudrak: Elfriede Tungl (Nachruf). In: TU aktuell 06 –1981/ 82, S. 39ff. Ich danke Dr. Juliane Mikoletzky vom Universitätsarchiv der TU Wien für wichtige Hinweise zu dieser Biografie. 12 Karriereführer.de: Berufsbild Bauingenieurin. Durchsetzungsfähigkeit gefragt. www.karrierefuehrer.de/archiv/berufsbild-bauingenieurin-durchsetzungsfahigkeit-gefragt.html (abgerufen am 30.06.2017) 13 Irène Troxler: »Wenn man Gott sein muss, bewerben sich keine Frauen«. In: Neue Zürcher Zeitung vom 29. Dezember 2014. www.nzz.ch/zuerich/region/ wenn-man-gott-sein-muss-bewerbensich-keine-frauen-1.18452007 (abgerufen am 10.07.2017)

nen es »Die Martha«: Alle für den Bau wichtigen Profilnormen, Verbindungen und Vorschriften sind hier aufgeführt. 2001 in der 23. Auflage erschien es neu und hat seither tausenden Bauingenieuren die Arbeit erleichtert. Eine Wissensvermittlerin im akademischen Bereich ist ELFRIEDE TUNGL, Tochter eines Diplom-Kaufmanns und Handelsschullehrers. Ob ihr Vater sie zum Studium ermutigen musste? Sie schrieb sich 1940 an der Universität Wien in Mathematik und Physik ein. Hervorragende Mathematikkenntnisse galten für das Studium des Bauwesens als unabdingbar – ELFRIEDE muss gut gewesen sein, denn 1941 wechselt sie zielstrebig an die Technische Hochschule Wien in das Fach Bauwesen. Als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Festigkeitslehre sammelte sie Erfahrungen als Wissenschaftlerin, und im staatlichen Brückenbau lernte sie als stellvertretende Bauleiterin die Praxis kennen. ­ mfeld beDoch: Theorie und akademisches U hielten ihre Anziehungskraft. 1950 promovierten an der TH Wien 15 Ingenieurinnen, TUNGL war die einzige Dr.-Tech. des Baufachs – und vermutlich auch die erste europäische promovierte Bauingenieurin überhaupt. Es folgte die Habilitation mit der Lehrbefugnis für Elastizitäts- und Festigkeitslehre (1962) und 1973 – Krönung ihrer Laufbahn als Wissenschaftlerin – schließlich die Ernennung zur außerordentlichen Professorin für Elastizitäts- und Festigkeitslehre der TH Wien.11

»Sie können das!« Technisches Wissen und der Umgang mit Technologie gewannen in der Zeit der industriellen Revolution schnell an Bedeutung. Für den Zugang zu den Technikberufen spielten dabei sowohl Talent und Bildung wie auch Herkunft

Links oben  Nora Stanton Blatch Barney in einer Fotografie von 1921 (links) wurde erstes weibliches Mitglied im ASCE, allerdings nur als »Junior Member«. Pittsburgh Daily Post, 29. März 1906 (rechts) Ganz oben  Cover der 2. Ausgabe der Stahlbau-Profile von 1932 Oben  Elfriede Tungl (um 1965) Rechts Entwicklung des Frauenanteils im Fachbereich Bauingenieurwesen (TU München und TU Wien im Vergleich, Stand August 2017)

und Beziehungen eine große Rolle. Auf Basis dieser Dynamik entstand der Berufsstand der Ingenieure, aus dem Frauen zunächst weitgehend ausgeschlossen waren. Anhand der biografischen Porträts zeigt sich, wie es dennoch einigen Frauen gelungen ist, ihren Platz in der Baubranche zu finden. Aus welchen Gründen sich heutige Bauingenieur-Studentinnen für diesen Beruf entscheiden, erfragt der Online-Karriereführer 2017.12 Den Anstoß gibt meist »das persönliche Umfeld«: Eltern oder Geschwister in Ingenieurberufen spielen dabei eine Rolle wie auch die  praktische Erfahrung, z. B. beim Hausbau, und das schulische Umfeld, in dem Lehrer eine mathematische Begabung erkennen und fördern. Heute gibt es keine formalen Beschränkungen mehr, die Frauen davon abhalten, technische Bildung und Spezialkenntnisse zu erwerben. Das Fach Bauingenieurwesen ist gegenwärtig bei Frauen und Männern gleichermaßen beliebt, das Interesse steigt seit 2010. In keinem anderen Ingenieurfach ist der Frauenanteil so hoch. In einer Zeit, in der es der Baubranche ausgezeichnet geht und die Zahl der Stellenangebote wächst, rechnet man mit einem weiter steigenden Bedarf an Fachkräften. Der Anteil an Bewerberinnen um interessante Stellen war in manchem Jahr höher als die Zahl der Absolventinnen. Frauen sind also hoch motiviert. Sarah Springman, die Rektorin der ETH Zürich und Professorin für Geotechnik, berücksichtigt in ihrer Lehre das unterschiedliche Verhalten junger Frauen und Männer. Sie sieht sich in der Rolle eines Coachs, die hilft, die eigenen Stärken zu erkennen. Während Männer eher dazu neigen, sich zu überschätzen, müsse man gerade den Frauen ab und zu sagen: »Sie können das!«13

Frauenanteil in % 31 30 29 28 27 26

TU München

25 24

TU Wien

23 22 21 20 2011/2012

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2012/2013

2013/2014

2014/2015

2015/2016

Pionierinnen der modernen Großbaustellen – wie sie wurden, wer sie sind

Zur Ausbildung von Ingenieuren

Ingenieure – woher kommt ihr Antrieb, was ist ihr Selbstverständnis, und mit welchen Bildern können sie beschrieben werden? Sind sie die Beherrscher der Gewalten und Beschützer vor den davon ausgehenden Gefahren? Sind sie von der nachhaltigen Materialisierung eigener Gedanken und von durch Menschen Gestaltbarem Begeisterte, mathematisch-naturwissenschaftliche »Freaks«, mit besonderem Talent, das sich ohne Fesseln ergebnisoffen entfalten soll? Neugierige, die Zusammenhänge verstehen und in Neues übertragen wollen, querdenkende Kreative? Sicher sind sie Ermöglicher und Diener der Gesellschaft, die Artefakte schaffen, von Menschen Gemachtes, das sich in seiner Genese von natürlich Entstehendem unterscheidet und dieses sinnvoll ergänzt. Dabei sind sie Umsetzer wissenschaftlicher Erkenntnisse in technische Lösungen zum Wohl der Menschen. Ein Blick auf die Motivationslage heutiger Studenten zeigt, dass jede dieser isolierten Charaktersierungen zu kurz greift. Wir haben eine bunte Gruppe, unterschiedliche Charaktere, verschiedene Perspektiven und Ansprüche. Beherrscher, Faszinierte, Begeisterte, Freaks und Neugierige? Gerade hier liegt häufig der Einstieg in das Ingenieurwesen, hier ist Leidenschaft aus der Faszination für Technik und der menschlichen Gestaltungskraft angelegt. Die Kunst der Ingenieurausbildung ist es, auf diesen inneren Antrieb und die Individualität jedes Einzelnen bauend die erforderlichen Kompetenzen, Abstraktions- und Analysefähigkeiten zu entwickeln. Lehre ist kein »One size fits all« sondern ein »Design to fit«. Am Ende liegt das Ziel in einer heterogenen, sich ergänzenden Gruppe von Ingenieuren, in der jeder sein persönliches Talent optimal aktiviert. Die Gesellschaft soll bestmöglich von den Ermöglichern, Dienern und Umsetzern profitieren. Die

gesellschaftlichen Bedürfnisse lassen sich an der Maslow‘schen Bedürfnispyramide ablesen: Die existenziellen physiologischen Grundbedürfnisse und die Sicherheitsbedürfnisse sind Voraussetzung für die darüberliegenden Bedürfnisse, wie z. B. das Streben nach Selbstverwirklichung. Ohne die mit der Unterstützung von Ingenieuren geschaffenen Artefakte, wie z. B. beheizte, trockene Bauwerke, Mobilitäts-, Energie- und Versorgungsinfrastrukturen, und ohne einen klug strukturierten Umgang mit Sicherheit und unvermeidbaren Risiken wäre das Fundament der Bedürfnispyramide gefährdet. Das annähernd perfekte Funktionieren unserer mächtigen Versorgungs- und Schutzsysteme scheint in hochentwickelten Ländern eine Selbstverständlichkeit. Daher treten die Ursachen für dieses solide Fundament – unter anderem die gute und kreative Arbeit von Ingenieuren – in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht adäquat in den Vordergrund und werden eher in den (seltenen) Fällen des Nichtfunktionierens sichtbar.

Strukturiertes Denken und nicht nur Faszination Der Weg des einzelnen Ingenieurs vom faszinierten Studienanfänger zum virtuos sein Werkzeug beherrschenden Ermöglicher ist herausfordernd und auch mühsam. Herausfordernd und mühsam war auch die sich über Jahrtausende erstreckende Entwicklung der Ingenieurskunst. Die Faszination der Materialisierung menschlicher Ideen war immer ein wichtiger Antrieb für große Leistungen, selbst wenn dadurch »nur« – in Ermangelung von vernünftigen Spannweiten – riesenhafte »Scheingebäude« entstanden, die keinen nennenswerten geschützten Raum bieten, wie im altägyptischen Memphis (2600 v. Chr.). Faszination allein genügt jedoch nicht.

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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Gerhard Müller

Es bedarf einer intellektuellen Auseinandersetzung zur Struktur von Denkprozessen und zur Systematik des Erkenntnisgewinns, wie sie in der Antike stattfand. In der griechischen Antike entstanden die Erkenntnisse, dass gesichertes Wissen in enger Verbindung zu mathematischen Methoden steht (Phythagoras) und die Weisheit der Gestalter nicht in der auf Erfahrung basierenden Handlungsgeschicklichkeit des Handwerkers liegt, sondern im Besitz der Begriffe und der Kenntnis der Ursachen liegt (Aristoteles).

Selbstverwirklichung IchBedürfnisse Soziale Bedürfnisse Sicherheitsbedürfnisse

Grundbedürfnisse

Neugierde von Ingenieuren muss bei den Ursachen ansetzen und nicht nur bei handwerklichen Fähigkeiten und reinen Beobachtungen. Der Abstand zwischen praktischer Handlung und Ursachenkenntnis ist oft groß, seine Überwindung erfordert Geduld. Das ist seit jeher ein Spannungsfeld zwischen akademischer Lehre und »ungeduldigen Praktikern«. Wäre es in der Lehre Ziel, vor allem konkrete Handlungsgeschicklichkeit (»Praxisrelevanz«) zu erzeugen, wären Erfolgserlebnisse zwar schneller gegeben, aber die schwieriger zu erwerbenden Ursachenkenntnis vernebelt. Die nicht einfache Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis zieht sich bis heute durch die Lehrsysteme.

1 Des

Vitruvius zehn Bücher über Architektur. Übersetzt von Franz Reber. Stuttgart 1865 2 Herons von Alexandria: Mechanik und Katoptrik. Übersetzt und herausgegeben von Ludwig Nix und Wilhelm Schmidt. Leipzig 1900 Oben  Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow (1908 –1970) Links  Beispiel für ein Scheingebäude: Nordhaus des Stufenmastabakomplex von König Djoser, Sakkara-Nord (ET) um 2600 v. Chr.

Praktiker Freilich waren über viele Jahrhunderte praktische, empirisch gewonnene Erfahrungen Grundlage für die Weitergabe von Wissen. Weit verbreitet – im Mittelalter in mindestens 30 Klosterbibliotheken – waren die umfassenden bautechnischen Darstellungen des römischen Architekten, Ingenieurs und Architekturtheoretikers Vitruvius in seinem Werk »De architectura libri decem« (ab 33 v. Chr.).1 Bis heute ist eine weite Verbreitung kein Garant für bestmöglichen, reflektierten Inhalt. Im Vorwort seiner Übersetzung spricht Franz Reber von Undeutlichkeit in der Darstellung und dass Vitruvius im Wesentlichen Erfahrungen ohne wissenschaftlichen Anspruch beschreibt. Die deutlich wissenschaftlichere Schrift »Mechanica«2 des griechischen Mathematikers, Ingenieurs und Erfinders von windradbetriebenen Wasserleitungen, Münzautomaten und Theatermaschinen Heron von Alexandria überlebte nur in einer einzigen arabischen Übersetzung aus dem 9. Jahrhundert und wurde erst im 16. Jahrhundert zugänglich. Dieses Werk hätte im Vergleich zu Vitruvius Schriften deutlich mehr Denkanstöße geben können, wäre es im ersten Jahrtausend n. Chr. verfügbar gewesen. In der Spätantike und im Mittelalter gab es so gut wie keine bautechnischen Schriften. Bauen war vor allem ein solides Handwerk, ohne wis-

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senschaftlichen Hintergrund, aber mit großer Erfahrung, die über den Zusammenschluss arbeitsteiliger Handwerker (Bauhütten) weitergegeben wurde. Viele der in dieser Zeit entstandenen großen Bauwerke sind daher nur schlecht oder gar nicht dokumentiert. Erste Lehrschriften für das Bauen entstanden zu Beginn der Neuzeit, mit Leon Battista Albertis »De re aedificatoria« (1452), Andrea Palladios »I quattro libri dell‘architettura« (1570) und später Jakob Leupolds Bände »Theatrum Machinarum« (ab 1724), in denen Empirie und Er­fahrung mit manch abenteuerlicher Aussage und mechanischen (Fehl-)Interpretation verknüpft wurden. Der Practicus Leupold unterscheidet zwischen dem mit der theoretischen Erarbeitung der Mechanik befassten »Theoreticus«, dem für den Bau verantwortlichen »Practicus« und dem die Maschinen bedienenden ­»Empiricus«. Ein Practicus verwendet auch heute noch für die tägliche Arbeit moderne »Theatrum Machinarums«, d. h. Bautabellen, Normen, Richtlinien, Software, in denen Verfügungswissen und Erfahrung aufbereitet sind. Der Theoreticus kümmert sich um den »Überbau« und die Grenzen des Verfügungswissens. Seine Bedeutung für Systeme, bei denen nicht auf Erfahrungen zurückgegriffen werden kann, wo Extrapolationen stattfinden und bisherige Parameterbereiche verlassen werden, ist evident. Anspruch der Lehre ist es, Ingenieure auszubilden, die eine laufende Synchronisation des Verfügungswissens des Practicus mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Theoreticus bewerkstelligen und die Grenzen des Verfügungswissens und der Erfahrung einschätzen können.

Befreiung im Denken Wo blieb nun der theoretische Überbau? Warum hinkte er über Jahrhunderte hinterher? Bei der vernunftmäßigen Begründung des christlichen Glaubens spielten natürlich die Überlieferungen der Antike eine wichtige Rolle. Unter dem Einfluss der Philosophie von Platon und Aristoteles entwarf die Scholastik ein ganzheitliches System der philosophischen Weltdeutung. Elemente der aristotelischen Lehre wurden in christliche Glaubensansichten eingebettet. Während aber Aristoteles in seiner Metaphysik einen materialistischen und idealistischen Denkansatz miteinander verknüpft hatte, gab es in der Scholastik (10. –14. Jahrhundert) Auflösungstendenzen. Materialistische und idealistische Aspekte wurden isolierter voneinander betrachtet. Damit kam die intellektuelle Befassung mit dem Materiellen zu kurz. Verbunden mit der Unter-

Zur Ausbildung von Ingenieuren

nes Gutenberg eingeführte Buchdruck und die Verwendung der Volkssprache ermöglichten es dann, Gedanken zu verbreiten. Eine völlig neue Dimension des Austausches eröffnete sich, der Voraussetzung für die Ordnung der Gedanken war, u. a. durch Galileo Galilei. Auf Grundlage empirischer Erkenntnisse und kreativer Überlegungen wurden nun Muster herausgearbeitet und Theorien zur Beschreibung der Realität entwickelt.

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Bestandteil des Studiums muss die Erfahrung sein, wie kreative Ideen strukturiert, reflektiert und in Modelle eingebettet werden, damit sie zur Umsetzung, zur Modifikation oder zur Verwerfung kommen können. Dies erfordert Ideen, Spiegelung an der Realität, Geduld und Fleiß.

Beschreibung der Realität

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Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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Unten  Entwicklung des Ingenieurwesens: Ausgewählte Protagonisten bis ins frühe 20. Jahrhundert aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und der Praxis

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Ritz 1878 –1909

Galerkin 1871–1945 Kirchhoff 1824 –1887

Hamilton 1805 –1865

Cauchy 1789 –1857 St. Venant 1797 –1886

Navier 1785 –1836

Fourier 1768 –1830

Lagrange 1736 –1813

Euler 1707 –1783

Leupolds 1674 –1727 Bernoulli 1654 –1705

Leibniz 1646 –1716

Newton 1643 –1727 Descartes 1596 –1650

Hooke 1635 –1702

Galilei 1564 –1641

Bacon 1561–1626

da Vinci 1452 –1519 Buridanus 1300 –1358 750

3 Karl-Heinz Ludwig, Volker Schmidtchen: Propyläen Technikgeschichte. Band 2: Metalle und Macht 1000 bis 1600. Berlin 1997 4 August Föppl: Vorlesungen über Technische Mechanik. Einführung in die Mechanik. 4. Aufl., Leipzig 1911

Im 17. Jahrhundert verschob sich das Erkenntnisstreben von der Metaphysik auf die Physik, von der in der Theologie verankerten Suche nach dem tiefsten Seinsgrund aller Phänomene auf die naturwissenschaftliche Untersuchung und Beschreibung der Welt. Aus dieser Befreiung vom engführenden Anspruch, Religion und Wissenschaft in einem ganzheitlichen Gebilde zusammenzuführen, konnte sich der Erkenntnisdrang nun auf die reale Natur konzentrieren. Mit welchem Selbstverständnis und

1475 –1564

Michelangelo

1377 –1446

Brunelleschi

Vitruv 84 – 26 v. Chr. Heron 10 – 70 n. Chr. Philoponus 490 – 570 n. Chr.

Plato  428 – 348 v. Chr.

Aristoteles  384 – 322 v. Chr.

Euklid  365 – 300 v. Chr. 600

Philon v. Byzanz  280 – 220 v. Chr.

569 – 475 v. Chr.

Metagenes Pythagoras  570 – 510 v. Chr.

Philosophie

Naturwissenschaften

Mathematik

Praxis

ordnung der Philosophie unter die Theologie führte dies dazu, dass sich die Theologie auf alle Bereiche des Denkens ausbreitete. Die Abspaltung des Materiellen und die Dogmen der Theologie führten zwangsläufig zu spekulativem Umgang mit abstrakten naturwissenschaftlichen Fragen und einer Zurückdrängung der Bedeutung sinnlicher Wahrnehmungen. Erst mit beginnendem Skeptizismus und dann in der Renaissance kam es zu einer intensiven intellektuellen Auseinandersetzung mit der materiellen Wirklichkeit. Auch wurden die Regeln von Vitruvius auf den Kopf gestellt, wie z. B. beim Palazzo Farnese, bei dem Michelangelo schwere Obergeschosse auf ein filigranes Erdgeschoss baute. Etliche Künstler der Renaissance haben es nicht wie Filippo Brunelleschi und Michelangelo geschafft, Ideen in Bauwerke umzusetzen. Oft blieb es bei wilden Bilderhandschriften zum Bauen. Das reicht von Albrecht Dürer bis zu Leonardo da Vinci, der im Bauwesen vieles angerissen hat (z. B . Gewölbeschub, Plattenschwingungen, Stabilitätsversagen). Über seine Papiere, die bei aller Genialität auch viel Falsches, nur auf lineare Zusammenhänge Reduziertes enthielten, sagte er selbst: »Lass es eine Sammlung ohne Ordnung sein; aus vielen Blättern, die ich hier zusammengestellt habe, in der Hoffnung, dass sie später ihren Platz finden, entsprechend der Themen, die sie behandeln.«3 Der von Johan-

1900

mit welcher Systematik wurde nun die Realität beschrieben? Die Naturerkenntnis wurde als ein erster Schritt zur Naturbeherrschung gesehen (Francis Bacon). Zum Verständnis der Natur war »disseca naturam«, das »Zerschneiden« der Natur, eine zentrale These: Ein Zerlegen physikalischer Vorgänge in Teilprozesse und Einzelwirkungen ermöglicht es, diese zu verstehen. Galileo Galilei untersuchte mit wissenschaftlichen Methoden physikalische Vorgänge isoliert voneinander, empirische Erfahrungen wurden bei ihm durch wissenschaftliche Experimente und Mutmaßungen durch mathematisch begründete Aussagen abgelöst. Damit gelang der Naturerkenntnis und -beschreibung ein Durchbruch. Paradigmen dienen als Leitplanken und geben Orientierung, haben aber auch die Entwicklung der Wissenschaften über Jahrhunderte gelenkt und eingeschränkt. Die in der Renaissance angelegten deterministischen Betrachtungen auf der Grundlage von Kausalzusammenhängen und »disseca naturam«, das Abstrahieren von Gesamtsystemen in Teilsysteme und -prozesse, ist bis heute im Bauingenieurwesen Grundlage zur Problemlösung und Prognose. Das Schnittprinzip spielt bei der Ermittlung innerer Wirkungen eine zentrale Rolle.

Von den Naturwissenschaften zu den Ingenieurwissenschaften Paradigmenwechsel erfordern mutige Neugierige. In Akademien organisierte sich die Forschung, beginnend mit der 1560 gegründe­ eapel ten Academia Secretorum Naturae in N (1578 auf Anordnung von Papst Gregor XIII. aufgelöst) und weiteren Akademien in den europäischen Metropolen. Die Grundlagen für die Ingenieurwissenschaften wurden gelegt, darunter die reduktionistische Zerlegung von Problemen nach den Regeln, das Evidente als wahr zu nehmen bzw. das Ganze in Teile zu zerlegen sowie »mit dem Einfachsten und Kleinsten beginnen und dabei nichts auslassen« (René Descartes). Galileo Galilei führte das Experiment und die Beschreibung quantifizierbarer Phänomene der Materie ein, Isaac Newton verknüpfte empirisch gewonnene Erkenntnisse in einer geschlossenen mathematisch-mechanischen Theorie, aus der Phänomene begründet, aber auch Unbekanntes abgeleitet werden konnte. Dies führte zu radikaler Abstraktion, Mathematisierung, Quantifizierung und damit verbundenen Prognosemöglichkeiten. In den Naturwissenschaften entwickelten sich mit weiteren fundamentalen Abstraktionen die

33

Quantenmechanik und die Relativitätstheorie. Phänomene in atomaren und kosmischen Skalen wurden zugänglich. Die auf die jeweiligen Artefakte ausgerichteten Ingenieurwissenschaften als Handlungswissenschaften bereiten dagegen die Ergebnisse der erkenntnisgetriebenen Naturwissenschaften lediglich für die eigenen Fragestellungen auf. So fußen die Bauingenieurwissenschaften – z. B. in der Technischen Mechanik – bis heute auf Modellen und Methoden auf der Grundlage der Newton‘schen Mechanik des absoluten Raums und davon separiert der absoluten Zeit, da diese gut in der Lage sind, die Phänomene in den Skalen, die für die Beschreibung der Artefakte relevant sind, abzubilden. »Es gibt keine falsche oder richtige Theorie, sondern nur Theorien, die bestimmte Sachverhalte zutreffend beschreiben«,4 sagte der deutsche Ingenieurwissenschaftler AUGUST FÖPPL. Durch die Fokussierung auf die Newton‘sche Mechanik kommt es zu keiner weiteren Vertiefung moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Stellt dies genauso wie die Fokussierung auf neuere Beschreibungen, wie z. B . den Welle-Teilchen-Dualismus, wieder eine unnötige Verengung dar? Sind wir durch den durchschlagenden Erfolg des Ansatzes eindeutiger, kausaler, widerspruchsfreier, reproduzierbarer Prozesse, die gut analysiert und prognostiziert werden, vernebelt? Werden nicht mittlerweile auch in den Ingenieurwissenschaften die zugrundeliegenden stochastischen Prozesse und unsicheren Größen für die Praktiker im semiprobabilistischen Sicherheitskonzept auf einfache Kausalzusammenhänge enggeführt? Wird nicht diskutiert, wie Ingenieure ausgebildet werden müssen, um die Schnittstellen der Artefakte zur Gesellschaft, also außerhalb des kausal Prognostizierbaren, zu beherrschen? Natürlich bewegen auch wir uns innerhalb von Paradigmen und benötigen Prozesse, um diese hinterfragen und überwinden zu können.

Mathematisch-naturwissenschaftliche Modelle Die Abstraktion in den Ingenieurwissenschaften erfordert Modelle, die die Komplexität der Realität reduzieren, sowie mathematisches Rüstzeug für deren Beschreibungen. Die Infinitesimalrechnung (René Descartes, Isaac Newton, Gottfried Wilhelm Leibniz) wurde durch die Variationsrechnung als mathematische Grundlage aller physikalischen Extremalprinzipien (Leonhard Euler, Joseph-Louis Lagrange) ergänzt, womit die Beschreibung von Vorgängen über ihre Wirkung, wie über ihren Ablauf (Integralgleichungen, Differentialgleichungen) möglich wurde. Grundlagen

Zur Ausbildung von Ingenieuren

zur mathematischen Beschreibung von Phänomenen über Minimalprinzipien und über Differentialgleichungen waren gelegt, die Behandlung von Stabilitäts-, Schwingungs- und Optimierungsfragen erhielt ein mathematisches Rückgrat. Aber der Weg zu den mit mächtigen Modellreduktionen verbundenen Abstraktionen der Technischen Mechanik und der Fluidmechanik war mühsam. Selbst die Theorie des Biegebalkens benötigte über zwei Jahrhunderte von Galileo Galilei bis zu CLAUDE-LOUIS NAVIER, der als Lehrer an den großen französischen Schulen École nationale des ponts et chaussées (gegründet 1747) und der École polytechnique (gegründet 1794) wie als Ingenieur von der Mathematisierung im Bauwesen überzeugt war. Diese war umstritten: Ein infolge eines Wasserrohrbruchs in einem Pumpwerk entstandener Schaden am Pont des Invalides war für den Schriftsteller Honoré de Balzac eine Bestätigung dafür, dass die französischen Schulen im Vergleich zu Deutschland, England und Italien zu sehr Theorie und zu wenig Praxis lehren würden. Gleichwohl: Die Förderung der theoretischen Analyse in Frankreich löste massive Impulse aus. Napoleon lobte einen Preis zur Erarbeitung der Theorie von Flächenschwingungen aus, die dann an der École polytechnique in den wesentlichen Grundzügen von der Mathematikerin Sophie Germain entwickelt wurde. Diese Schule bot Nährboden für weitere Abstraktionen wie die Trennung von Struktur und Material durch Augustin-Louis Cauchy und Gabriel Lamé, was die Kontinuumsmechanik auf beliebige Geometrien anwendbar machte. Mit dem Rüstzeug der abstrahierten mechanisch-mathematischen Modelle erarbeiteten der Schweizer Mathematiker und Ingenieur Walter Ritz und der sowjetische Ingenieur Boris Galjorkin Konzepte, wie man mithilfe der Reduktion über eine endliche Zahl von Schätzfunktionen Näherungslösungen entwickelt, die Grundlage der heutigen Finite-ElementeMethode. Der Weg von der Aufgabe zur Lösungsidee – über die Modellabstraktion, Schätzverfahren, Prognosen, Optimierungen und darauf aufbauende Umsetzung eines dann physisch vorhandenen Artefakts, das in Wechselwirkung mit der ganzheitlichen Realität steht –, ist Kern des Ingenieurwesens. Das Bewusstsein für jeden einzelnen Schritt und die damit verbundene Verantwortung darf nicht durch die jeweils anderen Schritte vernebelt werden. Dies ist heute wichtiger denn je, da für den Practicus jeweils Hilfsmittel zur Verfügung stehen, deren Einsatzgrenzen nur der Theoreticus kennt.

Und die Ingenieurausbildung? Im Mittelpunkt der Fakultätszuschnitte der Ingenieurdisziplinen und der Ingenieurstudiengänge stehen traditionell die Artefakte (Bauwesen, Elektrotechnik und Maschinenbau). Um diesen Kern folgt eine Reflexion und Identifikation der relevanten Disziplinen – so einfach wie möglich, so kompliziert als nötig. Nachdem sich sowohl die Wissenschaften weiterentwickeln und die Artefakte selbst wie auch ihr realer Kontext sich laufend ändern, unterliegt der erforderliche Zuschnitt der relevanten Disziplinen einem ständigen Wandel. Im Bauwesen treten neben den mathematischnaturwissenschaftlichen Grundlagen, den traditionellen technikorientierten, planerischen und prozessorientierten Lehrelementen sowohl kontextbezogene (gesellschaftlicher Diskurs, Umgang mit nicht kausal vorhersagbaren Risiken) wie auch technologiebezogene Weiterentwicklungsbedarfe (Möglichkeiten der Digitalisierung mit Querbezügen zur Informatik wie auch zur Logistik, Building Information Modelling – BIM) verstärkt in den Blick. Zudem haben sich auch die technischen Disziplinen in ihrer Vielfalt und ihren Querbezügen in den letzten beiden Jahrzehnten fast explosionsartig weiterentwickelt. Kann Hochschullehre mit ihren Disziplinen im bisherigen Zuschnitt und den bisherigen Formaten bewerkstelligt werden? Muss der außerordentlich erfolgreiche, Ende des 16. Jahrhunderts angelegte und bis heute beschrittene Weg »disseca naturam« zugunsten eines ­holistischen Ansatzes relativiert werden? Wie können neue technische Inhalte integriert werden? Die Zunahme der relevanten Inhalte und Themen bei gleichbleibender Studiendauer erfordert zudem neue Sortierungen in der Lehre. Der Erfolg von ergänzenden Studienangeboten, bei denen die Inhalte nicht mehr anhand des Artefakts selbst, sondern anhand gesellschaftlicher Herausforderungen (z. B . Umweltingenieurwesen), entlang methodischer Vorgehensweisen (z. B. Computational Mechanics) oder quer über die verschiedenen Artefakte (z. B. allgemeine Ingenieurwissenschaften, Material Science) ausgerichtet werden, bringen weitere Studierende unterschiedlichster Motivation in die Ingenieurwissenschaften, die früher andere Disziplinen gewählt hätten. Das zweistufige Bachelor / Master-Studiensystem kann bei der Förderung spezifischer Talente helfen: Aufbauend auf einen Einstieg in einer kleinen Anzahl von grundlagenorientierten ­allgemeinen und Orientierung gebenden Bachelorstudiengängen kann eine individualisierte, talentorientierte Verzweigung

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

34

Rechts  Entwicklung der Forschungsund Lehrbereiche am Beispiel der Ingenieurfakultät Bau Geo Umwelt der Technischen Universiät München (Stand 2017)

1870

1890

1910

1930

1950

1868 Focus Area CONSTRUCTION Werkstoffe und Werkstoffprüfung im Bauwesen Metallbau Massivbau Grundbau, Bodenmechanik, Felsenmechanik und Tunnelbau Holzbau und Baukonstruktion Gesteinshüttenkunde Bauphysik Energieeffizientes und nachhaltiges Planen und Bauen Zerstörungsfreie Prüfung Focus Area MOBILITY & TRANSPORTATION SYSTEMS Verkehrswegebau Siedlungsstruktur und Verkehrsplanung Verkehrstechnik Modellierung räumlicher Mobilität Transportation System Engineering Focus Area MODELING-SIMULATION-PROCESSES Statik

zusammen mit Lehrstuhl Metallbau

Hydromechanik Bauprozessmanagement und Immobilienentwicklung Computation in Engineering Baumechanik Baurecht und Projektmanagement Computational Mechanics Risikoanalyse und Zuverlässigkeit Computergestützte Modellierung und Simulation Focus Area HYDRO- & GEOSCIENCES Wasserbau und Wasserwirtschaft Siedlungswasserwirtschaft Ingenieurgeologie Tektonik und Gefügekunde Hydrologie- und Flussgebietsmanagement Hydrogeologie Handbewegungen Geothermie Focus Area GEODESY Geodäsie Kartographie Photogrammetrie und Fernerkundung Astronomische und Physikalische Geodäsie Bodenordnung und Landentwicklung Satellitengeodäsie Geoinformatik Methodik der Fernerkundung Geodätische Geodynamik Signalverarbeitung der Erdbeobachtung

35

1970

1990

2010

in den höheren Semestern des Bachelor- und Masterstudiums erfolgen. Dieser Ansatz für die »Jungen« erfordert klare Regeln für die gestaltenden »Alten«: Aktuell relevante Themen oder Themen eines einzelnen Wissenschaftlers sind in der Regel zu volatil oder zu eng, um daraus ein nachhaltiges, durch ein Berufsleben tragendes Kompetenzprofil zu ent­wickeln. Weit über hundert neue Studiengangsbezeichnungen aus dem Bauingenieurwesen heraus zeigen, dass hier im deutschen Hochschulraum eine Fehlentwicklung zurückgeführt werden muss. Neusortierungen dürfen nicht das alte Dilemma Practicus / Theoreticus ausblenden. Auch heute muss eine klare Differenzierung zwischen zwingend in Studiengängen verankertem bzw. besser in der beruflichen Einarbeitung zu ­platzierendem Kompetenz­e rwerb erfolgen; Studiengänge müssen über angestrebte Kompetenzen entwickelt werden. Dies vermeidet eine zu hohe Detaillierung und eine Überfrachtung. Vorbild für den Dialog mit der Praxis und die Denkstrukturen ist hier die »outputorientierte« Publikation »Civil Engineering Body of Knowledge« der American Society of Engineers (ASCE). Dieser Ansatz scheint erfolgsversprechender als die in Deutschland derzeit diskutierten »input­orientierten« Konzepte, mit Vorgaben zum Umfang einzelner Fächer. Es muss zwischen Wissen, Fertigkeiten und langsam durch Wiederholung in diversen Formaten während des Studiums zu erwerbenden Kompetenzen differenziert werden, ergänzt durch ein »hidden curriculum«, in dem erfahrene Professoren Ingenieurdenken und -vorgehen authentisch vermitteln. Die Entwicklung des Ingenieurwesens war stets ein Wechselspiel zwischen Mathematik, Philosophie, Beobachtung und Praxis. Die unterschiedlichen Elemente dominierten zu unterschiedlichen Zeiten. Der Erfolg der Kausalbeziehungen der letzten Jahrhunderte war begeisternd. Aber bisher nicht integrierte natur- und gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse, Möglichkeiten aus der Digitalisierung und die stärkere Berücksichtigung individueller Talente eröffnen neue Möglichkeiten. Wir brauchen perspektivisch wieder eine Erweiterung zugunsten eines ganzheitlichen Ansatzes, damit es gelingt, die technischen Veränderungsprozesse und die damit verbundenen Risiken und Chancen mit gesellschaftlichen Prozessen zu verschränken. Ohne die Kreativität der Universitäten hätte weder im 19. Jahrhundert eine Mathematisierung noch im 20. und 21. Jahrhundert eine Digitalisierung und talentorientierte Verbreiterung der Ingenieurwissenschaften stattgefunden. Die Universitäten sind weiter gefragt!

Zur Ausbildung von Ingenieuren

Ästhetik der Ingenieurkonstruktionen

Das Bauingenieurwesen verbindet scheinbare Gegensätze – Kunst und Wissenschaft, Intuition und Empirie –, wird aber oft in seinen kreativen Möglichkeiten unterschätzt. Kreativität im Ingenieurwesen geht über ein normales Maß an intuitiver Interpretation von Grundprinzipien der Physik oder Geometrie und von Baurichtlinien hinaus und kann zu neuen Techniken führen, die nicht Standard sind. Ein Bauwerk wird meist nur in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und Produktivität betrachtet, beinhaltet aber auch ästhetische Faktoren. Die Zusammenführung beider Aspekte ist entscheidend, wie der spanische Ingenieur EDUARDO TORROJA bemerkt: »Die Funktionalität sowie die gestalterischen und konstruktiven Anforderungen müssen schon zu Projektbeginn gemeinsam betrachtet werden. Der Gestalter sollte dem Projekt nicht erst im letzten Moment sein Erscheinungsbild geben, und die Aufgabe der Statiker sollte sich nicht allein auf die Standfestigkeit des Bauwerks beschränken. Beide Bereiche sollten sich ganzheitlich miteinander verbinden.«1 Im Idealfall ist die Ingenieurbaukunst ein vielschichtiges Zusammenspiel, das OVE ARUP als »total design« oder »total architecture« bezeichnete, worin Gebäudegestaltung, Tragwerk und Bauweise sich zu einem stimmigen, ineinandergreifenden Prozess und Projekt fügen. In der Ingenieurskultur hat sich das Verständnis für den Einfluss des Tragwerks auf die Form- und Raumbildung verändert, ebenso seine Beziehung zur Ästhetik und seine Auswirkungen auf pragmatische und theoretische Belange. Tragwerke werden oft poetisch als Ergebnis der Ingenieursleistung präsentiert, da sie das kreative mit dem technischen Denken verbinden und aus beidem entstehen. Um Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Eleganz hervorzuheben, beschreibt FELIX ­ ANDELA »Gestaltung und Tragwerksentwurf C

[als einen] intellektuellen Prozess mit synthetischem Charakter, worin sich Vorstellungskraft, Intuition und Erleben wiederfinden sollen und eine gewisse Freiheit der kreativen Mittel. Kurz gesagt, es gelten die gleichen Regeln wie für das künstlerische Schaffen. Für manch einen ist das schwierig, da solche Gesetze in kein Kapitel der Bauordnung passen«.2 Bauingenieure haben jedoch im Laufe der Geschichte nicht immer die verdiente Anerkennung als Gestalter und Problemlöser erhalten. Was bedeutet Ingenieuren die Gestaltung, wo liegen die Schwerpunkte ihrer Innovationen, und wie sieht der kreative Prozess der Problemlösung aus? Was erscheint vor ihrem geistigen Auge, wenn sie entwerfen, was wollen sie sichtbar machen?3 Wie beeinflussen sie das Design nicht nur technischer Elemente, sondern auch formaler Aspekte der Architektur?

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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Nina Rappaport

1 Eduardo Torrojo: Philosophy of Structures. Berkeley 1958 2 Felix Candela. Toward a New Philosophy of Structure. Student Publication of the School of Design, North Carolina State College, 5, No 3, 1956. 3 siehe Eugene S. Ferguson: Engineering in the Mind‘s Eye. Cambridge, MA 1992 4 Sylvie Deswart, Bertrand Lemoine: L’Arch­itecture et les Ingenieurs. Paris 1979

Unten  The Penguin Pool im London Zoo (GB) 1935, Ove Arup Rechts oben  Boots Pure Drug Company, Beeston (GB) 1933, E. Owen Williams Rechts Mitte  Raleigh Arena, North Carolina (USA) 1953, Matthew Nowicki / Fred Severud Rechts unten  Spiralförmige Rampe im Inneren der Fiat-Werk Lingotto, Turin (I) 1926, Giacomo Mattè-Trucco

Einfallsreichtum Interessant ist die einfache Analyse der Wortherkunft. Entgegen dem »engineer« im Englischen hat der »Ingenieur« im Deutschen oder Französischen dieselben Wurzeln wie das Wort »ingenious«, das Begriffe wie einfallsreich und kreativ beinhaltet. Die Arbeit des Ingenieurs ist eng mit kreativem Designdenken verknüpft, da es Probleme unterschiedlichster Wissensbereiche zu lösen gilt. Trotzdem wird das Ingenieurwesen meist eher im Bereich des Mathematischen und Empirischen gesehen und nicht als ästhetisch und intuitiv. Aber die Arbeit des Ingenieurs besteht nicht allein aus mathematischen Gleichungen, sie ist konzeptionell, getragen vom Formalen und Rationalen. Umgekehrt ist es keine Wissenschaft, denn es ist subjektiv; zwei Ingenieure werden unterschiedliche Lösungen für dasselbe Problem finden. Man kann jedoch die statische Umsetzbarkeit beider Ansätze untersuchen, damit wird es zur Wissenschaft. Manche Ingenieure arbeiten grundsätzlich mit bewährten Systemen, die als Baunormen bekannt und an genaue Vorgaben gebunden sind, andere folgen einfachen Faustregeln. Wieder andere nehmen diese Regeln als Ausgangspunkt und kombinieren in ihrer Bearbeitung von der Idee zur Durchführung Analyse mit Intuition. Kreativität kommt dann ins Spiel, wenn der Umgang mit der Baustruktur über die Norm hinausgeht.

akademisch als auch kulturell von der Architektur. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die architektonischen Projekte und Prototypen von Ingenieuren oft die innovativeren. Sie experimentierten mit neuen Techniken und Materialien wie Eisen, Stahl und Glas.4 Diese Entwicklung zeigte sich in der Einführung professioneller Kurse in den Architekturschulen, aber auch in der Arbeit französischer und britischer Ingenieure wie THOMAS PRITCHARD, der mit der Iron Bridge (1779) bei Coalbrookdale in England die erste Eisenbrücke entwarf, oder in den vorgefertigten Stahlbrücken und dem Eiffelturm (1889) von GUSTAVE EIFFEL. Glas- und Stahlbearbeitung wurden zur Manifestation einer neuen industriellen und technologiebasierten Kultur, sichtbar besonders in den Arbeiten von Sir Joseph Paxton, der von der riesigen Seerose Victoria amazonica inspiriert Stahlträgerkonstruktionen für das Gewächshaus in Chatsworth (1856) und den Crystal Palace (1851) in London entwickelte. Er prägte damit eine neue Ästhetik seiner Epoche. In der frühen Moderne erforschten Ingenieure neue Stahlbeton-Systeme, um größere Spannweiten und parabolische Schalenstrukturen entwickeln zu können. Beispiele sind Bauten von FRANÇOIS HENNEBIQUE und EUGÈNE FREYSSINET oder des Schweizer Ingenieurs ROBERT MAILLART mit seinen eleganten Betonbrückenkonstruktionen. Versuche mit Beton waren außerdem entscheidend für große Spannweiten bei Industriebauten wie bei den Gebäuden des britischen Ingenieurs OWEN WILLIAMS. GIACOMO MATTE-TRUCCO war beeindruckt von den Entwürfen amerikanischer Ingenieure und experimentierte bei seiner Autoteststrecke auf dem Dach der Fiat-Fabrik in Lingotto (1926) mit

Historischer Kontext Es gab entscheidende Momente der Veränderung in der Geschichte des Ingenieurwesens, sei es aufgrund neuer Materialien, neuer Technologien oder Erfindergeist. Besonders im Europa des späten 19. Jahrhunderts unterschied sich das Ingenieurwesen sowohl

37

Ästhetik der Ingenieurkonstruktionen

Funktion und Raumstruktur. PIER LUIGI NERVI entwarf Gebäude wie das Stadio Communale (1929) in Florenz, bei dem er das neues Material Eisenbeton verwendete – als feines Gitter aus Stahldraht, gefüllt und bedeckt von einer dünnen Zementschicht. 5 Kurz darauf entwickelte HEINZ ISLER dünnwandige, allseitig gekrümmte Schalentragwerke aus Stahlbeton, die zu wahren Kunstwerke wurden. Die 1950er-Jahre waren eine Zeit, in der das Ingenieurwesen die Architektur intensiv beeinflusste und Ingenieure begannen, konstruktiv mit Architekten zusammenzuarbeiten. So verwirklichten Tecton Architects mit OVE ARUP für den Londoner Zoo das Pinguin-Becken aus Beton mit dünnen, runden Rampen (1934); FREDERICK SEVERUD ermöglichte die freitragende Dachkonstruktion in Matthew Nowickis Dorton Arena (1952) in Raleigh, North Carolina, mit ihrer markanten Sattelform. SEVERUDS Freilegung des Tragwerks, um einen nicht linearen Raum zu schaffen, brach mit der starren Normalität von Gitterstrukturen und inspirierte z. B. Eero Saarinen zu seiner Betonschale für die Eissporthalle Ingalls Rink (1956) in New Haven, Connecticut. FREI OTTO untersuchte gemeinsam mit den Ingenieuren von LEONHARDT, ANDRÄ UND PARTNER Leichtbaukonstruktionen anhand der topografischen Dachflächen des Münchner Olympiaparks von 1972. Das Projekt ist beispielhaft für FREI OTTOS Konzept von Seilnetzkonstruktionen, die die Ökonomie von Membranen mit großen Spannweiten nutzen. Im Institut für Leichtbau an der Universität Stuttgart erforschte OTTO diese weiter. JÖRG SCHLAICH führte mit seinem Team im Sonderforschungsbereich 64 »Leichte Flächentragwerke« diese Arbeit weiter, später übernahm Werner Sobek die Leitung. Ziel all dieser Kooperationen war die Verbindung von Konstruktion, Material und Form, um Raum zu gestalten und das Rationale mit dem Kreativen zu verschmelzen.

Die zeitgenössische Baupraxis bewirkt Außergewöhnliches im Tragwerksentwurf für Gebäude und Infrastrukturen, sich überlappende Verantwortlichkeiten schaffen ein neues Paradigma, jenseits des bisher Dagewesenen. Einerseits sind die Architekten heute mehr an der Tragstruktur interessiert, andererseits übernehmen die Ingenieure zunehmend die Rolle des Gestalters. Die Berufsgrenzen verwischen, und der Gestaltungsprozess wird flexibler und gemeinschaftlicher, was die Möglichkeiten für ganzheitliche und komplexe Projekte enorm erweitert. Einige Gründe für diesen engmaschigen Prozess sind die veränderten Planungsmethoden, bei denen der Ingenieur von Beginn an mit dem Architekten zusammen gestaltet und beide gemeinsam die ersten Skizzen fertigen. Der Bauingenieur kann sogar die Leitung eines Projekts übernehmen, einen Auftrag erhalten und einen Architekten beauftragen. Die Arbeit des Ingenieurs wird nicht mehr als selbstverständlich erachtet, sondern ist ein eigenes kreatives Unterfangen.

Nicht lineare Strukturen Ingenieure experimentieren auch mit neuen Möglichkeiten, den Raum in nicht linearen Formen zu gestalten. Man kann diese innovativen Formen die Verkörperung eines neuen strukturellen Expressionismus7 nennen, denn sie ermöglichen neue Arten von nicht hierarchischem räumlichem Erleben. Computergesteuerte Algorithmen schaffen ein größeres Potenzial für nicht lineare und nicht hierarchische Projekte, sodass der Formfindungsprozess wiederholbar und ein fließenderer Austausch möglich ist.

Ingenieure in der Rolle des Gestalters Heute befassen sich Ingenieure nicht nur mit der Berechnung von Belastungen oder Bauvorschriften; sie untersuchen die Grenzen dessen, was konstruktiv umsetzbar ist. Von den vielen Themen seien zwei erwähnt: zum einen die unkonventionellen Arten der Formfindung für komplexe und nicht standardisierte oder nicht lineare Raumstrukturen; zum anderen aus natürlichen Formen hergeleitete Strukturen, die neue Musterreihen bilden oder etwas, was sich als »deep decoration«6 bezeichnen lässt, ein System statischer Zielstrebigkeit und Funktionalität.

Von Erfindern, Unternehmern, Problemlösern und Gestaltern

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5 Eduard

F. Sekler: Structure, Construction, Tectonics, In: Gyorgy Kepes (Hrsg.): Structure in Art and in Science. London 1965, S. 89 – 95 6 Als Nachfolger sowohl von Frei Otto am Institut für Leichte Flächentragwerke als auch von Jörg Schlaich am Institut für Konstruktion und Entwurf führte ­Sobek die beiden Institute 2001 zum ­Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) zusammen. www. uni-stuttgart.de/ilek/institut/ilek-geschichte (abgerufen am 25.07.2017) 7 Nina Rappaport: Deep Decoration. In: Emily Abruzzo, Alexander Briseno, Jonathan D. Solomon, (Hrsg.): Decoration: 306090. Volume 10. New York, 2006, S.  95 –105 8 Interview with Greg Lynn. In: Any Magazine, 5, Lightness, 1994. 9 Jesse Reiser: Decoration: 306090. Diskussion in der Architectural League, New York, November 2006 Links  Gardens by the Bay, Singapur (SGP) 2010, Atelier One Rechts  Water Cube – National Aquatics Center, Peking (RC) 2008, Arup

Der japanische Ingenieur MUTSURO SASAKI verwendet zur Formfindung digitale Modelle und 3D Extended Evolutionary Structural Optimization (ESO), eine Methode zur Optimierung des Tragwerks. SASAKIs Design mit gekrümmten Formen für das Rolex Learning Center von SANAA an der EPFL in Lausanne basiert auf Prinzipien der Selbstorganisation in der Natur und bietet eine nicht lineare Raumerfahrung. SASAKI s Arbeit mit fließenden Strukturen, Formgestaltung und den strukturellen Möglichkeiten von fließenden Formen und Räumen ist ein Ansatz ohne sichtbare Hierarchien.

Deep Decoration – Natur als Vorbild

zellenartiges Netz, das die Oberfläche mit der inneren Struktur zu einem organischen Ganzen verbindet. Eine innere Ganzheitlichkeit wird als Struktur zur Dekoration. Oft ist die Inspiration für formale Qualitäten metaphorisch, wie in der Biomimikry, oder tatsächlich eine Nachbildung aus anderem Material und mit anderem Zweck. Die Muster, mit denen die Natur Schutz bietet, lassen sich auch auf das Verhältnis von Klima und modernen Strukturen übertragen. In dem Projekt Gardens by the Bay von ATELIER ONE mit Wilkinson Eyre Architects in Singapur tragen nachhaltige Methoden, die die Natur imitieren, dazu bei, sich Sonne, Wind und Wasser zunutze zu machen, indem Bäume als Klimavermittler fungieren.

Eine weitere Grundlage für eine neue Ästhetik sind der Bezug und die Rückkehr des Bauingenieurs zu den ganzheitlichen, räumlichen Strukturen in der Natur, die im Inneren zum Tragen kommen und durch repräsentative Formen Bedeutung erhalten. Viele Ingenieure lassen sich von Pflanzen inspirieren, von einem Spinnennetz, einer Koralle, einem Bienenstock, von Knochengewebe oder dem Inneren von Kristallen und Schwämmen, die ein Verständnis für die Struktur einer Form schaffen. Verschiedene Projekte machen diese inneren Strukturen, deren einzelne Teile im Ganzen in einer bedeutungsvollen und notwendigen Beziehung zueinander stehen, sichtbar. So z. B. die Blasenstrukturen des Watercube National Aquatics Center für die Olympischen Spiele 2008 in Peking, die das australische Team von ARUP mit PTW Architects entworfen hat. Die Konstruktion aus ETFE-Folienkissen bildet ein

Diese Innovationen zeigen, dass – entsprechend zum vielfältigen Wortschatz der Architektur – das Ingenieurwesen über eine Grammatik verfügt, deren Elemente und Syntax sich verschieben und beeinflussen lassen, die Grenzen und Erwartungen überschreitet und neue Erfindungen möglich macht. Somit arbeiten Bauingenieure nicht nur mit pragmatischen Konzepten, um durch Berechnungen, Wirtschaftlichkeit und Effizienz Probleme zu lösen, sondern auch mit Innovationskraft, die die Grenzen von räumlichen und physischen Strukturen öffnet, hin zu eindrücklicher Raffinesse und kreativer Ausdrucksform. Der entscheidende und fortwährende Beitrag der Ingenieure verwischt die Grenzen innerhalb der Gestaltungsberufe und formt ein neues Paradigma, das die Zukunft mit ihren zunehmend komplexen Räumen und unser Leben darin prägt.

39

Ästhetik der Ingenieurkonstruktionen

Hülle + Raum

Räume schaffen: Verbindung von Ästhetik und Struktur

Das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit ist seit jeher der Impuls für das Schaffen von Räu­ men. Vom privaten Haus zu öffentlichen Räu­ men spiegeln sich dabei die kulturellen und sozialen Ansprüche der unterschiedlichen Ge­ sellschaften wider. Zugleich sind sie oft auch eine Demonstration dessen, was technisch mög­lich ist. Waren es vor rund 200 Jahren be­ sonders Ausstellungshallen, Veranstaltungs­ orte, später Flugzeughangars und die großen Spannweiten der Bahnhöfe und Markthallen, so sind es heutzutage gerade auch kleinere Projekte, die durch experimentelle Herange­ hensweisen zu neuen geometrischen Formen und innova­tivem Materialeinsatz führen. Die Entwicklung unterschiedlicher Tragwerke und Konstruktionsformen hängt dabei oft mit der Verwendung neu entwickelter Materia­lien

zusammen. Von Zelten und Hütten her kom­ mend bestimmten Kuppeln und Gewölbe lange die Bautechnik, bis mit der Industria­li­sierung und dem neuen Material Eisen Fachwerk- und Skelettkonstruk­tionen einen neuen Bautypus bildeten und das Zeitalter der Vorfertigung einläuteten. Waren diese Trag­werke vor allem geometrisch definiert, so folgen nun entspre­ chend gestaltete Konstruktionen wie Schalen (später auch Netz- und Gitterschalen), Faltwer­ ke sowie zugbeanspruchte Konstruk­tionen dem Kräftefluss (siehe »Weit und leicht«, S. 64).1 Die Formfindung dabei geschah, und geschieht auch heute noch, auf unterschiedliche Art und Weise: über Modelle, Simulationen, Experi­ mente, auf analytischem und mathematischem Wege oder durch Inspi­ration von Systemen und Strukturen aus der Pflanzen- und Tierwelt.

1 Rainer Barthel unterscheidet in drei Ka­ tegorien: geometrisch definierte Kon­ struktionen (orthogonale Strukturen), aus statischen Gesetzmäßigkeiten generierte Konstruktionen und ›frei gestaltete‹ For­ men. Siehe dazu Rainer Barthel: Form der Konstruktion – Konstruktion der Form. In: Exemplarisch. Konstruktion und Raum in der Architektur des 20. Jahrhunderts. München 2002, S. 15 – 26

Linke Seite  ICD / ITKE Forschungspavil­ lon 2013 / 14, Stuttgart (D) Jan Knippers ,  Achim Menges Links  Jahrhunderthalle Breslau (PL) 1913, Günther Trauer, Willi Gehler, Archi­ tekt: Max Berg

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Räume schaffen: Verbindung von Ästhetik und Struktur

Zur Entwicklung der Zeiss-DywidagSchalenbauweise

Was steckt hinter den Bezeichnungen »System Zeiss-Dywidag« und »Zeiss-Dywidag-Schalenbau­ weise«? Was hat eine in Jena ansässige Firma, die durch Herstellung von exzellenten optischen Systemen weltweit bekannt wurde, mit der Baufirma Dywidag (Dyckerhoff & Widmann AG) zu tun, die durch ihre innovativen Schalen- und Brückenbauten ebenfalls international anerkannt war? Die spannende Entwicklung der Schalen­ ­ rfolgreiche Zusam­ bauweise wurde durch die e menarbeit von hochtalentierten und motivierten Fachleuten und Firmen verschiedener Diszipli­ nen möglich, die sich zusammentaten, um eine schwierige konstruktive Aufgabe zu lösen.

Die Erfindung der Planetariumskuppel Alles begann 1903 in München mit der Grün­ dung des Deutschen Museums, dessen Hauptinitiator und erster Generaldirektor kein ­g eringerer als OSKAR VON MILLER war, ein Bauingenieur und Besitzer eines Ingenieurbü­ ros, führend auf dem Gebiet der Wasser- und Energiewirtschaft. 1 MILLER hatte schon seit der Gründung des Museums geplant, eine as­ tronomische Abteilung mit einem Planetarium zu errichten. Es gab den Vorschlag, dafür eine begehbare und sich drehende Blechkugel mit entsprechenden Löchern zu versehen, die von außen beleuchtet den Sternenhimmel und die Bewegungen der Sonne und der Planeten simu­ lieren sollte. Da dies zu umständlich erschien, wurde die Idee entwickelt, den Sternenhimmel auf die innere Fläche einer Kugel zu projizieren.2 Obwohl Carl Zeiss in Jena für die Realisierung dieser Idee prädestiniert war, zeigte sich die Firma daran zunächst nicht besonders interes­ siert. MILLER musste sich persönlich bemühen, um sie zur Annahme des Auftrags zu bewegen. 1912 begann man in Jena mit den ersten Unter­ suchungen.3

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Mit dem ersten Weltkrieg kam das Projekt zum Erliegen, erst ab Juli 1918 nahm Zeiss die Be­ mühungen um den Himmelsprojektor wieder auf.4 WALTHER BAUERSFELD, Geschäftsführer von Carl Zeiss in Jena, ein Maschinenbauinge­ nieur und Physiker, übertrug die Entwicklungs­ arbeit einem seiner Mitarbeiter, der jedoch bei der Konstruktion der Lichtquelle für die Projektion des Fixsternenhimmels auf uner­ wartete Schwierigkeiten stieß. Den Brief des Konstrukteurs an MILLER, in dem er ihm emp­ fehlen wollte, das ganze Projekt aufzugeben, konnte BAUERSFELD gerade noch verhindern. Er entschied sich, die Konstruktion selbst in die Hand zu nehmen, um die von ihm stam­ mende Idee des Projektionsplanetariums zu verwirklichen.5 Dem versierten Ingenieur und Physiker gelang es, einen Projektionsapparat zu entwickeln, zu dessen Erprobung er nunmehr einen Kup­ pelraum mit 16 Metern Durchmesser benö­ tigte. Da sich dafür auf dem Werksgelände kein geeigneter Platz fand, sollte die Kuppel auf dem Dach einer der Geschossbauten ge­ baut werden. Das war wohl der entscheidende Moment, der schließlich zur Entwicklung des Zeiss-Dywidag-Systems führte. Die Kuppelkon­ struktion musste möglichst leicht sein, um das Dach nicht zu überlasten. So entschied man sich für ein halbkugelförmiges Netzwerk aus Eisen, das aus ca. 3840 Stäben in 51 unter­ schiedlichen Längen bestand6 und das Zeiss mit großer Genauigkeit fertigen konnte7. Die räumliche Netzwerkkonstruktion von BAUERSFELD setzte sich aus Flachstäben mit einem Querschnitt von 8 x 20 Millimetern zusammen, die durch einen speziellen Knoten, bestehend aus zwei miteinander verschraubten Schei­ ben mit ringförmigen Einfräsungen, verbun­ den waren. Jedoch musste noch ein weiteres Problem gelöst werden: die Entwicklung einer

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Cengiz Dicleli

1 www.wikiwand.com/de/Oskar_von_Mil­ ler (abgerufen am 05.05.2017) 2 ebd. 3 www.planetarium-jena.de/90-JahreZeiss-Planetarium-Jen.169.0.html (abge­ rufen am 20.05.2017) 4 ebd. 5 Das Projektionsplanetarium von Carl Zeiss. Unter: www.deutsches-museum. de/sammlungen/meisterwerke/meister­ werke-i/planetarium (abgerufen am 20.05.2017) 6 Hartwig Schmidt: Von der Steinkuppel zur Zeiss-Dywidag-Schalenbauweise. In: Beton- und Stahlbetonbau, 01/2005, S. 87 7 Bertram Kurze: Industriearchitektur ­eines Weltunternehmens. Carl Zeiss 1880 –1945. Hrsg. vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und ­Archäologie. Erfurt 2016, S. 64 8 90 Jahre Torkretieren. Torkret AG Es­ sen, 2010 9 Walther Bauersfeld: Die Entwicklung des Zeiss-Dywidag-Verfahrens. Vortrag am 12.12.1942 in Berlin. Abgedruckt in: Jürgen Joedicke: Schalenbau-Konstruk­ tion und Gestaltung. Stuttgart 1962 10 wie Anm. 6, S. 64 11 Nach dem tschechischen Bauingeni­ eur Josef Melan (1853 –1941), der sein Verfahren 1892 zum Patent anmeldete 12 www.gdp-planetarium.org/planetarien/ geschichte-der-planetarien.html (abgeru­ fen am 14.08.2017)

Rechts oben  Versuchsplanetarium Jena (D) Bauzustand von 1922 Rechts unten  Torkretieren des Plane­­ta­ riums (Durchmesser 25 m, Schalendicke 6 cm) in Jena (D) 1926

Hülle, die leicht und nach außen wetterfest sein sollte und die im Inneren eine glatte Pro­ jektionsfläche mit genauer Kugelform aufwei­ sen musste. 1922 wandte sich BAUERSFELD dafür an die Firma Dywidag, die für Carl Zeiss Jena bereits mehrere Bauvorhaben mit Erfolg realisiert hat­ te. August Mergler, einer ihrer Ingenieure aus deren Nürnberger Niederlassung, erinnerte sich an das kurz zuvor in den USA entwickelte und in Deutschland 1920 von der Firma Torkret unter dem Fachbegriff Spritzbeton8 eingeführ­ te Verfahren »zum Mischen und Auftragen von modellierbaren oder haftenden Materialien«9. Daraufhin wurde entschieden, »das tragen­ de Netzwerk nach Ergänzung mittels leichter

­ ewehrung mit Hilfe […] des Torkretverfahrens B […] in eine 3 cm starke Betonhaut zu hüllen. Die glatte Innenfläche sollte dadurch erzielt werden, dass von innen her eine Holzscha­ lung von kugeliger Krümmung am Netzwerk angelegt wird und von außen Beton […] an­ gespritzt wird […]«10. Die 3 x 3 Meter große Holzschalung sollte entsprechend dem Bau­ fortschritt versetzt werden, was allerdings zur Folge hatte, dass das eiserne Netzwerk mit Beton ­umhüllt und daher nicht wiederverwend­ bar war. Ein solches Vorgehen kam bereits beim Bau von Bogenbrücken unter dem Na­ men Melan-Bauweise zum Einsatz. 11 Steife Stahlfachwerkträger wurden dort sowohl als Schalungsträger als auch einbetoniert als Be­ wehrung eingesetzt. 1922 ließ die Firma Carl Zeiss Jena ihre »Kno­ tenpunktverbindung für eiserne Netzwerke« unter DRP-Nr. 420.823 und das »Verfahren zur Herstellung von Kuppeln und ähnlich ge­ krümmten Flächen aus Eisenbeton« unter DRPNr. 415.395 patentieren. Bei späteren größeren Konstruktionen ging man dazu über, das Netz­ werk nicht mehr einzubetonieren, sondern als Gerüst für die hölzerne Schalung zu benutzen, in vielen Fällen auch zweilagig, um für weitge­ spannte Konstruktionen die Tragfähigkeit des Netzes zu erhöhen. Nachdem der Planetariumsprojektor in der Versuchskuppel ab 1923 ausgiebig getestet war und die Öffentlichkeit ihn als »Wunder von Jena« feierte, wurde er nach München geliefert und 1925 im Deutschen Museum in Betrieb genommen.12 1926 folgten die Projekti­

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onsplanetarien in Wuppertal-Barmen, Leipzig, Düsseldorf, Jena, Dresden und Berlin, 1927 in Mannheim, Nürnberg und Wien, später auch in Hannover, Stuttgart, Rom, Moskau, Stock­ holm, Mailand und Chicago.

Dywidag und der moderne Schalenbau So nahm der moderne Schalenbau seinen ­Anfang. Er unterscheidet sich vom histori­ schen gemauerten Kuppelbau grundlegend. Bei den traditionellen, aus Natur- oder künst­ lichen Steinen gemauerten Tonnen- oder Kup­ pelbauten führte das Fehlen von zugfestem Baumaterial sowie entsprechender Berech­ nungsmethoden zu großen Querschnitten. So entstanden z. B. das Pantheon in Rom, die Hagia Sophia in Istanbul, die Dome in Flo­ renz und der Petersdom in Rom (mit einem Durchmesser von über 40 Metern und einem Gewicht von 10 000 Tonnen) mit meterdicken Kuppeln und Wänden. Die Jahrhunderthalle in Breslau mit ihren beachtlichen 65 Metern Spannweite aus Stahlbeton besitzt eine Rip­ penkuppel, die 6340 Tonnen wiegt. Dagegen beträgt das Gewicht einer Kuppel der Groß­ markthalle Leipzig bei einer Dicke von 9 bis 10,7 Zentimetern und mit der Spannweite von 80 Metern lediglich 2000 Tonnen. Erst die Entwicklung von Zementen höherer Festigkeit sowie Fortschritte in der Stahl­ betonbauweise und in der Membrantheorie machten vier bis acht Zentimeter dünne Scha­ lenkonstruktionen möglich, bei denen die Kräfte überwiegend Membranspannungen hervorrufen. Diese bleiben über den Quer­ schnitt weitgehend konstant und weisen kei­ ne Komponente senkrecht zur Schalenfläche auf. Dies führt zu fast völlig biegungsfreien Querschnitten und lediglich in der Schalen­ fläche liegenden Kräften (Membrankräfte). Einen guten Überblick über dieses Thema stellen immer noch die Veröffentlichung von Jürgen Joedicke »Schalenbau – Konstrukti­ on und Gestaltung« (1962) und Franz Harts »Kunst und Technik der Wölbung« (1965) dar. Bereits während der Errichtung der Ver­ suchskuppel 1922 war FRANZ DISCHINGER , der erfahrene Oberingenieur bei Dywidag, zum Team um BAUERSFELD in Jena gesto­ ßen. Ein Jahr später wurde der an der TH München frisch diplomierte, hochmotivierte und ehrgeizige ULRICH FINSTERWALDER Mit­ arbeiter von DISCHINGER. FINSTERWALDERS Mechanik-Professor an der TH München war LUDWIG FÖPPL . Dieser weckte in FINSTERWALDER das Interesse für Schalenkonstruk­ tionen, was dazu führte, dass dieser seine Diplomarbeit über die Theorie der Netzwerk­ schalen ­anfertigte.13 Daher konnte er sofort

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als Verbindungsmann von Dywidag in Jena eingesetzt werden und sich mithilfe von BAUERSFELD intensiv mit der Statik von Tonnen­ schalen befassen, da man erkannt hatte, dass diese sich zur Abdeckung von rechteckigen Industriegrundrissen besser eignen als Kugel­ schalen. »ULRICH FINSTERWALDER entwickelte die (bis dahin von BAUERSFELD und DISCHINGER vor­ angetriebene) Statik der Tonnenschalen zur Perfektion. Es gelang ihm nachzuweisen, dass der ursprüngliche Gedanke des (DISCHINGER) Patents, wonach die Vorteile einer Zylinder­ schale erst dann wirksam werden, wenn ihr Querschnitt zur Stützlinie eine starke Überhö­ hung aufweist, bautechnisch unpraktikabel und anderweitig lösbar sei. Er führte statt der ellip­ tischen die kreissegmentförmige Querschnitts­ form von Tonnenschalen auf der Grundlage einer von ihm neu durchgerechneten Biege­ theorie der querversteiften Zylinderschalen ein. […] DISCHINGER promovierte 1929 an der TH in Dresden über die Tragwirkung von Vieleckkup­ peln, FINSTERWALDER 1930 in München über oben genannte Theorie biegesteifer Schalen.«14 Die nachhaltige Forschungsarbeit beider In­ genieure ermöglichte, auch wenn sie intern einen heftigen Konkurrenzkampf führten, 15 weitere Entwicklungen und Patente zur Scha­ lenbauweise. Dywidag wurde zur führenden Firma im Schalenbau. Hervorragende Inge­ nieure wie A ­ NTON TEDESCO (USA), EDUARDO TORROJA (Spanien), FELIX CANDELA (Mexiko) und viele andere entwickelten freiere Formen und sorgten weltweit für spektakuläre Bei­ spiele in Schalenbauweise.

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13 Cengiz Dicleli: Ulrich Finsterwalder 1897–1988. Ein Leben für den Betonbau. In: Beton- und Stahlbetonbau, 09/2013 14 wie Anm. 6, S. 69 15 vgl. Dicleli, S. 66

Oben  Versuchstonne 1926, Franz Di­ schinger (links) und Ulrich Finsterwalder (Mitte) Unten  Entwicklung der Querschnittskur­ ven der Zeiss-Dywidag-Schalengewölbe

Formfindung – grafische Mittel, Experiment und Modell, numerische Methoden

Unten  Palazetto dello Sport (kleiner Sportpalast), Rom (I) 1957, Pier Luigi Nervi, Architekt: Annibale Vitellozzi

Mit der »Graphischen Statik« (1866) von KARL CULMANN bekamen Ingenieure ein neues Ver­ fahren zur Ermittlung der Kräfte an die Hand. Wie auch ROBERT MAILLART oder ELADIO DIESTE nutzte PIER LUIGI NERVI diese Methode zur Ent­ wicklung seiner Tragwerke. Das Charakteristische des kleinen Sportpalasts in Rom ist die freitragende Kuppel mit ihrer an der Unterseite sichtbaren Rippenkonstruktion. In nur 30 Tagen wurde die Kuppel aus 1620 vorge­

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fertigten Stahlbetonelementen montiert. Diese Elemente, in der Form flacher Kästen gestaltet, haben einen rundherum leicht vorstehenden Rand, der beim Zusammenlegen auf dem Ge­ rüst die Rippen ausbildet. In den Rippen wurde die Bewehrung eingebracht und die Kuppel ohne aufwendige Schalung direkt zu einer selbsttra­ genden Kuppelschale vergossen. Die Last der Kuppel leiten Y-förmige Stützen außen in das ringförmige Fundament aus vorgespanntem

Formfindung – grafische Mittel, Experiment und Modell, numerische Methoden

Beton ab. Konstruktion und Form verschmelzen zu einer Einheit, die Nervi als »konstruktive Ehr­ lichkeit« bezeichnete.

Schalenbauten – von Beton über Holz zu Stahl und Glas Die Schalenbauweise in (Stahl-)Beton hatte in den 1960er-Jahren ihre Hochphase, es galt die Spannweiten zu vergrößern und die Material­

stärke immer mehr zu reduzieren. Hinzu kam die Frage nach der Optimierung der Schalung. Auf der Suche nach der Form näherten sich Ingenieure wie z. B. ULRICH MÜTHER und HEINZ ISLER über Modelle und Experimente – mit Fischernetzen und Textilien, die über dem ge­ wünschten Grundriss hängend ihre Form fan­ den und anschließend fixiert wurden. Als die Arbeitslöhne stiegen, rechnete sich allerdings der Bau von Schalen nicht mehr, zu­

Ganz oben links  Zarzuela-Hippodrom, Madrid (E) 1935, Eduardo Torroja Ganz oben rechts  Félix Candela, Restau­ rant Los Manantiales, Xochimilco (MEX) 1958 Oben links Tankstelle der Autobahnrast­ stätte Deitingen (CH) 1968, Heinz Isler Oben rechts  Paketposthalle, München (D) 1969, Ulrich Finsterwalder, Helmut Bomhard, Paul Gollwitzer, Architekten: Rudolf Rosenfeld, Herbert Zettel Links  Busbahnhof in Salto (ROU) 1974, Eladio Dieste Rechts oben  Great Court, British Muse­ um, London (GB) 2000, Buro Happold, Foster+Partners Rechts unten  Elefantenhaus, im Zoo, Zü­ rich (CH) 2014, Walt+Galt­marini, Markus Schietsch Architekten, Lorenz Eugster Landschaftsarchitekten, digitale Pla­ nung: Büro Kaulquappe

Dieste – Buch von Barthel S. 27

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dem waren andere Baustoffe kostengüns­tiger in ihrer Verwendung. In der DDR hingegen hielt man weiter an diesem Bautyp fest, denn dort war man nicht auf den Import von Stahl angewiesen. In den 1970er-Jahren folgten Holzgitterscha­ len und schließlich Stabwerkstrukturen aus Stahl und Glas. Seit Ende der 1980er-Jahre überspannen diese netzförmigen Dächer be­ sonders historische Innenhöfe oder Räume, da solche Konstruktionen bei der Heraus­ forderung des Bauens im Bestand nur einen mini­m alen Eingriff in die Bausubstanz be­ deuten. Derzeit erlebt der Schalenbau eine Renais­ sance. Durch die Entwicklung neuer Werkstof­ fe, Technologien, Herstellungs- und Rechen­ methoden sowie dem damit verbundenen experimentellen Charakter ist diese Bauweise wieder in den Fokus diverser Forschungspro­ jekte gerückt.

Holzschalendächer Als inhomogener Baustoff ist Holz für ein Scha­ lentragwerk nur bedingt geeignet. Dennoch stand die Materialwahl für das Elefan­tenhaus im Zoo Zürich nie zur Diskussion. In diesem Kontext galt es nicht nur den Wunsch nach ei­ nem organischen Material zu erfüllen. Vor allem wurde auch ein relativ geringes Eigengewicht des Dachs angestrebt, um den Innenraum frei von Stützen halten zu können. Die Architekten und Ingenieure fanden die Lösung in ebenen Plattenstreifen, die in drei Lagen übereinander geschichtet erst vor Ort »in Form« gebracht wurden. So spannt das hölzerne Dach frei über gut 6000 Quadrat­ meter mit Spannweiten bis zu 85 Metern.

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Es liegt dabei auf einem Ringbalken auf, der im Spannbeton verborgen ist. Durch 271 ver­ schieden große Öffnungen, die mit einer licht­ durchlässigen Membran verschlossen sind, fällt Tageslicht ins Innere und weckt dort die Assoziation an ein riesiges Blätterdach. Entwurf, Tragwerksplanung, Simulation sowie der Holzzuschnitt und die Montagepläne ent­ standen in einer geschlossenen digitalen Kette und mithilfe von 3D-Modellen.

Formfindung – grafische Mittel, Experiment und Modell, numerische Methoden

Hybride Schalen Wie die Hügel der umgebenden Landschaft am Genfer See liegt das Universitätsgebäude auf dem Campus der EPFL und beherbergt auf einer Ebene die unterschiedlichsten Funktio­ nen – von Büroräumen über die Bibliothek bis hin zu einem Auditorium. Die Grundidee für das Tragwerk besteht aus zwei »Schalen«: einer bis zu 30 Grad steilen Bodenwelle und einer parallel dazu verlaufen­ den geschwungenen Dachschale mit 85 Me­ tern Spannweite. In beiden sind 14 Öffnun­gen mit Durchmessern zwischen 7 und 50 Me­ tern für Innenhöfe ausgespart, was eine nicht gleichmäßige Kräfteverteilung zur Folge hat. In Verbindung mit den gewünschten Spann­

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weiten ließ sich ein reines Schalentragwerk nicht realisieren. Die Lösung ermöglichten elf Bogentragstrukturen, die in den besonders be­ anspruchten Bereichen innerhalb der 80 Zenti­ meter dicken Platte integriert sind. Im Planungsprozess übertrugen die Ingenieure die physischen Modelle der Architekten in di­ gitale Modelle, um so die Form zu optimieren. Der Boden des Bauwerks besteht aus Beton, das Dach aus Stahl und Holz. Für die Herstel­ lung der Schalen waren 1400 Schalungsele­ mente aus Holz sowie Hartschaumelemen­ te notwendig. Zwei Wochen lang wurde der selbstverdichtende Beton kontinuierlich ange­ liefert, um eine nahtlose Dachkonstruktion zu erreichen.

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Rolex Learning Center, École Polytech­ nique Fédérale de Lausanne – EPFL (CH) 2010, Ingenieure: Bollinger+Grohmann,  Architekten: SANAA, FEM-Modell der Schalen (unten)

Jan Knippers, Achim Menges

1 Bill Addis: Building. 3000 Years of ­ esign Engineering and Construction. D London 2007

Unten  Palmenhaus Bicton Gardens, Budleigh Salterton (GB) um 1843, Archi­ tekt unbekannt (Bauweise in Anlehnung an John C. Loudons Konstruktionen)

Computerbasierte Prozesse für bionische Tragkonstruktionen

Das Berufsbild des Bauingenieurs, so wie wir es heute verstehen, konstituierte sich im 19. Jahrhundert und war eng mit dem Auf­ kommen des Bauens mit Eisen verbunden. Diese Entwicklung begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach einer Reihe von ver­ heerenden Bränden in den großen britischen Spinnereien. Ein neuer, holzfreier Konstrukti­ onstyp, der die Holzbalken durch gusseiser­ ­ tützen ersetzte, sollte mehr ne Träger und S Sicherheit schaffen (z. B. Flachspinnerei Dit­ herington, Shrewsbury, England, 1797). Archi­ tektonisch war diese neue Bauweise jedoch noch nicht sichtbar. Auch im Brückenbau, der eine ­besondere Rolle bei der Entwicklung des Bauens mit dem neuen Werkstoff spielte, kam Eisen zunächst nur als Ersatz für Holz und Stein in Gewölbe- und Bogenkonstruktionen

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zum Einsatz (z. B. Iron Bridge, Coalbrookdale, England, 1779). Erst nach erfolgreicher Re­ alisierung dieser ersten Bauten wurden die ureigenen architektonischen und konstruk­ tiven Möglichkeiten des neuen Werkstoffs erkundet. Da dafür noch keine festgefahrenen Konventionen vorhanden waren, entstanden Bauwerke, die auch aus heutiger Sicht noch atemberaubend sind. Ein Beispiel sind die Gewächshäuser in den englischen Bicton Gar­ dens. Der handwerkliche und experimentelle Zugang ermöglichte eine Überlagerung der Steifigkeit von Verglasung, Verkittung und Eisensprossen, die sich auch mit aktuellsten computerbasierten Berechnungsmethoden kaum simulieren lässt. Im Ergebnis ergaben sich faszinierende Leichtigkeit, Transparenz und räumliche Qualität.1

Computerbasierte Prozesse für bionische Tragkonstruktionen

Die rasche Verbreitung der Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforderte zahlreiche Hallen und Brücken, die sich schnell und sicher bauen ließen. Dies war nur mit zu­ verlässiger Vorhersage der inneren Kräfte und Verformungen durch statische Berechnungen möglich. Die frühen Pioniere des Eisenbaus konnten dies mit ihrem experimentellen »trial and error«-Zugang nicht leisten. Stattdessen entwickelten sich Mathematik und Mechanik zum Entwurfswerkzeug der Ingenieure und führten zu einem neuen Selbstverständnis, das sich nicht nur von dem der Architekten, sondern auch von dem der frühen Wegbereiter des Eisenbaus grundsätzlich unterschied. Das Resultat waren ganz neue Tragwerke, wie z. B. die bekannten Zwei- oder Dreigelenkbögen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts für nahe­ zu alle großen Bahnhofs- und Ausstellungshal­ len Verwendung fanden. Im völligen Gegensatz zur gesamten Bau- und Konstruktionsgeschich­ te waren in Gelenken Bewegungen zugelas­ sen, die eine einfache Berechnung der inneren Kräfte und damit Sicherheit ermöglichten.2 Daneben entwickelten sich viele weitere neue Tragwerkstypologien, wie beispielsweise die Schwedlerkuppel, mit der zahlreiche Gaso­ meter überdacht wurden. JOHANN WILHLEM SCHWEDLER, ein preußischer Baubeamter und Ingenieur des neuen Typs, war in der Lage, den beachtlichen gedanklichen Schritt von ­ nordnung von der rotationssymmetrischen A Fachwerkträgern hin zum räumlich tragenden Schalentragwerk – und damit zum Urtyp aller Netz- und Stabschalen – allein am Schreibtisch aufgrund analytischer Überlegungen zu voll­ ziehen.3 Dieser neue Zugang zum Entwerfen ermöglichte Spannweiten und Traglasten, die bisher undenkbar waren. Gleichzeitig redu­ zierte sich die Vielfalt der Strukturformen auf wenige berechenbare und standardisierte Ty­ pologien, die wieder und wieder verwendet und schrittweise weiterentwickelt wurden. »Berechenbarkeit« wurde zum dominanten Entwurfskriterium für Ingenieure. Mit der Einführung der numerischen Simula­ tionsverfahren in den 1970er-Jahren und den computerbasierten Fertigungsketten um die Jahrtausendwende hat sich vieles verändert. Heute stellen vielfach unbestimmte Systeme keine Herausforderung mehr für die statische Berechnung dar, die Herstellung individualisier­ ter Bauteile und damit aufwendig geformter Konstruktionen ist ohne weiteres möglich. Da­ hinter stecken jedoch die Tragwerkstypologien des 19. Jahrhunderts: Rahmen und Bögen, Fachwerkträger, triangulierte Gitterschalen und Ähnliches, wenn auch in neuer architektoni­ scher Form.

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Neue Typologien: biegeaktive Tragwerke Gängige Tragwerke werden mit dem Ziel ent­ worfen, Biegeverformungen möglichst klein zu halten. Der ICD/ITKE Forschungspavillon 2010 steht diesem Ansatz konträr gegenüber. Das Grundelement ist ein Bogen mit sieben Ge­ lenken – und damit ein nach der Bogentheorie des 19. Jahrhunderts unmögliches, weil insta­ biles System. Baubar wird es dadurch, dass die Anordnung der Gelenke und damit der Schwachpunkte des Bogens über die Fläche des Torus variiert.4 Die geometrische Variation der Bauteile, möglich durch computergestützte Fertigung, ist in diesem Fall also Vorausset­ zung für die Stabilität der Konstruktion. Die La­ mellen sind nur 6,5 Millimeter dick und damit so dünn, dass sie kaum ihr eigenes Gewicht über mehr als 2 Meter tragen können. Erst durch das Biegen und das Verspannen mit ih­ ren Nachbarn entsteht eine tragfähige Struktur. Die bei diesen großen Verformungen auftre­ tenden inneren Spannungen und die sich dabei einstellende Geometrie können nur mit Metho­ den simuliert werden, die erst seit kurzer Zeit der allgemeinen Ingenieurpraxis zur Verfügung stehen. Die Möglichkeiten der parametrischen Modellierung und digitalen Fertigung werden seit fast 20 Jahren intensiv diskutiert. Fast immer geht es dabei aber nur um die Planung und Umsetzung architektonisch motivierter komplexer Geometrien. Der Pavillon zeigt da­

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2 Werner Lorenz: 200 Jahre eisernes Ber­ lin. In: Stahlbau, 06 / 1997, S. 291– 310 3 Jan Knippers: Johann Wilhelm Schwed­ ler. Vom Experiment zur Berechnung. In: Deutsche Bauzeitung, 04 / 2000, S. 105 –122 4 Moritz Fleischmann u. a.: Material Be­ havior. Embedding Physical Properties in Computational Design Processes. In: ­Architectural Design, 02 / 2012, S. 44 – 51 5 Jan Knippers, Thomas Speck: Design and Construction Principles in Nature and Architecture. In: Bioinspiration and Biomimetics, 07/ 2012

Oben  erster Dreigelenk-Rahmen, ­Maschinenhaus Bochum (D) 1865, ­Johann Wilhelm Schwedler Unten  Systemskizze ICD /  ITKE For­ schungspavillon 2010 Links unten  ICD /  ITKE Forschungspavil­ lon 2010

gegen, wie computergestützte Verfahren auch neue Strukturformen jenseits gängiger Typolo­ gien ermöglichen. Was könnte eine konsistente Strategie für die Entwicklung neuer Strukturformen sein, wenn Methoden und Ziele der Ingenieure durch das Primat der Berechenbarkeit und den daraus fol­ genden Konstruktionstypologien bestimmt sind?

Robotische Fertigung für Struktur­ bildungsprinzipien aus der Natur

6 Oliver Krieg u.a.: Biomimetic Light­ weight Timber Plate Shells. Computatio­ nal Integration of Robotic Fabrication, Ar­ chitectural Geometry and Structural Design. In: Philippe Block u.a. (Hrsg.): Advances in Architectural Geometry 2014. Zürich 2015

Oben  Außenskelett eines Seeigels (Echi­ noida) Unten links  ICD / ITKE Forschungspavil­ lon 2011 Unten rechts  Dieter-Paul-Pavillon (ehe­ mals Forstpavillon), Schwäbisch Gmünd (D) 2013, Innenraumaufnahme; die ge­ samte Schale hat Außenabmessungen von ca. 11 × 19 × 6 m

Eine Möglichkeit besteht darin, sich als Ingeni­ eur mit Konstruktionen der Natur zu beschäf­ tigen, weil diese gänzlich anderen Struktur­ bildungsprinzipien folgen, als wir sie aus der Technik kennen. Natürliche Konstruktionen be­ stehen aus einer geringen Anzahl meist leichter chemischer Elemente (C, H, O, N, P, S, Ca etc.) und nur wenigen polymeren Stoffgruppen (z. B. Proteine, Polysaccharide, Fette, Nukleinsäu­ ren), die in einem Prozess der Selbstorganisati­ on zu leistungsfähigen, materialeffizienten und multifunktionalen Systemen heranwachsen. Sie stehen damit den technischen Konstruktionen diametral gegenüber, die sich aus vorgefertig­ ten Bauteilen unterschiedlichster Beschaffen­ heit und Funktionalität zusammensetzen.5 Der lineare Transfer aus der Biologie in die Technik – also das, was üblicherweise unter dem Begriff Bionik verstanden wird – gelingt dabei nur in den seltensten Fällen, da Konst­ ruktionen in Natur und Technik völlig verschie­ denen Anforderungen genügen müssen. Ein zentraler Unterschied besteht z. B. darin, dass natürliche Strukturen wachsen und in allen Sta­ dien ihres Lebens funktionsfähig sein müssen. Außerdem sind wir heute immer noch weit da­ von entfernt, die Komplexität der Natur mit ih­ ren kleinsträumig ausdifferenzierten Strukturen technisch abbilden zu können. Lohnend ist die Untersuchung natürlicher Konstruktionen aber dennoch, da sie das eigene Verständnis vom Entwerfen und Konstruieren infrage stellt und möglicherweise zu neuen Lösungen jenseits der gängigen Typologien anregt.

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Diese Idee ist alles andere als neu oder origi­ nell. Schon vor über 50 Jahren hat Frei Otto im Austausch mit Johann-Gerhard Helmcke neben vielem anderem auch die mineralischen Schalenskelette von Radiolarien, Diatomeen und Seeigeln untersucht. Das Außenskelett des Seeigels besteht aus polygonalen Platten. Es wächst, indem jede Platte für sich an Größe zunimmt. Um die Ausdehnung der Platten zu ermöglichen, sind sie an ihren Rändern mit­ einander verzahnt. Diese Verzahnung ist aber mit gewissen statischen Einschränkungen ver­ bunden: Die Ränder können vor allem Druck senkrecht und Schub parallel zum Rand, aber nur in geringerem Umfang Biegung oder Zug übertragen. Dies führt zur speziellen Anord­ nung der Platten, sodass sich jeweils drei Kan­ ten in einem Punkt treffen, was eine tragfähige Schale ermöglicht, auch wenn die Kanten nur Druck- und Schubkräfte übertragen können. Die Übertragung dieses Strukturbildungsprin­ zips auf eine freie architektonische Form, die von Krümmungswechseln, freien Rändern und Aussparungen gekennzeichnet ist, demons­ triert der ICD/ITKE Forschungspavillon 2011. Übergeordnetes Ziel war dabei die Entwick­ lung eines Konstruktionsprinzips für Schalen aus vorgefertigten Modulen, da die Herstellung fugenloser Schalen aus Stahlbeton oder an­ deren Werkstoffen sehr aufwendig und damit heute leider sehr selten geworden ist. Die einzelnen hexagonalen Module bestehen aus jeweils zwei Lagen 6,5 Millimeter dicker Sperr­ holzplatten. Die Verbindung zwischen den Mo­ dulen erfolgt lediglich durch eine Lagesiche­ rung mittels einer lösbaren M6-Verschraubung. Eine Übertragung von Biegemomenten zwi­ schen den Modulen ist nicht erforderlich. Zusammen mit einem Holzbauunternehmen wurde dieser Ansatz anschließend weiter­ entwickelt und an baupraktische Rahmenbe­ dingungen angepasst. Der Pavillon besteht aus einer Lage ebener Sperrholzplatten aus Buchenholz mit einer Dicke von nur 5 Zenti­ metern. Die Verbindungskräfte an den Plat­ tenrändern werden wie beim Seeigel durch eine Zinkenverbindung aufgenommen. Hinzu kommen noch Vollgewindeschrauben zur Auf­ nahme der Querkräfte senkrecht zur Schalen­ fläche.6 Die durchgehend computerbasierte Planung ermöglichte die digitale Fertigung aller Bauteile der Holzkonstruktion, von der Herstellung der 243 unterschiedlichen Platten bis hin zum Zu­ schnitt der Wärmedämmung, der wasserfüh­ renden Abdichtung und der außen liegenden Deckschicht aus Lärchenplatten. Die größte Herausforderung stellte dabei die Fertigung der 7600 geometrisch unterschiedlichen Zin­ ken dar, die dem Pavillon seine Stabilität ver­

Computerbasierte Prozesse für bionische Tragkonstruktionen

leihen und im Innenraum sichtbar bleiben. Hier kommt der robotischen Fertigung eine Schlüsselrolle zu, da sie im Vergleich zu übli­ chen computergesteuerten Fertigungsmetho­ den einen wesentlich höheren Freiheitsgrad bietet. Aufgrund der durchgehend digitalen Planung und Vorfertigung konnte das gesamte Gebäude in lediglich vier Wochen gefertigt und errichtet werden.

Materialinnovationen im Bauwesen: Faserverbundwerkstoffe Eine genauere Analyse biologischer Struktu­ ren zeigt, dass diese meist nicht isotrop sind, sondern aus Fasern wie Cellulose bei Pflanzen, Chitin bei Insektenpanzern, Kollagen bei Kno­ chen oder Spinnenseide bestehen. Durch die Kombination verschiedener Verlaufsrichtungen und Packungsdichten lassen sich sehr fein abgestimmte Struktureigenschaften erzielen. Außerdem ermöglichen Faserverbünde eine Vielzahl weiterer Funktionen: Sie transportie­ ren Nährstoffe, katalysieren chemische Re­ aktionen, erkennen Signalstoffe und wirken als passive Aktuatoren (z. B. Öffnung und Ver­ schluss von Kiefernzapfen bei Austrocknung bzw. Befeuchtung durch Faserlagen in ver­ schiedene Richtungen). Viele moderne Hochleistungswerkstoffe be­ ruhen auf dem Prinzip der anisotropen Faser­ verstärkung, nutzen aber deren Möglichkeiten

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der strukturellen und funktionalen Ausdiffe­ renzierung im Vergleich zu natürlichen Kon­ struktionen nur sehr bedingt. In der Regel werden Matten mit orthogonal angeordneten Verstärkungsfasern aus Glas oder Kohlenstoff in eine Form gelegt und mit Polyester- oder Epoxidharz imprägniert. Solche Faserverbund­ werkstoffe kommen heute in allen Bereichen der Technik zum Einsatz, in denen Form oder Gewicht eine besondere Rolle spielen, z. B. bei Windenergieanlagen, in der Luft- und Raumfahrt, bei Segelbooten und zunehmend auch im Automobilbau. Nur im Bauwesen sind sie immer noch auf ab­ solute Nischen beschränkt, obwohl sie auch dort alles andere als neu sind. Bereits 1957 erfolgte mit dem Monsanto House in Kalifor­ nien der Bau eines ersten Musterhauses aus vorgefertigten Sandwichelementen mit einem Kern aus PUR-Schaum und Deckschichten aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Trotz enormem öffentlichen Interesse und einer Reihe von Folgeprojekten war diesem »Haus der Zukunft« kein Erfolg beschieden. Mitte der 1970er-Jahre ging das Experimentieren mit Kunststoffbauten genauso schnell zu Ende, wie es begonnen hatte. Fehlende Erfahrung bei der Planung sowie Mängel in der Ausfüh­ rung verursachten baukonstruktive Schäden, die den faserverstärkten Kunststoffen einen Ruf als minderwertige Materialien einbrach­ ten. Hauptgrund dürfte aber sein, dass eine

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Oben  Vergleich der Deckflügel (Elytren) von nicht flugfähigen (links) und flugfähi­ gen Käfern (rechts) Unten  Auf zwei steuerungstechnisch ­gekoppelten Robotern sind Rahmen montiert, die jeweils individuell an ­unterschiedliche Modulabmessungen anpassbar sind. Die Faserspule ist ­stationär zwischen den beiden Robotern positioniert. Zunächst zieht man die ­kostengünstigen Glasfasern durch ein Epoxidharzbad und wickelt sie zu hyper­ bolischen Körpern. Auf diese werden die hochfesten Kohlestofffasern den Hauptlastpfaden folgend ebenfalls nass abgelegt. Sobald das Harz ausgehärtet ist, können die Elemente von den Rah­ men abgenommen werden.

7

Jan Knippers u. a.: Atlas Kunststoffe und Membranen. München 2010, S. 12ff. 8 Stefana Parascho u. a.: Modular Fibrous Morphologies. Computational Design, Simulation and Fabrication of Differentia­ ted Fibre Composite Building Compo­ nents. In: Philippe Block u. a. (Hrsg.): Ad­ vances in Architectural Geometry 2014. Zürich 2015, S. 29 – 46 Oben und unten  ICD / ITKE Forschungs­ pavillon 2013 / 14. Finite Element Analyse des Spannungsverlaufs und Übertragung in eine kraftfluss- und fertigungsgerech­ te Anordnung der Karbonfaserverstär­ kung (unten)

sich zunehmend individualisierende Gesell­ schaft die Idee einer seriell vorgefertigten Wohnzelle immer weniger attraktiv fand.7 Was heute nach wie vor fehlt, sind Ansät­ ze für die Konstruktion und Fertigung von Faserverbundwerkstoffen, die an die spezi­ fischen ­Anforderungen des Bauwesens ange­ passt sind. Im Gegensatz zum Flugzeug- oder Automobilbau geht es bisher meist um die Fertigung großformatiger Unikate, auf deren Geometrie man individuell eingeht. Hierfür ist der übliche Formenbau mit Polyurethan­ schäumen nicht nur sehr aufwendig, sondern verursacht auch große Mengen an Reststof­ fen. Außerdem spielen beim Bauen Kriterien wie Robustheit während Herstellung und Nut­ zung eine große Rolle, wohingegend andere Aspekte, wie z. B. höchste Anforderungen an

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die Fertigungstoleranzen oder mechanische Leistungsfähigkeit, eher nachrangig sind. Im Rahmen des ICD / ITKE Forschungspavil­ lons 2013/14 wurde speziell für Anwendungen in der Architektur ein Verfahren entwickelt, das den Aufwand für den Formenbau auf ein Minimum reduziert. Beim sogenannten kern­ losen Wickeln legen Roboter in Harz getränk­ te Fasern auf einem rotierenden Stahlgerüst ab.8 Der Rahmen wird anschließend entfernt – es entsteht eine steife und tragfähige Faser­ struktur ohne Metallteile (mit Ausnahme der Schrauben und Schraubhülsen). Als natürlicher Ideengeber dienten hier die Deckflügel von Käfern (Elytren), die die ei­ gentlichen Flügel gegen mechanische Be­ schädigung schützen. Sie bestehen aus zwei Schichten, die mit einer speziellen Führung der

Computerbasierte Prozesse für bionische Tragkonstruktionen

Chitinfasern zu einer sehr leichten und gleich­ zeitig robusten Struktur verbunden sind. Die­ ser Ansatz wurde auf den Pavillon mit seiner modularen zweilagigen Struktur aus Glasfa­ sern und Kohlestofffasern übertragen. Die insgesamt 36 geometrisch unterschiedlichen Module sind so leicht, dass eine Person sie allein tragen kann. Ziel des Forschungspro­ jekts war vor allem die Erprobung des Ferti­ gungsverfahrens sowie die Erkundung seiner geometrischen Möglichkeiten. Die parallele Untersuchung robotischer Fertigungsverfah­ ren und biologischer Vorbilder hat dabei zu einer ganz neuen Struktur weit jenseits etab­ lierter architektonischer und konstruktiver Ty­ pologien geführt. Trotz ihrer fragilen Erschei­ nung erwies sich die Konstruktion sowohl in der Fertigung als auch während Montage und Nutzung als außerordentlich robust und zuverlässig. Auch dieses Verfahren fand seine Weiterent­ wicklung für einen öffentlichen Bauherrn mit funktionalen und wirtschaftlichen Anforderun­ gen. Beim Elytra Filament Pavilion besteht die Struktur aus 40 hexagonalen Modulen, die zu einer geneigten ebenen Dachscheibe verbun­ den sind. Diese wird von sieben Stützen ge­ tragen, deren trichterförmige Köpfe ebenfalls gewickelt sind. Die innere Orientierung und Dichte der Fasern ist an die jeweilige stati­ sche Beanspruchung der Dachmodule bzw. Stützenköpfe angepasst. Der Fertigungspro­ zess wurde dahingehend verändert, dass nur ein Roboter die Komponenten wickelt. Die Stahlrahmen wurden unmittelbar danach entfernt und die Module aus harzgetränkten Komponenten im Ofen getempert. Die Struktur ist mit einem vereinfachten Fi­ nite-Elemente-Modell berechnet, das die of­ fene Gitterstruktur als kontinuierliche Schale abbildet. Dieses Modell dient vor allem dazu, die Anordnung und Dichte der Fasern fest­ zulegen. Eine rechnerische Vorhersage der Tragfähigkeit der offenen Gitterstruktur ist aufgrund der vielen Parameter, die in ihr Trag­

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verhalten eingehen, wie z. B. der Verbund der sich kreuzenden Fasern oder das Ausknicken der druckbeanspruchten Fasern, kaum mög­ lich. Der Nachweis der Standsicherheit ließ sich daher nur mit Versuchen an den Kompo­ nenten erbringen. Vergleicht man all das mit der eingangs dar­ gestellten Entwicklung des Bauens mit Eisen, so zeigt sich, dass die neue Faserverbund­ bauweise sich derzeit noch in der Frühphase des experimentellen Erprobens ihrer konst­ ruktiven und architektonischen Möglichkeiten befindet. Um damit eine breite Anwendung zu erschließen, sind noch viele Schritte zu gehen. Das betrifft sowohl die Materialien (Brand- und UV-Beständigkeit der Harze so­ wie die Verwendung ressourceneffizienter biobasierter Ausgangsstoffe), als auch die Verbesserung von Prozesssicherheit und -ge­ schwindigkeit. Wie beim Bauen mit Eisen ist aber der entscheidende Schritt auch hier die Entwicklung von baupraktisch handhabba­ ren und zuverlässigen Berechnungsverfahren, die die Skalierung auf größere Bauaufgaben ermöglichen. Wenn dies gelingt, könnte das kernlose Wickelverfahren überall dort zum Ein­ satz kommen, wo Transparenz von Dach- oder Deckenkonstruktionen eine besondere Rolle spielt. Aufgrund des geringen Eigengewichts eignen sich die Elemente zudem auch für Aufgaben, bei denen große und schwere Bau­ teile nicht möglich sind, wie z. B. beim Bauen im Bestand oder in entlegenen und schwer zugänglichen Regionen. Es wären nur leichte und kompakte Faserspulen sowie Behälter mit Harz zur Baustelle zu transportieren, das Wickeln kann vor Ort erfolgen. Die komplexe Geometrie und die Differenzierung der beiden hier gezeigten Pavillons waren Faserlagen nur mit der robotischen Fertigung möglich. Einfachere Bauteile ließen sich aber ebenso mit anderen maschinellen Verfahren, z. B. dem Wickeln um eine starre Rotationsachse oder sogar manuell herstellen.

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Rechts oben  Elytra Filament Pavilion im Innenhof des Victoria and Albert Muse­ ums, London (GB) 2016. Die 40 Module haben eine einheitliche Außenabmes­ sung von 2,40 m und eine Höhe von 0,4 m, verbunden sind sie über Schrau­ ben. Um das Verfahren zu demonstrie­ ren, wurden in London vier Elemente vor Ort gewickelt. Links oben  Verschiedene Dachelemente Links unten  Wickeln der Dachkompo­ nenten des Elytra Filament Pavilions Projektbeteiligte  Die gezeigten Projekte wurden vom Institut für Computerbasier­ tes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und dem Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) unter Mitwirkung zahlreicher wissenschaftli­ cher Mitarbeiter, Studierender, Kollegen und Förderer realisiert. Ohne deren großartigen Einsatz wären diese Projekte nicht möglich gewesen.

Der lange Weg von der Forschung in die Praxis: Carbonbeton Die langjährige Erfahrung mit Projekten wie zuvor beschrieben zeigt, dass der Schritt von der an der Universität erfolgreich erprobten und vielversprechenden Idee hin zur An­ wendung in der Baupraxis enorm lang und steinig ist. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Carbonbeton, die wichtigste und größte Inno­ vation für den Massenbaustoff unserer Zeit, den Stahlbeton. Hierbei ersetzt eine textile Bewehrung aus Kohlenstofffasern die übliche Zugbewehrung mit Stäben und Matten aus Stahl. Die Fasern haben in etwa die gleiche Steifigkeit wie Stahl, rosten aber nicht. Car­ bonbeton lässt sich deshalb deutlich dünn­ wandiger ausführen als der übliche Stahlbe­ ton, da die Betonüberdeckung der Bewehrung viel geringer ausfallen kann. Daher sind Kon­ struktionen aus Carbonbeton nicht nur deut­ lich filigraner und eleganter, sondern – noch wichtiger – sie benötigen weniger Zement. Dessen Herstellung ist mit erforderlichen Pro­ zesstemperaturen von etwa 1450°C sehr ener­ gieintensiv und einer der größten CO2-Verursa­

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cher unserer Zeit. Aus ökologischer Sicht ist die Reduktion des Zementverbrauchs daher eines der wichtigsten Themen der aktuellen Bauforschung. Die Forschung und Entwicklung von Carbon­ beton wird seit vielen Jahren intensiv geför­ dert, unter anderem mittels zweier großer Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der RWTH Aa­ chen und der TU Dresden (Laufzeit in beiden Fällen 1999 – 2011). Trotz der langjährigen Un­ terstützung und der überzeugenden Idee ist Carbonbeton aber bis heute noch nicht richtig in der Baupraxis angekommen, auch wenn auf Dauer damit zu rechnen ist, dass er den konventionellen Stahlbeton immer mehr er­ setzen wird. Die wissenschaftlichen und tech­ nischen Grundlagen sind da, es fehlt jedoch an Förderprogrammen, Vergabeverfahren und baurechtlichen Bestimmungen, die gezielt den Schritt von der Grundlagen­forschung in die Baupraxis unterstützen und so Bauherren, Genehmigungsbehörden, Planer und ausfüh­ rende Firmen ermutigen, sich auf neue und ungewohnte Wege einzulassen.

Computerbasierte Prozesse für bionische Tragkonstruktionen

Tragwerksgestaltung und Formfindungsprozesse

Die Möglichkeiten der Tragwerksgestaltung bezüglich Form, Material und Konstruktion haben sich – ausgehend von den ersten, auf den Prinzipien der grafischen Statik eines Karl Culman, Karl Wilhelm Ritter u.a. sowie auf physischen Experimenten wie den legendär­ en Hängemodellen ANTONI GAUDÍs beruhen­ den induktiv-deduktiven Methoden – im Laufe des 20. Jahrhunderts beträchtlich erweitert. Wichtige Inspiration und Motivation hierfür lieferten die methodischen Arbeiten von FREI OTTO und seinen Mitstreitern, die mit ihren vi­ sionären Entwürfen und realisierten Prototypen die Wichtigkeit des Experiments im Tragwerks­ entwurf und in der Formfindung unter Beweis stellten.1 Durch die extreme Entwicklung der Rechentechnik und der numerischen Simulati­ onsmethoden entstanden für Tragwerksplaner vollkommen neue Möglichkeiten, um in einem vernetzten Prozess unter Berücksichtigung

vielfältiger Parameter mithilfe von digitalen und physischen Prototypen die richtige strukturelle Form für ein architektonisches Raumkonzept zu entwickeln. Dabei setzt die Vielfalt der Mög­ lichkeiten der numerischen Verfahren voraus, dass ihre Anwender die mögliche Formfreiheit richtig einordnen und bewerten können, da sie letztendlich immer in direkter Abhängigkeit getroffener Modellentscheidungen des ent­ werfenden Ingenieurs steht. In diesem Zusam­ menhang stellt sich aber auch die Frage nach dem Selbstverständnis des Bauingenieurs zwi­ schen Wissenschaftler und nach Ingenieurlö­ sungen suchendem Gestalter. Mit dieser Frage verbindet sich unmittelbar die Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Trennung der Ingenieurund Architekturausbildung2 sowie ihrer aktuel­ len Weiterentwicklung im Kontext generativer computergestützter Entwurfsmethoden und Praxisprozesse.

Stützlinie

Druck Zug

Auflagerkraft

F1 ... F2 Eigengewicht Kettenlinie

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Christoph Gengnagel

Unten links  Beispiel für den Zusammen­ hang von Ketten- und Stützlinie anhand eines Bogentragwerks aus Blöcken un­ terschiedlicher Geometrien und damit unterschiedlichen Eigengewichts Unten rechts oben  Topologische Ver­ wandschaft zwischen der räumlichen druckbeanspruchten Gleichgewichtsfigur (G/Stützfläche), seiner planaren Projek­ tion als Seilpolygon (Netzwerk der Mem­ branfläche) und dem reziproken Kräfte­ polygon (Kräfteplan) Unten rechts  Reziproke Beziehung zwi­ schen Seil- und Kräftepolygon. Das Gleich­gewicht jedes Knotens wird durch das jeweils geschlossene Polygon sicher­ gestellt. Rechts oben  Aufnahme des umgedreht hängenden Kettenmodells der Sagrada Família in Barcelona (E) Antoni Gaudí Rechts unten  Multihalle Mannheim (D) 1975, Frei Otto. Kettenmodell zur Form­ findung

Formfindung als induktiv-­deduktive ­Methode

1 Frei

Otto: Form-Kraft-Masse 5. Experi­ mente. IL 25. Mitteilung des Instituts für leichte Flächentragwerke. Stuttgart 1990, S. 5 2 Stefan Polónyi: Der Einfluss des Wissen­ schaftsverständnisses auf das Kon­struie­ ren. In: Geschichte des Kon­stru­ie­rens, Teil 2. Hrsg. vom Sonder­for­schungs­ bereich 230 Natürliche Kon­struktionen, Universität Stuttgart und T ­ übingen. Stutt­ gart 1986, S. 151–165 3 Toni Kotnik: Das Experiment als Ent­ wurfsmethode. Zur Möglichkeit der ­Integration naturwissenschaftlichen ­Arbeitens in die Architektur. In: Ákos Mo­ ravánsky, Albert Kirchengast (Hrsg.): Ex­ periments. Architektur zwischen Wissen­ schaft und Kunst. Berlin 2011, S. 24 – 53 4 Kai-Uwe Bletzinger: Blobs, Schalen und Membrane. In: Werner Wagner (Hrsg.): Berichte der Fachtagung Baustatik-Bau­ praxis 10. TH Karlsruhe 2010, S. 73 – 84 5 Rainer Graefe: Zum Entwerfen mit Hilfe von Hängemodellen. In: Werk, Bauen + Wohnen, 11 / 1983, S. 24 – 28

Die Formfindung als induktiv-deduktive Metho­ de und damit als wissenschaftlich fundiertes Experiment zur Formgenerierung hat im 20. Jahrhundert Architekten und Ingenieure fas­ ziniert und zu vielfältigen Entwicklungen von architektonischen Applikationen und metho­ dischen wissenschaftlichen Ansätzen geführt. Bekannte Beispiele sind ANTONI GAUDÍs Hän­ gemodelle für die Colònia Güell in Barcelona, HEINZ ISLERs Membranmodelle für dünnwan­ dige Schalenbauten sowie die vielfältigen Ar­ beiten von FREI OTTO und seinem Team am Institut für Leichte Flächentragwerke in Stutt­ gart.3 Vereinfacht lassen sich dabei zwei klas­ sische Formfindungsmethoden definieren: das Seifenhaut- und das Hängemodell.4 Bis in die 1970er-Jahre wurden mithilfe dieser Methoden räumliche Entwurfsansätze vor allem durch physische Experimente erzeugt.

Bogen- und Schalentragwerke: Hängemodelle als Formfindungskonzept Hängemodelle sind ein traditioneller Ansatz zur Formfindung von Bogen- und Schalentragwer­ ken, die äußere Einwirkungen verformungsarm und weitgehend biegungsfrei fast ausschließ­ lich über Druck abtragen können. 1670 erkann­ te Robert Hook den Zusammenhang zwischen der rein hängenden zugbeanspruchten Ket­ tenlinie und ihrer Umkehrung als Stützlinie für druckbeanspruchte Bogen- und Gewölbekon­ struktionen. Mit GIOVANNI POLENIs berühmten physischen Experimenten von 1748 zur Analy­ se der Kuppel der Peterskirche in Rom wurde erstmals eine wissenschaftliche Erkenntnis auf eine reales Bauwerk im großen Maßstab

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übertragen, um dessen Standsicherheit zu be­ urteilen. Für Entwürfe von einfach und doppelt gekrümmten Konstruktionen kamen im 19. Jahrhundert mehrfach Hängemodelle zum Ein­ satz, in Deutschland erstmals durch HEINRICH HÜBSCH , 5 der mit dieser Methode mehrere Kirchenbauten entwarf. Die Logik der Trag­ struktur wurde dabei jedoch nicht zur archi­ tektonischen Raumgestaltung herangezogen. Diese erfolgte weiterhin durch einen vollstän­ dig geometriebasierten Formenkanon, der die formgefundene Tragstruktur verkleidete. Erst mit ANTONI GAUDÍ s Hängemodell aus Fäden und eingehängten, bleischrotgefüll­ ten Leinensäckchen für die Kirche der Arbei­ tersiedlung Güell erfolgte die konsequente Transformation von der konstruktiven zur ar­ chitektonischen Form. Bemerkenswert war dabei die vollständige Abbildung der gesamten Konstruktion in einem hochkomplexen räum­ lichen, physischen Hängemodell. Neben der experimentellen Modellmethode nutzte GAUDÍ wie viele andere auch grafische Methoden zur Formgenerierung und Analyse von Wölbkonst­ ruktionen. Für Stabwerke ermöglicht diese sehr anschauliche geometriebasierte Vorgehens­ weise ebenso wie die Seifenhautanalogie eine materialunabhängige Formfindung. Im Gegen­ satz zu den rein zugbeanspruchten Seil- und Membranstrukturen ist ihr Einsatz aber in die­ sem Fall auf verformungsarme Strukturen be­ schränkt, deren Geometrie einem dominanten Lastfall folgt, in der Regel dem Eigengewicht. Computergestützte Verfahren haben diesen Ansatz auch für die digitale Formgenerierung von komplexen räumlichen Strukturen erwei­ tert und damit seine Anwendungsfähigkeit für moderne Planungs- und Realisierungsprozesse

Tragswerksgestaltung und Formfindungsprozesse

ermöglicht. Beispielhaft dafür ist die Entwick­ lung der Thrust Network Analysis.6 Das Verfah­ ren wurde in den letzten Jahren konsequent in Hinblick auf Anwenderfreundlichkeit und Einsatzmöglichkeiten weiterentwickelt 7 und diente als Grundlage für die Realisierung der spektakulären Steinstruktur »Armadillo Vault« auf der 15. Architekturbiennale in Venedig 2016. Numerische Simulationen von Hängemo­ dellexperimenten in der Kontinuumsmechanik erfordern im Gegensatz zu den geometrieba­ sierten Methoden die Angabe von Material­ eigenschaften. Die Suche nach einer biege­ freien Form bei der Formbestimmung macht aufgrund der großen Verformungen vollständig nicht lineare Berechnungen notwendig. Die für die reine Formgenerierung angewendeten Ma­

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terialmodelle erlauben dabei die Definition von Steifigkeitsverteilungen und daraus folgende Formfindungen.

Zugbeanspruchte Konstruktionen: ­Seifenhautmodelle zur Formfindung Das Seifenhautprinzip findet vorwiegend seine Anwendung zur Formfindung von rein zugbe­ anspruchten Membrantragwerken. Die Biege­ freiheit der Membrane impliziert eine optimale Materialausnutzung, bewirkt aber gleichzeitig die unabdingbare Kopplung von Kraftfluss und Form. Zur Stabilisierung der Form ist darü­ ber hinaus eine Vorspannung der antiklastisch oder synklastisch gekrümmten Fläche notwen­ dig. In Konsequenz entsteht eine im Vergleich

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URS

Abbildung 4.12: Minimalfläche: Ausgangskonfiguration Gleichgewichtskonfiguration. zu anderenund Tragsystemen grundsätzlich ver­ Block: Thrust Network Analy­ schiedene Strategie der Formfindung: Randbe­ sis. Exploring Three-dimensional Equilib­ dingungen und gewählter Spannungszustand rium. Dissertation, Massachusetts Insti­ dietute Membranknoten modelliert, womit das Rutschen der eine Seile spezifische auf der Membran unmöglich generieren räumliche Form Mass. of Technology. Cambridge, ist 2009 (siehe auch Abschnitt 2.3.1). Die prinzipiellaus beliebig definierbare Ausgangskonfiguration einer beliebigen, jedoch klar mathematisch Rippman: Funicular Shell Regelfläche. Diese im des7 Matthias numerischen Formfindungsprozesses ist definierbaren als Vielflächner gewählt worden. EsVergleich ist deut­Design. Geometric Approaches to Form zum Standardfall der Tragwerksanalyse lich zu erkennen, wie die geraden Kanten der einzelnen Segelsegmente im Laufe derinverse FormFinding and Fabrication of Discrete Herangehensweise eine Geomet­ findung gekrümmt Diese Krümmung ist notwendig, um ermöglicht das Gleichgewicht an den ­Funicular Structures.werden. Dissertation, ETH riefindungDes ohne die Materialeigenschaften zu flexiblen (also seilverstärkten) Rändern herzustellen. Weiteren ist ersichtlich, dass an Zürich, Departement Architektur, 2016 Hilfe zu nehmen. Mathematisch betrachtet 8 Roland Wüchner: Mechanik und Nume­ den Stellen der Kehl- und Gratseile sich auf Grund der Umlenkkräfte die an diesen Stelist die Fragestellung mit dem Themenfeld der der Formfindung lenriktypischen Knickeund in Fluid-Struktur-­ der Membranfläche einstellen. Die komplette Tragwerksgeometrie Minimalflächen verbunden.8 Unterstützt durch Interaktion von Membrantragwerken. ergibt sich in diesem Fall also aus der Interaktion der vorgeschriebenen Flächenspannung Dissertation, TU München, Fakultät für die Entwicklung der Computertechnik, haben derBauingenieurMembran und den Seilvorspannkräften.sich Die in tangentialen Membranspannungen sind und Vermessungswesen, den letzten 40 Jahren unterschiedli­ 2006 homogen und isotrop. Die Fläche ist durch vierknotige finite Elemente parametriwieder che numerische Methoden zur Formfindung 9 wie Anm. 4 siert, wobei jeder Knoten drei global orientierte Verschiebungsfreiheitsgrade (siehe von leichten Flächentragwerkenaufweist etabliert: die 10 Christoph Gengnagel, Holger Alper­ Kraftdichtemethode (Force Density Method) Abschnitt 4.2). mann, Elisa Lafuente: Active Bending in und ihre Weiterentwicklung, die Dynamische Hybrid Structures. In: Günther H. Filz, Relaxation, sowie aus der Kontiniuumsmecha­ Rupert Maleczek, Christian Scheiber 4.5.2 Anisotrope Vorspannung nik abgeleitete Linearisierungsmethoden (Fini­ (Hrsg.): FORM – RULE | RULE – FORM 2013. Innsbruck 2014; Martin Tamke te-Elemente-Methode mit dem modifizierten Bespoke ForVorspannungszustands Bespoke Dieu.a.: Wahl einesMaterials isotropen ist für viele technisch relevante FragestelNewton-Raphson-Verfahren oder Updated Re­ Textile Architecture. In: Tagungsband, lungen nicht sinnvoll beziehungsweise unmöglich. diesem Grund wurde das hier verferenceAus Strategy-URS). Grundsätzlich beruhen IASS Annual Symposium 2016: Spatial Ansätze auf einer iterativen Annäherung an wendete Verfahren (URS) fürTokio abschnittsweisealle orthotrope Vorspannung erweitert. Hiermit Structures in the 21st Century. die Gleichgewichtsgeometrie des vorgegebe­ 2016 11 Julian Lienhardt, Jan Knippers: Biege­ nen Vorspannungszustands. Unterschiedlich 95 ist je nach Verfahren die Differenz zwischen aktive Tragwerke. In: Bautechnik, 06/2015, S. 394 – 402 dem Ist-Spannungszustand der Näherungs­ 12 Thomas Hughes, J. Austin Cottrell, lösung und dem Soll-Spannungszustand. Die ­Yuri Bazilevs: Isogeometric Analysis. konsistent auf Grundlage der Kontinuumsme­ CAD, Finite Elements, NURBS, Exact chanik formulierte Updated Reference Stra­ Geometry and Mesh Refinement. In: tegie reflektiert dieses iterative Vorgehen im Computer Methods in Applied Mecha­ Namen. Es ermöglicht die Berücksichtigung nics and Engineering, Vol. 194, 2005, von isotroper und anisotroper Vorspannung S.  4135 – 4195 13 Gregory Quinn u.a.: Calibrated and und die explizite Berechnung der Spannungs­ ­Interactive Modelling of Form-Active abweichungen von der Soll-Vorspannung bei ­Hybrid Structures. In: Tagungsband, anisotrop vorgespannten Membranen. 9 Die IASS Annual Symposium 2016: Spatial Flächendiskretisierung kann dabei in beliebi­ Structures in the 21st Century. Tokio gen Finite-Element-Typen erfolgen (Dreiecke, 2016 Rechtecke etc.). 6 Philippe

Linke Seite  Armadillo Vault, Venedig (I) 2016, Block Research Group ETH Zürich, ODB Engineering, Escobedo Group Oben  Minimalfläche: Ausgangskonfigu­ ration (links) und Gleichgewichtskonfi­ guration nach Formfindung mittels der Updated Reference Strategy (URS)

Hybride Tragsysteme: Formfindung a ­ ls empirischer Prozess auf induktiv-­ deduktiver Basis Formfindung im architektonischen Entwurfs­ prozess bedeutet letztendlich eine Überla­ gerung von theoretischen und empirischen Wissensformen, die über Induktion und De­ duktion verknüpft werden. In der Praxis heißt das die Suche nach Formen von hybriden Tragsystemen, die sich aus Überlagerung von

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physischen und digitalen Experimenten, geo­ metrisch-mathematischen Beschreibungen, aber auch individuellen ästhetischen Erfahrun­ gen oder Überlegungen ergeben. In diesem interaktiven Prozess des »hybrid modelling« kommt Werkzeugen der Darstellung eine eben­ so hohe Bedeutung zu wie Werkzeugen einer ausreichend präzisen Analyse mechanischer Zusammenhänge. Verfahren wie die Struktur­ optimierung bieten dabei einen sehr großen numerischen Experimentalraum, der sowohl Querschnitts-, Form- und Topologieoptimie­ rung umfasst. Grundlage dafür sind die viel­ fältigen Möglichkeiten der numerischen Simu­ lation des nichtlinearen Tragverhaltens. Diese erlauben statische und dynamische Analysen von Systemen mit großen Verformungen, des Stabilitätsversagens, die Berücksichtigung von nicht linearem und anisotropem Materialver­ halten sowie verformungsabhängigen Einwir­ kungen. Damit sind auch Formfindungen und Formoptimierungen von Mischsystemen aus Membranen und hochelastischen Biegestä­ ben10 oder die Entwicklung formadaptiver Sys­ teme11 möglich. Mit der von THOMAS HUGHES 2005 erstmals vorgestellten und sich seitdem rasch entwi­ ckelnden Isogeometrischen Analyse (IGA) 12 wird das parametrische Geometriemodell mit dem Analysemodell auf Basis der Finite-Ele­ mente-Methode (FEM) zusammengeführt. Aus der damit möglichen schnellen Interaktion zwi­ schen Formgenerierung und Analyse ergeben sich neue Potenziale für den rechnergestütz­ ten Tragwerksentwurf. Ähnliche Zielstellun­ gen verfolgen Kombinationen von digitalen generativen Zeichenwerkzeugen mit Simulati­ onsumgebungen auf Basis der Dynamischen Relaxation (DR). Diese ermöglichen geometri­ sche Näherungslösungen für die Form von Ma­ terialsystemen unter Berücksichtigung großer Verformungen und kinematischer Zustände im Iterationsprozess.13

Formfindung durch Strukturoptimierung Numerische Verfahren der Strukturoptimie­ rung sind allgemeinste Vorgehensweisen zur Ermittlung einer optimalen strukturellen Form. Dabei ergeben sich die Eigenschaften der re­ sultierenden Form aus einer frei wählbaren Anzahl von Zustandsvariablen, Optimierungs­ variablen, Zielfunktionen und Randbedingun­ gen. Entscheidender Bestandteil einer Struk­ turoptimierung mit vielen Entwurfsparametern ist die Sensitivitätsanalyse. Sie bestimmt das Maß der Veränderung der an einer Optimie­ rungsaufgabe beteiligten Zielfunktion(en) und Randbedingungen durch Variationen der Ent­

Tragswerksgestaltung und Formfindungsprozesse

wurfsvariablen. Für eine Formfindungsauf­ gabe sind diese Variablen in der Regel die räumlichen Koordinaten der Kontrollknoten des Entwurfsmodells wie z. B . FEM-Knoten oder die Positionen der NURBS-Kontrollpunkte bei der IGA. Als Zielfunktionen und Randbe­ dingungen eignen sich alle Ergebnisgrößen einer Strukturanalyse, wie z. B. Verschiebun­ gen, Spannungen oder Eigenfrequenzen etc. Ist als Optimierungsziel die Minimierung der Formänderungsenergie vorgegeben, werden im Verlauf des Optimierungsprozesses bei vordefinierter Masse des Tragwerks die inef­ fizienten Biegezustände zugunsten der Last­ abtragung über Membranspannungszustände abgebaut und eine Tragwerksgeometrie ma­ ximaler ­S teifigkeit und minimaler Biegung, vergleichbar einem Hängemodell, gefunden.14 Der Formfindungsprozess für elastische (vor­ beanspruchte) Gitterschalen unterscheidet

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sich im Vergleich zu der traditionellen Form­ findung von Schalen- oder Membranflächen durch die Vorgabe einer Zielgeometrie. Diese lässt sich geometrisch definieren oder über ein Hängemodell durch ein Kräftegleichge­ wicht ermitteln. Die final entstehende Form der elastischen Gitterschale stellt in Abhängig­ keit der Biege- und Dehnsteifigkeit der Stäbe und der Gittertopologie eine Annäherung an diese »ideale« Geometrie dar.15

Ein neues numerische Werkzeug­­ der Formoptimierung: IGA Die zeitversetzte Entwicklung der computer­ gestützten Darstellung und der numerischen Strukturanalyse hat zur Entwicklung von un­ abhängigen und mathematisch unterschied­ lichen Beschreibungen von geometrischen Objekten in beiden Bereichen geführt. Die

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14 wie

Anm. 4 Gengnagel, Gregory Quinn: Große Verformungen. Über das Entwer­ fen von vorbeanspruchten Gitterschalen. In: GAM 12. Structural Affairs. Potenziale und Perspektiven der Zusammenarbeit in Planung, Entwurf und Konstruktion. Ba­ sel 2016, S. 169 –189 16 Michael Breitenberger u.a.: Analysis in Computer Aided Design. Nonlinear Iso­ geometric B-Rep Analysis of Shell Struc­ tures. In: Computer Methods in Applied Mechanics and Engineering, Vol. 284, 2015, S. 401– 457 17 Benedikt Philipp u.a.: Integrated De­ sign and Analysis of Structural Membra­ nes Using the Isogeometric B-Rep Analy­ sis. In: Computer Methods in Applied Mechanics and Engineering, Vol. 303, 2016, S. 312– 340 15 Christoph

Links oben  Hybrid Tower One, Blick in das innen liegende radiale Zugverstei­ fungssystem Links  Hybrid Tower One and Two; ganz links  Tower-One-Prototyp eines 8 m ho­ hen Turms aus Stäben aus aktiv geboge­ nem glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK) und einer gestrickten Membran in Kopenhagen (DK) 2015. Centre for Infor­ mation Technology and Architecture ­(CITA) an der Royal Danish Academy of Fine Arts, Fachgebiet für Konstruktives Entwerfen und Tragwerksplanung (KET) an der Universität der Künste Berlin; ­Mitte  Tower-Two-Simulation der Formfin­ dung des hybriden Systems und Analyse der Beanspruchungen unter Vorspan­ nung und Windbelastung mithilfe der FEM. KET, 2016; rechts Tower-One-­ Prototyp eines 8,30 m hohen Turms aus Stäben aus aktiv gebogenem glas­ faserverstärktem Kunststoff (GFK) und einer gestrickten Membran in Guimaraes (P) 2016. CITA, KET, Universidade do Minho, AFF – A. Ferreira & Filhos Oben  Simulation des Aufrichtungs- bzw. des Formgebungsprozesses der Elasti­ schen Gitterschale, KET Unten  Prototyp Elastische Gitterschale 10 m Spannweite, GFK Stäbe 20 mm Durchmesser und einer Wanddicke von 3 mm, Berlin (D) 2013, KET

im Allgemeinen für die computergestützte Analyse notwendige anderweitige Diskreti­ sierung von Entwurfsgeometrien (»Vernet­ zung«) verursacht einen wesentlichen Auf­ wand im Analyseprozess und ist Ursache für eine starke Zeitverzögerung in der Interaktion zwischen geometrischen Entwurfsiterationen und der Bewertung ihrer physikalischen Leis­ tungsfähigkeit. Eine typische mathematische Beschreibung von Freiformen in CAD-Syste­ men wird durch getrimmte, aneinandergefüg­ te NURBS-Patches für die Flächen realisiert. Durch die Verwendung dieser NURBS (NonUniform Rational B-Splines) als gemeinsame Basis zur Geometriebeschreibung sowie zur Strukturberechnung lässt sich der geometri­ sche Entwurfs- und Analyseprozess mitein­ ander integrieren16 und ungewollte geometri­ sche Unterschiede zwischen geometrischem Entwurfs- und numerischem Strukturanaly­ semodell (z. B. durch Approximation infolge Diskretisierung mittels Polynomen niederer Ordnung) können vermieden werden. Der ent­ scheidende Vorteil des Verfahrens der Iso­ geometrischen Analyse liegt – neben dem Entfallen der Geometriekonvertierung – in den Möglichkeiten zur Verfeinerung der Dis­ kretisierung der Strukturgeometrie, ohne da­ bei geometrische oder mechanische Para­

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meter zu ändern. Die höhere Genauigkeit der NURBS-Ansatzfunktionen führt zu besseren Konvergenzeigenschaften im Vergleich zu den Polynomen, die in der bisherigen Finiten-Ele­ ment-Analyse Verwendung finden.17

Formfindungsprozesse sind Teil der Tragwerks­ gestaltung. Die klassischen Vorgehensweisen der Formfindung wie Hängemodelle und Sei­ fenhautanalogien spielen dabei aufgrund ihrer gestalterischen Restriktionen nur noch eine geringe Rolle. Die vielfältigen Möglichkeiten des digitalen Experimentierens im Rahmen der Strukturoptimierung schaffen neue Ge­ staltungsoptionen der Formgenerierung unter ­Einbeziehung unterschiedlichster Parameter. Dabei ist es sowohl möglich, die mechani­ schen Eigenschaften einer Struktur in einem Modell der Kontiniuumsmechanik vollständig abzubilden, als auch vereinfachte Modellie­ rungsstrategien einzusetzen, die nur die wichtigsten Eigenschaften der Struktur be­ rücksichtigen und sich z. B. über kinematische Zustände iterativ einer Lösung annähern. Da­ mit wird der Formfindungsprozess zu einem sehr hochkomplexen Vorgang, geprägt durch frei gewählte Parameter und Gestaltungsent­ scheidungen.

Tragswerksgestaltung und Formfindungsprozesse

Weit und leicht

Linke Seite  Nationalstadion Warschau (PL) 2012, schlaich bergermann partner, Architekten: gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner, JSK Architekci Rechts unten  Olympiadach in München (D) 1972, Frei Otto, Leonhardt + Andrä/ Jörg Schlaich, Architekturen: Behnisch & Partner. Darstellung der Dimensionen des Dachs von 1969 im »Architekturwettbewerbe Sonderheft 7«. Größenvergleich mit ausgeführten Bauten: 1 Montreal, 2 Tokio, 3 Tokio, 4 Stockholm, 5 New Haven Yale University, Raleigh North Carolina, 7 Bremen, 8 Melbourne, 9 Ludwigshafen

Seit der griechischen Antike sind Stadien wichti­ge Austragungsorte für sportliche Wettkämpfe. Mit ihrer geschätzten Anzahl von 30 000 Zuschauern können die im 8. Jahrhundert v. Chr. erstmals ausgetragenen Olympischen Spiele daher als Vorläufer moderner Großereignisse angesehen werden. Im Gegensatz zu den antiken Stadien müssen heutige Veranstaltungsorte nicht nur vor Sonne, Wind, Regen und Schnee schützen, sondern haben umfangreichere Anforderungen zu erfüllen. Hierzu gehören beispielsweise ausreichende Lichtverhältnisse für die mediale Übertragung der hier stattfindenden Ereignisse. Vor allem aber sind hervorragende Sicht und Akustik sowie eine Raumgestaltung zu schaffen, die das gemeinschaftliche Erleben des Geschehens auf dem Spielfeld bzw. der Bühne auch in emotionaler Hinsicht unterstützt.

Mit einem Fassungsvermögen moderner Stadien von über 50 000 überdachten Plätzen werden aufgrund der hierfür benötigten Dachfläche und der sich daraus ergebenden Spannweiten enorme Anforderungen an Tragwerk und Konstruktion gestellt. Gleichzeitig soll diese trotz enormer Lasten aus Wind, Schnee und Eigengewicht möglichst leicht und filigran wirken, in einem vordefinierten Maß lichtdurchlässig sein und darüber hinaus den aktuellen Sicherheitsansprüchen genügen. Wirtschaftliche Aspekte wie Investitions- und Unterhaltskosten spielen dabei ebenso eine Rolle wie Bauzeit und Anpassungsfähigkeit hinsichtlich Nachnutzung sowie Nachhaltigkeitsaspekte im Allgemeinen. Zudem besitzen derartige Bauten, meist für Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele errichtet, einen hohen symbolischen Wert – sowohl für den Veranstalter als auch für die teilnehmenden Nationen. Die Anforderungen zeigen, dass moderne Groß­ bauten folglich zu den anspruchsvollsten Planungs- und Bauaufgaben gehören. Ein hohes Maß an Innovationskraft, Wissen und Erfahrung sind notwendig, um Gebäude mit außergewöhnlichen funktionalen, konstruktiven und gestalterischen Eigenschaften entstehen zu lassen. Meilensteine wie das Olympiastadion in München (1972) haben dabei in konstruktiver und ästhetischer Hinsicht eine Entwicklung in Gang gesetzt, die sich bis heute auf neue Planungs- und Rechenmethoden sowie innovative, leistungsfähige Werkstoffe, Konstruktionen und Tragwerkssysteme auswirkt. Neben anderen herausragenden Bauaufgaben, die der Erfüllung der Grundbedürfnisse unserer Gesellschaft dienen, sind es gerade die weit gespannten Dachtragwerke und modernen Stadien, die stellvertretend für hohe Qualität heutiger Ingenieurbaukunst und die hier vorhandene Erfindungsgabe stehen.

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Weit und leicht

Textiler Leichtbau – Entwicklung der Simulationsmethoden seit den 1970er-Jahren bis heute

Blickt man auf FREI OTTOS Methoden zur Form­ findung und Simulation von leichten Flächen­ tragwerken, sind es vor allem die vorgespannten Seilnetzkonstruktionen und die textilen Membrankonstruktionen, deren visionäre Kühnheit und strukturelle Leichtigkeit man spätes-

tens seit den Bundesgartenschauen in Kassel (1955) und Köln (1958) untrennbar mit seinem Namen verbindet. Ihre Entwicklung erreichte mit dem Olympiadach in München ihren damaligen absoluten Höhepunkt. Das Münchner Dach definiert in vielerlei Hinsicht einen Meilenstein in der Entwicklung und Akzeptanz dieser Tragwerke, nicht zuletzt auch für die statischen und mechanischen Methoden, die für deren Entwurf und Berechnung notwendig sind. Was die leichten Flächentragwerke betrifft, begann das Computerzeitalter mit den Olympischen Spielen in München 1972. Für die grundsätzliche Bedeutung der numerischen Methoden waren und sind diese Tragwerke ein visionärer Motor hinsichtlich der praktischen Belange im Bauwesen an der Schnittstelle zwischen Ingenieurwesen, Architektur und Computational Mechanics. Seitdem ist viel geschehen: Textile Membranwerkstof-

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Die visionäre Kraft FREI OTTOS war in den späten 1950er-Jahren der Auslöser für eine neue Architektur des textilen Leichtbaus und – als Konsequenz – auch für die Entwicklung neuer Methoden zur Formfindung und Simulation dieser Tragwerke. Die Arbeiten im Sonderforschungsbereich 64 an der Universität Stuttgart und am Dach des Münchner Olympiastadions waren fundamental für die Entwicklung dieser Bauweise. Sie markieren den Start des Computerzeitalters für Entwurf und Simulation von leichten Flächentragwerken im Besonderen sowie für das Bauwesen im Allgemeinen.

Kai-Uwe Bletzinger

1 Erstmals

wurde die Kraftdichtemethode beschrieben bei K. Linkwitz, H. J. Schek: Einige Bemerkungen zur Berechnung von vorgespannten Seilnetzkon­ struktionen. In: Ingenieurarchiv 40/1971, S.  145 –158 2 vgl. E. Haug: Formermittlung von Netzen. In: Bautechnik 9/1971, S. 294 – 299 3 vgl. K.-U. Bletzinger, E. Ramm: A general finite element approach to the form finding of tensile structures by the updated reference strategy. In: International Journal of Space Structures 14 /1999, S. 131–144 Links  Olympiagelände in München während den Sommerspielen 1972 Oben links  Arbeit am Messmodell des Deutschen Pavillons für die Expo 1967 in Montreal Oben rechts  Vermessung des Modells eines Vierpunktsegels am Messtisch (links im Bild Frei Otto)

fe sind als »fünftes Material« fest etabliert, CAD und Finite-Elemente-Methode (FEM) sind tagtäg­liche Instrumente für Entwurf und Berechnung geworden. Viele Bausoftwarehersteller bieten heute spezielle Module für nicht lineare Berechnung, Formfindung und Zuschnitt an, was den aktuellen Stand der Technik definiert. Die Zukunft gehört der Berücksichtigung gekoppelter Phänomene und integrativer Aspekte, wie z. B. der numerischen Simulation der Inter­aktion von temporärer Windbelastung mit den großen Verformungen leichter Flächentragwerke im numerischen Windkanal, dem Einsatz des Textils als multifunktionale Fassade oder der Integration von CAD und FEM für eine enge Interaktion von Entwurf und Berechnung.

Die Situation 1972 und die Jahre danach Da Membrantragwerke und Seilnetze weder Druckkräfte noch Biegung, sondern nur Zugkräfte übertragen können, muss die räumliche Geometrie als Resultat einer Formfindung ermittelt werden. Die Form bestimmt sich aus der Gleichgewichtsgeometrie der wirkenden Kräfte. Werden allein die Vorspannkräfte als formgebender Lastfall aufgebracht, ergibt sich eine typische negativ gekrümmte, d. h. antiklastische Fläche. Bei zusätzlichem Innendruck stellt sich eine positiv gekrümmte, also synklastische Fläche ein. Die typischen Vertreter sind das Vierpunktsegel bzw. der Pneu. Minimalflächen ergeben sich dann, wenn die Vorspannung in der Fläche überall gleich groß ist. Frei Otto hat das Prinzip der Minimalflächen als formgebende Grundlage der Architektur zur Vollkommenheit geführt. Die Formfindung ist eine anspruchsvolle mechanische Aufgabe. Die zugrunde liegenden

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Gleichungen sind stark nicht linear und in diskretisierter Form sogar singulär, weshalb keine vereinfachten Berechnungen möglich sind. Dies erklärt auch die Existenz der verschiedenen konkurrierenden Lösungsmethoden. Bis zum Bau des Münchner Dachs entwickelte man Formen ausschließlich mit experimentellen Methoden an entsprechend verkleinerten Modellen. Das Olympiadach schließlich war jedoch zu groß und die Messergebnisse im Modell zu ungenau. Der Bau war nur deshalb umsetzbar, weil es gelang, eine sehr effektive sowie gleichzeitig äußerst robuste und recheneffiziente, numerische Methode zu entwickeln: die Kraftdichtemethode für die Formfindung vorgespannter Seilnetze 1. Tatsächlich war das Olympiadach der Grund dafür, dass eine der für den Leichtbau bedeutendsten numerischen Methoden überhaupt erst ­e ntstand. Außerdem stellte sich heraus, dass sich schubweiche textile Membranwerkstoffe recht zutreffend durch analoge Seil­netze a ­ pproximieren lassen – zumindest, wenn die Flächenkrümmungen nicht zu groß sind. Die klassische Kraftdichtemethode für S ­ eilnetze findet deshalb auch heute noch für die Formfindung von textilen Membrantragwerken Anwendung. Viele der heute üblichen computergestützten Technologien und Methoden des Leichtbaus hatten ihren Ursprung im Sonderforschungsbereich (SFB) 64 Leichte ­Flächentragwerke von Frei Otto an der Universität Stuttgart und gelten unverändert ­heute noch. Alternativ zur Kraftdichtemethode wurde ein Formfindungsverfahren direkt auf der Grundlage der FEM entwickelt, das die ­Kontinuumsmechanik des ebenen Spannungszustands mit nicht linearen, numerischen Techniken verband 2. Erst viel später gelang es, die Kraftdichtemethode in die nicht lineare Kontinuumsmechanik einzubetten und die

Textiler Leichtbau – Entwicklung der Simulationsmethoden seit den 1970er Jahren bis heute

­ emeinsamkeiten der beiden Zugänge zu idenG tifizieren3. Auch bei der Zuschnittsermittlung für Seile und Membrane kam es im SFB 64 bereits zur Entwicklung wegweisender Methoden4. Arbeiten von Blum und das Materialmodell von Münsch/Reinhardt zählen zum heutigen Standard für anisotrope textile kon­ struktive Materialien5. Die FEM wurde von der

Arbeitsgruppe um Argyris in großem Stil für die vollständig geometrisch nicht lineare Tragwerksberechnung im Bauwesen weiterentwickelt und eingesetzt6. Doch auch an anderen Zentren des Leichtbaus wurden in den frühen 1970er-Jahren bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung numerischer Methoden erzielt. In London z. B.

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4 vgl. R. Blum: Beitrag zur nichtlinearen Membrantheorie. Universität Stuttgart, 1985; R. Münsch, H.-W. Reinhardt: Zur Berechnung von Membrantragwerken aus beschichtetem Gewebe mithilfe genäherter elastischer Materialparameter. In: Der Bauingenieur 70/1995, S. 271– 275 5 vgl. J. H. Argyris, T. Angelopoulos, B. Bichat: A general method for the ­shape finding of lightweight tension structures. In: Computer Methods in ­Applied Mechanics and Engineering 3/1974, S. 135 –149 6 vgl. M. R. Barnes: Form Finding and Analysis of Tension Structures by Dynamic Relaxation. The City University, ­London, 1977

Links  Überdachung des Stadions, Olympiadach München (D) 1972 Rechts oben  Voliere Tierpark Hellabrunn in München (D) 1980, Frei Otto zusammen mit Ted Happold

wandten Forscher an der City University die dynamische Relaxation zur Formfindung von Seil- und Membrantragwerken an7. So entwickelten sich in kurzer Zeit die drei wesentlichen und bis heute bestehenden Linien von Formfindungsmethoden: • die Kraftdichtemethode und ihre Weiterentwicklungen •  die dynamische Relaxation • die aus der Kontinuumsmechanik abgeleiteten Linearisierungsmethoden Den letzteren sind auch Arbeiten der damaligen Zeit zuzuordnen, die in Japan8 und in den USA9 entstanden. Schon damals erkannte man die Potenziale einer interaktiven, computerunterstützten Arbeitsweise und setzte sie prototypisch um.

Der heutige Stand und ­Entwicklungstendenzen Rückblickend kann man sagen, dass tatsächlich in den 1970er-Jahren im Grunde alle ­wesentlichen Entwicklungen initiiert wurden, die beim aktuellen Stand der computerorientierten Methoden für die Simulation leichter Flächentragwerke eine Rolle spielen. Breite und Tiefe sämtlicher seitdem erfolgter methodischer

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Entwicklungen sind derart umfassend, dass im Folgenden nur wenige exemplarisch und mit Blick auf den textilen Leichtbau in Stichworten skizziert werden können. Viele dieser Entwicklungen sind noch kein Standard in kommerzieller Software, stehen aber kurz davor. Nichtlineare Simulationen des Tragverhaltens sind weitestgehend in großen, allgemeinen FEProgrammsystemen umgesetzt und als internationaler Industriestandard verfügbar. Spezielle konstitutive Formulierungen für viele gebräuchliche Materialien (Gewebe und andere Textilien, Folien) sind ebenfalls grundsätzlich verfügbar, aber nicht unbedingt standardmäßig implementiert10. Formfindung, Formoptimierung und Netzgenerierung sind nach wie vor ein sehr intensives Forschungsfeld11 und typischerweise nur in spezieller Software verfügbar. Hier gibt es viele verschiedene Methoden, unter anderem Varianten der Kraftdichtemethode oder der dynamischen Relaxation. Wesentliche Unterschiede sind dabei die Art der Maßnahme zur Regularisierung der mehrdeutigen bzw. singulären Gleichgewichtsgleichungen. Konkret bedeutet dies, dass für dieselbe Aufgabe unterschiedliche Methoden gelegentlich auch verschiedene Formen generieren können. Das gilt selbst für

Textiler Leichtbau – Entwicklung der Simulationsmethoden seit den 1970er Jahren bis heute

7 vgl.

unterschiedliche Implementierungen derselben Methode. Eine Untersuchung aktueller Softwareprodukte erbrachte dabei eine sehr erstaunliche Streuung12. Für die Anwendung ist dies nicht beunruhigend, weil alle ermittelten Formen zwar unterschiedliche, aber zulässige resultierende Spannungszustände im Gleichgewicht aufweisen. Methoden des Zuschnitts und spezielle Materialformulierungen sind nur in sehr spezieller Software oder als Dienstleistung verfügbar13. Die starke Streuung der Materialwerte setzt in der Praxis in der Regel viel Erfahrung bei der Kompensation voraus14. Neuere Zuschnittsmethoden ermöglichen qualitativ hochwertige Zuschnitte auch für stark gekrümmte Flächen sowie für stark dehnfähige Materialien wie z. B. Gestricke. Für die spezielle Anwendung beim Zuschnitt wurden Materialmodelle auf der Grundlage von Antwortflächenmethoden entwickelt, die sich mit standardisierten Messdaten für unterschiedlichste Materialien adaptieren lassen15. Entwicklungen im Bereich der gekoppelten, multiphysikalischen Analysen, dem Computational Wind Engineering oder auch der adaptiven Tragwerke stellen hohe Anforderungen an Soft- und Hardware. Ebenso erfordern sie seitens der Anwender profunde Erfahrung und sehr vertiefte Kenntnisse über die physikalischen und methodischen Grundlagen. Die Anwendung kommerzieller Software ist daher nur in speziellen Installationen sinnvoll möglich16. Ziel des

numerischen Windkanals ist z. B. die Erfassung der Wechselwirkung der Verformungen leichter Flächentragwerke mit dem umströmenden Wind (sog. Fluid-Struktur-Interaktion – FSI)17. Da diese Bereiche generell ausgeprägte Synergieeffekte versprechen, sind sie derzeit ein sehr aktives und innovatives Feld der Grundlagenforschung18. Für die Integration von CAD und FEM gibt es Ansätze mittels der Isogeometrischen Methode (Isogeometric Analysis – IGA19). Ebenso stehen praxisrelevante Erweiterung für die Behandlung originaler CAD-Modelle zur Verfügung sowie spezielle Anwendungen für Schalen und Membrane bis hin zu Plug-Ins für einzelne Programme 20. Die Geschichte und die Entwicklung der leichten Flächentragwerke ist ein ideales Beispiel dafür, wie sich innovative Bauweisen und Berechnungsmethoden gegenseitig inspirieren und wie sie eigene, fruchtbare Forschungs­felder mit bestem Zukunftspotenzial erschließen, die im Ergebnis weit über das ursprünglich anvisierte Ziel hinauswirken. So gibt es viele weitere Anwendungen in anderen konstruktiven Ingenieurfeldern wie beispielsweise hochfliegende Gasballone für die Wettererkundung, bei denen die spezielle Leichtbauexpertise aus dem Bauingenieurwesen gefragt ist 21. Man kann sicher davon ausgehen, dass FREI OTTO nie an computergestützte Simulationsmethoden gedacht hat – aber seine visionäre Kraft wirkt auch hier und heute noch.

Numerisches Windfeld

Wind

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P. D. Gosling, B. N. Bridgens, A ­. Albrecht u.a.: Analysis and design of membrane structures: Results of a round robin exercise. In: Engineering Structures 48/2013, S. 313 – 328 8 vgl. B. N. Bridgens; P. D. Gosling: ­Direct stress-strain representation for coated woven fabrics. In: Computers and Structures 82/2004, S. 1913 –1927; F. Dieringer, R. Wüchner, K.-U. Bletzinger: Practical advances in numerical form finding and cutting pattern generation for membrane structures. In: Journal of the International Association for Shell and Spatial Structures 53/2012, S.  147 –156 9 vgl. A. Michalski, E. Haug, R. Wüchner, K.-U. Bletzinger: Validierung eines numerischen Simulationskonzepts zur Strukturanalyse windbelasteter Mem­bran­trag­ werke. In: Bauingenieur 86/2011, S. 129 10 vgl. M. Andre, K.-U. Bletzinger, R. Wüchner: A complementary study of analytical and computational fluid-structure interaction. In: Computational Mechanics 55/2015, S. 345 – 357 11 vgl. A. Bown, D. Wakefield: Inflatable membrane structures in architecture and aerospace: Some recent projects. In: Journal of the International Association for Shell and Spatial Structures 56/2015, S.  5 –16 Oben links  Seifenhautmodell eines Vierpunktsegels Oben rechts  Stromlinien um ein Vierpunktsegel Ganz links  Numerisches Windfeld über einem Stadiondach Links oben  Prinzipskizze eines numerischen Windkanals Links unten  Simulation der Winddruckverteilung auf einen Großschirm

Knut Göppert

Rechts  Speichenradprinzip

Das Speichenrad für Ringseildächer im Leichtbau

Das Speichenrad, wie jeder es vom Fahrrad her kennt, ist eine äußerst materialsparende und raffinierte Konstruktion: Beim Fahrrad werden die Lasten zwischen Boden und Achse durch Zugglieder, die Speichen, übertragen. Für die notwendige Seitenstabilität sind diese zur Nabe hin leicht gespreizt. Damit können auch quer zur Radebene wirkende Lasten abgetragen werden. Genau dies macht man sich zunutze, wenn man das Rad horizontal anordnet, um so über die gespreizten Speichen Lasten aus Wind und Schnee abzuleiten. Aber wie kann es sein, dass eine so filigrane Konstruktion derart hohe Belastungen aushält? Des Rätsels Lösung heißt Vorspannung: Die vielen dünnen Speichen des Rads sind zwischen dem Druckring (der Felge) und der Nabe vorgespannt. Durch äußere Lasten werden die Kräfte in den Speichen zwar verändert, sie bleiben jedoch immer unter Zug. Die Speichen stabilisieren die Felge und so kann auch das unter Druck stehende Tragelement sehr schlank sein. Ein solches verspanntes System, bei dem man je nach Bedarf die Nabe durch einen Zugring ersetzen kann, lässt sich in vielen Bauaufgaben einsetzen und bietet sich vor allem für weitgespannte Dachkonstruktionen an. Mit einigen Tricks und unter Berücksichtigung der entsprechenden Gleichgewichtsbedingungen gelingt es sogar, das Formenspektrum vom Kreis des Fahrrads bis hin zum gekrümmten Rechteck weiter zu entwickeln. Solche Dächer bezeichnet man als Ringseildächer. Im Wesentlichen sprechen vier Gründe für das Konstruktionsprinzip Ringseildach:

Liegendes Speichenrad

Spreizung der Speichen nach außen; zwei Druckringe, ein Mittelpunkt

Wirtschaftlichkeit – Alle inneren Kräfte werden kurzgeschlossen. Damit löst man elegant das im Leichtbau häufig auftretende Problem des großen Aufwands für die Fundamente. Zudem

Auflösung des Mittelpunkts in einen kreisrunden Zugring

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Das Speichenrad für Ringseildächer im Leichtbau

werden die Bauteile nahezu biegemomentenfrei als rein zug- oder druckbeanspruchte Tragelemente definiert, wodurch diesen optimal ausgenutzte Querschnitte und entsprechend hochfeste Materialien zugeordnet werden können. Ab einer Auskragung (Spannweite) von ca. 40 Meter sind Ringseildächer den reinen Kragdächern überlegen, wenn die Geometrie im Grundriss einen ausreichend gekrümmten Druckring zulässt. Kombiniert man eine Ringseilkonstruktion oder ein Seiltragwerk mit einer Eindeckung aus einem beschichteten, hochfesten aber trotzdem leichten Textilgewebe (Membran), ergeben sich weitere Vorteile in punkto Eigengewicht. Nachhaltigkeit – Im konstruktiven Bereich wird Nachhaltigkeit besonders durch den Energie-

verbrauch und die bestmögliche CO 2-Bilanz definiert. Vergleicht man z. B. eine Kragdachkonstruktion für ein Stadion mit der Primärkonstruktion für ein Ringseildach, so ergibt sich für letzteres ein deutlich geringeres CO2-Äquivalent, bzw. geringerer Beitrag zum Treibhauseffekt. Zudem entfallen bei Ringseildächern die üblichen hohen Aufwendungen für temporäre Unterstützungskonstruktionen während der Montage. Dies kann nochmals eine Ersparnis von bis zu 30 % der Stahlmassen ausmachen. Ästhetik – Speichenradkonstruktionen bestechen durch ihre konstruktive Eleganz. Der Betrachter entwickelt ein Verständnis für das Tragverhalten; die visuelle Leichtigkeit und der lichtdurchflutete Innenraum passen ideal zu den stattfindenden Sportereignissen.

Oben links  Olympiastadion Kiew (UA), Neubau der Gebäudehülle 2011, schlaich bergermann partner; zwei Druckringe / vorgespanntes Seiltragwerk aus 80 radialen Seilbindern Oben rechts  Estádio Maracanã, Rio de Janeiro (BR) Neubau des Dachs 2013, schlaich bergermann partner, Architekten: gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner; ein Druckring / insgesamt drei Zugringe Links und rechts  Nationalstadion Warschau (PL) 2012, schlaich bergermann partner, Architekten: gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner, JSK Architekci

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Das Speichenrad für Ringseildächer im Leichtbau

Kurze und einfache Montage – Seilkonstruktionen werden üblicherweise am Boden ausgelegt und an vordefinierten Punkten, ohne großen Aufwand zusammengefügt: In einer genau vorab berechneten Sequenz werden die Seile durch hydraulische Pressen in ihre endgültige Position gehoben und vorgespannt. Ein Vorgang, der oft schon innerhalb von zwei Wochen abgeschlossen sein kann. Auf Grundlage dieser Überlegungen ist in den letzten Jahren eine Vielzahl von Stadionbauten mit unterschiedlichen Ringseilvarianten entstanden. Aber auch für Stadionumbauten wie in Madrid und Rio de Janeiro eignet sich dieses Prinzip – bis hin zu ovalen bzw. rechteckigen Grundrissen, wofür es nur geringe Verstärkungen der vorhandenen Auflagerkonstruktionen erfordert. Beim Nationalstadion in Warschau hat man nicht nur auf gelungene Weise die Kräfte ins Gleichgewicht gebracht, sondern durch die Kombination einer festen Überdachung mit einem wandelbaren Innendach auch die Wünsche des Bauherrn nach einer Ganzjahresnutzung befriedigt. Das feste Dach wird von einer Ringseilkonstruktion getragen, die über Stützen, einem einzelnen Druckring und der Verankerung der Stützendiagonalen in den Fundamenten seine Stabilität erhält. Ergänzt wird die Konstruktion durch eine zentrale, mittig über dem Spielfeld schwebende Nadel und den 60 radialen Speichenseilen, die als Tragelemente für das wandelbare, zentral geraffte Innendach fungieren.

An diesen Seilen wird eine transluzente Membran mit 8400 Quadratmeter Fläche geführt und zentral mit doppelter Faltung gerafft. Innerhalb von 17 Minuten kann das Stadiondach vollständig geschlossen werden. Dies geschieht beim Stadion in Warschau über ein sowohl mechanisches als auch hydraulisch operierendes System (für die langen Fahrwege Seilwinden, für die kurzen Spannwege hydraulische Zylinder). Die Nadel dient aber nicht nur statisch als Druck­spreize, sondern ist auch Unterkonstruktion für die vertikal verfahrbare Garage, in der die geraffte Membran witterungsgeschützt geparkt wird. Darüber hinaus sind hier die vier Videotafeln mit einem Gewicht von 190 Tonnen befestigt.

Nationalstadion Warschau (PL) 2012, Membrangarage (oben); Untersicht des feststehenden Membrandachs und des 10 m breiten umlaufenden Glasdachs, das von den Radialseilen getragen wird (links)

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Leichtbaukonstruktion in Bewegung

Montage über der Themse. London Eye, London (GB) 2000, Jane Wernick (Arup), Marks Barfield

Das London Eye am Südufer der Themse ist mit seinen 135 Metern Durchmesser derzeit das höchste Riesenrad Europas und das viertgrößte der Welt. Die 32 vollverglasten Gondeln sind am äußeren Rand des Rads befestigt und ermöglichen so eine uneingeschränkte Sicht über die Stadt. 30 Minuten dauert eine Umdrehung. Für die Milleniumsfeierlichkeiten in der britischen Hauptstadt war es als ein Symbol auf Zeit gedacht, als Bild für den »turn of a millennium«. Ursprünglich nur für eine temporäre Nutzung geplant ist das Bauwerk mittlerweile eines der Wahrzeichen der britischen Hauptstadt. Anders als andere Riesenräder besitzt das London Eye Speichen wie ein Fahrrad und wird nur an einer Seite gestützt. Zwei geneigte, im Boden verankerte Streben tragen das Gewicht der Radnarbe nach unten ab und zwei je 2,62 Meter große und bis zu 6 Tonnen schwere Pendelrollenlager in der Nabe des Rads drehen es über der Themse. Viel Platz für eine Baustelle gab es nicht an der South Bank, auch die Zeit für den gesamten Aufbau war knapp bemessen. Da konventionelle Bauweisen zu lange gebraucht hätten, entwickelten die Planer eine Lösung, bei der die einzelnen Elemente des Tragwerks und die Kabinen in vorgefertigtem Zustand über die Themse angeliefert und vor Ort nur noch montiert werden mussten. Die eigentliche Schwierigkeit lag dann im Aufrichten des Tragwerks von der Horizontalen in die Vertikale. Die zwei RadialGroßgelenklager in den Streben, die ei­gentlich Mikrobewegungen des Winds ausgleichen, ermöglichten es dabei, das Rad in die finale Position zu schwenken. Da man in konstruktiver Hinsicht Neuland betrat und so Vergleichswerte fehlten, geschah dieser Schritt in mehreren Anläufen und mit Unterbrechnungen. Dies erlaubte den Ingenieuren, im Prozess nachberechnen und nachjustieren zu können.

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Leichtbaukonstruktion in Bewegung

Mit Holz in neue Dimensionen

Holz gehört zu den vielfältigsten und zugleich leistungsfähigsten Baustoffen. Es ist nachwachsend, speichert CO2 und ist in vielen Regionen der Erde verfügbar. Hohe Festigkeit bei geringem Gewicht, gute Bearbeitungsmöglichkeiten, hoher Wärmedurchlasswiderstand sowie sein feuchteausgleichendes Verhalten sind nur einige der positiven Werkstoffeigenschaften. Aus Holz lässt sich eine große Vielfalt an Bauprodukten aus Vollholz oder Holzwerkstoffen herstellen. Entsprechend groß sind die Einsatzbereiche, die von Tragwerks-, Außenwand- und Dachkonstruktionen sowie -bekleidungen bis hin zum Innenausbau und zu Einrichtungs- und Gebrauchs­gegenständen reichen. Neben der Anwendung im Hochbau wird Holz u. a. für den Bau von Türmen, Masten und Brücken sowie für die Errichtung von weitspannenden Tragkon­ struktionen verwendet. Auch für die Herstellung von Schalungen für Formteile aus anderen Baustoffen wie etwa Beton oder Stahlbeton kommt es zum Einsatz.

 Baustellenbetrieb    Stahl / Bewehrung  Beton   Holz   GESAMT

Treibhauspotenzial [lb/sq ft]

80

60

40

20

Obwohl Holz bereits seit Jahrtausenden als einer der wichtigsten Baustoffe gilt, wird ihm aufgrund der zunehmenden Notwendigkeit, ressourcenschonend und nachhaltig zu bauen, in Forschung, Entwicklung und Anwendung mehr Aufmerksamkeit denn je geschenkt. So bilden beispielsweise neu entwickelte Methoden beim digitalen Planen und Konstruieren die Basis für präzises, zeit- und kostengünstiges Bauen. Systemorientierte, modulare Bauweisen ermöglichen zudem die Umsetzung von anpassungsfähigen Gebäuden. Neuartige Rechen-, Fertigungs- und Montageverfahren erweitern den Einsatz von Holz in bisher nicht oder kaum erschlossenen Bereichen, wie etwa innovative Tragkonstruk­tionen oder den Hochhausbau. Bei Letzterem kommen – inzwischen immer öfter im Verbund mit anderen Baustoffen – die konstruktiven und bauphysikalischen Eigenschaften von Holz in nachhaltiger Weise zum Tragen.

Linke Seite  Centre Pompidou Metz (F) 2010, ARUP (Dachkonstruktion), Architekten: Shigeru Ban Architects und Jean de Gastines Architectes mit Philip Gumuchdjian Architects (­digitale Entwicklung / Erstellung der Referenz­geo­ metrie des Dachs) Links  Ökobilanz der CO2-Emissionen in der Herstellungsphase. Timber Tower Project (Wohnhochhaus auf Basis der DeWitt Chestnut Apartments in Chicago), SOM

0

-20

konventionelle Bauweise

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HolzHybridbauweise

Mit Holz in neue Dimensionen

Hybrides Holzbausystem: Prototyp Life Cycle Tower (LCT One) Der Brandschutz gilt als das größte Problem beim Bauen mit Holz – besonders in Deutschland, wo ein Holzbau nur bei Gebäuden bis zu einer Höhe von 22 Metern zulässig ist. Im benachbarten Österreich hingegen erreicht der Life Cycle Tower (LCT One) mit seinen acht Geschossen eine Höhe von 27 Metern. Ermöglicht wird dies durch eine Hybridsystembauweise, bei der die tragende Struktur aus vorgefertigten Fassadenelementen (Alumi­ niumverkleidung auf einer Tragstruktur aus unbehandeltem Holz) und die Decken aus einem

Holz-Beton-Verbund bestehen. Der Innenraum bleibt frei von Stützen, lediglich ein aussteifender Treppenhauskern aus Ortbeton unterstützt das System. Mithilfe der Holz-Beton-Verbundrippendecke gelingt es, die jeweiligen Geschosse durch eine nicht brennbare Schicht konsequent zu trennen. Dafür wurden die Holzbalken in eine 8,1 x 2,7 Meter große Stahlschalung eingelegt und im Vergussverfahren betoniert. Doppelstützen aus Holz in der Fassadenebene tragen die Vertikallasten. Durch den hohen Vorfertigungsgrad der Decken- und Wandelemente war ein effizienter Bauablauf möglich.

LCT ONE, Dornbirn (A) 2012, Architekten: merz kley partner, Hermann Kaufmann Architekten (oben links), Vorfertigung im Werk und Montage vor Ort (links). Das ursprüngliche Forschungsprojekt wurde gemeinsam mit dem Holzbau­ unternehmen Rhomberg sowie Arup ­entwickelt und basierte auf der Idee »Holzbauten bis 100 Meter Höhe«. Das FEM-­Modell und die farbcodierte dynamische Verformung unter Windlast zur Ermittlung möglicher Gebäudebewe­ gungen zeigen den Entwurf eines ­20-geschossigen Holzbaus (oben) Rechte Seite oben links  Illwerke Zen­trum Montafon (IZM) in Vandans (A) 2015, Architekten: merz kley partner, Hermann Kaufmann Architekten Rechte Seite oben rechts Wohnhochhaus für Studenten in Vancouver (CDN) 2017, Architekten: Acton Ostry Architects, Hermann Kaufmann Architekten Rechts  aktivhaus, erstmals realisiert in Winnenden / Stuttgart (D) 2016, Werner Sobek

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Was als interdisziplinäre Forschungsarbeit begann, fand seine Weiterentwicklung im Bürogebäude der Illwerke mit knapp 10 000 Quadratmetern Nutzfläche, das ebenfalls über Holz-­Beton-­ Rippenverbunddecken verfügt. Das 18-stöckige Studentenwohnheim in Vancouver indes folgt einem konstruktiven System, bei dem Brettschichtholzstützen über stan­dardisierte Steckverbindung aus Stahl mit den Brettsperrholzdeckenplatten verbunden sind.

Prototypen modularer Leichtbauweise Möglichst wenig Energieverbrauch bei der Her-

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stellung, ein nachträglich sortenreines Zerlegen und Recyceln, aber dennoch ästhe­tisch ansprechende Gestaltung waren die selbstgesteckten Ziele für das »aktivhaus«. Diese schlüsselfertigen Wohnboxen in Holzständerbauweise sind mit 28 cm dicken Holzfaserplatten gedämmt und mit einer imprägnierten Lärchenholzschalung bekleidet. Ein Lkw kann die vorgefertigten Boxen anliefern, lediglich das Fundament muss aus Beton gegossen werden. Mit einer vereinheitlichten Verbindungstechnik lassen sich die einzelnen Einheiten je nach Anforderung unterschiedlich zusammensetzen. Das System eignet sich vor allem auch für temporäre und kurzfristige Nutzungen.

Mit Holz in neue Dimensionen

Centre Pompidou Metz (F) 2010, ARUP (Dachkonstruktion), Architekten: Shigeru Ban Architects und Jean de Gastines Architectes mit Philip G ­ umuchdjian Architects ­(digitale Entwicklung / Erstellung der ­Referenzgeometrie des Dachs) Oben 3D-Modell des Dachs und unterschied­ liche Geometrien der Elemente, ganz links Einzelteile der Dachkonstruktion und links der Blick in einen der Fußpunkte während der Montage.

Von der Formfindung zur Fertigung 2010 erhielt das berühmte Pariser Centre Pom­ pi­dou im Stadtzentrum von Metz eine Dependance. Drei Ausstellungsboxen sowie Veranstaltungs- und Restaurantflächen werden von einem freigeformten 8500 Quadratmeter großen Dachtragwerk überspannt. Im Inneren entstand ein Raum mit bis zu 37 Metern Höhe. Abends zeichnet sich unter der transluzenten Dachmembran deutlich das Muster der Holzkonstruktion ab. Diese netzartige Struktur ist von einem traditionellen chinesischen Strohhut inspiriert, dessen sechseckiges Geflecht hier in ein Tragwerk aus Brettschichtholzträgern übersetzt wurde. Das Dach ist an einem zentralen Mast und den Ausstellungsboxen mit großen Stahlringen befestigt. Vier trichterförmige Stützen entwickeln sich organisch aus dem Dach und stützen es am Boden. Ohne digitale Werkzeuge wäre das freigeformte Dach nicht zu realisieren gewesen: Aus der architektonischen Idee galt es eine konstruier­ bare Form zu entwickeln und diese wiederum in ein Tragwerk zu übersetzen. Hierzu war eine enge Zusammenarbeit zwischen Architekten,

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Rechts oben  Visualisierung der Trag­ struk­tur. Timber Tower Project – Wohnhochhaus auf Basis der DeWitt Chestnut Apartments in Chicago (USA) 2013, SOM Rechts unten  Visualisierung der Tragstruktur. Büro- und Geschäftshaus HoHo Wien (A) Fertigstellung vsl. 2018, Architekten: RLP Rüdiger Lainer + Partner

Ingenieuren, Programmierern und Zimmerern notwendig. Wesentlich im Entwicklungsprozess war dabei ein komplexes digitales 3D-Modell, das die Bauteilgeome­trie jedes einzelnen Elements berechnete: Denn das Dach besteht aus fast 1800 doppelt gekrümmten, individuell CNCgefrästen Leimholz­segmenten (insgesamt ca. 18 000 laufende Meter), die sich in drei Varianten zusammenschrauben lassen.

Holz im Höhenrausch Angesichts des hohen Rohstoffbedarfs gegenüber knapper werdender natürlicher Ressourcen sind neue Konzepte gefragt. Nachwachsende Rohstoffe spielen hierbei eine wesentliche Rolle, es entstehen stärkere Konstruktionen der Mate­rialien – war Holz schon immer ein wichtiger Baustoff, so wird er nun »weitergedacht«. Und so gibt es zurzeit weltweit Prototypen, bei denen weniger nachhaltige Baustoffe durch Holz ersetzt werden, um auf diesem Wege Zement und Stahl mit ihren hohen CO2-Emissionen bei der Herstellung zu reduzieren. Ein Ansatz dabei ist die Hybridbauweise aus Holz und Stahlbeton, bei der jedes Material die Aufgabe übernimmt, für die es sich am besten eignet. Während in Deutschland Brandschutzauflagen die Entwicklung solcher Bauten erschweren, gibt es beispielsweise in Schweden Strategien zur Holzbauförderung: 50 % der Neubauten in der Stadt Växjö sollen bis 2020 eine im Wesentlichen aus Holz erstellte Tragstruktur aufweisen: Einige acht- und neungeschossige Wohungsbauten sind bereits fertiggestellt, auch in Stockholm entsteht im Zentrum ein hölzerner Wohnturm mit 34 Stockwerken, dessen Fertigstellung bis 2023 geplant ist. Dieser besteht außen aus Holz, einem Betonkern im Inneren und aus mit Holz ummantelten Stahlträgern. Denn bei hohen Tempe­raturen knickt Stahl ein, während verkohltes Holz noch lange seine statischen Eigenschaften behält. Der jüngste Rekordhalter hinsichtlich »Hochhäusern aus Holz« ist das derzeit im Bau befind­liche HoHo in Wien, das mit seinen 24 Geschossen eine Höhe von 84 Metern erreichen wird. Der Hybridbau aus Beton und Holz verfügt über drei Teile, die jeweils durch vertikale Erschließungskerne und Wandscheiben aus Beton ausgesteift sind. Ein reines Forschungsprojekt ist dagegen der »Timber Tower« von SOM: 2013 untersuchte SOM, ob sich das 42-geschossige DeWitt Chestnut Apartment Building in Chicago (1966) in einer Holz-Hybridkonstruktion nachbauen lie­ ße. Gegenüber dem (Stahl-)Gebäude aus den 1960er-Jahren würde die Konstruktion des in Holz ausgeführten Gebäudes nur ein Viertel des CO2-Ausstoßes verursachen.

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Mit Holz in neue Dimensionen

Material und Entwurf – hybrid ist die Zukunft?

Hybrides Bauen wird die Zukunft bestimmen. Allerdings hat es auch schon die Vergangenheit bestimmt und war – dem Modewort des »hybriden Bauens« zum Trotz – schon immer üblich, zumindest seitdem die Menschen Städte bauen. Fundamente und Kellergewölbe aus Stein, darüber ein gemauertes Erdgeschoss und dann ein Holz-Fachwerkbau mit Lehmausfachungen, das war hybrides Bauen. Ebenso die Mauerwerksbauten der Gründerzeit mit Decken und Dächern aus Holz. Die großartigen Kirchenbauten des Mittelalters entstanden als hybride Konstruktionen aus Naturstein, Holz sowie ab und zu sogar geschmiedeten Zugbändern oder Verbindungen aus Metall. Auch die eindrucksvollen Bahnhofshallen des vorletzten und letzten Jahrhunderts wie z. B. der Bahnhof in Kopenhagen sind häufig Hybride aus Gusseisen, Mauerwerk, Holz und Glas. Die herkömmliche Einteilung der Bauweisen in Betonbau, Mauerwerksbau, Stahlbau oder Holzbau ist sehr stark vereinfachend. Sie kann allenfalls eine Kategorisierung der Bauten nach dem jeweiligen »Leitbaustoff« sein. Und selbst dann stellt sich die Frage: Was heißt leitend – entscheidet Gewicht, Menge, Fläche, Kosten? Schon immer fanden Materialien Verwendung, die möglichst ortsnah vorhanden, ökonomisch erschwinglich und im jeweiligen Einsatzgebiet am einfachsten zu gewinnen, zu verarbeiten und zu verbauen waren. Die Materialien haben die Formfindung und den Tragwerksentwurf beeinflusst und die Baumeister der unterschiedlichen Epochen dazu angespornt, die Eigenschaften möglichst optimal zu nutzen. In diesem Sinne war und ist das Bauwesen von Beginn an dem Gedanken der Effizienz verpflichtet, von den Bogenbauwerken der Römer über HANS ULRICH GRUBENMANNs kühne Holz- und ROBERT MAILLARTs ebenso gewagte

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Stahlbetonbrücken bis zu den Hochhausbauten unserer Zeit.

Innovativer Materialeinsatz So wie die natürlichen Baustoffe Stein und Holz den Entwurf beeinflusst haben, so haben das erst recht die neuen, künstlich geschaffenen Baustoffe wie Stahl, Glas und Stahlbeton getan. Ein neues Material beflügelt die Fantasie, will ausprobiert sein, seine Grenzen sollen gestalterisch und technisch erfahren werden. Zu den Baustoffen gehörte und gehört – neben der Lust, sie auszuprobieren und ihre Grenzen zu entdecken – immer auch eine wissenschaftlich basierte Beschreibung ihrer Material-, Festigkeits- und Steifigkeitseigenschaften sowie die Entwicklung neuer Fertigungs- und Berechnungsmethoden. Daher sind mit neuen Materialien und Formen ebenso neue Prüfverfahren, Berechnungsmethoden und Standards verbunden.

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Stefan Winter

Unten  Hauptbahnhof in Kopenhagen (DK) 1911, Architekt: Heinrich Wenck Rechts oben  Verschiedene von Otto ­Hetzer entwickelte Holzbalken und -träger (»Hetzer-Träger«): links ein parabelförmig zusammengesetzter Balken (Patent Nr 163144, 1903), rechts unterschiedliche Holzfachwerkträger (Patent 225687, 1907) Rechts unten  Saldome 2, Salzlagerhalle der Saline Riburg, Rheinfelden (CH), Jürg Fischer, SIA

Doch das Material ist nicht allein der Treiber technischer Entwicklung. Zu einer erfolgreichen Verwendung gehören immer das ingenieurtechnische Modell und die Möglichkeit der Herstellung und Verwendung zu akzeptablen Kosten. Es kommt jedoch durchaus vor, dass ein »altes« Material durch den Einsatz neuer Fertigungsverfahren zu völlig neuen Anwendungen kommt. Die heutige Präzision vorgefertigter Holzbauten beispielsweise ist der millimetergenauen Planung und Fertigung in CAD-/CAM-Prozessen geschuldet. Und die aktuelle Entwicklung der additiven Fertigung (3D-Druck) eröffnet z. B. dem Bauen mit Beton, Stahl, Kunststoff und holzbasierten Stoffen völlig neue Anwendungsbereiche. Aber neue Bauverfahren wie die additive Fertigung erfordern neue Entwurfssystematiken, eine neue Bauprozessorganisation, einen anderen Bauablauf und stets auch eine Weiterbildung aller Beteiligten.

Architektur und Material bestimmen den Tragwerksentwurf gemeinsam. Die Materialfestigkeit und Steifigkeit, das Gewicht und die verfügbaren geometrischen Abmessungen beeinflussen die statischen Systeme und Tragwerksformen: Bögen und Kuppeln benötigen druckfeste und drucksteife Materialien, Seile und Membranen genügend Zugfestigkeit und -steifigkeit, Platten und Biegestäbe müssen eine Biegebeanspruchbarkeit aufweisen etc. Die jeweils verfügbaren technischen Möglichkeiten der Verbindungstechnologien beeinflussen die Fertigungsprozesse und die Größe der Tragwerke zusätzlich. Im Stahlbau lauten die Evolutionsschritte Schmieden – Nieten – Schrauben – Schweißen. Moderne Stahlbrücken sind vollgeschweißte Konstruktionen und nicht mehr aus kleinen Querschnitten und Tausenden von Nieten zusammengesetzt. Im Stahlbetonbau werden vorgefertigte Bau­ teile aus Fertigbeton mit hochleistungsfähigem Vergussmörtel verbunden und ein moderner Holzbau ist ohne Verklebungen, hochpräzisen Abbund von 3D-Verbindungen oder den Einsatz von Vollgewindeschrauben kaum mehr denkbar. Die richtige Materialwahl und der Tragwerksentwurf erzeugen die erforderliche Robustheit und Dauerhaftigkeit der Tragwerke in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen.

Effizientes Bauen Ebenso wie das hybride Bauen ist auch die Berücksichtigung der Ressourceneffizienz keine neue Erfindung. Ob nun monetär oder aus der Verfügbarkeit heraus begründet – mit möglichst geringen Mitteln bestmögliche Wirkung zu erzielen, ist seit Jahrhunderten ein Grundsatz der Baumeister. Ist also alles schon erfunden? Gibt es keine spannenden Entwicklungen mehr? Können Ar-

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Material und Entwurf – hybrid ist die Zukunft?

chitekten und Bauingenieure einfach die jahrhundertealten Traditionen mit ein paar neuen Zutaten würzen – sprich neuen Materialien wie z. B. Carbon, die Dank der Globalisierung unbegrenzt verfügbar scheinen – und so weiterbauen wie bisher? Nein, denn heute treten weitere Aspekte hinzu, die die Materialwahl und damit den Tragwerksentwurf zunehmend beeinflussen. Das wichtigste Thema ist die Energieeffizienz, nicht nur im Betrieb der Gebäude, denn hier sind Passivhäuser oder Plusenergiehäuser mittlerweile oft schon Standard. Wichtiger wird daher die Frage, wie viel Energie unsere Gebäude für die Herstellung der Baustoffe, die Errichtung und schließlich für Abriss und Wiederverwertung verbrauchen. Die Berechnung sogenannter Lebenszyklusanalysen (Life Cycle Assessment – LCA) stellt die Umweltwirkungen von Gebäuden dar. Sie zeigen, dass durch die Optimierung der Energieverbräuche während der Nutzung inzwischen der Energiebedarf für Herstellung und Abriss der Gebäude überwiegt. Damit verknüpft ist die Frage der nachhaltigen Verfügbarkeit von Baustoffen. Viele werden aus endlichen Ressourcen hergestellt, teilweise in Prozessen, die einen sehr hohen Energiebedarf haben. Beton besteht aus Kies, Sand, Zement und Wasser. Sand, der sich für die Herstellung von Betonen eignet wird in einigen Teilen der Erde gerade knapp. Die HProduktion von Zement – gebrannt aus Kalkstein und Ton – verursacht weltweit ca. 7 % der CO2-Emissionen. Aluminium wird mit sehr hohem Energiebedarf aus Bauxit erschmolzen etc. Ein nachhaltig bewirtschafteter Wald dagegen liefert heute Holz – und in 1000 Jahren immer noch. Für alle Baustoffe ist wegen zunehmender Verknappung die Frage der Wiederverwendbarkeit zu stellen. In Deutschland beträgt der derzeitige Materialbestand nur in Gebäuden allein ca. 14,72 Milliarden Tonnen!1 Bei einer planmäßigen Lebensdauer unserer Bauwerke von 50 Jahren wird die Wiedergewinnung der Baustoffe aus den Bauwerken – das sogenannte Urban Mining – also eine wesentliche Bedeutung gewinnen (bisher werden »nur« ca. 8 Millionen Tonnen pro Jahr recycelt). Die Bauindustrie muss lernen, recyclinggerecht zu konstruieren, sodass idealerweise Bauwerke entstehen, die sich ohne großen (Energie-) Aufwand wieder in ihre Ausgangsbaustoffe zerlegen lassen. Der Haken daran: Man muss heute Dinge tun und bezahlen, von denen man selbst nicht mehr profitiert. Bauherren und damit ihre Planer müssen also wie Förster agieren und Generationen übergreifend nachhaltig handeln. Ein weiterer Aspekt, der bei der Materialwahl zu berücksichtigen ist,

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ist die mögliche Belastung der Atemluft durch Emissionen aus den Baustoffen. Durch ihr thermisch-hygrisches Verhalten beeinflussen Materialien zudem Raumtemperatur und relative Luftfeuchte. Dank ihrer optischen und haptischen Wirkung stellen Baumaterialien wesentliche Elemente der Gestaltung dar. Und sie werden in Zukunft als hybride Baustoffe noch mehr können: Es ist z. B. möglich, Betone so zu modifizieren, dass sie als Solarzelle fungieren und Strom erzeugen oder als Schaltfläche für die Innenraumbeleuchtung dienen. Bauteile lassen sich zur Heizung und Kühlung aktivieren oder dienen zur Integration von Lüftung – alles hybrid. Allerdings ist das alles ohne qualifizierte Arbeitskräfte nicht möglich. Moderne und traditionelle Baustoffe erfordern ein umfangreiches Wissen – vom Maurer, der ein hochwertiges Sichtmauerwerk errichtet, über den Betonbauer und seine Bewehrungskenntnisse, den Schweißer, der Schweißreihenfolgen kennen muss, bis hin zum Holzbauer, der heute mit vielfältigen neuen Holzbaustoffen und computergestützter Fertigung umzugehen hat. Das spricht insgesamt für ein weiteres Verlegen von Arbeiten auf der Baustelle hin zu industrieller Vorfertigung in einem gesicherten und kontrollierbaren Umfeld.

Holz als Baustoff der Zukunft Viele der vorgenannten Aspekte unterstützen die rasante Renaissance des Holzbaus: Holz ist der einzige nachhaltig erzeugbare Baustoff, der weltweit in den erforderlichen Mengen und mit den notwendigen Eigenschaften und Abmessungen zur Verfügung steht. Es wächst in Wäldern, die zumindest in Europa alle entsprechend dem von Hans Carl von Carlowitz vor über 300 Jahren eingeführten Prinzip der Nachhaltigkeit bewirtschaftet werden – die entnommene Holzmenge pro Jahr entspricht höchstens dem jährlichen Zuwachs. Holz weist im Vergleich mit anderen Baustoffen das beste Leistungsgewicht auf (Verhältnis von Festigkeit zu Rohdichte) und sein geringes Gewicht erlaubt große vorgefertigte Elemente. Holz ist seit der Entwicklung des großformatigen, massiven Brettsperrholzes gemeinsam mit Stahlbeton der einzige Werkstoff, aus dem sich Stäbe und Flächen als Konstruktionselemente fertigen lassen. Die Konstruktionssystematik mit Stütze, Balken, Platte und Scheibe ist völlig identisch – und durch die Kombination zu Holz-Beton-Verbunddecken und -wänden kommt oft eine hybride Bauweise zum Einsatz. Seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass Holz die Stadt zurückerobert – durch

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1 Umweltbundesamt (Hrsg.): Kartierung des anthropogenen Lagers in Deutschland zur Optimierung der Sekundärrohstoffwirtschaft. UBA Texte 83/2015. Dessau-Rohlau 2015

Rechts  Wohnhochhaus für Studenten in Vancouver (CDN) 2017, Architekten: ­Acton Ostry Architects, Hermann Kaufmann Architekten

hohe Häuser aus Holz sowie vielfältige Maßnahmen bei der Nachverdichtung. Diese stellt eine der wichtigsten heutigen Bauaufgaben dar, und für z. B. Aufstockungen, das Schließen von Lücken sowie Anbauten eignet sich der Holzbau besonders. Sollte folglich also nur noch mit Holz gebaut werden? Fast – denn wie bei jedem Baustoff gilt es, die Besonderheiten zu beachten. Eine davon ist die ausgeprägte Anisotropie des Materials. Man kann sich die Struktur wie ein Röhrenbündel vorstellen, in Faserrichtung mit hohen Festigkeiten, quer dazu jedoch um den Faktor 10 kleiner. Spaltneigung sowie Rissbildung sind daher zu beachten. Ähnliches Pro und Contra gibt es in der Bauphysik (Schallschutz, Feuchteschutz), beim Brandschutz, bei der Auswirkung auf das Innenraumklima und beim Holzschutz. Holz erfordert ein auf gutem Fachwissen basierendes, werkstoffgerechtes Konstruieren. Doch steht überhaupt genug Holz in den Wäldern zur Verfügung, um den zunehmenden Baubedarf zu decken? Die Antwort lautet für unsere nachhaltig bewirtschafteten Wälder uneingeschränkt: Ja – allerdings verbunden mit einem Rückgang an Nadelhölzern und einer zunehmenden Ernte von Laubhölzern aufgrund

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des klimabedingten Waldumbaus. Dies eröffnet wiederum neue Perspektiven und Möglichkeiten, da Laubhölzer höhere Festigkeiten und Steifigkeiten aufweisen und damit schlankere, leistungsfähigere Bauteile ermöglichen. Dazu kommen die zunehmenden Möglichkeiten der Holzmodifikationen. Neben Thermoholz sind Mineralisierung, Magnetisierung oder die Adaption elektrischer Leitfähigkeit nur einige der Möglichkeiten. Ist Holz damit der Baustoff des 21. Jahrhunderts? Ja, aber nicht allein. Entscheidend ist, insgesamt mehr nachhaltig erzeugbare Stoffe für das Bauen zu verwenden. Holz und der Holzbau werden dazu beitragen und eine Menge spannender Entwicklungen liefern. Durch sinnvolle Kombination mit anderen Baustoffen entsteht das hybride Bauen der Zukunft, bei dem jedes Material für seine Bauaufgabe den optimalen Einsatz findet. Darin besteht die Kunst des Bauens, der Architektur, der Bauingenieure: sinnvolle Kombinationen finden und weiterentwickeln, die den Menschen durch Dauerhaftigkeit, Robustheit und Sicherheit dienen und die bestenfalls auch noch »schön« sind, also den Nutzern gefallen. Denn dann werden sie gepflegt und erhalten – unabhängig vom Material ist das der nachhaltigste Weg des Bauens!

Material und Entwurf – hybrid ist die Zukunft?

Hoch hinaus

1 Rainer Graefe, Murat Gappoev, Ottmar Pertschi: Vladimir G. Šuchov. 1853 –1939. Die Kunst der sparsamen Konstruktion. Stuttgart 1990, S. 18

Linke Seite  Burj Khalifa, Dubai (VAE) 2010, 828 m, Bill Baker/SOM Unten (von links nach rechts)  Eddystone Lighthouse, Plymouth (GB) 1759, 22 m, John Smeaton Eiffelturm, Paris (F) 1889, 301 m, ­Gustave Eiffel zusammen mit Maurice Koechelin und Émile Nouguier Šabolovka-Radioturm, Moskau (RUS) 1922, 150 m, Vladimir Šuchov Stuttgarter Fernsehturm, Stuttgart (D) 1956, 217 m, Fritz Leonhardt

Der Wille, Grenzen zu überschreiten ist für Ingenieure eine der Voraussetzungen, um sich den Bedürfnissen der Gesellschaft zu stellen. Höher, schneller, weiter wird gesteigert zum Komplexeren, Fragileren und Flexibleren. Das technisch Denkbare wird zum Machbaren, hier reicht das Spektrum vom sinnvoll Rationalen bis zum emotionalen Wert des Monumentalen. Herausforderung und Experiment gehen dabei nicht selten Hand in Hand. Der erste bemannte Flug zum Mond am 16. Juli 1969 war weit mehr als die Leistung, einen Erdtrabanten zu erreichen. Er war auch mehr als das Ergebnis eines politischen Wettlaufs, sondern eröffnete eine nie dagewesene Perspektive auf die Erde.

Informationen gehen um die Welt Bevor die Höhe bewohnbar wurde, dienten Türme der Information: Mit Signalwirkung als Leuchtturm an der Küste oder als Aussichtsund Wachturm an Land. Waren der Höhen­ entwicklung noch lange Zeit Grenzen gesetzt, so änderte sich dies 1889 mit dem Eiffelturm, der gebauten Vision eines Turms von bisher unerreichter Höhe – und einer gelungenen Demonstration dessen, was technisch möglich

ist. In den folgenden Jahrzehnten wurde die moderne Welt unruhiger, Revolutionen, politische Umwälzungen und später auch die Wirtschaftskrise beschäftigten die Bevölkerung. Die Elektrifizierung hielt Einzug, Kinofilme wurden farbig – und das Radio eroberte als neues Medium den Alltag. Türmen kam nun eine neue Bedeutung zu: Als Sendemasten dienten sie der Informationsverbreitung einer sich immer stärker vernetzenden Gesellschaft. Beispielhaft dafür ist VLADIMIR ŠUCHOV s ŠabolovkaRadioturm von 1922 in Moskau, der als »Trompete der Radiorevolution«1 bezeichnet wurde. Zum Einsatz kam hier ein neuer Tragwerkstyp, ŠUCHOVs hyperboloider Gitterturm. Aufgrund der leichten und schnellen Bauweise fand diese anschließend vielfach Anwendung – nicht nur für Sendemasten, auch für Wassertürme oder Hochspannungsmasten. Ähnlich revolutionierte Fritz Leonhardt mit seinem Stuttgarter Fernsehturm in den 1950erJahren die Welt der Turmkonstruktion: Erstmals wurde ein Turm aus Beton errichtet, Nachahmer um den ganzen Globus folgten. Zu dieser Zeit war der Kampf um Höhenrekorde zwischen »Wohntürmen« längst zum Alltag geworden. Und nicht zuletzt durch neue Wege der Datenübermittlung haben Türme seitdem weiterhin an Funktion und Bedeutung verloren – und auch das technische Kräftemessen und Zurschaustellen haben längst die »Supertalls« übernommen.

Meilensteine auf dem Weg in die Höhe Das Hochhaus ist der innovative Bautypus des 20. Jahrhunderts und eine Erfindung der Neuen Welt, die »den ersten wirklichen Beitrag Amerikas zur Geschichte der Architektur darstellt«, wie es Edwin Avery Park 1927 in seinem Buch New Backgrounds for a New Age schrieb.

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Hoch hinaus

Eine entscheidende Initialzündung für den Hochhausbau war der absturzsichere Aufzug. In einem spektakulären Selbstversuch präsentierte Elisha Otis 1853 seine epochale Erfindung auf der Industrieausstellung in New York. Im E.V. Haughwout Building wurde 1857 Otis‘ Aufzug dann erstmals eingebaut. Was folgte, war innerhalb von rund 150 Jahren ein rasanter Höhenanstieg vom »hohen Haus« über den »Skyscraper« bis hin zu den »Supertalls«, die sich der Marke von einem Kilometer nähern. Auf dem Weg nach oben ließen sich die Ingenieure des 19. Jahrhunderts auch von den Brückenbauern inspirieren, technische und konstruktive Innovationen haben zudem ebenso die Höhenentwicklung und Kubatur beeinflusst wie Materialien und letztendlich auch rechtliche Auflagen der Städte. Die Verwendung zunächst von Eisen für die innenliegende Tragwerksstruktur bis hin zum tragenden Stahlskelett ermöglichten dabei die nächsten Stufen zur Steigerung der Höhe. Es folgte die »Auflösung« der tragenden Außenwände aus Stein – der Höhenentwicklung waren keine Grenzen mehr gesetzt. Da elektrisches Licht Einzug in die Städte hielt, ließen sich auch die aufgrund der Grundrissgestaltung tief im Gebäudeinneren liegenden Räume besser nutzen.

Die in Chicago nach dem großen Brand von 1871 entstandenen ersten Hochhäuser waren aufgrund der Feuersicherheit noch mit einer Steinfassade ummantelt. Das änderte sich, als Mitte des 20. Jahrhunderts die Ingenieure die »Curtain wall« der Industriebauten für ihre Fassaden übernahmen: Hüllen aus dünnen Metallprofilen und Glas wurden unabhängig von der Tragstruktur als Vorhangfassade vor die äußeren Deckenkanten des Gebäudes montiert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich Bauingenieure vor allem auf effiziente Tragstrukturen – dies waren hauptsächlich Stahlkonstruktionen. Derzeit finden wieder Verbundsysteme aus Beton und Stahl Verwendung, eine Herausforderung vor allem für die Betontechnologie, die dazu Fließbetone entwickelt, die zwar hochfest und schnell härtend sein sollen, sich aber trotzdem noch in große Höhen pumpen lassen. Waren Hochhäuser anfangs der gängige Bautyp für Kaufhäuser und Bürogebäude 2, so etablierte sich bald auch das Wohnen im Turm als gängige Wohnform– zunächst in Amerika, viel später auch in Europa. Hier sei beispielhaft das Marina City genannt, das zu seiner Eröffnung 1962 das höchste Wohngebäude der Welt war.

2 Die Hochhäuser der ersten Generation (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) in Chicago werden inzwischen als »Chicago Commercial« bezeichnet. Siehe dazu auch Robert Bruegmann: Myth of the Chicago School. In: Charles Waldheim, Katerina Ruedi Ray (Hrsg.): Chicago Architecture. Histories, Revisions, Alternatives. Chicago 2005. S. 15 – 29 Daniel Bluestone: Preservation and Renewal in Post-World War II Chicago. In: Journal of Architectural Education. Vol. 47, No. 4 (Mai, 1994), S. 210 – 223

Unten  Auswahl einiger Bauten, die für technische und konstruktive Innovationen sowie Einflüsse auf die Entwicklung des Hochhausbaus stehen (angegeben ist die architektonische Höhe des Gebäudes).

800 m

bis 400 m

bis 200 m

bis 100 m

M 1:3000

1885  Home Insurance Building, Chicago (USA), 55 m. William Baron Le Jenny. Mit seinen 10 Etagen gilt es als eines der ersten Hochhäuser der Welt.

1894  Chicago Stock Exchange Building, Chicago (USA), 57 m. Sullivan & Adler. Das Gründungsprinzip von Brücken (Caisson-Gründung) wurde erstmalig im Hochhausbau verwendet.

HÜLLE + RAUM  |  Türme und Hochhäuser

1895  Reliance Building, Chicago (USA), 61 m. Architekten: John Wellborn Root / Charles B. Atwood. Skelettbau und eines der ersten Gebäude ohne tragende Mauern. Fassade mit großflächigen Fensterelementen.

1931  Empire State Building, New York (USA), 381 m. William F. Lamm, Homer G. Balkon. Die Kubatur des sich nach oben verjüngenden Hochhauses geht auf die Bauzonenregulierung in New York von 1916 zurück.

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1952  Lever House, New York (USA), 92 m. SOM / Gordon Bunschaft. ­Eines der ersten Hoch­ häuser mit »Curtain Wall«

M 1:3000 alle bis auf burj

Annette Bögle, Christian Hartz, Bill Baker

An der Grenze des Machbaren

Seit jeher verspüren die Menschen den Wunsch, in die Höhe zu bauen. Hiervon zeugen die Geschichte vom Turmbau zu Babel, die Geschlechtertürme von San Gimignano in der Toskana oder auch die vielen gotischen Kirchenbauten in Europa. Türme und hohe Gebäude dienen bis heute der Darstellung, des Erbauers und / oder des Nutzers, und der Aussicht in die Ferne –

als funktionale Anforderung oder emotionales Erlebnis. Gerade in der heutigen Zeit sprechen auch wirtschaftliche Gründe dafür, Innenstädte durch Hochhäuser zu verdichten, idealerweise in Verbindung mit städtebaulichen und ökologischen Aspekten. Dabei werden immer größere Höhenrekorde angestrebt und aufgestellt. Eine Entwicklung, die einerseits durchaus kritisch zu betrachten ist – andererseits aber entscheidende technische Weiterentwicklungen mit sich bringt. Hochhäuser müssen zwei wesentliche technische Anforderungen erfüllen: die Vertikalversorgung des Turms, also eine funktionierende Haustechnik und insbesondere ein sicheres vertikales Transportsystem, sowie ein Tragsystem, das die mit der Höhe zunehmenden Lasten sicher ins Fundament abträgt.

Nutzung und Versorgung

M 1:6000

M 1:3000

1965  DeWitt-Chestnut Apartments, Chicago (USA), 120 m. Fazlur Kahn / SOM. Erstmals biegesteifes System aus fassadennahen Stützen und horizontalen Riegeln, dem »Framed tube«.

1973  U.S. Bank Center, Milwaukee (USA), 183 m. Fazlur Kahns »Outrigger System« wird zu einem der wichtigsten Tragwerke: Eine steife, geschosshohe Konstruktion verbindet den Hochhauskern mit den tragenden Außenstützen.

M 1:6000

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2010  Burj Khalifa, Dubai (UAE), 828 m. Bill Baker / SOM. Mit dem »Buttressed Core« als Tragstruktur gelang erstmals ein Turm mit einer Höhe von 800 m.

M 1:6000

M 1:5000

Die Nutzung eines Hochhauses wäre ohne die Erfindung des absturzsicheren Aufzugs (auch als »vertical railway« bekannt) durch Elisha Otis undenkbar. Flächenmäßig nimmt die Erschließung einen beträchtlichen Anteil ein. Es gilt nicht nur einen Aufzug einzuplanen, die hohe Zahl an Menschen, die ein Hochhaus nutzt, erfordert ein ausgeklügeltes System aus Express-Aufzügen, die nur bestimmte Etagen bedienen, und lokalen Aufzügen, die in jeder Etage halten. Insgesamt beträgt der Anteil an nicht vermarktbaren Flächen eines Hochhauses z. B. in Chicago im Schnitt 15 %, beim Burj Khalifa (2010), dem derzeit höchsten Hochhaus der Welt, sind es sogar 35 %. Neben den für die Erschließung nötigen Flächen umfasst dies auch Räume für die energetische Versorgung und die stoffliche Ver- und Entsorgung. Dabei ist bei Hochhäusern die Berücksichtigung aller Aspekte der Nachhaltigkeit aufgrund der

An der Grenze des Machbaren

­ imensionen und der Bauweise (Exponiertheit) D noch wichtiger als bei kleineren Bauvorhaben.

Hoch und höher Je höher ein Gebäude oder auch je weiter eine Brücke, desto wichtiger wird es, diesen Strukturen ein effizientes Tragwerk zugrunde zu legen. Nur wenn die Tragstruktur mit einem geringen Eigenwicht eine hohe Nutzlast ermöglicht, werden beispielsweise die aktuellen Rekorde im Hochhausbau möglich. Zusätzlich zu den primär vertikalen Eigengewichts- und Nutzlasten müssen alle Konstruktionen, aber in besonderem Maße Hochhäuser, den Windkräften und den bei Erdbeben auftretenden Kräften widerstehen. Auf großmaßstäblicher Ebene betrachtet ist ein Turm – also auch ein schlankes Hochhaus – ein riesiger vertikaler Kragarm und damit ein einfach zu berechnendes, statisch bestimmtes System. Als effizientes Tragwerk ist dieses so zu konzipieren, dass es unter Vertikallasten nicht ausknickt und gleichzeitig horizontale Bewegungen, also Schwingungen, nur in einem akzeptablen Maß auftreten, um die Gebrauchstauglichkeit zu gewährleisten. Gerade die Größe und die Auswirkungen (Schwingungen) der Windlasten entstehen im Wechselspiel mit dem Gebäude, dessen Höhe, äußerer Form und seinem inneren konstruktiven System. In der Komposition dieses Zusammenspiels besteht die hohe Kunst des Hochhausbaus, erst ihre Vollendung macht hohe und höchste Gebäude möglich.

die Schubverformungen nicht wie bei der vereinfachten linearen Theorie vernachlässigbar sind. Um an die Grenze des Machbaren zu gelangen, ist es erforderlich die unvermeidlichen Schubverformungen auf ein Minimum zu reduzieren. Beispielsweise galt lange der Willis Tower in Chicago mit seinem »bundled framed tube« (gebündelte Röhrenstruktur) mit einem Anteil der Schubverformungen an der Gesamtverformung von unter 30 % als höchsteffiziente Struktur. Dieser Wert ließ sich aber für die Rekordhöhe des Burj Khalifa mit einem neuen Tragsystem, dem »buttressed core« (gestützter Kern), auf bis zu 10 % reduzieren.

Torsionskräfte Wind- und Erdbebenkräfte stellen auch deshalb eine Herausforderung dar, weil sie von allen Seiten auf das Gebäude wirken können. Dies führt dazu, dass das Gebäude sich nicht nur verbiegt, sondern auch um seine Achse verdrehen – tordieren – möchte. Insbesondere unter Erdbebenbelastung kann dies einen maßgeblichen Bemessungsfall darstellen. Um dieser Beanspruchung entgegenzuwirken, muss das Gebäude Torsionssteifigkeit besitzen. Dabei gilt, dass geschlossene Querschnitte geometriebedingt einen weitaus höheren Widerstand gegen Verdrehen haben als offene. Die Tragsysteme der Hochhäuser ­erfüllen diese

Horizontale Kräfte Nicht nur die Summe der Horizontalkräfte steigt mit der Höhe, sondern auch deren Stärke. Der ingenieurmäßige Umgang mit den Horizontalkräften, die vornehmlich aus Wind resultieren und nach oben hin nicht linear zunehmen, spiegelt sich in der Entwicklung der Tragsysteme von Hochhäusern. Im Kragarm führen die horizontalen Lasten zu Biege- und Schubbeanspruchung. Die Biegebeanspruchungen sorgen dafür, dass der Turm auf der Seite, an der der Wind angreift, gezogen, an der windabgewandten Seite gedrückt wird. Die Schubbeanspruchung entsteht dadurch, dass die horizontalen Lasten Etage für Etage zum Boden hin abgetragen werden müssen und dabei jede einzelne Etage verzerren. Da sich die Horizontalkräfte nach unten aufsummieren, nehmen auch die Verzerrungen zur Gründung hin zu. Bei Hochhäusern handelt es sich trotz der einfachen Analogie zum Kragarm um sehr komplexe Tragwerke. Das bedeutet, dass sich Biege- und Schubverformungen überlagern und

HÜLLE + RAUM  |  Türme und Hochhäuser

Willis Tower (ehemals Sears Tower) im Bau, Chicago (USA) 1973, 443 m. Fazlur Kahn / SOM (links unten); aus der Vogelperspektive ist die Staffelung der einzelnen »Röhren« ablesbar (oben); Der Architekt Bruce Graham verglich die Ansicht des Turms mit dem Bild einer neu geöffneten Zigarettenschachtel, aus der die Zigaretten unregelmäßig herausragen. Rechts  Bau des John Hancock Centers in Chicago (USA) 1969, 344 m. Fazlur Kahn / SOM

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Anforderung beispielsweise durch Wandscheiben bzw. Aussteifungen rund um den Gebäudekern (Aufzugschächte, Treppen, Toiletten, Technikräume etc.) oder durch eine geschlossene Rahmenkonstruktion in der Fassade.

Mit steigenden Aufgaben neue Systeme Um diese primären Anforderungen an Hochhäuser zu erfüllen, sind verschiedene Tragwerke entstanden. Die maßgeblichen Entwicklungsschritte der Tragsysteme hängen nicht nur von den Anforderungen ab, sondern auch von den technologischen Möglichkeiten, insbesondere den verfügbaren Materialien. Als eines der ersten modernen Hochhäuser gilt das First Leiter Building (1879) in Chicago – zwar noch mit tragenden Mauern, aber bereits mit einer Skelettkonstruktion aus Guss-

eisen. Bei diesen Konstruktionen erfolgt der horizontale Lastabtrag nur über Rahmen, entsprechend limitiert sind die möglichen Gebäudehöhen. Der nächste Entwicklungsschritt ist die Kombination der Rahmenkonstruktionen mit einem inneren Kern. Der Kern ist aufgrund seiner geringen Anzahl an Öffnungen in den Wänden sehr schub- und torsionssteif, mit zunehmender Höhe aber zu schlank, um die erforderliche Stabilität zu gewährleisten. Aus diesem Grund kombiniert das sogenannte Outrigger-System den Kern mit einem Auslegersystem: In regelmäßigen Abständen verbinden biegesteif am Kern angeschlossene Ausleger diesen mit den außen liegenden Stützen, um auch die Gebäudehülle am Lastabtrag des Biegemoments zu beteiligen. In den Auslegeretagen sind meist Technikgeschosse untergebracht. Idealerweise wird die gesamte Gebäudehülle zum Lastabtrag herangezogen. Mit seinem markanten, sichtbaren Fachwerk gehörte das John Hancock Center in Chicago zu den ersten dieser ausgesteiften Röhren. Gebündelt ergeben diese die einzigartige Staffelung des bereits erwähnten Willis Towers. Je feinmaschiger das äußere Fachwerk, desto effizienter ist das Röhrentragverhalten. Der Burj Khalifa kombiniert die zum damaligen Zeitpunkt bekannten Möglichkeiten neu – nur so war der Sprung im Höhenrekord von ca. 500 auf ca. 800 Meter möglich. Das Tragwerk bildet ein »buttressed core«, ein sechseckiger Kern, verstärkt durch drei Wandscheiben. Der Kern ist zwar torsionssteif, aber viel zu schlank, um allein stehen zu können. Daher stützen ihn Wandscheiben ab, die entsprechend der Biegelinie geformt sind – vergleichbar mit den Strebepfeilern gotischer Kathedralen.

Auf zu neuen Rekorden Die heutigen Türme werden immer schlanker, d. h. immer höher im Vergleich zu ihrer Aufstandsbreite. Je schlanker das Gebäude ist, desto leichter kann der Wind es in Schwingung versetzen. Hierbei spricht man vom ­aerodynamischen Verhalten eines Turms. Dieses resultiert aus der Windströmung, für die das Gebäude eine Störung darstellt. Diese Störung erzeugt wechselseitige Wirbelablösungen, die seitliche Kräfte auf das Bauwerk bewirken. Das Resultat sind rhythmische Querstöße auf das Gebäude, die dafür sorgen, dass das Gebäude in Querrichtung zu schwingen beginnt. Frequenz, also Dauer der Schwingung, sowie deren Intensität sind maßgeblich für den Entwurf des Tragwerks. Beide hängen von der Windgeschwindigkeit, der wirksamen

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An der Grenze des Machbaren

freies Ende

Windlast

l

Einspannung

W

EigengeGravity load wicht diagram

Gebäudebreite, der Grundrissform und der Lage des Gebäudes zum Wind ab. Um das Auftreten von Schwingungen möglichst zu vermeiden bzw. deren Auswirkungen auf das Tragwerk möglichst gering zu halten, werden die Grundrissform und die Gestalt des Baukörpers so auf die auftretenden Windkräfte abgestimmt, dass durch eine gezielte »Störung« der gleichmäßigen Windströmung eine asynchrone Wirbelablösung erreicht wird. Beim Burj Khalifa beispielsweise geschieht dies durch die unterschiedlichen Geschossgeometrien, was die Seitenwindkräfte deutlich reduziert. Auf diese Weise ist es möglich, über die Tragstruktur die einwirkende Windlast zu beeinflussen. Das aerodynamische Verhalten beeinflusst aber nicht nur die Tragsicherheit des Gebäudes, sondern beeinträchtigt auch das Wohlbefinden der Menschen. Beispielsweise kann sich das John Hancock Center in Chicago an der Spitze unter extremen Windereignissen um ca. 70 Zentimeter verformen. Dabei sind horizontale Schwingungen von Torsionsschwingungen zu unterscheiden, da Menschen wesentlich empfindlicher auf Drehbewegungen reagieren. Daher müssen die auftretenden Schwingungen möglichst stark gedämpft werden. Dies geschieht entweder durch die Wahl der Kons­ truktion und/oder durch das Material. So erzielen Stahlbetonrahmen eine höhere Dämpfungswirkung als Stahlbetonwände oder Stahlauskreuzungen. Auch durch zusätzliche mechanische Dämpfer lassen sich die dynamischen Eigenschaften verändern.

Wind Wind Momentenoverturning diagram verläufe

Eigengewicht Combined gravity und Wind wind load diagram: one wind direction

form

Eine große Gefahr für das Gebäude entsteht dann, wenn die Frequenz der Wirbelablösung in etwa mit der Eigenfrequenz des Tragwerks übereinstimmt – also der Frequenz, bei der es in leicht erregbaren, typischen Eigenformen schwingt. Dann entsteht ein selbstverstärkender Effekt (Resonanz) und die Schwingungen können sich »aufschaukeln«. Hier zeigen sich interessante unterschiedliche Phänomene für kompakte und schlanke Bauwerke: Kompakte Bauwerke mit hoher Steifig­ keit liegen für alle Windereignisse oberhalb des Resonanzbereichs, der dynamische Kraft-

1. Eigenform Schwingungsdauer = 11 sec

2. Eigenform Schwingungsdauer = 10 sec

Im Windkanal Zur Einschätzung des aerodynamischen Verhaltens werden Windkanalversuche durchgeführt, bei denen die normierte Frequenz und die zugehörigen Schwingungsantworten des Gebäudes unter verschiedenen Windgeschwindigkeiten betrachtet werden.

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Potenzielle Potential tall Gebäudebuliding form

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3. Eigenform Schwingungsdauer = 4 sec

einfachen Überdrückens eventueller Zugkräfte. Dies macht in der Folge die Auslegung der Gründung auf Zugkräfte erforderlich, was sich dann nicht nur in der Komplexität der Gründung widerspiegelt, sondern auch in den Kosten. Folglich werden ultraschlanke Tragwerke nur in extremen Ballungszentren errichtet, wie beispielsweise das Gebäude 432 Park Avenue in New York City.

Wie geht es weiter? Oben links  Schema eines eingespannten vertikalen Krakarms Oben rechts  Formfindung für hohe Gebäude Links unten  Überzeichnete Darstellung der ersten drei wesentlichen Eigen­ formen mit Schwingungsdauern, Burj Khalifa Rechts oben  Das 432 Park Avenue, New York (USA) 2015 von WSP Cantor Seinuk zusammen mit schlaich bergermann partner (Architekt: Rafael Viñoly Archi­ tects) mit einer Dachhöhe von 426 bei ­einem Verhältnis von Breite zu Höhe von 1:16

beitrag fällt eher gering aus. Schlanke Tragwerke hingegen lassen sich nicht mehr eindeutig positionieren und der Resonanzbereich liegt irgendwo inmitten der möglichen Windereignisse. Dies kann zu erheblichen Bewegungen des Tragwerks führen und macht meist zusätzliche Schwingungsdämpfer nötig – teure und wartungsintensive Elemente, die sich durch eine geschickte Auslegung des Tragwerks ggf. vermeiden lassen.

Sicher aufgestellt Die Beanspruchungen eines Hochhauses konzentrieren sich am Fußpunkt. Die Biegebeanspruchung aus den horizontalen Einwirkungen erzeugt ein Kräftepaar, das sich in eine Zugund Druckkomponente zerlegen lässt. Nun ist es wesentlich einfacher, eine Gründung allein für Druckkräfte auszulegen, als mögliche Zugkräfte in den Baugrund abzuleiten. Idealerweise wird deshalb die Zugkomponente durch das Eigengewicht des Turms überdrückt, wie bei den meisten Tragwerken. Die Größe der Zug- bzw. Druckkomponente, die mit einer Biegebeanspruchung korrespondiert, ist von der Aufstellbreite des Bauwerks abhängig. Je schmaler und höher das Bauwerk, je größer also dessen Schlankheit, desto größer die Kräfte. Die heutigen sehr schlanken Bauwerke überschreiten die physikalischen Grenzen des

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Trotz der Anschläge auf das World Trade Center in New York 2001 haben sich die Hochhäuser unter der Voraussetzung zahlreicher technischer Weiterentwicklungen in neue Dimensionen gewagt. Die meisten der hohen und höchsten Gebäude stehen in Asien und im Nahen Osten in einem dichten Stadtgefüge, da hier die Metropolenentwicklung an ein hohes Bevölkerungswachstum gekoppelt ist. Folglich sind diese Hochhäuser nicht mehr der singuläre Repräsentant beispielsweise eines Unternehmens, sondern vielmehr Teil eines dreidimensionalen urbanen Raums. In diesem Kontext stehen Wirtschaftlichkeit, konstruktive Effizienz und Aspekte der Reproduzierbarkeit (schneller Baufortschritt) im Vordergrund. Die geografische Lage vieler Hochhäuser ist oft mit komplizierten Standortverhältnissen verbunden wie Erdbebenbeanspruchung oder extremen Wind- und Klimabedingungen. Insbesondere mit letzteren sind auch die stetig steigenden Anforderungen an die Nachhaltigkeit der Gebäude verknüpft. In diesem komplexen Anforderungsprofil kann keine monokausale Optimierung hinsichtlich des Tragverhaltens erfolgen, was für die ersten Höhenrekorde das maßgebliche Entwurfskriterium war. Vielmehr müssen für die Entwicklung nachhaltiger Hochhauskonstruktionen eine Vielzahl unterschiedlicher, sich teilweise widersprechender Kriterien berücksichtigt werden. Dafür sind völlig neue, bisher unbekannte Tragwerkstypologien zu entwickeln, die allein schon geometriebedingt in ihrer Effizienz herausragen. Hierfür kommen sowohl neue Optimierungsalgorithmen zum Einsatz als auch altbekanntes Wissen (grafische Statik, Rankin-Methode, Michell-Strukturen), was auch das Wissensspektrum eines erfahrenen Tragwerksplaners erweitert. Idealerweise erfolgt ein Transfer der Erkenntnisse auf andere Bau­aufgaben. Gleichzeitig ist diese Entwicklung durch eine differenzierte (ortsbezogene), kritische Diskussion zu begleiten, in deren Mittelpunkt die ökologische, funktionale und gestalterische Angemessenheit steht – bis zu welcher Höhe ist an welchem Ort ein Hochhaus sinnvoll?

An der Grenze des Machbaren

Buttressed Core: der gestützte Kern

Ingenieure, Architekten und Bauherrn streben nach immer höheren Gebäuden. Der Burj Khalifa ist mit 829,8 Metern – einschließlich der Antenne – der zurzeit höchste Wolkenkratzer der Welt. 163 Geschosse sind nutzbar, die obersten acht Etagen bis zur Gebäudespitze nehmen lediglich technische Anlagen auf, die sich nur über eine schmale Stiege erreichen lassen. Zwei Außenterrassen für Besucher befinden sich in der 124. und 148. Etage, in einer Höhe von über 555 Metern. Insgesamt 57 Aufzüge und acht Rolltreppen erschließen den multifunktionalen Turm mit seinen rund 280 000 Quadratmetern Fläche: Neben Einzelhandel und einem Hotel sind die Hauptnutzungen Wohnen und Arbeiten. Der Turm hat einen Y-förmigen Grundriss aus drei Gebäudeflügeln, die sich an den zentralen sechseckigen Kern angelagert nach oben hin spiralförmig abtreppen. Die im 120 °-Winkel zueinander stehenden Gebäudeflügel ermöglichen neben einer optimalen Sicht vor allem das erforderliche Maß an Privatheit, da in dieser Anordnung keine Sichtverbindung in die benachbarte Wohneinheit besteht. Die Grundrissform dient in Kombination mit den sich um die Achse nach oben hin entwickelnden Ebenen in erster Linie der Steifigkeit des Turms: dieser neue Tragwerkstyp, der »Buttressed Core«, zeichnet sich durch eine außerordentliche Querund Drehsteifigkeit aus. Eine besondere Herausforderung für die Stahlbetonkonstruktion war die Entwicklung eines Fließbetons, der sich in einem einzigen Arbeitsschritt auch in über 600 Meter Höhe pumpen lässt und dabei trotzdem noch seine Konsistenz behält. Zum Einsatz kamen zwei der weltweit größten Hochleistungspumpen.

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Burj Khalifa, Dubai (VAE) 2010, Bill Baker, Architect: Adrian Smith (SOM). Das Diagramm (unten) zeigt die Zuordnung der Stockwerke zu den unterschiedlichen Funktionsbereichen sowie exemplarisch jeweils einen Grundriss daraus.

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Buttressed Core: der gestützte Kern

Wasser + Energie

Wasser in der Stadt

Pro Tag verbraucht eine Person in Deutschland etwa 125 Liter Wasser. Davon werden lediglich ca. 1,3 Liter getrunken. Insgesamt gesehen entfallen 85 % des Wasserverbrauchs in Deutschland auf gewerbliche Nutzungen in Industrie und Landwirtschaft. Enorme Mengen müssen täglich nicht nur in hoher Qualität bereitgestellt, sondern auch wiederaufbereitet, entsorgt und rückgeführt werden. Die Be- und Entwässerung von Quartieren und Städten ist dabei eine grundlegende Voraussetzung – und Herausforderung für Bauingenieure und Umweltingenieure. Aufbereitung, Reinigung und Entsorgung von Wasser sind nur drei Funktionen moderner Wassernetzwerke. Durch den Umbau nicht mehr genutzter Entwässerungskanäle wie etwa dem Emscher Park entstehen neue Landschaften, die meist auch eine Aufwertung des

Lebensraums mit sich ziehen: Offene Wasserläufe als Teile der Entwässerungssysteme werden inzwischen auch als attraktive Stadträume begriffen, die Naherholung bieten, Energie erzeugen und klimaregulierend wirken. Sie sind somit zentrale Projekte der Stadtentwicklung und benötigen vielfältige Planungs- und Bauprozesse. War es vor rund 150 Jahren noch die eigent­liche Herausforderung, die hygienischen Bedingungen für die Bevölkerung zu verbessern, so sehen sich die Planer heute komplexeren Anforderungen gegenübergestellt. Immer knapper werdende Ressourcen und vermehrte Stark­regen­ereignisse gilt es ebenso zu berücksichtigen wie die sich wandelnde Gesellschaft. Hier sind flexible modulare Systeme gefragt, die technische Anforderungen lösen und nachhaltige Antworten auf die Energiewende bieten.

Linke Seite Grundwasserbrunnen, ­Frastanzer Ried, Feldkirch (A) 1980 Links  Sielsystem für Hamburg (D) ab 1856, William Lindley. Nachdem ein Großbrand 1842 fast ein Drittel der Hansestadt zerstört hatte, stimmten die Stadtväter in der Folge einem kurz nach dem Brand vorgelegtem Konzept des ­Kanalbauingenieurs Lindley zu, das im Rahmen des Wiederaufbaus neben der Kanalisation auch eine öffentliche Wasser­versorgung sowie Wasch- und Badehäuser vorsah. In den darauffolgenden Jahren entstand so das auf dem ­europäischen Kontinent erste Netz aus Abwasserkanälen, das die Hamburger als »Sielnetz« bezeichnen.

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Wasser in der Stadt

Wasserwandel in Städten der Zukunft

Städtische Wasserver- und Abwasserentsorgung im geschichtlichen Rückblick Die Versorgung mit Wasser und die Entsorgung von Abwasser war von alters her eine Herausforderung für menschliche Siedlungen. Daher bevorzugte man Standorte in der Nähe von Gewässern wie Flüssen, Quellen oder Seen. Mittelalterliche Städte waren aufgrund von stetig wachsender Bevölkerung und enger Bauweise durch in höchstem Masse unhygienische Verhältnisse gekennzeichnet. Jeglicher Unrat, einschließlich der Exkremente von Menschen und Tieren, landete auf den Straßen oder in Gruben und, wenn diese vorhanden waren, häufig in Flüssen und Bächen. Dies hinderte die Menschen jedoch nicht daran, aus diesen Gewässern wieder Wasser zu entnehmen, um z. B. Speisen

WASSER + ENERGIE  |  Ver- und Entsorgung

zu kochen, Geschirr zu waschen oder Bier zu brauen. In einer Anordnung des Münchner Bürgermeisters aus dem 13. Jahrhundert heißt es: »Niemand soll seinen Unrat vor die Türe werfen, sondern in den Stadtbach schütten.«1 Dieser teilweise geschlossene Wasserkreislauf hatte erhebliche Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit und resultierte in einer Vielzahl von Krankheiten und Epidemien. Bereits 1836 wies der Arzt und Hygieniker MAX VON PETTENKOFER auf den Zusammenhang zwischen immer wiederkehrenden Seuchen (vor allem der Cholera) und der schlechten Wasserver- und -entsorgung der Münchner Bürger hin. Es dauerte allerdings bis zum späten 19. Jahrhundert, bis man diesen Zusammenhang auch wissenschaftlich verstand und eindeutig belegen konnte.

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Jörg E. Drewes

1Rolf Meurer: Wasserbau und Wasserwirtschaft in Deutschland. Wiesbaden 2000

Unten  Joseph Bazalgette (oben rechts im Bild) im Jahr 1862 auf der Baustelle der nördlichen Abwasserkanalisation unterhalb der Pumpstation Abbey Mills in London

Oben links  Schnittzeichnung des Emscher Brunnens (»Imhoff-Tank«) von Karl Imhoff (1907). Das Gefäß dient zur mechanischen Wasservorreinigung in Kläranlagen. Oben rechts  Kanalprofile für das Mannheimer Abwassersystem. William Heerlein Lindley (1853 –1917), Sohn des englischen Kanalbauers William Lindley, wurde 1890 die Gesamtleitung des neuen städtischen Kanalnetzbaus in der Innenstadt übertragen. Unten  Klärwerk Essen-Rellinghausen (D), 1914 ging hier das erste Wasserreinigungsbecken mit Belebtschlamm in B­etrieb (1912 wurde die biologische Abwasserreinigung erstmals auf dem euro­ pä­ischen Kontinent eingeführt), Voraussetzung hierfür ist der Emscher Brunnen.

Mit der wachsenden Urbanisierung und Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts verschlimmerte sich die Situation in den Städten dramatisch. Nun ging man dazu über, gezielt unterirdische Kanäle in den Straßen zu installieren, die das Schmutz- und Regenwasser aus den Städten transportierten. Diese »Schwemmkanalisation« verbesserte zwar die Stadthygiene, resultierte aber in einer massiven Belastung der Gewässer. Ab 1842 wurde in London mit dem Bau des Kanalisationssystems, wie wir es heute kennen, begonnen. Das erste moderne Kanalisationssystem auf dem europäischen Festland entstand ab 1856 in Hamburg. In München löste die Choleraepidemie von 1854 zwar ein Umdenken aus, aber erst 1862 begann unter der Leitung des Bau-

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ingenieurs und Architekten ARNOLD ZENETTI der Bau einer flächendeckenden Kanalisation. Durch Studienaufhalte in Norddeutschland und verschiedenen europäischen Großstädten hatte ZENETTI einen Wissenstransfer etabliert, dessen Erkenntnisse bis heute die Wasserver- und -entsorgung Münchens prägen. Was anfänglich ungeklärt in den Gewässern landete, wurde nach und nach vor der Einleitung zunächst mechanisch durch Kläranlagen behandelt, um die Gewässerbelastung zu reduzieren. Der Bauingenieur und Stadtplaner JAMES HOBRECHT legte 1869 den Grundstein für die Stadtentwässerung Berlins, bei der er über radiale Entwässerungs- und Pumpsysteme das Abwasser auf Rieselfelder außerhalb Berlins transportierte. Dieses Konzept der Abwasserverrieselung wurde auch in Danzig, Dortmund und Münster umgesetzt. Im Jahr 1914 entwickelten die beiden Chemiker Edward Ardern und W.T. Lockett in Manchester, England, das Belebtschlammverfahren, bei dem Mikroorganismen Inhaltsstoffe im Abwasser als Wachstumssubstrat verwenden und damit das Wasser reinigen. Bis zum heutigen Tage ist diese biologische Methode weltweit das Rückgrat der Abwasserreinigung. Ein weiterer Pionier in der Abwassertechnik entwickelt dieses Verfahren sowie andere bedeutende Prozesse maßgebend weiter. KARL LUDWIG IMHOFF, der an der Technischen Universität München und der Technischen Hochschule Karlsruhe Bauingenieurwesen studierte, gilt als der Begründer der Abwasserbehandlung in Deutschland und hat dieses Feld nachhaltig geprägt. Dank des Einsatzes dieser Pioniere kennzeichnet dieses lineare System bis heute Städte, in denen Wasser in der Regel aus geschützten Einzugsgebieten in die urbanen Bereiche gelangt. Dort wird das Wasser normalerweise einmal genutzt, in der Kanalisation gesammelt

Wasserwandel in Städten der Zukunft

Abwasser

Wasser Input

Abwasserbehandlung

Gewässer

Wasser Output

Wasserversorgung

Abfluss

und mit den Schmutzstoffen zu zentralen Kläranlagen geschwemmt, um es zu behandeln, bevor es dann wieder in die Gewässer eingeleitet wird. Dieses System resultierte in einer dramatischen Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und damit der öffentlichen Gesundheit und gilt als eine der zehn bedeutendsten ingenieurtechnischen Leistungen des 20. Jahrhunderts.

Herausforderungen der Gegenwart Der Ausbau einer zentralen Wasserversorgung und einer Kanalisation mit zentralen Kläranlagen in Städten erforderte ein umfassendes ingenieurtechnisches Wissen, erhebliche finanzielle Mittel und erfolgte über viele Jahrzehnte. Der Unterhalt dieser Systeme ist darüber hinaus mit einem hohen Wartungsaufwand und Betriebskosten verbunden. In den schnellwachsenden Städten in Asien, Afrika oder Südamerika stehen diese Ressourcen häufig aber nur bedingt zur Verfügung. Ein traditionelles Wasserver- und -entsorgungskonzept wie wir es aus Städten in Europa kennen, mag – trotz der Vorteile einer substanziellen Verbesserung der öffentlichen Gesundheit – nicht das alleinige Mittel der Wahl sein. Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen in Städten leben (mehr als 70% der Weltbevölkerung im Jahr 2030), was einerseits einen enormen Bedarf an sauberem Trinkwasser, aber auch einen erheblich höheren Abwasseranfall in hochurbanen Siedlungen nach sich ziehen wird. Gerade dort, wo Wasserressourcen schon heute knapp sind, kann es zu Versorgungsengpässen kommen. Daher bieten sich Konzepte an, um das gebrauchte Wasser so aufzubereiten, dass es sich lokal wiederverwenden lässt. Selbst in Städten in Europa und Nordamerika, die durch zentrale Wasserver- und -entsorgungssysteme geprägt sind, findet ein Umdenken statt. Hier stehen wir vor der Herausforderung einer alternden Infrastruktur, die dringend einer Erneuerung bedarf. Geschehen diese Investitionen zu spät, kommt es zu Wasserverlusten aus Rohrleitungen oder Undichtigkeiten in der Kanalisation und in der Folge zu Grundwasserverunreinigungen. Der demo-

WASSER + ENERGIE  |  Ver- und Entsorgung

grafische Wandel resultiert in einer Abwanderung aus ländlichen Gegenden, wachsenden urbanen Regionen und einer Verschiebung der Altersstruktur. Dies hat Konsequenzen für die Versorgung mit Trinkwasser über zentrale Netze, da der fallende Verbrauch in ländlichen Regionen zu stagnierendem Wasser in den Leitungen führen kann und damit zu hygienischen Problemen. Die Schwemmkanalisation erfordert einen minimalen Abwasseranfall, sonst kommt es zu Ablagerungen und in der Folge zu Geruchsbelästigungen und Korrosionserscheinungen. Auch der Klimawandel hat unmittelbare Auswirkungen auf die Wasserversorgung, da die Verfügbarkeit von Frischwasserressourcen auf dem bisherigen Niveau nicht mehr sicher ist und es durch länger anhaltende Trockenphasen z. B. in extremen Sommermonaten lokal zu Wasserversorgungsengpässen kommen kann. Wasser ist darüber hinaus eng verzahnt mit dem Energiesektor. Für die Bereitstellung von Energie ist Wasser nötig (zum Abbau von Mineralien, als Kühlwasser), aber auch die Bereitstellung und Behandlung von Wasser selbst ist energieintensiv. In der Vergangenheit hat der Energiebedarf bei der Wasserbehandlung eine untergeordnete Rolle gespielt, allerdings leben wir heute mit stetig wachsenden Energiepreisen in einer Welt, die ein Umdenken zu energieeffizienteren Verfahren erfordert. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass der Energiegehalt in einem kommunalen Abwasserstrom aufgrund der organischen Reststoffe mit ca. 1,6 kWh pro 1000 Liter hö­ her ist als die Energie, die nötig ist, es nach dem heutigen Stand der Technik zu reinigen. Damit ergeben sich erhebliche Potenziale dafür, Energie aus Abwasser zurückzugewinnen, was in vielen modernen Anlagen bereits teilweise umgesetzt wird. Weiterhin haben sich die Anforderungen an die Abwasserreinigung verschoben. Wo am Anfang die Reduktion der organischen Inhaltsstoffe, von Nährstoffen und Krankheitserregern im Vordergrund stand, geht es heute um die weitergehende Reduktion organischer Spurenstoffe wie Pharmaka, Haushaltschemikalien, endokrin wirkende Stoffe, Antibiotikaresistenzen oder Mikroplastik.

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Oben  Traditionelles Wasserver- und -entsorgungskonzept in Städten Rechts: »Alles im Fluss – Eine Deutsche Wasserbilanz«: Übersicht über Wasserflüsse in Deutschland (Stand 2013)

190 km³

307 km³

Verdunstung

Niederschläge

Wassermengen,

die durch große Flüsse über Grenzen und Küsten zuoder abfließen

Wo in Deutschland Wasser knapp ist

(in km³/Jahr)

Zahlreiche Regionen in Deutschland nutzen deutlich mehr Wasser, als sie selbst auf ihrem Gebiet gewinnen können (gelbliche bis orange Bereiche der Karte). Ursachen dafür sind stark verdichtete Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen, naturräumliche Gegebenheiten oder auch Verschmutzungen des Grundwassers. Der Stuttgarter Raum beispielsweise bezieht sein Wasser daher unter anderem aus dem über 100 km entfernten Bodensee.

6

28 13

OstseeZuflüsse

Elbe

Weser

4 Ems

Natürliche Wasserflüsse Deutschland ist ein wasserreiches Land. 3/5 des Niederschlagswassers verdunsten zwar wieder, doch 117 km³ bleiben übrig und 71 km³ kommen als Zuflüsse aus benachbarten Ländern hinzu. 188 km³ stehen also theoretisch zur Verfügung – damit wäre ein zwei Meter tiefes Schwimmbecken mit den Eckpunkten Köln-Hamburg-Berlin-Dresden zu füllen. Das natürliche Wasserdargebot ist allerdings sehr ungleich verteilt – so ist in den Gebirgsregionen Süddeutschlands zehn- bis zwanzigmal mehr Wasser verfügbar als im trockenen Brandenburg.

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Rhein

Rohrdurchmesser der Fernwasserleitungen: >4m 1 bis 4 m Knapp 1/5 des in Deutschland ver‑